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THE MUSIC LIBRARY OF THE HARVARD COLLEGE

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Zur Muſik. ww

Sechzehn Auflähe

von

Philipp Spitta.

Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1892.

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APR 3 1926

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An ARE UNIVERSITE

JUN 15 1961 EDA KUHN LOEB MUSIC LIBRARY

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort.

ch übergebe der Deffentlichkeit eine Reihe von Aufjägen,

welche im Laufe der legten vierzehn Jahre in der „Deutjchen Rundſchau“, den „Grenzboten“, „Unferer Zeit“, der „Baltifchen Monatsſchrift“, der „Allgemeinen mufifalifchen Zeitung“ (Leipzig, Kieter-Biedermann) und anderswo zerſtreut erſchienen ſind. Ihr Gemeinſames beſteht darin, daß ſie von Dingen handeln, welche theils die Gegenwart unmittelbar berühren, theils doch derart beſchaffen ſind, daß auf die Theilnahme weiterer Kreiſe gehofft werden kann. Auch in dem Punkte ſollten ſie zuſammenſtimmen, daß in ihnen neben der Forſchung auch der Betrachtung Spiel— raum gegönnt iſt. Bei dem größeren Theil meiner übrigen Arbeiten, namentlich den in der Vierteljahrsſchrift für Muſik— wiſſenſchaft veröffentlichten, ift dies nicht der Fall. Ich habe daher die Sammlung derfelben für jpätere Zeiten zurüdgeftellt, wenn eine ſolche überhaupt wünfchenswerth erſcheinen jollte. Iſt ein Organ für die wiffenfchaftlihe Behandlung der Mufik einmal vorhanden, jo weiß Seder, welcher ſucht, wo er etwas finden fann. In Zeitjchriften andern Charakters werden Auf fäge, wie die dargebotenen, mit dem Uebrigen leicht vergeſſen, und ihr Verfaffer hat doch den verzeihlihen Wunſch, daß dies nicht allzubald gejchehen möge.

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Bisher ungebrudt war der Aufjag über Johannes Brahms. Das Material für die Daritellung von Spontini’s Wirken in Berlin wurde urfjprünglid zu dem Zwede gejammelt, um in einem für Grove’s Dietionary of Music and Musicians (London, Macmillan and Co.) übernommenen Artikel Bollftändigeres und Vorurtheilslojeres über dieſe vielbefprochene Periode von Spon— tini's Leben jagen zu können. E3 hat dort auch Verwendung gefunden. Das nächte Intereſſe an den Ergebnifjen ſchemen mir aber doch die Deutſchen zu haben.

Nicht ohne eine begleitende Erklärung darf ich den letzten Aufſatz hinausgehen laſſen. Der Mann, welcher deſſen Gegen— ſtand bildet, hat zwar der Muſikwiſſenſchaft mehr als einen wichtigen Dienſt erwieſen und iſt durch zwei Jahrzehnte ein Mittelpunkt des muſikaliſchen Lebens ſeiner engeren baltiſchen Heimath geweſen. Die Hauptziele ſeines Wirkens galten nicht der Kunſt, ſondern dem öffentlichen Leben und der Politik. Gleichwohl find es nicht nur perjönliche Gründe, die mid) be: jtimmen, den einft auf das Grab des früh verftorbenen Freundes niedergelegten Kranz dem Aufjag über Mufifalifche Seelenmefjen anzubängen. Er war ein Mann, der werth ift, auch in der Erinnerung des deutfchen Mutterlandes fortzuleben. Warum es mir gerade jegt an der Zeit zu fein fcheint, fein Bild aufzufrifchen, brauche ich nachdenkenden Leſern nicht zu jagen.

Berlin, den 27. Februar 1892,

Philipp Spitta.

Oskar von Riefemann. (Ein Gedenkblatt.) . » 2 2 2020. 447

Kunſtwiſſenſchafſt und Kunſt.

Philipp Spitta, Zur Muſik.

d- Kunſtwiſſenſchaft erfährt zur Zeit in weiten Kreifen ber gebildeten Welt eine mindeſtens anzweifelnde Schägung. Begreiflicherweife; denn fie ringt, wenige Zweige derjelben aus- genommen, noch mit allen Schwierigkeiten der Anfängerjchaft. Ohne den Rüdhalt einer feiten Tradition, ſchwankend in ihrer Methode und vielfah fragwürdig in ihren Nejultaten, gilt fie jelbft unter den Gelehrten mehr nur als ein Anhängjel andrer wiſſenſchaftlicher Disciplinen, dem die Kraft fehlt, auf eigenen Füßen zu ftehen. Weil fie jowohl eine philoſophiſche, als auch eine phyfifalifch-mathematifche, als endlich auch eine geichichtliche und philologifche Seite hat, greift jie in der That in verſchiedene andere und jelbjtändige Gebiete der Wiſſenſchaft hinüber, und nur das Object der Forſchung ift es, vermöge deſſen fie einen eigenen Platz für ſich beanſpruchen kann. Auch ift bis jet wirflih wohl faum irgendwo verſucht worden, die Vereinigung jener verjchiedenen Richtungen der Kunſtwiſſenſchaft zu einem jelbjtändigen Ganzen in der wiflenjchaftlichen Welt und in ber Gejelichaft zur öffentlichen Anerkennung zu bringen. Trotzdem wird dies in längerer oder fürzerer Zeit gejchehen müfjen. Der der Forſchung vorliegende Stoff iſt ein zu reicher und wichtiger, die VBorausfegungen zur glücklichen Bewältigung besjelben durch den Forſcher zu eigenartig, als dab nicht anzunehmen wäre, die

Kunftwiflenihaft werde fich einen anerfannten Platz neben ihren 1*

Schweſtern erobern. Aber wie dies auch werden möge, ſicher iſt, daß hier große wiſſenſchaftliche Aufgaben vorliegen, die ihre Löſung finden müſſen und finden werden.

Ganz anders als die Stellung des Gelehrten zur Sache iſt die des Künſtlers. Dem flüchtigen Blicke könnte es ſcheinen, als ſei es zwiſchen Künſtlern und Kunſtgelehrten leicht, zur richtigen gegenſeitigen Würdigung zu kommen. In einem ge— wiſſen Verſtande ſind es doch dieſelben Aufgaben, denen beide ihre Thätigkeit widmen, wogegen in der Gelehrtenwelt als ſolcher vielfach die richtige Werthſchätzung des Kunſtobjects nicht vor— handen iſt, da dieſe eine beſondere, ungleich unter den Menſchen vertheilte Begabung zur Vorbedingung hat.

Indeſſen dieſer Schein trügt durchaus. Während unter den Gelehrten doch immer über die Art, die Dinge anzuſehen und in ihr Weſen einzudringen, Uebereinſtimmung herrſcht, be— ſteht zwiſchen Künſtlern und Gelehrten gerade in Bezug hierauf ein tiefgehender Gegenſatz, und er muß um ſo ſchärfer zu Tage treten, wenn beide ſich in der Anſchauung desſelben Objectes be— gegnen. Da der Gegenſatz in der Natur begründet liegt, iſt er auch zu allen Zeiten dageweſen. In unſern Tagen zeigt er ſich beſonders lebhaft, ſo lebhaft, daß er hier und da zur Feindſelig— keit und gegenſeitigen Verkennung fortzuſchreiten droht. Der Grund iſt dieſer, daß die Kunſtwiſſenſchaft jetzt zahlreichere Jünger findet, daß ſie anfängt, eine Macht im geiſtigen Leben zu werden, daß aber die Grenzen ihrer Aufgaben noch nicht überall klar genug hervortreten. Oder auch wohl dieſer, daß die Kunſt— wiſſenſchaft in jugendlicher Unternehmungsluſt ſich keck über Schranken hinwegſetzt, die durch unabänderliche Geſetze gezogen ſind.

Kunſt und Wiſſenſchaft verhalten ſich zu einander, wie Sein und Werden. Das Urtheil, welches ein Künſtler über ein Kunſt— wert hat, wird entjcheidend bedingt nur durch die fertige, in ſich abgeſchloſſene Erfcheinung. Er fennt nur abjolute Maßitäbe. Inwieweit der Schöpfer eines Werfes durch jeine Individualität,

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feine Zeit, feine Nation, dur allerhand äußere Umftände ge- bunden war, das mag ihm gelegentlih mehr oder meniger intereffiren. Durchſchlagende Bedeutung mißt er ſolchen Er- mwägungen niemals bei. Und wenn fie gar nicht für ihn vor- handen find, jo thut dies feiner Tüchtigfeit als Künftler feinen Abbruch. Sein Augenmerk richtet ſich auf jene „bildende Kraft, die,“ wie e8 in Mignons Requiem heißt, „das Schönfte, das Höchſte, hinauf über die Sterne das Leben trägt.” Die dee, welche in der Phantafie des Schaffenden aufgegangen ift, joll von ihm zur ſinnlichen Erſcheinung gebracht werden. Ob dies ganz, oder bis zu welchem Grade e3 gelungen ift, darnad) richtet fih für ihn der Werth des Kunſtwerks. Mit vollem Rechte. Denn es iſt die Aufgabe der Kunſt, diefe Welt der Unvoll- fommenheiten durch den Schein des Volllommenen zu durch— feuchten, und durch die Ahnung einer höheren und befjeren Wirklichkeit, die über diefem Leben Tiegt, zu erheben.

Der Mann der Wiffenjchaft Fennt fein abjolutes Endziel feiner Arbeit. Unfer Willen ift Stückwerk und wird es immerdar bleiben. Das Bewußtjein der Schranken menſchlicher Erfenntniß im allgemeinen, das richtige Urtheil über das, was im einzelnen Falle dem Wiſſen erreichbar ift und was ihm unerreichbar bleibt, bilden die Grundlage jeder echten wiſſenſchaftlichen Befähigung. Der Inhalt des Lebens eines Gelehrten ift nur dag Suchen nad) Wahrheit. Ihn feſſelt der Theil, nicht das Ganze, das Bedingte und nicht das Unbedingte. So will er auch gegenüber dem Kunftwerfe und feinem Schöpfer, der Künftlerperfönlichkeit, nicht fowohl willen, was jie find, als wie fie geworden find. Jedes Stüdchen Erfenntniß, das er nad) diefer Richtung gewinnt, vermag ihn mit einem Gefühle des Glüdes zu erfüllen; einem Gefühle, das gänzlich verſchieden ift von demjenigen, welches da3 Schauen eines abgeſchloſſenen Kunftwerfs erregt, defjen idealer Werth aber deshalb um nichts geringer zu fein braucht. Die Arbeit des Gelehrten ift eine Theilarbeit, welche der Künftler nicht kennt und nicht fennen darf.

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Liegen die Sachen jo, dann iſt klar, mit welcher Vorjicht von einem förderlihen Zuſammenwirken beider Thätigfeiten ge ſprochen werden muß. Eine tiefer gehende gegenjeitige Beein- fluſſung fönnte nur zu einer Verkümmerung bes Beten führen, was Künftler und Gelehrte, ein jeder nach feiner Begabung und feinem Lebenszweck, in fi tragen. Dem Künftler würde fie das Gefühl der Freiheit nehmen und die Energie der bildenden Kraft verringern; den Gelehrten könnte fie gar zu leicht verloden, dort ein Ganzes jehen zu wollen, wo in Wirklichfeit nur Fragmente eines foldhen vorliegen. Beide würden damit ihrem Genius untreu.

Die Scharf marfirte Grenzlinie, welche zwijchen beiden Ge: bieten binläuft, wird weder hüben noch drüben an allen Stellen fiher erfannt. Namentlich gilt dies im Hinblid auf den ge- ſchichtlichen Theil der Kunſtwiſſenſchaft. Das Intereſſe für bie Geſchichte ift zur Zeit unter ben Gebildeten jehr weit verbreitet, fomit auch unter den Künftlern felber. Daß zwiichen dem bloßen Intereſſe an der Sache und der wiſſenſchaftlichen Behandlung derfelben ein großer Unterfchieb ift, wird dabei nicht immer in Acht genommen. Geſchichtliche Geſichtspunkte werden aufgeftellt und jollen als Maßſtab des Urtheil® dienen, wo allein bie äfthetifchen ein Recht haben. Wenn es feit einer Meile beliebt geworden ift, und wohl gar als Fortichritt unferer Zeit be: zeichnet wird, daß man geichichtlich aufeinander folgende Ton- jtüde dur den Rahmen einer abendlichen Aufführung zuſammen— ſchließt, um dadurch gewiſſermaßen einen Entwidelungslauf der Muſik mufifalifch darzuftellen, jo ift dies eine Verwiſchung natur: gemäßer Grenzen. Man befindet fich hier in einem mehrfachen Irrthum. Kaum jemals wird es möglich fein, den Charakter eines bedeutenden Künftlers oder Zeitabichnittes in einem oder wenigen Kunftwerfen wie in einem Käfig einzufangen. Und wenn es gelänge, jo würden wieder zwiſchen den verſchiede— nen in dieſer Weiſe ausgeitellten Eremplaren die verbindenden und erflärenden Mittelglieder fehlen, da dieje meiftens in Erfchei- nungen zu Tage treten, die ein abfolutes Kunſtintereſſe nicht

mehr erregen. Andererſeits wird dabei die einfache Wahrheit aus den Augen geſetzt, daß die nächſte Aufgabe der Kunftproduf- tion nit in der Belehrung beruht. Die Kunft ſoll erfreuen, und fie wird dies um jo ftärfer und tiefer thun, je unbefangener der Hörer oder Bejchauer genießen darf. Wie ift e8 auch mög- lich, aus disparaten Erfcheinungen verjchiedenfter Zeiten, Völker und Individuen ein Ganzes zu formen, dergleichen doch jede Kunftproduftion fein jollte? Doc wäre dies eine Frage, welche die Künftler unter fich felbit zu beantworten hätten. Der Gelehrte muß fi nur dagegen verwahren, daß auf jolche Weife gejchicht- liche Erfenntniß gefördert werben könne.

Zu den vornehmiten Quellen der Kunftgefhichte gehören die Kunftdenkmale vergangener Zeiten. Der Zujtand, in welchem fie auf ung gefommen find, fordert eine reinigende, erläuternde, einordnende, nicht jelten auch eine ergänzende Thätigfeit. Die antiquariſche Wiſſenſchaft hat fih im Laufe der Zeiten eine jejte Methode der Unterfuchung gewonnen. Dieſe, gemiffermaßen ihr Arbeitsinftrument, wird fie auch bei der Behandlung ber Kunftdenkmale in Anwendung bringen, und je gejchidter es ge- handhabt wird, eine deſto ficherere Bürgschaft für das Gelingen der Arbeit ift gegeben. Aber dieſe Gejchidlichkeit wird nur durch langdauernde Hebung auf Grund eines beſtimmten pofitiven Wiſſens erworben. Auch ein Künftler kann fie fich erwerben, wenn er die Schule der Wiffenfchaft durchzumachen ſich nicht fcheut. Nur aber durch jeine Künſtlerſchaft allein, und fei fie noch jo hoch und rejpectgebietend, ift er zu diefer Thätigfeit nicht geeignet. Selbit nicht immer im Falle der Ergänzung oder der fritifchen Auswahl zwiſchen verichiedenen Möglichkeiten. Eine energiſch ausgeprägte Individualität wird ſtets in Gefahr fein, fich jelbjt unbemwußt einen fremden Zug in das vorhandene Kunftwerf hinein- zutragen.

Genüge dieje geringe Zahl der Beiſpiele. Häufiger noch wird auf dem entgegengejegten Ufer gefehlt: der Gelehrte dringt in den rehtmäßig erworbenen Beligitand des Künftlers ein. Er

thut dies wohl meiſt ohne Arg, aber er darf doch nicht erſtaunt ſein, wenn der Beſitzer ſich zur Wehre ſetzt. Die im Weltganzen herrſchende Bewegung ſtellt ſich der Erkenntniß in der Form des allmählichen An- und Abſchwellens der Kräfte dar. Um dieſes ſtete Steigen und Sinken in ſeinen einzelnen Momenten beobachten und verfolgen zu können, muß die Wiſſenſchaft ſich dasſelbe gleich— ſam ſtufenmäßig ordnen: die eine Kraft löſt die andere ab und ſetzt die Bewegung in ihrer Richtung fort bis zu einem gewiſſen Höhepunkt, von wo ab in derſelben Weiſe der Niedergang er— folgt. Dieſe Methode des Erkennens hat ihren grundlegenden Werth, ift aber auch geeignet, zu einer mechaniſchen Auffafiung zu verführen. Der Gelehrte bemerkt eine ſolche weniger leicht, da er jelbit in nothwendiger Beichränfung der eigenen Arbeit dort einjegt, wo jein Borgänger ftehen blieb, um wiederum jein Werk den Nachfolgenden zur Fortjegung zu überlaffen. Seiner Thätigfeit ift die Anſchauung ſtufenweiſer Entwidelung durchaus entſprechend, auch tritt, was fie Unrichtiges enthält, nicht bei allen Erfenntnißobjecten gleich jcharf zu Tage. Gerade aber bei der Kunftentwidelung erweiſt jie fih mur in ſehr bedingter Weiſe brauchbar. Der Künftler wird ſich niemals überreden Lafien, daß er mur die Arbeit dieſes oder jenes Vorgängers fortiege, daß er, nachdem das Quantum feines Tagewerfes abgearbeitet, gleihjam reif jei, vom Schauplage abzutreten. Er, deſſen einziges Trachten dahin gebt, Ganzheiten zu jchaffen, die auf ſich jelbit beruhen, in ſich abgejchloffen und frei find, muß fich mit vollem Rechte gegen eine Anſchauung wehren, die, wenn fie conjequent durchgeführt würde, ihn des beften Theil feiner Würde beraubte. Wohl gibt es Formen der künſtleriſchen Gejtaltung, welche lange Zeiträume beherrichen und daher von einem Künitler auf den anderen überzugehen jcheinen. Ein gemeinjames Kunft- gefühl der Zeit kommt in ihnen zum Ausdrud, und ein jeder Künftler trägt das Seinige dazu bei, es auszjuprägen. Aber dies geſchieht nicht in jolcher Weife, daß eine fertige Form gleich— fam von Hand zu Hand ginge, in die ein jeder feinen Inhalt

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nur hineinzuſchütten brauche. In jedem einzelnen Kunſtwerke entſteht vielmehr die Form ſelbſt von Grund aus neu. Immer wieder wird ſie in den lebendigen Geſtaltungsprozeß hineinge— zogen, ihrerſeits wohl den Inhalt in gewiſſem Maße beſtimmend, aber ebenſowohl auch durch den Inhalt in ihrer jedesmaligen Erſcheinung bedingt. Nirgends tritt es deutlicher hervor, als in der Kunſtgeſchichte, daß die Kräfte ſich nicht continuirlich an— einander anſchließen, ſondern daß ſie ſich, bald mehr bald weniger, decken. Gelehrte, welche der erſteren Anſchauung folgen, müſſen eine Fülle von Schönheit ignoriren, weil ſie in ihr Syſtem ſich nicht einfügen läßt. Sie wird aber dadurch nicht aus der Welt geſchafft; ſie bleibt vor allem dem Auge des Künſtlers un— verborgen, und es kann ſeinen Reſpect vor der Wiſſenſchaft nicht erhöhen, wenn er ſieht, wie dasjenige als bedeutungslos beiſeite geſchoben wird, was ihm vielleicht gerade den größten Werth zu haben ſcheint, inſofern es dem Ausdruck des Indivi— duellen und Eigenartigen dient.

Die Abſicht, in welcher der Kunſtgelehrte vergangene Zeiten durchforſcht, iſt zunächſt ſichere Erkenntniß der Thatſachen, ſodann der Verbindung derſelben, und endlich der höheren Geſetze, welche ihre Folge bedingen. Er kann den begründeten Wunſch hegen, daß die Ergebniſſe ſeiner Forſchungen von der Künſtlerwelt be— achtet und anerkannt werden. Er mag allenfalls auch beſtrebt ſein, das Bekanntwerden dieſer Ergebniſſe zu fördern, und für die Annahme derſelben zu wirken, obſchon es ihm beſſer anſteht, den Erfolg von der langſam und ſtill ſiegenden Macht der Wahr— heit zu erwarten. Was er nicht kann, iſt: vom Künſtler fordern, daß er ſich im eigenen Schaffen durch die Ergebniſſe der Wiſſen— ſchaft beſtimmen laſſe. Geſetze, welche für die Vergangenheit maßgebend waren, ſind es darum noch nicht für die Zukunft. Das oft gebrauchte Wort, der Hiſtoriker ſei ein rückwärts gewandter Prophet, iſt eine gefährliche Halbwahrheit. Es liegt außerhalb jeder Berehnung, welche neue Factoren in den Verlauf einer Entwidelung eingreifen werden, mag diefelbe auch unter jchein-

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bar ſchon dageweſenen Verhältniffen beginnen. Gewiß kann fich auch der Künjtler von den Wahrheiten, welche die Kunſtgeſchichte flaritellt, vieles zu Nutze machen. Vieles wird er aber gar nicht gebrauchen fünnen, von manchem ſich trog wiſſenſchaftlicher Beweije nicht überzeugen wollen. Der Gelehrte muß dies ohne Verdruß geichehen jehen. Er fann auch Beruhigung in dem Gedanken finden, daß der Werth feiner Arbeit durch eine jolche Ablehnung noch nicht in Frage geitellt zu jein braucht.

In älteren, einfachen Zeiten beftand zwijchen dem Künſtler und der Menge der Genießenden ein unmittelbarer Verkehr. Die Stätte der Wirkfamkeit eines Künſtlers war beichräntter, die Zahl der Kunftverftändigen oder folder, die e8 ſein wollten, geringer; der großen Menge empfahl fi das Kunftwerf durch die innige Verbindung, in welder es zu dem kirchlichen und weltlichen, bem öffentlichen und privaten Leben ftand. Heute ift von alledem das Gegentheil eingetreten. Daburd) ift eine literarische Bermittelung zwiſchen dem Künftler und feinem Publicum noth- wendig geworden. Es ift aber ein Irrthum zu glauben, daß dieje Bermittelung dem Gelehrten zufall. Mit dem, was man fünit- leriſche Tagesgefhichte nennen könnte, hat die Wiſſenſchaft über- haupt nichts zu thun. Damit fihere wiſſenſchaftliche Ergebniſſe erzielt werden, it es vor allem nothwendig, daß das Object dem Forſcher ftille hält, und nur was dem Intereſſe der Gegenwart entrüdt ift, erfüllt diefe Forderung. Es ift nicht einzujehen, mit welchem Rechte fich der Gelehrte zwiſchen den Künftler und fein Publi- cum ftellt. Soll er diefem die Anſchauung einimpfen, in welcher das Bild der Kunftentwidelung ſich dem Blid des Wiſſenſchafters darbietet, jo wird er es vermwirren. Soll er belehren, fo belehrt er am unrechten Orte. Der Künftler muß verlangen, daß ber Beichauende das Merk mit dem Auge des Künjtlers fieht. Jedes Kunftwerf bedarf einer inneren Neproduftion. Nicht was in Stein oder Erz, in Leinwand und Farben dem Auge dargeftellt wird, nicht was in bewegten Tonreihen oder im Schall der Worte das Ohr trifft, ift das vom Künftler endlich Gewollte. Die finn-

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lich erſcheinende Form iſt nur das Symbol ſeiner Idee, durch welche dieſe ſich der nachbildenden Phantaſie des Beſchauers und Hörers vermittelt. Derjenige, welcher das Kunſtwerk genießt, muß in ſich die Fähigkeit tragen, fi nah Richtung des Künft- leriijhen erregen zu lafien. Hierzu hilft feine Wifjenfchaft. Wird alfo einmal die Nothwendigfeit einer literariſchen Ber: mittelung anerkannt, jo muß es der Künjtler jelber fein, der fie beforgt. Das Unbehagen, welches ihm hieraus erwachien dürfte, wird er ertragen, wenn er überzeugt iſt, daß es fih um eine Lebensfrage handelt. Sollte ſich aber der Beitand einer ſolchen nicht erweiſen, wäre e8 möglich, allmählich jene un- mittelbarere Beziehung des Rublicums zum Künftler annähernd wieder herzuftellen, die in vergangenen Zeiten berrjchte, jo würden Kunſt und Kunftbildung dabei nur um jo beſſer fahren.

Es ift aber die Kunft der Gegenwart, auf welche mit diejen Worten gezielt wird. Bei Kunftwerfen der Vergangenheit verläuft die Grenzlinie gewifjermaßen in Windungen. Die künftlerifche Thätigfeit tritt erit in dem Augenblide ein, wo es gilt, das alte Kunſtwerk ins Leben der Gegenwart zurüdzuführen. Und auch dann ift fie bei den bildenden Künften eine bejchränfte, eine erheblichere bei der Poejie und Mufil. Ob und wie weit eine jolche Neubelebung überhaupt möglich jein wird, das hängt in den allermeijten Fällen von der grundlegenden Arbeit des Ge: lehrten ab. Kein Kunstwerk wirkt vorausfegungslos. Immer iſt e8 auf den Hintergrund bezogen, welchen mit ihren Sitten, Anfhauungen und Stimmungen diejenige Zeit bildet, in der es entitanden ift. Im Laufe der Jahrhunderte verjchiebt fich all- mählich diefer Hintergrund, oder finft auch ganz zufammen. Die Kunjtwerfe erfcheinen alsdann in jchiefen Verhältniſſen, oder ftehen gar einfam und fremb im öden Raum. Dieſe ihre noth- wendige Zubehör ihnen zurüdzugeben, dazu muß zunächit ber Gelehrte die Hand anlegen. Es gibt einige wenige alte Runft: werfe, die auch auf die Gegenwart, mochte fie zeitlich noch jo weit von ihnen getrennt jein, immer mit überzeugenber Kraft

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gewirkt haben. Auf ſie pflegt man ſich zu ſtützen, wenn man behauptet, das wahrhaft Schöne bleibe zu allen Zeiten dasſelbe. BZutreffender aber wäre e8 wohl zu jagen: es wird in ihnen die Fülle des Kunftgehalts ſowohl der ſchaffenden Perſönlichkeit als ihrer ganzen Zeit mit einer jolden Energie zur Erſcheinung ge- bracht, daß diefe den Beſchauer oder Hörer unwiderſtehlich in die Vergangenheit zurüdzieht, aber in der Weife, daß ihm das Fremde jofort vertraut, das zeitlih Zufällige als künſtleriſch nothwendig erjcheint. Doc bei Weiten die größte Anzahl alter Kunftwerfe, namentlich der Poefie und Muſik, beſitzt dieje Eigen- Ihaft nicht, und es iſt feineswegs ausgemacht, daß fie alle gering- werthiger jein müßten als jene. Sie werden ewig unverjtanden bleiben, wenn die Wiſſenſchaft nicht ihre Werkzeuge in Bewegung jegt, die alte Zeit aus dem Dunkel wieder ins Licht aufiteigen zu laſſen umd die VBerbindungsfäden bloß zu legen, welche von dem einzelnen Kunftwerfe zum Bilde des Weltganzen binüber- führen. Hier muß der Künftler, den es treibt, in die Kunft vergangener Tage einzudringen, den Wegen des Gelehrten folgen. Er darf es fich nicht erlaffen, alle die Ergebniffe fich anzueignen, zu welden jener auf oftmals jteilen und dornenvollen Pfaden gelangt iſt. Gilt e8 nun aber den legten Vollzug der Wieder— belebung, jo zieht fich der Gelehrte vor dem Künjtler zurüd. Er kann nicht beanfpruchen, in fich vereinigen zu wollen, was fih von Natur ausſchließt. Das Weltbild im Hintergrunde, die individuelle Kunfterfheinung im Vordergrunde zu einem lebendigen Ganzen zufammenzufaffen, ift nur der fünftleriichen Befähigung möglih, und nur diefe kann dann auch über den abjoluten Werth des Werfes endgültig entfcheiden. Fehlt dieſe legte That, jo bleibt die Kunftwelt der Vergangenheit den gegen: wärtigen Gejchledhtern fo jtumm, wie fie es ohne die Arbeit der Wiſſenſchaft ebenfalls gewejen jein würde.

Das Ziel der Wiederbelebung darf man als ein doppeltes erkennen. Sie gilt zunächſt den Künftlern, dann aber auch der nah Kunſtgenuß verlangenden Menge. Die Erziehung des

Rublicums zum echten Kunftverftändnig womit nicht das Wiffen um dieſe und jene Gegenjtände und Ereigniffe, jondern die Fähigkeit gemeint ift, mit fünftlerifchem Sinne zu jehen und zu hören erfolgt immer nur durch die Künftler ſelbſt. Sie iind auch in diefem Falle die berufenen Vermittler. Auf ver- jchiedene Weiſe ijt eine joldhe Vermittlung möglich. Bei den auf Bewegung rubenden Künften, bei der Mufif und Poefie, ge- ſchieht es vor allem dadurch, daß die unter dem Schleier leb- loſer Zeichen ruhenden Werke von neuem in die Erjcheinung geftellt werden. Sodann bei allen aber durch verfchiedene Arten bejonderer Anweifung. Am wirkſamſten endlich folchergeftalt, daß die Künftler dem Geiſt der Alten Einwirkung auf die eigene Production geftatten und die Anſchauungen derfelben durch volles Einfegen der eigenen Scöpferkraft der Menge einleuchtend machen. Der Gelehrte wird jich nicht darüber täufchen wollen, daß, wenn er jich zur Förderung des Kunftfinnes mit den Er: gebniffen feiner Arbeit unmittelbar an das Publicum wendet, er in den jeltenften Fällen diefem Ziele auch nur nahe fommen wird. Er dürfte aber dieſe Täufhung auch ohne Bedauern ſchwinden laffen. Das Wiffen hat feine Macht für fih; Willen: ſchaft ift Selbftzwed, und es ift ohne Bedeutung für ihren Werth, zu welder Anwendung fie im Leben des Tages gelangt oder ob fie einer folchen zur Zeit wohl ganz entjagen muß.

Die Arbeitöwege der Kunſtwiſſenſchaft und der Kunjt Dürfen niemals ineinander laufen. Zur Verhütung gegenfeitiger Schä— digung muß zwijchen beiden Gebieten die Scheidelinie jcharf gezogen fein. Wohl aber dürfen über diefe Scheibelinie hinüber beide die Rejultate ihrer Arbeit einander zureichen. Sie werden dieſes auch willig thun, da fie als Nachbarn mannigfadh auf: einander angemwiejen find. Gewiß ift das Dbject der Kunit- wiſſenſchaft erſt durch den Künftler jelbit geichaffen. Ihm ge- bührt die Ehre des Nelteren. Aber er wird nicht vergeflen wollen, daß, als jein Erbe ins Unüberfehbare angewachſen war und der größere Theil desjelben brach und wüjt lag, ein anderer fan,

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ed von neuem urbar zu machen, im eigenen Intereſſe zwar zu: nächſt, aber doch nicht minder vortheilhaft aud) für jenen. Und wenn der Künftler mit Recht von fih rühmt, dab es jeine Schöpferthaten find, welde der Kunft neue Bahnen eröffnen, jo darf der Gelehrte dagegen jeßen, daß in ungezählten Fällen er e3 war, der die verjchütteten Quellen wieder aufgrub, aus denen der Künstler fich neue Lebenskraft trank. Bei Elarer Erkenntniß der beiderjeitigen Ziele werden die Wege des Künſtlers und des Gelehrten ſich auch Ereuzen können ohne feindlichen Zuſammen— ftoß. Sie werden es geichehen laffen, daß bei Gegenftänden, an welche beide ein Anrecht haben, Luft und Licht für beide gleich vertheilt werden. Es ift ein Zuſtand denkbar, in dem fie friedlich neben einander wohnen, ein jeder feiner Arbeit hingegeben, der eine dem Schaffen der Schönheit, der andere dem Ringen nad Wahrheit.

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Dom Mifkleramte der Poefie.

m man die frage aufwerfen wollte, wie bildende Kunft

und Muſik fih im Verlaufe der Zeiten zu einander geitellt haben, würde das Ergebniß im mwejentlichen diejes jein, daß Gemeinjamkeiten zwiſchen beiden nicht vorhanden waren. Während die eine verfiel, blühte die andere, und auch wo fie neben einander gediehen, waren Ausgangspunfte und Richtungen durhaus verſchieden; Verwandtſchaften, wo fie hervortreten, erweijen ſich mehr als äußerlihe, wie als innerlich begründete. Eine Erklärung hierfür ließe fih aus dem Weſen jener Künfte ableiten, die nach den Stoffen, in denen fie erjcheinen, und nad den Idealen, welche jie darjtellen, entjchiedene und zum Theil die denkbar größten Gegenjäpe bilden. Außerkünſtleriſche Ber: einigungspunfte fönnen für beide in den allgemeinen Intereſſen einer Nation gegeben jein, die im idealen Bilde zu zeigen und jeftzuhalten eine jede Kunſt mit ihren Mitteln ſich bemüht. Aber wer die fünftleriiche Thätigfeit des Menſchen in ihrem legten Grunde zu erfaffen trachtet, wird nicht von dem Gedanken laſſen wollen, daß die Künfte in ihrer Vielheit nur Strahlen desjelben, Lichtcentrums find, welche nach verjchiedenen Seiten fallen. Er wird nad einer Vermittlung der entgegenjtehenden Kunſtanſchauungen juhen, die auf dem Wege der Kunjt jelbjt bergeftellt wird. Denn nur auf ihrem eigenjten Boden fann eine dauerhafte Verjtändigung ftattfinden. Es läßt ſich eine

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Philipo Spitta, Zur Mufit.

Kunſt nennen, die berufen iſt, die Mittlerrolle zwiſchen Muſik und bildender Kunſt zu ſpielen. Es iſt die Dichtkunſt.

Mannigfach verſchieden ſind die Arten der Kunſtübung bei den Kulturvölkern alter und neuer Zeit geweſen. Gewiſſe Künſte erfreuten ſich einer beſonders eifrigen Pflege, während andere geringer geſchätzt wurden, je nach der beſonderen Anlage der Nationen und den Bedingungen, welche beſtimmte Zeit— epochen gewährten. Das aber iſt allen Völkern gemeinſam, in welchen der Kunſttrieb überhaupt ſich regte, daß fie denſelben zuerft im Gebiete der Poeſie wirkffam werden lafjen. Erites und lettes Ideal aller Kunftprobuftion ift der Menſch, und das nädhltgegebene Material, in dem der Menfch fein eignes Weſen ſich zurückſpiegelt, ift feine Sprache. Tieffinnig bezeichneten die Griechen diejenige Thätigfeit, welche im Sprachmateriale bildet, mit dem allgemeinen Namen Poeſie; fie erfchien ihnen als Kunftthätigfeit überhaupt, gleichſam als Grundlage aller übrigen bildneriihen Beftrebungen. Was dieje als ihre eigenſten Ideale verfolgen, dort liegt es gewiffermaßen im Keime bejchlofjen. Vorstellungen fichtbarer Gegenitände und Ereigniffe, Anregungen zu Empfindungen und Stimmungen bietet die Poefie nicht zwar mit jener finnlihen Eindringlichfeit, wie bildende Künfte und die Mufif e8 vermögen, dafür aber zu einer natürlichen Einheit verihmolzen. Jede Einzelkunit, wenn fie die Beziehungen zur Poeſie fih bewahrt, fihert fi dadurch zu ihrem eignen Gewinne den Zufammenhang mit der Urtbhätigfeit des künſtleriſch ſchaffenden Menfchengeiftes und befigt eine fichere Gewähr für die tiefere Wirkung der eignen Schöpfung.

Wo die Frage einer einheitlihen Kunftpraris geitellt wird, it e8 unabweislih, auf das griechifche Volk Bezug zu nehmen. Sein Beifpiel tritt auch zu Gunjten der oben ausgefprocenen Behauptung mit vollem Gewichte ein. Der Muſik der Griechen freilich blieb eine alljeitige Entfaltung verſagt. Aber die bildenden Künfte wurden entwidelt in einer Freiheit und Fülle, bie niemals fpäter überboten ift. Und wie unzertrennlich hängen

bei ihnen bildende Kunft und Poeſie zufammen! Das Wichtigfte und Größte, was der bildende Künftler geitaltete, entnahm er dem in unfterblihen Dichtungen ausgeprägten Sagenſchatze des Volkes. Hierdurch griff er unmittelbar in das innerjte Weſen feiner Nation hinein, die gewohnt war, in ihren Dichtern zugleich ihre Lehrer zu jehen, und fait allein an ihnen den Geift ihrer Jugend erzog. Durch die homerifhen Epen, durch die gottes- dienftlihen Hymnen war die Phantaſie der Griechen mit einer idealen Welt höherer und doch wieder gleichgearteter Wejen erfüllt; der dramatiſche Dichter ließ fie aus ihrer Unfichtbarkeit ans Licht treten in bewegter Handlung, der Bildner concentrirte ihr Thun und Leiden zur unbewegten Erjcheinung und zeigte der Nation gleihjam die Summe ihrer Schöpferfraft.

In dieſem böchiten Sinne des In- und Miteinander Wirfens ftellen fich Poefie umd bildende Kunft freilich in feiner fpäteren Zeit wieder dar. Aber jehen wir auf jene Perioden reichiter Blüthe, welche die bildenden Künfte in Italien und jpäter in Deutichland erleben durften, jo jpringt doch auch hier eine enge Beziehung zur jedesmaligen Dichtkunſt in die Augen. Nicht in dem Berftande, daß llebergriffe der einen in das Gebiet der andern ftattgefunden hätten. Aber die fünftlerifche Grundftimmung iſt die gleiche und zwar hat beide Male wiederum die Poeſie der bildenden Kunft den Weg gebahnt. In Stalien gingen die großen Dichter Dante, Petrarca, Bocaccio den großen Bildnern Lionardo, Michel Angelo, Raffael voraus. Sie hatten den Kunitfinn der Nation gewedt und erzogen, fie hatten der Phantaſie ihrer Landsleute eine Fülle fchöner Formen eingepflanzt, Die gleihjam in die Sinnlichkeit hinauszutreten verlangten. Die Bildner fühlten fich jelbit mit engen inneren Banden an Die großen Dichter gefettet, fannten fie genau und lebten in ihnen; wenngleich mit anderen Mitteln und unter veränderten Zeit: verhältniffen ſchufen fie doch in derſelben Grundanihauung weiter; ja, ihre eignen Dichtungen zeigen, daß in ihnen der

Geiſt nationaler Poeſie ſchöpferiſch weiter wirkte. So war ihr 20

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durchgreifender Einfluß auf das Leben der Nation verbürgt. Nach dem neuen Aufſchwunge aber, den in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die bildende Kunſt durch das Genie deutſcher und nordländiſcher Künſtler nahm, folgt dieſelbe dem Gange der Poeſie im unmittelbarſten Anſchluſſe. Goethe und Schiller und vor und neben ihnen Leſſing und Herder ſuchten ausſchließlich oder doch größtentheils das Ideal einer menſchenwürdigen Lebens— geſtaltung in der Antike. Zunächſt von der Poeſie ausgehend und vorzugsweiſe poetiſch empfindend wandten ſie auch ein lebhaftes Intereſſe den bildenden Künſten zu. Wie weit ihre Anſichten richtig, ihre Neigungen ſachlich begründet waren, iſt eine Frage für ſich. Aber der Zuſammenhang, in dem ſie ſich mit den bildenden Künſten fühlten, wurde von dieſer Seite her bekräftigt, da die letzteren gleichfalls aus der antiken Kunſt zu einer neuen Blüthe die Nahrung ſogen. Als ſodann der helle— niſirenden Richtung die romantiſche Dichterſchule entgegentrat, die mittelalterlichen Dichtungen ihre Schätze hergaben, vor dem träumeriſchen Auge unſerer Poeten ſich eine verſchollene Ritterzeit, umfloſſen von chriſtlich religiöſem Scheine, aufbaute, folgten als— bald auch die Bildner dieſem Zuge; die größten und einflußreichiten unter allen denen, welche die gefammte neuejte Blütheperiode hervor- gebracht hat, wurzeln durchaus in der romantischen Stimmung.

Die Kunft der italienischen Renaiffance und die jüngjte nordiſch-deutſche Kunſt liegen 300 Jahre auseinander: zwei Gipfel, zwiſchen denen eine langgeſtreckte Niederung des Ver: falls fi hinzieht. Durch denjelben ganzen Zeitraum läuft eine Entwidelung der Muſik, deren innere Kraft faum irgendwo er- mattet. Es iſt dies eine Thatjache, die ihresgleichen nicht hat in der Kunſtgeſchichte aller Völker. Das ſpäte Eintreten dieſer Kunft in den Kreis des geiftigen Lebens mag der Grund der: jelben jein. Die bildenden Künfte fonnten fi” aus einem mehr als 2000 Jahre rüdwärts gelegenen Duell nach großen Zwiſchenpauſen bereitö zweimal erneuern; was wir heutzutage gemeinhin unter Tonkunft verftehen, erijtirt überhaupt erit jeit

500 Jahren. Es fcheint, daß der jo lange zurücdgehaltene tonbildnerifche Trieb, nahdem ihm einmal die Feſſeln abge- nommen waren, im unerfättlihen Fortwirken nicht hat zu Ruhe kommen können. Wohl Lafjen fich auch in diefem weit: gejpannten Zeitraume mehrere Abjchnitte erfennen. Man kann von einer mittelalterlihen Muſik und von einer Muſik der Re— naiffance reden, und in diejer leßteren wieder zwei Perioden fondern. Aber die Uebergänge treten ganz unmerflih ein, und ein Nachlaffen der Productionskraft ift mit ihnen eigentlich nirgendwo verbunden. Dabei erfolgt die Entwidelung nie in den Grenzen einer einzelnen Nation; Deutjche, Niederländer, SKtaliener, Franzofen und zeitweilig auch Engländer wirken zu gleihen Theilen mit, und in Complicationen, die es ganz un— möglih machen, das Wachsthum auch nur einer einzigen Gat- tung der Tonkunft innerhalb des Lebens einer und bderfelben Nation zu begreifen. Man bat auf dieje eigenthümliche Ent- widelung hingewiefen und die Muſik überhaupt eine inter: nationale Kunſt genannt, denn die Töne feien etwas, das überall gleich Leicht verftanden werde. Aber mit demjelben Rechte fönnte man behaupten, Nationen, die ſich desjelben Alphabets bedienten, redeten diejelbe Sprade. Das phyſikaliſche Phä- nomen des einzelnen Tons bleibt jich freilich überall gleich. Aber die Farbe, die ihm gegeben, der Zujammenhang, in den er gejegt wird, und überhaupt die jymbolifche Beziehung auf die eignen Seelenzuftände und »Bewegungen, welche der Künſt— ler dem von ihm gejchaffenen Tonbilde einprägt, alles dieſes ift in jeiner Bejonderheit unzweifelhaft durch den National: harafter bedingt und nur von ihm aus ganz veritändlih. In Wahrheit ift die Mufif nicht mehr noch weniger international, als die anderen Künfte und überhaupt jede jhöne Form. Das haben die Künftler felbft jehr wohl erfannt gehabt und zwi- fhen italienifhem, franzöfifhem und deutſchem Stil mit Be- wußtjein unterfchieden. Vielmehr offenbart fih in dem um: behinderten mufifalifchen Verkehr dreier ſonſt ganz verjchiedener

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Völker der jugendliche Zuſtand dieſer Kunſt. Das Verſtändniß iſt leichter, ſo lange es ſich um einfache und gemeinſam intereſſirende Dinge handelt. Bilden ſich die Eigenthümlichkeiten ſchärfer aus, ſo gehen die, welche zuvor ſich als demſelben Stamme angehörig betrachteten, in verſchiedene Sprachfamilien auseinander.

Wie hat ſich nun die Tonkunſt zur Poeſie der verſchie— denen Zeiten geſtellt? Hat ſie ſich gleich den bildenden Künſten tragen und heben laſſen durch den Reichthum künſtleriſcher Ideen, welche die großen Dichter erſchloſſen, durch die ſie das geiſtige Leben ihrer Nationen in neue Bahnen leiteten? Es verſteht ſich, daß eine ſo mächtig auftretende Potenz, wie der tonbildneriſche Trieb der letzten drei Jahrhunderte, nicht außer Verbindung mit der allgemeinen Lebensbewegung der Zeiten ſtehen kann, daß vielmehr in ihm ein Hauptcharakter— zeichen derjelben erfannt werden muß. Die Frage ift nur, ob jein Wirken fih in einer gewiſſen Harmonie befand zu der auf den anderen Gebieten herrſchenden Kunftthätigfeit, und hierauf muß man mit „nein“ antworten. Die Entwidelung ber Muſik zeigt das Bild eines ijolirten, rüdjichtslojen, nur ſich jelbit vertrauenden Wachsſthums. Daher denn all die grellen Widerſprüche, die zwifchen ihr und dem übrigen Kulturleben bhervortreten. Betrachten wir die Italiener um 1500, ihre höchſten und hohen Leiftungen in bildender Kunſt und Poeſie. Sie haben diefen auf mufifalifhem Gebiet nichts auch nur entfernt Ebenbürtige® entgegen zu jegen. Ein verlegenber Contraſt macht ſich fühlbar zwischen den feinen, durchgeiſtig— ten Gedichten und den Tonreihen, mit welchen der Mufifer fie umwindet. Große Tonfünftler gab es damals nur unter den Niederländern und Deutichen, deren Dichtkunft nicht von weiten an die italienifche heranreihte. Was aber mehr bebeutet: ber fünftlerifehe Geift der Gedichte und der ihnen angepaßten Mufif war ein gründlich verfchiedener. Jene Madrigale, Sonette, Oden tragen das Gepräge der ganzen Renaiffancezeit, find durchaus individuell empfunden. Die Tonformen find bie

mittelalterlich polyphonen, welche im gleihberedhtigten Zufammen- wirken vieler Stimmen den individuellen Gefühlsausdrud gefangen halten. Und dennoch war der Komponift folder Stüde häufig gar aud der Dichter der Texte. Gänzlih freilich fonnten fie ih der Zeitjtrömung nicht entziehen und, mit niederländischen und deutſchen verglichen, tragen ihre Tonfäge immerhin dem individuellen Ausdrud etwas mehr Rechnung. Nun aber gleich ein neuer Widerſpruch. Diefe den Charakter ihrer Boefie und Malerei gemäßere Art geben die Italiener auf, um bei den Niederländern, den Vertretern einer entgegengejegten Richtung, in die Schule zu gehen. Wenn die Tonkunft gegen frühere Zeiten etwas Neues, wenn fie jelbitändiger werden follte, jo war eine gründliche Durchbildung der mehrjtimmigen Technik aller- dings nothwendig. Daß die italienische Muſik jener Zeit ſich der ganzen übrigen Kulturtendenz jo bejtimmt widerjegte, it ein Beweis, wie unerbittlih ſtark ihr Selbitändigfeitsdrang war. Ein Balejtrina in dem Rom des 16. Jahrhunderts und unmittelbar nad ihm die Erfindung der Oper in Florenz, in welcher num endlich der individualiiirende Zug der Renaiffance- zeit auch auf muſikaliſchem Gebiet zum Durchbruch fam durd) Hinweis auf die übrigen Künſte find dieſe Contrafte nicht zu deuten.

Die italieniihen Dichter des 17. Jahrhunderts waren ſchwächliche Nachkommen ihrer großen Ahnen. Begeilternde Im— pulfe fonnten ſie der Tonkunſt nicht geben. Es lag ihr aber auch nichts daran. Sie fühlte fich ſtark in fich jelbit, und wo der Muſiker mit dem Dichter zufammen zu arbeiten hatte, machte er ihn zum Diener. Was die italienifche Tonkunſt in früheren Zeiten von anderen Nationen erhalten hatte, erjtattete fie jegt überreihlih zurüd. Faft in allen Gattungen wurde fie in derjelben Weije maßgebend, wie ihre Dichtung und Malerei es im 15. und 16. Jahrhundert gewejen war. Durch keinerlei fremde Einflüffe und hindernde Ereignifle ließ fie fih den Weg vorſchreiben. In Frankreich jtieß fie auf Corneilles und Racines Eaffiihe Dichtungen. Der franzöfiiche Nationalgeift wollte fie

im Sinne diejer großen Dramatiker umbilden, die Folge war nur, daß der Genius der Tonkunſt fi von ihm abmwandte und die franzöfifhe Oper faft 100 Jahre lang in ihren Anfängen jteden blieb. Alles geiftige Leben hatte in Deutfchland der 30jährige Krieg für lange Zeit zertreten, nur die Muſik ſetzte nad furzer Betäubung ihre ftetige Entwidelung fort. Die Ver: bindung, welche fie in Italien ala Oper mit der dramatijchen Dichtkunſt einging, war ein Schein. Niemanden interejlirten die antiken Masken, welche dort auftraten. Der Staliener wußte, wie das Gebärbenjpiel den Ausdruck der Empfindung unterftüßt; die theatralifche Aktion diente nur der freieren Entfaltung und größeren Eindringlichfeit des Gejanges. Und wie um allen Zweifel darüber zu benehmen, daß fie gefonnen jei, ſich durchaus auf eigne Füße zu ftellen, löfte fih die Tonkunſt zu gleicher Zeit entjchiedener als je vom Worte ab und wurde Initrumentalmufif.

Forſcht man dem Lebensgange großer Maler und Bildhauer nah, jo bewundert man die Umermübdlichkeit, mit welcher fie neben ber Erlernung der für ihre Kunft nothwendigen Tedhnif auch die Kunftwerfe früherer Zeiten ftudirten, fie zu durchdringen und fich innerlih anzueignen ſuchten. Nun wird zwar feiner ein Meifter ohne unverdrofjene jahrelange Arbeit. Dennoch haben die großen Tonkünſtler ein derartig ausgebreitetes Bildungs: bedürfniß jelten gehabt. Sie ftudirten gründlih das Hand: werf und die nach ihrer Anficht vorzüglichſten Komponiften ihrer Zeit, einige jahen fih weiter in der Welt um, dann fingen fie an jelber zu jchaffen, was die Verhältniffe veranlaften oder ihr Genius ihnen eingab. Trug der Zufall ein altes Kunftwerf in ihren Bereih, jo gewährte es ihnen günftigen Falls eine ange: nehme Anregung. Zu Bachs und Händels Zeit waren Paleſtrina und Laſſus, zu Mozarts Zeit auch Monteverdi und Scarlatti jo gut wie abgethan. Dieje VBernadhläffigung der eignen Ge: ihichte entjprang nit aus Stumpfjinn und Beichränftheit, fie it ein Zeichen unerjchöpfter Jugendfraft. Jeder Tag bot jo viel des Neuen zu erleben, daß feine Zeit blieb, rückwärts zu

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ihauen. Wohin hätten fie nur jchauen können? Seit Hunder- ten von Jahren waren fie fajt auf gleicher Höhe fortgeichritten, fie fannten es kaum mehr anders. Keine tiefe Einfenfung trennte fie von andern, glei imponirenden Höhepunften. Die Bildner und Dichter der Renaifjance blidten auf eine um zwei Jahrtaufende zurücliegende antike Kunft, die Künjtler des 18. und 19. Jahr— bundert3 auf dieſe und auf die Zeit der Renaiffance. Für die Tonfunft gab es feine Gefhichte und fein Alterthum Wo man an die griechiſche Kunſt anfnüpfen wollte, gerieth man in un fruchtbare Speculationen und Mißverftändniffe. So jollte die Erfindung der Monodie die Wiederheritellung des antifen Dramas bedeuten, von dem man fich eine irrthümliche Vorftellung machte. Die Monodie führte in der That zu einer neuen Kunjtgattung. Aber der Zug zu ihre ftedte den italienifhen Muſikern jchon 100 Fahre früher im Blute und würde endlich auch ohne jenes antifiirende Erperiment hervorgetreten fein. Nicht allein in geihichtliher, auch in ſyſtematiſcher Hinſicht bewies die junge Kunft ihre unaufhaltfam vorwärts drängende Kraft. Es iſt er: ftaunlich, mit einem wie dürftigen Zehrapparat fie die längſte Zeit bindurch auszufommen vermochte. Noch bis ins vorige Jahrhundert behalf man fich mit einer Anjammlung von Regeln für gewifie Einzelheiten des Tonjages; wenn man fpäter jyftematiicher zu Werke ging, jo war die Praxis der Theorie doch immer jo weit voraus, daß fie fi) nur gerade noch abzureichen vermochten. Ihren ifolirten Weg hat die Tonkunſt im 18. Jahrhundert fortgejegt, nur erhielt jegt Deutichland über Italien das Ueber— gewidht. Von einem Wirken im Kreije einer nationalen Dicht: funft fonnte bier anfänglich) ebenfowenig die Rede jein, wie dort. Wir befigen aus diefer Zeit eine kirchliche Mufif, die den gewaltigiten und tiefften Geilteserzeugniffen aller Zeiten eben- bürtig ift, neben und in ihr zugleich eine religiöfe Poeſie, wie fie geringwerthiger faum gedacht werden kann. Aber faſt wie Feinde ftehen bier die Künſte einander gegenüber, denn in dem Augenblid, wo die religiöje Dichtung durch Klopitod einen neuen

Aufſchwung nimmt, beginnt die kirchliche Muſik zu verfallen. Die Tonkunſt wollte ſich ſelbſt genügen, und naturgemäß ruht nunmehr das Hauptgewicht auf der wortloſen reinen Muſik. Sie feiert in dieſem Jahrhundert ihren glänzendſten Triumph, und bewundernd geſtehen wir: einer Kunſt, der ſolches zu erreichen möglich war, mußte es geſtattet ſein, ihre eigenen Bahnen zu wandeln.

Aber dieſe blendende Erſcheinung hat ihre Kehrſeite. In lückenloſer Entwickelung war die Tonkunſt groß geworden durch eigne Kraft; zeitweilig ſcheint es, als wolle ſie neben ſich kein Zweites dulden. Endlich aber kommt dieſes Zweite doch. Ein belebender, durch Frankreich und Deutſchland wehender Geiſtes— hauch ruft plötzlich eine neue Literatur, eine neue bildende Kunſt erſten Ranges hervor. Er geſtaltet die Welt um und ſetzt die menschliche Gejellihaft auf eine neue Grundlage. An diejem großartigen Werke hat die ifolirte Tonkunſt troß ihrer glänzen: den Blüthe, troß ihrer ungeheuren Ausbreitung fo gut wie feinen Antheil. Wenn man fih ein Gefammtbild des geiftigen Lebens am Ende des vorigen Jahrhunderts voritellt, jteht man der Mufit mit dem Gefühle gegenüber, als fei fie ein Fremdling im eignen Haufe! Unſere großen Dichter, die ſich mit den bilden- den Künften fo eng verbunden fühlen, von der Muſik wenden fie ſich ab oder lafjen fie vornehm gleihgültig gewähren. Leſſing hatte für das deutfche Singfpiel, das doc feinen Bejtrebungen verhältnigmäßig noch am nächſten ftand, nur Verachtung, Schiller erklärte Haydns Schöpfung für ein gedanfenlojes Gemiſch, nur Goethe ließ ih zu Singipielterten herbei, und enpfand tief innerlih muſikaliſch, aber Beethoven war ihm unheimlih, und auf eine Zuſendung Schubertſcher Compofitionen feiner Lieder antwortete er nit. Eine Philofophie der Kunft entitand, an deren Aufbau nebſt anderen auch die großen Dichtergeifter all ihre geniale Intuition und ihren Scharffinn wandten ; die Mufik wurde nicht, oder nur in mitleidigem Billigkeitsgefühl berüdfich: tigt. Und eben jo tief erfcheint die Kluft, wenn wir auf die andere Seite treten. Ein franzöfiicher Dichter jchreibt ein Stüd,

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jo ganz erfüllt vom Geifte der neuen Zeit, daß man es einen Sturmvogel der Revolution nennen darf. Mozart greift es auf und macht eine feiner jchöniten Opern daraus, aber nicht ohne alles dasjenige getilgt zu haben, worauf bes Stüdes politifche Bedeutung und hauptjählide Wirkung gegründet war. Das gebot, jagt man, das Weſen der Mufif. Aber hätte fich ein Muſiker, wenn er dad Wehen des Zeitgeiites an jich verfpürte, dann überhaupt an den Stoff gewagt? Diejes Luftipiel des Beaumardais war auf franzöſiſchem Boden gewachſen, wurde zu einem italienifchen Opernbuche umgefhmolzen und endlich von einem Deutichen in Mufif gejegt. Von einem mufifalifchen Schaffen im Geifte der Poeſie kann jchon deshalb feine Rede jein. Der internationale Charakter der Tonkunſt, welcher im übrigen ein Zeichen ihrer Stärke war, jteht ihr jegt überall im Wege, wo es gilt, mit dem Zeitgeiite Kühlung zu erhalten. In Paris ſuchte die Oper die Strömungen widerzufpiegeln, welche das Volk bewegten; aber ihre Hauptvertreter waren Staliener. Gluck wollte ernitlich ein mufifaliihes Drama, er liebte jeinen Klopitod und war von wahrhaft poetifchem Geilte erfüllt; aber er componirte franzöfiiche Terte. Und vollkommen veriteht doc ein jeder nur feine Mutterjprache.

Die Mufif braucht das Wort nicht; das bat fie durch ihren Entwidelungsgang bewiejen. Aber immerhin bleibt der Gejang das edelfte muſikaliſche Ausdrudsmittel. Nach poetifcher An- regung zu ſuchen, liegt dem Muſiker näher, als irgend einem anderen Künftler. Kein Wunder aljo, daß er bald fein Reich dem Einzjuge ded Genius der neuen Poeſie zu öffnen jucht. Beethoven bewunderte Goethes Fauit als das höchſte der Kunſt— werfe und wollte ihn in Mufif jegen, den Egmont jchmüdte er durch jeine Töne, und wie er Schillers Lied „An die Freude“ verwerthete, ift befannt. Deutlich fühlt man in feinen Sympho— nien den poetiſchen Pulsſchlag der Zeit. Aber Jahrhunderte alte Grundlagen der Kunſt laſſen fih nicht über Nacht umbauen, und es fragt fih, ob es überhaupt geichehen fann, ohne das

ganze majeſtätiſche Gebäude zu zerſtören. Später geborne Ton— künſtler haben einen noch engeren Anſchluß an den Geiſt der nationalen Dichtkunſt geſucht. In Webers Opern hat in der That die poetiſche Grundſtimmung der Zeit muſikaliſche Geſtalt gewonnen, und einen Augenblick kann man hier von einer in Poeſie, bildender Kunſt und Muſik gleichmäßig waltenden, einheitlichen deutſchen Kunſtanſchauung träumen. Aber dieſes bleibt doch ſicher, daß an den entſcheidenden Hauptpunkten der letzten 400 Jahre der Muſik und bildenden Kunſt die Vermittlung der Poeſie gefehlt hat. Sie blieben innerlich getrennt, und ob auch in neueſter Zeit Verſuche genug angeſtellt werben, dies Verhält- niß zu ändern: wir fpüren die Trennung noch heute. Der Gang der Künfte ift oft jo launiſch und räthſelvoll geweſen, daß es Niemand wird wagen wollen, vorher zu bejtimmen, wie er in der Zukunft fein wird. Vielleicht erhebt fih in Fortwir: fung ihrer durch Sahrhunderte bewährten Kraft die Tonkunft nod einmal zu neuen Großthaten; vielleicht neigen ſich alle deutfchen Künfte dem Abſchluß eines Entwidelungsganges zu. Ob fie dann bei ihrem neuen Auffteigen jenen barmonijchen Verein zeigen werden, in welchem eine Kunſt zwar frei nad ihrer Weife wirft, aber alle doch auf der gleichen Grundftimmung einer nationalen Poeſie ruhen, jenen harmonijchen Verein, welcher allein die ganze und volle Wirkung der Künfte auf das Leben verbürgt, kann man nicht jagen. Wollen wir e8 hoffen! Nicht zwar bereit3 in würdiger poetijcher Verklärung, aber doch in thatfählicher Wirklichkeit erleben wir ein gejchloffeneres Wirken der dem deutſchen Wolfe innewohnenden Lebenskräfte und ein flareres bemwußteres Streben nad gemeinfamen Zielen. Noch mwogen und wallen dieſe Kräfte unruhig durcheinander. Wird aber das Leben der Nation in fich zur Ruhe und Harmonie gelangt fein, dann dürfen wir vielleicht erwarten, es werde die Knojpe bilden für eine gleich harmonische Entwidelung der Künſte.

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Die Wiederbelebung profeflanfilcher Kirchenmuſik auf geſchichtlicher Grundlage.

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er die Entwidelung der Muſik in der protejtantijchen Kirche Deutichlands von der Reformation bis zur Gegen-

wart jtudirt, muß zu dem Ergebniß gelangen, daß eine pro- teſtantiſche Kirchenmufif jchon ſeit hundert Jahren nicht mehr befteht. Das harte Urtheil bedarf einer näheren Beltimmung. Jeder weiß, daß die Mufif in der proteftantifchen Kirche noch nicht ganz verjtummt ift. Auch dasjenige, was in ihr muficirt wird, darf zum Theil noch als wirkliche Kirchenmuſik angejehen werden. Aber daß noch eine jelbftändige Gattung der Ton- funft vorhanden jei, die nur in der Kirche ihre Heimath habe, die Leben und Entwidelungsfähigfeit in ſich trage, auf deren Gebiete der jchaffende Künftler feine Ideale fuche, das muß ver- neint werden: In diefem Sinne gibt es eine proteftantifche Kirhenmufif nicht mehr.

Die Gründe diefer Erjcheinung find mannigfaltig. Sie vollitändig aufzuzählen, ift jeßt nicht meine Abjicht. Einen großen Theil der Schuld tragen die Wandlungen, welche das Firchliche Leben im vorigen Jahrhundert zu beftehen hatte. Erit juchte der Pietismus die Mufif auf das denkbar kleinſte Gebiet zu beijchränfen, dann entzog der Nationalismus dem Künftler jede Möglichkeit eines begeifterten Aufſchwunges. Am Ende des vorigen Jahrhunderts zeigt das, was man gemohnheitsmäßig für die Kirche componirte, eine folche Flachheit und Stillofigkeit, daß man an diejer Periode am liebften gejchloffenen Auges vorübereilt.

Im zweiten und dritten Jahrzehnt unferes Jahrhunderts regte fih in den Tiefen der evangelifchen Kirche neues Leben. Das Bemühen des deutſchen Volkes, fih auf feine Geſchichte zu befinnen, trug aud für die Kirche und Kirchenmufif feine Früchte. Die Mufif des 15. und 16. Jahrhunderts wir wollen fie die mittelalterlihe nennen wurde gleichjam neu entdedt. Ebenfo einige Kirchencompofitionen Bachs und gleichzeitiger Italiener, die man aber in unflarer Vorftellung geneigt war, mit jenen älteren Meiftern unter demſelben Geſichtspunkte zu beurtheilen. Angeregt durch dieſe Entdedungen ſuchte man nun auch die Liturgie der evangelifchen Kirche von neuem auszubauen. Aber e3 blieb bei vereinzelten Verſuchen. Daß es nicht gelang, das Intereſſe an diefen Gegenftand nachhaltig und im weiteſten Kreije zu feffeln, lag zum Theil an der ganzen Zeitjtrömung, zum Theil an der befondern Richtung, welde die öffentliche Mufifpflege in Deutihland nahm. Ammerhin jedoch blieb ein dauernder Ge- winn: die Befanntichaft mit der älteren Kirchenmuſik dehnte fich auf immer größere Maſſen des deutichen Volkes aus, erft Be wunderung, dann auch Liebe erwedend, und viele Compofitionen find ums heute innig vertraut geworden, die man vor fünfzig Fahren als räthielhafte Mefen nur mit Befremden betrachtete.

Man wird zu erwägen haben, wie dieſer Zuſtand für eine Wiederbelebung der proteftantifchen Kirchenmufif ausgenußgt werden fann. Ungzmweifelhaft fann die kirchliche Kunft nur unter den Händen folder Pfleger gedeihen, die nit nur echt religiöfer Empfindung voll, fondern auch von der Erhabenheit des Inſtituts der Kirche ganz durchdrungen find. Deshalb ift die Anficht der- jenigen nicht unberechtigt, die meinen, man ſolle zunächſt das Intereſſe an der Kirche aus den fittlihen und dogmatifchen Grund: lagen derjelben heraus zu kräftigen und zu verbreitern tracdhten, dann werde die Luft zum mufifaliichen Ausbau des Cultus von jelber folgen. Aber es ijt daneben auch noch ein anderer Weg denkbar. Alle Gebiete innerhalb einer Kunſt greifen mehr oder weniger in einander über. So gibt es auch feine Kirchenmufif

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en fih, die mit den übrigen Formen ber Tonkunſt nichts zu ſchaffen hätte. Die Geihichte lehrt vielmehr, daß die Kirchen- muſik zu allen Zeiten einen jtarfen Zufluß aus dem weltlichen Gebiet erhalten hat. Ihre Aufgabe war dann nur, dieje welt- lihen Elemente in fich einzufchmelzen und umzuprägen; gelang ihr das, jo erwuchs fie jedesmal zu neuer Kraft und Schönheit, gelang es ihr nicht was freilich auch vorgefommen ift —, Jo verfiel fie. Was weitere Kreife für die Kirchenwerfe Bach's heut- zutage interefirt, iſt nicht das eigentlich Kirchliche. Es ift theil3 ein allgemein mufifalifches Element, theils jene auch bei Bach vorhandene Seite, wo die Verbindung mit der weltlichen Muſik fihtbar wird. Aber weil dieje Factoren feiner Kunft aus dem Ganzen nicht herausgelöft werden fünnen, jo wird der ernit- bafte Badj-Verehrer gezwungen, allmählich weiter zu gehen. Um jein Berftändniß zu vertiefen, muß er verfuchen, fich in bie religiöje Empfindungswelt des Meiſters einzuleben. Er muß ſich ichließlih mit den Anſchauungen und Einrichtungen vertraut machen, durch welche die Formen bedingt find, in denen dieſes Empfindungsleben fih äußert. Sei nun feine Stellung zur Kirche bisher geweſen, welche fie wolle, das wird auch der Gleich- gültigfte zugeftehen, daß diejenige Macht, die Duell und Grund— lage ſolch erftaunliher Kunjtfchöpfungen fein konnte, eine er: habene und verehrungswürdige fein muß. Gleichſam mit dem Reiz des halbgelöften Räthſels wird es ihn nicht ruhen laſſen, bis er zu dem Punkte vorgedrungen ift, von dem allein aus jene gefammte Kunftwelt erſt als ein wahrhaft Lebendiges erjcheint. Und wie mit Bach, jo it e8 mit andern Componijten. Es führt auch durch die Kunft ein Weg zur Kirche, nicht nur um: gekehrt. Hat doch jchon zur Zeit der Reformation die Mufif und ihre eigenartige Verwendung in den protejtantifchen Gemeinden diefen jo manden Anhänger zugeführt.

Mit dem gänzlihen Verſchwinden einer lebendigen pro:

teftantifchen Kirchenmufif hängt es zufammen, daß es Perg Philipp Epitta, Zur Mufit,

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ſo ſchwer fällt, ſelbſt den Begriff derſelben klar zu ſtellen. Kirchen— muſik gehört in den Gottesdienſt, ſie iſt durch die Form der Liturgie bedingt und kann aus dieſer nicht herausgelöſt werden, ohne den wichtigſten Theil ihrer Wirkung, ihrer Verſtändlichkeit einzubüßen. Immer von Neuem verwechſelt man ſie mit religiöſer oder geiſtlicher Muſik. Daß Händel's Meſſias Kirchenmuſik ſei, kann man noch täglich leſen und hören. In Wirklichkeit iſt er etwas ganz Anderes. Das Oratorium iſt eine allein auf ſich beruhende, ſelbſtändige Kunſtform. Wenn es die Begebenheiten, die es in ſeiner Weiſe kunſtmäßig geſtaltet, mit Vorliebe der Bibel entnimmt, ſo geſchieht dies aus zwei Gründen. Einmal darf bei einem bibliſchen Stoffe noch immer am ſicherſten voraus: gejeßt werden, daß er ein allgemein befannter und Theilnahme erregender fei, ein Umftand, der beim Oratorium bejonders ſchwer ins Gewicht fällt. Dann aber verlangt dieſe Kunftform, foll fie in ihrer Größe und in ihrem umfaffenden Formenreihthum berechtigt erjcheinen, den höchſten Aufihmwung lyriſcher Em: pfindung. Einen jolden ermöglicht am leichtejten ein Stoff, der zu dem höchſten idealen Gute der Menfchheit, zur Religion, in naher Beziehung fteht, oder dem fich doch ohne Zwang eine religiöjfe Seite abgewinnen läßt. Aber nothwendig ift ein biblifcher Stoff jo wenig, daß Händel einige feiner jchönften Dratorien über Begebenheiten aus der antiten Mythologie componiren konnte. Auch Stoffe aus der alten, mittelalterlihen und neueren Profan— geichichte, aus der orientaliichen und deutfchen Sagenwelt, konnten mit Recht für das Oratorium geeignet erfeheinen. Diefe Form, und aljo aud) Händel’ Meſſias, ftellt Eoncertmufif dar und ge hört fomit an den Ort, wo man foldhe zu machen pflegt. Nicht anders verhält es jich mit den Meffen und Requiems, Pfalmen, deutſchen und lateinischen Hymnen, welche die proteftantifchen Tonjeger unjeres Jahrhunderts unter Anwendung ſämmtlicher Kunjtmittel zu componiren pflegen. Sie ftellen fi dabei auf den Standpunft der freien Kunft. An jene Terte fnüpfen fich in Folge ihres Alters, ihrer gejchichtlichen Bedeutung, ihres

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poetiſchen Werthes gewiſſe Stimmungen und Empfindungen. Auch fie benugen die Componiften nur als Kunftmittel, indem fie die— jelben für Form und Inhalt ihrer Gompofitionen zur äfthetifchen Grundlage nehmen. Niemals dürften daher ſolche Werfe Kirchen- mufif genannt werben.

Es handelt fih hier um mehr als einen bloßen Namen. Es handelt ſich um eine Verwirrung der Sachen. Genügender Beweis dafür ift der Umftand, daß die irrige Anſchauung fich auf beiden Gebieten geltend madt. Wie man einerfeits ſich nicht bedenkt, Werke, die gar feinen kirchlichen Mittelpunkt haben, dennoch als Kirchenmufif zu beurtheilen, jo löſt man anbrerjeits wirkliche Kirchencompofitionen aus ihrem liturgifchen Zuſammen— bange, behandelt fie als felbftändige Tonwerke und bringt fie vor eine Zuhörerſchaft, die häufig gar nicht in der Lage fein fann, ihren innerften Sinn zu begreifen. Ich werde auf diejen Gegenitand zurüd fommen. Jetzt foll nur betont werden, daß eine jcharfe Sonderung der religiöfen Muſik von der kirchlichen die erite Vorbedingung ift zur Wiederbelebung proteftantifcher Kirhenmufif.

Wenn die Muſik fi der Liturgie organisch einzufügen bat, jo wird naturgemäß ihr Weſen durch dieje beitimmt werden. Schon ganz äußerlich wird fie auf den Raum einzurichten fein, in dem fie erflingen joll, nach der Zeit, die ihr im Ganzen jedesmal gegönnt iſt. Soweit fie Gejangsmufif ift, wird fie mit dem Inhalt des Tertes in Mebereinftimmung zu bringen fein. Vor Allem aber wird es gelten, ihre Mittel und Formen zu dem innern Wejen des gefammten Borganges in ein richtiges Ver- bältniß zu bringen. Inſofern es fih um eine Gott geweihte Feier handelt, muß die Kirchenmufift den Charakter des Er- babenen tragen. Infofern fie den Empfindungen und Stimmungen der Gemeinde Ausdrud gibt, eignet ihr ein allgemeingültiges Weſen, welches alles Individuelle in gebührenden Schranken hält. Allerdings kann nur der die richtige Meife finden, welcher von der Bedeutſamkeit de3 Vorganges fi ganz hat durchdringen

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laſſen. Dieſer aber wird ſie ſicher finden, falls er nur eben ein wirklicher Künſtler iſt, der für die organiſchen Beziehungen des Theils zum Ganzen eine Empfindung hat. So iſt zu allen Zeiten entſtanden und entwickelt worden, was man kirchlichen Stil nennt. Sein Charakter hat ſich immer um jo ſchärfer ausgeprägt, je fefter und dauernder die Formen des Cultus waren, denen Die Muſik fih anzupafjen hatte. Daß die fatholifche Kirche hier vor der proteitantifchen ein Bedeutendes voraus hat, fieht man leicht. Wirklich ift eine ſolche Zerfahrenheit und endliche völlige Auf: löſung der Kirchenmuſik, wie fie die Proteftanten zu beklagen haben, auf Ffatholifcher Seite niemals eingetreten. Man darf jehr viele fatholifhe Meßmufifen des 18. und 19, Jahrhunderts überaus gefhmadlos nennen; einige, wenn aud nur äußerliche Charaktermerfmale find indejjen an ihnen immer haften geblieben. So gänzlich jtilmidrig, wie man häufig behauptet, find fie nicht, und am wenigiten hätten die proteftantifhen Componiften ein Recht, ſich über fie aufzuhalten. Die Regellofigfeit und Will— für der proteftantifchen Liturgie gehört auch zu den Urſachen, aus denen unfere Kirchenmufif zu Grunde gegangen ift.

Melches find die Grundformen der proteftantifchen Kirchen: mufif, und wann haben fie ſich entwicelt?

Die Mufif der katholiſchen Kirche beruht auf dem ein- jtimmigen gregorianischen Prieftergejange und auf dem polyphonen unbegleiteten Geſange, in welchem eine Vielheit von gleichzeitig gefungenen Melodien ſich zu einem harmonischen Ganzen webt. Diefer polyphone Gejang, den ein bejonderer Chor von Mufikern ausführte, ift deshalb recht eigentlich Fatholifch-firchlich, weil er fih vorzugsmweife im Dienfte der Kirche und nad) den von ihr gegebenen Normen bis zu der Höhe entwidelt bat, welche Paleſtrina's Name bezeichnet. Die jpätere katholiſche Kirchen: mufif war immer noch reich an bedeutenden Kunfterfcheinungen, jo lange fie bei allen weltlichen Elementen, die fie einjog, jene ältere Kunft als ihre wahre Grundlage anerkannte. Dies ift im Xaufe des 18. und 19, Jahrhunderts immer weniger ge-

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ſchehen; daher ein immer tieferes Sinken. Die proteſtantiſche Kirche nun bildete ſich in dem Jahrhundert, da die polyphone Vocalmuſik ihre höchſte Blüthezeit erlebte. Man wird nicht er— warten dürfen, daß es ihr gegenüber einer Kunſterſcheinung von ſo erſtaunlicher Vollendung ſofort gelungen ſei, eine lebenskräftige neue Kunſt zu ſchaffen. Aber es lag dies auch nicht in ihrer Abſicht. Nicht als Gegenſatz zur katholiſchen Kirche wollte ſie ſich angeſehen wiſſen, ſondern nur als eine geläuterte Form derſelben auf gleicher Grundlage. In ihrer Lehre fand ſie kein Hinderniß ich rede hier zunächſt immer nur vom deutſchen Lutherthum von der Tonkunſt der katholiſchen Kirche ſoviel wie immer möglich herüber zu nehmen. Der volksmäßige Charakter, welcher fie auszeichnete, hatte freilich eine ftärfere Betonung des Volfsliedartigen zur Folge. Dies führte auch beim mehrftimmigen Gejange im Einzelnen zu gewiſſen Neubildungen, bie fich von den Kunftformen der katholiſchen Kirche als etwas Bejonderes abhoben. Aber im Allgemeinen war die Kunft, die Luther liebte, und deren Verwendung beim Gottesdienite er empfahl, Ddiefelbe, mit der fi auch der Fatholifhe Eultus ſchmückte. So wenig beftand bier ein principieller Gegenfag, daß Luther's Lieblings- componift und Freund, der Münchner Mufifer Ludwig Senfl, ein unentwegt gläubiger Katholit war, daß andere Fatholifche deutiche Tonmeifter Luther's Lieder mit Vorliebe in Muſik ſetzten und hierdurch für die protejtantifchen Gemeinden arbeiteten. Es war das jene Zeit, da der größte Theil der gebildeten Deutjchen, angewidert durch die grellen Mißbräuche in der fatholifchen Kirche, der Reformationsbewegung anhing, mochte es auch nicht Allen thunlich erfcheinen, mit ihrer ganzen Eriltenz für diefelbe ein- zutreten. Erit als jene mächtige Welle der Culturbewegung zerrann, welche die Tonfunft des 16. Jahrhunderts auf ihre höchite Höhe gehoben und zugleich den eriten glorreichen Auf- ihwung des Reformationsgedanfens durch ganz Europa bewirkt batte, geitalteten fich die Dinge anders. Als durch den breißig- jährigen Krieg der Gegenſatz zwiſchen Katholiken und Proteftanten

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in Deutihland ein fcharfer, feinbjeliger und gemwaltthätiger geworden war, da erſt begann bei diefen eine ganz eigene Kirchen: muſik ſich zu bilden.

Die Grundformen derjelben find wiederum zwei. Die eine beiteht im Gemeindelied, demjenigen alfo, was wir proteftantifchen Choral zu nennen pflegen. Zum Theil wurzeln diefe Choral: melodien im Volksgeſange des Mittelalters, zum Theil au in der katholiſchen Kirchenmufif, infofern fie aus Melodien des gregorianifhen Prieftergefanges gebildet find. Andere find im Neformationszeitalter der mweltlihen Muſik entlehnt worden, wieder andere eigens für die proteftantifche Kirche componirt. Auch an den entlehnten hat biejelbe ihr Eigenthumsrecht dadurch dargethan, daß fie allein e8 war, durch deren Vermittelung jene Melodien im Volke wahrhaft lebendig blieben, und daß fie da, wo es nöthig ſchien, ſie der kirchlichen Würde angemeffen um- geitaltete. Die proteftantifchen Choralmelodien wurden ſammt ihren deutſchen Terten von der ganzen Gemeinde gejungen. Durch fie fam die Gemeinde zur unmittelbaren Theilnahme am Gottesdienſt. Das perſönliche Verhältniß, in dem ſich ber proteftantiiche Chriſt Gott gegenüber fühlt, gelangt bier zum Ausdrud. Die katholiiche Kirche Fennt grundfäglich bie thätige Theilnahme der Gemeinde nicht; in ihr fingt nur der Priefter und der mit einer Art von priefterlihem Charakter bekleidete Chor; es wird ferner in einer beſonderen Kirchenipradhe, ber lateinifjchen, gejungen. Durch die Einführung des Firdlichen Volksgeſanges wird alfo das Weſen der proteftantifchen Liturgie vom Grunde aus verändert. lm einem Mißverftändnifje zu begegnen, betone ih, daß der kirchliche Volksgeſang nicht etwa erit im 17. Jahrhundert zu einem mefentlichen Theile des evangelifhen Cultus wurde. Er hat fich feine Stellung gleich beim Beginne der Reformation erobert. Aber einen umgeftaltenden Einfluß auf die kirchliche Kunftmufif im engeren Sinne gewann er einftweilen nicht. Hier blieb, gewiſſe mehr nur äußerliche Ab- wandlungen abgerechnet, im 16. Jahrhundert noch Alles beim Alten.

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Als zweite Grundjäule der protejtantiichen Kirchenmufif ericheint nicht der Chor, fondern die Orgelmufit. Daß der Chor als ein priefterliches Organ, aljo auch als ein Vermittler zwiichen der Gemeinde und Gott, in dem proteftantiichen Cultus feine Stätte mehr finden fonnte, nachdem einmal die unmittelbare Betheiligung der Gemeinde in jo weitem Umfange zugelafien war, ift einleuchtend. Wollte man ihn weiter verwenden, jo fonnte es nur fo gefchehen, daß man ihn als ein rein mufifalifches Organ auffaßte. Dies ift auch wirklich fortdauernd der Fall gewejen. Aber im 17. Jahrhundert fing die Chorcompofition, und zwar jomwohl die von Inſtrumenten unbegleitete, als auch die bald überwiegend gepflegte begleitete, jchnell an einen unfirchlichen Charakter anzunehmen. Ih jage nicht, daß fie vermweltlichte; diefer Gegenjag würde hier nicht mehr pafjen. Sie wurde viel: mehr frei fünftleriih und fuchte immer entjchiedener allein Durch ih ſelbſt verftändlich zu werden. Sie wurde oratorienhaft. Diefer Zug erfaßte zwar auch die katholiſche Kirchenmufif. Aber die viel gründlicher durchbildete, jchärfer ausgeprägte und durch eine lange Tradition gefeftigte Form der katholiſchen Liturgie hielt die Componiften fräftiger beim Alten feit und 309 ihnen Schranken. Die Proteftanten hatten nur eine geringe Tradition und feinerlei fonitige Schranfen. Es ift daher auch feineswegs zufällig, daß Händel, der Nollender des Dratoriums, ein Proteſtant war. Echüß, der größte deutiche Vocalcomponift de3 17. Jahrhunderts, leitet unmittelbar auf Händel hin, während Bad) feiner Weiſe ferner fteht. Das Ericheinen über: tagender Genies in der Geſchichte pflegt klärend auf die Ent- widelungsrihtungen zu wirken, die fih manchmal jonderbar verichlingen und vermwirren. Niemals ift dies entjchiebener geichehen, als durch die gleichzeitigen Meifter Händel und Bad). Im Händel’fchen Oratorium vollzieht fich der endliche fiegreiche Durchbruch einer freien Concertmuſik größeften Stiles. Bad) bringt die eigentlich proteftantifche Kirchenmufif auf Grundlage des Choral3 und der Orgelkunit zur Vollendung. Wenn troß-

dem während des 18. Jahrhunderts in katholiſchen und proteſtantiſchen Kirchen immer viel Oratorienhaftes muſicirt, wenn in letzteren Oratorienhaftes und Kirchliches ſtillos vermiſcht wurde, ſo hatte das einen äußerlichen Grund. Es gab damals außer in England nirgends ein öffentliches Concertweſen. Wer mit einer oratorienartigen Compoſition an die Oeffentlichkeit gelangen wollte, mußte ſie vom Kirchenchor herab ertönen laſſen. Heute beſteht dieſer Entſchuldigungsgrund nicht mehr.

Alls äſthetiſche Merkmale der wahren Kirchenmuſik bezeichnete ih Erhabenheit und Unperſönlichkeit, als ihr geſchichtliches die Entwidelung unter dem maßgebenden Einfluß der Kirche. Die proteſtantiſche Orgelmufif des 17. und der erften Hälfte des 18. Sahrhunderts zeigt diefe Merkmale deutlih. Es verfteht ih, daß der Ausdrud des Kirchlich-Erhabenen fein feititehender it. Wäre dies, jo könnten wir uns bei Paleſtrina's Compofitionen für immer beruhigen, die ihn im höchſten Grade zu eigen haben. Aber nach Zeiten und Völkern find die Empfindungsmeifen ver: jchieden, fie find verſchieden auch nad) den befonderen Ber: hältnifjen, unter deren Einwirkung fie ftehen; mit ihnen jind e3 die angewendeten Kunftmittel. Ebenſo iſt die Forderung der Unperſönlichkeit mit Einfchränfung zu verftehen. Aufs Heußerfte durchgeführt werden kann und fol fie nicht. Immer find e3 Menſchen von Fleifh und Blut, die fingend und fpielend Gott verherrlihen. Und je nachdem eine Kirche das Ver— hältniß des Individuums zum Höchſten als ein mehr oder weniger unmittelbares auffaßt, wird auch der Ausdrud perjönlicher Empfindung in der Kirchenmufif mehr oder weniger hervortreten. So lange die Orgel im driftlichen Abendlande im Gebraud) ift, bat fie faßt ausfchließlich der Kirche gedient. Namentlich haben alle Formen der DOrgelmufif ihre wejentlide Entwidelung im Dienfte der Kirche erfahren. Und weiter haben gerade die proteftantifchen Componijten des 17. und 18. Jahrhunderts fie zur höchſten Blüthe gebracht. Weil die Orgel weder einen ſchnellen Wechſel der Stärfegrade noch ein An- und Abjchwellen des

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einzelnen Melodietones, noch ſonſt eine befondere Schattirung desſelben zuläßt, wehrt fie die Sineintragung eines jubjectiven Gefühlsausdrudes ab. Durch die ruhig ftrömende Gleihmäßigfeit ihres Klanges, ebenfo wie durch die großartige Fülle und Macht, die fie zu entwideln fähig ift, macht fie zugleich den Eindrud des Erhabenen. Iſt die Erhabenheit der Orgelmufit eine andere, als die der katholiſchen Geſangsmuſik des 15. und 16. Jahrhunderts, jo entjpricht diefe Verfchiedenheit nur den Verhältniffen. Der a capella- Gefang hat etwas Lichtes, Ruhig-Verklärtes. Die Seligkeit einer Andacht, die aus kindlicher Hingabe an die allforgende Kirche fließt, die Empfindung des ftillen Glüdes, im Himmliſchen zugleih die irdiſche Schönheit genießen zu dürfen, ift er im Stande vortrefflid auszudrüden. In der Orgelmufif überwiegt der Charakter gedrungener Kraft, durh Macht gebändigter Bewegung. Sie verflärt nit, aber fie vergeijtigt. Die rhythmiſche Beſtimmtheit, die Präcifion des Zufammenfpiels, die zum Vortrag jedes Orgelftückes unerläßlich nothmwendig find, geben ihr etwas Mannhaftes, Bewußtes und Selbitändiges. Auch dadurh, daß die Orgelmufif von einem Einzigen zu Gehör gebraht wird, während beim Chorgefang viele Individuen zuſammenwirken, befommt jene einen perjönlicheren Charakter. Bedenft man, daß die höchſte Vollendung der polyphonen Geſangsmuſik durch die Staliener herbeigeführt wurde, jo it klar, daß fich hier nicht nur ein Gegenfag der Confeſſionen, fondern auch der Völker und Länder geltend madt. “Der warmen, athmenden, finnlichen Schönheit, der antik anmuthenden Einfachheit, wie fie Paleftrina’s Compofitionen zeigen, fteht in der deutichen Orgelmufif eine Kunft gegenüber von rauherem Neußeren, von einer düfteren aber nadhhaltigeren Kraft, einem abjtracteren, aber tieflinnigen Wejen. Dort die durchfichtige, reine Bläue des italienifchen Himmels, hier das mächtige Raufchen und Braufen der deutfchen Eichenmwälder und des nordifchen Meeres. Ueberdies iſt Mittel: und Norddeutichland, alfo der eigentlihe Sit des Wroteftantismus, viel weniger das Land

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des Gejanges als Italien und Deutfchlands fatholifcher Süben. Sich durch die menſchliche Stimme muſikaliſch zu äußern, mußte dort am nächſten liegen, wo die Natur die jchönften Stimmen darbot. Schon durd feine natürliche Veranlagung wurde das proteftantifche Deutfchland entjchiedener auf die Anftrumental- muſik hingewieſen. Die Orgelkunft der Italiener war eine aus dem Norden importirte Pflanze, die nach kurzer, glänzender Entfaltung ſchnell verblühte. Dagegen befanden ſich wieder bie proteftantifchen Singchöre im 17. Jahrhundert in einem Zuftande, deffien Mangelhaftigfeit an ſich ſchon verhindern mußte, daß mitteljt des Chorgejanges eine jelbitändige proteſtantiſche Kirchen: mufif erwuchs. Es waren Schülerchöre, denen fi” mitunter einige Dilettanten anſchloſſen. Sopran und zum Theil aud Alt fangen Knaben, da man Frauengejang in den Kirchenchören noch nicht fannte; zum Tenor und Baß wurden unreife Jüng- linge verwendet, welde den Chor verließen, wenn ihre Stimmen brauchbar zu werden anfingen. Solche Chöre mußten gegenüber den katholiſchen Gapellen eine traurige Rolle fpielen. Dort waren ausgebildete, berufsmäßige, dauernd zuſammen— wirkende Sänger. Die proteltantiijhen Schülerchöre konnten auch deshalb nichts NAusgezeichnetes leilten, weil ihr Beltand mit jedem Jahre wechſelte. Italieniſche Sänger wurden freilich an manden Fürftenhöfen angeftellt, aber fie wurden ihrer Confeffion wegen im proteltantifchen Gottesdienft nur ausnahms— weile gebraudt. Und ſuchte auch wirklich einmal ein Fürft eine ftändige proteftantifche Bocalcapelle durch Heranziehung und Ausbildung guter einheimifcher Kräfte zu fchaffen, fo blieben das Seltenheiten, die für das allgemeine Gedeihen bes Chor- gefanges wenig bebeuteten.

Lebensformen vergangener Zeiten fünnen nur dann mit Erfolg erneuert werden, wenn es möglichit auf demfelben Boden geſchieht, auf dem fie einitmals freiwillig erwuchſen. Und umgefehrt: wer einen brach liegenden Ader wieder mugbar machen will, wird wohlthun, zunächſt das auf ihm zu pflanzen,

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was er früher in ſo herrlicher Fülle zu tragen vermochte. Wer alſo die proteſtantiſche Kirchenmuſik wieder beleben will, ſoll ſich an das halten, was vor Zeiten die eigentliche proteſtantiſche Kirhenmufit geweſen ift. Von den Erneuerungsverfuhen am Anfang unjeres Jahrhunderts kann man nur mit Hodhadhtung ſprechen. Aber damal3 handelte es fih fait um ein neu zu entdeckendes Kunftgebiet, deſſen Grenzen und Theile dem Blid nicht immer deutlich fein fonnten. Fünfzig nachfolgende Jahre haben unfere Kenntniffe bereihert.e Ach darf es ausſprechen, daß die Arbeit unferer Vorgänger nicht an der richtigen Stelle eingefegt hat. Sie wollten die proteftantifche Liturgie wieder— beleben und verjuchten dies mittelft einer Chormufif, die im Innerſten gar nicht protejtantifch ift. Eichendorff erfennt, wie man weiß, den Katholicismus als die Heimath der deutſchen Romantik, und in einer einft viel gelefenen Schrift des Romantikers Wadenroder wird Jemand durch die Muſik zur katholiſchen Kirche befehrt. Die Perfönlichkeiten und Kreife aber, von denen damals die Neugeftaltung der proteftantifchen Liturgie betrieben wurde, ftanden ganz unter dem Einfluß der deutfchen Romantif. Kein Wunder, daß fie fich zur fatholifhen Kirchenmuſik mächtig bingezogen fühlten und für die jelbftändigen Kunftbildungen des Proteftantismus nicht den richtigen Blid befaßen. Von ber Anſicht ausgehend, daß neben dem Choral die unbegleitete Chor- muſik die einzig wahre Kirchenmufif fei, gelangte Winterfeld dahin, in den Compofitionen Eccard's, eines liebenswürbigen und zarten, aber eng begrenzten Talentes, die höchſte Spike evangelifher Tonkunſt zu erfennen. Dagegen iſt ihm die Mufif Seb. Bach's eine Mufif des Verfalld. Es war feine und vieler Anderer Anfiht, daß man dieſe beſſer in den Goncertjaal ver: weile. Das ijt denn auch fait allgemein gefchehen, und es ift im Weſentlichen bis heute dabei geblieben. Die Gründe waren freilih auch noch andere, als der vermeintliche Mangel an Kirchlichkeit. Was der öffentlichen Mufifpflege in dem Deutjch- (and des 19. Jahrhunderts bisher ihr hervorragendftes Merkzeichen

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gegeben hat, ift die Thätigfeit der Chorvereine. Mit den Kirchen- hören des vorigen Jahrhunderts ftehen diefe Bereine in gar feinem Zuſammenhange. Ihre Grundlage fanden fie in den privaten Mufitgejelihaften des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Anftoß zu ihrer Entfaltung in® Große aber fam von England. Hier wurde 1784 zuerft eine Maffenaufführung von Händel'ſcher Mufik veranftaltet, die in Deutſchland Nahahınungen fand. Dann kamen von 1810 an die großen deutſchen Mufik- fefte in Gang, die überallhin die Anregungen zur Pflege ber großen Formen der begleiteten Chormuſik ausfendeten. Händel’s Muſik alfo und die des durch fie befeuerten Haydn find bie Schöpfer der modernen Chorvereine und der Gegenjtand ihrer Pflege ift das Oratorium. Während aber diefe Vereine zur Blüthe famen, waren die Kirchenhöre ſchon ganz in Trümmer gegangen. Bach'ſche Mufit war nur in den Vereinen auf- zuführen, und man fühlte bald Intereſſe genug, ihre Aufführung überhaupt zu wollen. So gelangte der proteſtantiſche Componiit ins Concert, während man in ber Kirche mit Fatholifivender Muſik operirte,

Es ift mir durchaus fein Zweifel darüber, daß diejer Weg verlaffen werden muß. Damit wende ih mid gewiß nicht gegen die Pflege der a capella-Mufif an fi. Daß man begonnen hat, diejes der Kunftübung ganz verlorene Land zurüd: zugewinnen, ift eine That von unverfennbarer Tragweite. Aber die Verjchiedenartigkeit katholiſcher und proteftantiicher Kirchen- muſik ift nun einmal, ebenfo wie der Gegenjaß der beiden Confeffionen, eine gefhichtliche Thatſache. Es bleibt doch nichts übrig, als fie offen anzuerkennen. Die ihnen gehörige Firchliche Tonkunft wieder als ſolche zur Geltung zu bringen, muß einft- weilen den Satholifen überlaffen bleiben. Dies Ziel wird von ihnen auch feit einiger Zeit mit rühmlichem Eifer angeftrebt. Man könnte fih nur freuen, wenn e3 ihnen gelänge, allmählich die großen Schwierigkeiten zu überwinden, die der Einführung des a capella-Gefanges als maßgebender Form ber Fatholifchen

Kirchenmuſik entgegenſtehen. Die Proteſtanten aber ſollten ſich angelegen ſein laſſen, die herrlichen Tonwerke des 15. und 16. Jahrhunderts zunächſt, ſoweit es angeht, von ihrer rein künſtleriſchen Seite verſtehen und genießen zu lernen. Ueberall müßten ſich Vereine bilden, welche die Pflege dieſer Muſik und ihre Ver— mittelung an das Publikum ſich zur alleinigen Aufgabe machten. Vereinzelt ſind auch derartige Verſuche hervorgetreten. Aber im Ganzen iſt nach dieſer Richtung noch verſchwindend wenig geſchehen. Man drehe die Sache einmal um, ſetze die proteſtantiſche Kirchenmuſik an die ihr zukommende Stelle ins Gotteshaus, und behandle den a capella-Geſang als Gegenſtand concert: mäßiger Pflege. Dies würde noch einen beſonderen Vortheil haben. Im Mittelalter ſtanden ſich kirchliche und weltliche Muſik viel näher als jetzt, eine Folge des Uebergewichts, das die Kirche auf allen Lebensgebieten hatte. Neben der kirchlichen Vocalmuſik erblühte eine weltliche, die mit jener dasſelbe Ge— ſtaltungsprincip hatte und, wenn ſchon an Bedeutung ihr unter— geordnet, doch in beftändiger Wechſelwirkung itand. Auch diefe weltlihe Mufif zu pflegen, würde die Aufgabe ſolcher Vereine jein. Die reinigende Wirfung, melde dadurch auf unfere moderne, im Uebermaß der Mittel jchwelgende und fait erftidende Muſik ausgeübt werben könnte, dürfte nicht zu hoch veranschlagt werden. Mittelbar würde dann dieje Wirkung auch der evangelifchen Kirkenmufif zu Gute fommen, wenn es gelänge, die Schaffens: luſt unferer Eomponiften den kirchlichen Idealen wieder zuzuwenden.

Aber für die Evangelifchen gilt es zunächſt den einſtimmigen Gemeindegejang neu zu beleben. Seit 100 Jahren ift nicht eine einzige Choralmelodie mehr erfunden, die ſich als folche bewährt hätte. Der Schag von Melodien, die die proteftantijche Kirche theils zu ihrem Gebrauch umprägte und verebelte, theils neu erfand, it dennoch ein jehr reicher. Kein Volk der Welt hat ihm etwas Aehnliches an die Seite zu ftellen. Noch im Anfang des vorigen Jahrhunderts war die Mehrzahl der Melodien nebft ihren Terten Allen vertraut. Dann beginnt eine nach ber andern zu

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ſchwinden. Heutigen Tages dürften in keiner Gemeinde mehr als durchſchnittlich zwanzig Melodien wirklich lebendig ſein. Daß unter dieſen Umſtänden eine mannigfaltige Bethätigung der Gemeinde an der Liturgie unmöglich ift, begreift ein Jeder. Hier Wandel zu fchaffen, ift natürlich Aufgabe der Schule. Die Angelegenheit verzweigt fich fomit in die fchwierige Frage nad) der Geftaltung des Schulgejang-Unterrits, der wenigſtens in Preußen zur Zeit im Allgemeinen ziemlich tief darnieder liegt. hm aufzuhelfen, wird wieder die Ausbildung befonderer Ge- fanglehrer von Nöthen fein. Auf die Löfung diefer Frage kann bier nicht eingegangen werden. Andrerjeit3 hängt die Belebung des kirchlichen Volksgeſanges auch mit der Gejangbuchfrage eng zuſammen. Die Reimereien des Rationalismus haben wir glüd- lih überwunden; des Werthes der Kirchenlieder des 16. und 17. Zahrhunderts find wir uns wieder bewußt geworden. Es handelt fih nur darum, fie in wejentlich unverfälichter Form dem Volke wieder einzupflanzen. Wer das Charafteriftifche einer Zeit zu ſchätzen weiß, wird ſich gegen jede Abänderung fträuben. Dennoch dürfte eine joldhe in vorfichtig gezogenen Grenzen um jo weniger erläßlich fein, als die Continuität der Veberlieferung durch die rationaliftiiche Zeit unterbrochen worden it. Man nimmt das Alterthümliche williger hin, wenn man e3 von den Vätern ererbt hat. Den Gejchmad in veraltete An- ihauungen zurüdzwingen, ift Schwierig und faum erſprießlich. Die Frage würde ſich einfacher löjen, wenn eine Generation geijt: liher Poeten erftände, die das Alte liebevoll in fich zum Neuen umbildete. Bekanntlich aber find jeit Klopftod äußerft wenige Verfaffer geiltlicher Lieder gewejen, die den Namen „Dichter“ verdienten.

Neben dem Choralgejang bedarf die Orgelmuſik erneuter ernfter Pflege. Kann Injtrumentalmufif die Aufgabe der Kirchen: muſik erfüllen? Für fi allein gewiß nicht, aber wohl mit und neben dem Geſang. Dieſer ift unzweifelhaft die Grundlage der Kirhenmufif. Aber nicht deshalb, weil die Mufif an fi ihrem

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innerften Weſen nad Gejang, d. h. rhythmiſch gegliederte, in abgemefjenen Tönen ſich bewegende Sprade wäre. Daß fie dies nicht iſt, lehrt ihre Gefhichte zu allen Zeiten. Sondern weil das, was den Charakter einer Kirche unterfcheidend be- ftimmt, ihre Glaubensgrundjäße find, und diefe allein durch das Wort geformt und zum Ausdrud gebracht werben fünnen. Die Orgelmuſik fann nun zum Gemeindegefang in ein Berhältnig treten, daß fie an der Bebeutung des Wortes Antheil gewinnt. Ich meine hier nicht die einfache Begleitung des Gefanges. Es gibt eine Anſchauung, welche die Choralmelodien ala Symbole des kirchlichen Lebens erfaßt. Eine Melodie, wie „Gelobet ſeiſt du, Jeſu Ehrift”, bedeutet dem kirchlich erzogenen Proteſtanten mehr, als eine mwohlgefällig gegliederte und abgerundete Ton: reihe. Sie bildet ihm mit der Dichtung ein unlösbares Ganze; erklingt fie nur, jo hört er innerlich die Worte mit. Sie wedt ihm zugleich die ganze Fülle der Weihnachtsempfindungen; fie führt ihm das Felt jelbit und jeine befondere Bedeutung im Kirhenjahre vor die Seele. Ebenſo verdichtet ſich ihm in der Melodie „D Haupt voll Blut und Wunden” das Bild der Paſſionszeit, erfcheint ihm die Melodie „Wir glauben All’ an einen Gott” als das Zeichen des chriſtlichen Glaubensbefenntnifjes. Diefe ſymboliſche Auffaffungsart entjpricht durchaus dem Wefen der Kirche, denn dieſe ijt ihrer innerjten Natur nach ſymboliſch. Nun befigt die Mufif mehr als jede andere Kunſt das Ver: mögen, ein Kunftgebilde organisch in ein anderes aufzulöfen und e3 dennoch zu gleicher Zeit in erfennbarer Selbjtändigfeit weiter beftehen zu laffen. Eine Choralmelodie läßt ſich in unzähligen Formen bearbeiten, ohne daß an ihr ſelbſt eine Note geändert zu werden brauchte, allein mittelft frei hinzu erfundener Gegen: jtimmen und ber durch fie erzeugten Zujammenflänge. Bier er: öffnet ſich dem erfinderifchen Componijten ein unbegrenztes Feld der Thätigfeit. Und eben diefe auf fymbolifche Auffaffung ge: gründete mufifalifche Verwerthung der Choralmelodie bildet die Hauptform der proteftantifchen Orgelmufif. Im mittleren

Deutſchland des 17. Jahrhunderts iſt ſie erſtanden. Sie iſt, obwohl ſie natürlich mit der Kunſt vorherliegender Zeiten nicht außer Verbindung ſteht, doch ihrem innerſten Weſen nach eine neue Erſcheinung. Auf das Emſigſte durch 100 Jahre gepflegt, erreichte ſie durch Bach eine wunderbare Höhe der Vollendung. Man darf ſagen: ſolch ein Orgelchoral redet voll verſtändliche Worte auch ohne Geſang, und wenn es irgend echte Kirchen— muſik gibt, ſo iſt er eine ſolche. Doch nicht nur dieſe Form hat die proteſtantiſche Orgelmuſik angenommen. In Präludien und Fugen, in Paſſacaglios und Toccaten iſt ſie zu nicht minder bewundernswerther Schönheit erblüht. Auch auf ſie hat der Choral Einfluß ausgeübt, jedoch mehr nur in rein muſikaliſchen Beziehungen. Die feſte ſymboliſche Bedeutung der Orgelchoräle fehlt ihnen. Sie dienen zur Erweckung einer allgemeinen kirch— lich-feierlichen Stimmung, bereiten die gottesdienſtlichen Acte vor, vermitteln ſie untereinander, und löſen endlich den Geſammt— eindruck derſelben in eine erhabene Harmonie der Töne auf.

Es gehört zu den am Anfang unſeres Jahrhunderts auf— gekommenen und bis heute feſtgehaltenen Irrthümern, daß die Orgel nur den Gemeindegeſang zu ſtützen und allenfalls dem— ſelben vor- und nachzuſpielen, ſonſt aber in der Liturgie keine weitere Aufgabe habe. Auf die Geſchichte kann ſich wenigſtens dieſe Anſicht nicht gründen. Wenn man behauptet, daß die Orgel in der evangeliſchen Kirche des 17. Jahrhunderts und auch noch des 18. dieſe untergeordnete Stellung niemals eingenommen habe, jo jagt man zwar etwas zu viel, aber doch nur wenig zu viel. Richtig it, daß auf den Gemeindegejang zuweilen durch ein kurzes Orgelftüd vorbereitet wurde. Auch daß da, wo der Gejang roh und unftät geworden war, die Orgel dazu diente, ihn in Zudt und Gang zu erhalten, ſoll nicht geleugnet werben. Wohl aber iſt es falſch, zu meinen, die alten Meiſter hätten hierin die eigentliche Aufgabe der Orgelmufik gefehen. Selbit in der fatholiichen Kirche, wo übrigens die Orgel wirfli niemals eine hervorragende Rolle gefpielt hat, wurbe zur Begleitung ge:

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wiſſer Meßacte gelegentlich ein jelbitändiges Orgeljtüd gejpielt. Bei den Evangeliichen aber wurde die Orgel durchaus als be- rechtigte liturgifche Macht neben dem Choralgejange angeſehen. Sie war nicht dazu da, die fingende Gemeinde im Ton zu halten und wenn ihr die Melodie abhanden gekommen war, dieje ihr mit ſtarken Regiftern ins Ohr zu fpielen (obwohl das Alles ja auch zumeilen geſchehen mußte), jondern ein kräftiger, voller und fiherer Gemeindegejang war vielmehr die Vorausjegung, damit die hinzukommende Orgel ihre eigentlihe Wirkung that. Das Verhältnig beider Mächte zu einander wird auch ſchon durch theoretifche Betradhtung klar. Iſt der Gejang nicht ſtark und fiher, jo wird er dur die Orgel erdbrüdt, und wer auf den vorjpielenden Organiften horchen will, wird eine Melodie weder lernen nod als Ausdrudsmittel der Andacht jemals frei ge: brauchen fönnen. Man eifert heute gegen die Zwijchenjpiele, durch welche der Organift die einzelnen Zeilen des Gemeinde- liedes trenne. Das ift richtig: wenn die Orgel nur die Ge- meinde im Ton erhalten joll wie man auch im 16. Jahr- hundert zu a capella-&ompofitionen Inſtrumente fügte, um den Sängern die Aufgabe zu erleichtern dann find die Zwijchen: jpiele ein Unfinn. Aber die Organijten des 17. und 18. Jahr— bunderts hatten jene Anſchauung eben nicht. Ihnen verbanden ih Gejang und Orgel zur Darftellung eines einheitlichen Kunſt— ganzen, bei dem es galt, den Reihthum des nftruments ge: bührend zu entfalten. Es fiel ihnen auch nicht ein, jtets im einfach vierftimmigen Sage, Note gegen Note, zu begleiten. Sie thürmten gelegentlich die reichten Harmonien auf, umfpielten die Melodie, führten die unteren Stimmen lebendiger, entwidelten aus ihnen Zwifchenjäge, welche die Bewegung im Gange hielten, wenn der Gejang rubte. Manche Lieder im Gottesdienjt wurden auch immer ohne Orgelbegleitung gefungen, bei andern wechjelten Orgel und Gejang Strophe um Strophe. Die zuvor von mir beichriebenen Uebertragungen des Chorals auf die Orgel allein

und ſolche Stüde wurden doch auch während des ——— Philipp Spitta, Zur Muſik.

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vorgetragen konnten gar nicht anders als unter der Anſchauung entſtehen, daß die Orgel eine ſelbſtändige Macht der Liturgie war. Eher kann man ſagen, daß die Orgel zu Zeiten die Rolle des Gemeindegeſanges eingeſchränkt hat, als daß ſie dieſem immer untergeordnet geweſen jei.

Den heutigen Stand der Orgelkunſt kann man nicht ohne Bedauern und Beſchämung anſehen. Kaum, daß ſie überhaupt noch für unſer Muſikleben exiſtirt. Wir bauen wohl noch große Orgeln, die großen Organiſten aber ſind faſt verſchwunden. Selbſt der Name „Organiſt“, früher ein hoch ehrender, welchen Klang hat er heute? Was durch anderthalb Jahrhunderte große und größte Orgelmeiſter ſchufen, iſt in weiteren Kreiſen ganz vergeſſen. Ein Mann wie der 1780 geſtorbene Joh. Ludw. Krebs, deſſen Talentkraft ihm, lebte er heute, einen erſten Platz unter den Künſtlern unſerer Zeit anweiſen würde, iſt ſo vergeſſen, daß die Mehrzahl der heutigen Muſiker kaum ein Stück von ihm fennen dürfte. Von großen Meiftern aus der eriten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eriftiren nur noch die Namen. Ihre Werke, die nah damaligem Brauch nur abjchriftlich verbreitet zu werden pflegten, find unter der Gleichgültigfeit Tpäter Lebender zu Grunde gegangen. Bon andern liegen die Werfe in wüſten Trümmern umher. Das ift in einem Lande geichehen, weldes fih noch um 1750 von einem der berufenften Beurtheiler nad): rühmen lafjen durfte, daß es das wahre Orgelland ſei und bleibe. Selbſt von Bach's Orgel: Werfen find doch nur einige Präludien und Fugen im Kunitbemußtjein unferer Zeit wirklich lebendig. Die Orgelchoräle, diejer für die Kirche wichtigſte Theil feiner Orgelmufif, find, obſchon in gedrudten Ausgaben vorhanden, do ein ungehobener Schatz. Gelangt einmal ein ſolches Stüd in einem Kirchenconcert zu Gehör, jo pflegt es mit jener Ber: legenheit angehört zu werden, die aus dem Wibderftreit zwiſchen dem traditionellen Rejpect vor Bah und dem perjönlichen Un- behagen entipringt. Hier zeigt e8 ſich am deutlichiten, daß der Mehrzahl der Einn für die proteftantiiche Kirchenmufif verloren

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gegangen iſt. Entſinnen ſie ſich doch kaum der Melodie, wie viel weniger des zugehörigen Gedichtes; geſchweige, daß ihnen die ſymboliſche Bedeutung des Chorals deutlich wäre. Sehr viele und hochangeſehene Muſiker unſerer Tage gehören zu ihnen erklären Orgelmuſik für eine Verſtandesmuſik, die das Herz ungerührt laſſe. Selbft der Klang des Inſtrumentes ift ihnen antipathiih; fie nennen es auch wohl geradezu ein un- mufifalifches. Wenn man nun vergleicht, was in früheren Zeiten für die größten Genies die Orgel bedeutete, wie manche ihr ganzes Schöpfervermögen in ihren Dienit jtellten, jo fragt man ſich mit Verwunderung, wohin wir denn eigentlich gerathen find? Eine jo gründliche Entfremdung fann natürlih nur jehr langjam zum Weichen gebradht werden. Aber alles nur Mögliche jollte jofort geichehen. Bor Allem dürfte Die äußere Stellung der Organijten nicht länger bleiben, mie fie if. Meiſtens find fie io gering bejoldet, daß fie, wenn fie nicht zugleich ein Lehrer: amt haben, auf angeitrengtejte Nebenarbeit angemwiejen find, um ih durchs Leben zu bringen. Sid in ihre Kunft zu vertiefen und in ihr weiterzubilden, ift ihnen unmöglid. Wiederum wird ein Mufifer, der Jahre hindurch nicht Anitrengung noch äußere Mittel geipart hat, um ſich eine gründliche Bildung zu erwerben, nicht leicht geneigt fein, unter den herrichenden Umjtänden in einen Organiftendienit zu treten. So werden Stellen mit un— fähigen Berfönlichkeiten bejegt, die gerade die gründlichite Schulung und ausgebreiteteite Bildung erfordern. Daß aber auch für die 2ehre der Orgelkunſt nicht ausreichend gejorgt ift, iſt leider eben: fall wahr. Dem preußifchen Staate gereicht es zur Ehre, daß er jchon im 2. Jahrzehnt unferes Jahrhunderts durch Gründung des Inſtituts für Kirchenmuſik in Berlin fördernd einzugreifen juchte. Aber diejes und was fpäter noch geichah, hat den Ver: fall nicht aufhalten können. Zu verwundern iſt es nicht, da man die firhlihe Bedeutung der Orgelmufif nicht richtig würdigte. Geſchähe nur dies, jo dürfte man hoffen, daß fih auch Mittel

und Wege fänden, dem vorgejtedten Ziele nahezufommen. 4*

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Ich ſagte vorhin, daß der Chorgeſang in der proteſtantiſchen Kirche nur die Bedeutung eines rein muſikaliſchen Ausdrucks— mittels habe. Andere haben in ihm den idealen Repräſentanten der gejammten Chriftenheit jehen wollen. Dies läuft zum Theil auf dasjelbe hinaus. Jedes Kunſtwerk idealijirt, indem es dem Befonderen den Charakter des Allgemeinen verleiht. Nur glaube ih, darf man diefe Aufgabe des Fdealifirens in der Kirchen: mufif nicht einem einzelnen bejonderen Organ derjelben beilegen. Der Choral iſt ebenfall3 eine mufifalifiche Kunftform. Die Ge- meinde, die ſich ihrer bedient, vertritt daher ebenfalls nicht nur einen Theil der Chriitenheit, jondern das Ganze. Wenn man aber den Chor gleihjam als bejonderen dramatifchen Factor in die gottesdienjtlihe Handlung einführen will, jo conjervirt man, ob bewußt oder unbewußt, einen Reft der fatholifchen Anſchauung vom Chor. Soldier dramatiicher Factoren gibt es in der proteitantifchen Kirche durchaus nur zwei, den Geiftlichen und die Gemeinde. Dieje Anſchauung müßte, glaub’ ich, zunächit für den jogenannten reſponſoriſchen Gejang ſchlechthin maßgebend bleiben. Der Wechfelgefang ift eine uralte Form der hriftlichen Kirhenmufif, und man darf fie nicht aufgeben, wennjchon ich zweifle, daß ſie für die nächte Entwidelung der proteitantifchen Liturgie von durchgreifender Bedeutung jein wird. Aber das refpondirende Organ kann nur die Gemeinde fein!). Sie muß dur die Schule mit den betreffenden Melodien vertraut gemacht werden, wie mit den Chorälen im engeren Sinne, und wird fie am beiten ohne Orgelbegleitung fingen, da das Weſen berjelben einer Harmonifirung im Grunde widerjtrebt. Was den Chor- gejang im Uebrigen betrifft, jo gibt auch hier die Gejchichte die richtige Weije feiner Berwendung an die Sand. Man liebt es, Geſang und Inſtrumentalmuſik in einen Gegenjaß zu bringen,

!) Vgl. Friedr. Spitta, Verhandlungen des 5. evangelifchen Kirchen- gefang-Bereindtagd. Darmitadt, 1886.

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der für den Muſiker eigentlich nicht exiſtiren dürfte. Die menſchliche Stimme iſt, wennſchon ſie auf beſondere Art behandelt ſein will und in gewiſſer Beziehung einen ausgezeichneten Platz für ſich beanſpruchen darf, doch ein Inſtrument wie die andern. Die Geſchichte zeigt zu allen Zeiten, daß die Behandlungsarten der verſchiedenen Inſtrumente, alſo die Stilarten der Compoſition, einander beeinflußt und dadurch die Entwickelung der Kunſt in Gang erhalten haben. Daß man hierin ſich manchmal zu viel geſtattete, iſt ebenfalls wahr, hebt aber die Berechtigung des Verfahrens nicht auf. Die Ausbildung der Muſik im Mittel— alter erfolgte vorzugsweiſe durch vocale Organe, welche dann die jogenannte Inftrumentalmuftf hinter fich herzogen. Am Anfang des 18. Jahrhunderts erfolgte eine Bewegung nad) entgegengejegter Richtung, und zwar durch Bad. Auf der hödhiten Höhe der Orgelkunſt ftehend, fand Bad in ihren Ausdrudsmitteln fein Genüge nit mehr. Um dem Ideale, das ihm vorjchwebte, näher zu fommen, 309 er Menichenftimmen und mehr und mehr auch andere nftrumente hinzu. Er griff auch hinüber in die nicht-firhlichen Kunſtformen feiner Zeit und erweiterte durch fie diejenigen Formen, welche der Orgel allein gehörten. Er um- faßte jo allmählich die geſammte damalige Tonwelt, aber alle neuen Elemente wußte er mit den Geifte der Orgelmufif fo zu durchdringen, daß fie ein vollitändig firchliches Gepräge erhielten. Weil er ſich auch der im Oratorium üblichen Gefangsformen, des Recitativs und der Arie, bediente, konnte es äußerlich jcheinen, als gehöre auch jeine Muſik in die Gattung des Dratoriums, und jei alfo Eoncertmufil. Daß dies irrig ift, wird flar, wenn man nachiieht, wie Bach's Kirchenmuſik mit Geſang entftanden ift. Jede neue Ericheinung in der Welt knüpft an Vorhandenes an. Mo find Bach's Vorgänger in der Gantaten-Compofition? Unter den Gantaten-Componiften jteden fie nicht; was dieſe jchreiben, it im Stil himmelweit von Bad verjchieden. Die deutjchen Orgelmeifter find es, und Bad) felbit als Orgelmeifter iſt fein

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größter eigner Vorgänger. Neben den andern Orgelformen iſt es nun vor Allem der Choral, aus dem fich jeine Cantaten ent: wideln. Zeitweilig nimmt er als Terte Zufammenftellungen von Bibelſprüchen, Kirchenliedftrophen und freien Dichtungen. Dann Kirchenlieder allein, und um ihren metrifchen Bau für die ver: jhiedenen Mufifformen gefügiger zu machen, läßt er fie leicht umformen, jo jedoch, daß die urjprüngliche Geltalt des Tertes für den Wiſſenden immer erfennbar bleibt.

Daß durch Einführung der proteftantiihen Gantate die Kirche zu einem Concertjaale gemacht worden jei, ilt protejtan- tifcherjeit3 eine ganz unberechtigte Behauptung, die ihren ver- jtedten Urjprung in den Anſchauungen der fatholiihen Kirche bat. Allerdings die Forderung eines priefterlichen Actes läßt ih bei Aufführung einer Kirchenmuſik unter Beihülfe von fünftleriieh gebildeten Solojängern und vielen Inſtrumentiſten faum nod aufrecht erhalten. Daß Proteftanten jene Behauptung aufftellten, beweift nur, wie ſtark fie bei der Miederbelebung ihrer Kirchenmusik von fatholifchen Vorftellungen beeinflußt waren. Es fommt nur darauf an, daß der Stil der Cantate ein kirch— licher ift und daß fie zur Liturgie in innerer Beziehung fteht. Uebrigens hat die Kunſt feine Aufgabe, als die, durch ihre Mittel die Wirkung des Gottesdienjtes zu fteigern, und die Mufif unter: liegt hier feinen andern Gejegen, als die übrigen Künſte. Wozu baut man denn ftilvolle Kirchen und ſchmückt ſie mit Gemälden ?

Bach's Kantaten jind nicht Concertmufif, fie find die proteſtantiſche Kirchenmufif in ihrer reinjten und vollendetjten Blüthe, ebenjo wie der Mann felbit mit feiner unermeßlich reichen, glaubenstrogigen und ftreitfrohen, zugleich aber innigen, demüthigen und kindlichen Empfindungsweije neben Luther der gemwaltigite Held des germanijch-reformatorischen Protejtantismus iſt. Aufs Innigſte hängen feine Cantaten mit dem Gottesdienfte zufammen. Sie jchließen fih der Bedeutung des jedesmaligen Sonn oder Feſttages an und führen in ihrer Art den inhalt des Evan-

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geliums oder der Epiftel aus. Von Grund aus maßgebend ift für fie jene fymbolifhe Auffaflung des Chorals. Xosgelöft von der Kirche bleiben fie in ihrem innerjten Kerne unverſtändlich, mag auch ihre allgemein-muſikaliſche Schönheit groß genug fein, um eine außerfirchlihe Zuhörerſchaft zu feileln. Und welche Bedeutung in der protejtantifchen Kirchenmuſik dem Chorgejange zukomme, hat, wie id glaube, Bach für immer feitgeftellt. Fügen wir hinzu: auch dem Sologejange. Derſelbe ift nicht unzuläflig, wenn e3 gelingt, ihm dergeftalt das Gepräge des Erhabenen und Algemeingültigen zu geben, wie es Bach gekonnt hat. Er darf in der Bach'ſchen Form vielmehr ala eine neue, aber vollberech— tigte Ericheinung der proteftantifchen Kirchenmuſik gelten. Wollte man den Sologefang verwerfen, jo dürfte man aud den pro- teftantifchen Prediger nicht dulden.

Die Bach'ſchen Gantaten aljo dem Gottesdienjte zurüd- zugewinnen, für den fie gejchrieben und in dem fie ausgeführt worden find, ift wiederum ein Mittel zur Wiederbelebung der proteftantifchen Liturgie auf gejchichtliher Grundlage Es jei noch einmal gejagt: wir befigen jie nur halb, und wir miß- verftehen fie unaufhörlich, wenn wir fortfahren, fie wie bisher nur in Concerten aufzuführen. Fehlt nun gar dem Concertraum eine große, durchdringende Orgel, jo fommen fie nicht einmal Hanglid in der beabjichtigten Weife zu Gehör. Alle die Vor- würfe des Miktönenden, Unvermittelten, des Unruhigen und Ueberleidenfhhaftlichen, des Stimmen: und Inftrumentenwidrigen, die man den Bach'ſchen Compofitionen gemacht hat, laufen im Wejentlichen darauf hinaus, daß man fie nicht richtig aufführt. Den hier vorkommenden Fehlern und Irrthümern ſtehen freilich Entihuldigungen reihlih zur Seite. Sich in eine ganz ver- foren gegangene Kunſtweiſe wieder hineinfinden, ift weit ſchwieriger als man benft, und kann nur ſehr allmählich gelingen. Wer «aber je eine gut vorbereitete Bah-Aufführung gehört hat, bei welcher zwiſchen den verjchiedenen Mufitorganen das richtige

ZB.

Verhältniß herrichte, wo die Orgel nad) der ausdrücklichen Forderung der Sachkundigen früherer Zeit mehr herrichte als diente, der weiß auh, dab an all jenen vermeintlichen Mängeln weniger Bach ſchuld war, als wir.

Eine Liturgie mit Bach'ſcher Muſik herzuftellen, dazu bedarf es natürlich reicherer Mittel. Kleine und mittelgroße Orte werden einftweilen ganz darauf verzichten müffen. In ihnen hebe man die Liturgie durch Pflege des Choralgefanges und gediegene, aus den alten Quellen erneuerte Orgelmufif, Auch Die pro: teitantifhe Motette des 17. Jahrhunderts, wennſchon fie als Vebergangsbildung einen rein kirchlichen Charakter nicht bat, fönnte immerhin gelegentliche Verwendung finden. Wie Gejang und Orgelfpiel in die Liturgie einzugreifen haben, iſt eine Frage, die auf jehr verjchiedene Weiſe gelöft werden kann. Eins ift wohl unzweifelhaft. Soll der Gottesdienit wieder werden, was er einft war und feiner Idee nad) fein muß: ein religiöjes Kunftwerf höchiter Art, fo darf man die Grundform der Meile nicht aufgeben. Dies war auch Luther's Anficht, als er für die fünf Hauptjtüde der lateinifhen Meſſe entiprechende deutjche Lieder bezeichnete.

In großen Städten aber, in den Mittelpunften des focialen Lebens vor Allem, müßten Kirchencapellen gefchaffen werben, bie ihrer großen Aufgabe zu genügen vermöchten. Mit der Er: weiterung der Liturgie nach diefer Richtung wäre langſam vor- zugehen. Es würde genügen, zunächſt nur die Feſte zu berüd- fihtigen. Für die gefammte Form der Liturgie böte die Praris des 17. und 18. Jahrhunderts hinreichende Normen. Auch be- züglich der Zufammenjegung des Chors müßte man die Pfade der Alten wieder betreten, allzu ſtarke Chöre vermeiden und den Knabengejang nicht außer Acht laffen. Als vorbereitende und überleitende Einrichtungen wären aud wohl bejondere liturgifche Verfammlungen ind Auge zu fallen, wie man fie für unbe: gleiteten Chorgefang in Berlin lange fennt, und wie fie jüngft

auch in Bonn und anderwärts mit Erfolg veranftaltet worden find. Wenn einige Jahre hindurch in Berlin Aufführungen Bach'ſcher Werke in der Kirche regelmäßig unternommen wurden, jo follte das einen eriten Schritt nad diefer Richtung bin bedeuten.

Abſchließend werde ich zum Anfang zurücdgeführt. Ich fagte, es gebe einen Weg, der durch die Kunft zur Kirche führe. Heute jteht Bach's Name höher als je in Anſehen und ift auch wirk— liches Intereffe für feine Muſik weit verbreitet. Gewinnt die Kirche feine Mufik für fih zurüd, jo kann fie Viele mitgewinnen, die jet draußen jtehen. Es wird aber auch jo die Schaffens: [uft der heutigen Componiften am ehejten der Kirche wieder zu- zuwenden fein. Unſere Mufik ift eine andere geworden, als fie vor 300 Jahren war. Wir haben uns an neue Nusdrudsformen, neue, reiche Mittel gewöhnt. Ich glaube nicht, daß es Aufgabe der Kirche ift, dies Alles zu ignoriren oder zu befämpfen. Sie ſoll ſich doch nicht in Gegenfag zu der Welt bringen, ſondern diefe zu höherer Läuterung in ſich bineinziehen. Alle großen Kirhen-Componijten haben auf der ganzen Höhe ihrer Zeit ge- itanden und derſelben nah allen Seiten Berüdfihtigung ge ihenft. Wer heute für die Kirche componirt, dem muß e8 er- mögliht werden, von der Fülle neuerer Ausdrudsmittel Gebraud) zu maden, ohne doch den hiftorifch-Firchlichen Boden aufzugeben. Ich meine nit, daß nun das moderne Orcheiter in die Kirche eingeführt werden ſoll. Diefes fteht außer jedem Zufammenhange mit der wirklichen protejtantifchen Kirchenmufif; die Inſtrumente in Bach'ſchen Gantaten haben eine ganz andere Zufammenjegung und Aufgabe. Aber das Organ, welches eine Verwendung neuerer Ausdrudsmittel in kirchlichen Grenzen möglich macht, ift eben wieder die Orgel, zu der ſich auch andere Inſtrumente gejellen fönnten, wenn man wieder lernte, fie in Bach'ſchem Sinne zu behandeln. Aber allein jchon die Verbindung von Orgel, Chor: und Sologejang eröffnet ein weites Feld für die Erfindungsfraft

der Componiſten. Wo ſtändige und mit erleſenen Kunſtmitteln ausgeſtattete Einrichtungen zu regelmäßigen Kirchenmuſiken dieſer Art vorhanden ſind, da werden unzweifelhaft die Componiſten von der dargebotenen Gelegenheit bald Gebrauch machen. Und das bleibt doch immer einer der höchſten Wünſche, daß die Religion in Zukunft wieder werde, was ſie früher war: der Mittelpunkt aller künſtleriſchen Beſtrebungen.

Jo

Händel, Badı und Schütz.

(1885.)

»

W ſind in das mittlere von drei aufeinander folgenden (5 mufifalifchen Gedenkjahren eingetreten. Der 5. April 1884,

an welhem Spohr’3 Geburtstag zum hundertiten Male wieder: fehrte, ift vorübergegangen, ohne eine ftärfere Bewegung hervor: zurufen. Lebhafter ohne Zweifel wird ſich 1886 die Erinnerung an Carl Maria von Weber äußern. Das Jahr 1885 aber wird ein Jubeljahr fein, wie es die deutſche Muſikgeſchichte noch nicht zu verzeichnen gehabt hat, und die Beweife liegen jchon vor, daß es in feiner Bedeutung weithin erfannt wird, nicht in Deutjchland allein, ſondern mehr oder minder lebendig durch die ganze muſikaliſche Welt.

Händel und Bad) find 1685 geboren, jener am 23. Februar, diefer. wahrfcheinlih am 21. März. Hundert Jahre vor ihnen, am 8. Oftober 1585, ift Heinrich Schüß zur Welt gefommen.

Gegenftand der diesjährigen Yubelfeier werden allerdings ganz vorzugsweije Händel und Bad) bilden. Die beiden größten deutſchen Mufifer ihrer Zeit gehören längjt der Welt an; man darf mehr jagen: fie zählen unter die größten Männer aller Zeiten und Völker. Hundert Jahre früher lauteten die Meinungen nod) anders. Es ijt lehrreich für die Erfenntniß der fortfchreitenden Kunftbildung und für die Würdigung der beiden Männern eigenen fortwirfenden Kraft, die Veränderungen zu beobachten, welche das Urtheil über fie im Laufe der Zeiten erfahren bat.

Händel hat von feinem vierundfiebenzig Jahre langen Leben faum ben dritten Theil in Deutfchland zugebradht. Kindheit und Ausbildungsjahre verlebte er in Halle und Hamburg. Als junger Meifter aus Italien zurücdgefehrt, diente er als Capell: meifter dem furfürftlichen Hofe zu Hannover faum zwei Jahre lang. Seit 1712 ſaß er in England. Bei feinen erjten Künitler- großthaten war das Vaterland nicht Zeuge; jein Ruhm verbreitete fich früher durch Italien und England, als man in Deutichland anfıng, ihn gebührend zu beachten. Die Kunftformen, in denen er fih ausfpradh, waren dem Muſikleben der Völker angemeſſen, unter denen er wirkte; in Deutjchland fehlten für fie großentheils die richtigen Pflegeitätten. Händel ging nicht in? Ausland, um fich feiner Nationalität zu entäußern. Hätte er dies gewollt, jo würde er in Stalien geblieben fein, das ihn jeit feinem erjten Einzuge mit reihen Ehren ſchmückte, oder er hätte, wie Haſſe, an einem entdeutichten Fürftenhofe Deutjchlands italianifirende Muſik getrieben. Nur an die italienische Kunft fonnte damals ein deutſcher Meifter jeine Eigenthümlichkeit verlieren. Er ging aber zu den jtammverwandten Engländern, um dem germanijchen Genius treu zu bleiben, zugleich jedoch die Weite der Verhältniffe zu gewinnen, ohne welche feine gewaltige Natur nicht zu wirken vermochte. In Deutichlands Enge war ein Gigant wie er nicht denkbar; es darf denn auch nicht Wunder nehmen, wenn feiner Mufif zeitweilig hier die volle Wirkung verjagt blieb.

Bon Anfang an in England mit Sympathie aufgenommen, erreichte er es, wenngleich nicht ohne heiße Kämpfe gegen nationalen Dünkel und eine in London mächtige italienische Partei, endlich fih zum unbeftrittenen Herricher im Gebiete der englifchen Ton- kunſt aufzufhwingen. Seine Volksthümlichkeit wurde eine beifpiellofe. Händel war fortan der Inbegriff engliſcher Muſik. Der Geift, welcher aus feinen Tönen redet, verflößte ſich dergeftalt mit dem Volksempfinden, daß man jagen fann, ein wejentlicher Theil von deſſen Eigenthümlichfeit beruhe auf ihm. Als man ih anſchickte, Händel's hundertiten Geburtstag in London zu

er

feiern, wurde dieſe Thatjahe zum eriten Male weithin anſchaulich.

In Italien war Händel ſchon ſeit 1708 berühmt, da er in Venedig ſeine Oper Agrippina zum erſten Male aufführte. Mehr als zwanzig Jahre hindurch blieb dieſe Oper bei den Venetianern beliebt, denen doch eine ſtattliche Zahl einheimiſcher bedeutender Componiſten mit immer neuen Werken zu Gebote ſtand. Der drei Jahre jüngere Rinaldo fand 1718 ſogar von London aus ſeinen Weg nach Neapel: Leonardo Leo war es, der dort deſſen Aufführung leitete. Vielleicht noch nachhaltigere Anerkennung erfuhr Händel's Muſik in Frankreich. Ein Fall, wie die Aufführung der Oper Ottone, welche Bononeini in den zwanziger Jahren des Jahrhunderts mit einer von London fommenden Truppe italienifcher Sänger in Paris bewerfitelligte, mag vereinzelt ſtehen. Aber die Arien der Händel’ichen Opern und nicht weniger Händel's Snftrumentalmufit wurden bald von den Franzoſen außerordentlich und dauernd geſchätzt. Remond de St. Mard jagt no 1741, daß man alle Tage in Frankreich Händel’3 Arien mit Bewunderung höre. Man parodirte fie auch und jang fie mit franzöfifchen Worten. Bei den Inftrumental: ftüden begnügte man fi nicht, diejelben zu jpielen. Durch Unterlegung entjprechender Terte machte man aus dem befannten Glavierftüd vom Harmonious Blacksmith ein Liebesliedchen und gejtaltete den Eingangsmarih aus Seipione zu einem Trinflied um?).

Man it jet geneigt, Händel's Größe allein auf feine Oratorien zu gründen. Allein er war ein Mann von europätjchen Ruhm, ehe ein Oratorium von ihm befannt geworden war. Auh in Deutjchland wurde zu feinen Lebzeiten diefer Ruhm faft ausſchließlich von feinen dramatifhen Werfen, jeinen Clavier- und Orcefterftüden getragen. Nicht wenige von den vierzig Opern Händel’s find auf den Theatern zu Hamburg und

!) Vierteljahrsfchrift für Mufitwiflenichaft, Jahrg. 1885, S. 79.

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Braunjchweig gegeben, theils in deutjcher Ueberſetzung, theils mit dem italienifchen Originaltert. Höher anzufchlagen ift die Verbreitung, welche jeine Opernmufif außerhalb des Theaters bei Mufifern und Muftkfreunden, im Haus und in Mufifgejellichaften fand, gleich feinen Injtrumentalcompofitionen. Daß fie in London zahlreich gedrudt wurden die Opern in mehr oder weniger vollitändigen Bartituren, beliebte Arien daraus in Sammlungen, die Concerte und Duvertüren jogar in Stimmen —, erleichterte diefe Verbreitung jehr. Bekannt ift, daß Kronprinz Friedrich von Preußen in jeiner Privatcapelle zu Rheinsberg mit Vor: liebe Händel’3 Muſik jpielen ließ, und jogar König Friedrich Wilhelm I. einzelnen Stüden aus Alefjandro und Siroe gern jein Ohr lieh. Ein nicht weniger eifriger Verehrer war Markgraf Ehrijtian Ludwig von Brandenburg. In den muſikaliſchen Kreifen Leipzigd jchätte man in den zwanziger Jahren Händel’s Duvertüren neben denen Bach's und Telemann’s am böchiten. Bach felbit trug zur Aufnahme Händel'ſcher Mufif durd Die derjelben gezollte Bewunderung wejentlich bei. Ein gelehrter CS chulmann in Erfurt ſchrieb 1743 in einem lateinifchen Programm, daß Staliener, Franzofen und Deutiche feinen jeines Gleichen hätten. „Seine Werfe find ſtets ihrer fiegreihen Wirkung gewiß, denn es jind Werke des Genies. Wenn aud Viele Haſſe's beftridender Weife gefolgt find, jo iſt Händel's Bedeutung doch ungejchmälert geblieben. Bewundernswerth ift, wie er Ernſt mit ‚Lieblichfeit, Anmuth mit beldenhafter Größe ver- bindet“). Hier find die Haupteigenthümlichfeiten Händel's treffend bezeichnet, und doch gründete der Schreiber fein Urtheil zum fleinjten Theile auf die Dratorien, von welchen er nur die 1733 componirte Athalia gefannt zu haben jcheint.

Haben auch die Operntheater zu Berlin, Dresden, Münden und Wien Händel’3 Opern vernachläſſigt höfiſcher Sitte gemäß zogen fie es vor, den Bedarf durch ihre eigenen Componiſten

1) Conſtantin Bellermann, Parnassus Musarum, Minden, 1743.

zu deden fo muß im Allgemeinen doch zugeflanden werben, daß bis in die vierziger Jahre des Jahrhunderts die Deutichen der Bedeutung ihres Landsmannes gerecht wurden. Die Dinge änderten fich, al e8 die Aufnahme feiner höchſten Schöpfungen, der Oratorien, galt. Für die Oratorien fehlten in Deutjchland die ausführenden Organe. England bejaß ein öffentliches Concert- wejen, und Händel hatte es zu einem leicht functionirenden Apparate ausgebildet. Deutichland bejaß dergleichen nicht. Eeine Mufifvereine waren mehr privater und familiärer Natur; öffentliche Aufführungen gab e8, von der Oper theilweife abgejehen, faft nur in den Kirchen und vorzugsweije während des Gottes- dienftes. Es erklärt fich hieraus, wenn jchon nicht hieraus allein, daß das Dratorium während des ganzen Jahrhunderts in Deutich- land nicht gedeihen wollte. Wo es zu Tage tritt, iſt es meiftens mit Elementen der Kirchenmufif verquidt, weil die Componiften es faſt nur in der Kirche einer großen Zuhörerſchaft vorführen fonnten. Auch in der Beurtheilung der Oratorien Händel's zeigte fich die üble Wirkung der Vermiſchung verfchiedener Stil- arten, welche jelbit heute bei uns noch nicht ganz überwunden it. Wohl juchten ſich ernfte Muſiker dieſe Dratorien zu ver: ſchaffen, ftudirten fie und verehrten den Meijter in der Stille. Aber das deutiche Volk blieb ihnen fremd, es unterfchägte das Unbelannte und wurde gegen Händel gleichgültiger.

Die erften Regungen eines Umſchwungs zeigen ji in den fiebziger Jahren. 1774 wurde Judas Maccabäus mit Eſchenburg's Ueberjegung in Berlin aufgeführt, 1775 der Meſſias angeblich mit Klopſtock's Leberfegung in Hamburg. Mannheim folgte 1777 mit dem eriten Theil des Meffiag, Wien 1779 mit dem Judas, Schwerin und Weimar 1780 mit dem Meſſias, welchen für Weimar Herder überjegt hatte. Den Bewohnern Breslau’s vermittelte Beinlich die Befanntichaft mit dem Judas Maccabäus und dem Aleranderfeit. Die Güte mander jolder Aufführungen mag freilich zweifelhaft gewejen jein. Häufig waren es bod) die aus Dilettanten bejtehenden welche

Philipp Spitta, Zur Muſit.

fih an diefe hohen Aufgaben wagten, wo denn bald die Sänger, bald die Spieler nicht zureichten, oft weder dieſe noch jene. Es geſchah auch, daß unternehmende Männer ſich für paſſend erſcheinende Zeiten in den Faſten, während der Adventszeit, an Bettagen eine Schar von Sängern und Inſtrumentiſten zufammenjuchten und mit ihnen gewifje Werke öffentlich producirten. Als Locale dienten Kirchen, zumeilen auch Säle in Profanhäuſern. Den Stamm der Sänger aber bildeten die Schulchöre, welche damals, wenigitens in Norddeutſchland, durchgängig ſchlecht waren. Den bünnen Chorflang übertönten die ftetS zahlreicher vorhandenen Spieler. Solcher Art mag die Aufführung des Samjon gemwejen jein, welde Reichardt 1791 in Hannover hörte, und die in ihm den Wunſch nach einer des Werkes würdigen Aufführung erwedte!). Dennoch that Händel's um: verwüſtliche Muſik auch in ſolcher fadenſcheinigen Darftellung auf empfängliche Gemüther ihre Wirkung. Die Saat war geſtreut und fing an, langſam aufzugehen.

Durch ihre Großartigkeit und die bisher unerhörte Maſſen— haftigkeit der muſikaliſchen Mittel wurde die Londoner Säcular— feier für Händel, die man irrthümlich ſchon 1784 abhielt, aber 1785 wiederholte, ein in der ganzen Welt beſprochenes Ereigniß. Für Deutſchland wurde ſie dadurch folgenreich, daß ſie vier ähnliche Maſſenaufführungen des Meſſias hervorrief. Die erſte fand den 19. Mai 1786 in der Domkirche zu Berlin ftatt; leider benuste man eine jchlechte italienische Heberfegung, „damit in das Werk des deutjchen Meifters einige italieniſche Sänger mit bineinfingen konnten“, wie Zelter Ffauftifch bemerkt. Die zweite und dritte Aufführung ereigneten ſich in der Paulinerkirche zu Leipzig den 3. November 1786 und 11. Mai 1787, die vierte den 30. Mai 1788 in der Maria-Magdalenenfirhe zu Breslau. Sie wurden fämmtlich bewerfitelligt und geleitet durch Joh. Adam Hiller aus Leipzig. Der Eindrud war überall bei

1) Muſikaliſches Wochenblatt, Berlin 1793. ©. 130.

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der Mehrzahl der Zuhörer ein großer, und es ift nicht zu be- zweifeln, daß die Theilnahme für Händel durch dieſe Aufführungen erweitert wurde. In Berlin gelangten gewiſſe Werfe Händel’s ihon zur Popularität, was neben Hiller's Mejfias-ANufführung auh dem Wirken Job. Friedrich Reichardt's zu danken iſt. Als 1791 in der Nicolaifirhe das Utrechter Te Deum (Hiller hatte es 1782 herausgegeben) und das Jubilate von Händel aufgeführt worden war, meinte ein Kritifer, beide Werke jeien zu befannt, ala daß man nöthig habe, etwas darüber zu jagen ').

Aber allzuhoch darf man dieje Erfolge noch nicht ver: anſchlagen. So ſchnell ließ ſich die Gleihgültigkeit nicht aus» treiben, und auch poſitive Verächter der Händel'ſchen Muſik erhoben laut ihre Stimme. Die Bekanntſchaft mit Händel's Oratorien kam nicht über Deutſchland wie der Regen über durſtiges Land. Es war die Zeit Haydn's und Mozart'3; die Tonfunft blühte bei uns fo reich und glänzend wie nur je zuvor. Händel’3 Kunft war die einer vergangenen Zeit, es lag nur zu nahe, fie an der Gegenwart zu mefjen, und dies Fonnte ihr nicht zum Vortheil gereihen bei einem Geſchlechte, dem der biftoriihe Sinn fehlte. Erkannte man Händel willig an als unübertroffenen Meijter der concertirenden Chormufif, beugte man ſich vor jeinem Talent in Darftellung des Erhabenen, jo bemängelte man dagegen die vermeintliche Dürftigkeit feines Orcheſters und tadelte die Sologejänge als veraltet und troden. „Ale Zuhörer gähnten”, erzählt Jemand von der Mannheimer Aufführung des Meſſias. Und wer aud immer an Händel's Muſik etwas auszufegen findet in diefer Zeit, fein Urtheil ruht auf der Weberzeugung, daß dasjenige, was eine vergangene Periode hervorgebradht, nicht nur ein Anderes, ſondern auch) ein unbedingt Geringeres fei, ald was die Gegenwart biete. Einer Künftlergeneration, die fih der eigenen Productionskraft bewußt war, mußte es nahe liegen, hier umjchaffend einzugreifen.

1) Mufitaliiches Wochenblatt, Berlin 1793. ©. 38.

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Hiller, der um die Kunft in vielen Beziehungen hochverdiente, verftärkte nicht nur die Begleitung des Meffias durch Holz: und Blechinftrumente, fondern geftaltete auch Händel's Muſik in einer Weife um, die dem „verfeinerten Geſchmacke“ feiner Zeit, wie er meinte, entſprach. Selbſt Mozart ließ fich bejtimmen, den Meſſias, das Aleranderfeft und andere Werke Händel's in ähnlicher Weife zu überarbeiten, wenn ſchon im Ganzen mit größerer Zurüdhaltung und durchaus mit genialerer mufifalifcher allerdings nicht Händel’iher Auffaffung. Er machte diefe Arbeiten für die Aufführungen, welde Baron van Swieten in den achtziger Jahren zu Wien veranftaltete. Seine Meſſias— partitur wurde 1803 dur den Drud veröffentlicht, aber, wie nunmehr feitfteht, mit Zuthaten Hiller’s.

So eridhienen die Ideen Händel's den Deutichen bes 18. Sahrhunderts theils nicht in ihrem vollen Wuchſe, theils nicht in ihrer urjprünglichen Gejtalt, und wenn fie erjchienen, herrſchte auch die Geſammtſtimmung nicht, welche diefe Werke erfordern. Die Aufführungen hatten etwas Erfünfteltes und Zufälliges an fi, oder etwas allzu Häusliche. Händel's Mufif trägt einen demofratiihen Zug: fie will alle zur Betheiligung heranziehen, fie verlangt nad Maffen, die fie durch den Schwung der Begeijterung emportragen kann. Nur in Einrichtungen, welche den weitejten Kreifen die thätige Theilnahme dauernd . ermöglichen, wirft jie, was fie wirken fann und fol. Solde Einrihtungen erfand das 19. Jahrhundert. Während Händel’s Einfluß in Italien und Franfrei ganz erlofch, fing das Mutter: land an, ihm die allein würdige Stätte zu bereiten, und hat e3 hierin nah und nach aud England zuvorgethan. Es ent— ftanden die Chorvereine.

Die Wurzeln diefer Organe liegen allerdings noch im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert. Auch für fie ift Hiller der grundlegende Mann, der 1775 eine mufitübende Geſellſchaft zur Aufführung großer Vocalcompofitionen einrichtetee Doc wurde dieſer Einrichtung nicht die continuirlihe Entwidelung

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zu Theil, welche die 1791 von Faſch in Berlin gegründete Singafademie erfuhr. Deren Gedeihen und eigenartiges Wirken für die Kunft, das den bisher allein gültigen Mächten der Opern-, Kirhen- und Inſtrumentalmuſik das Dratorium als neue jelb- ftändige Macht entgegenfegte, jpornte dann andere Orte zur Naceiferung an. Was Faſch für Berlin, wurde Gläfer für Barmen, Riem für Bremen, Scelble für Frankfurt, Mojevius für Breslau. Um die Mitte des Jahrhunderts war Deutjchland überjäet mit Chorvereinen, welche in ftetiger Uebung Laienträfte zur Öffentlichen Aufführung großer Vocalcompofitionen jchulten. Dem mächtigen, vom Norden fommenben Zuge, der unjer Muſik— leben ergriff, konnte endlich auch Defterreich nicht widerſtehen, jo jehr auch feine mufifalifche Vergangenheit es zu deinjelben in Gegenjag brachte. Man darf jagen, daß es Händel's Geift war, ber dieje freien volksthümlichen Einrihtungen ſchuf, Zus meift durch feine Werke haben fie fi genährt und erhalten. Innerhalb vierzehn Jahren hat die Berliner Singafademie mit zahlreichen Wiederholungen nicht weniger als dreizehn verfchiedene Dratorien Händel's aufgeführt, unter ihnen freilich manche, mit denen fie lange in Deutfchland allein blieb. Auch die Componiften wendeten ſich jegt mit jteigendem Eifer der Form des Dratoriums zu, und Alle jtehen fie mehr oder weniger in Händel’3 Bann. Schon bei Haydn, objchon er Defterreicher ift und außerhalb des Zeitabjchnittes fteht, welcher hier gemeint ift, hat eine Beeinfluffung durch Händel ftattgefunden: er war feiner Muſik in England nahegetreten. Mendelsjohn, nad Haydn unjer größter Dratoriencomponift, wandelt bejonders im Elias auf Händel’3 Wegen. Entzogen bat ſich feinem gewaltigen Geifte Keiner; jo Friedrich Schneider nicht, eine derbe Mufiker- natur zweiten Ranges, deren Tüchtigfeit heute unterſchätzt wird, auch Löwe nicht und Bernhard Klein.

Die Thätigfeit der Chorvereine potenzirte ſich in ben Mufikfeften. Das erſte derjelben fand den 20. und 21. Suni 1810 in Frankenhauſen ftatt; ein Händel'ſches Oratorium murde

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auf dieſem noch nicht aufgeführt, man hatte Haydn's „Schöpfung“ gewählt. Aber ſchon bei dem zweiten Frankenhäuſer Muſikfeſte (10. und 11. Juli 1811) finden wir Händel mit dem „Hallelujah“ und dem ganzen dritten Theile des Meflias vertreten. Die von diefen Unternehmungen ausgehende Anregung war von großer Nachhaltigkeit und Bedeutung für das Mufikleben Deutſchlands. 1812 und 1815 wurden noch zwei thüringiiche Mufikfefte ge: halten, die jogenannten Elbmufikfefte ſchloſſen ſich an, alle übrigen an Wichtigkeit überflügelten die niederrheinifchen, jeit 1818 beitehend. Auf den während fünfzig Jahren gefeierten 44 niederrheinifchen sFeiten find 34 Mal Händel'ſche Dratorien oder andere größere Chorwerfe Händel's vollftändig aufgeführt worden. Rechnet man die Bruchftücde hinzu, jo iſt Händel auf 44 Feiten 37 Mal vertreten geweſen. Man fieht hieraus, in welchem Grade auf feinen Werfen dieſe Einrichtungen be- rubten. Ihre Bedeutung für das deutiche Leben, das öffentliche und innere, läßt ſich faum überfhägen. Hier jtrömten Taujende zufammen, um fich theils mitthuend, theil3 nur hörend von ge: waltigen Anſchauungen und urkräftigen Empfindungen erfüllen und begeiftern zu laſſen. Wie durch unzählige unfichtbare Röhren ftrömte der Idealgehalt der Händel'ſchen Werke in die Seele des Volkes ein. Die Einrichtung der Mufikfefte, in welchen die Engländer den Deutſchen vorangegangen find, Haben beide vereinigt danıı den Amerikanern überliefert. j

Das Neue und Volksthümliche ſowohl dieſer feitlichen Zufammenfünfte, als auch der Chorvereins-Aufführungen über: haupt, wird nit nur aus der Maſſe der Mitwirkenden offen- bar, fondern auch aus dem Verhältniß, in welchem bier bie Sänger zu den Spielern ftehen. Dasjelbe ift gründlich ver- jchieden von dem des 18. Jahrhunderts. Damals pflegte die Zahl der Spieler derjenigen ber Sänger gleich zu fein, ober fie auh um ein Erhebliches, oft bis zu einem Drittel ber Geſammtmaſſe, zu übertreffen. Erfteres fand in Jtalien, leßteres in Deutichland ftatt. Die Ericheinung erklärt fih daraus,

daß mehrſtimmiger Geſang in älteren Zeiten ſtets durch geſchulte Sänger ausgeführt zu werden pflegte; von ſolchen genügte ſchon eine kleine Zahl, um einen wohlthuenden Vollklang zu erzielen und ſich einer gleichen oder ſtärkeren Inſtrumentenmaſſe gegen: über zur Geltung zu bringen. Man wich jelbit dann noch von diefem Verhältniß nicht ab, als feine gründlich geſchulten Sänger mehr zur Berfügung ftanden, und man mit Scüler- ober Dilettanten » Chören muficirte. Noch die erften Franfenhäufer Mufikfefte beharrten bei der Praris des achtzehnten Jahr: bunderts. Bald aber trat die Aenderung ein, welche die Natur der Sache bedingte. Der mit Mufiffinn begabte Menſch, der auf künſtleriſche Bildung feinen Anſpruch erhebt, aber im Verein mit Gleichbegabten diefen Sinn bethätigen möchte, wird dies immer zunächſt im Chorgefange thun. Hier fann er auch geringe natürlide Mittel nüglich verwenden, während das Anftrumentenfpiel ſchon ein fpecielleres und anbaltenderes Studium erfordert. Die UWeberzahl der Theilnehmer wendet ſich daher von felbft der vocalen Aufgabe zu; die Sängerfchar repräfentirt den freien, volf3mäßigen Charakter ſolcher Kunftorgane, während der inftrumentale Theil mehr in den Händen der Berufsmufifer bleibt. Der Chor kann daher auch das Orcheſter um das Doppelte und Dreifadhe übertreffen, ohne ein Mißverhältniß zu bewirken. Es fommt hinzu, daß die Tonftärfe nicht in gleichem Verhältniffe mit der Maſſe der Muficirenden wächſt.

In der Ffünftleriihen Auffaſſung änderte fich freilich auch während dieſer Glanzperiobe der. Dratorien Händel’s nichts Erheblides. Sie blieb eine jubjective, wie fie es zu Hiller's und Mozart’8 Zeit gewefen war. Nach wie vor galt der Stand- punkt der Gegenwart als der höchitberechtigte; feinen Forderungen mußten bie theilweife „veralteten“ Werke entiprechend gemacht werden. Nur geichah es jeßt mit weniger Naivetät. Kaum ein größeres Werk Händel’S dürfte in der erften Hälfte des Jahr— hundert3 ganz ohne Weberarbeitung zur Aufführung gelangt jein. Einzelne Bearbeiter haben e3 in diejer Beziehung jo weit

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getrieben, daß man jchon heute faum noch begreift, wie der: gleichen überhaupt möglich war.

Denn inzwifchen hatte jich zu bilden angefangen, was dem vorigen Jahrhundert fo befremdlich fehlte: der geſchichtliche Sinn und mit ihm ber Rejpect vor dem Gemwordenen. Er zog aud) die Muſik in jeinen Gefichtsfreis: mufifgefhichtliche Forſchungen im ftrengften Sinne des Wortes befigen wir erſt ſeit biejem Sahrhundert. Händel war unter den großen deutſchen Mufikern einer der eriten, dem die hiſtoriſche Wiſſenſchaft voll zu Gute fam. Was dieje verlangen muß, ift vor Allem die Anerfennung eines alten Kunftwerfs als einer in ſich berechtigten, innerlich) nothwendigen und daher unter gegebenen Vorausſetzungen auch in fih harmoniſchen Erjcheinung, welche man lernen muß als folhe zu begreifen. Um dies zu vermögen, muß man die Ver— bältniffe kennen, unter weldhen das Kunftwerf entitand, die Ab- ficht, in welcher, die Mittel, für welche es gefchaffen wurde, muß man befonders auch über die Form, in der es der Gomponift fchriftlich firirte, zu möglichiter Sicherheit fommen. Alles dieſes bat, jomweit es in der Kraft eines einzelnen Mannes ftebt, Friedrich Chryſander für Händel geleiftet. Neben einer durch gründliches Quellenſtudium und große gefhichtliche Anjchauungen ausgezeichneten Biographie der erjten, die der Größe bes Gegenftandes gerecht wird hat er das faft noch wichtigere Werf einer Gejammtausgabe der Händel'ſchen Werke unter: nommen. In England war ein jolches zweimal verfucht worden, um 1784 und 1840; beide Verjuche blieben unvollendet, und was von den Werfen Händel’3 herausfam, entſprach den bercd)- tigten Erwartungen nit. Was an deutihen Ausgaben erjchienen war, entbehrte gleichfalld der Zuverläffigfeit. Der erfte Band der Ausgabe der Deutſchen Händelgejellihaft erjchien zum Jahre 1859, der hundertjährigen Gedenkfeier von Händel's Todes: tag, da man ihm zugleich in feiner VBateritadt ein Standbild ſetzte. Bis jekt (1885) find 82 Foliobände publicirt, und in längitens zehn Jahren wird auch diefes Denkmal vollendet fein,

das großartigite, welches in folcher Art bisher zu Stande ge- braht worden ift. Die Möglichkeit, Händel's Werke den In— tentionen ihres Schöpfer8 entfprechend aufzuführen, ift nunmehr gegeben. Die Ueberzeugung, daß man fih in das Mefen der Originale ohne Voreingenommenheit und ohne Seitenblide auf die Praris der Gegenwart verjenfen müſſe, gewinnt auch unter den Mufifern jichtlih an Boden, jo ungern fi) mandhe von ihnen durch die Kunftgelehrten den Weg weiſen laffen. Die alten Be- arbeitungen beginnen aus dem Gebrauche zu verſchwinden, neue tauchen nur felten noch auf, und wo es geſchieht, fuchen fie für ihre Berechtigung nad) einer hiſtoriſchen Stütze. Die Geſchichte der Händel’ichen Werke ift in eine neue Periode getreten; es läßt fih mit einiger Sicherheit vermuthen, daß ihr Ende ber Sieg der hiftorifchen Anfhauung fein wird, welche den Blid weit und das Leben rei madht und auch der Production der Gegenwart neue lautere Quellen zuführt.

Die Mittel zur Aufführung der Werke ganz im Sinne ihres Schöpfers bejigt die heutige Kunftwelt nur zum Theil. Das für den Generalbaß verlangte Cembalo, welches der modernen Praris fremd geworden ift, läßt fich einftweilen durch den jegigen Flügel erjegen. In Bezug auf die übrigen Inſtrumente und Chorjänger erhebt Händel feine Anſprüche, welche unjere Zeit nicht ohne Schwierigkeit erfüllen könnte. Aber das, worin jie ihm nicht Genüge leiften kann, find die Sologefänge. Wir haben die Technif, welche fie vorausfegen, noch mehr aber das Gefühl für ihren Stil verloren. Es ift ein Erbe aus dem Ende des 18. Jahrhunderts, welches wir ungejchmälert angetreten haben, und aud über die vermeintlihe Trodenheit und Lang- weiligfeit der Händel’fchen Arien hat ſich unfer Urtheil nur grad: weije geändert. Eins iſt die Folge des andern, aber im vorigen Jahrhundert hatte die muſikaliſche Welt Entjchuldigungen für fih, die der jegigen fehlen. Händel's Gejangsftil iſt aus dem ber italieniſchen Kammercantate und ernfthaften Oper hervorgewadjen. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde derjelbe

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verdrängt durch einen neuen Stil, der zumeiſt in der komiſchen Oper der Italiener wurzelte. Ihm gegenüber mochte jener ältere Manchem ſteif und unintereſſant erſcheinen, es mochten auch die Sänger ſchwerer zu finden ſein, die Händel's Muſik noch in jener großen pathetiſchen Weiſe zu ſingen vermochten; Erſcheinungen wie die Sängerin Mara gehörten zu den Aus— nahmen. Immerhin aber hatte jene Zeit doch ihren eigenen wirflihen Gejangftil. Daß uns ein folcher gänzlich fehlt, iſt befannt. Wir haben aljo fein Recht, in die abjprechenden Urtheile über Händel's Sologejänge einzuftimmen. Vorläufig haben wir in diefer Beziehung nur zu lernen. Eines der größten Verdienfte ber deutjchen Händelausgabe ift die erftmalige Edition ſämmtlicher Opern. Der Reichthum jchöner Gejänge in ihnen ift ein überwältigender. Er reißt mit Gewalt zur eingehenderen Beichäftigung mit Händel's Arien hin. Iſt eine ſolche einmal in Gang gefommen, fo ift ſchon viel gewonnen, denn mit der Liebe zur Sache wird auch das Verſtändniß wachſen. In welcher Geſtalt Händel's Opern einmal wieder unter uns leben werden, iſt eine Frage, die ſich Niemand jetzt getrauen wird zu beantworten. Aber wenn »ſie auch ſelbſt nicht wieder lebendig werben jollten, zur Belebung des Sologefangs in den Dratorien werden fie ficher beitragen. Deſſen Ausführung auf die Höhe der Chor: und Inftrumentalleiftungen der Gegenwart zu bringen, ift eine unabweislihe Aufgabe der Zukunft.

Die Geihichte der Muſik Sebaftian Bach's ift weit ein- faher und entwidelt fih auf viel bejchränfterem Gebiet. Händel und Bad) find grundverfchiedene Naturen und als jolde hat man fie oft genug einander gegenüber geitellt. Auch in den Schickſalen und Wirkungen ihrer Muſik erjcheint dieſe Ver— jchiedenheit. Während feiner Lebzeiten drang Bach's Ruhm nicht viel über Mittel- und Norddeutfchland hinaus. Gegründet war berjelbe vorzugsweife auf feine Injtrumentalwerfe und jein ftaunenswerthes Orgel- und Elavierfpiel. Hier und da hatte Jemand für jeine kirchlichen Geſangwerke Verſtändniß, die

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Andere als jhmwüljtig und verworren ablehnten. Dratorien im Sinne Händel’S componirte er fo wenig als Opern, und feine Orgelmufif ift von derjenigen Händel’3 in der Wurzel verjchieden. Händel durchzog die Welt und wirkte dann in einem freien mächtigen Lande weithin jichtbar in hellſter Deffentlichkeit. Bach machte nur bejcheidene Kunjtreifen in Thüringen und Sachſen, nah Eajjel, Hamburg und Berlin, und jaß übrigens in Heinen oder mittelgroßen Städten unter Verhältnifjen, die es verhinderten, daß er von hier aus ſich der gefammten Muſik— welt vernehmlich machte. Aber jeine Werke waren für die große Deffentlichfeit auch nicht geartet.

Als er 1750 geftorben war, blieb feinen Namen der Auf des größten Orgelmeifters, und jeinen Orgelwerken, welche fich meift abjchriftlich verbreiteten, die Bewunderung und Xiebe aller derer, die fie fannten. Dieſe aber, die protejtantijchen Organijten, begannen ſchon in der zweiten Hälfte des Jahr: hunderts ihren maßgebenden Einfluß zu verlieren. Im Zeit: alter der Aufklärung ſank die Lebenskraft der Kirche und zu— gleih die Bedeutſamkeit der Firchlichen Mufif. Die Schar der Bach-Verehrer wurde bald eine jtille Gemeinde. Von einem Meiterleben der kirchlichen Bocal-Compofitionen Bach's, deren Schwierigkeit und Eigenart ſchon gleich nach ihrem Entitehen ihre weitere Verbreitung verhindert hatten, konnte unter diejen Umständen noch weniger die Rede fein. In Leipzig, der Stätte jeines fiebenundzwanzigjährigen Wirkens, fuchte man fie ab und zu noch wieder hervor, vielleiht mehr aus Pietät als aus Wohlgefallen; bier und dort in fleineren Städten Sachſens hörte man wohl einmal eine Motette, die wirkungslos verhallte. In der Glavier- und übrigen Inftrumental-Mufif aber traten andere Ideen und Formen in den Vordergrund. Bach's zweiter Sohn jtellte hier den größeren Vater einige Jahrzehnte hindurch fait in Schatten; an ihn anfnüpfend, erzogen die Wiener Meifter eine neue Blüthe der Inſtrumentalmuſik, welde an Kunjtwerth der Bach'ſchen nicht nachiteht und als das Neue eine natürliche

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Bevorzugung fand. Rochlitz vergleiht die Gejchichte mit einem Rad: die großen hiſtoriſchen Perjönlichkeiten find die Speichen in demfelben; für jede kommt eine Zeit, wo fie gänzlich nad) unten gedreht ift. Für Bad war dieje Zeit etwa dreißig Jahre na feinem Tode eingetreten.

Die fiebenziger Jahre des 18. Jahrhunderts find gekenn: zeichnet durch eine Erftarfung des nationalen Selbitgefühls und ein Hervortreten frifchen und eigenartigen geiftigen Lebens in Deutjchland. Es ift nicht zufällig, daß in diefer Zeit die Theil- nahme für Händel’8 Werfe neu erwaht. Auch den Schöpfungen Bach's wurde die Strömung förderlih, wenngleich erſt im folgenden Jahrzehnt. Es fcheint, daß die Wiederkehr des Intereſſes für ihn mit der Pflege der Werke Händel's zufammenhängt, daß man von diefem auf jenen geführt wurde. Die Gegenüberftellung beider in dem ung geläufigen Sinne als zweier in ihrer Totalität gleichberechtigter Individuen fommt zuerit in dieſer Zeit vor. Als beide noch lebten, verglich man fie höchitens als Orgel: jpieler und jeßte im Uebrigen Bad mit Heiler, Telemann, Graupner, Hafje in gleihe Reihe, während Händel ſchon durd) fein Wirfen in England eine Sonderftellung behauptete. Setzt rüdt Bach aus der Reihe jener Zeitgenofjen jomweit hervor, daß diejelben faft hinter ihm verfchwinden. In Reichardt's „Kunft- magazin“ von 1782 werden Händel und Bach zum erjten Male zu einem Paar vereinigt und „unjere beiden größten Tonfünftler” genannt. „Hätte Bach,“ jo jagt Neihardt, „ven hohen Wahr: heitsſinn und das tiefe Gefühl für Ausdrud gehabt, jo Händel bejeelte, er wär’ weit größer noch als Händel; jo aber ift er nur weit funftgelehrter und fleißiger. Hätten dieſe beiden großen Männer mehr Kenntnif der Menjchen, der Sprade und Dicht: kunſt gehabt und mären kühn genug gewejen, alle zweckloſe Manier und Convenienz von ſich fortzujchleudern, fie wären bie höchſten Kunſtideale unferer Kunft, und jedes große Genie, das ſich jegt nicht damit begnügen wollte, fie erreicht zu haben, müßte unfer ganzes Tonfyitem ummerfen, um fich jo ein neues Feld

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zu bahnen.“ Aus diefen Morten fpricht ebenſowohl die größte Bewunderung der beiden Meiſter, als auch die naivite Heberfchägung der eigenen Zeit, die fich hier in gleicher Weije über Händel wie über Bad) zu Gericht jegt. Mit „Wahrheitsfinn und Gefühl für Ausdruck“ wird richtige Declamation und dramatiſch-plaſtiſche Daritellung der Affecte gemeint; daß Bach es hierin häufig fehlen laſſe, wurde ihm fchon zu feinen Lebzeiten vorgeworfen, und aud in unferer Zeit hat man e3 gethan, ohne zu jehen, daß Bad) in folhen Fällen den jpradhrichtigen und poetiſch angemefjenen Ausdrud einem höheren Ideale zum Opfer bringt.

Neichardt lebte, als er dieſes fchrieb, in Berlin. Es muß anerfannt werden, daß diefe Stabt in der Würdigung Bach's vorangegangen ift. Hier wirkte feit 1740 jein zweiter Sohn, außerdem in Kirnberger, Agricola und Anderen eine Anzahl jeiner beiten Schüler. Sie erhielten die Erinnerung an Bach's große Kunft lebendig und fanden unter den ernten, nachdenklichen Berliner Mufitern gelehrige Schüler. In Berlin war es aud, wo der Baron van Smieten feine Begeilterung für Bach's und Händel’3 Werfe einfog, die er nah Wien übertrug und dort bethätigte. Ohne van Smwieten wäre Mozart der Bach'ſchen Claviermufif vielleicht ganz fremd geblieben, und auch Beethoven ift auf feine Anregung tiefer in fie eingebrungen.

In den neunziger Jahren jehen wir den Zug zu Bach fi raſch verftärfen. Reichardt hat jest ſchon für deſſen Vocal— compoſitionen warme Worte. Er bleibt freilich dabei, daß ſie Mangel an gutem Geſchmack, an Kenntniß der Sprache und Dichtkunſt verrathen, er nimmt auch jetzt noch an der „conven- tionellen Form der damaligen Zeit” Anftoß. Aber er findet fie doch voll von Erfindung, und auch voll ftarfer und wahrer Züge des Ausdruds, jo daß fie für alle Zeiten wahre Studien für den denfenden Künſtler und vortreffliche Uebungsftüde für Sing- höre bleiben würden. Begeifterte Worte Schubart’& über Bad wurden 1793 von deſſen Sohne befannt gemadt. Um 1800 war das Intereſſe ein jo allgemeines geworben, daß mehrere

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Mufikverleger fait zu gleicher Zeit Bach's Werke herauszugeben begannen. Die Handlung Hoffmeifter & Kühnel in Leipzig (jetzt E. F. Peters) lief den übrigen den Rang ab; der Plan einer Gejammtausgabe ift, was die Inſtrumentalwerke betrifft, von ihr in der That allmählich durchgeführt; an Vollftändigfeit und Gorrectheit ift diefe Ausgabe bis jegt unübertroffen geblieben. Bald darauf gab die Verlagshandlung Breitkopf & Härtel durh J. G. Schicht Bach'ſche Motetten und Orgelchoräle heraus. Hoffmeifter’3 und Kühnel's muſikaliſches Unternehmen hatte ein (iterarifches im Gefolge. 1802 erjchien Forkel's gediegenes Buch „Ueber Johann Sebaitian Bach's Leben, Kunft und Kunſtwerke“. Mie jehr das eritarfte Gefühl deutjcher Eigenart bei der Auf- erftehung Bach'ſcher Kunft betheiligt war, läßt ſich aus dieſer Schrift erjehen. Als eine National» Angelegenheit legt Forkel den Deutſchen die Erhaltung des Verftändniffes für Bad ans Herz, und will fein Buch „für patriotiihe Verehrer echter muſikaliſcher Kunſt“ gejchrieben haben. Auch das ift merfens- werth, daß er es dem Baron van Swieten widmete. So mächtig hatte ſich allmählich die Woge ber Begeifterung erhoben, daß fie nun auch nad England hinüberſchlug. Schon 1799 hatte der Hannoveraner Kollmann, melder im London als Organiſt in königlichen Dieniten ftand, Einiges von Bad) in einem mufifalifchen Lehrbuche druden lafien. Das Hauptverdienit aber, Bad in England eingeführt zu haben, gebührt dem Londoner Organiiten Samuel Wesley, dem, wie er 1808 jchreibt, Bach's Werke „eine mufifalifhe Bibel waren, ohne leihen und unnad)- ahmbar“ '). Wesley juchte natürlich vor allem die Orgel- und Claviercompofitionen dem Berftändniß näher zu bringen, jchenfte aber auch den Geſangswerken feine Aufmerffamfeit. Bei ihm und feinen Gefinnungsgenofjen tritt zum erften Male in der Mufif- geihichte eine jcharfe Parteinahme für Bach und gegen Händel hervor, über welchen er bis zur Ungerechtigkeit hart urtheilt.

!) Letters referring to the Works of J. S. Bach. Edited by Eliza Wesley. London, Partridge and Co. 1875.

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Bei einem Engländer iſt dies beſonders zu verwundern. Indeſſen hatte Händel in England das muſikaliſche Gebiet jo ausſchließ— ih in Befig genommen, dab es großer Anftrengungen bedurfte, um neben ihm für einen Zweiten Raum zu gewinnen, und ſolche Anftrengungen pflegen zu Maßlofigkfeiten zu führen. In Deutichland fanııte man damals den Streit noch nicht, wer von beiden der größere jei; erit zwanzig Jahre jpäter fing er aud) bei und an.

Das neu erwadhte Intereſſe für Händel und Bah nahm während der nächſten Decennien für jenen noch zu, während es für dieſen fcheinbar etwas zurüdging. Der Thomascantor A. E. Müller hatte zwar angefangen, die Vocalcompofitionen Bach's wieder häufiger aufzuführen, zu einer meiteren Ver: breitung derjelben aber wurde dies fein Anſtoß. Was die jegt gedrudten Clavier- und Orgelcompofitionen wirkten, vollzog ſich in der Stille. Die Zeit bis gegen 1830 gehörte mehr Händel als Bad. Die weltbewegenden Ereigniffe, von denen die damals lebenden Geſchlechter Zeuge waren, erzeugten eine für die Auf- nahme Händel’fcher Kunft befonders geeignete Stimmung. Man vergegenwärtige fih die Empfindungen, welche in den Freiheits— friegen die deutſche Welt durchwogten, und dann die am 29. März 1814 durch die Berliner Singafademie veranitaltete Auf: führung von Händel's Judas Maccabäus! "Ein entjcheidendes Greigniß zu Gunften Bach's war erit die am 11. März 1829 erfolgte erite Aufführung der Matthäus: Paffion, welche wiederum die Berliner Singafademie leiltete und Mendelsjohn veranlaßte und dirigirte. Was Marr ein Jahr jpäter jchrieb: „Bisher war es Händel, der der Mehrzahl der Singafademien Leben und höhere Bedeutung verlieh. Eines jo großen Mannes be- durfte es auch, um auf den größeren vorzubereiten,“ deutet in der That den Umſchwung an, der fich von jegt ab in dem Ur— theil Vieler vollzog. Nicht nur, daß die Matthäus-Paffion, die Dftern 1830 zuerſt gebrudt erichien, ſich raſch durch Deutichland verbreitete; durch fie wurde auch der Bli auf andere größere

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und kleinere Kirchengejangftüde Bach's gelenkt. Schon vor 1829 waren ein Magnificat und zwei fleinere Meilen gedrudt worden, 1830 fonnte Marx ſechs Kirchencantaten herausgeben ; es folgten die Johannes: Rajfion und die H-moll-Mejfe. Um alle diefe Werfe erwarb ſich ebenfalls die Berliner Singakademie Verdienſte. Der Ruhm, etwas aus der H-moll-Meſſe zum erften Male zu Gehör gebracht zu haben, gebührt jedoch nicht ihr, jondern Spontini. Am 30. April 1828 führte dieſer in einen jeiner Concerte das Credo aus derjelben auf; Die verdienftliche That joll dem vielgefhmähten Panne unvergefjen fein, wenn auh die Aufführung feine muftergültige war. In demfelben Jahre hörte man eben dieſes Credo zuerjt in Frankfurt; die Singalademie zu Berlin bradte einen Theil der H-moll-Meſſe erit 1834. In der langen politifchen Stille, welche dem ſtürmiſch bewegten Anfange des Jahrhunderts folgte, fonnte fih die Muſik Bach's, die ungeftörte Verſenkung und bejchauliche Gemüther er- fordert, im deutſchen Bolfe gründlich feitfegen. Die jchöpferifcheiten Geiſter diefer Zeit, Mendelsfohn und Schumann, zeigen fi von jeinem Genius erfüllt und befruchtet, Schumann vorzüglich, während Mendelsjohn in feinen Oratorien doch auch Händel’jchen Einfluß bemerken läßt. Auch aus der Vorftellung der Menge wich das Wahnbild, das Bach jo lange nur als „gelehrten“ Contrapunktiker hatte erjcheinen laffen, der Ahnung von ber unermeßlihen Gefühlstiefe, welche in der ftaunenswerthen Kunſt feiner Werke wirkſam ift und fich zu offenbaren tradhtet. Eine Empfindung, gemifcht aus Liebe, Bewunderung und religiöfer Scheu, wob etwas wie einen Heiligenfchein um feinen Namen. Die leidenſchaftliche Inbrunft, mit welcher viele der Beiten ſich in Bad vergruben, hätte dem Anjehen Händel's in der That gefährlich werden können, wäre hier nicht alsbald die Erfahrung gemacht, daß beide verfchiedene Gebiete beherrfchen und fich nicht im Wege ftehen. In den Chorvereinen und auf den Muſikfeſten, welche ſich wejentlid an und durch Händel entwidelt hatten, verſuchte man alsbald Bach'ſche Chorwerfe in derfelben Weife

auszuführen. Die Thatſache, daß dies nicht gelingen wollte, mußte darüber belehren, daß man hier einer anderen Art von Kunſtgebilden gegenüberſtehe. Während Händel's Oratorien jahraus, jahrein die alte große Wirkung übten, fand ſich bei Bach nur ausnahmsweiſe mit der Matthäus-Paſſion, der H-moll⸗Meſſe ein annähernd ähnlicher Erfolg zu verzeichnen. Unter den Künftlern, den ernjten Mufikfreunden, allen foldhen, die es verftanden, ſich einfam in ein Kunſtwerk zu vertiefen, galt Bah als ein Heiliger. Aber dabei blieben für das Wolf die unermeßlihen Schäge feiner Kirchenmufif dennoch größtentheils ungeboben.

Die Bildung eines gerechten Urtheils über das, was Händel und was Bach gebührt, zu fördern, zugleich den Grund der ge- machten Erfahrungen aufzudeden, trat nun auch bier die Kunit- wiſſenſchaft ein. Diefelbe hatte fih, wie überall, zunächſt auf eine quellenmäßige Erforfhung und Drudlegung der Werke Bach's zu ftügen. Eine ſolche in umfaſſenderer Weiſe als bis- ber zu ermöglichen, bildete ſich 1850, hundert Jahre nad) Bach's Tode, in Leipzig die Bad:Gejellihaft. In 39 zum Theil ſtarken Foliobänden hat fie bis jet (1885) das Meilte, was von Bach's Werfen erhalten blieb, veröffentliht, und wenn die Arbeit ohne Unterbredung fortſchreitet, kann auch die Ausgabe der Bad)- Gejellichaft in zehn Jahren vollendet fein. Um die Fritiiche Heritellung der Ausgabe hat jih Wilhelm Ruft das größte Ver- dienft erworben. Der Schwerpunft diejer Publication liegt in den Kirchencantaten, von denen vorher nur jehr wenige ver- öffentliht worden waren, während die Ausgabe der Bach-Ge— jellichaft deren jegt fchon 150 enthält. Aber das Bild von dem Geſammtſchaffen des Meifters, das fih bier erhob, war ein jo überragendes, daß es die Augen der ganzen Welt auf fich 309. Selbit die Franzoſen und Italiener haben jet angefangen, ſich tiefer auf Bach einzulaffen, obgleich ihnen naturgemäß das Ver: ftändniß des ausſchließlich germaniſchen Mannes jchwerer wird,

als das des weltbürgerlichen Händel. Philipp Spitta, Zur Muſit. 6

Die nunmehr möglich gewordene genaue Kenntniß feiner Werke, die Durchforſchung feiner Lebensverhältniffe, feiner Zeit und der in ihr herrfchenden Kunftanfhauungen und »Gebräuche, die Erfenntniß der Mittel und Zwede der Bach'ſchen Eompofitionen, dies Alles bat zur Klarheit darüber geführt, wieſo diefelben von den Händel’fhen völlig verſchieden fein mußten und daher bei ihrer Wiederbelebung auch eine andere Art der Behandlung ver- langen. Bach's Paſſionen, Cantaten, Motetten find proteſtantiſche Kirhencompofitionen, nicht in jenem verſchwommenen Sinne unferer Zeit, welcher kirchlich, geiftlich und religiös in einen Be- griff zufammenfließen läßt, jondern injofern fie ein Stüd der protejtantifchen Liturgie bilden. Sie find berechnet, mit den übrigen Beitandtheilen derſelben zufammenzumirfen und dulden nur auf die Gefahr bin, unverftändlich zu werden, eine Loslöſung aus dem Zuſammenhange. Händel's Dratorien ftehen frei da als abgerundete Kunftwerfe. Indem fie die Entwidlung unferes Concertweſens beftimmten, joweit es die Chormuſik betrifft, haben fie ihm eine Gejtalt gegeben, welche die Bach'ſche Muſik eigent- ih ausschließt. Schon an den Mitteln, welche im Goncertjaal zur Verwendung zu fommen pflegen, wird dies Far. Bis in die neuefte Zeit hatte man bier feine Orgeln, die auch für Händel’S Werke nit in dem Maße nothwendig find wie für Bach, und bei neueren Oratorien meiſt gar nicht einmal zuläffig. Man bat dagegen jehr oft große Chormaſſen, die Händel ver: trägt, Bad) aber in den meilten Fällen nicht und unter feinen Umftänden dann, wenn die Orgel fehlt. Ebenfo läßt fih Händel's Inftrumentalbegleitung leichter mit den Mitteln des modernen Orcheſters herjtellen, bei der Bach'ſchen iſt e8 manchmal un— möglich, und jchädigende Bearbeitungen waren die Folge. Was die Hauptſache ift: Bach fordert als Zuhörerſchaft eine chriit- lihe Gemeinde. Denn ein Grundelement jeiner Compofitionen ift der proteftantiiche Choral, deifen kirchliche Bebeutung und liturgifhen Werth nur das Mitglied der Gemeinde verfteht und empfindet.

Um nun Bach gerecht zu werden, kann es nicht die Auf: gabe jein, das oratorienhafte Concertwejen zu verfümmern, jondern unfer Muſikleben um eine neue Form der Aufführungen zu vermehren. Man muß feine Compofitionen wieder in den Gottesdienſt einfügen, oder doch demjelben anfchließen. Dies iſt hinſichtlich Bach's die Aufgabe der Zukunft. Sie zu löfen ift ſchwer, aber eine Hauptfchwierigkeit iſt ſchon überwunden, wenn man nur die Nothwendigkeit erkennt. Ausgehend von den dur die Kunftwifjenichaft gewonnenen Anſchauungen ver- breitet fich Schon die Ueberzeugung, daß die Frage, ob Händel größer oder Bad, ein müßiges Spiel ſei. Eind die Dinge erft dahin gebracht, daß beide mit ihren Hauptwerfen einander auch äußerlih nicht mehr ins Gehege kommen und Jeder in feinem Reiche herrſcht, jo wird jener Streit von jelbit aufhören. Sie werden dann vereinigt daftehen al3 die umfaffendfte und dent: bar höchſte Verförperung der muſikaliſchen Potenz ihrer Zeit, und wenn man fie vergleicht, wird es nur gejchehen, um durch den Einen die volle Größe des Anderen zu erkennen.

Es wird das der Zuftand fein, in welchem auch die Wieder: belebung der Werke des dritten Meifters am ficherften gelingen dürfte. Heinrich Schüß, der Händel und Bach um hundert Jahre voranging, iſt auch deren innere Vorausfegung, infofern Händel's Dratorium und Bach's Kirhenmufif in ihm noch als Eins zufammengefaltet jind. Schütz ijt in Köftrig an der Eljter geboren, erhielt jeine Bildung am landgräflichen Hofe zu Kaſſel, ftubirte in Marburg die Rechte und auf Kojten des Landgrafen Morig Mufif bei Giovanni Gabrieli in Venedig. 1613 war er auf furze Zeit im Dienſte des Landgrafen. Dann folgte er einer Berufung nad Dresden, wo er 1617 furfürftlicher Capell- meifter wurde. In dieſem Amte ift er auch jein Leben hindurch verblieben, obwohl er mehrfach längere Zeit von Dresden ab- wejend war, theils in Italien neue Muſikſtudien machte, theils in Kopenhagen oder Wolfenbüttel die fürftlichen Gapellen neu

einrichtete und zeitweije leitete. Er itarb 1672 in Dresden, ein 6*

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ſiebenundachtzigjähriger Greis. Ueber die Geſchichte ſeiner Werke iſt kaum etwas zu berichten, ſie ſollen eine ſolche erſt noch haben.

Schütz iſt, alles in allem erwogen, die größte und genialſte Erſcheinung in der deutſchen Muſik des 17. Jahrhunderts. Das hat ihn nicht davor bewahrt, gegen anderthalb hundert Jahre faſt vergeſſen zu ſein. Die Wolke von großen Talenten, welche ſich ſeit dem Ende des 17. Jahrhunderts bis in das unſrige daherdrängte, zog die ſtete und ungetheilte Aufmerkſamkeit der Welt auf ſich, Es blieb fein Raum für die Beſchäftigung mit älteren Meiltern, die Lebenden herrſchten und hatten Recht. Winterfeld's Verdienſt ift es, in feinem Werke über Giovanni Gabrieli (Berlin 1834) zuerft auf Schüt wieder hingewiejen zu haben. In der Folge wurden dann einzelne Compofitionen des Mannes in Partitur gedrudt und gelegentlich gejungen. Aber die Beſchäftigung mit ihm war bisher nur eine unficher tajtende und bat fehr geringen Erfolg gehabt. Die große Mehrheit der gebildeten Deutſchen dürfte Schütz kaum dem Namen nad) fennen.

Daß alte Kunftideale welfen und neue auffeimen, geichieht zwar zu jeder Zeit; es gibt aber in der Geſchichte längere Perioden, volle Jahrhunderte, die durch einen derartigen Wechjel ihr auszeichnendes Merkmal erhalten. Ein ſolches Jahrhundert iſt das fiebenzehnte. Seine Zeit des allgemeinen Niederganges in ber Tonfunft, welcher vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts bi8 auf unfere Zeit überhaupt nicht jtattgefunden hat, jondern eben nur eine Zeit des Wechſels. Die Formen, welde aus diefjem Mechjel ſich endlich ergaben, find noch heute fait alle gekannt, jelbit geläufig. Auch die Formen der vorausliegenden Zeit hat die Kunſtforſchung unferes Jahrhunderts der Gegen: wart wieder näher gerüdt: was eine Motette, ein Madrigal ift, worin das Weſen der Vocalpolyphonie eines Baleftrina und Laſſus beiteht, davon iſt nicht nur das Willen wieder allge: meiner geworden, jondern auch die Fähigkeit hat fich von Neuem gebildet, diefe Formen anzumenden. Aber jene Mittelperiode ift den meiften auch der ernften Mufifer und Mufikfreunde ein

ungekanntes Gebiet, geſchweige daß es gelungen wäre, irgend ein Tonwerk jener Zeit im Volke wieder lebendig zu machen. Es iſt ſchwer, auf die Frage, was Schütz componirt habe, eine kurze Antwort des Inhalts zu geben, daß nun der Fragende ſich ein Bild von der Thätigkeit des Mannes machen könne. Mit Orgel- und Clavier-Compoſition hat Schütz ſich nur wenig befaßt, ebenſo mit der Orcheſterſonate man geſtatte ber Kürze halber den Ausdrud feines Lehrers Gabrieli. Seine Compofitionen für das Theater find verloren gegangen. Sollte man aus den zahlreih erhaltenen gebrudten und ungedrudten Werfen die Grundform herausziehen, die den Kern feines fünftlerifhen Wirfens ausmacht, jo würde man wohl das geift: lihe Concert nennen. Dieſe Bezeichnung ift aber heute ohne Erläuterung unverjtändlid.

Zwiſchen Ftalien und den germanifchen Bölfern hat ftets die lebhafteſte Wechſelwirkung ftattgefunden. In der Mufik ging die Strömung im 15. und 16. Jahrhundert von Norden nah Süden: dasjenige, woran während biejer Zeit die Italiener ihre Kräfte erproben, find die Kunſtideale, welche ihnen die Deutſchen und Niederländer zugeführt haben. Im 17. Jahr— hundert tritt die Rüdjtrömung ein. Die taliener erfinden Kunftformen, welche die ganze mufifalifhe Welt aufnimmt, insbejondere auch Deutſchland. Der genialjte deutjche Pionier der italienifchen Kunft in feiner Zeit war Schüß. Er war freilich noch etwas außerdem, ein tiefeigenthümlicher ſchöpferiſcher Seit. Was man nun damals concertirende Mufif nannte, das ift in Stalien aufgefomnen. Der Form nad ift es eine Ver- bindung ein- und mehrjtimmigen Gejanges mit einem fort- laufenden Inftrumentalbaß, auch fönnen zu dem baffirenden Instrumente fich noch andere gejellen. Die fünftleriiche Tendenz iſt die Befreiung der perjönlichen, bemegteren Empfindung aus der Gebundenheit und Ruhe des polyphonen Stils. Die An- fänge des Solo= und Ehorgejanges mit jelbitändiger Inftrumental- begleitung liegen bier. Schü hat diefe neue Art auf deutfche

Verhältniffe angewandt und fie in unfere protejtantifche Kirche verpflanzt. Den Titel „Geiſtliche Concerte“ tragen freilih nur zwei feiner MWerfe, aber der Stil iſt wejentlich derfelbe auch bei den Cantiones sacrae, den Symphoniae sacrae, den Palmen, ja auch bei den Weihnachts-, Paſſions- und Djter-Hiftorien.

Sonach jchiene er zu den Kirchencomponiſten gezählt werden zu müfjen, und dahin gehört er wirklich, aber doch nur zum Theil. Es ift für feine Kunft bezeichnend, daß auch für die der gottesdienftlihen Verwendung gewidmeten Werke der Name Kirchenmufif nicht ausreiht. Sie haben außer der firdhlichen auch eine nichtlirchliche Seite; in dem, mas dieje bedingt, zeigt ſich vielleicht die Hauptitärfe des Meifters und dasjenige, was den Werken ihren grundeigenthümlichen Charakter gibt. Dan fann es den oratorienhaften Zug nennen. Das Oratorium ift eine Kunjtform der gegenftändlihen Lyrif: eine wichtige Be- gebenheit, ein bedeutjamer Zuſtand wird der Phantaſie vorge- führt, an welchem ſich die Empfindung entzündet. Es fteht zwijchen den rein Iyriichen Formen und den dramatischen Formen in der Mitte: das Gegenſtändliche verzehrt ſich gleihjam vor unferen Augen in ber Flamme der Empfindung, während bei der Oper die Handlung zwar auch nach allen Seiten Empfindung ausjtrömt, aber doch als Kern des Kunſtwerks beftehen bleibt, dagegen bei der reinen Lyrif der gegenftändbliche Anlaß der Empfindung aus der Kunſtdarſtellung überhaupt ausgejchieden wird, jo weit dies möglich ift. Dieje hat daher immer den Zug zur größtmöglichen Allgemeinheit, und darum iſt Kirchenmufit ſtets im eminenteften Sinne lyriſch; in der Dper dagegen gilt es die Empfindungen zu indivibualifiren. Zugleich mit dem Oratorium ift in Italien auch die Oper entitanden, beide im Gegenjaß zu der Lyrik des vorhergehenden Jahrhunderts, beide zum Theil denjelben Weg verfolgend und nur zur Erreichung der legten Ziele auseinander gehend. Das Oratorium bleibt der Kirchenmuſik gegenüber beim Charafteriftiichen ftehen, die Oper geht zum Dramatijchen weiter.

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Dieſes Charakteriſtiſche iſt in Schütz' Compoſitionen überall vorhanden, ſelbſt in der „Geiſtlichen Chormuſik“, herrlichen Motetten, in denen er doch den Stil des ſechzehnten Jahr— hunderts vorwalten laſſen wollte. Ihm iſt bei ſeinen Com— poſitionen wohl die allgemeine kirchliche Stimmung, nicht aber zugleich auch die kirchliche Bedeutung ſeines jedesmaligen Tertes das zunächſt Maßgebende. An Hand des Textes ſucht er zu der Vorſtellung einer Begebenheit, einer Situation, einer Perſönlichkeit in einer beſtimmten Situation zu gelangen. Dann erſt beflügelt ſich ſeine Phantaſie und nun entſtrömen ihm Weiſen von jo plaſtiſcher Kraft, daß man einen Vorgang bis in all feine Nebenbewegungen hinein zu jchauen glaubt, Wendungen und Accente jo tiefer perfönlicher Empfindung voll, daß fie über- zeugender und ergreifender nicht gedacht werben können. Bis jest hat noch nicht ficher feitgeitellt werden fünnen, ob er feine derartigen Compofitionen ſämmtlich für den Gottesdienft beſtimmt gehabt hat. Wohl aber weiß man, daß er der Anfidht war, man könne manche derjelben auch „in Zimmern“, alfo außerhalb des Gottesdienites behufs religiöfer Erbauung aufführen. Damit tritt er unzmweideutig auf den Boden über, dem das Oratorium entfeimt ift. Sind unter feinen Werfen viele, die man geradezu Dratorienjcenen nennen kann 3. B. das. erjehütternde Stüd von Pauli Bekehrung („Saul, Saul, was verfolgit du mich?“) jo hat er mit den „Sieben Worten unjeres lieben Erlöjers und Seligmadhers Jeſu Chriſti“ etwas geliefert, was unter gewiſſen Einſchränkungen den Namen eines vollftändigen Oratoriums verdient. Diejes ergreifende Werf behandelt den Abjchnitt der Paflionsgefhichte von der Streuzigung bis zum Tode Chrifti nicht als Stüd der Liturgie, in welcher damals nod die ge- jammte Paſſionsgeſchichte zum mufifaliichen Vortrag fam, jondern als Gegenitand jelbitändiger Kunftdarftellung, nur allerdings doch mit Anlehnung an die in der Kirche üblichen Kunftformen. Schüg hat auch die Leidenserzählung nad drei Evangeliften in Muſik gebracht, ebenjo die Erzählung von der Geburt und Auf:

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eritehung Ehrifti. Man gebraucht für diefe denfwürdigen Werke am beiten den Namen „Hiftorien“, den Schütz felber ihnen gab. Entwidelte Dratorien find es nicht, ebenſo wenig reine Kirchen: mufifen; fie bilden eine Gattung für fih. Die Abfingung der Evangelienlectionen an den betreffenden Feſt- und Feiertagen war altkirchlicher Gebrauch. An ihn hat fih Schüg gehalten und ift infofern auf dem Boden der Kirche ftehen geblieben. Die redend eingeführten Perſonen werden durch andere Stimmen als die des erzählenden Evangeliften vorgetragen, die Mafjen- äußerungen durch den Chor; betradhtende Anfangs: und Schluß: höre rahmen eine jede Hiltorie ein. Es ift die Form, welche man von Bach's Paffionen fennt. Aber ſchon daß er den Choral fait gar nicht anwendet, zeigt, daß er nicht gejonnen war, das kirchliche Element jtarf zu accentuiren. In der That berriht auch in diefen Werfen der charakteriftifche Stil durdaus; er durchbricht die Schranken des altkirchlichen Lectionsgefanges, welcher in der Weihnachts: und Auferſtehungs-Hiſtorie ſogar concertirend behandelt wird, er erhebt fi in den Hiftorien von der Paſſion und Auferjtehung oft zu einer ſolchen Unmittelbar: feit und Gewalt, und über al den Leidenschaften waltet dennoch ein fol großer, ruhig ordnender Geiſt, dab diefen Werfen bie Unjterblichkeit jicher ift.

E3 wird aus diefen Andeutungen klar werden, mit welchem Grunde oben gejagt werben fonnte, daß die hauptjädhlichiten Kunftidveale Händel’3 und Bach's bei Schük noch als Einheit zufammengejchloffen vorliegen. Sollen wir abwägen, jo wird von feinem Weſen auf Bach der geringere Theil entfallen. Bad) jegte an einer Stelle den Hebel an, nad welder Schütz höchſtens im Vorübergehen bingeblidt hatte. Im 17. Jahrhundert nahm die Orgelmufit in Deutſchland einen mächtigen Aufſchwung. Bach trat das Erbe diejes Jahrhunderts im vollen Umfange an, vermehrte es durch eigene unvergleichliche Gaben, und fteigerte endlih die zur denkbar höchſten Entwidelung gelangte Orgel-

mufif über ſich jelbit hinaus in die vocale Kirchenmuſik hinein. Diefe ruht auf der granitnen Unterlage einer hundertjährigen Orgelkunft und der Urcharafter derjelben ift auch der ihre. Trog all der unermeßlichen Belebtheit im Organismus der Bah’ichen Cantaten herricht doc über dem Ganzen jene grandiofe Ruhe und Erhabenheit, welche dem wahren Kirchenftil eignet. Weil Bad neben andern Formen auch Formen der Opernmufif benußt hat, mußte er den unbegründeten Vorwurf allzugroßer Leiden- ichaftlichkeit erfahren. Viel leidenſchaftlicher als Bad iſt Schütz. Nur daß fie beide ihr großes Talent in den Dienft der Kirche ttellten und mit der ganzen Wärme und dem Tiefſinn des deutſchen Gemüthes ihre heiligen Aufgaben umfaßten, begründet die Zu- jammengehörigfeit diefer Männer. Enger ift die geiftige Ver— wandtichaft zwiihen Schüß und Händel. Sie bleibt beitehen, auch wenn einmal nadhgewiefen werden follte, daß Händel feine der Schütz'ſchen Compofitionen gefannt hat. Es ift das recht wohl möglich, denn nach jeinem Tode hat man fie über anderen gar rajch vergeffen. Aber die geiltige Verwandtichaft dürfte nimmermehr fo aufgefaßt werden, als ſei Schüß eine Vorftufe zu Bad) und Händel, die nur als folche ihren Werth hätte. Das würde heißen ihn gänzlich verfennen, und wäre es jo, dann würden wir nicht an diejer Stelle von ihm reden.

Schütz ift als Künftler groß genug, um fich neben größeren ohne Schaden jehen lafjen zu fünnen. Er bat feine Art, und in diejer thut es ihm Keiner gleih, wenn jchon einige Zeitge- noffen, wie Hammerſchmidt und Johann Chriftoph Bad, ihm zu: weilen nahe fommen. Darüber hinaus aber ift er eine große Perſön— lichkeit, die aus der Wirrniß und dem Elend der Zeiten ehrfurdt: gebietend und vertrauenerwedend aufragt. In der Mitte der Kunſtgenoſſen jeines Jahrhunderts ftand er wie ein Vater da. Den Großen gegenüber war er freimüthig ohne Schärfe, feines Werthes fih bewußt, aber milden Sinnes und von jeder An- maßung frei. Ein auf uns gefommener Briefwechjel zwijchen

es:

ihm und der Herzogin Sophia Elifabeth von Braunjchweig- Wolfenbüttel enthüllt ung das Bild feines Weſens. Er gehört zu den großen Männern, deren einzelne Kunftleiftungen man nur unter Sinzunahme ihrer ganzen Berjönlichfeit würdigen darf. Er unterfcheidet fich in diefer Beziehung weſentlich von unfern andern großen Tonmeiltern, auch von Händel und Bad. Dieje waren gebildete Männer, aber bei ihrer Mufif denkt man daran faum: alles was fie an innerem Gehalt befigen, fcheint mit der Muſik auszuftrömen. Schüg war von vieljeitigen Gaben, die in forgfältigfter Erziehung nad förperlicher und geiftiger Seite hin ausgebildet wurden. Er war der Rechtswiſſenſchaft mit Eifer und Erfolg ergeben gewejen, beherrſchte alte und neue Spraden, kannte die Welt innerhalb und außerhalb Deutſch— lands und wußte ſich gewandt durch diefelbe hinzubewegen. Er bejaß Dichtertalent; wir wiſſen, daß er ſich in deutjchen und lateinifchen Gedichten verſucht hat, und was von jeinen Verſen erhalten ift, berührt manchmal wohlthuend durd) eine warme Ur- fprünglichkeit. So fehr auch die mufifalifche Begabung aus ber Fülle jeiner Fähigkeiten hervorleuchtete, jo zweifelte er doch lange, ob er ihrer Führung fi ganz überlaffen jolle; ſelbſt nach der Rückkehr von Venedig, wo er feine erjten Compofitionen durch Drud veröffentlicht hatte, war er noch ungewiß und begab ſich mit Ernft wieder an die Wiffenfchaft. Ein weit ausfchauender, vornehmer Geift, in weldhem das Streben nad einer harmonijchen Univerfalbildung vorherrſchte. Die Neigung zur Dichtkunſt hat auch jeine Kompofitionen beeinflußt, er ift im höchften Maße das, was man einen poetifhen Mufifer nennen fann, und auch unfere Zeit, die ih in Entlehnung poetifcher Mittel zu muſikaliſchen Wirkungen gefällt, bietet feine Erſcheinung, die Schütz darin überträfe. Dabei beherricht er doch die mufifalijche Technik mit größter Meifterfchaft, die verwidelteiten Bocalformen find ihm gleich geläufig wie die einfachiten. Er weiß durch Mafien zu wirken; fein deutſcher Meifter feiner Zeit bat es

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ihm im großartigen Aufthürmen vocaler und inftrumentaler Mittel zuvorgethban. Aber mehr noch als das Ampojante, MWeitjtrahlende it Innigkeit und Tieflinn feiner Natur gemäß; die Mittel, durch melde er ihnen Ausdrud gibt, find neu, fühn und genial, und die durch fie hervorgebrachten Wirkungen werden nie veralten.

An den Geburtsftätten Händel's und Bach's ftehen ihre Bilder von Erz und halten nachlebenden Geſchlechtern die leib- lihen Züge diefer großen Männer gegenwärtig. Die Monumental- ausgaben ihrer Werke vermitteln, was mehr ift, die geiftigen Züge einem Seden, der nad ihrer Belanntichaft verlangt. Schü entbehrt des einen wie des andern. Aber eine Gejammt: ausgabe feiner Werfe ift in Vorbereitung, und voraussichtlich wird das Jubeljahr nicht vorübergehen, ohne daß die eriten Bände derjelben in die Deffentlichfeit treten. Liegt fein gefammtes Kunftichaffen überfichtlich vor, jo werden fräftigere Bemühungen zur Wiederbelebung feiner Werfe folgen. Damit fie Erfolg haben, bedarf e3 freilich nicht nur der nothwendigen muſikaliſchen Organe und williger Dirigenten. E3 bedarf auch der angemefjenen Stätte, fie wirffam zu Gehör zu bringen. Unſere Concertjäle find dieſe Stätte nicht. Wie Bah mahnt auh Schü, unfere Kirhenmufif nad) Maßgabe der Art des 17. und 18. Jahrhunderts zu erneuern. Aber da Schüß neben den kirchlichen auch oratorien- bafte Elemente enthält, würde ein mehr nur äußerlicher An- ihluß an den Gottesdienft diefe Doppelftellung am beften zur Geltung bringen. Die Staliener des 17. Jahrhunderts hatten . ih die Praris ausgebildet, ihre Dratorien dem Gottesdienite anzuhängen: die Meh-Liturgie blieb unangetaftet, aber nach ber Meſſe erhielt da3 Bedürfniß der Erbauung fein Recht und zwijchen die beiden Theile des Dratoriums wurde auch wohl eine Predigt eingelegt. Ein Verſuch, dieje langbewährte Praris mit den Veränderungen nachzuahmen, welche die gegebenen Ver— bältnifje fordern, wäre vielleicht der Mühe werth. Doc kann der

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gewünſchte äußere Anſchluß auch auf andere Weiſe vollzogen werden.

Wie dem immer fein wird, eins glauben wir feſt: nach abermals hundert Jahren wird auch Heinrih Schü als einer der ebeljten Söhne Deutichlands aus der Hand der Geſchichte empfangen haben, was fein ilt.

Rs

Mariane von Biegler und Joh. Sebaſtian Bach.

(Ernfi Gurtins gewidmet zu feinem 70. Geburtstage, dem 2. September 1884.)

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DIE in literaturgefhichtlihen Werfen über Chriftiane Ma- (9 riane von Ziegler zu lejen ift, geht zumeift auf Meufels unvolljtändige und theilmweije falſche Notizen zurüd!). ch bin in der Lage, mehr über jie jagen zu fönnen und thue es hier zunächit im Intereſſe der Muſikgeſchichte, in welcher die Ziegler fortan einen zwar jehr bejcheidenen aber gejiherten Platz ein- nehmen wird. Daß auch. für die Literaturgefchichte die nach— folgende Darftellung nicht ganz ohne Wichtigkeit fein werde, darf ich hoffen.

Der Vater war Franz Conrad Romanus, geboren 1671, hurfürftlicher Appellationsrath, jeit 1701 Bürgermeifter zu Leipzig. Sie ift Ende Juni (wahrfcheinlih den 28.) 1695 in Leipzig geboren. Die Familie war eine der angejehenften und wohlhabenditen der Stadt, der Vater ein hochbegabter, um das Gemeinwejen vielfach verdienter Mann. Unter deſſen reger Theilnahme entwidelten ſich früh die geiftigen Intereſſen der Todter ?). Ein gedrudt vorliegendes Gedicht fann fie nicht jpäter als in den erften Monaten des Jahres 1711 gemacht haben,

!) Lexicon der vom Jahre 1750 bis 1800 verftorbenen Teutichen Schrift» fteller. Band 15. Leipzig, 1816, ,

2) %. F. Lampredt, Sammlung der Schriften und Gedichte, welche auf die Poetifhe Krönung der . . . . Frauen GChriftianen Marianen von Ziegler ... . . verfertiget worden. Xeipzig, 1734. Vorrede.

ER

alfo mit höchſtens 15 Jahren‘). Ob es von Anfang an ganz die vorliegende Geftalt hatte, ift allerdings zweifelhaft.

Ein ſchwer treffender Schlag erichütterte noch während ihrer Kindheit das Glück der Familie. Der Vater wurde ‚plöglich verhaftet, wegen Staatsverbrechens in Anflagezuftand verjett und 1706 auf den Königitein gebracht. Obgleich das gegen ihn eingeleitete gerichtliche Verfahren nicht zu Ende geführt wurde, it er doch fein Leben lang Staatögefangener geblieben. Erit 1746 ift er auf dem Königitein geitorben. Die Frage über feine Schuld bedarf noch der Beantwortung. Was bisher über dieſen Gegenſtand gejchrieben wurde, it ungenügend und zum Theil offenbar unrichtig. Soviel fteht feit, daß die Leipziger Bürger: ſchaft ihn nad wie vor hoch verehrte und ihrer Verehrung auch öffentlih unummundenen Ausdrud gab?).

In der eriten Zeit, welche diefem Ereigniß folgte, hielt fich, wie e3 jcheint, die Familie von Leipzig fern. Späteſtens im Sommer 1711 verbeirathete ſich die Tochter mit Heinrich Levin von König und nahm ihren Wohnſitz in der Vaterſtadt. Nad) wenigen Jahren ftarb der Gatte; fie fehrte ins elterlihe Haus zurüd. Am 22. Januar 1715 jchloß fie eine zweite Ehe mit dem Hauptmann Georg Friedrih von Ziegler auf Edartsleben bei Gräfentonna im Gothaifchen. Sie begleitete ihn als er ins Feld 309, wie wir annehmen dürfen in den Schwedenfrieg ?).

1) Verfuh In Gebundener Schreib-Art. Leipzig, 1728. ©. 107 ff.

2) S. Karl Große, Geihichte der Stadt Leipzig. Band 2. Leipzig, 1842. ©. 349 ff. Earl Auguft Engelhardt in feiner Biographie Johann Friedrich Böttgers. Yeipzig, 1837. ob. Ambr. Barth. ©. 210 f. und 229. Engelhardt, obwohl er nad ardivaliihen Quellen gearbeitet hat, fennt nicht einmal den richtigen Namen des Mannes. Einen Franz Philipp Romanus hat es in jener Zeit in Leipzig überhaupt nicht gegeben. Ein jüngerer Stiefbruder des Bürgermeifters hieß Carl Friedrich Romanus. Der- felbe ift aber niemals Staatsgefangener gewefen. Wie man in Xande über den Bürgermeifter Romanus auch nach feiner Gefangeniegung dadıte, geht aus der Vorrede der Lamprecht’ichen Sammlung und dem auf S. 82 dieſer Sammlung befindlichen Gedichte deutlich hervor.

8) S. Gottlieb Siegmund Corvinus, NReiffere Früchte der Poeſie. Leipzig, 1720. S. 257 ff. In den Pfarr-Regiitern von Edartsleben jteht hinter

Hernach war Edartsleben ihr Aufenthalt’). Im Laufe des Jahres 1716 müſſen beide diefen Ort verlaffen haben, doch läßt fich nicht jagen, wohin fie gezogen find. Ziegler jtarb jung, die Kinder beider Ehen (1712 und 1716 geb.) ebenfalls und ziemlich zu gleicher Zeit?). 1722 ſchon war die Wittwe völlig vereinfamt nad Leipzig zurüdgefehrt und hatte, wie e8 fcheint, von Neuem im Haufe der Mutter Aufnahme gefunden ?).

Sie hatte von Jugend auf neben der Poefie auch die Muſik geliebt und geübt, doch ohne auf dieſe Beichäftigungen großen Werth zu legen*). In ihrer Bereinfjamung fing fie an, die Künſte mit größerem Ernit zu pflegen. Sie begnügte fih nicht mit Glavier und Laute, den damals bei den deutichen Frauen be- liebteſten Inſtrumenten. Nach dem Vorbild der franzöfifchen Damen erlernte fie auch die Querflöte, der Zeit bei einer deutjchen Frau noch etwas jeltenes, wenngleich nicht unerhörtes?). Den öffentlichen Muftfzuftänden Leipzigs ſchenkte fie lebhaftes Inter— eſſe“). Ihre unabhängige Lebenzftellung, ihre Talente und reiche

der Notiz der den Eheleuten dort am 12. Februar 1716 geborenen Tochter der Anfang eines alten Schwebdenliedes („Der Schweden Held Zog übern Belt”). Ob die Gedichte an „Mariane“, welche fi in Corvinus „Proben der Poeſie“, 1710, S. 170 ff. und 193 f. befinden, auch auf Mariane Ro- manus gehen, und was daraus etwa zu folgern wäre, mag dahin geftellt bleiben.

I) Sie nimmt Bezug auf diefen Aufenthalt in den „Moralifhen und vermiſchten Send-Schreiben“. Leipzig, 1731. S. 405.

2) Send-Schreiben, S. 406. Ein den Tod des Gatten berührendes Ge- dicht, Vermiſchete Schriften ingebundener und ungebundener Rede’. Göttingen, 1739. S. 222.

3) Verſuch in gebundener Schreibart. 1728. S. 87 ff. (Breßler war am 25. Mai 1722 beerdigt worden.)

+ N. a. D. Vorberidt. Daß fie auch gezeichnet und gemalt habe, er- wähnt fie Sendſchreiben ©. 28.

°) Menantes, Die Edle Bemühung müßiger Stunden. Hamburg, 1702. S. 92.

6) Verſuch in gebundener Schreibart. 1728. S. 333:

„Man ſagt, daß Telemann, der eine Zeit daher

Mit ſeinem Noten-Volck in Hamburg hat geſeſſen,

Der Muſicorum Haupt allhier geworden wär“. Philipp Spitta, Zur Muſit. 7

Bildung machten ſie bald zu einer Perſönlichkeit von Bedeutung für das geſellſchaftliche und namentlich auch muſikaliſche Leben Leipzigs. Ihr Haus wurde ein Anziehungspunkt für einheimiſche und zureiſende Muſiker. Man beeiferte ſich, ihr durch Zuſendung neuer Compoſitionen gefällig zu ſein. Gräfe widmete ihr 1737 den erſten Theil ſeiner Oden mit Melodien. Junge Künſtler kamen durch ihre Vermittelung zu Anſtellungen!). Sie liebte es, in ihrer Wohnung Muſikaufführungen zu veranſtalten. Einer ſolchen Aufführung verdankt auch wohl der Text zu einer Garten— muſik feine Entjtehung ?), welcher uns von der Art ſolcher Auf— führungen im Freien, die eine Eigenthümlichkeit der gefellichaft: lihen Mufif des vorigen Jahrhunderts waren, ein anziehendes Bild gibt. Die Künfte Shügen und befördern, war damals in der vornehmen Leipziger Geſellſchaft noch etwas faſt unbefanntes. Man überließ das dem Hofe und hohen Abel in Dresden. So: weit nicht der Thomascantor von Amts wegen die Mufif zu be- jtellen hatte, lag deren Pflege fait ausjchließlich bei den Mufif- vereinen der Studenten. Erſt in den vierziger Jahren trat hier eine Aenderung ein. Man wollte freilich auch vorher recht gern gute Muſik hören, aber es jollte nichts koſten. „Die meiften von denen Zuhörern”, jchreibt Frau von Ziegler einem Freunde, „bilden fih ein, als ſchütteten die befhäfftigten Mufen-Söhne die Noten bei dem Spielen nur aus dem Ermel; die Belohnung jo fie vor ihre Mühe haben, ift insgemein jchlecht, und müſſen fie öffters froh jeyn, wenn man felbigen vor ihre Mühmwaltung einiger Stunden und muficaliiher Bedienung ein magres Bein abzuflauben vorjeget. Wovon jollen alfo dergleichen Leute leben, da niemand vor felbige einige Vorjorge heget, oder ihnen auf

Die geiperrt geſetzten Worte habe ich in die offen gelafienen Stellen des Driginaldruds eingefügt. Es fann fein anderer als Telemann gemeint fein, welcher 1722 ſich geneigt gezeigt hatte, das Thomas-Cantorat zu übernehmen, dann aber fich zurücdzog, ſodaß der Platz für Bach frei wurde.

1) Sendſchreiben, S. 39%.

2) Verſuch in gebundener Schreibart. Andrer Theil. Leipzig, 1729. S. 291 ff.

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ein und andre Art unter die Armen greiffet. Rathen fie ja feinem mufifalifchen Geifte jein Brodt bier zu ſuchen; ein Sti- pendium zu erhalten hält gleichfals jehr jchwer, es ſeynd bier nicht jo viel Patrone als Clienten“ ').

Wie weit ihre eigene muſikaliſche Bildung ging, läßt fi nicht jagen. Sie jelbit jpricht darüber ftets jehr beicheiden, doch fann man erkennen, daß fie das Mittelmaß überftieg. Die in den Briefen bier und da vorfommenden Aeußerungen find nicht ohne Feinfinn und Sachkunde. Ein Muſiker ſchickt ihr neue Compofitionen; fie meint, die beiden unter denjelben befindlichen Trios jeien wohl urjprüngli für Oboe componirt gewefen und nur ihr zu Gefallen für Flöte arrangirt; fie bittet, jolches doch fünftig zu unterlaffen, da „einem Stüde, welches von feinen eigenthümlihen Inſtrumenten in die Verfegung verfällt, der gröste Theil der Annehmlichkeit benommen werde.“ Die Flöte zieht fie wegen ihres jeelenvolleren Weſens den mechanijcheren Snftrumenten, Clavier und Laute, vor. Was fie über eine Fuge jagt, zeigt, daß fie von dem Bau eines ſolchen Tonſtücks Kennt: niß hatte, und wenn fie meint, Adagio zu fpielen erforbdere einen größeren Künftler als Allegro, jo bemweift dies wenigftens eine wirklich mufifalifche Empfindung ?). Lamprecht rühmt den „männ— lichen“ Geift der Frau von Ziegler, injofern nämlich die „nicht3- würbigen Kleinigkeiten, womit jich noch jo viele von ihrem Ge- ſchlecht unterhalten“, fie nicht befriedigt hätten. Ihr mufifalijcher Geſchmack ſcheint dem entiprochen zu haben. Sie hatte eine Vorliebe für die größeren und reicheren Mufifformen?), und als diejenigen Componiften, auf welche man rathe, wenn eine neue unbefannte Duverture den Hörer in das größte Entzüden ver- jeßt habe, nennt fie Telemann, Bah und Händel*). Sie liebte

1) Sendichreiben, S. 394. 2) A. a. O. S. 39 f. und 407. 3) „Duverturen und ftard geſetzte Sachen“; Verſuch in gebundener Shreibart. 1738. ©. 79. 4) Berfuh etc. Andrer Theil. 1729. S. 297. 7*

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auch die Opernmufif und bewies hierdurch, daß fie Gottiched, ihrem Lehrer in der Dichtkunft, gegenüber doch ihre Selbitändig- feit wahrte?).

Unter ihren Gedichten ift, wie gejagt, wenigitens eins, das fie mit fpäteftens 15 Jahren gemacht haben muß. Andere, Die fih in der erften Sammlung der Gedichte finden, jtammen nad): weislich aus dem Jahre 17222). Eifriger wurden ihre litterarifchen Beihhäftigungen, als Gottſched 1724 nad) Leipzig gefommen war. Sie muß bald mit ihm in Verbindung getreten fein, lieb ſich von ihm unterweifen und fuchte fih nad feinen Schriften zu bilden®). Lamprecht jagt, fie habe unter verdedtem Namen ſich mit Beiträgen an den „Bernünfftigen Tadlerinnen“ betheiligt, welche 1725 zu erjcheinen anfingen. Die Arbeiten in dieſer Zeitichrift find fämmtlih anonym oder pfeudonym gedrudt. Es würde fih alfo faum feftitellen laſſen, welches die Beiträge der Ziegler find. Die Sache jelbit aber hat unzweifelhaft ihre Richtigkeit. Das Motto des Stüds vom 6. December 1726 ijt einem Gedichte entnommen, welches die Ziegler zum Geburtstage des Grafen Joachim Friedrich von Flemming, auf den 26. Aug. 1726, verfertigte. Flemming war Gouverneur der Stadt Leipzig und Mufikfreund, er ſtand zur Familie Romanus feit Jahren in näheren Beziehungen *). In den „Vernünfftigen Tadlerinnen“, deren Titel ſchon die Berechtigung der Frauen, in litterarifchen Dingen mitzureden, andeutet, wird mehrfach für ihr Streben nad gelehrter Bildung nachdrücklich das Wort ergriffen). Gott» ſcheds Billigung wird es aljo wohl gewejen fein, welche Frau von Ziegler ermuthigte, 1728 mit einer Sammlung ihrer Ge: dichte hervorzutreten, und da die Aufnahme beifällig war, 1729 eine zweite Sammlung hinterdrein zu jchiden. Sie war gewillt,

I) Sendſchreiben, S. 134. Vermiſchete Schriften (1739), ©. 172.

2) Verſuch zc. S. 82 und 330.

8, Vorbericht zum I. Theile des „Verfuhs.“

4) ©. Theodor Diftel in Schnorr von Carolsfelds Ardiv für Litteratur-

geihihte, Band XIV, S. 103 f. 8) S. z. B. Band I, S. 401 f.

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es hierbei für immer bewenden zu lafjen, doch entſchloß fie fich 1731 nod zur Herausgabe einer Sammlung von Briefen in Proſa, weil es jie reizte, in Nahahmung der franzöſiſchen Schrift: ftellerinnen ihren Landsmänninnen mit jolchen Beröffentlihungen voran zu gehen. Diefe Publication gab den Anftoß, daß die deutſche Gejellichaft in Leipzig, deren Senior damals Gottjched war, jie als Mitglied aufnahm. Die Aufnahme erfolgte noch in demjelben Jahre 1731). Die Antrittsrede, welche fie bei ihrem erjten Erjcheinen in der Geſellſchaft ablas, hat fie jpäter druden laffen?). Gottſched, der fie fortdauernd patronifirte, empfahl fie 1733 fogar der Wittenberger philofophifchen Facul: tät für die Laurea poetica®), Wirklich wurde von derjelben ein- ftimmig bejchloffen, Frau von Ziegler zur Faiferlihen Poetin zu frönen. Das unter dem 17. October 1733 ausgefertigte Diplom wurde ihr von dem Decan der Facultät, Johann Gott: lieb Kraufe, jelbit überbradt. Dieſer jeßte ihr auch in ihrer Wohnung zu Leipzig „im Beyfeyn vieler angejehener und ge- lehrter Männer“ eigenhändig den Epheufranz auf.

Daß das Ereigniß großes Auffehen erregte, beweijt die während Jahresfrift entjtandene Menge von beglüdwünjchenden Gedichten und Schriften, melde 1734 von Jacob Friedrich Lampredt ge- jammelt herausgegeben wurden. E3 find ihrer. nicht weniger al3 39, in deutjcher, lateinifcher, franzöfifcher, italienifcher und niederländifcher Sprache. Andrerfeits wollte auch die Deutiche Gejellihaft aus dem Ereigniß für fi Capital ſchlagen und jeine Wichtigkeit Fünftlich erhöhen. Denn ein Mitglied der Gejell- ichaft, eben jener Lamprecht, ein Schüler Gottjcheds, mußte die genannte Publication veranftalten. Natürlich blieben der Spott, die neidifhen und mißgünftigen Urtheile nicht aus. Die Frauen:

1) Ligmann, Chriftian Ludwig Liscow. Hamburg und Leipzig, Leopold Voß. 1883. ©. 86 Anmerk.

2) Bermifchete Schriften, S. 381 ff.

8) Litzmann, a. a. D. ©. 85, Anmerf. 2.

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welt ging hier voran!). Auch die afademifche Jugend bemäd)- tigte fich des Falle, um ihren Witz an ihm zu üben, und wurde dermaßen anzüglich und beleidigend, daß die afademifche Obrig- feit einfchreiten zu müſſen glaubte?). Vielleicht hängt ein Lied, das die gelehrten Frauen verfpottet, 1736 zuerjt in Leipzig ge drudt wurde und fi einer langdauernden Beliebtheit erfreute, mit der Krönung der Ziegler zufammen?). Die Betroffene wußte alle Unbilden mit der Gelaffenheit einer Eugen und vornehmen Frau zu ertragen. Daß der jchnell erworbene Ruhm fie nicht bethörte, beweiſt jchon die Zurüdhaltung, die fie in der Folge der litterarifchen Deffentlichfeit gegenüber beobadhtete. Der Ge- jelfhaft legte fie zwar pflichtmäßig zumeilen eine Arbeit vor. Sie erhielt zweimal den Preis der Poefie in derjelben, nämlich am 12. Mai 1732 und am 7. October 1734. Letzteres Gedicht zum Geburtstage des König-Churfürften, der damals in Leipzig weilte, wurde als Feitgabe der Gejellichaft jofort gedrudt *). Uebrigens vergaß fie ihren Vorſatz nicht, nach dem zweiten Bande ıhrer Gedichte feine Poefie mehr zu veröffentlichen: fie iſt dem— jelben zwar ungetreu geworden, aber eigentlich doch nur ein Mal. 1739 ließ fie in Göttingen „Vermifchete Schriften in gebundener und ungebundener Rede“ erjcheinen?).

Sie hatte in der Deutſchen Gejellichaft eine Bekanntſchaft gemacht, weldhe für ihr fpäteres Leben entjcheidend werden jollte. 2 ©. Vermiſchete Schriften, S. 395.

2) Acten des Haupt-Staatsarhivs zu Dresden. Locat 5523, Chriftiane Mariane von Ziegler betr. 1734. Berührt, doch nicht in feinen Zujammen- hängen verfolgt, hat diefen Gegenstand Karl von Weber, Archiv fürdie Sähfiiche Geſchichte. Fünfter Band. Leipzig, Bernhard Tauchnig 1867. ©. 431 f.

3) Dies Lied bat eine merfwürdige und lange Geſchichte, die ich Vierteljahrsſchr. für Mufilwiffenihaft, Jahrg. 1885, S. 88 ff. zu erzählen verſucht habe.

4) Miederabgedrudt Vermiichete Schriften, S. 28. Außerdem ſ. dafelbft S. MM.

5) MWahricheinlich ift dies nur eine zweite vermehrte Auflage der „Neuen vermifchten Schriften in nebundener und ungebundener Rede“, welche nad)

Angabe des Leipziger Meß-Katalogs 1736 in Leipzig herausgefommen und mir unbekannt geblieben find.

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Wolf Balthafar Adolf von Steinwehr, 1704 in Deez bei Soldin geboren, war, nachdem er in Wittenberg die Magiſterwürde er: langt hatte, nad Leipzig gefommen und 1732 in die deutjche Gejellihaft eingetreten. Eine am 7. October 1734 dajelbft ge: haltene PBreisrede wurde mit dem oben erwähnten Preisgebicht der Ziegler zufammen gebrudt. 1738, da Gottfched aus der Geſellſchaft ausfhied, wurde Steinwehr deren Secretär!). 1739 ging er als außerordentliher Profeſſor der Philoſophie nad) Göttingen. Daß die „Vermifcheten Schriften“ der Frau von Ziegler in Göttingen erjchienen, wird auf Steinwehr’s Ber: mittelung zurüdzuführen fein. Einige Gedichte darin?) beziehen fih fiherlih auf ihn. Auch läßt die fünfte Strophe des auf Seite 172 beginnenden Gedichts muthmaßen, daß fie ſchon 1739 an eine Verbindung dadten?). 1741 wurbe Steinwehr orbent- (iher Profeffor zu Frankfurt a. D. Am 19. September 1741 vermäbhlte er fih mit Frau von Ziegler. Mit dem Gottjched- ihen Kreiſe jcheint fie auch aus der Ferne noch in freundichaft- lichen Beziehungen gejtanden zu haben. Wenigitens wird im zweiten Bande der „Beluftigungen des Berftandes und Witzes“ (1742) auf Seite 480 ihr Name noch unter den Gefinnungs- genoffen genannt. Als Dichterin und Schriftitellerin aber ver- ſtummte fie. Am 1. Mai 1760 ijt fie in Frankfurt geitorben. Die erite Hälfte ihres Lebens war eine Kette von Er: fahrungen jchwerer und jchmerzliher Art gewejen. Die Be- friedigung, welche fie in der Beſchäftigung mit den Künften und Wiſſenſchaften fand auch der Philofophie wandte fie ihr In— terefje zu‘) —, der unerwartet gekommene litterariiche Ruhm, die Verehrung, welche ihrer Perfönlichfeit gezollt wurde, endlic) die legte Wendung ihres Gefhid3 haben dann das Gleichgewicht

1) Danzel, Gottſched und feine Zeit. S. 102.

2) &. 173 und 241.

3) Was Mosheim unter dem 3. Mai 1740 an Gottiched ſchreibt (Danzel, . 182), wird auf Göttinger Stadtklatſch beruhen.

+) Bermifchete Schriften, S. 213.

or

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zwiſchen böſen und guten Tagen wieder hergeſtellt. Eine an— geborene Heiterkeit des Gemüths befähigte ſie, auch die Zeiten des Unglücks ungebrochen zu überſtehen. Die Schilderung, welche Lamprecht von ihrem Charakter entwirft, erweckt Mißtrauen durch ihre bombaſtiſche Haltung, erweiſt ſich aber beim Leſen ihrer Schriften im Weſentlichen als richtig. Die Ziegler erſcheint als eine verſtändige, theilnehmende, welterfahrene Frau, nicht ohne geiſtige Anmuth und frei von Eitelkeit!); Heiterkeit war jo ſehr eine Grundeigenſchaft ihres Temperaments, daß ſie durch dieſe gelegentlich bis zum Muthwillen getrieben werden fonnte. Da ihr Haus einen Mittelpunkt des geiſtigen Lebens in der höheren Geſellſchaft Leipzigs bildete, ſo kamen allerhand Litteraten und dilettirende Muſenſöhne über ihre Schwelle, die ſich ihrer Gunſt verſichern und ihren Namen als Empfehlung benutzen wollten. Man vertraute ihr ſogar Herzensangelegenheiten an und jeden— falls jehr viel ſchlechte Verſe. Sich über diefe mit anderen heimlich luſtig zu machen, hielt jie nicht für unerlaubt. Auf einen ſolchen Fall bezieht fich ohne Zweifel, was im erften Band der Gedichte (1728) auf Seite 332% zu leſen ift. Ein anderes Mal hatte eine Indiscretion ähnlicher Art empfindliche Folgen für fie. Sch meine die den Litteraturforfhern befaunte An- gelegenheit des Profeſſor Philippi aus Halle, welche Liscom zur Herausgabe der „Sottises champötres“ (1733) veranlaßte?). Sich gemeinfam mit einem albernen Scribenten dem öffentlichen Gelächter preisgegeben zu jehen, mußte fie mit Necht als eine Beleidigung empfinden, und Liscow jelbjt bedauerte fpäter die Herausgabe?). Die litterariſchen Sitten jener Zeit waren wenig

i) Eine hübſche Selbitichilderung in den Vermifcheten Schriften, ©. 293 f.

2) Helbig, Chriftian Ludwig Liscom. Dresden und Leipzig, 1844. S. 18 f. Litzmann, ©. 84 ff.

3) Sammlung Satyriiher und Ernfthafter Schriften. Frandfurt und Leipzig, 1739. S. 37 f. Es ift fein Grund, an der Aufrichtigfeit diefer Er- klärung zu zweifeln, ebenfowenig wie an den Berficherungen der Hochachtung für Frau von Ziegler, welde Liscows Bruder, Joahim Friedrich Litcom, Gottiched gegenüber gibt.

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fein. Uebrigens mußten auch die lächerlichen Lobhudeleien der Freunde der Frau von Zicgler ihr perjönlic ſchaden). Wer aber den Sachverhalt wirklich kennen lernen wollte, konnte fich leicht überzeugen, daß die Gottſched'ſche Clique fie künſtlich in eine litterariiche Stellung hineinzubringen fuchte, die fie jelber gar nicht anjtrebte. Gottjcheds Frau kann man eine berufs- mäßige Litteratin nennen. Die Ziegler war immer nur die vor- nehme Dame, welche Kunſt und Wiffenichaft zwar mit Ernit, aber doh nur zu ihrem Vergnügen trieb. Ihre Anſpruchs— lofigkeit Tpricht ji gut in den Worten ihrer Antrittsrede aus: „Meine jchönfte Wiffenfchaft iſt diese, daß ich wirklich weiß, wie wenig id) meinen Kräften zuzutrauen babe.”

In der That fann von poetifchem Talent bei ihr nur im beicheidenften Sinne die Nede fein. Anzuerfennen find die für jene Zeit ungewöhnliche Correctheit, die Klarheit und der ge— fällige Fluß der Sprache, aber auch diejes gilt für die älteren Gedihte nur mit Einfchränfung, in welchen überdies der Aus- drud manchmal ind Geijhmadlofe und Niedrige fällt. Die Leb⸗ baftigfeit der Phantafie iſt gering, die Gedanken find in der Regel ſchwunglos und nüchtern, landläufige Phraſen finden reich- liche Verwendung. Das Anſchaulichſte, was fie in größerer Form geichrieben hat, ijt das Feitgedicht zum 7. October 1734; in ihm find auch die breit ausgeführten einfachen Gegenjäge: der Schreden des Krieges und die Segnungen des Friedens, von guter, man fönnte jagen: mufifalifcher Wirkung. Am beiten gelingen ihr ſtrophiſch gebaute Iyriiche Lieder gemüthvoller und heiterer Art. In den Vermiſchten Schriften von 1739 finden fich deren fünfzig. Sie enthalten nicht wenig des Anmuthigen und Zierlichen, einiges Vortrefflide. Es iſt ein mufifalifches Element in ihnen, und

1) Daher der Spott Hagedorns, der in einem Briefe an Chr. L. Liscow (bei Helbig, a. a. D. ©. 48) fchreibt: „Madame de Ziegler, qui des äges des Grages et des Muses, dont elle &tait la quatrieme et la dixieme il ya quelques lustres, a passe a l’age de Minerve.* Hier wird auf zwei Lob— gedichte auf die Ziegler angeipielt; ſ. diefelben bei Lampredt, S. 22 und 37.

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man wundert fi, daß fie nicht noch häufiger componirt worden find, als fich bis jetzt wenigſtens nachweiſen läßt. In den Gräfe'ſchen Oben, deren erfter Theil der Frau von Ziegler ge- widmet ift, finden fich zehn Compofitionen zu Gedichten von ihr: eine von Philipp Emanuel Bah, eine von Gräfe jelbit, zwei von Giovannini, jehs von Hurlebufh. Die Terte find bis auf einen, welcher in ven Gedichten von 1728 fteht, den genannten fünfzig Liedern der Vermifchten Schriften entnommen, und durch— jchnittlich beifer als die Muſik.

In den Vermiſchten Schriften begegnet man aud einem geiftlihen Gedichte (S. 110). Dies ijt vielleicht das beite Lied, welches die Ziegler überhaupt geichrieben hat. Ohne irgendwie durch bedeutende Gedanken hervorzuragen, gewinnt e3 durd echte Gefühlswärme, einfache Frömmigkeit und fait vollendete Form, und wirft noch jet mit voller Friſche. In der Litteratur des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts macht man oft die Beobadhtung, wie gering begabten Poeten plößlich die Flügel wachſen, wenn fie ſich geiftlihen Dingen zuwenden. Es it, als ob ein anderer Geift in fie führe. Neumeifter, ein nüchterner Formalift, hat einige Kirchenlieder gedichtet, die zu den beiten gehören, welche die Evangelifchen bejigen. Der fraftloje Reimer Henrici fand doc poetifhe Stimmung in ſich zu geiftlichen Gejängen, die noch heute nicht ganz aus dem Ge- brauch verfhwunden find. Männer, deren meltlihe Gedichte wüſten Wejens und unlauterer Elemente voll find, wie der freilich) alljeitig hochbegabte Günther, fchreiben geiftliche Lieder voll reiner Andacht und ergreifender Inbrunft. Hunold vermag fi jelbit während feines Liederlichen Lebens in Hamburg zu einer ernjt gemeinten Raffionsdihtung zufammenzunehmen. Am An: fang des 18. Jahrhunderts find auf geiftlihem Boden nod Dichtungen gewachien, bei denen man von der ſonſt herrſchenden troftlofen Dürre nichts gewahr wird, Die Lieder Chrijtoph Chriftian Händel’3 aus Anspach nenne ich bier auch deshalb, weil man fie gänzlich vergeſſen bat, obſchon fie zu den benf-

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würdigjten Erzeugniffen der Zeit gehören. Händel war Ober- bofprediger und Beichtvater des Markgrafen Wilhelm Friedrich von Brandenburg: Anspah, wurde 1709 feiner Aemter entjegt, jpäter wegen Beleidigung feines Fürften zum Tode verurtheilt, zu lebenslänglihdem Gefängniß begnadet und ftarb 1734 im Kerker zu Mülzburg. Er war überzeugt, daß ihm jchreiendes Unrecht widerfahren ſei, jcheute ſich nicht, Dies öffentlich aus— zuſprechen und erregte allerhand Unruhen. Darauf überfielen fürftlihde Dragoner fein Haus, um ihn in Gewahrjam zu bringen. Seine Gattin wurde dabei fo erjchredt, daß fie bald hernach ftarb. Händel war von leidenjchaftlicher Natur. So entitanden in Erinnerung an den Tod feiner rau zwei Lieder, die an binreißender Gewalt ihresgleihen nicht haben in dieſer Zeit. Ein Mannesmuth, der im Gefühl feines Rechtes der ganzen Welt Trog bietet, glühender Zorn über die geheimen Wider: jaher, denen er erlegen, und Klage über jein verlorenes Weib haben in padender poetiſcher Sprache einen Ausdrud gefunden, wie er zuvor nur Luther zu Gebote geſtanden hat). Verdorbenheit der Phantafie, eine bedenkliche Gewöhnung an das Schlüpfrige, jchlaffe Moral, liebedieneriſche Feigheit jheinen jo jehr die Merkmale der damaligen Litteratur und des gejellichaftlichen Lebens zu fein, daß man geneigt iſt, das warnende Wort vom trügeriichen Schein zu vergefien. In Wahrheit ging aber unter diefer mißfarbigen Oberflähe noch immer eine ftarfe, reine religiöfe Unterftrömung dahin, welche erft in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts allgemach zerrinnt. Sobald die Dichter einen geiftlihen Ton anſchlagen, quillt fie empor und führt ihnen größere Kraft zu. Sie allein war es, die den Menfchen noch den Muth der freien Meinung einflößte. Wenn Ehriftian Händel feinen Fürften, in deſſen unbeſchränkter

1) Man findet diefe Lieder wieder abgebrudt in „Zeugniffe treuer Liebe nad dem Tode Tugendhafter Frauen in gebundener deutfcher Nede abgeitattet von Jhren Ehemännern“. Hannover, 1743. ©. 98 ff.

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Willkür es lag, ihn an Leib und Leben zu ftrafen, die Worte entgegen ſchleudert:

Die Wahrheit Gottes zu beftegen

Sind alle Fürften viel zu Hein.

Hier mußt du, Markgraf, unten liegen,

Sonft könnte Gott nicht Gott mehr fein, jo war folches nur möglich bei einem unerſchütterlichen Ber: trauen auf die allmwaltende Gerechtigkeit, wie es nur lebendige Religiofität verleiht. Die außerordentliche Bewegung, welche der Pietismus hervorrief, erflärt fih aus demjelben Grunde. Die Orthodoren, welche ihn am heftigiten befämpften, machen freilih den Eindrud lebloſer Härte. Aber es iſt unrichtig zu glauben, daß es in der evangeliſchen Welt nichts weiter gegeben hätte, als dieje zwei Parteien. Es waren, "zumal unter ben Nichtgetitlihen, noch Leute genug vorhanden, die zu feiner von beiden hielten, und nicht die Schlechteften befanden ſich unter ihnen. In jenem GStreite handelte e8 fih auch gar nicht um Religion, jondern um Dogmatif. Und felbit die wilde Kampf: (uft der Orthodoxie läßt ſich ſchließlich auf das religiöfe Ge- fühl zurüdführen, einen feljenfeiten Glaubensgrund unter den Füßen zu haben. Die Begeifterung für die Kunft, welche fidh gerade bei ihren Vertretern häufig findet, beweilt klar, daß doch nicht alle jo verhärteten Gemüthes waren, wie e3 fcheinen mag. Man muß dieje Zuftände im Auge behalten, um eine Erfcheinung, wie Bad, die immer noch umbegreifliches genug bietet, in jener Zeit überhaupt nur als möglich zu fafjen.

Ein anderes fommt hinzu, um den Abjtand zwijchen geiit- licher und weltlicher Dichtung zu erklären. Die geiftlihe Dichtung hatte einen Rüdhalt an einer entwidelten und im Wolfe wurzelnden Tonfunft, welcher der weltlichen fehlte. Bei der Erzeugung religiöjer Lieder war die mufifaliihe Phantafte mindeitens in gleicher Stärfe thätig, wie die poetifche, und wirkte in langbewährten, dem Bolfe verftändlichen und jeine Seele zurüdipiegelnden Formen. Es iſt zu beachten, daß die

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beften geiftlihen Gedichte diefer Zeit auf allbefannte Choral- melodien eingerichtet find. Der Orgelklang kirchlich-künſtleriſcher Empfindung erfüllte das Innere des fchaffenden Dichters und it an dem Gefhöpf haften geblieben. Er fließt unter und zwifchen den Wort: und Gedanfenreihen Hin, ihnen Wärme und Leben, Charakter und Farbe gebend.

Wie bei den ftrophifchen Dichtungen, jo muß man auch bei den madrigalifchen mit diefem Elemente rechnen. Die jo: genannten Gantatenterte werden von den Litteraturforfchern meift mit äußerjter Geringihägung behandelt. Nur Wilhelm Scherer macht hier eine Ausnahme!), doch fcheint es mir, als ob auch er der Sade noch nicht völlig gereht würde. Es fann mir nicht beifommen, den Anwalt jener zahllofen Gantaten- fabrifanten zu machen, welde, nachdem die Form einmal ge- funden war, nichts weiter thaten, als Worte zuhauf zu bringen und in die üblihen Schemata einzutheilen. Aber nicht alle waren diejer Art, und erjcheinen jelbft bei den beiten, bei Neu: meiſter, Salomo Frand, Joh. Jacob Rambach, die Dichtungen an ſich betrachtet vielfach gering und inhaltsleer, jo ift foldhe abgetrennte Betrachtung eben nicht zuläffig. Sie fordern die Mufif als Ergänzung, find auf fie eingerichtet und gewinnen durch fie das gemollte Schöne LXeben. Bei Neumeifter, der ohne eigene mufifalifhe Bildung und zur Erfindung der mabrigalijchen Gantate vielleiht nur durh Zufall geführt war, fann man beobadhten, wie der Genius der Mufif ihn ergriff, nachdem er fih einmal in fein Gebiet gewagt hatte. Der erjte, 1700 erichienene Jahrgang feiner Cantaten trifft die Stellen noch nicht, aus denen deutſche mufifalifche Empfindung am reichlichiten fließen Efonnte. Das madrigaliſche Weſen im Allgemeinen und die aus Necitativ-Dichtung und feiter gefügten Strophen ge: bildete Form im Befonderen find auch nicht deutſchen, ſondern italienischen Urfprungs, und follen nicht den Ausdrud gemein:

1) Gefhichte der Deutichen Literatur. Berlin, Weidmann’ihe Bud: bandlung 1881. ©. 348 ff.

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famer, fondern individueller Gefühle dienen. Die Einführung des Bibelworts und Choral3 im dritten Jahrgange zeigt aber, daß er bald die richtigen Mittel gefunden hatte; hier it im meift finnvoller Gruppirung alles bei einander, dejlen eine um- fafjende nationale Tonfunft bedurfte, um ihre Fülle zu ent- falten. Dies ift die Form, welche fih Bach aneignete und in welcher er feine unvergänglichen Kirchencantaten ſchuf.

Unter Bach's Kirchencantaten befinden ſich acht, melde mir aus innern und äußern Gründen als eng zufammengebörig erſchienen find, jo daß ihrer aller Entftehung in eine und diejelbe Zeit zu jegen war!). Nach Tertanfang und kirchlicher Beitimmung verzeichnet, find es folgende:

1. Sonntag Jubilate, „hr werdet weinen und heulen“.

2. Sonntag Cantate, „Es ift euch gut, daß ich hingehe“.

3. Sonntag Rogate, „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen“.

4. Himmelfahrtsfeit, „Auf Chrifti Himmelfahrt allein”.

5. Sonntag Eraudi, „Sie werden euch in den Bann thun“

(A-moll).

6. Erſter Pfingittag, „Wer mich liebet, der wird mein Wort halten“ (die größere der beiden Gantaten gleichen Anfangs).

7, Zweiter Pfingittag, „Alfo hat Gott die Welt geliebt“.

8. Dritter Pfingittag, „Er rufet feine Schafe mit Namen“ ?).

Wie man fieht, beziehen fie fih auf acht Sonn: und Feſt— tage des Kirchenjahres, welche in ununterbrochener Reihe einander folgen. Was die Dichtungen betrifft, jo ſei es mir geftattet, eigene Worte zu citiren, „Aus den tief ausgefahrenen Gleifen madrigalijcher Reimerei wendet ſich der Dichter häufiger zur Liedjtrophe zurüd und baut ungewöhnlichere, anmuthige Formen.

19%. S. Bad, II, S. 830 ff. und ©. 550 ff.

2) Die Bach ⸗-Geſellſchaft hat dieſe Cantaten veröffentlicht, und zwar Nr. 1 in Band XXIII als Nr. 103: Nr. 2 in Bd. XXIII, Nr. 108; Nr. 3 in Bd. XX!, Nr. 87; Nr. 4 in Bd. XXVI, Wr. 128; Nr. 5 in Bd. XXXVII, Mr. 183; Nr. 6 in Bo. XVII, Nr. 74: Nr. 7 in Bd. XV, Nr. 68; Nr. 8 in Bb. XXXV, Wr. 175.

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Das Bibelwort tritt öfter ein als ſonſt. Die Empfindung iſt durchweg tiefer und reiner, als durchſchnittlich in den früheren madrigaliihen Cantaten, mandmal erhebt fie ſich zu wirklich erbaulicher Kraft. Gern möchte man wifjen, ob ſich bier ein neuer Tertdichter zeigt, oder ob Bach, nachdem er mit dem Durdcomponiren ganzer Kirchenliever deutlich jein Mißbehagen an dem, wenn auch verwendbaren, jo doch leeren Wortfram Picanders fundgegeben hatte, deijen Talent dur feinen ernten Geiſt zu veredeln vermodt hat.“

Es ift nun überflüffig geworden, Vermuthungen aufzuftellen. Verfafjerin der Gedichte ift Mariane von Ziegler. Im erjten Bande ihres „Verſuchs in Gebundener Schreib: Art” (Leipzig, 1728) hat jie diejelben zwiſchen vermifchten und jcherzhaften und jatirifhden Gedichten auf Seite 243 268 veröffentlicht, und zwar genau in der Reihenfolge, wie fie oben verzeichnet find. Hinter der erften und zweiten Dichtung ſteht noch je eine veligiöfe Betrachtung in Alerandrinern, hinter der fiebenten und achten nod) je eine geiftlihe „Aria” von fünf Strophen. Dieje Zuthaten bat Bach unberüdfihtigt gelaffen, und fih nur an die eigentlichen Cantaten-Texte gehalten. Außer den verzeichneten acht findet fich darin aber auch ein neunter, auf das Trinitatisfeft („Es iſt ein trogig und verzagt Ding um aller Menjchen Herzen”), mit einer aus vier Alerandrinern bejtehenden be- tracdhtenden Zugabe (©. 271 ff.). Auch diefen Tert, ausjchließlich der Zugabe, bat Bad) componirt!). Ach habe die Compofition jeiner Zeit an die übrigen acht nicht angejchloffen, da mir eine genügende innere und äußere Berechtigung hierzu nicht vorhanden ſchien, und die Frage nad ihrer Entitehung halb offen gelaffen (Bach II, ©. 559). Jetzt möchte ich nicht mehr zweifeln, daß fie mit jenen auch zeitlih eng zujammengehört, jo daß Bad eine ununterbrocdhene Reihe von Kirchencantaten von AYubilate bis Trinitatis in einem und demjelben Jahre componirt hätte. Mehr als dieje neun Kirchenterte finden fich überhaupt in der

1) B.G. XXXV, Nr. 176.

re

Gedichtſammlung nicht; es folgen nur noch von Seite 273—282 vier Kammercantaten religiöjen Charakters. Bad hat alſo den gefammten für feine Zwede verwendbaren Inhalt der Ge- dihtjammlung rein ausgejchöpft.

Im zweiten Theil des Verfuhs „In Gebundener Schreib: Art” (Leipzig 1729) find der Terte zu Kirchencantaten mehr, nämlih für alle Sonn- und Feittage des Kirchenjahrs, mit Ausnahme derjenigen, die ſchon im eriten Theile berüdfichtigt worden waren. Inter den Terten der uns erhaltenen Kirchen- cantaten Bachs findet fich aber feiner, der aus ihnen entnommen wäre. Es iſt recht wohl möglih, daß fie ihm nicht zufagten. Sie find durchſchnittlich länger als die des erjten Theils, und er durfte mit feinen Compofitionen, die ja während des Gottes: dienſtes aufgeführt wurden, ein bejtimmtes Zeitmaß nicht über: jchreiten'). Auch find die eingeftreuten Bibelftellen nicht immer für die Compofition bequem geformt. Dagegen könnten nod zwei andere Terte, die Bach componirt hat, die in dem beiden Sammlungen aber nicht ftehen, von der Ziegler eigens auf Bach's Wunſch gedichtet fein. Ach meine die Gantaten „Sch bin ein guter Hirt” (Mifericordiad Domini) und „Gott fähret auf mit Jauchzen“ (Himmelfahrtsfeit)?). Sie liebt e8, an die Spite des Gedihts ein bibliides „Dietum* zu ftellen, und in der Mitte abermals ein Dietum oder auch im zweiten Theile des „Verſuchs“ einen Choral zu bringen. Auf letere Art ift der Tert der Mifericordias » Kantate conftruirt. Der Tert der Himmelfahrts : Cantate aber beiteht größten Theils aus einem Strophenliede, weldes am Schluß der Strophen wiederholt auf diefelbe Wendung zurückkommt. Derartiges ver: itand gerade die Ziegler artig zu geftalten®?), und auch die

1) Den Borwurf zu großer Länge fah die Verfaflerin ſelbſt voraus: f. den Rorberiht zum zweiten Theil.

2) B. G. XXI, Ar. 85 und X Wr. 43.

3) Vergl. Vermiſchete Schriften in gebundener und ungebundener Rebe. Göttingen, 1739. ©. 173 ff.

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Empfindung des Gedichts ift die ihrige. Bevor biejes Gedicht beginnt, finden ſich, durch Recitativ und Arie getrennt, wieder die beiden Dicta.

Die Frage ift nunmehr, was aus dem Nachweis, daß Bad) die neun gedrudten Gantatenterte der Ziegler componirt hat, für die Entftehungszeit der Compofitionen gefolgert werden fann. Ih Habe diefelben an einem andern Orte in das Jahr 1735 gejegt. Die Wahrnehmung, dab Bad) nur die im erjten Bande der Gedichte enthaltenen Terte componirt hat, von den im zweiten Bande vereinigten aber feinen einzigen, könnte zunächſt auf den Gedanten führen, Bach habe jene Terte gleich bei ihrem Er: jcheinen als willfommene Gabe ergriffen, fih mit ihnen aber für allemal an der Boefie der Ziegler genug gethan. Allein eine genauere Unterfuhung lehrt, dab dem nicht jo gewejen fein kann. Der erite Band erjchien, nad) Ausweis des Leipziger Mepfatalogs von 1728, zu Michaelis diefes Jahres. Für 1728 fonnten aljo die Cantaten jchon nicht mehr componirt werden. Der zweite Band erichien 1729 wiederum zu Michaelis. Im Vorbericht ift von den Cantatenterten desfelben ausführlich die Rede, auch von der Möglichkeit, daß einer oder der andere ein- mal componirt werden fünne. Dies gejchieht in einer Weife, welche die Annahme, es jeien die Terte des eriten Bandes bereit8 componirt und in den Leipziger Kirchen aufgeführt worden, völlig ausschließt. Solches hätte unter den herrſchenden Um- ftänden nur in ebendemfelben Jahre 1729 gefchehen fein können, und es ijt undenkbar, daß die Verfafferin e8 unerwähnt gelafjen hätte, zumal wenn Bach der Componift gewejen wäre. Grade dies hätte für fie die mächtigfte Anregung fein müffen, neue Gantaten zu dichten, während fie doch nur den Beifall, welchen ihr ein vornehmer Freund (wahrjcheinlih der Minifter von Manteuffel) nah Leſung der früheren Gantaten gezollt habe, als den Grund angibt. Somit kann alfo au das Jahr 1729 die Entitehungszeit der Compofitionen nicht fein, und wäre früheftens das Jahr 1730 als ſolche anzunehmen. Hier aber

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Philipp Spitta, Zur Muſit.

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treten die an einem andern Orte angeführten Gründe, melde zur Annahme des Jahres 1735 veranlaßten, wieder in volle Gültigkeit. Es dient alfo der Nachweis der Quelle, welcher die Dichtungen der betreffenden Bach'ſchen Gompofitionen entnommen find, nur zur Beltätigung jener früheren Annahme, indem der gefammte Zeitraum vor 1730 nunmehr aufs beſtimmteſte außer Frage geitellt wird.

Die Geftalt, in welcher die Terte gedruckt find, ftimmt mit derjenigen, welde fie in Bach's Gompofitionen zeigen, nicht immer ganz überein. Mande Abweichungen find von feiner Bedeutung: Bach wird fih an einigen Stellen verlejen oder verfchrieben oder beim Componiren die gelefenen Worte nicht mehr jcharf in der Erinnerung gehabt haben’). Andere haben dienſire Michtigfeit. Unter ihnen find vor Allem diejenigen zu ſchreiten ). Anunaus ftiliftiichen Verbefferungen entftanden find. für die Compofition %. nicht herrühren, der in jolchen Dingen zwei andere Terte, die Bah andern müſſen auf die Dichterin Sammlungen aber nicht ftehen, vun zunächſt unrichtige Con— Bach's Wunſch gedichtet fein. Ich meinerden Zeit- oder Bei- bin ein guter Hirt“ (Mifericordias Domini) urung beruhende auf mit Jauchzen“ (Himmelfahrtsfeft)?). Sie liebotragen, den Spige des Gedichts ein biblifches „Dietum“ zu ſte. Muſik zu in der Mitte abermals ein Dietum oder auch im lagen“ Theile des „Verſuchs“ einen Choral zu bringen. Aufl und Art it der Tert der Miſericordias-Cantate conftruirt. en!” Tert der Himmelfahrts - Kantate aber beiteht größten der. aus einem Strophenliede, welches am Schluß der Strophins wiederholt auf diejelbe Wendung zurüdkonmt. Derartiges verer jtand gerade die Ziegler artig zu geitalten?), und aud *

druckte

) Den Vorwurf zu großer Länge ſah die Verfaſſerin felbft vor. Mufif

f. den Borbericht zum zweiten Theil. tur! 2) B.-G. XXI, Nr. 85 und X Nr. 49. wer

?) Bergl. Vermiſchete Schriften in gebundener und ungebundener Rergrt Göttingen, 1739. S. 173 ff.

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In der Rogate-Cantate fteht einmal gedrudt: „D Wort, das Geiſt und Herz erſchreckt.“ Gottſchediſch pedantiſch ift ſpäter „Herz“ in „Seel“ geändert. Die Cantate zum zweiten Pfingſt— tage enthält jene nach ihrer eriten Beröffentlihung ſchnell in weiteiten Kreifen beliebt gewordene Arie „Mein gläubiges Herze“. In der gedrudten Faſſung lautet der Tert: „Getröftetes Herze, Frohlocke und fcherze, Dein Jefus ift da. Weg, Kummer und Plagen, Ih will euch nur jagen: Mein Jeſus ift nah.” Ich jtelle die componirte Faſſung vollitändig gegenüber: „Mein gläubiges Herze, Frohlode, fing’, fcherze, Dein Jeſus iſt da. Weg Jammer, weg Klagen, Jh will euch nur jagen: Mein Jeſus ift nah.“ In der vierten Zeile ift wieder eine falſche Zufammenftellung zweier im Weſen verjchiedener Hauptwörter ausgemerzt. Die Aenderung der eriten Zeile bewirkt einen folgerihtigern Anschluß an den vorhergehenden Chortert. Die Aenderung der zweiten Zeile erhöht die Lebendigkeit der Anſchauung. Verbeſſerungen in der Art der beiden legteren kommen noch an vielen Stellen vor. Die zweite Arie der dritten Pfingftcantate hat eine voll- ftändige Umgeftaltung erfahren; Feine Zeile ift unverändert geblieben; die geſammte Anfchauung ift einheitlicher geworden, lebendiger ausgeprägt, der Ausdrud gewählter und Durch deutlichere Bezugnahme auf Biblifches erhabener, das Ganze aus einer poetijchen Stümperei zu einem recht Schönen geiftlichen Gedichte gemacht worden. Auch aus diefen Dingen geht hervor, daß die Dichtungen nicht gleich nad ihrem Erjcheinen, aljo 1729, componirt fein können. Denn die Nenderungen können nicht eher vorgenommen fein, als nachdem die Ziegler von Neuem und in Ihulmäßiger Weife angefangen hatte, fih mit der Dichtkunft zu beichäftigen. Das gefchah erit nach ihrem Eintritt in die Deutjche Gejelichaft, und diefer fand am Ende des Jahres 1731 ftatt. Außer der Anwendung ftrengerer Logik in der Sagverbindung und größerer Anfchaulichfeit gehört auch die Befeitigung nichts: jagender Flidwörter, banaler Bhrajen und das Zufammendrängen zu breit gerathener Säte in die Rubrik der ftiliftifichen Ver— —*

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befierungen. In den Recitativen wird gejucht, größere Mannig- faltigfeit durch den Wechſel langer und kurzer Zeilen herzuitellen. Es werden aber die Recitative auch häufig gekürzt, und hier fönnte man ſchon einen Wink des Componiften als Motiv ver- muthen!). In der Rogate-Cantate iſt nad der erjten Arie ein furzes Recitativ ganz neu eingeſchoben. Dadurch wird die Wirkung des nachfolgenden Dietum bedeutend erhöht, freilich mehr die poetifhe, als die rein muftfalifhe, und es mag daher jein, daß auf diefen Einfall die Dichterin aus ſich ſelbſt gerieth. Ebenjo wird fie wohl aus eigener Bewegung dazu gekommen fein, dem zweiten Recitativ der Trinitatis-Cantate nachträglich einen Bibelſpruch anzuhängen, fo daß nun auch in diejem Terte zwei Bibeljprüche zu finden find. Sicher aber ift die Mitwirkung des Componiſten bei einer Aenderung in ber Himmelfahrts- Gantate anzunehnen. Hier findet ſich das Seltſame in der Compofition, daß eine Arie ins Necitativ verläuft und mit diejem der Gefang endet, während die Inſtrumente durch Wieder: holung des Arien-Ritornell® wenigftens für eine nothdürftige Abrundung der Yorm jorgen. Der gedrudte Tert gab zu dieſer Seltſamkeit feine Veranlaffung: bier jchließt die Arie in fich ab, und das folgende Recitativ beginnt mit einem neuen Gedanken: gange. Die ungejhidte Ausdrucdsweife der legten Zeilen der Arie jollte ſpäter verbeflert werden. Nun aber gerieth die Dichterin, beliebtermaßen einem Bibelſpruch folgend, in einen Gedanken— gang, der die Trennung zwiſchen Arie und Recitativ aufhob und unmittelbar aus jener in diefes binüberleitet. Nach der bei Cantatendichtungen jener Zeit gültigen Technik ijt dies über:

1) Im Recitativ der Gantate zum 2, Pfingittage ift in Folge einer folden Kürzung ein ganz unverftändliher Sa in die Compofition hinein- gerathen, nämlih: „Was mid getroft und freudig madt, dak mich mein Jeſus nicht vergeſſen.“ Die Vergleihung mit der älteren Faſſung ergibt, dab es heißen muß: „Was mich getroft und freudig macht, ift, daß mid Jeſus nicht vergeffen.“ Einmal, im zweiten Recitativ der Himmelfahrts- mufif, findet fich aud) eine Verlängerung von zwei Zeilen. Sie geichah offen- bar, um ben in der folgenden Arie eintretenden Gedanten befjer zu vermitteln.

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haupt gar feine zuläflige Form, und die Ziegler muß das jelbit recht wohl gewußt haben. Es ift alſo nicht denkbar, daß fie fih nicht mit dem Componiſten zuvor darüber beredet haben jollte, ob dieſe Anomalie mufifalifh möglich jei.

Ueberhaupt aber würde eine zum Zwecke der Compofition vorgenommene Umarbeitung gedrudt vorliegender Gedichte einen lebhaften Verkehr und Gedankenaustauſch zwiſchen einer fo muſikaliſchen Dichterin und dem Gomponiften als geboten er: fcheinen lafjen, wenn ſich ein folcher unter den gegebenen Um— ſtänden nicht ohnehin von jelbit verftände Wenn oben eine Aeußerung der Frau von Ziegler über die geringe Werthſchätzung der Mufifer innerhalb der Leipziger Geſellſchaft mit ihren eigenen Worten angeführt wurde, jo geſchah es, weil fie genau mit dem übereinjtimmt, was wir von Bach's Erfahrungen in Xeipzig, zum Theil durch deſſen eigene Worte, wiffen. Da die Ziegler wohl die einzige war, welche ihrer Zeit in Leipzig ein mufifalifches Haus machte, jo darf als jicher angenommen werden, daß Bach ihre Bekanntſchaft bald nad jeiner Weberfiedlung dorthin ge- macht hat. Sicherlich hat er ſich ſchon in den zwanziger Jahren an ihren häuslichen Goncerten betheiligt. Es wird nicht ohne Beziehung fein, daß in der poetiichen Schilderung einer Garten- mufif, welche ſich im zweiten Bande der Gedichte findet, nad) Anhörung einer Duverture fein Name ausdrüdlich genannt wird. Mit Gottſched war Bach im Herbit 1727 in perfönliche Be- rührung gekommen, als jener für die Trauerfeierlichkeit zu Ehren der verftorbenen Königin Chriſtiane Eberhardine eine Ode ge- dichtet hatte, weldhe Bad componirte.e Um 1736 beftimmte Bad auf Gottſched's Anfuchen zum Mufillehrer der Frau des- jelben jeinen Lieblingsihüler Krebs. Der Gottjchedianer Birn- baum, ein Mitglied der deutſchen Rednergeſellſchaft, war fein ergebener Freund, T. L. Pitſchel fein Bewunderer!). Aus all

) Zu Gottiched’S Anhängern gehörte auch J. A. Scheibe. Es geriethen alio um Bach's willen zwei Gottſchedianer in Streit. Der Meijter der Schule bemühte fich, wie er zu thun pflegte, es mit feinem von beiden zu

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diejem ergibt fich, daß Bach zu dem Gottjched’jchen Kreife, dem gewiffermaßen ja auch Frau von Ziegler angehörte, mancherlei Beziehungen unterhielt, und die Vermuthung iſt begründet, daß er eben durch die Ziegler in ihn hineinkam. Wir wiffen auch, daß er mit einem Mitgliede der Familie Romanus freundjchaft- lichen Verkehr pflog)y. Daß er die Gantatendichtungen der Ziegler componirte, muß indeſſen nod) eine befondere Beranlafjung gehabt haben. Es ijt nicht anzunehmen, daß diefelben bei ihrer Veröffentlihung feinem Blid entgangen wären. Hätte er ſich nur durch ihren inneren Werth bewogen gefunden, fie in Mufik zu jegen, jo hätte er wohl nicht jo lange damit gewartet. Welches aber die Veranlaffung gemwejen fein mag, liegt einſt— weilen ganz im Dunkeln. Immerhin ift jo viel erfichtli, daß er mit bejonderem Intereſſe an die Arbeit gegangen iſt. Es ergibt ſich ſchon daraus, daß er ſämmtliche Dichtungen der Sammlung von 1728 in einem und demfelben Jahre, alſo un- mittelbar hintereinander, in Mufif gejegt hat. Es ergibt fich aber ebenjo jehr aus dem Werth der Compofitionen jelbit, die faft alle als Meiſterwerke höchſten Ranges bezeichnet werden dürfen.

Der kleine Lorbeer der Dichterin iſt längjt verwelft, troß aller Lobpreifungen bdienftbefliffener Freunde. Um ihres jelbit- ftändigen Kunftwerthes willen würde Niemand mehr die Roejien und Schriften Marianens von Ziegler in die Hand nehmen, und die DVergefienheit wäre verdient, in die fie zurüdgefunfen ift. Aber indem Bach ſich durch fie zu einer Reihe jeiner herrlichiten Schöpfungen anregen ließ, hat er ihr geitattet, an jeiner Un- jterblichfeit Theil zu nehmen.

verderben, Scheibe's Critiſcher Muſikus wird in den Beyträgen zur critifchen Biftorie ꝛc. Bd. VI, ©. 453 ff. ſehr wohlwollend recenfirt; doch wird es zugleich abgelehnt, auf den Gegenftand des Birnbaum-Sceibe’ichen Streites einzugehen.

!) Bad II, S. 955, 3. 1 und 2.

2,

„Paris und Sbelena.“

3

1.

> de’ Caljabigi dichtete und Glud 1770 componirte, ijt folgender.

Helena herrſcht als Königin in Sparta; fie ift unvermäbhlt, bat aber auf Wunſch ihres Vater Tyndareos dem Menelaos ihre Hand zugejagt. Paris, welcher im Schönheitsftreite der drei Göttinnen der Venus den Preis zuerfannt hatte, iſt an der ipartanifchen Küfte gelandet, um zur Belohnung für feinen Ur- theilsſpruch das jchönfte griehifche Weib zu gewinnen. Schon die Bejchreibung der Helena hat ihn mit Verlangen nad ihr erfüllt; da er fi unter dem Schutze der Liebesgöttin weiß, zweifelt er auch nicht an dem Gelingen des Unternehmens. Doh hält er es für räthlih, nicht ſofort als Werber aufzu— treten, jondern als Grund feines Kommens die durch den Ruf der Schönheit Helena’s ermwedte Neugier vorzugeben. Die erite Begegnung zeigt ihm, daß der Ruf noch zu wenig gejagt bat, und jteigert feine Leidenſchaft. Auch Helena ijt durch den An- blid des ſchönen Jünglings bewegt, doch fträuben fich ihre ipartanifche Jungfräulichkeit und der Stolz der Königin, diefer Empfindung nacdzugeben. Paris wird gaſtlich aufgenommen, jeiner Siegeszuverfiht aber mit Fühler Zurüdhaltung und un- verhohlenem Spott begegnet. Um den Gaft zu ehren, läßt jo- dann die Königin Feſtſpiele veranftalten, bei welchen Paris an

d inhalt der Oper Paride ed Elena, welche Ranieri

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ihrer Seite figt und die Kampfpreife austheilt. Der raube Geſang der Spartaner gibt Veranlaffung, den Paris um ein Lied nach füher aſiatiſcher Weife zu erſuchen. Paris fingt von zwei jchönen ſchwarzen Augen; es wird bald offenbar, daß er fih perfönlid an Helena wendet. Seine Leidenfchaft reißt ihn fort, Helena gebietet ihm Schweigen, er finft in Ohnmacht, und in der nun folgenden Verwirrung tritt auch der Königin Liebe Far zu Tage. Als ihm die Befinnung wiedergefehrt ift, erklärt er ihr feine Liebe unummunden; Helena weift diejelbe ſchroff zurüd. Paris wiederholt feinen Antrag brieflich, erfährt aber als Antwort eine ftrenge moralifhe Zurechtſetzung, erhält die Erklärung, daß fie einem Andern ihre Hand verſprochen habe, und den Befehl, abzureifen. Die Umftände fügen e8, daß ihm dieſer Brief im Beifein Helena’ übergeben wird. Ein leidenſchaftliches Zwiegejpräd folgt, in welchem Paris Helena’s inneriten Seelenzujtand erkennt. Zum Schein rüftet er fich zur Abfahrt; ein letztes Zufammentreffen entreißt ihr das Ge- ſtändniß. In den Wolfen erjcheint Pallas Athene und prophe- zeit unabwendbares Leid und den Untergang Trojas als der Liebe Ende. Das Paar getröftet ſich der Zuverfiht, daß der Liebesgott fein Schug fein werde, und die Schiffsmannſchaft (ichtet die Anker zur Fahrt nad) Troja.

Nur zwei Perfonen tragen die Handlung. Der Gott Amor, welcher unter dem Namen Erafto als Bertrauter der Helena eingeführt iſt, hat als Allegorie ebenjowenig dramatifche Be- deutung, wie in Orfeo ed Euridice. Chöre der Trojaner und Spartaner bilden die Staffage.

Bon jeher hat man diefe Dichtung mit Befremden betrachtet. Bei Orfeo und Alceste mögen einzelne Ausführungen Be- denken erregen; unftreitbar find die betreffenden Sagen in ihrem Wefen erfaßt und im Ganzen angemefjen geitaltet. Die Entführung der Helena durd) Paris aber hat ihre Bedeutung weit mehr nur ala Glied einer Kette von einander bedingenden Begebenheiten. Das Ereigniß, obwohl zur dramatiihen Be-

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handlung durchaus geeignet, ſchürzt doch nur den Knoten, der im trojaniſchen Kriege ſeine Löſung findet. Allein hingeſtellt, macht es, ſelbſt bei Milderung einiger Umſtände, den Eindruck einer ungelöſten Diffonanz. Calſabigi war ein viel zu gründ— liher Kenner des claffifchen Altertbums und ein viel zu feiner Aefthetifer, als daß ihm dieſer Webelitand hätte verborgen bleiben fönnen. So weit es ihm feine Natur und die An ihauungen feiner Nation und Zeit gejtatteten, arbeitete er jo- gar jelbit nach antifen Muftern. Bei der Alceste bat man auch nicht verjäumt, die Euripideiihe Tragödie zum Vergleich berbeizuziehen. Paride ed Elena läßt eine Vergleihung mit der „Helena“ des Euripides nicht zu, da diefe Dichtung nicht die Entführung der Helena zum Gegenftande hat, fondern ihre Wiedergewinnung nah dem trojanifchen Kriege. Calſabigi's Dperntert jcheint aber Allen einen jo gänzlich unantifen Ein: drud gemacht zu haben, daß Niemand ſich die Mühe gegeben bat, noch weiter ernitlich nachzuſehen, ob Calſabigi nicht aud) bier nad) einem antiken Vorbilde gearbeitet habe, und ſich aus defien Beichaffenheit die Eigenthümlichkeit feiner Dichtung er- klären lafie. Nur Dtto Jahn wirft gelegentlich einmal die Bemerkung bin, die Entführung der Helena jei etwa im Sinn einer ovidiſchen Heroide aufgefaßt (Mozart II!, 236). Er iſt aber dem Gedanken nicht weiter nachgegangen und bat ihn jpäter, wie es jcheint, ganz fallen laffen.

Galjabigi gab 1793 in Neapel eine zweibändige Sammlung jeiner Schriften heraus: Poesie e Prose Diverse. Sie ent- hält die Muſikdramen Orfeo ed Euridice, Alceste, Paride ed Elena, Ipermestra o I,e Danaidi, Elvira, Elfrida; außerdem einen Brief an den auch als DOperndichter befannten Grafen Aleſſandro Pepoli „beim Weberjenden der Tragödie Elfrida”. Diefer kaum beachtete Brief it gleichwohl bedeutungsvoller für die Erfenntniß der poetiſchen Grundjäge Galfabigi’s, als deſſen befanntere Differtation über die Werke Metaſtaſio's. Es findet ih darin eine Stelle, an welcher der Schreiber bemerkt, in

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Betreff des tragiſch-lyriſchen Stiles (er meint das Muſikdrama) babe er eine bejondere Anficht. Derjelbe müſſe dem Stile der Elegie ähnlich jein. „In der Tragödie gibt e3 oft zu jammern, oft jammert auch die Elegie, Flebilis indignos, Elegeia, solve capillos.

Sie liebelt und jchäfert, und mit Munterfeit, Luft und Natür- lichkeit; fie wird warm in der Empfindung, erhaben im höch— jten Feuer der Leidenschaften; fie berührt auch, wo es paßt, das Heroifche. Alles dies kann man an Tibull, Properz und Ovid beobachten.“ Die Mannigfaltigkeit und Miſchung der Stilarten jcheint ihm auch für den Tert eines Mufifpramas am geeignetiten, je nah Maßgabe der Charaktere, der Rollen, der Afferte u. j. w. (S. 165 f.). In feiner Didtung nun iſt er beflifjener gewejen, jeinen Grundjag zur Ausführung zu bringen, als in Paride ed Elena. Dieſer Tert ift im Weſentlichen nichts Anderes, als die einfahe Dramatifirung zweier altrömi- ſcher Elegien.

Sn den Epistolae des Dvid findet ſich als fünfzehnter ein Brief des Paris an Helena, und als jechzehnter Helena's Er: widerung. Beide Dichtungen ftanımen wohl nit von Ovid jelber, fondern von einem durch Dvid angeregten Dichter der augufteifhen Zeit. Vielleicht ift auch der Brief der Helena zu— erſt allein dagewejen, und der des Paris jpäter bemjelben angepaßt. Das find Fritiiche Fragen, die uns hier nicht küm— mern. Das auf eine dramatiihe Wechjelbeziehung zwijchen Paris und Helena gegründete Elegien-Paar liegt vor, und es it die Duelle des Calſabigi'ſchen Operntertes geworden.

Sudt man nad) dem Grundmotive des Tertes, jo ergibt fih als ſolches der Gegenjag zwischen zwei Perſönlichkeiten, deren Charakter dur die Nationalität, der fie angehören, beitimmt erſcheint. Paris ilt der reihe, üppige, genußſüchtige Afiat, Helena die unverbildete, in einfahen und ftrengen Sitten er: zogene Griehin. Die altgriehiiche Zeit kannte diefen Gegen- jag nidt. Die Männer, welchen ein Sektor zugehörte, waren

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feine Weichlinge. Auch findet ſich nirgendwo eine Aeußerung, die geitattete, die Helena fo zu zeichnen, wie es Caljabigi gethan hat. Was die Dichter an ihr hervorheben, ift vor Allem ihre allmächtige Schönheit; durch dieſe wird fie zu einem Gegenitande der Ehrfurdt, wie denn auch feiner ber Trojaner ſelbſt wäh— rend des Krieges ihr ein böfes Wort jagt. Ihr Charakter aber it nicht ſowohl ſtolz und berb, als beftimmbar und jchwan- fend: ſchnell von Paris bethört bereut fie doch bald ihren Fehltritt, als fie das Unglück fieht, das fie angerichtet hat, und jehnt ſich nach Griechenland und dem Menelaos zurüd; wenigftens in Homer’3 Darftellung. Jener Gegenfaß ift vielmehr der An- fhauung der Römer entiprungen, welche die Aſiaten als ichwelgerifih und prahleriſch, als eine gens tumidior atque jactantior fennen gelernt hatten. In den Dvidifchen Elegien bildet e8 geradezu das Hauptmotiv, daß Paris in der Helena jenes einfache unverborbene Weſen, und daß Helena «8 jelbit in fi überwindet. Immer von Neuem kommt fie darauf zu- rüf. Zuerſt, als fie ihn ftreng zurückweiſt: Rustica sim sane, dum non oblita pudoris, Hernach, ſchon gewährender: Sum rudis ad Veneris furtum. Endlid, nur vor dem legten Schritt noch zurückſcheuend: Vi mea rustieitas excutienda fuit. Ebenjo läßt fih Paris vernehmen: A! nimium simplex Helene, ne rustica dicam. Dem raffinirten Genußmenſchen fcheint die Sittenftrenge ein- fältig, bäuriſch. Die Aufgabe des Dramatifers war nun, zu entwideln, wie der Widerſtreit derartig verjchiedener Charaktere fih löft. Auch hierin ift Galfabigi überall dem römischen Dich: ter gefolgt.

ALS Paris zum eriten Male von Helena empfangen wird, gibt er fofort fein Verlangen nad ihr in ziemlich unverhob- (ener Weife fund. Die Königin wird duch fein ſelbſtgewiſſes und liebefiheres Auftreten gereizt. Sie macht ihm bemerflich,

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daß Sparta nicht Troja fei, und ergebt fi dann in jpöttifchen Hinweiſen auf die fernen Schönen, die nach ihm jeufzen und jeine Rüdfunft erfehnen. Marx in feinem geſchichtlich mangel- haften, aber durch gute äjthetifche Bemerkungen werthvollen Bude „Gluck und die Oper“ hat diejen etwas unfeinen Zug wohl bemerkt. Er jagt: „Die Haltung Helena’s dürfte man mit der eines edlen und gejcheuten, aber noch nicht abgeicdhlif- fenen, unter den Schutz der gejellichaftlichen Formen geftellten Fräuleins vom Lande vergleihen“ (I, 417). Das Verhältniß Calſabigi's zu Dvid hat er nicht geahnt und überhaupt dem Dichter an ſich jo wenig Aufmerfjamfeit zugewandt, daß ihm jelbjt die Sammlung feiner Werke unbefannt geblieben ilt. Aber Caljabigi hat hier nur die Skizze feines altrömifchen Vor- gängers ausgeführt. Paris erzählt in dem an Helena gerichteten Briefe, er habe fie oftmals angefeufzt; ihr fei fein Zuftand auch nicht entgangen, aber jie, die Muthwillige (lasciva), habe das Lachen nicht zurücdgehalten. Wie er fi bier deſſen bewußt zeigt, daß er ihr zum Epotte gedient habe, jo läßt ihn auch Galjabigi bei Seite zum Erafto fagen: Mi deride. Durch die Dreiftigkeit jeines Auftretens geärgert, raunt Helena ihrem Ber- trauten zu: Senti: costui non ha rossor. Und ganz fo geiteht fie bei Ovid: Saepe vel exiguo, vel nullo murmure dixi: ‚Nil pudet hunc‘. Auch der Anhalt ihres aus drei Strophen beftehenden Spott- gejanges ift bei Dvid angedeutet. Namhaft gemacht als cine von Paris verlaffene Geliebte wird hier allerdings nur Denone. Helena jagt aber, fie habe ſich nach den früheren Erlebniffen des Paris erfundigt, und etwas derart wird auch Calſabigi ge- meint haben, wenn Erafto dem Prinzen bemerft: Ti conosce. Und vollitändig ift die dritte Strophe entwidelt aus dem Verfe: Certus in hospitibus non est amor. Errat ut ipsi.

Die mit großer Kenntniß des weiblihen Herzens erfundene und jehr gewandt entwidelte Epistola der Helena offenbart

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übrigens deutlich genug, dab fie von Anfang an für den Fremd— ling eingenommen war. ch babe oben jchon bemerkt, daß auch Galjabigi von diejer Aufführung ausgeht. Che sembiante! jagt Helena für fih, als ihr Paris gegenübertritt, und Come accorto lusinga! nad feiner galanten Anrede. Dieſem ent: jprehen in der Elegie die Worte:

Est quoque, confiteor, facies tibi rara; allenfall3 auch noch:

His ego blanditiis, si peccatura fuissem,

Flecterer.

Eine zweite Station in der pſychologiſchen Entwidlung des Operngedichtes bezeichnet das Lied, welches Paris auf Helena's Aufforderung jingt. Bei Ovid jchreibt er, er habe oft, wenn er mit ihr und Menelaos zuſammen geweſen fei, irgend eine fremde Liebesgeſchichte erzählt, die Erzählung aber fo eingerichtet, daß fie auf ihn und Helena paßte. Und bald hernach wie- derum, er habe alte Liebesliever gefungen. Helena gefteht in ihrer Erwiderung, daß fie diefe Andeutungen auch wohl ver: itanden habe. Ebenfo läßt Galfabigi fie ſchon nach der eriten Strophe leije jagen:

Che ascolto! Ah, me ne avveddi,

M’ ama l’audace; e al primo

Favorevol momento

A suoi folli pensieri ei s’abbandona! Die Situationen find nur durch die verjchiedene Art der Her- beiführung verſchieden; in der Elegie fingt Paris beim Gelag, in der Dper nach den Kampfipielen der Spartaner. Calſabigi's Nahahmung wird indeffen auch noch durch einen anderen Umjtand offenbar. In einem Kunjtwerfe, das ſich durchaus des Gejanges anjtatt der Rede bedient, muß es unzuläffig erſcheinen, das Mittel des Gefanges in der Abſicht vorübergehend einzu- führen, daß derfelbe im Gegenfag zu allem Uebrigen als jol- her aufgefaßt werde. Die italienifche Oper iſt infofern ge- bundener, als die franzöfiiche und deutiche, welche aus dent

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Schauſpiel mit untermifchtem Gejang hervorgegangen find und, wenn auch der Gejang darin mehr und mehr die Oberhand gewonnen hat, doch zu feiner Zeit des geſprochenen Dialoges ganz entbehren. Hier kann immer noch ein Lied wirflid als Lied wirfen, und wenn Weber jelbft in der durchcomponirten Euryantbe fih die Einführung desjelben erlaubte, fo laſſen wir uns Dies mit Rüdfiht auf die Grundform der deutfchen Oper endlich auch gefallen. In der italienifchen Oper hat das Verfahren eigentlich feinen Sinn; es zwingt uns, um die Leabfichtigte Wirkung empfinden zu fönnen, die Jllufion aufzugeben, welche der Oper als Ganzem zur Borausfegung dient. Man kann ſich diefer Erwägung gegenüber auf die Ganzonetta in Mozart's Don Giovanni berufen; Thatjache bleibt doch immer, daß Derartiges äußerft jelten vorkommt. Galjabigi ſelbſt ift im Orfeo der Schwierigkeit ausgewichen, ſoweit es bei der Beichaffenheit der Lage irgend möglih war. Nicht eigentlich die Macht der Muſik ift e8 hier, welche die Furien des Tartarus bezwingt, fondern der Schmerz und die rührende Bitte des vereinfamten Gatten. Ebenjo bat Rinuceini die Sage behandelt; andere italienifche Librettiften waren freilich nicht jo feinfühlig. Jedenfalls darf man bejtimmt annehmen, daß Calfabigi auf den Gedanken, den Vortrag eines Liedes als dramatifches Motiv zu benugen, nicht gefommen wäre, hätte ihm fein Vorbild denfelben nicht dar- geboten.

Diejenige Scene der Oper, in welder die Nachbildung wohl am greifbariten zu Tage tritt, ift die erite des vierten Actes. Hier wird diejelbe Form angewandt, in welcher der Elegien- dichter das Ereigniß dargeftellt hatte. Paris jchreibt einen Brief, und Helena antwortet. Wir erfahren den Hauptinhalt der Correſpondenz; er ermweilt ich großen Theils als fait wörtliche Ueberjegung aus dem lateinifchen Urbilde. Paris jchreibt: Mi guida Venere al gran disegno Namque ego divino monitu advehor; A me promessa in premio sei Praemia magna quidem, sed non indebita posco; Regno, virtü, tesori pos-

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posi a te Praeposui regnis ego te; E questo povero lido, orrido suolo indegno delle bellezze tue Parca sed est Sparte, tu cultu divite digna, Ad talem formam non facit iste loeus; O meco alla patria verrai, o qui sepolto esule io resterò Aut ego Sigeos repetam te conjuge portus, Aut hic Taenaria contegar exul humo. Was Helena darauf bei Calſabigi und Dvid antwortet, jeße ich nicht hierher; man vergleiche den Anfang ihrer Elegie mit dem, was der italienifche Dichter fie jchreiben läßt, und wird dasjelbe Verhältniß finden. Zwijchen dem Leſen des empfangenen Briefes und dem Nieder: jchreiben ihrer Antwort hält Helena in der Oper folgendes Selbit- geipräch: „Der Verwegene! Meine Strenge, meine Zurüdweifung genügt nicht, feinen Ungeltüm zu bändigen! Nicht zufrieden, ſich mir zu entdeden, fügt er in einem Briefe meiner Ehre nod jhmwerere Kränfungen hinzu!” (Lieit.) „Der Zorn madt mid rafend! Zu Boden mit dir, verruchter Brief, und ſei Verachtung jeine Antwort!” (Im Begriffe, den Brief zu Boden zu werfen, zögert fie wieder.) „Doch könnte nicht der Freche zu feinen Gunſten mein Verhalten deuten? D, wenn er des ausbrüdlichen Verbots zu ipotten wagt, für ſolch Vergehn ift Schweigen zu geringe Strafe!“ (Lieſt.) „Nein, ich darf nicht länger ſchweigen. Allzu nah droht die Gefahr. Antworten fol ihm mein verlegter Stolz und ihn befhämen!" Das Alles jagt nichts weiter, als was in dem Anfangs:-Dijtihon der Elegie enthalten ift: Nune oculos tua cum violarit epistola nostros, Non rescribendi gloria visa levis.

Nur haben wir hier das einfache Nejultat, während ung der dramatifche Dichter den MWechjel der Seelenzuftände zeigt, aus dem fich endlich das Rejultat ergibt.

In der dritten Scene des vierten Acts ftehen Paris und Helena fih zum dritten Male gegenüber. Er hat ihren Brief gelejen und iſt außer ſich, fie nach der entjchloffenen Haltung, in welche fie fi gezwängt hatte, nunmehr ſehr Eleinlaut. Ge— ihidt hat Caljabigi in dieſe Scene eine Menge von den Ge-

Philipp Spitta, Zur Mufit. 9

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danken des römischen Dichters eingewoben. Paris fragt, ob fie den Menelaos liebe. Helena ermwidert, fie achte in ihm den Kath und Befehl ihres Vaters. Sei es gleich nicht ihre Wahl, fo werde doch Tugend, Pfliht und Nothwendigfeit die Liebe herbeiführen. Das halbe Geſtändniß, welches in diefer Aeuße- rung liegt, lautet in der römischen Dichtung: Ut tamen optarem fieri tua Troica conjux, Invitam sic me nee Menelaus habet. Paris meint darauf, Menelaos, als Grieche nur an das rauhe Handwerk der Waffen gewöhnt, wiſſe den Werth ihrer Schön: heit nicht zu ſchätzen, oder bemerfe fie nicht einmal. Denjelben Grund führt er auch bei Dvib an, fie zu bethören: Huncine tu speras hominem sine pectore dotes Posse satis formae, Tyndari, nosse tuae? Falleris, ignorat. Nec si bona magna putaret, Quae tenet, externo crederet illa viro, „Das beleidigte Griechenland, was wird e3 jagen?“ wendet Helena ein; Quid de me poterit Sparte, quid Achaia tota, Quid gentes aliae, quid tua Troia loqui? Paris: „D, Griechenland weiß aud, daß Schönheit und Strenge fich jelten vereinigen ;“ Lis est cum forma magna pudicitiae, Helena: „Dann will ich ein leuchtendes Beispiel für das Gegen- theil ſein;“ Si non est ficto tristis mihi voltus in ore Nec sedeo duris torva supereiliis, Fama tamen clara est, et adhuc sine crimine vixi. Nun jtellt ihr Paris die Mutter Leda als Mufter vor. Was Helena auf diejes eigenthümliche Argument erwidert, ift die ein- fahe UWeberjegung von v. 43—50 ihrer lateinifhen Epiitel. Desgleichen find die folgenden Betheuerungen des Paris, er habe fie geliebt, ehe er jie noch gefehen, und ihre Schönheit jei viel größer als deren Ruf, nichts als Vebertragungen von v. 36,

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143 und 144 des Briefe, welchen ihn der römische Dichter fchreiben läßt.

Helena, allein gelafien, gefteht fi nunmehr ein, daß ihm ihr ganzes Herz gehöre, macht jedoch noch einen Verſuch, fich zur Entjagung zu zwingen. Daß dieſer Verſuch vergeblich war, lehrt der Anfang des letzten Acts, wo fie erfährt, daß Paris verzweifelnd fih zur Abfahrt rüfte. Wieder ſteckt der Keim der Arie, in welcher fie die Mädchen warnt, den Liebes: betheuerungen der Männer nicht zu trauen, in Ovid's Dichtung, wo es heißt:

Sed quia credulitas damno solet esse puellis, Verbaque dicuntur vestra carere fide,

Für den leidenjchaftlihen Ausbruh am Schluffe der Scene (A lui! Dunque tu ancora) hat fich dagegen Galjabigi die Sprade der Dido zum Muſter genommen; man vergl. Verg. en. IV, 592 ff. Die mit dem Erjcheinen der Ballas beginnenden Schlußſcenen entſprechen infofern dem Verlauf der Doidifchen Gedichte, ala in beiden auf die aus der Entführung folgenden Kämpfe bingewiejen wird. Und der Leichtfinn, mit welchem ſich Paris hier über die möglichen ſchweren Folgen hinwegſetzt, hat bei Galjabigi jein Gegenbild in den beruhigenden Worten Amor’$: Soffrite

Che con vani clamori

Sfoghi gli sdegni suoi. S’ella & nemica,

Io vi difendo: io che per mille prove

leggi a’ Numi, e non la cedo a Giove.

Das Widhtigfte über den Anſchluß Calſabigi's an Ovid iſt hiermit gefagt. Einzelne Stellen, wo er ihm, manchmal wört- (ih, folgt, finden fich noch hier und da zerftreut. So in der Scene ber eriten Begegnung zwiſchen Paris und Helena, wo fie ein überfchwängliches Lob ihrer Schönheit beicheiden zu— rückweiſt:

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Non est tanta mihi fiducia corporis, ut me Maxima teste dea dona fuisse putem, und ihm dann mit höflihem Stolze bemerkt, Ajiens Neichthümer jeien zwar für die Spartaner werthlos, aber um des Gebers willen nehme fie feine Gejchenfe gern entgegen: Utque ea non sperno, sic acceptissima semper Munera sunt, auctor quae pretiosa facit. Wenn Erafto im erſten Acte dem Paris jagt, fein Ausfehen und Auftreten jei nicht das eines Krieger, fondern eines Liebhabers, und feine Nede mit den Worten jchließt: Tu Paride gentil sospira, ed ama, jo umfchreibt er damit den Gedanken der Helena des Ovid: Bella gerant fortes, tu Pari semper ama einen Vers, den Galfabigi, wie um die Haltung feiner ganzen Dichtung zu rechtfertigen, als Motto an die Spite derfelben geftellt hat. Will man die Sache weit treiben, fo fann man endlih aud die Einführung der gumnaftifchen Spiele des drit- ten Acts auf eine Anregung des römischen Dichters zurüdführen. Diefe gymnaftifchen Uebungen, an welchen nad jpartanifcher Sitte FJünglinge und Jungfrauen gemeinfam fich betheiligten, ipielten in Selena’s Leben eine befondere Rolle. Bei einer folchen Gelegenheit hatte Thejeus die Helena gejehen More tuae gentis nitida dum nuda palaestra Ludis et es nudis femina mixta viris beißt e8 in dem Briefe des Paris und hatte, hingeriffen von der Anmuth und Kraft ihrer Bewegungen, fie geraubt.

So tief nun Calfabigi, wie man ſieht, aus der antiken Duelle geihöpft hat, jo Hat er doch auf eigne Erfindung nicht ganz verzichtet. Ein Geſchöpf derjelben iſt zunächſt Erafto - Amor. Dramatifhe Bedeutung zu haben, it dieje Figur freilich weit entfernt. Iſt das Moment der Spannung in der Handlung fchon an fi ein geringes, jo wird es dadurch noch vermindert, daß bevor Paris die Helena gejehen hat, Erafto jchon den Hörern verräth, feine Bewerbung werde glüdlichen Erfolg haben. Im

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Weiteren ift er dann bemüht, den Vermittler und Gelegenbeits- macher zu jpielen, was gänzlich überflüffig wäre, wenn nicht die Defonomie de3 Dramas es wünſchenswerth machte, daß Paris und Helena nicht ununterbrochen in Action find. Was im Uebrigen den Dichter zur Einführung diefer Figur bewogen haben mag, welde aud dem Gomponiften nur eine undanf- bare Aufgabe ftellt, ift jchwer zu jagen. Ein dritter Sänger, wenn er einmal nöthig erichien, hätte leichter in der Perjon der Nethra oder Elymene gefunden werden fönnen, Dienerinnen der Helena, welche auch bei Ovid ins Vertrauen gezogen werden. Indeſſen ſcheint Galfabigi die abgebrauchten Rollen der ver: trauten Sflavinnen und fuppelnden Ammen gefliffentli ge— mieden, und andererjeit3 nach dem Vorbilde des antiken Dramas für eine Art von dii ex machina eine Vorliebe gehabt zu haben. Denn auch in Orfeo und Alceste mischen ſich Götter ein, um den beabjihtigten Ausgang herbeizuführen. Jedenfalls aber hätte Amor, nachdem er ſich in der zweiten Scene des fünften Acts zu erkennen gegeben hat, hernach überhaupt nicht mehr, oder doch nur als göttliche Erjcheinung auftreten bürfen. Er verkehrt aber in den Schlußfcenen mit Paris und Helena ganz in der früheren Weife. In diefem Punkte ift felbft der infipide Tert des Mendouze, an welchen Cherubini die reizende Mufif feiner Dper Anakreon verfchwendet bat, der Dichtung Calfa- bigi's überlegen.

Die ſtärkſte Eigenmädhtigfeit, welche Caljabigi ſich erlaubte, it, dab er Helena nicht die Gattin, fondern nur die Berlobte des Menelaos fein läßt. In dem feiner Dichtung voran- geſchickten Argomento entjchuldigt er dies Verfahren mit ber Verfchiedenartigfeit der Weberlieferungen, die in Betreff der Helenajage beſtehe. Was ihn zu der Wenderung veranlaßt babe, jagt er nicht. Aber wenn jein Drama nur die Entführung der Helena enthalten und doch eines leidlich befriedigenden Ab- ſchluſſes nicht entbehren follte, war es unmöglid, Paris als Ehebrecher hinzuftellen. Eine volle Sühne diejer Schuld hätte

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die dramatiſche Gerechtigkeit gebieteriich gefordert. E3 ift un- beftreitbar, daß die Handlung nunmehr in einer reineren Atmofphäre vor ſich geht. Auch Paris ift aus dem aus: gelernten Wüftling, der ſich überdies darin gefällt, mit feinen Heldenthaten und Ahnen, mit der Macht und dem Reichthum ſeines Hauſes afiatifcherweife zu prahlen, zu einem edlen, ſchwärmeriſchen, wennſchon weichlichen Jüngling geworden. Von der frechen Liederlichfeit vollends, welche die Ovidiſchen Elegien von Anfang bis zum Ende durchzieht, ift bei Caljabigi kaum eine Spur zurüdgeblieben. Unläugbar hat aber auch die Um— wandlung der Helena zur Braut des Menelaos das dramatijche Intereſſe geſchwächt. Was uns jet geboten wird, ift eine ein- fache Liebesgefchichte, auf deren unfchuldigen Charakter nur da- durh ein Schatten fällt, daß das Paar Paris und Helena heißt Namen, mit denen in der Borftellung jedes Gebildeten ganz andere Ereigniffe unaustilgbar verbunden find. Es iſt interefjant zu jehen, wie der Dichter jelbit fih von der Vor— ftellung der urjprünglichen Sage nicht zu befreien vermag. Sie beherriht ihn unbewußt und verleitet ihn zu Motivirungen und Urtheilen, welche für die Gejchichte feines Paris und feiner Helena nicht paffen. Wie kann Helena unter den gegebenen Umftänden jagen: Seduttor ti palesi; ardisci degli uomini e de’ Numi vilipender le leggi, ed i costumi? (VI, 1.) Das find Worte, melde Calſabigi dem Ovid nachgeſchrieben hat, und für deffen Paris find fie treffend. Hier aber haben fie um jo weniger Grund, al3 Paris am Beginn des vierten Actes noch nicht einmal weiß, daß Helena verlobt ift; er erfährt es erjt jegt durch ihren Abfagebrief. Sollte diefes Verlöbniß über- haupt dramatifches Gewicht befommen, jo mußte es von An: fang an mehr in den Bordergrund geitellt werden. Der an- geblih Erforene friftet aber in dem Drama eine jo jchatten- haste Eriftenz, daß nicht einmal fein Name zum Vorſchein fommt. Zweimal wird er überhaupt nur erwähnt, und beide Male heißt er nur un altro. Paris hat ganz Recht, auf obige An-

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ihuldigungen der Helena zu jagen: A tormentarmi mille colpe in me figura, reo mi finge e mentitor. Trotzdem be- grüßt ihn bei der Abfahrt auch der mwohlwollende Chor der Schiffsgenofien mit dem Zuruf: Fortunato predator, und Helena jcheint von Regierungsforgen nicht ſchwer gebrüdt zu werben, da fie ganz vergißt, daß, wenn fie, die regierende Köni- gin, das Land verläßt, die getreuen Spartaner gänzlich herrenlos zurüdbleiben. Ebenfalld eine Folge der von Calfabigi vor: genommenen Aenderung ift es, daß die Motivirung des trojani- ſchen Krieges eine unbefriedigende bleibt. Verſchweigen ließ fih natürlid das Bevoritehen dieſes Ereigniffes nit. ALS Grund muß nun allein der Zorn der Pallas dienen. Für den begangenen Ehebruch war der Krieg eine entjprechende Sühne; al3 Rache eines in feiner Eitelkeit verlegten Weibes ift er jchon weniger einleuchtend.

IE:

Die Unterfuhung bezwedte, einftweilen nur zu zeigen, daß Paride ed Elena feine Originaldihtung ift, wie man bisher angenommen hat, jondern auf zwei erotijchen Clegien ber augufteifchen Zeit beruht. Ahnen hat Ealjabigi ſich jo eng an- gejchloffen, daß von jelbjtändiger Erfindung außer in Neben- dingen, oder ſolchen Hauptjahen, welche jih aus der Natur der gewählten Kunftgattung gleihjam von felbit ergaben, nicht die Rede fein kann. Bei der Unterfuhung jtellten jich auch allerlei dramatifhe Mängel heraus, denen hier gleich noch der hinzugefügt werden mag, daß die Handlung viel zu dürftig ift, um fünf Acte auszufüllen. Mit dem abjoluten Maßitabe in der Hand werden wir aber zu einer richtigen Werthichägung der Dichtung nicht gelangen. Wir müſſen fie mit den Producten der vor Galjabigi wirkenden italienischen Librettiſten vergleichen.

Die Helenafage ift für Operndichtungen mehrfach benußt. Zeno und Metaftafio freilih, auf die fih der Blid naturgemäß zuerft richtet, haben fih mit ihr nicht befaßt; fie liebten

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überhaupt mehr die hiſtoriſchen Stoffe als die mythologijchen. Eine Elena rapita da Teseo fam 1653 im Theater San Giovanni e Paolo zu Venedig zur Aufführung, eine Elena 1659 ebenda im Theater San Cassiano. Critere hatte Gia- como Badoardo, legtere Nicolo Minato gedichtet; die Muſik ift bei beiden von Cavalli. Einen Paride dichtete und componirte Bontempi für die Bühne zu Dresden im Jahre 1662. Ob die Libretti gleihen Titels von Bilotta (1638), Muazzo (1720), und das 1751 zu Venedig herausgefommene ſich mit Helena be- jchäftigen, weiß ih nicht; mehrfach wurde aus den Erlebniſſen de3 trojanifchen Prinzen nur der Schönheitsitreit der Göttinnen zum Gegenjtande der Bearbeitung genommen). Ein berühmtes Stüd war Elena rapita da Paride von Aurelio Aureli, einem der beliebteften Librettiften jeiner Zeit. Es wurde mit Muſik von Domenico Freschi zuerjt 1677 auf dem Theater Sant’ Angelo in Venedig gegeben, jpäter mehrfach wiederholt, und 1728, als Zeno's Stern ſchon im vollen Glanze Teuchtete, mit neuer Mufif von Albinoni zur Aufführung gebradt. Es gelangte auch nad) Deutjchland, wurde 1681 in Hannover gegeben ?), und wie es jcheint, 1705 in Braunfchweig?). Um die damals übliche Be- bandlungsart zu erkennen, iſt es daher bejonders geeignet. Ein Eremplar des Driginaldrudes war nicht zu erreichen. Mir liegt aber das Tertbucdh der hannoverjchen Aufführung vor. In ihm it der Dichter nicht genannt, auch ſcheint jich eine fremde Hand Ausſchmückungen erlaubt zu haben. Daß es aber wirklich die Dichtung des Aureli it, geht daraus hervor, daß man dieje auch unter dem Titel: Le due rivali in amore aufgeführt hat; hieraus läßt ſich auf den Inhalt ficher Schließen und die Identität berjelben mit der des hannoverſchen Tertbuches erkennen.

In der Zeit, da Paris auf dem Berge Ida als Hirt ein verborgenes Dajein führte, hatte er ein Liebesverhältniß mit der

1) ſ. Allacci, Drammaturgia, Sp. 598 f. und 911.

2) ſ. Chryfander, Händel I, 319. 3) Chryſander, Jahrbücher für muſikaliſche Wiſſenſchaft, I, 258.

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Nymphe Denone, die ihm einen Sohn gebar. Nachdem er den Streit der drei Göttinnen entjchieden hatte, führte ihn das Ge- ihid in die trojanische Königsburg zurüd. Er wurde in feine prinzlihen Ehren wieder eingejegt und ließ Denone im Stich, die fih mit ihrem Kinde trauernd nad) der nahen Inſel Tene- dos zurüdzog. Paris wird vom Priamus nad Sparta gejchidt, um deſſen friegsgefangene Schweiter Heſione zurüdzufordern. Er entführt die Helena und befindet ſich mit ihr auf der Heim: fahrt nad Troja. Unter diefen Vorausjegungen beginnt das Stüd. In einem Prolog entbietet Juno den Neptun und Heolus, einen Sturm zu erregen, der ben frechen Räuber ver: derbe. Venus dagegen erklärt, die Liebenden ſchützen zu wollen. Das Stück ſelbſt jpielt auf Tenedos, in der Ferne übers Meer bin erblidt man die Stadt Troja. Außer Paris, Helena und Denone kommen vor: Eurijtene, ein Hirt, welcher Denone liebt; Arminoe, ein trojanifcher Cavalier, welder Paris beglei- tet und fih in aller Eile ſchon in Helena verliebt hat; Elija, die alte Amme der Denone, welde den Eurijtene begünjtigt; Desbo, ein Sklave des Arminoe, die luftige Perſon des Dramas. Denone, Eurijtene, Elifa und ein Chor von Nymphen find am Strande befhäftigt, Angeln und Köder für den Fiichfang her— zurihten. Denone weilt die zärtlichen Betheuerungen des Eu- riftene mit der Verfiherung ab, daß jie dem Paris treu ge- blieben jei und feine Wiederkehr erhoffe. Ein plöglider Sturm erhebt fih, ein Schiff fcheitert vor den Augen der Inſelbewoh— ner, jchwimmend erreicht ein Schiffbrüchiger das Ufer. Es iſt Desbo, bei deſſen wohlgebildetem Antlig ih in der Amme Eliſa zärtlihde Empfindungen regen. Er erzählt, dab er zur Gefolgihaft des Paris gehöre, welcher mit der geraubten He— lena gegen Tenedos herangejegelt komme, und entfernt jich, da er feinen Herm Arminoe landen jieht. Die Zurüdbleibenden drüden ihre verjchiedenen Empfindungen aus: Denone ijt be- ftürzt und empört, Euriftene hoffnungsvoll, Elifa redet weiſe über die Unbeftändigfeit der Männer. Verwandlung der Scene

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in einen anmuthigen Hain am Strande. Paris und Helena mit Gefolge von trojaniichen Cavalieren treten auf. Sie jegen ſich ins Grüne und taufchen Liebesbetheuerungen aus, bis Arminoe fommt und meldet, daß das Meer ſich beruhigt habe. Im Be- griff, aufzubrehen, hören fie aus dem Walde eine Flagende Stimme. Desbo fpringt herbei und erzählt, er habe eine jchöne, in Thränen aufgelöfte Nymphe dort gejehen. Dem Paris er- icheint es Nitterpflicht, ihr feine Hülfe anzubieten; die Beglei- tung Helena’3 aber, welche über diefe NRitterlichfeit etwas be- unrubigt ift, weift er mit freundlicher Beftimmtheit zurüd und (äßt fie unter dem Schutze Arminoe’3 allein. Diefer Wadere benußgt die Gelegenheit, der Helena eine Liebeserklärung zu machen, und als fie um Hülfe rufen will, zieht er fein Schwert, um fie einzufchüichtern; Helena jtredt den Arm vor, verwundet fih und wird ohnmächtig. Arminoe drückt fich verlegen bei Seite. Zu der bemwußtlos daliegenden fommen Denone und Elifa. Mitleidig find fie befchäftigt, ihr Hülfe zu leiften. Als aber Helena zur Befinnung gekommen ift und ihnen entdedt, wer fie jei, reißt ihr Denone in eiferfüchtiger Wuth den an- gelegten Verband wieder ab. In diefem Augenblide fehrt Paris zurüd, um zu feiner Beſtürzung zwifchen die beiden Nebenbuhlerinnen mitten hinein zu gerathen. Er faßt fi rafch und thut, als jei ihm Denone gänzlich unbefannt; Helena aber glaubt ihm nicht und geht ſchmähend ab; Denone und Elifa, nahdem fie ihm gründlich die Wahrheit gejagt haben, folgen ihr. Auf Befehl des Paris wird Helena durch Arminoe in einem halbverfallenen Königsichloffe, das fi auf Tenebos befindet, einftweilen untergebradt. Sie finnt darauf, fih an Denone zu rädhen, und gewinnt den Arminoe durch die Vor- jpiegelung, daß fie ihm ihre Liebe jchenfen werde, wenn er die Verhakte aus dem Wege räume. Desbo erhält von Arminoe den Auftrag, Denone zu ermorden. Der Auftrag erjcheint dem hajenherzigen Sklaven zwar bevenflih, da eine Schaar hand- fefter Hirten ftet3 zum Schutze der Denone bereit fei. Indeſſen

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beichlieht er, fich einitweilen zu warnen und geht. Die Zeit, bis er zurüdfehrt, benugen der liebende Euriftene, fih von Elifa zum Ausharren ermuthigen zu laffen, und Denone, ihrem Zorn über Paris, aber auch ihrer unentwegten Liebe zu ihm Ausdrud zu geben. Dann tritt Desbo wieder auf, mit Sturm: baube, Küraß und Hellebarde zur VBollbringung feines fürd)- terlihen Werkes angethan. Nachdem er fich vorfichtig verge- wiffert, daß Niemand zu jehen ift, renommirt er, felbit den Hercules bejtehen zu wollen; indeſſen will er jich zur ficheren Ausführung feines Vorhabens im Palaſt verbergen. Als er das verfallene Gebäude betritt, ſtürzt etwas altes Gemäuer auf ihn herab. Vor Schred wird er faſt wahnjinnig und jchreit um Hülfe Zum Glück kann er ſich bald überzeugen, daß er noch ganz und heil it, beſchließt aber, die Rüftung doch lieber wieder abzulegen und die Vollbringung feines Mordplans auf andere Weiſe zu verjuchen.

Der zweite Act zeigt ein Wäldchen am Palaſt der Denone. Paris hat den Arminoe beauftragt, Helena hierher zu führen, wo er fie erwartet. Müdigkeit überfommt ihn; er entichläft umd träumt. Unter dem SKlange einer feierlihen Symphonie fieht man Minerva ericheinen, welche mit Mars kämpft und ihn befiegt. Um Mars zu rächen, der für die Sache der Venus ein- getreten ift, während Minerva auf Seiten der Juno fteht, er- greift Amor die Fadel und entzündet Troja, welches in Flam— men aufgeht. Erjchredt durch diefes Traumbild erwadt Paris; düftere Ahnungen fteigen in ihm auf; doch beruhigt er ſich und jchläft wieder ein. Inzwiſchen hat Denone einen Plan er- fonnen, der ihr den ungetreuen Liebhaber zurüdgewinnen ſoll. Sie fommt mit Euriftene und einer Schaar von Hirten, die den Paris überfallen, feſſeln und fortjchleppen. Euriſtene fragt Denone, ob er hoffen dürfe; fie vertröftet ihn auf jpäter, wenn fie an Paris Rache genommen habe. Als fie abgegangen find, ericheint Desbo als armeniſcher Händler verkleidet und ruft in gebrodhenem Stalienifch feine Korallen und Specereien zum

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Verkauf aus; er hofft auf dieſe Weife fih der Denone uns bemerfter nähern zu können. Elifa fommt und lädt ihn ein, in den Palaſt zu treten, wo er Käufer für feine Toilettengegen- ftände finden werde. Allein geblieben überlegt fie, wie fie für fih ihm Einiges davon abſchwindeln fönne, um ihre vermeint- ih no immer anziehende Geſtalt herauszupugen. Unter— defien hat Helena die Gefangennahme des Paris erfahren, den fie in Begleitung des Arminoe im Garten treffen ſollte. Arminoe, welcher glaubt, daß fie von jenem nichts mehr wiſſen wolle und fih an die ihm eröffneten Ausfichten erinnert, fann die Aufregung, mit welcher fie jegt auf die Scene eilt, nicht recht begreifen. Sie aber unterbricht fein verliebtes Geſchwätz mit der Aufforderung, erft ihr die verſprochene Rache zu gewähren. Die Notte der Hirten jchleppt Paris wieder herbei, während Helena und Arminve fi verbergen. Dan bindet ihn an einen Stein; Euriftene fpannt den Bogen, um ihn zu erjchießen. Denone aber fällt ihm in den Arm: fie jelbit wolle Rache üben. Nun legt fih Paris aufs Bitten und gibt ihr heuchleriſch die zärtlihiten Namen, jo daß Denone ihn zum großen Verdruß des Eurijtene wieder losbinden läßt und die Arme öffnet, um den reuigen Liebhaber zu empfangen. Jetzt hält fi Helena nicht länger. Mit dem Ausrufe: „Warte, loje Nymphe, ich bin auch noch da!“ jpringt fie hervor und faßt Paris am Arm, Denone zerrt ihn am andern. „Laßt mich los!” fchreit Paris; „Mir gehört er“ ruft Denone, „Mein joll er fein“ Helena. „Eine nette Scene!“ meint der dabei ftehende Arminoe. Paris betritt nun den Weg gütlicher Verftändigung: er wolle feine Gefühle theilen und fie beide ans Herz drüden. Davon wollen jie aber nicht3 willen und fehren ihm voll Zorm und Verachtung den Rüden.

Elia fommt mit Desbo. Sie thut ſchön mit ihm, damit er ihr von feinen Waaren fchenfe. Er läßt jih zum Schein bethören und gibt ihr Einiges. Als aber Eurijtene mit bloßem Schwert berbeiftürzt, um den Paris zu tödten, den er noch

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anwefend glaubt, entreißt Desbo der Elifa die Geſchenke wieder und läuft davon. Elifa beruhigt Euriftene und räth ihm, ſich wahnfinnig zu jtellen, vielleiht, daß er dadurch der Denone Herz erweidhe.

Nah einer fcenischen Verwandlung fieht man den inneren Hof des Palaſtes der Denone. Helena flieht herein, Paris ift hinter ihr ber, um ihr den Verdacht auszureden, daß er ihr nicht mehr treu jei. Die Ungenirtheit, mit der fie fih in den Räumen der Feindin herumtreiben, ſoll ihnen ſchlecht befommen. Arminoe bringt die Nachricht, daß hundert bewaffnete Hirten auf Denone’3 Befehl den Palaft umftellen, und fchleunige Flucht geboten fei. Helena weigert fich trogig, zu gehen; endlich ver: fteht fie fih dazu: Ti seguirö, ma di lontano. Während nun Paris voraus eilt, hat Arminoe wiederum Gelegenheit, zu Her lena von feiner Liebe zu reden, aber ohne einen befjeren Er- folg, als zuvor, worauf fie beide fi davon machen. Desbo, welcher der Denone jeine armeniſchen Parfums verkaufen wollte, tritt mit ihr auf und hätte nun Gelegenheit, fie nieder: zuftehen. Er jtedt aber den gezüdten Dolch wieder ein, ala Elifa berzufommt, und berichtet, die Hirten hätten dem Paris jeden Ausweg abgejchnitten, der arme Euriftene aber jei vor Liebe wahnfinnig geworden. Sept ſtürmt auch Euriftene jchon jelbft herbei und veranlaßt den Desbo, feiner Gewohnheit ge: mäß audzureißen. Sein tolles Gefhwät vermag der Denone zwar Mitleid, aber nicht Liebe zu entringen, und jo zieht er wieder ab. Auf Befehl der Denone wird Paris in eines ihrer Gemäder gebradt. Eliſa räth ihm, Liebe zu heucheln und das Andere ihr jelbit zu überlaffen, jo werde Alles gut endigen. Denone erfcheint mit ihrem Anaben an der Hand; fie verlangt von Paris die Ehe, da nur fo die ihr geraubte Ehre wieder hergeftellt werde. Paris fühlt beim Anblid feines Kindes ein menschliches Nühren, und da Denone in Verzweiflung ſich jelbft und das Kind zu tödten droht, erklärt er fih für überwunden. Dieſer Thatſache gegenüber weiß Eurijtene, der

im Palaſt planlos hin und ber rennt und alle Augenblide unmotivirter Weile auf der Scene erfcheint, nichts weiter zu thun, als wiederum tolles Zeug zu fafeln und Denone mit ſich fort zu ziehen. Kaum iſt aber Paris allein geblieben, als er auch ſchon mit fih einig ift, es doch lieber mit Helena ftatt mit Denone zu halten. Da das Mittel der fingirten Verzweiflung nicht wirfen will, jchlägt Elifa, die fi) mit Eurijtene wieder zufammengefunden bat, ein neues vor. Sie hebt einen Bor- bang auf und zeigt dem Staunenden einen über einem euer befindlichen Glasbehälter: geheimnißvolle Geifter bereiteten darin einen thejialifhen Zaubertrant, von ihm ſolle Denone trinfen, jo werde fie vor Liebe zu Euriftene vergehen. Hierüber iſt diefer hoch erfreut, und fie gehen ab, wogegen Desbo, der fidh noch immer verpflichtet fühlt, Denone umzubringen, al3bald hinein jchleiht und fich Hinter dem bewußten Vorhange ver: bergen will. Er erblidt da3 Glas und glaubt, Denone bereite darin einen Ertract, um fich zu jchminfen. Die Anwendung jolder Toilettenfünjte fommt ihm ungehörig vor, und er zer- trümmert das Glas. Sofort erjcheinen Schaaren von Dämonen, die ihn umringen; einige tragen ben Zappelnden in bie Luft und lafjen ihn wieder zu Boden fallen, andere greifen ihn von Neuem und befördern ihn con varii scherzi hinter die Scene. Ein Ballet der Dämonen fchließt endlich den Act.

Ein Garten mit Springbrunnen. Paris feßt Denone gegen- über fein nichtswürdiges Heuchelfpiel fort, und fie ſcheint ihm jetzt wirklich zu glauben. Eliſa verjtändigt Helena über ihre Abfiht, den Euriltene der Denone in die Arme zu führen, und dem Paris mit Helena zur Flucht zu verhelfen. Nur ver- langt fie, was immer fommen möge, von jet ab alle Eifer- juht zu unterdrüden. Kaum bat Helena dies verſprochen, fo bringt Arminoe einen Brief von Paris, in welchem er Helena formell den Abſchied gibt, da das Schidjal es wolle, daß er fih mit Denone vermähle. Helena’s gute Vorfäge find dahin. Aus dem nahen Gebüjch kriecht winjelnd der Pjeudo-Armenier

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Desbo hervor; nad den erfahrenen Widermwärtigfeiten hat er die Luft verloren, feinen Mordplan weiter zu verfolgen und gibt den Dolch an Helena, die mit ihm dad Werk der Rache an dem ungetreuen Paris vollbringen will. Arminoe hofft end- ih glüdlich zu fein. In einem Zimmer des Palaſtes belaufcht Helena Paris und Denone im Liebeagefpräh und hört, daß legtere ihn zur Nacht erwartet; Elifa joll ihn führen. Als Denone gegangen ift, bricht Helena mit dem rächenden Dolch hervor und erfährt jebt, daß Alles nur Verſtellung war. „Noch ehe der Morgen dämmert, jeid ihr frei,” jagt Elifa.

Daß dies Wahrheit ift, muß nun auch Arminoe erfahren, dem Desbo eiligit die Nachricht bringt, daß Paris mit Helena abfahren wolle und ihn erwarte. Von Desbo vernimmt aud) Elifa, daß ihr geliebter Armenier nirgends zu finden, md Desbo jelbit nicht gemillt ift, den leeren Platz in ihrem Herzen einzunehmen. Sie jagen fich endlich gegenfeitig die unver: bindlichiten Dinge. Da fommt Denone und Euriftene; es jtellt fih heraus, daß im Dunfel der Nacht diefer an Paris’ Statt zur Denone geführt worden ift. Paris und Helena, die nun nichts mehr zu fürchten haben, erjcheinen zur Schlußfcene. Der geprellten Denone bleibt nur übrig, gute Miene zum böfen Spiel zu maden. Was Hilft es ihr au, wenn fie noch jagt:

Gioisca pur, chi Che per me a morire, Cosi piü non avra Quest’ alma mia martire; cruda infedeltä, Che gia mi fe languire! Der Chor fingt doch zu guter legt:

Si canti, si godi,

Si stringhino i nodi,

Si unischin’ le faci,

A le gioie, ai vezzi, e ai baci!

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Es ift nicht leicht, ein ſolches Stüd ernſthaft zu nehmen. Mag man über den Mangel jeder fittlihen Grundlage und folg: ih auch jeder tieferen Empfindung, über die Abwejenheit faft aller individueller Charakterifirung, über das marionettenhafte Gebahren der Figuren, die nad der Laune des Dichters bin und her geichoben werden mag man über das Alles auch einmal hinwegſehen wollen, diefe Art, eine allbefannte Sage zu behandeln, welche in den herrlichiten antiken Dichtungen zu bedeutungsvolliter Schönheit verflärt worden war, kann faum anders als komiſch oder abſurd erjcheinen. Wielleiht wird eingewendet, dieſe Elena rapita ftamme aus einer Zeit des noch ungeläuterten Geſchmackes und könne als Beijpiel für die Operndihtung des 18. Jahrhunderts nicht gelten. Allein der Einwand wäre nur zum Theil begründet. Allerdings bat Zeno die fomifchen Elemente aus der Oper entfernt. Er und noch mehr Metaftafio haben die Sprache veredelt, die Handlung ver: einfaht und verinnerliht, die Charaktere jchärfer und folge- richtiger gezeichnet. Aber das, worauf es bier vor Allem an- fommt, die Liebesintriguen, welche den einfachen Kern der Fabel überwuchern, die daraus folgenden verwirrenden Com— plieirungen der Handlung, die Modernifirung und Verflahung des ethischen Gehalts, Alles das findet fih bei Zeno und Me: taltafio in eben jo reihem Maße wie bei Aureli, nur ftellt es ih in vornehmerem Gemwande dar.

Der Elena des Aureli gegenüber erjcheint Paride ed Elena des Caljabigi wir fünnen beide Stüde mit einander vergleichen, obwohl ihr Anhalt nicht ganz derjelbe iſt wirf: ih von einer claffiich zu nennenden Einfachheit. Verdankt Letzterer die Schlicdhtheit der Handlung auch zunächſt feinen römischen Vorbild, jo bleibt ihm doch das doppelte Verdienit, die Brauchbarkeit der ovidifhen Elegien erfannt, und nad Bejeitigung des ironifch-blafirten Tones derjelben das betref- fende Stüd der alten Sage in einer Reinheit und Gefühlswahr- heit hingeftellt zu haben, wie es fein Staliener vor und nad)

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ihm vermodht hat. Galjabigi war fein Dichter von Gottes Gnaden. Er war mehr eine anempfindende Natur, aber ein fein gebildeter Mann von tiefer äfthetifcher Einfiht und aus- geſprochenem Sinn für das Große und Ergreifende, was im Einfach-Menſchlichen beichlofjen liegt. Nichts ift daher natürlicher, al3 daß er einen Widerwillen gegen die üblichen Liebesintriguen der Nebenperjonen hatte, von denen er nicht mit Unrecht be- bauptete, fie jeien nur zu dem Zmede erfunden, damit die Sänger der Nebenrollen bei guter Laune erhalten würden. Nichts natürlicher auch, als daß er wieder jeinen Blid feiter auf die griechiſchen Mythen richtete, in denen er eine einfache Handlung mit naturwüchſiger Empfindung vereint fand.

Eine Mufterung der übrigen mythologifchen Dramen Ealfa- bigi's bejtätigt, was in diefer Beziehung über Paride ed Elena zu jagen war. Ueber Ipermestra meint Arteaga, Calſabigi hätte feine Kräfte zuvor beſſer prüfen jollen, ehe er nad Metaitafio denjelben Gegenftand noch einmal behandelte. Wenn aber dieſes Stüd gerechte Bedenken erregt, jo iſt es, weil gewiffe Handlungen, mögen fie in ſich noch jo dramatijch fein, ihrer Entjeglichfeit wegen die lebendige Bühnendarftellung nicht vertragen. Das Uebermaß des Furchtbaren bewirkt den Um— ihlag ins Lächerliche, und dies dürfte bei Caljabigi’s „per: mejtra“ der Fall fein, wie es bei Marſchner's „Vampyr“ oder Kleiſt's „Pentheſilea“ geſchieht. Für die grandiofe Wildheit des Stüdes, das ſich doch in dem einfachiten dramatifchen Gange entwidelt, hatte Arteaga fein Verftändniß, ebenjomwenig für das Grundmufifaliiche der Gegenfäge darin. Seiner Natur mußte Metaftafio'8 unvergleihlih zahmere Behandlung, Die die Schreden des Gegenftandes außerdem durch das übliche Nebenliebesverhältnik abſchwächt, allerdings beifer behagen. Wie fi Alceste zu den vorgängigen Bearbeitungen besjelben Stoffes verhält, hat ſchon vor Jahren Carl von Winterfeld (Ab- bandlungen II, 308 ff.) auseinandergejegt. ch füge bier bei,

de die Dichtung Admeto, welche Händel und Philipp Spitta, Zur Ruſit.

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deren Verfaſſer bisher unbefannt war, ebenfall® von Aurelio Aureli ftammt. Der urfprüngliche Titel ift: L’Antigona delusa d’Alceste, die erite Muſik dazu lieferte Pietro Andrea Ziani. Mit ihr wurde das Stüd zuerit 1660 im Theater S. Giovanni e Paolo zu Venedig aufgeführt und in den folgenden Jahren mehrfach wiederholt!). Händel's Oper fam 1727 auf dem Londoner Dperntheater heraus. Die bedeutenden Kürzungen und Umftellungen, welde darin der Driginaltert erfahren hat, beweifen, daß man damals das Zufammenftreihen der Dramen ſchon ebenjo gut verftanden hat, wie heute. Bezeichnend für Händel dürfte fein, daß die fomifchen Partien gänzlich entfernt find. Weiter auf den intereffanten Vergleich einzugehen, ift bier nicht der Ort?).

Aureli dichtete auch einen Orfeo, es war jein fieben- zehntes Stüd; Antonio Sartorio jegte es in Mufif, und im Theater S. Salvatore zu Venedig führte man es 1672 zum eriten Male auf. Wie feine Elena für die entſprechende Dich— tung Galfabigi’s, fo bietet diefer Orfeo die wirkfamfte Folie für das gleichnamige Stüd des jüngeren Schriftftellers. Wenn möglich, jo iſt der hier aufgeführte Faſching noch toller. Or: pheus und Eurydice; Arifteus, ein Bruder des Orpheus; Auto: noe, Tochter des Thebanerfönigs Cadmus; der Gentaur Chiron; Hercules und Adilles als Schüler des Chiron; Aeskulap als zweiter Bruder des Orpheus, von Chiron in der Heilfunde unterwiejen; Erinda, die alte Amme des Arifteus, Orillo, ein junger thrafiicher Hirt, Bachus, Pluto und Thetis dieſer

1) Allacci ift unvollftändig, wenn er nur von einer Wiederholung im Jahre 1669 redet. Wie ein mir vorliegender Driginaldrud ausweiſt, fand 1670 ebenfalld eine ſolche ſtatt. Dieſes Jahr gibt auch Galvani rihtig an in feinem 1878 erfhienenen Buche I teatri musicali di Venezia nel secolo XVII, ©. 87. Als Beweis für die Beliebtheit der Opern Aureli’s führe ih an, daß aud) feine Medea in Atene (1675, Mufil von Antonio Ban- nettini) nach Deutichland fam. Sie wurde 1688 und 1692 auf dem braun: ſchweigiſchen Theater aufgeführt (f. Chryfander, Jahrbücher I, 201 und 209).

2) Mit Anfhlu an Obiges hat fich diefer Aufgabe unterzogen Georg Ellinger in der Bierteljahrsichrift für Mufitwiffenichaft, Jahrg. 1885, 8.201 ff.

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Haufen von Perfonen wird drei Acte bindurh in allen mur denkbaren tragiichen, pathetiſchen, fjentimentalen und bur- lesfen Situationen durcheinander gequirlt, jo daß dem Zu— Schauer endlih Hören und Sehen vergehen muß. Mie leicht wiegt ſolchen Verirrungen gegenüber die Einführung des Amor in Calſabigi's Drama, in welchem fonft nur Orpheus und Eury- Dice und der Chor auftreten. Wir heutzutage wollen nicht ein: mal mehr diefe Allegorie ertragen. Aber die Größe eines Fort: ſchritts muß man von deſſen Ausgangspunfte aus meſſen. Kein unparteiifcher Beurtheiler wird dann dem Galfabigi feine volle Anerkennung vorenthalten. Bon der Zeit, in welcher er lebte, konnte er Unparteilichfeit nicht erwarten; dieſelbe jtand zu jehr unter dem Banne Metaſtaſio's. Man warf ihm auch vor, er fei ein Nachahmer der Franzoſen, und bis auf den heutigen Tag wird diefe Behauptung dem Arteaga nachgejchrieben, die ficherlich jo jchief wie möglih iſt. Hat Calſabigi fih an die franzöfiiche Oper angelehnt, jo that er es nur in der Ver: wendung der fcenifchen Mittel. Aber auch hier war er fein ge- dankenlojer Nahahmer; die Pracht feiner jcenifchen Bilder entijpriht nur der Bedeutſamkeit der Handlungen, die er ent- widelte. Die Einfachheit und Keufchheit, welche den Gang aller jeiner Dramen auszeichnet, konnte er von den Franzofen nicht lernen, fie war jein dur das Studium der Antife wohl- erworbenes Eigenthum.

Calſabigi's Verhältnig ‚zu Glud war ein durchaus felbitän- diges, und Glud hat die unummunden öffentlich ausgeſprochen. Seiner einmal gewonnenen Anficht über das Weſen eines guten Opernterte3 und die vorjchlagende Bedeutung der Poefie für da8 Ganze ut poesis erit musica, jagt er frei nad) Horaz iſt er lebenslang treu geblieben, auch nachdem Glud die Verbindung mit ihm gelöſt und fih dem theatraliich mannigfaltigeren, aber weit weniger ftilvollen Du NRollet zugewandt hatte. Es war eine der glüdlichiten Fügungen,

daß die beiden Männer fich begegneten. Der Sinn für das 10*

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Einfach-Große war Glud wie Händel eingeboren und wurde bei jenem durch die Berührung mit dem älteren Meifter, die 1746 in London jtattfand, zu entjchiedenerer Bethätigung angeregt. Ueberall in Gluck's hernach gejchriebenen Opern begegnen uns Züge, ja ganze Mufifftüde, die ihn in voller Eigenthümlichkeit und Größe zeigen, und bie er in feinen jpäten Meiiter: werfen unbebenflid wieder verwerthen konnte und vermerthet bat. Ein Ganzes in diefer Art zu fchaffen vermochte er aber erit, nachdem er den gleichgefinnten Dichter gefunden hatte, Es iſt ein intereffanter Zufall denn einen Zufall müſſen wir es wohl nennen daß die eriten beiden Opern Caljabigi'3, Orfeo und Alceste, ihrer Ddichteriichen Anlage nah) auch Dratorien jein fönnten. Sie enthalten, um die üblichen techniſchen Aus— drücke anzuwenden, feine Handlung, fondern eine Begebenheit; namentlich iſt Alceste mit ihren breiten, jtillftehenden Scenen vol von echt oratorienhaften Momenten. Marx mag Redt haben, daß die reichlihe Verwendung des Chors in diefen Dramen dem Einfluffe Gluck's auf Galfabigi zuzuschreiben jei, da der Mufifer die Wirfung dieſes Mittels beſſer zu jchägen wife, al3 der Dichter. Der Vergleich mit Händel wird da— durh um jo leichter, und der Gegenjfag um jo Jchlagender. Dort harakteriftiihe Mufif, das eigentlihe Merkzeichen der Gattung des Oratoriums, hier die im engeren Sinne dramatifche. Daß es der Tonkunſt möglich ift, einen ftreng genommen un- dramatiſchen Vorgang durd ihre eigenen Mittel zu einem dramatifchen zu machen, hat Glud in diefen beiden Opern, und hernach noch einmal in der Armide, zuerſt ſiegreich bemwiejen. Geſtützt auf dieſes Vermögen konnte er getroft den Plan fallen, auch Dryden's Aleranderfeft nach feiner Weiſe zu bearbeiten. Was aber Paride ed Elena betrifft, fo jollte man von ber Verwunderung, wie Glud einen folchen Tert habe componiren können, ablaffen. Er ijt ein durchaus eigenthümliches Erzeugniß berechtigter Dppofition gegen die damalige Mode, eine von wahrer und einfacher Empfindung getragene Dichtung. Was

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die Hauptjadhe ijt, er bot dem Mufifer Gelegenheit, fih an einer ganz neuen Aufgabe zu bewähren. In Paride ed Elena tritt uns auf dem Gebiete der Oper zum eriten Male das entgegen, was man jpäter, allerdings in noch etwas weiterem Verftande, Xocalcolorit zu nennen jih gewöhnt bat. Im Oratorium hat Händel einige Male Aehnliches geboten; auf dem Theater war ein muſikaliſcher Gegenfag, wie der zwiſchen den Afiaten und Spartanern, etwas Neued. Und ficherlicdh gehört die Ausführung desjelben zu Gluck's größten fünftlerifhen Thaten. Jahn Hat über diefe Oper anfänglich ein hartes Urtheil gefällt, das er fpäter milderte, wennſchon er dabei ftehen blieb, Paride ed Elena fönne für Gluck's eigenthümliche Kraft nicht zeugen. Ich glaube dagegen, dab ſelbſt die Sologefänge zum Theil zu Glud’s ſchönſten und bedeutenditen gehören, und feine Arie gefunden werden kann, die es derjenigen Helena's Donzelle sempliei an charakteriftiicher Schärfe und Originalität zuvorthut. Rouſſeau ſoll einmal gefagt haben, die Charafterifirung der Helena durch Glud jei allerdings bewunderungswürdig, nur leide fie an einem Anachronismus. Die Strenge des jpar- tanifhen Weſens jtamme erjt von Lykurg ber und habe den Spartanern zur Zeit des trojanifchen Krieges noch nicht ge- eignet. Gluck's Antwort ſoll geweſen jein, er habe die Helena des Homer zeichnen wollen, die von Hektor geachtet jei. Sit dieje Geſchichte wahr, jo hat er ſich in einer mehr geiftreichen al3 zutreffenden Weife aus der Affaire gezogen. Nicht die He- lena des Homer, jondern die des Opid hat er gezeichnet, und diefen Charakter gefunden und für die dramatiſche Muſik brauchbar gemadht zu haben, iſt das Verdienſt feines Dichters

Galjabigi.

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Bofepfj Haydn in der Darftelung C. F. Pohl’s.

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n den legten vierzig Jahren hat Fein Buch auf dem Ge-

biete der Muſikgeſchichte eine gleich aroße Bewegung ber: vorgebradht wie Jahn's Mozart-Biographie. Chryſander's Werk über Händel, das alsbald fich jelbftändig neben Jahn's Leiftung ftellte, vermochte in diefer Nachbarſchaft fih nur mit Mühe zu behaupten, obgleih Chryſander feinen Nebenmann an geſchicht— lihen Kenntniffen, an Weitblid und an jchriftitellerifcher Drigi- nalität um ein Bedeutendes überragt. Schule hat Keiner von Beiden gemacht. Bon Chryfander war dies bei feiner ehr jharf ausgeprägten Eigenart und bei der jelbftgemählten Ein- jamfeit, in der er arbeitet, auch weniger zu erwarten. Wohl aber hätte e8 bei Jahn angenommen werden fönnen, der in jeiner Eigenſchaft als Univerfitätslehrer der Jugend nicht nur als Philolog, ſondern auch als Kunftgelehrter im weiteſten Umfange ein leuchtendes Vorbild jein konnte. Man jagt wohl, die nothwendige Vereinigung fünftlerifcher und wiſſenſchaftlicher Befähigung und die Möglichkeit, beide nebeneinander gleich- mäßig auszubilden, fei zu felten und zu ſchwer zu erlangen, al3 daß auf diefem Gebiete ein zahlreiher Nachwuchs je zu er- hoffen wäre. Dies Bedenken ift bei der ungewöhnlichen Aus- dehnung, melde die Mufifübung heute in allen Kreifen ge- wonnen bat, wohl nur in befhränftem Maße ftihhaltig. Der Hauptgrund lag in Zahn jelber. Allerdings und das muß

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vorweg gejagt werden in einer Beziehung hat Jahn mehr gewährt als nur eine allgemeine, wenn auch ſehr ftarfe An- regung. In der Uebertragung der an den antiken Schriftitellern ausgebildeten herftellenden, fichtenden und erflärenden Methode auf die in Schrift oder Druck überlieferten Muſikwerke ift er bahnbrechend geworden. Er hat zuerit gewiſſe Grundfäge auf: geftellt, nach welchen fortan Jeder verfahren muß, der den An- ipruch erhebt, ein berufener Herausgeber älterer Muſik zu fein. Niemand wird dulden wollen, daß von diefem Berdienfte dem bedeutenden Manne auch nur das Geringjte abgeitritten werde. Aber dabei darf doch nicht ungejagt bleiben, daß das Ziel, welches Jahn mit der Anwendung der philologifhen Methode verfolgte, ein im weiteren Sinne hiſtoriſches nicht, oder doch nur in indirecter Beziehung war. Jahn's Fritifche Arbeiten be- treffen nur Mozart und Beethoven, zwei Meifter alſo, welche die Mufif der Gegenwart noch immer beherrjchen, deren Künſtler— gefichter Jedem vertraut find, der das Recht hat, hier überhaupt mitzureden. Die Züge diefer Gefichter laſſen ſich im Einzelnen bier und da berichtigen, in ihrer Gejammtheit ftehen fie feft. Jahn's ftrenge Gewifjenhaftigfeit, neben fo vielen feltenen Eigen- ihaften eine jeiner jchönften, ließ ihn bei Erforichung des Weſens feiner Lieblingscomponiften nicht ruhen, bis er ihrer Abfichten bis ins Kleinfte gewiß geworden zu fein glaubte; hierzu mußte ihm die philologiihe Methode verhelfen. Angewendet auf Schrift: und Drudwerfe entlegenerer Zeiten wird fie zwar immer noch als Grundlage auch für die hiſtoriſche Forſchung dienen. Aber bei allen Kunjtwerfen, deren Gehalt fi nicht traditionell und ununterbrochen bis auf die Gegenwart fort: wirfend erhalten hat, wird fie nicht ausreichen. Denn fie ift an ſprachlichen und nicht an tonlichen Producten ausgebildet worden. In unvergleihlich höherem Grade al3 die Wortipradhe (ebt die Muſik in der Sinnlichkeit des Klanges. Man fann eine Compofition lejen, wie man ein Buch lief. Aber zum Leben gelangt fie dann nur halb, namentlich wenn fie auf das

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Zujammenwirfen vieler, individuell thätiger Perfonen berechnet it. Die Reproduction eines Muſikwerks, welde etwas zu jeinem Weſen nothwendig Geböriges ift, beruht auf der Be- thätigung gewiffer direct oder indirect bejeelter Organe. Weſen und Ausdrudsfähigfeit derjelben ändert fich unaufbörlich ; manche gehen mit der Zeit ganz unter; es ändert fich eben jo ununter- brochen die Empfindung des Ohres für das Angenehmklingende und jomit auf idealerer Stufe das Urtheil der Phantafie über das Echöne Außer Gebrauh gefommene Inſtrumente jucht man wieder berzuftellen; bat man damit auch ſchon die Seele zurüdgemonnen, welde ihnen die Künſtler einhauchten ? Vollends der menjchlihe Gejang. Phyſiologiſche Beweismittel mögen es wahrſcheinlich madhen, daß der Umfang der ver: jhiedenen Stimmflafjen unter den Culturvölfern Europa’s an- nähernd ſtets der gleiche war. So gewiß aber die Italiener der Renaiffance fih in Leben, Gefinnung, Intereſſen, Empfindung von der Gegenwart gründlich unterfchieden, jo gewiß war es auch etwas Anderes, was ihren Geſang bejeelte und ihm feinen eigenthümlichen Ausdrud lief. Man ſieht, daß man biejen Schwierigkeiten gegenüber mit der philologiihen Methode nicht weit fommt.

Aber nehmen wir einmal an, es gelänge, ein Muſikſtück vergangener Zeit genau jo wieder ins Leben zu rufen, wie es aus der Phantafie des Componiften hervortrat und nad) diefem Ziele ftreben muß die Kunſtwiſſenſchaft, mag es einit- weilen auch noch unerreihbar fcheinen —, dann wäre der Werth des gewonnenen Eindrudes zunächſt immer nur ein äfthetijcher. Zur Gewinnung eines wiſſenſchaftlichen Ergebnifjes wäre das Erzielte nur eine, freilich nothwendige Vorftufe. Geſchichte treiben heißt den Zufammenhang der Dinge erkennen wollen. Es würde nun darauf anfommen, den vom Kunftwerk empfangenen Ein- drud auf die Perjönlichfeit de Componijten zu beziehen, ihn mit dem Eindrud von anderen Compoſitionen desjelben Meiſters zu vergleichen, in diejer Thätigkeit zum Schauen eines Gejammt-

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bildes des Künftler® vorzudringen, alsdann diejes mit ben ebenfo gewonnenen Bildern anderer Perfönlichkeiten zuſammen— zubalten. Man würde eben die betreffenden Muſikſtücke als Urkunden behandeln, die dem Geſchichtsforſcher ihren Gehalt berzugeben haben. Died Berhältniß ijt nicht das des Philo- logen. Der Philolog behandelt den ihm vorliegenden Tert in feiner anderen Abfiht, als um zu erfennen, was der Autor ge- jchrieben und gemeint bat. Dieje Erfenntniß ift ihm Selbit- zwed; fein Ziel ift ein formales; es handelt fich bei ihn um das Wie, der Hiftorifer fragt nad) dem Was; die Arbeit des Philo— flogen muß vorbergegangen fein, dann beginnt die feinige erft.

Hahn war ein biographijches Talent erften Ranges; er hat dies auch auf andern Gebieten glänzend bewährt. Ein hiftorifches Talent war er nicht, ſoweit ich urtheilen fann. Sein Auge wurde durch die einzelne Perfönlichkeit gefeſſelt. Diefe liebevoll bis aufs Kleinjte herauszuarbeiten, machte feine Freude aus; dies zu können fcheute er feine Mühe. Um fie recht fichtbar zu machen, legte er ihr auch ein hiftorifches Poftament unter; aber der Nccent liegt, wie e8 in der Ordnung ift, nicht auf diefem, fondern ganz und gar auf jener. Man hört jagen, dab aud die Arbeit des Biographen biftorifcher Art jei. Im gewiſſem Sinne wohl, aber mit gleihem Recht fann man beide Arten als gegenfäglich bezeichnen. Die Sache liegt feineswegs fo, daß eine Perfönlichkeit in der Geitalt, wie fie vom Biographen gezeichnet wurde, einfach in eine hiſtoriſche Kette eingegliedert werden könnte. Sie nimmt fi in ihrer Sfolirtheit anders aus, und muß es; fie ift thatfächlic etwas Anderes. Vielleicht Liegt überhaupt etwas Unrichtiges darin, große, überragende Menſchen biographifh zu behandeln. Gejchieht es dennoch, läßt man einmal einen foldhen Geijtesfoloß dem Leſer ganz nahe auf den Leib rüden, jo muß man ſchon darauf gefaßt jein, daß Mancher fih unbehagli fühlt. Aber mit dem häufig gehörten Vormurfe, dab der Biograph zum unbedingten Lobrebner feines Helden werde und ihn über alle Andern erhebe, könnte man vorfichtiger

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fein. Wenn eine einzige Perfönlichkeit in den Mittelpunkt einer Arbeit geitellt wird, jo muß fich naturgemäß alles Licht der Darftellung auf fie vereinigen, und alle ſonſt auftretenden Per— fönlichkeiten, alle Fäden geſchichtlicher Entwidelung haben nur Bedeutung, injofern fie diefer Perfönlichkeit dienen und auf fie hinführen. In einem großen hiftoriihen Bilde wird fie ganz von jelbft in anderen Berhältniffen ericheinen. Wenn jchon vom Hiftorifer eine gewiffe Kunft der Darjtellung mit Recht ge: fordert wird, jo in viel höherem Maße noch vom Biographen. In Jahn war die Freude an der in ſich ruhenden Erjcheinung und am plaftifhen Herausbilden derjelben in jtärferem Maße wirffam, als der Zug zum ewig bewegten Fluß der Geſchichte. Sie verband ſich mit einer Neigung zum ſorglichen Zufammen- tragen, zum Anhäufen des Stoffes, zum Sammeln aud von nebenſächlichen Kleinigkeiten, das auch wieder mehr den Philo- logen, als den eigentlichen Gejchichtsmeifter verräth. Daß er veritand, feinem Geitaltungstriebe zu genügen, ohne je Die Wahrheit auh nur um ein Geringes zu beugen, darin liegt feine Größe. Aber e8 war das eben eine individuelle Natur- gabe, die ſich nicht übertragen ließ und alfo auch feine Schule machen konnte. Daß gewiſſe Aeußerlichkeiten jeiner Art von Manchen nachgeahmt worden find, hat feine Bedeutung.

C. F. Pohl, von deffen Arbeit über Haydn zwei Bände voll- endet worden find (Leipzig, Breitfopf & Härtel, 1875 und 1882), fteht jcheinbar mit Jahn in jehr engem Zufammenhange Jahn ift es gewejen, der ihn im Jahre 1867 zur Ausführung der Arbeit beitimmt, auch durch Material aus feinen eigenen Samm- ungen unterftügt hat; in Jahn fieht Pohl mit Recht einen Meifter biographifcher Daritellungsfunft, und wer die Vorrede gelefen hat, könnte erwarten, nunmehr in ein Buch zu gelangen, das möglichit nad Jahn's Mujter geformt ſei. Dem ift aber nicht jo. Die Art der Behandlung ift eine gänzlich andere, und von einer inneren Beeinfluffung kann die Rede nicht jein. Man darf es, wie die Dinge liegen, nicht anfechten, daß Pohl feinen

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eigenen Weg gehen wollte. Er mußte es ſelbſt am beiten willen, auf welche Weije er feines Gegenitandes am erfolgreidhiten Herr werden konnte. Bei der Zerfahrenheit, die in muſikgeſchicht— lihen Dingen bei uns herrſcht, iſt es jchon erfreulich, wenn die Arbeit überhaupt nur an irgend einem nubenverjprechenden Punkte einfegt. Das Weitere wird fi mit der Zeit wohl finden.

An einer Stelle der Vorrede hält es Pohl für nöthig, ſich über die Berechtigung einer Haydn-Biographie mit dem Leſer zu verjtändigen. Unſerer Meinung nach ift Alles und Jedes in der Welt, mas von der menſchlichen Erfenntniß noch nicht völlig durchdrungen worden ill, ein würdiges Object der Forihung, und es bedarf Feines Wortes der Rechtfertigung. Nun gar Haydn, der zu den anerfannt größten beutjchen Meiftern gehört, über deſſen größten Lebenstheil bis jegt nur lückenhafte und ungeordnete Kenntniß beſtand, von deſſen Com— poſitionen mehr als die Hälfte ſo gut wie unbekannt geblieben iſt! Wer, ſo ſollte man denken, würde nicht mit Begierde nach einem Buche greifen, das über dieſe Dinge zum erſten Male gründliche Auskunft zu geben verſpricht? Eine andere Frage würde es ſein, ob es zur Zeit ſchon möglich ſei, eine er— ſchöpfende Darſtellung von Haydn’s Wirken und künſtleriſcher Bedeutung zu liefern. Aber freilich, dieſe Frage ließe ſich bei jedem andern großen Muſiker, wenn er nicht gerade ins neun— zehnte Jahrhundert gehört, mit demſelben Rechte ſtellen. Wenn die neuere Forſchung ſich mit Vorliebe auf die wiſſenſchaftliche Bewältigung der größten Meiſter wirft, ſo darf man ihr den Vorwurf der Verzagtheit wenigſtens nicht machen. Sie wählt ſich das Schwerſte gleich im erſten Angriff, ſie faßt den Stier bei den Hörnern. Darf ſie bei dieſer Methode der Eroberung der Theilnahme eines größeren Kreiſes von Gebildeten noch am leichteſten verſichert ſein, ſo muß ſie ſich freilich auch ſagen, daß es bei dem Mangel an vorbereitenden Arbeiten faſt unmöglich iſt, nicht in allerhand Irrthümer zu gerathen. Sie muß ſich aus eigener Kraft den Weg zur Höhe bahnen, ſo gut es gehen will,

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und jich bejcheiden, wenn fie nur in den Hauptſachen das Rich— tige gefunden haben wird.

Menn der Verfaffer des „Joſeph Haydn“, ein Wort feines Helden auf fih anwendend, hofft, man werde jeine Arbeit „nicht allzu ftreng anfaſſen und ihr dabei zu wehe thun“, jo glaube ich, daß das Lestere Niemandem eingefallen jein wird, an deijen Urtheil - ihm etwas liegen fonnte. Das Eritere, das „itreng anfaffen“, aber braucht er gar nicht zu jcheuen, fobald der Beurtheiler nur im Auge behält, was Pohl mit diejer Arbeit überhaupt hat leiften wollen. Sollte ich ihr Weſen mit einem Wort bezeichnen, jo würde ich jagen, fie jei feine hiſtoriſche, auch feine biographifche, jondern mehr eine antiquarische Arbeit. Wir finden in ihr die: jelbe Methode angewandt, deren fich der Verfaſſer auch in feinem älteren Buche „Haydn in London” (Wien, Gerold, 1867) bedient hat. Die Erlebniffe Haydn's und feiner Werfe bilden den Faden, an welchem Alles aufgereiht wird, was zu jenem in näherer oder fernerer Beziehung fteht. Die Sorgjamkeit und Grünblich- feit im Auffuchen der Thatfachen, ſei e8, daß dieje Haydn's Leben direct betreffen oder auch nicht, it preiswürdig im höchiten Grade; fie ift eine ſolche, wie fie nur bei einem Manne vor: handen jein fann, der an jedem Stüdchen, das er aus dem Ruin vergangener Tage hervorzieht und erhält, jeine innige Freude hat. Dieſe Freude wiederum ift nur möglich, wenn bie Reite der Vergangenheit dem Suchenden etwas Lebendiges find, wenn er ihre ftille Sprache veriteht und fich gern von ihr ge- fangen nehmen läßt. Die Sinnigfeit des Gemüthes, die fih in joldem Thun offenbart, hat etwas Anheimelndes und Liebens- mwürdiges. In dem hellen, freundlichen Blid, mit welchen das geiftige Auge des Verfaſſers den Leer des Buches überall an- Ihaut, liegt Etwad, was an Haydn's eigenes Weſen erinnert. Es bejteht eine Art innerer Verwandtichaft zwiichen beiden; man wird von dem berubigenden Gefühle begleitet, daß ber Schriftiteller feinem Componijten perſönlich nahe iteht, und daß er ihm nicht leicht Unrecht thun wird. Die Fülle des Stoffes,

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melde bier aus taujend einzelnen Funden zufammengejpeichert ift, iſt erftaunlich; erit ein ausführliches, für den Schlußband zu erhoffendes Namen- und Sachregifter wird den ganzen Reichthum überjehen lafjen. Aber ſchon jegt kann man behaupten, daß das Buch für gewiſſe Materien der Muſikgeſchichte des achtzehnten Sahrhunderts, ganz bejonders für die Mufipflege in Wien und im jüdöftlichen Deutjchland überhaupt, als ein unentbehrliches, zuverläſſiges Nachſchlagewerk fich bewähren wird. DaB es aud) für Haydn's Leben jelbit fortan die alleinige Grundlage aller über ihn fpäter noch anzuftellenden Forichungen bilden wird, braucht hiernach kaum noch gejagt zu werben.

Wollte man das Werk als eine Biographie im jtrengeren Sinne auffaffen, jo würden gewijle Bedenken nicht wohl zu unterdrüden fein. Bildlich gejprocdhen, wäre das Verhältniß zwijchen Vorder- und Hintergrund ſchwerlich das richtige. Wenn man die Scene jo tief öffnet, fie jo reich und mannigfaltig aus: jtattet, wie es der Verfaſſer thut mit feinen localgeſchichtlichen und geographiichen Schilderungen bis hinein in die detaillirte Beichreibung der Wohnräume, die zu verfchiedenen Zeiten feinem Helden als Aufenthaltsort dienten, dann muß man aud vorn auf der Bühne ein lebendiges, buntes und abwechslungsreiches Bild zu entfalten haben. Nur jo fann ein harmonijcher Ge- jammteindrud entitehen. Andernfalls wird die Hauptſache durch die Nebendinge überwältigt. Mozart’3 kurzes Leben war unver- gleichlich bewegter ald dad mehr als doppelt jo lange Haydn's. Gleichwohl it Jahn in der Ausfüllung des Hintergrundes bei weitem nicht jo weit gegangen wie Pohl. Sein fünftlerifcher Tact jagte ihm, daß er dadurd die Eindringlichkeit feines Bildes abihwächen würde. Die Sache unterliegt aber einer anderen Beurtheilung, jobald man die jtrengeren Forderungen einer Bio- graphie gar nicht erhebt. Alsdann mag der Schriftiteller ſich freier gehen laffen; der Lejer wird um jo eher geneigt jein, ihm diefe freiheit zu geitatten, wenn das Nebenwerk neue, intereijante, dur felbftändige Forſchung ans Licht gebrachte Thatjachen ent:

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hält. Wie weit er ausholen und abjchweifen darf, darüber wird ſich ein allgemein verbindliches Geſetz nicht aufitellen laſſen. Eine Grenze gibt es natürlih auch hier. Soll ich es offen ge itehen, fo glaube ich, daß der Verfafler jelbit über diefe hie und da hinaus gerathen ift. Er ſcheint mir in den Perjonalien der Nebenfiguren manchmal foweit zu gehen, daß auch das Intereſſe desjenigen Leſers ihm nicht mehr folgt, der fich ganz auf des Verfaſſers Behandlungsweife eingerichtet hat. Selbit in Bezug auf die Hauptperfon dürfte ihm das mindeſtens einmal begegnet jein. Pohl jagt: „Jeder Ritter, Graf und Fürft hält auf feinen Stammbaum, warum nicht auch ein von Gott geadelter großer Künftler?“ Ganz recht! Aber der Adel des Künftlers liegt eben nicht in feiner Geburt, fondern in jeinem Talent. Wenn diefer Vergleich pafjen follte, jo müßte der Schriftiteller ung mit den geiltigen Ahnen des Mannes, alſo mit feinen Vor: gängern in der Kunft befannt machen, womit wir dann wie von jelbjt auf das hohe Meer der Geſchichte hinausfämen. Er mag aber auch von den leiblichen Ahnen immerhin ſprechen und aus- führlih ſprechen, nur müſſen diefe dann jelbft Künstler oder fünftlerifch angelegt gewejen und nad) dem Gejeß der Vererbung von möglihem Einfluß auf das Talent der betreffenden Ber- jönlichfeit gewejen fein. So war es bei Mozart, Weber, jo war es vor allem bei Bad. Wenn aber Pohl den Stammbaum Haydn's hundert Jahre aufwärts verfolgt, wenn er auch über Haydn's fämmtliche Gefchwifter, über deren Ehegatten und Kinder genaueften Bericht eritattet, und wenn nun bei allen dieſen Leuten, mit zwei Ausnahmen (Haydn's Brüder Michael und Johann Evangelift), von mufifaliiher Begabung gar feine Rede ift, dann, glaube ich, thut er zu viel.

Noch einen Punkt möchte ich bei diefer Gelegenheit berühren. Der Verfaſſer ift der Anficht geweſen, daß der volfsthümlichite unſrer großen Componiiten auch eine volksthümliche Darftellung verlange, und hat deshalb gedacht, jein Leben und Wirken jo

daritellen zu müſſen, daß auch der Nichtmufiker SPA daran Bhilipp Spitta, Zur Muſit.

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nehmen könne. Aus diefem Beitreben find dann gewiſſe Stellen hervorgegangen, die in etwas den Charakter von Unterhaltungs- leftüre an fih tragen. Manches ift finnig gedacht, jo z. B. wenn Haydn's Wohnhaus in Eifenitadt, Kloftergafje Nr. 84, bejchrieben wird, das mit jeiner Rückſeite an den Schloßpark ſtößt, und nun vor der Phantafie des Verfaflers der Meifter felbit erjcheint, wie er in der nach dem Lärm von Eſterhäz doppelt erquidlichen Stille vom Fenfter auf die Bäume des Parks blidt und dem Geſang der Vögel laufht. Oder wenn der Verfaſſer dem Meifter auf feinen einfamen Spaziergängen um Ejterhäz nach— geht, ihn auf die im Sonnenlicht glühenden Flächen der Pußta oder zum nächtlichen Sternenhimmel über derjelben aufbliden läßt und diefe Naturbilder mit dem jelig-feierlichen Charakter mancher Adagio-Säte Haydn's in Verbindung bringt. Anderes, wie die Ausmalung der Abjchiedsfcene, als der Knabe von Rohrau nah Hainburg gebracht werden fol, ift für meinen Ge- ſchmack zu realiftifh, denn ſolche Phantafieflüge dürften, wenn man fie überhaupt geftatten fann, doch wohl nie über ganz flüchtige allgemeine Andeutungen hinausgehen. Man mißver- ftehe mich nicht. ES ift dem Verfaſſer felbitverftändlich nie in den Sinn gefommen, feine Annahmen diefer Art als Thatjachen binzuftellen. Stets ift er gewiſſenhaft darauf bedacht, fich jo auszudrüden, daß hierüber ein Irrthum des Leſers nicht möglich bleibt. Offenbar führte ihn nur fein Streben nah Ropulari- firung des Stoffes zum gelegentlichen Einftreuen folder Stellen. Ich fürchte nur, er ift einem Trugbilde nachgegangen. Zur an- genehmen Unterhaltung für einen großen Leſerkreis ift fein Buch nicht gemadht, eben wegen jeines jtarf hervortretenden anti: quarifchen Charakters. Und weil es diefen Charakter hat, darum berühren ſolche Stellen fremdartig und machen einen unbar: moniſchen Eindrud. Das Buch hat Gehalt und Werth genug auch ohne fie.

Es iſt unmöglih, auch nur einen namhaften Theil der einzelnen Angaben auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Gerade einer

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jolhen Arbeit gegenüber gilt in vollem Maße, was Lejling einmal äußert: es müfje merkwürdig zugehen, wenn der Kritiker von der Sache nicht weniger verftünde als der Autor. Der Lefer hat indeffen durchweg jo ganz den Eindrud vollfter Zus verläffigkeit, daß er jehr bald in das angenehme Gefühl kommt, es fei eine Nachprüfung hier auch gar nicht nöthig. Irrthümer werden ſich natürlich auch in diefem Buche finden, einzelne that: fähhliche Ergänzungen werden gemacht werden künnen; aber was will das jagen? Einige Kleinigkeiten, die mir zufällig aufge: ftoßen find, mögen bier bemerft werden. Johann Friedrich Nisle joll nad I, 120 ein Jahr vor Haydn's Tode, alfo 1808, in Wien geweſen fein und hier mit Haydn verfehrt haben. Das: jelbe Jahr nimmt in „Beethoven’s Leben“ III, 62 auch Thayer an. Nisle jagt in feinen „Erinnerungen“ allerdings, „wenige Zeit“ nachher ſei Haydn geitorben. Aber daß es gerade ein Fahr nachher geweſen ſei, jagt er nicht, und einen andern An— baltepunft für die Annahme Pohl's und Thayer’3 kann ich nicht finden. Nisle verfaßte die Erinnerungen mehr als zwanzig Jahre jpäter; der Dauer des Zeitraumes zwijchen feinem Be- juhe bei Haydn und deilen Tode erinnerte er fi wohl nicht mehr genau, und ganz genau nahm er es mit feinen Angaben überhaupt nit. So fpricht er 3. B. von dem „Hofrath” von Eollin, obwohl Gollin diefen Titel damals noch gar nicht hatte, und eine andere ftarfe Ungenauigfeit wird man gleich Fennen fernen. Nach meiner Meinung ift Nisle gegen Ende des Jahres 1806 nah Wien gegangen. Er kam von Dresden, wo er mit Paer verkehrt hatte, und jagt, Paer's Geſchick habe ihn kurz darauf in eine andere Gegend gerufen. Baer verlieh Dresden in Begleitung Napoleon’s Ende 1806 und fehrte nicht wieder dahin zurüd. Auf feiner Reife nah Wien will Nisle Prag be- rührt und daſelbſt mit Weber „manchen genußreichen Abend“ verlebt haben. Erfteres mag fein, legteres ift jo, wie er jagt, un- möglid. Denn Weber fam nad) Prag erit am 12. Januar 1813.

Von 1807 bis 1810 war Weber in Stuttgart. Hätte Nisle 11*

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jeine Wiener Reife 1808 gemaht und auf derjelben Weber fennen gelernt, jo hätte er von Dresden nad Wien über Stutt- gart fahren müſſen. 1806 aber war Weber in Breslau, oder jeit dem Herbite auf Schloß Karlsruhe in Schlefien. Und an einem dieſer beiden Orte wird die Begegnung jtattgefunden haben. In Prag iſt Nisle ficherlich auch geweſen, und weil er in fpäteren Jahren wußte, daß Weber dort einmal al3 Kapellmeifter gewirkt batte, jo hat er ſich dann eingebildet, er habe ihn dort gejehen. I, 45 ſpricht Pohl vom Gebrauch der Trompeten in den Kirchen und berichtet, daß es 1754 in Wien unterfagt, oder doch auf das „Klarin- blajen“ eingejchränft worden ſei. Dies legtere, meint er, habe auf der Anwendung von Trompeten mit Dämpfern beruht. Aber das Klarinblajen wurde nicht durch eine mechanische Veränderung des Inſtruments bewirkt, jondern durch die befondre Behandlung von Seiten des Blajenden. E3 war dag geſangreiche Blafen im höhern Tongebiete und mit bejonders heller Tongebung; ein eigner, ſchwierig zu erlernender Anja war dazu erforderlih. Ihm gegen- über ftand das naturaliftiihe Schmettern des Prinzipalblajens ; diejes aljo wurde damals als unwürdig aus den Kirchen verbannt, jenes mit feinem weichen, jchmiegjamen Wejen fonnte bleiben. Was die Sordinen betrifft, jo liegt es in der Natur der Sadıe, daß man fie vorzugsweiie nur beim Klarinblafen anmwendete: fie waren geeignet, der Melodie eine befondre Farbe zu geben, während fie beim Prinzipalblafen die Entfaltung der Eigenthümlichkeit des- felben nur binderten. In diefem Sinne wird Matthejon’s oft eitirter Ausspruch zu verftehen fein. ©. 234 ff. des eriten Bandes bin ich an einigen Namen des Feitipiels „Acide“ hängen geblieben. Heißt die Freundin der Galatea wirklich Glance, wie Pohl immerfort jchreibt, jo daß ein Drudfehler nicht angenommen werden fann? ch denke: Glauce (yAavan, oder richtiger wohl noch TAavan, die homerifche Nereide). Iſt S. 235 Tethys, die Gemahlin des Dfeanos, oder die Nereide Thetis gemeint? Ver- muthlich die erjtere. IL, 12 wird erzählt, Dimwaldt babe in Eiterhäz bis 1785 aufgeführt „Fiesco“, „Kabale und Yiebe“ und

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„Maria Stuart“. Wer war der Verfaffer dieſer „Maria Stuart“ ? Wohl Eh. H. Spieß. Die Schiller’fche kann nicht gemeint fein, da fie ihre erjte Aufführung am 14. Juni 1800 erfuhr. Nicht genug gethan hat mir, was I, 269 über Elsler's Kopien gejagt wird. „Er jchrieb eine äußerft reinliche, ſorgfältige Notenſchrift.“ Damit ift allerdings, genau genommen, nur über die äußere Erſcheinung feiner Schrift ein Urtheil abgegeben. Aber man wird doch leicht geneigt jein, jenen Sa auch auf die Richtigkeit der Kopien zu beziehen. In diefem Punkte babe ich bis jegt von Elsler eine durchaus günjtige Meinung nicht gewinnen fünnen. In meinem Befig befindet fich eine Abjchrift der G-moll-Sinfonie (Nr. 2 der jechs Parifer Sinfonien), „copiee par Elsler Copiste de l’Auteur. Regu le 26 Juin 1803 a Eisenstadt en Hongrie*. Sie jtammt aus dem Nachlaffe Leſſel's, der um diefe Zeit Haydn's Schüler war, und hat, als unmittelbar vom Autograph ge- nommen, urfumdlichen Werth. hr Neußeres ift wirklich fehr ver- trauenerwedend, nicht ganz fo ihr Inneres, das allerhand Un: genauigfeiten und Fehler zeigt. Das Gefammturtheil über Elsler's Zuverläffigfeit mag immerhin ein günftiges fein müſſen. Ein folhes Urtheil zu fällen, wäre wohl feiner in gleihem Maße ausgerüftet gewejen wie Pohl. Gern hätte man daher hierüber jeine beftimmte Meinung erfahren. Die Sache ift für Die Ueber— lteferung von Haydn's Werfen wichtig genug.

Für die ungeſchminkte Art, wie Pohl Haydn's Beziehungen zu Luigia Polzelli behandelt hat, wird man ihm bejfondern Danf wiffen. Gewiſſe Punkte diefer Angelegenheit ich meine Haydn’s mehr oder weniger nahes Verhältniß zu den Söhnen Pietro und Anton dürften ihre völlige Erledigung gefunden haben, und es ift zu wünjchen, daß fortan die öffentliche Dis- euffion dieſen Gegenſtand gänzlih ruhen laſſe. Im übrigen möchte der unbefangene Lejer wohl den Eindrud haben, als ob Pohl die Polzelli etwas zu ungünftig beurtbeile. Der natürliche Verftand jagt fih, daß die Frau, welche einen Haydn zwanzig Jahre feifelte, ungewöhnliche Eigenfchaften bejeifen haben muß.

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Mehr läßt fich bier nicht jagen. Aus Haydn's Briefen an fie hat Pohl nur wenige Säte mitgetheilt; jene Briefe, oder auch nur einige von ihnen, ganz zu veröffentlichen, bat er fich nicht be- mwogen gefunden, und e3 mag endlich auch das Beite fein, wenn fie unveröffentlicht bleiben. Bei Gelegenheit der Mrs. Schroeter in London wollte, wie es fcheint, der Verfaffer auf die An- gelegenheit zurüdfommen. Vielleicht, daß fie dann für den Leer erit in das rechte Licht getreten wäre. Dagegen ift zu bedauern, daß Pohl an einer andern Stelle in Mittheilung Haydn'ſcher Schriftſtücke nicht etwas freigebiger gewejen ift. Was er I, 228 über den amtlichen Verkehr zwiſchen Haydn und dem Fürften Efterhazy zu erzählen weiß, it jo anziehend, daß man von den im Intereſſe jeiner Gapellmufifer verfaßten Geſuchen gern das eine und andre im Original läſe. Briefe bleiben doch immer eines der wichtigften Mittel, das Weſen eines Menſchen Fennen zu lernen.

Ich habe ſchon gejagt, daß der im höhern Sinne hiſtoriſche Charakter dem Buche Pohl's nicht eigen iſt. Es jei das bier wiederholt, zunächſt um Hinzuzufügen, daß ich mit diefem Ur: theil nicht jowohl einen Tadel auszuſprechen, als nur ein be- zeichnendes Merkmal der Arbeit anzudeuten beabfichtigte. Hiftorifch würde der Gegenjtand behandelt fein, wenn bei all den ver- ſchiedenen Kunftgattungen der Nachweis geführt wäre, wie fich das, was Haydn in ihnen gejchaffen, zu den Leiftungen feiner Vorgänger verhalte, wo und wie er entweder über biejelben hinausgegangen oder Hinter ihnen zurüdgeblieben fei. Dieje bedeutende und jchwierige Aufgabe bleibt noch zu löſen. Pohl bat fi mehr darauf bejchränft, die Compofitionen Haydn's an fich zu beſprechen. Der Standpunkt der Beurtheilung, welchen er hierbei einnimmt, ift im Allgemeinen derjenige der heutigen Muſikwelt. Daß jehr Vieles von ihm gejagt wird, was dieſe Mufitwelt nicht jagt, verfteht fich, weil er von den Dingen eben unvergleichlich viel mehr weiß. Er kennt alle Compofitionen Haydn's, und der Durchichnitt unſrer Mufifer und Mufikfreunde

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fennt von ihnen vielleicht den zehnten Theil. Es iſt alfo auch in diefer Beziehung eine reihe Fülle von Belehrung aus feiner Arbeit zu jchöpfen. Dagegen mußte auch unvermeidlich jein, daß Haydn's Muſik manchmal von einem Lichte beleuchtet wird, welches nicht dasjenige ift, in dem fie zur Zeit ihres Erjcheinens ftand. Damit joll nicht gefagt fein, daß das Buch überhaupt aller Andeutungen über die geichichtlihe Entwidlung der Kunft- formen entbehrt. Es hat deren gewiß, und ſogar ſehr treffende, aber fie fommen mehr gelegentlich vor und werden nicht ausge: nugt. Mit Regelmäßigfeit pflegt der Verfafler nur die ſorg— fältig gefammelten Namen der Componijten aufzuführen, die in ber betreffenden Kunſtgattung vor oder neben Haydn thätig waren. Er ebnet hierdurch dem Hiltorifer ein Stück Weges, aber er betritt den Weg nicht felbit.

Berhältnigmäßig am ausführlidhiten ſpricht Pohl über Emanuel Bad, deſſen Claviermufit befanntlih von großem Einfluffe auf Haydn gewejen ift. Seine Stellung zu Sebaftian Bach wird, glaube ich, nicht richtig aufgefaßt, wenn jie dadurch bezeichnet werden joll, daß der Sohn die vom Water über- kommenen Grundjäge und Unterrichtsmethode gemeinnügig ge- macht habe. Emanuel ging Wege, die fi in den Compofitionen Sebaſtian's nur leife und wie gelegentlih angebeutet finden; auch war jeine Glaviertechnif eine wejentlich andre. Die Form der Emanuel Bach' ſchen Elavierfonate befchreibt Pohl jo: „Ein Allegro in der furzen Hauptform, ein Andante oder Adagio in der Lied- form, ein Bivace . . . in der Rondoform.“ Hier iſt ein Beleg für den oben gefennzeichneten Standpunft des Verfaffers. Die Forın des eriten Sonatenjaßes, das, was Pohl die Hauptiorm nennt, kennt heutzutage jeder. In Emanuel Bach's Zeiten war das anders, denn eben dur ihn wurde fie erit begründet. Der Hiftorifer wird bier fragen, wie und woher die Bach'ſche Clavier- jonate entitanden jei. Und die Antwort wird lauten: dur das Zufammenwirfen von drei verjchiebenen Faktoren, nämlich des italienifchen Concerts, des Tanzes und der italienifchen Arie.

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Mit der ältern italieniſchen Biolinfonate hängt die neuere deutiche direft nicht zujammen, noch viel weniger mit Domenico Scarlatti’s Elavierfonate; höchitens fann man finden, daß dieſe auf den Bau gewiſſer Finalfäge einen ſchwachen Einfluß aus: geübt hat. Rondoform in den Finalfägen dieſer Zeit jehen, dazu kann auch nur der verleitet werden, welder von der modernen jagen wir Beethoven’shen Sonate ausgeht. Das Rondo wurde um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vernadhläfiigt und geringgeihägt; E. Bach brachte es in jeinen jpätern Arbeiten wieder zu Ehren, und zwar als alleinjtehendes Stüd, erit Beethoven erhob e3 im Nahmen der Sonate zu un- geahnter Schönheit und Neichhaltigfeit. Endlich it auch die Form des Adagios bei Emanuel Bah nicht vom Liede hergenommen. Am beften erflärt fie fich wohl als eine Uebertragung des Concert: adagios aufs Clavier, daneben find ftarfe Beeinfluffungen von Seiten des damaligen Operngejanges bemerkbar. Weberhaupt fommt man ohne eine ftete Herbeiziehung der großen Sologefangsformen zu feinem vollen Berftändniß der Inſtrumentalmuſik jener Zeit. Wie jehr diefelben die Phantafie der damaligen Componiſten beberrihten, läßt fich unter Anderm auch aus der Sitte er- fennen, die Neprifen der Sonatenjäge mit ertemporirten Ber: änderungen vorzutragen. Die Sitte ftammt vom Vortrag der dreitheiligen Arie, und für ein Gejangsftüd hat fie ihre tiefere, im Wejen des Gejanges liegende Begründung. Für ein in Tanzform gehaltenes Inſtrumentalſtück fällt diefe Begründung weg, deshalb war fie auch dem feinen Gejchmade Emanuel Bach's unbehaglich, und um wenigftens den gröbften Entftellungen jeines Werkes vorzubeugen, jchrieb er als Verſuch die jogenannten Neprijenfonaten. Man fieht aus diefen flüchtigen Andeutungen, wie eigen italienifhe und deutſche Kunſt bei der Bildung der neuern Sonatenform zuſammengewirkt haben. Was die Form— umriffe betrifft, fo überwiegt italienifher Einfluß, nur den Tanz fann man auf Grund der glänzenden Entwidlung ber Suite durh Seb. Bah in dieſer Verbindung als eine deutjche

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Form in Anjprud nehmen. Dagegen ift das Tonmaterial das dem deutſchen Mufifgenius homogenere. Die italienijche Inftrumental- mufit hat fich immer vorwiegend auf das melodiiche Spiel der Violine geitügt, die deutiche auf das harınonijche des Glaviers und der Orgel.

Diefe Form nun nahm Haydn an und baute fie aus. Wie aber baute er fie aus? Hier jtoßen wir gleich auf eine intereffante Erſcheinung. Pohl madht darauf aufmerkſam, daß Haydn, obwohl er von Emanuel Bach's Glavierfonaten den erjten kräftigen Impuls erhielt, ſich doch ala Glaviercomponijt ungleih lang: ſamer entwidelte als in den Gattungen des Quartetts und der Sinfonie, und dab bis 1766 nur Clavierftüde von verhältnif- mäßig geringer Bedeutung vorliegen. An einer andern Stelle jagt Pohl, Haydn habe die Formen der Glavierfonate auf das Quartett und die Sinfonie übertragen. Dies ilt eine treffende Bemerkung, aus welcher nur nicht die Gonfequenzen gezogen find. Was Haydn an Bach's Werfen jo jehr anzog, war weniger die Glaviermufif als jolche, als der gewiffermaßen abjtracte mufifaliiche Gedanfe und Aufbau. Wirklich kann man felbit bei den ihönften Clavierjtüden aus Haydn's jpäterer Zeit die Empfindung haben, al3 brauchte dieje oder jene Stelle nicht nothwendig vom Clavier gejpielt zu werden, um voll zu wirken; von jener Clavier— jeligfeit, die alle Eompofitionen Mozart's für dies Inſtrument durchzieht, iſt jedenfalls in Haydn gar nichts. Dasjenige Ton- material, bei welchem ihm recht wohl ums Her; ward, fand fih ganz wo anders. Es war das der Spielleute aus dem Volke. Ihm bat er fich zeitlebens am nächſten verwandt ge- fühlt, ihm ließ er zumächit zu Gute fommen, was er auf andern Kunftgebieten einheimfte. Er hat die volfsthümliche Spielmanns— mufif in die höhere Kunſt eingeführt.

Denn das iſt es, was wir aus Haydn's früher Beſchäftigung mit der Quartettmufif zu entnehmen haben. Wenn ich jagte, daß die Italiener die Formen der Violinmuſik ausgebildet hätten, jo meinte ich zunächit Alles das, was ins Gebiet der Musica

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da camera gehört. Der Ausdrud läßt ſich durch feine deutſche Bezeihnung erihöpfend wiedergeben. „Kammermuſik“ ift eine mechanijche, etymologisch finnlofe Meberjegung; das Wort „Haus: mufif” hat jeine bejondere Nebenbedeutung, „Zimmermufif” käme der Sache näher, doch fehlt Hier noch die Andeutung der vor- nehmen Welt, in welche jene Art von Mufif nothwendig hinein- gehört und welche ihr felbit das ariftofratiiche Gepräge verliehen hat. Die deutjche Spielmannsmufif bildet zu ihr einen jcharfen Gegenjag. Sie ift Volksmuſik, fie gehört nicht in den Salon, jondern ins Freie oder auf den Tanzboden. Ihre Bedeutung für die höhere Kunſtmuſik ift zu allen Zeiten eine jehr große gewejen, im achtzehnten Jahrhundert verdankt ihr fein Componiſt jo viel wie Haydn, der mit Tanzcompofitionen feine Laufbahn be- gonnen hat. Dem Verfaſſer unjeres Buches ift dies nicht unbe- merft geblieben. Er hat der Wiener Tanzmufif mehrere Seiten des erften Bandes gewidmet, aus denen viel Belehrung zu ent- nehmen ift. Das eigentliche mufifaliiche Wejen derjelben und wie dieſes fich zu Haydn's Tänzen verhält, wird dennoch nicht veht far. Freilich iſt e8 außerordentlich ſchwer, für eine ge- ichichtlihe Betrachtung dieſer Muſikſtücke, die mie furzlebige Falter vorüberflatterten, jegt noch ein augreichendes Material zufammenzubringen. Die Spielmannsmufif jener Zeit bejtand aber nicht nur aus Tänzen oder auch Märjchen. Sie befahte ſich auch mit freier geitalteten Tonftüden. Daß bier wiederum die Italiener vielfach eingewirft haben, namentlih in Defterreich, ift fiher. Schon die Namen Serenata und Divertimento würden e3 beweifen. Ahnen gejellt fih dann aber, ohne greifbaren Unter: ſchied der formell-mufifalifchen Bedeutung, das aus der deutjchen Studentenfpradhe ſtammende „Eaffation”, von „Gaſſe“ her— fommend, indem „gassatim gehen” gejagt wurde, wenn Die Studenten, um den ſchönen Mädchen der Stadt mit Mufif auf- zuwarten, durch die Gaffen zogen.

Von der Caſſation ift Haydn's Quartettmuſik ausgegangen. Er jelbit bezeichnete jeine erſten Quartette mit diefem Namen.

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Aber au die Form verräth es, die überwiegende Fünfijägigfeit, die Freiheit in der Ordnung der Säge. Denn die Cafjation fannte in Bezug auf Zahl, Folge und Charakter der Sätze feine bindende Norm. Auch daß Haydn gleich auf die erjten QDuartette ſechs Scherzandi folgen ließ, bei denen noch Flöte, Dboe und Horn mitzuwirken hatten, verdient bemerkt zu werben. Die Bejegung der Cafjation bejtand nicht nur aus Streich: inftrumenten. Gern nahm man aud einige Bläfer hinzu. Dabei blieben aber, wie auch Pohl einfichtig bemerft, die Streich— inftrumente doch nur einfach bejegt. E83 mag diefe Zuſammen— itellung von Anftrumenten einen Beleg dafür bieten, wie ſich der Sinn für das klanglich Angenehme mit der Zeit verändern fan. Unſerer Empfindung erfcheint der Ton der einfach be- jegten Streidhinftrumente gegenüber dem diden Ton der Flöte, der Clarinette, des Horns zu dürftig, geradezu jchäbig, auch ihmelzen die einzelnen Elemente nicht zu einem wohlthuenden Gejammtflange zujammen. Bollends nicht, wenn im Freien gejpielt wird. Die Ohren jener Zeit aber befanden ſich bei diefen Klängen jehr wohl. Sonft würden nicht noch Beethoven (im Septuor) und Schubert (im Dctett) die Gaffation mit jo ſichtlichem Behagen gepflegt haben.

Den einzigen Ausgangspunkt für den Quartettcomponiften Haydn hat freilich die Caſſation jchwerlich gebildet. Ohne allen Einfluß ift die italienifhe Kammermufif ficher nicht geblieben. Das Wort Quartetto oder Quadro beweift, daß irgend ein italienisches Vorbild vorhanden war. Auch würde jonft Haydn nicht jpäter feine Quartetten als etwas Selbjtändiges von den Caſſa— tionen gejondert und ihnen entgegengejegt haben. Haydn ver- wahrte ſich gegen Griefinger zwar heftig, daß ihm der „Schmierer” Sammartini als Muſter gedient habe. Aber Sammartini war doch nicht der einzige italienifche Duartettcomponift vor Haydn's Zeit, und daß diefer mehr von den Jtalienern genommen habe, al8 gewiſſe allgemeine Gonturen, wird ohnedies Niemand be- haupten wollen. Die Italiener pflegten jeit Corelli nit nur

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das Kammertrio, jondern auch das Kammerquartett. Die Form, in der fie e8 thaten, war die der älteren Violinfonate, alfo in der Regel eine vierfäßige, in welcher auch der Tanz feine Rolle jpielte. Es fommt bei Stüden diefer Gattung vor, daß fie auf dem Gejammttitel Quartetti genannt werden, und im Einzelnen Sonaten. Aber ein Punkt ift vorhanden, in welchem ſich dieſe Quartette von dem fpäteren deutſchen Streichquartett gründlich untericheiden, ein Punkt, den ich bei Pohl nirgends erwähnt gefunden habe. Das ift der Generalbaf. Ohne ihn ift die italienifhe Kammermufif nicht zu denken, bei Haydn fehlt er von Anfang an, jei e8, daß er Streichquartette, oder -Trios, oder «Duos componirte. In dem Generalbaß aber liegt das— jenige angedeutet, was ein Hauptmerkmal der Kammermufif war. Das Clavier gehört ins Haus. Wenn es auch Regale und Portative gab, die man unter dem Arm hberumtragen fonnte, die deutichen Spielleute haben fich ihrer nicht bedient. Die geigten nur und bliefen. Und jo ift der Verzicht auf das Generalbaßinftrument gleihjam das Symbol, dab ber Componiſt den erclujiven Räumen der italienifhen Kammermuſik den Rücken fehrte und unter dem Wolfe lebte mit feines gleichen.

Aber was er mit dem Generalbaß fahren ließ, brachte er in andrer Geftalt wieder hinein. Griefinger jagt, Haydn habe auch in der Quartettmufif nur Emanuel Bach als fein Vor: bild anerfannt. Das will heißen: er wandte Die Durchgebildetere Form der Glavierfonate auf dag Quartett an, deſſen Formen zu feiner Zeit noch viel willtürlichere und flüffigere waren, deſſen einzelne Süße eben nur erjt in den Umrifjen feititanden. Mit den Formen der Glaviermufif führte er ihnen auch wieder einen Theil ihres Geijtes zu. Was nun Emanuel Bad) in der Clavier- fonate gejchaffen hatte, das war nicht mehr Kammermuſik im italienifhen Sinne, fondern es war deutfche Hausmufif. Durd) die Webertragungen aus diefem Gebiete veredelte Haydn, wie durch einen Act der Transfulion, die Formen der deutjchen

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Spielmannskunft und reihte fie ala würdige Genofjen der Clavier- fonate num jelbft unter die deutſche Hausmuſik ein.

Aehnlicd liegt die Sache bei der Sinfonie. Sinfonia iſt ein Inftrumentalftüd, das eine Vocalcompofition einleitet oder unterbridt. Da bei Opern und Dratorien das umfangreichite Inſtrumentalſtück eben das einleitende war, jo bejchränfte ſich die Anwendung des Wortes mehr und mehr auf diefes, zumal fih ſeit Aleffandro Scarlatti eine bejtimmte, dreifägige Form für die Einleitungs - Sinfonie feitgeftellt hatte. Die Sinfonien jpielte man auch losgetrennt von ihren Opern als befondere Tonwerke. Aber das eigentlich entjcheidende für ihr Selbitändig- werden liegt nicht hierin, fondern wiederum in dem Verzicht auf den Generalbaß. Lange ſchon nachdem man die Sinfonie nicht mehr als Einleitungsftüd anjah, mochte man doc das accom- pagnirende Elavier nicht miffen. Auch Emanuel Bach's Sinfonien, foweit wir fie fennen, find noch mit Cembalo gejegt. Damit ftellte fi diefe Form immer noch gewiljermaßen auf den Boden der Kammermufifl. Haydn aber zeigte durch Weglaffung des Gembalo, daß er von einem jolchen Zufammenhange nichts mehr wiffen wollte. Offenbar war es auch hier der Gedanke an bie Volksmuſik, der ihn leitete. Man wolle bedenken, daß die damaligen Gapellorchefter mit ihren ſchwach bejegten Violinen, was den Totalklang betrifft, einem Orcefter von Volksmuſikanten mit einfach befegten Geigen nicht allzufern ftanden. Blieb nun gleich anfänglich auch die generalbaßloje Sinfonie noch auf die Privaträume der Fürften und Großen, auf die Klöfter und gejchloffenen Mufikgefellichaften angewiejen, jo trug fie doch ihon jett die Möglichkeit einer Entwidlung in fih, durch die fie zu einem Hauptbeitandtheil eines reichen öffentlichen Concert— weſens und fomit zur Grundlage einer ganz neuen Form ber Mufikpflege in Deutſchland wurde. Bon dem in der Entwidlung um ein Stüd vorausjchreitenden Streichquartett empfing die Haydn'ſche Sinfonie die feinere organische Ausbildung der einzelnen Sätze und dazu als vierten Sat das Menuett, durch das von

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Neuem der volfsthümliche Grund, auf dem fie ftehen jollte, ftarf betont wurde.

Es follen dies nur Andeutungen einiger der Wege fein, die, wie ich glaube, ein geichichtliches Werk, welches Haydn in jeinen Mittelpunkt ftelt, zu verfolgen, zu ebnen und zu ver: breitern hätte. Auf eine genauere Ausführung derfelben kann ih an diefer Stelle nicht eingehen. Ebenfowenig auf den hödhit interejjanten Organismus, den Haydn feinem Sinfonieordheiter fhuf, ebenfowenig auf feine Kirchenmufifen, Opern, Dratorien, Lieder. Zum Theil ift hierzu auch feine Veranlaffung, da die legte große Schaffensperiode des Meiſters, in welcher er ſich zum Oratorium einen befondern Weg bahnte, erſt in dem dritten Bande des Werkes zur Behandlung kommen müßte. Ueberall aber liegen ganz neue Kunfterfcheinungen vor, theilweife von abjhließender Vollendung, und wo dies nicht der Fall iſt, wenigjtens doch durch viele glänzende Eigenjchaften feſſelnd. Von Liede z. B. gilt dies in hohem Grade. Haydn's Lieder und Gefänge am Elavier find zum größeren Theile bewunderungs— würdig als Mufif. Gejangftüde mit Glavierbegleitung find fie nicht, ſondern Clavierjtüde mit nebenhergebendem Geſang. Wie er zu Ddiefer Eigenart kam, da er doch den hohen Rang der Singftimme völlig anerkannte und vortrefflid für Geſang zu jchreiben verftand, ift wieder eine Frage, die der Hiftorifer verjuchen müßte zu löjen. Kein Zweifel, daß Haydn's innerjtes Weſen mehr der inftrumentalen als der vocalen Muſik zuneigte. Aber vielleicht liegt der Schlüffel doch noch anderswo. In der eriten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts galten die Lieder oder, wie man vornehmthueriich jagte, die Oden eigentlich immer zugleich als Sing: und Spielcompofitionen. Dies hing zufammen mit der großen Bedeutung, welde damals die Tanzformen für den häuslichen Gejang Hatten. Man componirte ein Lied im Bau eines Menuett3; warum follte man es nicht zugleich als Spiel: Menuett benugen und zwei Fliegen mit einer Klappe Ihlagen? Diefe Art fand Haydn vor, und da fie zu feinen

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geheimften Neigungen ftimmte, fo behielt er fie bei und bildete fie weiter und freier aus.

Haydn's allgemeiner mufifalifcher Charakter wird von Pohl in einer Weije geſchildert, der man in den Hauptjachen völlig beiſtimmen kann. Es wäre vielleicht nüglich, unferer Zeit gegen- über einen bejtimmten Punkt nicht mehr fo ſtark herauszuheben, wie e8 bisher immer gejchehen ift. Ich meine Haydn's Neigung zu Scherz und Muthwillen. Die Leute fommen am Ende dahin, in ihm nur einen Spaßmader und, da man es außerdem liebt, ihn jih immer als alten „Papa“ vorzuftellen, gar wohl einen findifhen Spaßmader zu jehen. Man höre, was Mozart jagt: „Keiner kann Alles, jchäfern und erfchüttern, Lachen erregen und tiefe Rührung, und Alles gleich gut wie Haydn“. Seine Adagiojäge haben manchmal einen jo feierlihen, hymnenartigen und zugleih jchwärmerifchen Zug, wie er nur noch in den ihönjten Beethoven’schen Adagio's wiederzufinden ift. Von vielen Allegro's kann man, umeinen Beethoven’schen Ausdrud anzuwenden, jagen: fie jchlagen Funfen aus dem Mannesgeilt. Nur wenn man biefe erhabenen und hinreißenden Seiten der Haydn'ſchen Compofitionen mit den entiprechenden Beethoven's vergleicht, wird man inne, daß fie durch eine tiefinnere Freundlichkeit des Gemüthes gemildert find. Wenn man von Haydn dem Humorijten ſprechen will, wird man fich zuvor über die Bedeutung des Wortes zu verftändigen haben. Haydn hat das Wort „Humor“ in einer Unterredvung mit Dies felbit einmal gebraudt. Er versteht offenbar darunter: Uebermuth und frohe Laune. Wenn man aber Humor als jene jchillernde Stimmung erflärt, welche entjteht, wenn der Menſch fich einerjeit3 zu jouveräner Freiheit über die Welt erhebt, andrerfeits aber doch mit aller Luft und allem Leid der Erde fih aufs Innigſte eins fühlt, dann wird man Haydn nicht wohl den größten Humoriften im Reich der Töne nennen fönnen, wie Pohl diejes thut. Gewiß ift ihm diefer bejondere Humor nicht ganz fremd: im legten Sage der Abſchiedsſinfonie 3. B. ift er vorhanden. Aber im Ganzen war

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doch Haydn's Gemüth dafür zu naiv und harmonijch geartet. Der Mann, welcher für den Humor zuerjt den vollen mufifalifchen Ausdrud fand, ift und bleibt doch Beethoven. In Moözart's Muſik fehlt der Humoriftiihe Ton gänzlid. Haydn fteht auch in diejer Beziehung jenem näher als diejem.

Es ift dem verdienten Verfaſſer nicht bejchieden gemwejen, jein Werf, dem er die bejte Lebenskraft gewidmet, zu beendigen. Der Tod hat ihn abgerufen. Mögen geihidte und würdige Hände feine Vollendung übernehmen. Zu der einen dann gewonnenen vollitändigen und fihern Grundlage für das Studium Haydn's möge ſich als zweite recht bald eine Gejammtausgabe jeiner Werfe gefellen. Was bei Mozart durchgeführt ift, wird fich auch bei feinem ebenbürtigen ältern Kunftgenoffen ermöglichen (afjen, und noch größer dürfte hier die Zahl der bisher un- befannten Gompofitionen fein. Unjere Vorväter lebten in Zeiten königlichen Ueberfluſſes. So reichlich jtrömten die Kunftgaben auf fie nieder, daß es unmöglid” war, fie jämmtlich mit Würdigung zu genießen. Gegen jene Zeiten find wir Bettler geworden. So möge ihr überflüffiger Neihthum von uns nicht

ungenußgt bleiben.

„Deefhoveniana“,

$

Phtlipp Spitta, Zur Wufit.

u willen, auf welche Weiſe ein Meifterwerf der Kunft ent: ftanden ilt, kann für denjenigen gleichgültig fein, der ſich durh das Kunftwerk erfreuen und erbauen lafjen will. Frei fteht es da, und losgelöſt von feinem Schöpfer, und enthält in jeiner einfachen Erjcheinung Alles, was zum Verſtändniß nöthig it. Mehr über das Merk wiſſen wollen, als es ſelbſt uns jagt, fann den Eindrud ſtören, und ſich an dem Vorwitzigen rächen: es kann ihm die Fähigkeit des unbefangenen Genießens rauben. Eine andere Bedeutung hat die Frage nach der Entitehung des Kunftwerfes für die Wiſſenſchaft. Es iſt Schon wichtig, die äußeren Ereigniffe zu fennen, die den Künftler veranlaßt haben, feine Phantafie auf ein gewiſſes Ydeal zu richten, um alsdann zu beobachten, wie das Zufällige im Nothwendigen, das Vorüber— gehende im Bleibenden ſich aufgelöft hat. Ein Stüd vom Wejen der Schönheit wird jo entdedt. Gelingt e8 nun gar, den Vor— gang des inneren Werdens zu belaufchen, jo darf fich die Piycho- logie und Aeſthetik hiervon den größten Gewinn verjprechen. Freilih, will man zu allgemeingültigen Ergebniffen ge- langen, zur Erfenntniß von Gejegen, welche den einzelnen Fall bedingen, jo muß es möglich jein, Beobachtungen jener Art in großer Anzahl anzuftellen. Bis dahin bleibt die Verwerthung des Ergebnifjes unficher, oder man müßte im Stande fein, andere Kriterien zu finden, mittels welcher ich in jedem Ergebnif jondern 12*

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läßt, was Wirkung eines allgemeinen Gefetes, was Ausfluß der individuellen Künftlerperfönlichkeit ift.

Die Mufif bietet materiell und ideell dem wifjenfchaftlichen Begreifen größere Schwierigkeiten als eine der übrigen Künſte. Wenn ſchon im Allgemeinen der Act Fünftleriiher Empfängniß und das allmähliche Augreifen in der Phantafie mit dem Schleier des Geheimniffes umgeben ift, jo Fann leicht ermeſſen werden, wie dicht gerade bei der Muſik diefer Schleier erjcheinen muß. Selbitbeobadhtungen der Künjtler fehlen nun zwar nicht ganz. Sie find zum Theil gewiß werthvoll, führen aber auch leicht in die Irre. Je mächtiger die Phantafie erregt ift, deſto ftumpfer wird gleichzeitig das Beobadhtungsvermögen, und gerade von einigen der größten Künftler wiffen wir durch) eigene Neußerungen, daß fich die Grundidee des Werkes in ihnen fait im Zuftande der Bemwußtlofigfeit bildete Was fie darüber auszufagen im Stande waren, bezieht ſich meift auf Nebendinge. Oder aber, fie verfuchten ſich nachträglich in den durchlebten Zuftand zurüd: zuverjegen und verfielen dann in Selbfttäufchungen. Man hat Beifpiele, daß Künftler Hintennah ihren Werfen Beziehungen unterſchoben, die fie urfprünglich unmöglich gehabt haben können.

Se nad Begabung und Gewohnheit ijt bei den großen Muſikern die Art verjchieden gewejen, wie fie ein Kunftwerf äußerlich erkennbar zu Stande bradten. Bei einigen vollzog fih der Werdeproceß durchaus in verborgener Stille. Zu ihnen gehörte Mozart, der das Werk zuerft in der Phantafie ſich voll- ftändig geftalten ließ, ehe er eine Note niederfchrieb. Die jchrift- lihe Aufzeihnung war ihm alsdann eine mechanifche Arbeit, während welcher er fi unterhalten und Scherz treiben konnte; es ftörte ihn nicht einmal, wenn um ihn ber muficirt wurde: jo tief und unverwiſchbar jtand das Tonftüd in feiner Ein- bildungskraft eingegraben. Nur ausnahmsweije ift es vor: gekommen, daß er über eine Einzelheit beim Niederſchreiben noch nicht entichieden war. Die Dwverture zu „Figaro's Hochzeit“ - bietet ein Beifpiel: fie jollte anfänglich einen langjamen Mittel:

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fat befommen, den Mozart aber jchon wieder ftrih, ehe noch die Duverture vollftändig ausgeführt war. Skizzen, die ſich er- halten haben, zeigen ebenfall3 in der Regel das Stüd in feinen Umriffen vollitändig fertig; wenn im Augenblid der Ausführung noch Einzelnes unmittelbar entitand, fo gehörte es zu den unter: georbneten Dingen. In das Dunkel des Mozart'ſchen Schaffens bineinzuleuchten, ift aljo unmöglich. Aehnlich war es mit Franz Schubert beitellt, nur daß bier der Grad inneren Ausreifens augenſcheinlich geringer war, und jehr Vieles direct unter dem Niederjchreiben erfunden wurde. Bon Sebaftian Bad wifjen wir, daß er fih für eine geplante Compofition zuweilen vorher Einiges notirte. Im Allgemeinen war auch bei ihm ber Act des Schaffens ein innerlicher, nur fcheint er, wenn jchon mit gleiher Stetigkeit, fo doch langfamer fich vollzogen zu haben, als bei Mozart. Troß der großen Complicirtheit feines Ton- jages fennen wir wenige Fälle, wo er die einmal firirte Anlage eines Tonftüdes wieder verworfen hätte Auch in der Aus- führung der Einzelheiten tritt nur felten ein Schwanfen zu Tage. Häufiger nahm er Nenderungen vor, wenn er nad längerer Zeit auf ein Werk zurüdfam; allein für die Erfenntniß des Weges, auf dem es anfänglich jich gebildet hatte, wird durch den Nach: weis jolcher Aenderungen nichts gewonnen. Händel war viel- leicht der fchnellfertigfte aller großen Componiſten. Compofition und Niederjchreiben fällt bei ihm faft zufammen und immer ftellt ihon die erjte Niederfchrift das Stüd in allen Hauptzügen voll- ftändig feit; bei der Ausführung des Skizzirten wurde dann nur eine nochmalige Durchprüfung desjelben vorgenommen. Händel's Entwürfe bieten am allerwenigften ein Abbild des inneren Werden, nicht einmal die Anhaltspunkte, auf dieſes zurüdzufchließen. Dagegen haben wir in feinen Umarbeitungen eigener und fremder Compofitionen ein wichtiges Mittel, wenn fhon nit den Entitehungsproceß eines einzelnen Werkes, jo doch die allgemeinen Bedingungen fennen zu lernen, auf welchen die geitaltende Kraft feiner Phantaſie berubte.

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Wiederum ganz anders liegt die Sache bei Beethoven. Diejer hatte die Gewohnheit, die innere Arbeit des fünftlerifchen Schaffens durch äußere Firirung feiner Gedanken fortlaufend zu unterftügen. Er legte fich zu dieſem Zwecke eigene Bücher und Hefte an, die er mit fürzeren und längeren mufifaliichen Notizen, Verſuchen, Skizzen, Entwürfen anfüllte, nicht nur bei häuslicher Arbeit, jondern auch, wenn er nad feiner Neigung die Natur durdhichweifte. Eine jehr erhebliche Maſſe diefer Manufcripte iit erhalten geblieben. Der Erfenntniß, wie wichtig fie für die Beurtheilung von Beethoven’s Schaffen jeien, fonnte fi Niemand verjchließen, der von ihrer Eriftenz wußte. Aber erjt in unjerer Zeit hat man begonnen, die Quelle gründlid und planmäßig auszunugen. Es ift das Verbienjt Gujtav Nottebohm's (T 1882), hierin vorangegangen zu fein. In mehreren Schriften („Ein Skizzenbuch von Beethoven“, 1865; „Beethoveniana“, 1872; „Ein Skizzenbuch von Beethoven aus dem Jahre 1803”, 1880) bat er die Ergebnifje jeiner Forfchungen vorgelegt. Diejen Schriften gejellte fih dann eine Rublication von nachgelafjenen Auffägen Nottebohm's, welche E. Mandygzewsfi in Wien unter dem Titel „Zweite Beethoveniana“ im Jahre 1887 hat erfcheinen laſſen (Leipzig, I. Rieter-Biedermann). Es find im Ganzen 65 Aufſätze, und fie eritreden fich auf Beethoven’s gefammte Miener Zeit, vom Jahre 1792 bis zu feinem Tode 1827.

Wer ein Stüd Beethoven’s an fich vorüberziehen läßt, ei e8, daß er hingegeben nur genießt, jei es, daß er ruhig eindringend prüft, immer wird er von größter Bewunderung erfüllt werden über die feltene Formvollendung, die ſich mit höchiter Freiheit individuelliter Bewegung paart. Ein jedes fteht hier an feinem Orte; Alles iſt unlöglich feit in einander gefügt; in vollflommener Einheitlichkeit organischen Wuchjes jchreiten auch die riefigiten Kunſtgeſtalten jo leiht und ficher dahin, daß man meinen möchte, fie hätten niemals anders jein fönnen, die Naturfraft des Genius habe fie, einer inneren Nothwendigfeit gehorchend, mühelos aus fih herausgeitellt. Es iſt das erite und unwiderſprechlichſte Er-

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gebniß der Skizzenbücher, daß dies ganz und gar nicht der Fall geweien iſt. Das Schaffen Beethoven’3 ging nicht nur ſchwer und langfam, fondern auch jtüchweife und in einem Grade un- zufammenbängend von Statten, daß es unerflärlich fcheinen will, wie auf diefe Weiſe organifche Einheiten entitehen fonnten. Dazu macht fih, im ftricteften Gegenjage zu Händel, ein un: ftäte8 und capriciöjes Weſen bemerkbar, das ſich zunächſt feinem Gegenftande nur an- und abjpringend nähert, bald diejes, bald jenes in Angriff nehmen möchte und daher nothwendig zur jchrift- lihen Aufzeichnung flüchten muß, um das in ſolch' verworrenem Thun Gewonnene fich nicht wieder unter den Händen zerrinnen zu jehen. Wenn wir die eriten firirten Entwürfe zu Compo: fitionen, die wir als im Glanze höchſter Vollendung jtrahlende Kunitwerfe kennen, vergleichen mit dem, was endlich aus ihnen gemorden ift, jo finden wir, daß jene embryonifchen Weſen häufig nicht nur unbedeutend und alltäglich ausjehen, jondern auch mit den legten Rejultat der Entwidlung manchmal faum eine Nehnlich- feit haben. In anderen Fällen find fie unbehülflih und unjchön. Da wir für Beethoven’3 Schönheitsfinn an jeinen ausgereiften Werfen einen fiheren Mapitab haben, jo ift die Annahme aus: gejchloffen, daß fie, fo wie fie dajtehen, ihm felbit zu irgend einer Zeit gefallen haben fünnten. Er muß in ihnen Etwas gejehen haben, was dem fremden Auge unerfennbar iſt, Andeutungen eines Ideals, das ihm zur Zeit nur erſt wie ein dunkles, un- deutlih umrifjenes Etwas vorjchwebte. Dann kann man in jpäteren Aufzeichnungen verfolgen, wie der erite Entwurf an- fängt, individuellere Züge anzunehmen. Aber auch bei begonnenem Ausbildungsproceh geht es noch feineswegs gerade aufs Ziel (08. Es wird erperimentirt, geändert, oftmals in einer be- jtimmten Richtung hartnädig weiter geitaltet, dann das ganze Reiultat plöglich verworfen und die Formung auf anderem Wege versucht. Die Arbeitsmethode iſt die gleihe, mag es fi um große oder Heine Kunitformen handeln. Ganz einfach) conftruirte Stüde, wie der allbefannte Trauermarich aus der As-dur-Sonate

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(Op. 26), das Variationenthema aus dem Cis-moll-Duartett, das mit feiner einfachen Innigfeit unmittelbar, wie eine In— jpiration, dem Gemüthe entquollen zu fein ſcheint fie konnten nicht zu Stande fommen ohne mühjeliges Ringen und wieber- holtes Anjegen. Zu der Melodie „Freude, ſchöner Götterfunten“, welche den Kern des Finale der neunten Sinfonie bildet und gewiß von ausgefuchter Einfachheit ift, lernen wir mehr als ein Dutzend verſchiedener Verfionen fennen; das Lied „Die ftille Naht umdunkelt erquidend Thal und Höh“, liegt in jechzehn mehr oder weniger von einander abweichenden Anfängen vor. Bei dem kleinen Goethe'ſchen Gedicht „Trodnet nicht, trodnet nit Thränen der ewigen Liebe!”, das auch erit nach vielen Verſuchen die endgültige muſikaliſche Geltalt gewann, ſcheint Beethoven jogar in der Mitte zu erfinden angefangen zu haben; wenigitens gehören die zuerjt notirten Töne zu den Worten: „unglüdlicher Liebe!" und: „Ah, nur dem halbgetrodneten Auge, Wie öde, wie todt die Welt ihm erſcheint!“ Konnte aber ſolches bei der Eleinen Form gejchehen, jo darf es nicht weiter Wunder nehmen, daß er 3. B. auch im Liederfreis „An die ferne Geliebte” die einzelnen Gedichte nicht der Reihe nad) componirt, jondern fie durdheinander in Angriff nimmt, und ohne das Angefangene zu vollenden, von diefem zu jenem herüber und hinüber jpringt.

Daß es Beethoven überhaupt liebte, an verfchiedenen Werken gleichzeitig zu arbeiten, willen wir aus jeinen eigenen Worten. „So wie ich jegt jchreibe, mache ich oft drei, vier Sachen zu- gleich,“ jteht in einem Briefe vom 29. Juni 1800 an den be- freundeten Dr. Wegeler zu leſen. Die Sfizzenbücher liefern hierzu die Belege, und mit einer Deutlichfeit und Ausgiebigfeit, wie fie in Beethoven’S Worten niemals hätten gefunden werden fönnen. Auch ergibt fih, daß er dieſe Art, zu arbeiten, nicht erit um das angegebene Jahr annahm. Schon um das Jahr 1794 arbeitet er zugleich an zwei Glaviertrios und einem Gejang- ftüd. Bei den fogenannten Raſumoffsky'ſchen Streichquartetten

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(1806) bemerft man, daß er ſich gleichzeitig mit verfchiedenen Sätzen der erften und zweiten, jowie des zweiten umd dritten Quartetts beſchäftigt. Ebenfo verfuhr er bei jeinen legten Com— pofitionen, den großen Streichquartetten von 1825 und 1826: an allen Hauptftüden des fiebenjfägigen Cis-moll-Quartetts war er durcheinander thätig. Hierbei kommt es denn gar nicht jelten vor, daß einzelne Gedanken, ja ganze Sätze urjprünglid andere Beitimmungen hatten, al3 ihnen endgültig zugewiejen wurden.

Dagegen ereignet es fich auch, daß Beethoven eine Melodie gleich anfangs fait durchaus in der Form erfaßt, die ihr jchließlich zu eigen geblieben ift, alſo fein Ideal jchon beim erſten Aufblid in heller Klarheit zu ſchauen befommt. Dann aber ftellen ſich Zweifel ein; er verläßt das Gefundene, jchweift juchend anders: wo umher und fehrt erit ſpäter nad) manchen Jrrgängen zur erften Form zurüd. Bei dem Gedicht Goethe's „Kleine Blumen, fleine Blätter” ift e8 ihm jo ergangen. Ebenſo erfolgt mand)- mal die Compofition eines mehrjägigen Stüdes ganz regelrecht Schritt vor Schritt und Sat nad Satz. Aber dann find zu— weilen, wie in ber A-dur-Sinfonie,. die Gedanken zuerjt ganz andere, al3 wir fie in ber fertigen Compofition finden. Ferner werden die Gedanken für einen bejtimmten angeftrebten Zwed nicht immer neu erfunden. Altes unbenugtes Material fommt wieder zum Vorſchein. Wir finden, daß das fchöne Hauptthema des langjamen Sapes der A-dur-Sinfonie ſchon ſechs Jahre früher entitanden ift, als es in der Sinfonie feine Verwendung gefunden hat, und das Thema zum Scherzo der neunten Sinfonie war zwei Jahre früher da, als Beethoven fi) zur Compofition diefer Sinfonie überhaupt anjchidte.

Beethoven’s Genius äußerte fih nicht wie ein breit aus: ſtrahlender Lichtitrom, jondern wie ein intenfives Glühen und unrubiges Funkenſprühen. Fort und fort löften ſich aus feiner Phantafie die entwidlungskräftigen Keime los, von welchen er gewiß nur die bedeutjamften in jeine Skizzenbücher eingetragen hat. Aber jelbit dieje ließ er zu einem großen Theile ungepflegt

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zu Grunde gehen. Es iſt eritaunlid, wie viele Gedanken und Entwürfe uns in den Aufzeichnungen begegnen, aus denen er nichts gemacht hat. Vieles, dem man es nicht anficht, welche Potenz es in fih barg. Anderes von jchon entwidelter hoher Schönheit. Weit ausfchauende Pläne in folder Anzahl, daß Nottebohm zu der Behauptung berechtigt war, hätte Beethoven jo viel Sinfonien gejchrieben, als er angefangen hat, jo befäßen wir ihrer wenigſtens fünfzig. Dieſes Funfenwerfen des Genius fam auch nicht zu Ruhe während der zielbewußten Ausarbeitung jeiner Werfe. Als er das C-dur-Quartett fchrieb, das dritte der Rajumoffsfy’ichen, bliste plöglih das Thema des zweiten Sates der A-dur-Sinfonie auf, weldes glüdlicherweije nicht wie hundert andere Keime zum Abfterben beftimmt war. Man fann bemerken, daß gerade gegen die Beendigung eines Werkes hin eine bejonders große Menge neuer Anjäge und Gedanken zur Erfcheinung fommt, und daß gerade fie dann meiftens un: benußt bleiben. Die Erklärung des Phänomens liegt wohl nicht fern. Der fiegreihen Vollendung eines Werkes nahe, fühlt ſich der Künftler ftolz, glüdlih und gehoben. Bei Beethoven äußerte ih dieſes Gefühl in einem ftärferen Yunctioniren feines eigen: thümlihen Bhantafielebend. Der Schwung, mit dem er im Siegeslauf ans Ziel gelangte und mehr als bei Andern fann bei ihm vom Sieg die Nede jein zerjtäubte in einem gligernden Regen neuer Gedanken. Aber weil fie ihren Anlaß hatten in einem Merk, das nunmehr endgültig abgethan war, blieb auch ihnen die Weiterentwidlung verjagt.

Diefe Unbehülflichkeit, Mühfal und Unraſt im Bearbeiten der Materialien, und diefe gewaltigen, wie für die Ewigfeit ge: fefteten Gebäude der vollbrachten Kunjtwerfe welche Gegen: jäge! Wie war es möglih, daß derſelbe Mann, den wir zeit: lebens im Schmweiße feines Angefihtes mit dem Stoffe ringen ſehen, dieſe königlichen Geftalten jchuf, die ihn unter die größten Künftler aller Völker und Zeiten erheben? Wir fragen; aber die Thatjahe liegt vor, und wir müſſen ihr gerecht werden.

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Mozart hat in einem Briefe, deſſen unverfälfchten Tert wir nicht befigen, an deſſen echtem Kern ich aber nicht zweifeln möchte, gejagt, wenn er ein Stüd im ſich geitaltet habe, dann höre er e8 in der Einbildung nicht nach einander, wie es hernach fommen müfle, jondern wie gleich Alles zufammen, und das fei für ihn jelbit das Schönfte. Hiermit ift der Kernpunft fünit- leriſchen Schaffens haarſcharf bezeichnet: jenes Einheitsgefühl, das auch bei der Vorftellung der entlegenften Einzelheit ſtets in voller Stärfe fortdauert, Alles aus ſich entläßt und wieder auf fih bezieht und wie in einem Brennipiegel auffängt. Nur jo fann ein Kunjtwerf entitehen, und darum muß auch Beethoven diefes Gefühl gehabt haben. Es ift aber damit doch vereinbar niht nur, daß ihm eine Menge Gedanken famen, denen er einjtweilen feine höhere Beftimmung gab dies dürfte ſich bei allen Eomponiften ereignen jondern auch, daß er auf niederen Stufen des Entwidlungsprocefies das Einheitsgefühl über der Beihäftigung mit dem Einzelnen leicht wieder verlor, und es dann jpäter mit erneuter Anftrengung in fi weden mußte. Daß dem fo gewejen ift, fteht nach dem Ausweis der Skizzen: bücher außer alleın Zweifel. Es läßt fich nachweijen, daß einzelne Sätze der Uuartette, Soyaten anfänglich, und noch nachdem ihre Ausgeitaltung ſchon ziemlich weit vorgejchritten war, für einen ganz andern Zufammenhang, zum Theil auch für anderes Ton- material bejtimmt waren. Das Rondo der Sonate pathetique Op. 13 war zuerſt ein Stüd für Violine (mit Clavier); der legte Eat des großen A-moll-Quartetts Op. 132 iſt aus zurüd: gelegten Entwürfen zum Finale der neunten Sinfonie entitanden. In diejes jelbe Quartett jollte nah dem früheren Plane ein Sat eingefügt werden, der endlih im großen B-dur-Quartett jeinen Plag erhielt. Dergleichen ift doch nur möglich bei völliger Aenderung des Planes, oder, was ziemlich auf dasjelbe hinaus: fommt, wenn der Künftler das als Ganzes entworfene Werk in jeine Theile auseinanderfallen läßt. Die neben: und durch— einander laufende Beſchäftigung mit drei, vier und mehr Stüden

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zu gleicher Zeit, die manchmal geradezu chaotisch erfcheint, ift auch nicht anders denkbar, und wenn Beethoven viermal zu ver: ichiedenen Zeiten anjegt, eine Duverture (C-dur Op. 115) zu componiren und ſtets mit Benußung derjelben Hauptgedanfen, jo ift es dieſelbe Erjcheinung. Bei folder Veranlagung be: durfte es eines außergewöhnlich energiichen Willens und eines hohen künſtleriſchen Pflichtgefühles, um zum Ziele zu fommen. Beethoven bejaß dieſe Eigenjchaften. Er ermüdete nicht, das kleinſte Tongebild jo lange zu formen, bis es feiner Idee völlig entſprach; er lieh es fich nicht verdrießen, immer von Neuem die eigene Unruhe zu zähmen und klomm jo oft die Höhe ordnender Umſchau binan, bis e8 ihm endlich gelang, ſich oben zu be- haupten. Wie wir von dem jähen Umfchlag der Empfindungen wiffen, welcher ihm im Leben eigen war, fo konnten ſich aud die Anſchauungen feiner Phantafie bligfchnell verbunfeln ober in ihr Gegentheil verkehren. Ein Beifpiel von überzeugender Beweiskraft findet fi in ben Skizzen zum großen Es-dur-Quar- tett Op. 127. Das Adagio mit den nachfolgenden Variationen gehört zu dem ſchönſten jener nur Beethoven eignen mweihevollen Geſänge, in denen die Seele, von allem Erbenleid fich löſend, feierlich andacdhtsvoll dem Ewigen entgegenfchwebt. Man hält e3 für unmöglih, daß in diefe reine Höhe auch nur ein Laut des Irdiſchen heraufdringen könne. Und doch, was gefchieht? Nachdem Beethoven eine Meile am Adagio gearbeitet hat, kommt plöglich jein Dämon über ihn. Er verändert Tonart und Zeit: maß und verwendet das Thema zu einem beiteren Allegrojat, in dem fein Humor die pofirlihiten Sprünge ausführt. Und wie die lange Ausführung des Sates andeutet, ſcheint er ernit- ih gewillt gewejen zu fein, ihn als felbitändigen Theil dem Quartett einzufügen. Iſt nun auch ein Fall eines jo crafjen Umſchlags nicht zum zweiten Male befannt geworden, fo liegt doch das jtete Hin und Her zwiſchen Ernft und Scherz im Wejen des Humors, jene® Humors, den Beethoven zum eriten Male in der Muſik zum umfaſſenden Ausdrud gebradt hat. Diefes

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fönnen und dabei doch die beherrfchende künſtleriſche Ruhe nicht verlieren, erforderte eben ein übergewöhnliches Maß von Kraft und Anftrengung.

Ale großen Meifter vor Beethoven: Händel und Bad, Haydn und Mozart, auch Beethoven's Zeitgenoffen: Spohr, Weber und Schubert, fonnten bis zu einem gewiſſen Grabe componiren, wann fie wollten. Goethe’3 goldenes Wort: „Gebt ihr euch einmal für Poeten, jo commandirt die Poefie”, war ihnen auf ihrem Gebiete eine Wirklichkeit. Gelang nicht Alles gleich gut, fie hatten doch den Genius gewöhnt, folgfam zu fein, und ganz verjagte er fich ihnen nie. Diefe Macht ſelbſtgewiſſer Künftlerfchaft hat Beethoven nicht bejeffen; er lag bei jedem neuen Werfe mit feinem Dämon im Kampfe. Zu Zeiten wurde er leichter Herr über ihn, und es mag nad ſolchen Erfahrungen gewejen fein, wenn er 1810 einmal die Notiz macht: „Sich zu gewöhnen, gleih das Ganze alle Stimmen, wie es ſich zeigt, im Kopfe zu haben”, demnach den Verſuch wagen wollte, fi) von der Stüße der Sfizzenbücher zu befreien. Der Verſuch ift erfolglos geblieben. In feinen fpäteren Lebensjahren, wo bie Kraft der Intuition vielleicht etwas nachgelaffen hatte, wird das Ringen immer angejtrengter. Er hat e8 damals jelber aus- geiprochen, daß er fich jcheue, ein neues großes Werk in Angriff zu nehmen. Obgleich er von jeher fein Geſchwindſchreiber war, jo ift doch früher nie Nehnliches bei ihm vorgekommen, wie bie Arbeit an der neunten Sinfonie, die ſechs Jahre, und an der großen Mefje, die vier Jahre dauerte. Häufiger jcheinen die Fälle zu werden, in denen das Endergebniß der Compofition nicht ganz der urjprünglichen Abficht entipricht. Die Mefje wuchs ihm unter der Arbeit zu jo ungeheuren Verhältnifien an, daß fie eben als Meſſe unbraudbar wurde. Ueber die Forın des Schlußſatzes der neunten Sinfonie war er lange ſchwankend, und als er ihn endlich vollbracht hatte, jo wie er nun dajteht, fühlte er fih von feinem Werf nicht befriedigt. In den legten Quar— tetten verlor er häufig die Rüdfiht auf das Tonmaterial aus

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den Augen. Schon früher fol er, als ihm Schuppanzig einmal Voritellungen machte, gefagt haben: „Glaubt Er, dab id an eine elende Geige denfe, wenn der Geift zu mir jpricht, und ich es auffchreibe?” Aber daß es eben diefer „eilt“ jo über ihn davon tragen Fonnte, ift das Bedenkliche. Denn die Geftalt der Tongedanfen wird dur das Material bedingt, in dem fie Er- jcheinung werden, und in den meilten von Beethoven's früheren Anitrumentalwerfen ijt nicht weniger zu bemerken, als eine Vernadhläffigung der Klangwirkung.

Nun ift freilich nicht zu leugnen, daß aud) aus früheren Jahren Fälle vorliegen, in denen mit aller Bejcheidenheit gegen den großen Genius jei es gefagt das legte Reſultat der Arbeit nicht auch das denfbar bejte geweſen zu fein jcheint; Fälle, in denen Beethoven eine lange Reihe von Verſuchen an- geftellt und endlich eine Entjcheidung getroffen hat, welche wir nicht begreifen. Aber wie verſchwindend klein ift durch fein ganzes Leben ihre Zahl im Vergleich zu den ungezählten Bei- jpielen, wo feine Kritik endlich mit inftinctiver Sicherheit das Beite, ja allein Mögliche getroffen hat. Wie da in unermüdlicher Arbeit nah und nad alle Schladen abgelöft werden und ber Kern in immer glänzenderer Schönheit erjtrahlt! Wie e8 oft nur ein jcheinbar geringer Zug iſt, deſſen Hinzufügung ober Wegnahme plöglih das Geficht einer Tongeftalt vollftändig ver: ändert! a, wie bei Compofitionen größter Gattung Alles, was ihnen ihre charakteriftiiche Phyſiognomie verleiht, in den eriten Entwürfen noch fehlt und erjt allmählich, Zug nad Zug, zum Vorjchein fommt! Die Skizzen zur Eroica-Sinfonie bieten dieſes wunderſame Schauspiel; fie erhärten aufs Kräftigite die Wahrheit der oben ausgeſprochenen Anficht, daß die Aufzeichnungen der Sfizzenbücher für Beethoven vielfach etwas ganz Anderes bebeuteten, als fie andern Sterblichen zu fagen jcheinen. Denn es iſt unmöglih, daß gerade die auszeichnendften Merkmale eines Kunſtwerks jeiner Uridee nicht immanent gemwejen, fondern erit jpäter von außen an das Werk hinangearbeitet fein follten.

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So lebten fie denn auch als unſichtbare Potenzen in den un- icheinbaren Skizzen, nur dem Auge des Schöpfers wahrnehmbar. Das aber ift nun ein Hauptgewinn des geöffneten Einblids in Beethoven's Geifteswerkitatt, daß wir dasjenige Element Elarer veritehen lernen, welches man wohl das Ethos feiner Compofitionen nennen kann. Ihre reinigende und adelnde Kraft, jene Wirkung, die den Hörer mit dem Gefühl, er jei ein befjerer Menſch ge: worden, von dannen gehen läßt, fie entipringt zunächſt und vor Allem der Art, wie diefe Kunſtwerke jelbit zu Stande gefonmen find. Nicht äußerlich an fi, wohl aber tief in ſich tragen fie die Gejchichte ihrer Entitehung. Sie wollen es durd feinen Laut verrathen, aber wir leſen es in allen ihren Zügen: nur im fteten heißen Kampf, nur durch Eroberung Schritt vor Schritt it das gewonnen, was nun daiteht, frei, jomweit e8 menschen: möglich ift, von jedem unreinlichen Erdenreft. Diejes jtete Ringen und Streben ihres Schöpfer fuchte feine äußeren Güter; es galt dem Seal, und ein Gott trieb den Künstler, zu feiner Crreihung das Neußerfte daran zu ſetzen. Man hat das Ethos der Eompofitionen Beethoven's unmittelbar aus jeinem perjön- lihen Charakter ableiten wollen. Im legten Grunde hängt es ja mit ihm zujanımen, aber erklärt ift dadurch wenig oder nichts. Auch Händel bejak Größe und Reinheit der Empfindung in gewiß nicht geringerer Stärfe als Beethoven. Dennoch ift die Wirkung jeiner Compofitionen eine gänzlich verfchiedene. Auch fie wird uns aus der Art feiner Arbeit verjtändlich; es find oben einige Andeutungen über fie gegeben. Er war wie ein mächtiger Herrſcher, dem Alles auf den Winf gehorcht. Beethoven aber war ein fiegreicher Streiter.

Allbefannt it, wie Beethoven den legten Sat der neunten Sinfonie eingeleitet hat; ihm führte dabei die Abjiht, auf den Eintritt des Gejangs vorzubereiten, der diefem Inſtrumental— werf die Krone aufjegen ſollte. Kurze Sätze des Orcheiters wechjeln mit recitativartigen Phraſen der Inſtrumentalbäſſe. Der erfte jener Sätze ift nur ein wildes Toben: es jcheint Alles

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aus Rand und Band gerathen zu fein; in den andern treten die Anfangsthemen der erften drei Sätze der Sinfonie nach einander auf, denen aber die recitirenden Gontrabäffe und Violoncelle alabald ins Wort fallen. Dann erjcheint die Melodie des Liedes „Freude, jchöner Götterfunfen“ und wird durchgeführt, zumächit nur vom Orcheiter; die Durchführung bricht ab, der durchmeſſene Entwidlungslauf wird durd erneutes Toben der Inftrumente nochmals angedeutet, nun aber wird diejes unterbroden durch die Menjchenftimme ſelbſt: „O Freunde, nicht diefe Töne! fondern laßt uns angenehmere anftimmen und freubenvollere.” Damit ift die Brüde geichlagen, und Schiller’ 8 Hymnus beginnt. Aus den Skizzen geht hervor, daß ſich Beethoven anfänglid mit einem Plane trug, dem die endliche Ausführung wohl der all- gemeinen dee nach entjpricht, der aber fonft noch mancherlei Anderes in ſich barg, was zur Erhellung des Werdeproceſſes dienen fann. Es finden fi dort fpäter unbenußgt gebliebene Morte, die zur Tertunterlage für ein Baßrecitativ beftimmt waren, und dieſes Necitativ wiederum follte die Einleitung des ‚inales bilden. Die Worte find nicht überall lesbar, aber der Sinn der Sätze iſt doch ganz verſtändlich. Hier das Mefentliche. Zunädjit lejen wir: „Nein dieſe [Töne] erinnern an unfere Ver: zweiflung“, was offenbar mit jenem tobenden Orcheſterſatze zufammenbängt, der das Finale eröffnet. Dann heißt e8 weiter: „Heute ift ein feierliher Tag, dieſer ſei gefeiert durch Gejang und [Spiel].” (Das Orcefter ftimmt den Anfang des erften Satzes an.) „OD nein, diejes nicht, etwas anderes, gefälligeres itt e8, was ich fordere.” (Der Anfang des Scherzo erklingt.) „Auch diefes nicht, iſt nicht beifer, fondern nur etwas heiterer.“ (Das Adagio wird begonnen.) „Auch diefes es ift zu zärtlich, etwas aufgewedtes muß man fuchen; ich werde helfen, daß ich jelbft euch etwas vorſinge“; (das Orcheſter fpielt den Anfang der Melodie: „Freude, ſchöner Götterfunfen“) „dieſes iſt es, ba! es iſt num gefunden!” (der Singbaß felbit ftimmt an:) „Freude, ihöner Götterfunfen.” Man betrachte dieſen Entwurf im Lichte

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der über Beethoven’3 Schaffen oben gemachten Mittheilungen. Man beachte, daß gerade das Finale der neunten Sinfonie ihm außergewöhnlich viel Mühe gemacht hat; daß er urjprünglich die Verwendung von Menfchenftimmen gar nicht beabjichtigte; daß die Arbeit an diefer Sinfonie überhaupt durchkreuzt und geftört wurde durch den Plan zu einer andern, in welcher, wie es jcheint, ein Geſangſtück den eigentlichen Kern bilden jollte; daß er andererjeits fih mit dem Gedanken, die Schiller’jche Hymne im großen Stile zu componiren, jchon dreißig Jahre ge- tragen, und zehn Jahre vor der neunten Sinfonie ſchon energiich, aber dennoch vergeblih dazu angejegßt hatte. Es iſt wohl be- greifli, daß er bier, wo er wegen einer geeigneten Anknüpfungs- weife in einer äfthetiich jehr gerechtfertigten Verlegenheit war, den Einfall hatte, jenen fünftlerifhen Werdevorgang, den er jo oft mit Anftrengung durchgemacht und der ihn endlich immer aus der Dämmerung des Zweifels in das Licht fiegreichen Ge— lingeng geführt hatte, einmal in das Kunſtwerk jelbjt einzubeziehen. Er ſetzte fih damit freilich wieder über ein anderes Geſetz hin» weg, welches fordert, daß an dem vollendeten Kunſtwerk alle Spuren jeines Werdens getilgt jein jollen, ein Geſetz, dem er ja jelber jonft aufs Strengite nachzuleben pflegte. Er war ſich dejfen wohl aud bewußt und juchte bei der endgültigen Faſſung der Finaleinleitung die Darftellung des Vorganges dadurch zu verjchleiern, daß er ſtatt der Menjchenitimme nah Möglichkeit nur die Inſtrumente reden ließ.

Die Zeitgenoffen Beethoven's waren voll von Bewunderung über die hinreißende Macht feiner freien Phantaſie. Unerichöpflich joll die Fülle der Ideen gewejen fein, die ihm zu Gebote ftanden, wenn er ſich am Elavier feinen unmittelbaren Eingebungen überließ, und bezaubernd jchön ihr Wejen. Dies ſcheint im Widerfpruche zu ftehen zu der mühjamen Arbeit, mit welcher er nachweislid) jeine Gedanken in die Form brachte, in welcher fie jagten, was er meinte; ein tieffinniger Grübler, der für feine Idee die Faſſung

nicht findet, und trogdem in glänzender Rede die Hörer zu paden Philipp Spitta, Zur Muflt. 13

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weiß! Allein ein jchnell vorüberraufchender und auf immer entjchwindender Erguß der Phantafie kann jener Vollendung der Form entrathen, die für das zur Dauer beitimmte Kunftwerf gefordert werden muß. Wir find nicht zu der Annahme ge- zwungen, daß Beethoven’s freie Phantafien von derjelben inneren Durdbildung gemwejen find, wie jeine niedergefchriebenen Com: pofitionen, und wäre die Vermuthung zutreffend, daß die befannte Clavierphantafie Op. 77 etwa ein Bild davon gäbe, wie er zu improvifiren liebte, jo läge der Beweis des geringeren Werthes folher Improvifationen vor Augen. Ihre Wirkung kann dennod geweſen jein, wie fie ung gefchildert wird: die Perſönlichkeit des Componiften, fein feuriger Vortrag, der Eindrud der unmittelbar bervorjtrömenden Erfindung, alles dies wird fie zu einen wejent- lihen Theile bedingt haben. Ein Anderes jedoch kommt Hinzu. Es fann feinem Zweifel unterliegen, daß die Bewährung un- umſchränkter technischer Meiiterfchaft in dem Künftler ein Gefühl des Glüdes erzeugt, welches jeine Vhantafie für eine gewiſſe jchöpferifche Thätigkeit befonders günftig disponirt, daß demnach Beethoven ſchon durch diefes Mittel während des Spielens auf mancherlei Gedanken geführt wurde, welche ſich bei der inneren Meditation ſchwerer, oder überhaupt nicht einftellten. Außerdem aber wedt allein jchon die Berührung mit dem Klange in dem Künftler den Trieb zur Production. Wir willen, daß Joſeph Haydn, wenn er componiren wollte, fich zuvor am Clavier phanta- firend erging und alsdann die beiten Gedanken, die ihm unter dem Spielen gekommen waren, auffchrieb und ausarbeitete. Es iſt das etwas volllommen Anderes, als jenes dilettantifche Com: poniren am Glavier, bei dem endlih nur gemacht wird, was die Finger wollen und Fönnen. Sollte Haydn's Beifpiel nicht genügen, jo kann auch auf Sebaftian Bach hingewieſen werben. Diefer war gleichfalls einer der größten Meifter der Jmprovijation, aber die Erfindung war ſchwerflüſſiger, als bei Perfönlichkeiten wie Händel und Mozart. Wenn er frei vor Zuhörern phanta- jiren wollte, jo liebte er es, jich vorher gleichſam warm zu jpielen:

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er trug fertige Muſikſtücke vor, und was bei feiner erftaunlichen Originalität gewiß höchſt merkwürdig am liebften Stüde fremder Componiften. Dann erit, wenn ev jo in fünftlerifche Erregung gefommen war, eröffnete der eigene Born feinen ganzen Reihthum. Indem dergeitalt bei der mufifalifchen Improvifation noch andere Factoren mitwirken, als beim jtillen innerlichen Schaffen, iſt es auch jehr wohl möglih, daß Beethoven's Er- findungsgabe ſich hier in anderer Weife geäußert hat, als es una aus den niedergejchriebenen GCompofitionen befannt ift, und daß während des Phantaſirens Schönheiten aufleuchteten, in deren Weſen es bedingt war, nicht aufgezeichnet werden zu fönnen.

Aus dem Anhalt der Skizzenbücher, welchen Nottebohm’s Fleiß der Welt erfchloffen hat, habe ich nur eine befonders wich- tige Erjcheinung hervorheben und der Betrachtung unterziehen wollen. Was durch fie für die Chronologie der Compofitionen, für die Umarbeitung bereits abgejchloffener Werke, für die poe- tiſchen Beziehungen von manden, für Leben und Perſönlichkeit Beethoven's jonit noch gewonnen werden kann, ijt außerordentlich viel und wird nicht leicht erfchöpft werden. Man kann voraus- jagen, daß die hier geöffnete Duelle für die nächſte Epoche der Beethoven: Forichung die wichtigite jein wird.

Die ältefte Fauft-Oper und Goelhe's Stellung zur Auſik.

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Die ättefte Fauft-Oper und Goethes Stellung zur Auſik.

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I.

rm bat Spohr im Jahre 1813 eine Oper „Fauſt“ geſchrieben. Sie gilt Vielen als der erite Verfuch, den Stoff mufifalifch-dramatifch zu behandeln, und bei jonft vor- züglich unterrichteten Schriftitellern fann man leſen, daß der Tert eine Nachbildung des Goethe’ihen Fauft ſei. Das Eine iſt jo wenig richtig wie das Andere. J. K. Bernard, ein Wiener Literat, welcher für Spohr das Gedicht lieferte, hat Goethe fait gar nicht berücfichtigt, jondern fi) unmittelbar an das Volks— ſchauſpiel oder andere ältere Bearbeitungen der Sage, ein wenig auh an „Fauſt's Leben, Thaten und Höllenfahrt“ von F. M. Klinger angelehnt. Fauft hat dem Mepbiftopheles jeine Seele verjchrieben mit dem Hintergedanken, daß e8 feiner Klugheit im Laufe der Zeit ſchon gelingen werde, fi) den hölliichen Banden zu entziehen. Die ihm verliehene Macht will er nun verwenden, um auf Erden Gutes zu thun, das Elend der Menjchheit zu lindern, die Unſchuld zu jchügen, den Frevler zu trafen. Aber der Geiſt ift willig, das Fleifh iſt ſchwach. Bei jedem Verſuche triumphiren jeine Selbitfuht und Sinnlichkeit, von Mephifto- pheles angejtachelt, über die edlen Vorſätze. Zwiſchen großen Morten und Fäglihem Thun auf» und niedergezogen, gelangt diefe Buppe endlich an das Ziel ihrer Beitimmung. Die „Grund: idee” des Stüdes ift die Moral, daß man gute Zwede nicht

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mit jchlechten Mitteln verfolgen fol. An diefem Faden ijt eine Anzahl von jehr anziehenden und ergreifenden Situationen auf: gereiht. Die Unabhängigkeit vom Goethe’ihen „Fauft” kommt dem Bernard'ſchen eher zu Nugen, als daß fie ihm jchadete. Jeder Vergleich iſt von vornherein ausgeſchloſſen. Wenn die gebildete Welt allgemeiner zu der Einficht gelangt fein wird, daß das alte Volksſchauſpiel, welches Hinter Goethe's „Fauſt“ jteht, auch ohne dieſen noch feinen Werth behalten hat, wird es, wie ich glaube, möglich fein, die Oper von Bernard und Spohr wieder mit Erfolg aufzuführen, wie folches geſchah in der Zeit, ehe Goethe's Dichtung ſich ihren Pla auf der Bühne eroberte. Wir würden damit ein Tonwerk zurüdgewinnen, das, wenn aud) die eigentlich dramatifche Ader in ihm nicht ſtark pulfirt, doch dur Adel, Reihthum und Eigenart auf einen hervorragenden Nat unter den deutichen Opern Anſpruch machen fann.

Die erjte Fauft-Oper aber ift ſchon im legten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts entitanden, zu einer Zeit alfo, da der erite Theil von Goethe’ „Fauſt“ noch gar nicht erfchienen war, und dennoch ſteht fie mit Goethe's Gedicht in einem engen und jonderbaren Zufammenhange. Die geichriebene Partitur der Oper ift jeit Jahren in meinem Belig, und es könnte leicht jein, daß nur dies einzige Eremplar derjelben noch eriftirt. Im Sabre 1799 war fie bei dem Mufifalienhändler Meyn in Ham- burg käuflich zu haben gewejen, ebenjo der Tert mit volljtändigem Dialog), Alles ficher nur abjehriftlih. Troß langen Suchens ift es nicht gelungen, die vollftändige Dichtung wieder zu finden. Ein gedrudtes Textbuch, üblichermaßen ohne den geſprochenen Dialog, bejigt Herr Albert Schag in Noftod; es ift bis jegt ebenfalls ein Unicum. Partitur und Tertbud ergänzen und erläutern fich in mandem Punkte; dennoh fann man an mehren Stellen den Zufammenhang der Handlung nur errathen. Vermuthlich

1) Neues Journal für Theater und andere ſchöne Künite. Hamburg. 179. S. 263.

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wegen der großen Seltenheit ift das Werk den Goethe-Forichern bisher entgangen; nur von Wilhelm Creizenach und Earl Engel!) wird e3 erwähnt. Es befigt aber feinen Merth nicht allein als Guriofum; ich darf daher wohl annehmen, daß auch weitere Kreife gern jeine Bekanntſchaft machen und den Betrachtungen folgen werden, die ſich daran fnüpfen lafjen.

Der Tertverfaffer iſt Heinrih Schmieder, der Componiſt Ignaz Walter. Beide wirkten mit einander von 1788 bis 1792 am Nationaltheater zu Mainz, Schmieder als Theaterdichter, Walter als Tenorift. Als das Nationaltheater geichloffen wurde, ging Schmieder nah Mannheim und um 1796 nad) Hamburg, Walter Schloß fich der Großmann’schen Truppe in Hannover an und nahm für die Jahre 1799 bis 1802 deren Leitung jelbit in die Hand. Später hat er das ftäbtifche Theater in Regensburg ge: leitet. Die Partitur des „Doctor Fauft” nennt ihn „Churfürftlich Maynziſchen Hoffänger”, danach müßte er die Oper fpätejtens 1792 componirt haben. Allein er behielt jenen Titel auch jpäter noch bei, und da das Hamburger „Journal für Theater und andere ihöne Künſte“ 1797 berichtet, daß eine Oper Schmieder's „Doctor Fauſt“ von Walter in Hannover componirt werde und der Voll: endung nahe jei, da diefe Oper am 28. December 1797 in Bremen, wo Walter’3 Truppe eine Zeit des Jahres zu fpielen pflegte, aufgeführt worden ift, und das gedrudt vorliegende Bremer Textbuch mit dem Tert der Partitur übereinftimmt, jo fann fein Zweifel fein: die Oper wurde im Laufe des Jahres 1797 in Hannover gejchrieben. Hier fam fie dann am 8. Juni 1798 zur Aufführung, und zu diefem Zwecke werden auch die Kürzungen und Zufäge vorgenommen jein, welche die Partitur dem Bremer Tertbuch gegenüber zeigt.

1) Wilhelm Creizenach, Die Bühnengeihichte des Goethe'ſchen Fauft. Frankfurt a. M. 1881. S. 12. Carl Engel, Das Volksſchauſpiel Doctor Johann Fauft u. f. w. Dfdenburg. 1874. S. 87. Derfelbe, Zufammen- ftellung der Fauft-Schriften vom fechzehnten Jahrhundert bis Mitte 1884. Didenburg. 1885. ©. 214.

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Am Beginn der vieractigen Oper finden wir Fauſt's Famulus, Ehriftoph Wagner, bejchäftigt, das Treiben feines Meifters nad)- zuahmen und, in einem Zauberfreife ftehend, mit Hülfe von „Herenbüchern“ die höllifchen Geifter zu beſchwören. Es muß angenommen werben, daß dies Nachts im Walde gejchieht. Als- bald zeigt ſich ein erfchredlicher Spuk: ein Feuerballen fällt herab und zerplagt, das wilde Heer jagt mit feurigen Roſſen und Wagen im Sturm dur die Lüfte‘). Wagner jpringt aus dem Kreife: „Ih dank’ euch ſchön auf ſolche Weife Bewahr’ mich Gott vor eurer Reife... Ich entjag’ allem bezauberten Glüd. Ich kehr' zum Famuliren zurüd.“ Nun tritt Fauſt herzu; er fingt mit Wagner ein Duett, welches beginnt:

Die Zeiten der Vergangenheit

Sind uns ein Buch mit fteben Siegeln. Die Zukunft ift zu fern und weit,

Sit uns verwahrt mit hundert Riegeln.

Wagner joll ihn verlaffen, da er fich „ſeinem Geijte weihen“ müfle. Dies Stüd ift nad der Bremer Aufführung entfernt, und es folgt fogleich eine große Scene, aus Necitativ, Arie und Chor beitehend. Die Verbindung muß durch den gejprochenen Dialog bergeftellt worden fein. Fauft, allein in nächtlicher Wildniß, hebt an (ich citire genau):

Recitativ.

Wo faß ich did, unendliche Natur,

Wo dich, des Urlichts helle Spur?

Mo euch, ihr Quellen alles Lebens,

An denen Erd’ und Himmel hängt,

Wohin die welfe Bruft fih drängt

Ihr quelit, ihr tränkt ich ſchmacht' vergebens.

(Er fchlägt ein Buch auf: es bricht eine Flamme hervor.)

1) In einem Buppenfpiele von Doctor Fauft, das Wilhelm Hamm 1850 durch Drud befannt machte, erjcheint Mephiitopheles alö Jäger. Es ift nach dem Obenerwähnten nicht nöthig, hierin mit Wilhelm Creizenach eine Neminiscenz aus dem „Freifhüg” zu fehen (Verſuch einer Gejchichte des Volksſchauſpiels von Doctor Fauſt. Halle. 1878. ©. 144). Auch das von Chriftoph Winters bearbeitete Cölner Buppenipiel (Scheible, Das Klofter. Fünfter Band. Stuttgart, 1847. S. 805 ff.) fcheint fih an Schmieder's Dper anzulehnen.

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Arie.

Ha, mächtig wirft dies Zeichen auf mid ein; Schon ſeh', o Geift, ich deinen Feuerſchein. Ich fühle Muth, Unmöglichkeit zu wagen, Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen, Mit Stürmen mih herum zu jchlagen, Und in des Schiffbruds Toben nicht zu Jagen.

Drei Erdengeifter (aus der Tiefe).

Die Geifterwelt ift nicht verſchloſſen, Sieh’, wir gehorden dem Gebot. Aufl bade, Kühner, unverdrofien Die ird'ſche Bruft im Morgenroth.

Der Leſer ahnt, was vorgegangen iſt. Wirklih hat Herr Schmieder einen großen Theil des 1790 erſchienenen Goethe'ſchen Fauft-Fragments ffrupellos in feinen Operntert eingeſchlachtet. Die Erdgeifter, aus der Tiefe herauf citirt, ftellen fih dem Fauft al3 Diener zur Verfügung. Er befrägt fie ob ihrer Eigenjdhaften: des Einen Kraft it Schnelligkeit, der Zweite iſt der Herr des Goldes, der Dritte ift der Dämon der Zeritörung. Fauft nimmt die Dienfte der eriten Beiden an; dem Dritten ruft er zu:

Dinweg! wer liebt, zeritöret nicht.

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Mir etelt, was ich Jah,

Der Trug jtudirter Mienen. Berichaffe mir NRaturgenuß,

Des reinften Mädchens eriten Huf.

Die beiden zurüdgebliebenen Geiſter verfünden, daß die ihmwarze Pforte ſich aufthue und der Meifter heraufiteige. Der Mephoftophiles des Volksjchaufpieles, bier unter Anlehnung an Klinger's „Fauſt“ Leviathan genannt, erjcheint, und ſchickt ſich mit den Geiftern an, Fauſt zu folgen, wohin jein Wunſch ihn rufe. Bon einem Vertrage zwifchen ihnen ift nicht die Rede; faum dürfte auch ein jo wichtiges Moment nur im Dialog unter: gebracht worden fein. Schmieder verließ ſich wohl darauf, daß die Sage allgemein befannt war, und in der That verfteht es

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ih von jelbit, daß man fie als den Grundriß anfieht, in welchen das Stüd mit all’ feinen Befonderheiten eingezeichnet ift. Wenn nun freilich diefe an ſich ſchon fummarifche Scene in der Partitur noch wejentlich gekürzt erjcheint, jo ift hier auf ein recht ftarfes Maß guten Willens beim Publicum gerechnet, fih die faum an- gedeuteten Vorgänge zu ergänzen. Etwas wejentlich Neues, was aus der Cage nicht befannt wäre, ereignet fich allerdings nicht. Trogdem hat Echmieder nicht einmal bier in der Behandlung des Einzelnen aus eigenem Vermögen gewirthichaftet. Von dem Momente an, da die Geifterbejhwörung beginnt, ift die Stelle aus Maler Müller's „Fauſt's Leben” zum Theil wörtlich ent- nommen. Auch der Name „Gacal”, welchen der erite Erbgeilt trägt, ſtammt daher.

Nun kommen wir in Gretchen's Behaufung, welche ji fingend mit Goethe's vollftändiger „Romanze“ einführt „ES war ein König in Thule.“ Auch der weitere Verlauf bis zum Ende der Gartenfcene it aus Goethe beibehalten. Gretchen findet das Juwelenkäſtchen, fommt damit zu Marthe und läßt ſich von ihr anpugen (Duett). Xeviathan bringt den Bericht von Herrn Schwerdlein’3 Tode (Arie), firrt die Marthe (Arie derfelben) und verſchafft Fauſt Gretchen’s Bekanntſchaft. Im Finale gehen fie im Garten jpazieren, die Muſik hebt bei dem Blumenorafel an. Hier ift wieder Goethe wörtlich ausgefchrieben. Aber mit der Trennung der Liebenden ift der Act noch nicht aus. Als die Frauen gegangen find, tritt ein Verhüflter mit Muſikanten auf, um Gretchen ein Ständchen zu bringen. Fauft fehrt mit Leviathan zurüd, geräth in Eiferjucht, und es entwidelt ſich eine gründlihe Prügelei, welcher Gretchen und Marthe vom Fenſter aus zufehen. Als die Muſikanten vertrieben find, ſchlüpfen Fauft und Leviathan ins Haus. Dieſe Scene ift großentheils vom Maler Müller entlehnt, namentlich aud) die Worte des Ständcheng ; die Prügelei aber ift Schmieder's geiftiges Eigenthum.

Den Zufammenhang der Scenen des zweiten Actes getraue ih mir nicht überall mit Sicherheit zu deuten. Doc wird

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Folgendes wohl das Ziel nicht zu weit verfehlen. Fauſt lebt in Herrlichkeit und Freuden; alle jeine Wünfche werden erfüllt. Eine mwohlige Mufit auf dem Theater am Anfang des Actes ſcheint die Feier eines Bankets begleiten zu jollen. Der Famulus Wagner ijt ein armer Schluder geblieben. Wie Leporello dem Don Giovanni, jo empfindet er dem Fauft gegenüber das Ver— drießliche feiner Lage. Dies in einer Arie auszudrüden, fand der nie verlegene Schmieder wieder in Goethe's Fragment böchit einleuchtende Worte. Wagner fingt aljo: „Ich babe weder Gut nod Geld, Noch Ehr' und Herrlichkeit der Welt; Es möcht’ fein Hund jo länger leben, Drum hab’ ih mich auch der Magie ergeben“ u. ſ. w. Ungeachtet der im erjten Acte gemachten üblen Erfahrungen beſchwört er abermals die Geiſter. Auf fein Necro acrum catschinischi Captro manca hydrolitschi u. j. w. hört man ihrer Sieben zunächſt von unten durch Spracdrohre beraufbrüllen: „Uha! bi bo! laß uns los!" Da er aber fort- fährt, erjcheinen fie endlih, werfen ihn zu Boden, geben ihm eine Obrfeige, laſſen aber dann mit fich reden. Mit den erjten ſechs muß im Dialog verhandelt worden fein. Der fiebente ant- wortet ihm ohne Begleitung fingend: „Ich bin fo ſchnell, als wie der Uebergang vom Guten zum Böſen,“ womit uns zur Abwehslung eine Anleihe aus Leſſing's Fauftfragment geboten wird. Daher dürfte die vorhergehende Unterhaltung auch wohl wejentlih mit Leſſing's Worten geführt worden fein. Wagner fingt nun ebenfo:

„Du jollft mein Teufel fein, mein Narr, mein Attache, Der Sehnfuht goldner Sporn, der Wünſche Banacde.“

Die Alerandriner verrathen, daß diefe Worte gleichfalls entlehnt jein müſſen; vermuthlich aus einer der volksthümlichen Dramatifirungen der Sage. Die anderen Geilter jind abgedankt und jtieben davon; Wagner hat jeßt ebenfalld einen hölliſchen Diener wie jein Meilter. Diefe Scene ift übrigens nicht von Schmieder, jondern von dem Schauspieler Grüner verfaßt. Der

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Theaterzettel der eriten Bremer Aufführung nennt noch einen Eremiten und Fauſt's Vater, die nur jprechende Perſonen ge: wejen jein können. Xeßterer wird, wie im „Fauſt“ des Maler Müller und dem allegorifchen Drama von 1775, verfucht haben, Fauft von feinem gottlofen Leben zurücdzubringen. Ob aber an diejer Stelle, oder ob nur an dieſer und nicht auch im letten Het, läßt ſich nicht erjehen. Die Einführung eines Eremiten dagegen verräth, daß hier eine Scene aus Klinger's „Fauſt“ eingelegt ift. Fauit und Leviathan auf ihren Fahrten durch die Welt übernahten bei einem Einfiedler. Fauſt glaubt an dejjen Tugend und Frömmigfeit, Leviathan vermißt fih, ihn zu Fall zu bringen. Den Lodungen der Schwelgerei widerfteht der heilige Mann. Nun zaubert Leviathan einen Dämon in Gejtalt einer jungen, üppig jchönen Pilgerin herein. Sie nimmt am Mahle theil; Fauft und jein Begleiter ftellen jih trunfen (Duett) und ichlafend; dem Neiz der Pilgerin gelingt e8 nicht nur, den Ein: fiedler zu verführen (Arie der Pilgerin), jondern ihn auch zur Ermordung feiner ſcheinbar fchlafenden Gajtfreunde anzuftacheln, um fich ihrer Schäge zu bemädtigen. Die Pilgerin verwandelt ih in eine Furie und verfchwindet; der Einfiedler wird mit jeiner Hütte verbrannt. Fauft und Leviathan beſchließen nun, daß fie „von hier nad) Spanien ziehn“, und zwar nad Arago- nien, woran wieder der Maler Müller Schuld ift. Zuvor jedoch, damit er „fieht, wie leicht fih’S leben läßt“ und „jeine Skrupel ihm entfliehn”, muß ihn Leviathan noch „vor allen Dingen in luſtige Gefellichaft bringen“. Das heißt, es folgt die Scene in Auerbach's Keller zu Leipzig als Finale. Es jpielt jich fait durhaus in Goethe's Worten ab. Des mufitalifchen Effects wegen iſt daS Gaudeamus igitur eingefügt; prüde gemildert der Liedanfang „ES war einmal ein König, der hatt’ einen Scorpion“; geändert aus bemjelben Grunde und um dem Geiſt einer revolutionär geftimmten Zeit zu ſchmeicheln, der Chor— gefang „Uns ift ganz fannibalifh wohl, Wenn jo der Becher vor uns fteht Und SFreiheitsluft uns rund ummeht“. Und jo

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nod Einiges. Als aber Fauft und fein Begleiter verſchwunden find, wird Wagner tanzend von zwei Teufelchen hereingeleitet. Unter den Klängen eines luftigen Ländlers jucht er jeinen Herrn und rennt ihm nad).

Im dritten Act iſt Fauft am Hofe der Königin von Ara- gonien. Obwohl er fi den mächtigſten der Sterblichen nennen darf, dem jeder Wunſch erfüllt wird, der „Fortunen's allregierend Rad nad) feinem Willen dreht*, fühlt er fich dennoch unbefriedigt. Er ruft den „Geiſt,“ worauf Leviathan „aus Raud und Dampf beraufiteigt“ :

Wer ruft mir?

In Lebensfluthen,

In Thatenſturm

Wall' ich auf und ab, Wog' ich hin und her, Ein ewiges Meer,

Ein wechſelnd Weben, Ein glühend Leben Was ſoll ich dir geben?

Da er ſich dergeftalt mit den Worten des Goethe’fchen Erd» geijtes vernehmen läßt, wäre unſere frühere Unterftellung un: rihtig, daß er der Mephoftophiles der Volksfage jei. Allein bei ſolchem Lappenwerf darf man nicht genau hinſehen, ob alle Flickſtücke auch die gleiche Farbe haben. Fauſt erwidert gejchmad: voll compilirend:

Der du die weite Welt umjchweifft, D fage mir, warum mein Herz

Sid bang in meinem Bufen flemmt? Warum ein nie gefühlter Schmerz Mir alle Lebendregung hemmt?

Diefe Frage beantwortet Leviathan einfah: Du liebit die Königin von Nragonien. Er veripriht auch, daß er fie befigen fol. Jubel-Arie Fauſt's.

Wagner mit ſeinen „zwei ſchwarzen Genien“, die ihn be— gleiten, wie in der „Zauberflöte“ die drei Knaben den Tamino,

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fommt herbei und fingt Heija! über das luſtige Leben am Hofe von Aragonien. Seines Meijterd getreuer Affe jpielt er zugleich die Rolle des Hanswurits.

Vor dem Hofe läßt Fauft feine Zauberfünjte jehen. Auf fein Geheiß trägt der Nofenftod Datteln, der Gitronenbaum Roſen und Veilchen. Er citirt den Geift Karls des Großen, als des Ahnherrn der Königin. Er läßt Sturm und Gewitter auf: und abziehen und einen Regenbogen ſich über das Firma- ment jpannen. Das Herz der Königin neigt ſich ihm in Liebe entgegen. Xeviathan hält es nun endlich an der Zeit, ung in einer Arie zu enthüllen, wer er ift, und weld endlidem Schid- jale Fauft entgegengebe. Wenn er zugibt, daß ein „Mächtiger voll Seraph's Macht mit ihm ftreite,” jo verjtehen wir, daß Schmieder bei diefen Worten an den guten Genius Fauſt's im Volksſchauſpiel gedaht hat. Von dem Wirken dieſes Genius wird aber in unferer Oper jelbft nichts bemerkbar. Fauft wird der Liebe der ihm bald ganz hingegebenen Königin jchnell über: drüffig. Sie veranftaltet ihm zu Ehren ein glänzendes Felt mit Kampfipielen zwischen Menfchen und wilden Thieren. Aber ihn „etelt dieſer Grauſamkeiten“; die Erinnerung an das von ihm verführte Gretchen wird wieder in ihm lebendig. Er jingt raſch noch einige Goetheſche Verſe („Ich bin der Flüchtling, jtet3 der Unbehauf’te, Der Unmenſch ohne Zwed und Ruh” u. j. mw.) und jagt mit Wagner über den Häuptern der entjegten Königin und der Hofleute auf jeinem Zaubermantel durch die Luft davon.

Der legte Act hält uns nicht mehr lange auf. Gretchen it ſehnſuchtsvoll daheim; fie fingt „Meine Ruh’ ift hin, Mein Herz ift Schwer.” Marthe jucht fie in einer Arie zu tröften, aus welcher gejchloffen werden kann, daß Schmieder auch Mozart's Cosi fan tutte gekannt hat. Die legte Scene jpielt auf einem Kirchhof. Gretchen klammert jih an Fauft und will ihn nicht verlajjen. Er mahnt fie, von ihm abzuftehen, da er einer höheren Macht verfallen jei. Furiengeheul aus der Tiefe. Fauft trägt dad ohnmächtige Gretchen auf einen Leichenitein. Die Glode

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ihlägt zwölf. Leviathan und die Höllengeifter fingen: „Fort, Frevler fort! Erzittre tief! Wir halten dich beim Wort“; was fie, da er unjeres Wiffens fein Wort gegeben hat, vielleicht nicht thun würden, wenn Schmieder dieſe Verfe nicht beim Maler Müller gefunden hätte. Ein dämonijcher Chor umbrauft den Verlorenen, der mit den Worten (Grethens!): „Mir wird jo eng, Graun faſſet mih, Poſaunen tönen“ u. ſ. w. zur Hölle Fährt.

Man weiß nicht, ob man über die Unverfrorenheit, mit welcher in dieſem Tert das Elingende Gold Goethe’jcher Poeſie und das Bleh der damaligen Opernphrafe zufammengejchüttet worden ift, lachen joll oder ſich entrüften. Dazu die Dreiftig- feit des literarifchen Diebitahls. In ſolchen Dingen hatten allerdingg mande Theaterdidhter ein weites Gewiſſen; aber unter den Hunderten von Dpernterten des 18. Sahrhunderts, die ich kenne, ift doch nicht einer, in dem die Freibeuterei jo weit getrieben wäre. Für Goethe’s Fauit- Fragment wird durch diejes Vorfommniß aufs Neue bewiejen, wie gering verhältniß- mäßig der Eindrud gemwejen war, den jein Erfcheinen in weiteren Kreifen gemadt hatte. Denn die Frechheit, ein Machwerk wie das jeinige ausdrüdlich noch al3 „Original-Oper“ zu bezeichnen (jo thut er wirklich), hätte fonft gewiß jelbft ein Schmieder nicht gehabt. Sehen wir jedoch von den Forderungen des Ge: Ihmads und der Moral ab, jo hat die Sache noch eine dritte Seite, die der genaueren Betradhtung wohl werth ift. Hiervon

nachher.

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Daß Ignaz Walter fi den Schmieder’ichen Tert gefallen ließ, ift zu begreifen. Ihm fam es auf die theatralijche Braudbarkeit an, und diefe war vorhanden. Man darf jelbit vermuthen, jo unglaublich e3 Elingt, daß er von der Plünderung des Goethe’jchen Gedicht? gar feine Kenntniß gehabt hat. Denn

in der „Euphroſyne für 1800”, einer von dem Philipp Spitta, Zur Muſil.

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2. Wilhelm Werner in Göttingen herausgegebenen Sammlung von Gejängen mit Clavier, weldhe planmäßig neben den Com: ponijten auch die Dichter der Geſänge anführt, findet fich der „König von Thule” mit Walter's Muſik nur als Romanze aus der Oper „Doctor Fauſt“ bezeichnet. Da die Oper nicht ge- drudt war, konnte Werner das Stüd wohl nur vom Componijten jelber haben, und einer Liederfammlung, wie die „Euphroſyne“, hätte der Name Goethe eine willlommene Empfehlung jein müfjen. In jpäteren Jahren war Walter über Goethe’s „Fauſt“ wohl unterrichtet. Er hat jih dann zum zweiten Male an einer Fauft-Oper verfuht. Es muß in feiner Regensburger Zeit ge: wejen fein, doch gibt die handichriftlihe Partitur, welche in Regensburg erhalten ift, über das Jahr der Entftehung eine genaue Auskunft nicht. Der Verfafjer des Tertes, C. A. Mämminger, war gemwilfenhaft genug, anzugeben, daß fein „romantijch-alle- gorifhes Schauspiel mit Gejang in 4 Aufzügen” fo nennt er das Werk, objchon es mit größerem Rechte eine Oper hieße „nach Goethe” gemacht jei. In der That ift Goethe's „Fauſt“ für einige Situationen (Scene in Auerbach's Keller, Gretchen- Scenen) benugt, aber in viel geringerem Maße als von Schmieder. Der Anlage des Ganzen haben vielmehr Klinger’3 „Fauſt“ und das allegorifhe Drama von 1775 gedient, legteres injofern namentlich, als der gute Genius Fauſt's, der auch bier Ithuriel heißt, eine ſtark hervortretende Rolle fpielt, und endlich einen, wenn ſchon erniten, jo doch verjühnenden Ausgang bewirkt. Walter hat mehrere Stüde feiner älteren Fauſt-Oper benugt, den größeren Theil aber neu componirt, jo daß das jüngere Werk dennoh im Wejentlihen als ein neues anzufehen it. Ignaz Walter iſt in den weiteren Kreifen der gebildeten Welt bis auf den Namen vergeffen; er ift, wie jo mande tüchtige Künftler, in dem Strom von Licht untergegangen, das ftärfer und jtärfer von unferen größten Meiftern ausftrahlte. Aber zu den Tüchtigen gehört er unbedingt. An dem in Wien gebildeten Opernfänger wird die angenehme Stimme und voll:

2ll

endete Gejangstechnif gerühmt; als Theaterdirector hat er ſich Jahrzehnte hindurch unter verichiedenen Verhältniffen behauptet ; der Componiſt zeigt eine vollftändige Beherrihung der Mittel, eine leicht und ſicher geitaltende Hand, auch an Erfindung fehlt es nit. Das ergibt eine Summe von Begabung, die in feiner Zeit häufig fein wird. Als er auf der Höhe feines Wirkfens ftand, war Mozart ſchon todt, und deifen Werke hatten es mit Ausnahme der „Zauberflöte noch zu feiner großen Volks— thümlichkeit gebracht. Ein anderer annähernd ebenbürtiger Opern- componift war in Deutichland nicht vorhanden. Der Mufif Cherubini's konnte es gelingen, für zwanzig Jahre in Deutſch— land den Ton anzugeben. Unfere Romantifer, die Cherubini fpäter zurüddrängten, verdanfen ihm fehr viel, ja jo mächtig war fein Einfluß, daß jelbit Beethoven in jeiner einzigen Oper fih ihm nicht hat entziehen können, während von Mozart's Geiſt in ihr fich feine Spur zeigt. Es iſt darum bejonders anerfennenswerth, dab Walter zu den jehr wenigen deutjchen Operncomponijten gehört, die ſich gänzlich im Bannkreiſe Mozart's befanden. Große Componijten haben jelten Schule gemadt. Um verftanden zu werden, bedurften fie ebenbürtig begabter Schüler, und ſolche pflegen bald eigene Wege einzufchlagen. Als einen Schüler Mozart’$, wenn auch nur dem Geiſte nah, darf man auch Walter nicht bezeichnen, wohl aber als einen fähigen Be: wunderer, der das eigene Schaffen, jo weit es reichte, durch Mozart's Kunft beftimmt werden ließ. Bedenkt man, daß er in den achtziger Jahren des Jahrhunderts in Prag angeitellt war, der Stadt, weldhe eine der erjten Aufführungen der „Ent: führung“ hörte, Mozart's Muſik zu defjen Lebzeiten am meiften bewunderte und am beften verjtand, jo erräth man auch, durch welche äußere Eindrüde Walter's begeifterte Hingabe an Mozart genährt wurde.

Mit der „Zauberflöte” hat Mozart die Gattung der Märchen: oper geadelt, deren Erjcheinen man von dem „Oberon“ Wranitzky's an zu rechnen pflegt. Die Rechnung iſt auch richtig, jofern man

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fih diefe Märchen: und Zauberopern als Ausftattungsitüde denft. Im Uebrigen waren Stoffe, in welden das Wunderbare ein ftarf hervortretende® Moment bildet, jchon früher, felbit ihon vor dem Don Juan in den Opern deutſcher Componiften beliebt. Bei Walter’3 „Fauft” erfennt man leicht, daß er feine Entjtehung größtentheils dem mächtigen Eindrude von Mozart's eben genanntem Werke verdankt, woneben dann aber auch Spuren der modijchen Zauberoper zu Tage treten. Wie man weiß, fühlte fih Goethe dur den „Don Juan“ (1797) tief ergriffen; er erflärte ihn für ein einzig daftehendes Werk; die „Zauberflöte“ intereffirte ihn gar jo, daß er eine Fortſetzung verſuchte. Es it ein curiofes Spiel des Zufalls, daß dasjenige von Goethe’s Werfen, welches er mit vollem Rechte, ebenfo wie den „Don Yuan”, für „incommenjurabel” hielt, unter der Feder eines von diefer Oper gewaltig gepadten Componiften zu einer Art von Verichmelzung beider herhalten mußte. Freilih, wie Goethe'3 Dichtung darin nur fragmentarifh und gemißhandelt erjchien, jo trat Mozart’ Geift in Walter's Mufif abgeblaßt und ver- flacht zu Tage.

Die Mozartismen einzeln nachzumeijen, ift hier unthunlid. Bon den eriten Takten der Duverture an erjcheinen fie faft in jeder Nummer; man findet fie in den Melodien, im Bau der Enjemblefäge, in der Iinftrumentation. Das Duett, in dem Marthe das Grethen mit den Juwelen jhmüdt, würde nicht vorhanden fein, ohne die Scene des „Figaro“, wo Sujanne den Cherubin als Mädchen verkleidet. Natürlich ift im Kunftwerth zwifchen beiden ein großer Abſtand; immerhin hat Walter ein jo fröhliches, liebenswiürbiges und bühnenmäßiges Stüd geliefert, daß man es auch heute noch mit ungetrübter Freude genießen fönnte. Wer nad Mozart’8 Muſter reih und Eunftvoll ausge- führte Finales verlangt, wird fie in Walter's „Kauft“ finden; wer nach der Art der Actichlüffe das bühnentechnifche Verſtändniß des Autors zu bemefjen pflegt, wird auch in dieſer Beziehung zu einem günftigen Ergebniß gelangen. Die erjten beiden Finales

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(Gartenjcene, Ständen, Prügelei und nädtliher Tumult; Scene in Auerbach's Seller) haben einen heitern, ja ausge: laſſenen Charakter; das erite ijt feiner und lebendiger, das zweite derber und breiter, an Fluß und unausgefegter Steigerung bietet namentlich jenes, das nach der Bremer Aufführung noch bedeutend zufammengebrängt ift, wahrhaft Vorzügliches. Im dritten Acte ift die wachſende Ungeduld Fauſt's, die fteigende Aufregung der Königin und Höflinge, während eine jchrille Muſik auf der Bühne zu den Kampfipielen ftetig weitergeht, zu bemerfenswerther Wirkung gebradt. Das lebte Finale ift ſogar ein geſchickt fugirter Chor der Höllengeifter, der eine gewiſſe feierlihe Wirkung bervorbringt und durch eine wilde freilich der Don Juan-Ouverture entlehnte Biolinfigur davor ge: ſchützt wird, pedantiſch zu erfcheinen. An den Melodien Walter’s it vor Allem ein ſtark hervortretender deutſcher Zug zu loben. In den deutichen Singipielen hatte fih ein folcher jeit einigen Sahrzehnten entwideln und zu der italienifchen Melodif in Gegenjag bringen können. Mozart war es gewejen, der in der „Zauberflöte” die deutjche Opernmelodie mit vollendeter Vor— nehmheit ausftattete, ohne ihr von ihrem volfsthümlichen Weſen das Geringfte zu nehmen. In feinen Wegen zu wandeln, jehen wir Walter bemüht. Da die Grundlage der deutſchen Melodie das Lied bildet, jo it es natürlih, daß uns dieſe Form im „Doctor Fauft” Häufig begegnet, und Schmieder wußte, was er that, wenn er mit einer Ausnahme alle Lieder aus Goethe'3 Fragment ſich ameignete. Selbſt das „Riegel auf! in ftiler Naht“ Hat er zu einer vierzeiligen Strophe er- weitert, welde von Frojh vorgefungen und vom Chor der Studenten mit großer Lungenfraft wiederholt wird. Die Melodie dazu iſt jo eingänglih und von jo fcharfem nationalen Gepräge, daß man glauben fünnte, Walter habe fie ſich aus dem Lieder: fhaß der deutjchen Studentenwelt von damals geholt. Entnahm er dieſem doch auch das Gaudeamus igitur, defjen Melodie durchaus nicht uralt iſt, wie behauptet wird, ſondern kaum

zu Bl,

früher als um 1750 entitanden fein wird, jedenfalld in der Zeit, da der nationale Liedgefang bei ung ji von Neuem zu entwideln begann. Ausgezeichnet ift ferner die Compofition des „Es war einmal ein König“. Die Gretchenlieder freilich Fönnen uns nicht mehr befriedigen, jeit erlauchtere Geifter als Walter fie mit ihren beften Tönen gefhmüdt haben. Nur darf man bei allen Liedern diejer Zeit nicht vergefien, daß fie, mochte ihr Anhalt jein, welcher er wollte, zunächſt als Mittel gefelliger Unterhaltung gedacht waren. Diejer Zwed verwehrte es dem Componiften, in die Tiefe der Empfindung hinabzugreifen; er durfte nur angenehm erregen, höchſtens rühren, aber nicht er- jchüttern; er mußte ſich durchaus auf einem mittleren Niveau halten. Unter diejer VBorausfegung wird uns Vieles in der Liedmufit des vorigen Jahrhunderts veritändlih und annehmbar, wovon wir uns fonft einfach abwenden würden. Auch Walter’s Compofition des „Königs von Thule” gehört dazu: fie hat un- gefähr den Charakter, wie wenn Jemand beim Nachmittagskaffee in der Gartenlaube feinen Hausgenofjen eine „curiöfe” Geſchichte erzählt. Die Fülle der Empfindungen und Stimmungen von Grund aus zur Darftellung zu bringen, war damals Aufgabe der dramatifchen Muſik, welche hiervon noch nicht, wie heute, das bejte Theil an das Lied ich meine in Deutichland abgegeben hatte. Nun jtehen zwar jene Lieder Walter’s in einer Oper, aber ihren urjprünglichen Charakter hat die Gattung damit noch nicht verändert. Selbſt in der „Zauberflöte” iſt jener Ton gemüthlicher Gejellichaftsmufif noch nicht ganz über- wunden, wie das Duett „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ beweift. Erjt Weber hat das Lied im höheren Sinne ganz dramatijch gemacht.

Im Ausblid auf die Gefchichte der deutfchen Oper iſt es der Beachtung werth, daß im „Doctor Fauft“ von der Er: jcheinung des wilden Heeres Gebrauch gemacht wird. Es ge jchieht hier nicht zum eriten Male; jchon 1786 hatte 3. Ch. Kaffka eine Oper „Das wüthende Heer” componirt, in welcher diejes

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ein noch viel jtärferer dramatifcher Factor ift, wie bei Walter. Das Intereſſe für die deutſche Sagenmwelt war unter den Ge: bildeten wieder im Wachſen begriffen, und von der Daritellung jolder Spufgeitalten verfprah man ſich immer aud auf die Menge eine jtarfe Wirfung. Betrachten wir aber die zu jolchen Schauererfheinungen gemachte Muſik, jo finden mir meiftens nicht viel mehr als gewöhnlichen Opernlärm. Ob ein Palaft einftürzt, ein Schiff ftrandet, oder ob im nädhtigen Walde „urmbewegt die Eichen jaufen” die Componiften halten fih ans Prafjeln und Kraden, und malen Alles mit denfelben Mitteln. Sie veritehen offenbar noch gar nit, um was es fih handelt. Wenn wir den Gefpenfterzug Walter’3 mit der Wolfsſchlucht Weber's vergleihen, jo ift es, als befänden wir ung in einer andern Welt. Oder beſſer: es ift nicht nur jo, wir befinden uns wirklich darin. Zwiſchen 1790 und 1820 liegt bie Zeit, in welcher eine tiefgreifende Umftimmung in ®emüth und Phantafie der Mufifer vor ſich ging. Sie haben in diejer Zeit gelernt, die Stimme der elementaren Natur zu verftehen.

Sie befinden fich in diefem Betracht den Dichtern gegen: über in einer jonderbaren Stellung, und damit kommen wir auf Goethe zurüd. Ich fagte, die Mißhandlung jeines Fauft- Fragments durh Schmieder biete Stoff zur Betrachtung noch nad einer andern Seite hin, als der des Gejchmades und der Moral. Schmieder war gewiß fein Sohn Apolls. Aber er war, als er den „Doktor Kauft” zufammenleimte, ein jehr routinirter Theaterdihter. Er wäre über das Goethe-Fragment ficherlich nicht wegen deſſen Tieflinn, Lebensfülle und jchöner Sprade hergefallen. Er jah mit dem Auge des Praftifers, daß bier die prachtvolliten Opernjcenen vorlagen. Das haben nach ihm noch viele Andere gejehen, mehr als ein halbes Jahrhundert jpäter zwei Librettiften des bühnenkundigſten Volkes der Welt: Michel Carr& und Jules Barbier, welche für Gounod den Tert feiner Fauft- Oper zureht madten. Wir Deutiche haben uns über diejen franzöfiichen „Fauſt“ anfänglich ſtark erboft; nachher

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find wir des Proteftirens müde geworden gegen ein Werf, das num jchon über dreißig Jahre auf allen Theatern der Welt gegeben wird. Wir haben einfehen müffen, daß es nicht begründet iſt, von Schändung eines Werkes zu jpredhen, welches man, wenn ihon unter Zerjtörung eines Theiles feines rein poetijchen Zaubers, durch nicht? als eine gewandte Zujammenfügung all’ feiner Hauptfituationen zu einer der wirfjamften Opern ber: richten konnte. Daß dies möglid war, ſetzt voraus, daß in der Driginaldidtung ein ſtarker opernhafter Zug vorhanden fein mußte. Wenn z. B. jowohl Schmieder wie die Franzofen fanden, daß in dem Vorgang, wie Gretchen den Schmud ent- dedt und ihrem findifchen Entzüden darüber Ausdrud gibt, der Stoff zu einer tief charakteriftiichen Opernfcene enthalten jei, jo iſt e8 wohl richtiger, anftatt über Verwelſchung und coquette Entjtellung des keuſchen Deutſchthums der Dichtung fich zu entrüften, nad den Gründen diefer Uebereinjtimmung zu fehen. Ein Meifterftüd der Kunft äußert jein Wefen auch in den An- regungen, welches es für die Kunftproduction jpäterer Geſchlechter gibt. Was aus ihm entfteht, und ſei es auch befremdender Art, wird man um fo ruhiger prüfen dürfen, da es jelbit ja immer doc bleibt, was es ift. Ein Vorurtheil freilich wird aufgegeben werden müſſen: daß ein Operntextbuch die privilegirte Scuttitätte für theatralifchen Unfinn und leere Phraſen jei, an denen die wahre Dichtkunft feinen Theil habe. Eine Goethe'ſche Didtung und ein Opernbuch die Zuſammenſtellung allein er: fcheint auch heute noch Vielen als lächerlih oder entweihend. Aber dies Vorurtheil zu bejiegen ift wohl Keiner geeigneter als Goethe ſelbſt. Hat er doch jelbit eine beträchtliche Anzahl von Opern gejchrieben, ganz abgejehen von der DOpernhaftigfeit des „Fauſt“ in feinen beiden Theilen, und des „Egmont“, die nicht unbemerkt bleiben fonnte. Und hat er doch, um dem Fürften Nadziwill die Eompofition des „Fauft“ zu erleichtern, Zuſätze zu feiner Dichtung nicht nur felbft gemacht, jondern auch Andern zu machen geitattet.

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Mer opernmäßig dichten will, muß mufifaliich fein. Weber Goethe's muſikaliſche Begabung iſt in den legten zwanzig Jahren viel gehandelt worden, und man ift dabei zu recht widerjprechenden Ergebniffen gelangt. Mir jcheint, daß man vielfach ſich nicht ganz deutlich gemacht hat, was hier allein in Frage kommen fann. Goethe hatte als Kind und junger Mann etwas Clavier, Violoncell und Flöte geipielt, auch etwas gejungen, es aber in feiner Richtung weit gebracht und daher die Verſuche bald ein- geitellt. Mit der Eompofition hat er fi nicht beichäftigt. Daraus darf gejchloffen werden, dat ihm das Talent für die technifche Seite der Muſik gefehlt hat. Weil er nun vom Hand: werk des Tonkünftlerd wenig verftand, verhielt er fich, wie er an Rochlitz jchreibt, „gegen Muſik nur empfindend und nicht ur- theilend“. Da aber hundert Beweife vorliegen, daß er jein Leben lang der Muſik in Liebe zugethan war und Eindrüde von ihr erhielt, die ihm nach feiner eigenen Ausſage feine andere Kunſt ge- währen fonnte, jo wird ihm ein erhebliches Maß von Empfänglich- feit für die Schönheit der Muſik nicht abgefprochen werden fönnen. Hiermit fünnte man ſich wohl zufrieden geben, da es immer noch viel mehr it, als von andern großen Dichtern, 3. B. Leſſing und Schiller, mit Grund gejagt werden kann. Manche verjuchen num aber, diefe Empfänglichkeit allein aus Goethe's harmonijch gearteter Natur abzuleiten, die ihn gedrängt habe, fich allem Menſchlichen Liebend zu nähern. So habe er auch geſucht, zu der Mufif ein Verhältniß zu gewinnen, aber mehr auf Ver: ftandeswegen und pbhilofophirend, als durch Intuition. Daß ein Geift, wie der feinige, auch mit diefer Methode zu manchem tiefen Einblid in die Muſik gelange, fei natürlid. Aber der inftinctive, jympathetifhe Zug, der zur Poeſie und bildenden Kunft bei ihm vorhanden geweſen, jenes ahnende, naive Ber: ſtändniß habe ihm der Muſik gegenüber gefehlt. ALS Beweis wird dann angeführt, daß Goethe fich gegen große Tonmeifter

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jeiner Zeit, wie Beethoven, Schubert, Weber, die ihrerjeits jeinen Dichtungen voll Bewunderung zugethan gewefen find, gleichgültig oder ablehnend verhalten habe, aber Männern, wie Kayfer, Zelter, Reichardt eine weit über ihr Verbienft hinaus: gehende Anerkennung zugewendet. ch bezweifle jehr, daß dieſe Anfiht richtig ift, glaube vielmehr, daß Goethe auf Grund natürlicher Begabung von dem Urelement der Muftf vielleicht mehr erfüllt geweſen ift, als irgend ein anderer großer Dichter, und daß das Problematifhe, was etwa hier entgegentritt, in anderen Berhältniffen begründet lag.

Dichtkunſt und Mufif gehören urjprünglich zufammen, können fih aber in ihrer Entwidlung trennen, jo weit trennen, daß e3 ihnen, wenn fie ſich fpäter doch einmal begegnen, jchwer fällt, einander mwiederzuerfennen. Um die Mitte des vorigen Sahrhundert® war dies in Deutichland jo. Ich glaube, die Meiften, welche über Goethe’3 Verhalten zur Mufif nachdenken, haben über deren damalige Beichaffenheit unrichtige Anfchauungen. Die Meinung beherrſcht immer nod die weiteften Kreife, daß die Blüthe der Muſik in Deutjchland mit Haydn und Mozart, alfo mit Zeitgenofjen Goethe's, beginne. Dann bildet fich wie von ſelbſt die Vorftellung, daß Mufif und Dichtkunft damals wie Zwillingsäpfel auf einem Aſte gewachſen find, und wenn nun ein wejentlich verjchiedener Geſchmack bei ihnen gefunden wird, iſt man geneigt, den Grund in einer organischen Ver: fümmerung der einen Frucht zu jehen. Die Sade lag aber wejentlih anders. Als Goethe geboren wurde, war die Mufik längit groß und ſtark, und einfichtsvolle Männer meinten, fie jei zu einem Grade der Vollkommenheit erwachfen, welcher nicht mehr überboten werden könne. Es ift gar nicht nöthig, zur Prüfung der Berechtigung jolcher Urtheile an Händel und Bad) zu denfen, ich meine auch gar nicht die deutſche Muſik allein. Die Tonkunjt war damals in viel höherem Sinne fosmopolitifch als heute; es gab feinen deutichen Componiften, der nicht aud) von italienifchem und franzöſiſchem Weſen berührt gewejen wäre,

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feinen Mufikliebhaber, der neben vaterländifher Mufif nicht ebenſo bereitwillig die fremdländifche genoffen hätte. Große Talente in beijpiellojer Fülle brachte Italien hervor, aber aud) in Deutichland und Frankreich folgte Generation der Generation in raftlojer jchöpferifcher Bethätigung. Dabei Hatte die Mufif den Vortheil, jih in allgemein anerfannten, traditionell er: jtarften Formen zu bewegen, die der individuellen Bewegung hinreichende Freiheit ließen, aber auch vor unnüger Kräftever- ſchwendung ſchützten. Sie ftellte eine Macht im Leben dar, von der es jchwer fällt, ich heute eine ausreichende Vorftellung zu machen, alle Berhältnijje durchdrang fie mit ihrem feinen Aether, und im Reiche der Künfte war fie unbejtrittene Herricherin. Am meijten unterthan in Stalien und in Deutfchland war ihr die Dichtkunſt; wo dieje eindringlicher wirken wollte, konnte fie es nur no im Dienfte der Muſik: Fein Wunder, daß fie wenigstens bei ung aud nur noch den Werth einer Sklavin befaß. Als nun endlich wahrhaft dichterifhe Kräfte anfingen, fich zu regen, mußten fie in der Muſik ihre natürliche Gegnerin jehen. Die ganze deutſche Dichtergeneration wuchs auf im Zu: ftande der Oppofition gegen bie bisherige Tyrannin. Die Be- freiung von ihr war fo jehr Lebensfrage, daß jelbit ein Gottſched ihre Nothwendigkeit begriff und mit dem Drefchflegel drein ihlug, um die Oper zu Falle zu bringen; er hat dadurch den genialen Köpfen der nachfolgenden Generation die Bahn frei gemacht, aber durch die blinde Wuth, mit der er ſich auch gegen das Singfpiel fehrte, den Dank vericherzt, der ihm jonft ge- bührt hätte. Ergriffen von der geiftigen Bewegung, deren Ziel war, der Dichtkunft verloren gegangene Rechte zurüdzuerobern, it Goethe herangewadjen. Er und das ganze damalige junge Deutſchland um ihn, Herder theilweife ausgenommen, waren Antimufifer. Den vollen Gegenjag zu ihnen bildet Friedrich der Große, der ein Bewunderer der damaligen Mufif war, aber die deutſche Literatur gering achtete.

Vom richtigen Initincte ihrer Führer geleitet, jeßte die Be-

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mwegung dort ein, wo die einzige ſchwache Stelle der Mufif war, im Liede; hier fand fie auch die Unterftügung des wieder auf: lebenden Volksgeiſtes. Das weltliche deutiche Lied nicht das durh kirchlichen Gebrauh gemweihte geiftlihe wurde noch in der eriten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Mufifern mit der äußeriten Geringihägung angefehen. Die Beihäftigung mit ihm galt eines Künftlers für unwürdig, und höchſtens für Dilettanten geeignet. Aber die weltlide Mufif war aud nur zum geringen Theile beimifchen Urjprungs und fomit volfs- thümlich. Sie beruhte zumeiſt auf der Opern: und Kammer: muſik der Italiener und trug das Weſen einer vornehmen, für feingebildete Kreife beftimmten Kunft jcharf genug ausgeprägt. Mit dem deutichen Singjpiel der fünfziger Jahre tritt eine vom Volfe ausgehende Gegenitrömung hervor. Unter englijchem und franzöfifhem Beiltande hebt ſich in ihm die, längſt ebenfalls mit Liedern ausgejtattete, deutſche Wolfscomödie auf eine höhere Stufe. Als Goethe in Leipzig ftudirte, ftand bier das deutſche Singjpiel in erfter friiher Blüthe, und er wandte ihm bie lebhaftejte Theilnahme zu. Wie die empfangenen Anregungen in ihm gewirkt hatten, zeigten einige Jahre jpäter „Erwin und Elmire”, „Claudine von Billa Bella” und die Gretchen- gelänge im „Fauft“. Gefänge! Denn das find außer dem „König von Thule” aud) Gretchens eigene Inrifche Monologe. Goethe fann auf diefe Formen nur durch die Vorftellung gejungener Dichtungen gekommen jein, und auf ihre Einmifhung in den geiprochenen Dialog nur durch das deutjche Singipiel. Derartige Beihäftigungen find alfo nicht als Librettiftenarbeiten zu ver: ftehen,, fondern als Theaterjtücde, die den nationalen Geſchmack und den volfsthümlichen Geſang zu höherer Ehre bringen und auch der Dichtkunft ihr gebührend Theil retten follten. „Erwin“ und „Glaudine” waren nad) maßgebender italienischer Auffafjung ſchon ihrer Form nad gar feine Opern, wie eben jo wenig Weihe» Hiller’3 Singſpiele als jolde gelten fonnten. Goethe dachte damals, e8 würde möglid fein, die Gattung in ihrer

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anfänglichen einfachen Art, wie einen wohlgepflegten Kleinen Hausgarten, zu erhalten. Hierin irrte er fih. Der zierliche Nahen ließ fih nur unter dem Schuge des Ufers eine Zeit lang gemächlich ſchaukeln; weiter hinausgelangt, riß ihn der mädtige Strom der Mufit mit fi fort und trug ihn zum fernen Ziel. Das war die Wirkung, melde Mozart's „Ent: führung aus dem Serail” in der Geſchichte des Singſpiels ge: macht hat. „Sie jchlug Alles nieder,“ jchrieb Goethe jpäter an Zelter, und jeit der Zeit gab er es auf, deutjche Singfpiele älterer Art zu dichten.

Dieje Dinge müſſen wohl in Acht genommen werden, um die Stellung zu verjtehen, welche Goethe zeitlebens ber deutjchen Liedeompofition gegenüber eingenommen hat. Das Lied war es gewejen, das ihn zuerit mit der Muſik in innerliche Berührung gebracht hatte, und mit dem Liede hatte er gegen die damalige Mufifübung Front gemadt. Sich der Ueberfluthung durch die Muſik erwehren, mußte der Wahlſpruch des Dichters jein; er hat in jeinem langen Leben feinen Grund gehabt, dies als einen unberechtigten Anspruch zu erkennen. Mas ihm in den Jahren, da unjere Eindrüde am tiefiten gehen, als die allein mögliche Berbindung von Wort und Ton im Liede erfchienen war, daran bat er feitgehalten. Für die Oper war damit nichts präjubicirt. Er hatte nicht Gelegenheit gehabt, an den Hauptpflegeftätten derjelben, alfo in Wien, München, Dresden, Berlin, fich mit diefer KRunftgattung bekannt zu machen. Das Wejen der italienifchen Oper lernte er zuerit annähernd durch die Bellomo’fche Ge- jelichaft in Weimar, dann vollftändig in Stalien kennen. Hier wurde ihm die Berechtigung klar, mit welcher der Italiener die Muſik vorwalten ließ, „die wie ein himmliſches Weſen über der irdifchen Natur der Dichtung ſchwebt“, und diefe nur ganz leihthin und oft nachläſſig behandeln durfte. Hier erjt dichtete er wirkliche Opernterte und fand er auch, wie ich nicht zweifle, das volle Verftändniß für die Opern Mozart’S, mit dem er feiner Zeit vorangeeilt iſt. In den Liedcompofitionen Beethoven’3

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und Schubert’3 aber fonnte er von feinem Standpunkte aus feinen Fortſchritt ſehen. Sie machten aus den Dichtungen etwas Anderes, ala Goethe beabfichtigt hatte. Die alte Weber: macht der Muſik ſchien hier rückſichtslos wieder hervorzubrechen, welcher das Werk des Poeten nicht viel mehr als Rohmaterial bedeutete. In der That darf, was wie ein Goethe’fches Gedicht als jelbftändiges Kunſtwerk entjtanden ift, den Anjpruc erheben, daß es auch in Verbindung mit einer anderen Kunft immer noch als ein folches rejpectirt werde. Wir haben alle Urſache, auf das deutfche mufifalifche Lied, wie es im neunzehnten Jahr: hundert gedieh, ftolz zu fein; es ift eine Erjcheinung, deren Eigenart und Fülle fein andres Volk etwas Aehnliches zur Seite jegen fan. Aber der gerechte Beurtheiler muß doch zugeben, daß zwiſchen den beiden Factoren, die hier zufammenwirfen, nicht Alles in Ordnung if. Daß die moderne Lieddichtung glaubt, der Unterftügung der Mufif überhaupt entrathen zu fönnen, mag man eine Weberhebung über ihr natürliches Weſen nennen. Der Dichter wird dagegen geltend madhen, daß er in Rhythmus und Reim, im melodijchen Steigen und allen der Silbenreihen jelber ein Stück Muſik zur Erfcheinung bringe. Sit dieſes nun auch nocd etwas Anderes, als der Aufbau ge: ordneter Reihen von feitbeitimmten Tönen, jo hat der Dichter doch immer dem Muſiker eine gewiſſe Form deutlich genug vorgezeichnet. Erjcheint aber dem Mufifer die Form zu eng, überjpringt oder zerbricht er fie, jo zeritört er einen lebendigen Organismus. Auf diefe Weife mag er nad) rein mufifalifchen Gejegen etwas Schönes zu Stande bringen, dem Ideal des Dichters wird er fih nicht mähern. Nicht nur Goethe mußte ein jolches Verfahren unbehaglih empfinden, es ift, jo weit ich jehe, auch bei allen jpäteren Liederdichtern der Fall gemwejen und wird immer To fein. Die Liedcompofition jeit Beethoven zeigt einen fo ftarfen Ueberſchuß an Mufif, daß von harmonischen Zuſammenwirken mit der Poeſie manche jchöne Ausnahme abgerehnet nicht wohl die Rede fein kann. Wir haben

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uns allmählid an die Anomalie gewöhnt, wegen der überaus teizenden SKehrjeite, melde dies Verhältniß hat. Aber dem Dichter jollte man nicht verdenfen, daß er auf fich hält, und den, der unter gewiſſen Umitänden Antimufifer fein mußte, deshalb nicht für unmufifaliih Halten. Die Mufifer jelbft ftanden bier ganz anders. Sie jchalteten über ein altes, feft fundirtes Befigthum. Ihnen konnte es nur angenehm jein, wenn fie dur Einbeziehung gehaltvollerer Poefie ihr Werk reiz- voller machten. Sie haben fich deshalb ausnahmslos, Beethoven und Schubert voran, die Dichtungen Goethe’ mit Freuden ge- fallen laſſen. Aber jie würden e8 waährſcheinlich gar nicht ver: ftanden haben, wenn ihnen der Dichter zugemuthet hätte, ihn auf gleichen Fuß mit fich zu jtellen. Dennoch bleibt die Forderung zu Recht beitehen, daß, wenn zwei Künfte ſich zur Darftellung eines deals verbinden, nicht die eine zuvor ihre Arbeit für fih abthut und diefe dann in der Mache der anderen ihrem Schidjale überläßt, jondern daß fie von Grund aus die Be: dürfniſſe der andern berüdfichtigt. Die volllommene Gejangs- compojition entjteht nur da, wo entweder eine und biejelbe Perſon „jagt und fingt”, wie in alter Zeit, oder wo der Dichter fih beichränft, ſtets nur unter der Borjtellung mufifalischer Ergänzungsbedürftigfeit zu jchaffen, wie die italieniſchen Madri- galiften. Dieſen höchiten Grad der Vollfommenheit kann man der modernen, jymphonifchen Liebeompolition, die unter dem Banner der Inftrumentalmufit auszog, nicht zufprechen. Freilich it er auf der andern Seite, auf die fich Goethe ftellte, auch nicht erreicht worden, weil hier die geringere Talentfraft war. Aber jo gering waren ihre Leiſtungen doch nicht, daß es unbegreiflich gewejen wäre, wie fie Goethe gefallen Eonnten. Man hält Schubert's „Erlkönig“ mit dem der Corona Schröter zufammen und lächelt bedvauernd, daß ihm dieſer gefiel, während ihm jener nicht gefiel. Was fannte denn Goethe von Liedcompofitionen, die ihm überhaupt als jolche erfcheinen konnten? Was war in feiner Jugend vorhanden? Die Lieder von Doles, Hiller,

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Breitfopf, Herbing, allenfalls die Odenfammlung Gräfe’s, etwas jpäter die Lieder Andre’s, Neefe's und ähnliches faum leid): werthige. Daß von hier zu den Liedern Reichardt's und Zelter's ein großer Schritt aufwärts war, wird Jeder zugeben, der fie fennt. Zelter's Liedcompofitionen namentlich werben zur Zeit ftarf unterſchätzt. Der Geift, der in ihnen lebte, war doc kräftig genug, um in norddeutichen Kreifen das Wejen des Liedes noch auf lange zu beitimmen. In Berlin hat er noch zu Mendelsjohn'3 Zeiten und darüber hinaus erfennbar nad): gewirkt.

Das Lied aljo, das wollte ich nur jagen, muß ganz aus- geichieden werden, wenn man Goethe's Verhältniß zu den großen Mufifern prüft. Was aber die übrigen Gattungen betrifft, jo dürfte es jchwer halten, einen Mangel an naivem Verſtändniß nachzumweifen. Von der Oper iſt jchon die Rede gewejen. Mit welcher überzeugenden Wärme er von dem „Mefjiag“ ſprechen fonnte, kann man im Briefmechjel mit Rochlitz lejen. Biel- ſtimmige unbegleitete Gefänge aus der älteren Zeit der Kirchen: muſik gaben ihm, wie er durch den Mund der „ſchönen Seele“ befennt, einen Vorſchmack der Seligfeit. Zu welcher tief ver- jtändnißvollen Aeußerung ihn das Anhören Badh’fcher Elaviermufif veranlaßte, weiß Jedermann. Immer muß man auch bedenfen, daß er wenig gute Aufführungen in feinem Leben gehört hat, und daß auch Andere und Süngere als er fi in den Inſtrumental— werfen Beethoven's nicht gleich zurechtfanden, der ihm überbies, wie es jcheint, perfönlich nicht fympathifch gemweien ift. Dazu fommt, daß ihn die Gefangsmufif überhaupt tiefer berührte, als die inftrumentale. „Melodien, Gänge und Läufe ohne Worte und Sinn,“ läßt er Wilhelm Meifter jagen, „jcheinen mir Schmetterlingen oder jchönen bunten Vögeln ähnlich zu jein, die in der Luft vor unjern Augen berumfchweben, die wir allenfall® haſchen und uns zueignen möchten; da fich der Ge- fang Dagegen wie ein Genius gen Himmel hebt, und das beſſere Ih in uns ihn zu begleiten anreizt.“ Er hätte nit

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ber Dichter fein müffen, der er war, wäre es ihm anders erſchienen.

Aber es iſt Zeit, endlich zu ſagen, daß man Goethe's Ver— hältniß zur Muſik ganz einſeitig anſieht, ſo lange man ſich beſchränkt, nur die Empfänglichkeit zu beobachten, die er fremder Muſik entgegenbrachte. Goethe componirte nicht, und war den— noch muſikaliſch productiv als Dichter. Ich meine hier weniger den melodifchen Reiz jeiner Sprache, auch nicht jenes leicht Gomponirbare, das Beethoven an Goethe's Verſen lobte und das immer jchon ein Maß latenter Mufif im Gedicht voraus: jegt. Es ift vielmehr das Erjchließen einer neuen Art von Kunftideen, die ihre volle Verwirkflihung nur dur die Muſik, nicht durch die Dichtkunſt erhalten fünnen. Der Begriff: muſi— falifches Stimmungsbild ift unferer Zeit einer der geläufigiten und erjcheint dem Wejen der Muſik jo ſehr zu entfprechen, daß es jchwer halten mag, ſich vorzuftellen, er jei einmal nicht dagewejen. Aber das mufifaliiche Stimmungsbild war in der That, wenn man Vieles aus den Werfen Sebaftian Bach's aus: nimmt, bi$ um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nicht nur jeinem Namen, jondern auch jeinem Weſen nad etwas Unbefanntes. Und diejenigen, welche es alsdann entdedten, gingen nit etwa aus den Reihen der Muſiker hervor; Die Dichter waren es und Goethe als der Fräftigite und vordringenbdjte unter ihnen. Mit jenen zuftändlichen Gedichten, in denen Die Seele wie jtill athmend daliegt der Mehrzahl nad find es Naturlieder —, hat er ein neues Gebiet erobert, das viel mehr noch für die Mufifer al3 für die Dichter fruchtbringend werden jollte. Es geſchah nicht fogleih, daß jene von dem Gebiet Beſitz ergriffen. Auch jetzt wiederholte fich eine Erjcheinung, die man häufig in der Kunſtgeſchichte beobachten kann. Treten neue Gulturideen auf, jo it die Poeſie voran, fie zu geitalten. Die bildende Kunft pflegt ihr zu folgen. Aber erit dann, wenn diefe Jdeen die geiftige Sphäre bis in die äußerite Peripherie

erfüllt und alle Lebensformen durchdrungen haben, pflegt die BHilipp Spitta, Zur Mufit. 15

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Muſik ans Werk zu gehen. Da ihr „Naturjchönes“ nur die allgemeinen Lebensbewegungen find, entipricht dies ganz ihrem Weſen. Ih fagte oben, erit zwifchen 1790 und 1820 fei die Zeit gewejen, da die Mufifer gelernt hätten, die Stimme der elementaren Natur zu verjtehen. Mozart noch hat ihr faum gelaufht. Haydn in den „Jahreszeiten“ hört und fieht in Naturerjcheinungen mehr nur den Segen oder Unjegen, welcher aus ihnen der Menjchheit erwächſt. Aber wenige Jahre weiter noh, und in Beethoven’3 Paſtoralſymphonie ftrömt uns Die ganze Fülle pantheiftiihen Naturgefühls entgegen, das in der Bruft unferer Dichter feit fat einem halben Sahrhundert jchon wad war und durch fie in die Gemüther des deutichen Volkes tief eingepflanzt. Nun beginnt die Zeit, da der Reihthum neuer Anſchauungen, den das achtzehnte Jahrhundert hervor: gebracht hatte, für die Mufif verwendbar wird. Als ihr eigent: lihiter Verkündiger unter den Muſikern erfcheint Weber. In jeinen Opern fommt denn auch jenes Naturgefühl zum jchönften und treffenditen Ausdrud.

Die Dichter waren hier die Pioniere für die Mufiker. Sie verfudhten mit ihren Mitteln nad Möglichkeit zu leiften, was vollitändig dod nur die erfüllen konnten, die nach ihnen famen. Aber immerhin gingen fie diefen auf ihren Wegen voran; Goethe war alſo wirklich mufifalifch ſchöpferiſch. Lieder, wie „Weber allen Gipfeln ift Ruh'“ und „Fülleft wieder Buſch und Thal ftil mit Nebelglanz“, find im tiefiten Grunde der ſchaffenden Phantafie als eine Art von mufifalifhen Symphonien empfunden. Als Gedichte tragen fie an der ihnen innewohnenden Stimmungsfülle zu jchwer. Dan mag fie mit der größten Sammlung und Berjenfung lejen oder ſprechen, immer geben doch Wort und Gedanken zu jchnell vorüber. Auch das Hinzu- treten der Muſik in der Weiſe, wie e8 ſich Goethe beim Liede vorjtellte, genügt bier nit. Bei den angeführten Liedern ift hierfür der thatjächliche Beweis geliefert. Keinem Componiiten, jelbit einem Schubert nicht, iſt es gelungen, ihnen eine auch

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nur annähernd ausreichende mufifalifche Interpretation zu geben. Es jteht feit, daß es Lieder gibt, die zu mufifalifch find, um componirt werden zu fönnen. Auch die nachgoethe’iche Zeit hat deren gebracht; Lenau's „Weil’ auf mir, du dunfles Auge“, iſt joldh’ ein Lied. Der Barbar will feiner fein, dieſe Eleinen, grade in ihrem hülfloſen Stammeln jo wunderbar ergreifenden Dihtungen zu zeritüdeln und die Stüden beliebig zu wieder: holen, bis der Raum ausgefüllt ift, den die Mufif zur Dar: ttellung einer Stimmung braudt. Und wenn es dod Jemand unternähme, jo müßte er wenigftens auch, wie Natalien’3 Oheim, für unfihtbare Aufitellung der Sänger und Epieler jorgen. Aber dem menſchlichen Organ an fi haftet etwas Individuelles an, bas ber völligen Auflöfung in eine allgemeine Stimmung widerftrebt. Verſe wie Dieje:

Jeden Nachklang fühlt mein Herz

roh: und trüber Zeit,

Wandle zwifchen Freud’ und Schmerz In der Einfamfeit

fönnen für das, was fie nicht jagen, aber jagen wollen, nur in der wortlofen Inſtrumentalmuſik das ausreichende Mittel finden.

Goethe wußte ſelbſt ganz genau, daß er jich mit folchen Noefien auf dem Gebiete der Muſik bewege. Lotte jpricht und fingt eine Melodie, welche Werther jedesmal wunderbar löjend und jänftigend berührt. In verjtörtem Ceelenzujtande, der das Bevorjtehen der Katajtrophe ahnen läßt, figt er bei ihr; fie jpielt wieder. „Und auf einmal fiel fie in die alte himmel: jüße Melodie ein, jo auf einmal, und mir durch die Seele gehn ein Troftgefühl und eine Erinnerung des Bergangenen, der Zeiten, da id) das Lied gehört, der düfteren Zwiſchenräume, des Verdruſſes, der fehlgejchlagenen Hoffnungen, und dann Ih ging in der Stube auf und nieder, mein Herz eritidte unter dem Zudringen.“ Was er bier als Wirkung der Mufik ihildert, ift genau dasjenige, was er in den oben angeführten Zeilen andeutet. An die jchöne Stelle aus dem Ende des erften

15*

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Buches von „Wilhelm Meiſter's Lehrjahren“, wo Wilhelm wandernde Muſikanten vor dem Fenſter Marianen's eine Nacht— muſik bringen läßt und ſelbſt in einiger Entfernung träumeriſch lauſcht, erinnere ich hier nur; ſie beweiſt dasſelbe. Man könnte ſie einen Commentar nennen des Liedes: „O gib vom weichen Pfühle träumend ein halb Gehör“.

Aber daß es eben neue Ideale waren, deren völlige Aus— geſtaltung der Tonkunſt einer ſpäteren Generation vorbehalten blieb, zeigt ſich überall, wo Goethe in ſolchen Fällen die Muſik praktiſch beſchreibt. Mit dem ihm eigenen Sinne für das Wirkliche und Anſchauliche geht er nirgends über das hinaus, was er ſelbſt beobachtet und nach ſeiner Gewohnheit ſcharf beobachtet hatte. Heine, Eichendorff ſprechen vom Lautenſpiel zu einer Zeit, da Niemand mehr eine Laute in die Hand nahm. Dergleichen wird man bei Goethe niemals finden. Angenommen einmal, es wäre gänzlich unbekannt, wann er ſeine Romane geſchtieben hätte, ſo würde der Muſikhiſtoriker aus der Art, wie in ihnen die Muſikübung beſchrieben wird, ihre Entſtehungs— zeit ſicher beſtimmen können. In den „Wahlverwandtſchaften“ (1. Theil, 3. Capitel) iſt eine Stelle, wo erzählt wird, wie Eduard, Charlotte und der eben angekommene Hauptmann in der Mooshütte an der Felswand, dem Schloſſe gegenüber, ſitzen und das Glück einer ruhigen Freundſchaft voll Behagen genießen. „Waldhörner ließen ſich in dieſem Augenblick vom Schloſſe her— über vernehmen, bejahten gleichſam und bekräftigten die guten Geſinnungen und Wünſche der beiſammen verweilenden Freunde.“ Das Horn hat ſeit dem Erſcheinen des „Freiſchütz“ einen ganz eigenen, romantiſchen Charakter bekommen, deſſen Verwendung an jener Stelle ausgeſchloſſen iſt. Aber Goethe hat ſich in der Wahl de3 Inſtrumentes nicht vergriffen. Im vorigen Jahrhundert wurde das MWaldhorn in der Kunftmufif in der That anders benugt, wenn es nämlich einen heiteren, wohligen und doch feitlichen Klang galt. Wenn Werther erzählt, Lotte habe eine Melodie, die fie auf dem Glavier jpiele, und Hinzufügt, fie ſei ihr

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Leiblied, jo läßt ſich dieſes nur von jenen Eleinen, in ber Mitte des Jahrhunderts beliebten Liedern verftehen, die zugleich Spieljtüde waren und ſich häufig in der Form eines der damaligen Tänze bewegten, demnach aud ganz wie Clavierjtüdchen auf: gezeichnet waren. Die Inſtrumente der Spielleute unter Marianen’s Feniter find Glarinetten, Waldhörner und Fagotte, ganz genau eben diejenigen Inſtrumente, die man in den legten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts zu Serenadenmufif gebrauchte. Wenn Goethe die Mufifanten einige Zeilen weiter unten „Sänger“ nennt, jo iſt dies gleichfallß Feine poetifche Licenz, ſondern in Wahrheit begründet, denn die deutichen Spielleute des fiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts pflegten in der That auch den volfsthümlichen Gejang. Vergleichen wir nun aber die Bejchaffen- heit der Muſik, welche Goethe allein gemeint haben fann, mit dem, was fie ihm. offenbart, fo jteht es in feinem Verhältniß. Einfache Innigfeit der Empfindung iſt nicht das Merkmal der damaligen liedhaften Melodien, fie jind eher jpielend und ge- ziert oder jpießbürgerlih und troden; auch war der Ton bes Clavihords, das damals allgemeines Familieninftrument war, beifer, ſchwach und ſchüchtern, jo daß man fich wundert, wie dies Alles zujammen fol’ gewaltige Eindrüde hervorbringen kann. Wir fennen auch die Mufif zur Genüge, welche bei Serenaden gemacht zu werben pflegte, um behaupten zu können, daß fie den Stimmungen nicht entfpricht, in welche Goethe den Wilhelm verfinfen läßt. Der Einwand, es fönne bei einer Mufif Jeder empfinden, was er wolle, wäre nicht jtichhaltig; eine gewiſſe Uebereinftimmung zwischen dem Charakter des Muſik— ftüds und der Qualität feines Eindruds wird immer vorhanden jein, nur bei dem Verſuch, ihn in Worte umzufegen, werden die Divergenzen beginnen. Man fann auch bejtimmt annehmen, daß die Mufifer jelbit jene Arten von Muſik ganz anders ver- ftanden. Dieſe Bemerfungen, welche vielleicht pedantiſch ſcheinen, werden nur gemacht, um zu zeigen, daß Goethe, wo er bie praftifche Seite der Muſik berührte, natürlich die Dinge nehmen

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mußte, wie er fie fand, daß aber die mufifaliiche Kraft, welche er als Ingredienz feines dichterifchen Genies bejaß, ihn weit über fie hinaustrug. Und zwar nicht in ein Wolfenktududsheim, wie dies bei Jean Paul manchmal gejchieht, ſondern in eine Zu: funft, wo die Ideale, die er vorempfand, zu mufifalifhen Wirklich— feiten geworden waren. Denn eine Melodie Schubert’$ und das Adagio aus Beethoven’s Septuor, diejer Krone aller Serenaben- muſik, Eönnten mit ihrem Zauber allerdings jene Wunder wirken.

Anfang unjeres Jahrhunderts hatte fih die Luft mit neuen poetifch-mufifalifhden Stimmungen fo jehr erfüllt, daß die Muſiker fie, ohne zu wiſſen, einathmeten. Weber hat nie eine Zeile von Goethe componirt und fteht doch in der erften Reihe Derjenigen, die feine Anregungen in Werfe umfegten. Weil fih unberehenbare Zufälligfeiten zwijchen fie jchoben, haben fie fih auch perjönlich nicht näher berührt. Dies darf man bedauern. Den von Goethe mehrfach mit Nahdrud ausgeſprochenen Gedanken, daß die Gebärdenſprache des Schaufpielers durch nichts wirkſamer unterſtützt werde, als durch eine analoge Muſik, hat Weber zuerſt, und zwar ſchon in der „Silvana“, genial verwirklicht. Wer ſich den gemeinſamen Zug recht an— ſchaulich machen will, der durch beide Künſtler hindurch geht, leſe den Geiſtergeſang im „Fauſt“: „Schwindet, ihr dunkeln Wölbungen droben!“, dies wunderbarſte muſikaliſche Phantaſie— ſtück in Worten, und höre dann die Geſänge und Tänze der Meerjungfrauen und der Elfen im „Oberon“. Damit will ich nicht ſagen, daß Weber jenen Geſang in vollendeter Weiſe hätte componiren können, obwohl er gewiß der Erſte dazu ge— weſen wäre. Er iſt überhaupt nicht zu componiren. Er gehört zu den obengenannten Dichtungen, die dafür zu muſikaliſch find. Sie nehmen dem Componiften zu viel vorweg, er müßte wejent- lich reduciren und entitellen, um fie überhaupt nur möglid für ih zu finden. Auf der andern Seite erreichen fie, allein auf die Mittel der Poefie geitellt, doch wieder nicht genug. Sie find wie zwifchen Himmel und Erde jchmebende zauberifche,

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aber heimathloje Geihöpfe. An ihnen treten die Folgen der getrennten, ja zeitweilig oppofitionellen Entwidlung von Dicht: funft und Tonfunft zu Tage. Aber nit nur an ihnen, aud) an der Muſik, die endlich in ihre Sphäre eintrat, offenbaren fie fih. Wo Goethe einmal, wie in feinen Gantaten, fich der Muſik praftiich anbequemte, hat es fich gezeigt, welche Ergebnifje das Zuſammenwirken mit ihr haben konnte. Gewiß ift die „Erite Walpurgisnadht“ mit Mendelsſohn's Muſik die vollendetefte weltlich-oratorienhafte Compofition unſeres Jahrhunderts. Aber häufig finden beide Künfte den Punft nicht mehr, in dem fie zufammenfommen fünnen. Die Inſtrumentalmuſik jucht ſich zu helfen, indem fie fich poetifche Anfchauungen durch eine äußerliche Manipulation unterfchiebt, anftatt fie dur das Mittel des Gejanges organifch mit fich zu vereinigen. Das gejchieht ſchon durch Beethoven's Pajtoral- Symphonie, die auch in diefer Be- ziehung ein geichichtliches Denkmal iſt. Es geichieht in Wendel: ſohn's Koncertouverturen, und alsdann in der ganzen jo- genannten Programm: Mufifl. Man fieht, wie es zu diefer hat fommen fönnen. Wenn nun die Tonkünſtler mit Leidenfchaft den Standpunkt vertheidigen, daß die appercipirten poetifchen Vorftellungen auf den Bau des Muſikſtückes feinen ausfchlag- gebenden Einfluß ausüben dürfen, jo haben fie ganz Recht: fie würden ſonſt die jelbjtändige Eriftenz ihrer Kunſt verneinen. Aber daß Ddiefes nicht nur eine Nothwehr, fondern auch ein Nothbehelf ift, fieht ein Jeder.

In dem Vorbericht der von der Berliner Singafademie veranftalteten Bartiturausgabe der Fauſtmuſik des Fürften Radziwill wird gejagt, dem Componiften babe die ganze Handlung vor: geitanden „wie vom laufchenden Geilte der Mufif ftets nahe umſchwebt“. Damit hat diefer gezeigt, daß ihm eine wejentliche Eigenschaft des Goethe'ſchen Fauftgedichts voll veritändlich ge- worden war; wirklich fann man jagen, daß es, ähnlich vielen kleineren Gedichten Goethe's, ganz und gar im mufifalifchen Aether Ihwimmt, und dies wird es auch gewejen fein, was

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Beethoven anreizte, wie er an Rodlig jagte, „den Fauft zu componiren“. Aber darin irrte meiner Meinung nad) der Fürft Radziwill, daß er glaubte, jenes muſikaliſche Element vor Allem durch melodramatifche Begleitung ausdrüden zu fönnen. Beim Melodram wird die Aufmerkſamkeit zwischen zwei unverbundenen Elementen getheilt; es fann daher niemals einen harmoniſch befriedigenden Eindrud machen, wennſchon es mandhmal als Zwifchenftufe zwifchen Rebe und Gejang in der Oper gute Wirkung thut. Und auch das war ein Jrrthum, daß Fürft Radziwil die Muſik dort mit ihrer vollen Körperlichkeit ein- treten ließ, wo der Dichter fie gradezu zu fordern jcheint. Der Schein trügt. Das Mufifelement, das Goethe in fich trug, zeigt fich Hier im poetifcher Verkleidung: will man zu ihm jelbit durchdringen, jo muß man die Verkleidung abthun. Das gilt, wie jchon gejagt, von dem Geiltergejang „Schwindet, ihr dunkeln Wölbungen droben“, auch von dem jpäteren „Weh! Weh! du Haft fie zerftört” ; fie find in diefer Form an den ihnen zugewiefenen Stellen uncomponirbar, wenn man nicht dem von Goethe beabfihtigten Eindrud gradeswegs entgegenarbeiten will. Aber auch von andern Stellen muß man es behaupten, von den Ehorgefängen in der Ofterfrühe zum Beifpiel. Was Goethe gemeint hat, ift vielmehr nur ein elementarifches Klingen („Welch' tiefe8 Summen, wel’ ein heller Ton“), dazu vereinzelte, mie herübergewehte Worte und Mielodietheile ; dies weckt die Erinnerung in Fauft an Jugendalüd und Jugendunfhuld, aber der Inhalt der ihm von Kindheit auf befannten DOftergefänge ſoll nur wie ein frommer Schatten jegnend nebenhergehen. Werden die Chöre vollftändig gefungen, jo dauern fie zu lange, und es drängt ſich die materielle Wirkung der Muſik an jich viel zu jehr hervor, da das Ganze doch nur wieder eine jener unvergleichlichen Symphonien ift, die nur innerlich empfunden werden jollen. Ebenſo liegt die Sache in der Domfcene; ſie jtrömt Muſik aus allen Poren aus, aber man kann ihr nicht beifommen, wenn man fie nur jo, wie fie daiteht, ganz oder theilweile in Muſik jebt;

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alle Verjuhe Haben das bemwiejen. Der Chor, welcher das Dies irae fingt, iſt es, woran fie jcheitern müffen, aljo grade der Theil der Dichtung, welcher die Hülfe der Mufik direct zu fordern jcheint. Was Goethe beabfichtigte, war nur, daß ih die Stimmung eines erhabenen, furchtbaren Ernites über die Scene legen follte; jolches muß aber der Mufifer auf einem andern, als dem bier vorgefchriebenen Wege erreihen. An andern Stellen wieder rechnet der Dichter jcheinbar nicht auf mufifalifchen Beiltand, obwohl er fich zur Ausgeftaltung jeines Idealbildes gar nicht entbehren läßt. Jeder wird das beleidigend Ernühternde am Ausgange der Schlußfcene empfunden haben, wenn dem Ausruf des Mephiitopheles „Sie ift gerichtet!” Die „Stimme von oben“ vom Schnürboden herunter oder jonit: woher in dem trodnen, proſaiſchen Epredton ihr „it gerettet!“ entgegenjchreit. Einem richtigen Gefühle folgend, hat der Fürit Radzimwill an diefer Stelle einen kurzen Engeldor „Gloria in excelsis Deo! Gerettet! Gerettet!“ fingen laffen. Aber damit dies fünftlerifch überhaupt nur denkbar ift, muß wenigitens jene melodramatiihe Behandlung vorausgejegt werden, welche die ganze Scene dort auch erfahren hat; ein plögliches Einfallen der Muſik in den gejprocdenen Dialog würde deſſen ganze Wirfung vernichten. Wil man alfo diefen, fo fann der Chor nicht jein. Der Vorgang ift undarftellbar. Die Scene ift ein leidenſchaftliches, düſteres Allegro, das fi” mehr und mehr fteigert und zu den jchneidenditen Diffonanzen zufammenballt, die fich plöglih in reine, lichtflimmernde Harmonien löjen und jo leife verzittern. Daß Goethe's Phantafie gar nicht beim Theater war, als er dies jchrieb, ſieht man auch aus der legten Bemerkung: „Stimme von innen verhallend”. Wenn die Stimme von „innen“ kommen joll, jo muß der Zufchauer auf der Bühne bereit3 das „Draußen“ jehen, was nicht zu maden ift. Dem Dichter kam es aber auf das „verhallend” an, und damit dies logiſch begründet erſchien, mußte Grethen jchon weit entfernt jein, „drinnen“ zurüdgelaffen von dem davonjagenden Fauſt;

er hört auch nicht mehr fie, er hört mur undeutlich noch „eine Stimme". Alles Vorgänge im Neiche der Muſik. Undarftellbar ift ferner, auf der Bühne ſowohl wie in jeder andern bildlichen Weife, der Vorüberritt am Rabenftein; die ftürmifche Bewegung der Spealvorftellung ift mit der bildhaften Ruhe unmöglich zu vereinigen. Gelefen und nur innerlich vorgeftellt, geht die Scene vorüber, ohne daß man zum Bemwußtjein fommt. Die Mufit it die einzige Kunft, welche die volle Ruhe einer Etimmung auch in der wildeiten Bewegung wahren fann, aljo eben das vollbringen, was hier nöthig iſt. Aber nur Inſtrumentalmuſik wäre möglih, Worte würden nicht mitfommen. Und da uns die Inſtrumentalmuſik feine Begriffe und Gedanfen vermitteln fann, jo ftehen wir bier wieder an den Grenzen deſſen, was die Künfte zu leiften im Stande find.

Ich Habe Beijpiele angeführt und nichts weiter. Eine erichöpfende Darftellung der hier vorliegenden Erjcheinung würde viel weitere Verhältniffe erfordern. Aber indem wir wie un: willfürlihd auf den „Fauſt“ zurüdgelommen find, mag zum Schluß unfer Blid noch einmal auf Schmieder und jeine „Original:Oper“ fallen. Wir wiſſen nun, was ihn gelodt hat, das Fauftfragment jo unbarmberzig zu plündern. Eine Dichtung, wie bieje, die zu Elingen anfängt, fo wie der Leſer nur hinein- fieht, dazu die Menſchen von unvergleihliher Naturwahrheit und Schärfe der Zeichnung daran mit ungefüllten Tajchen vorüberzugehen, war für einen Librettiften wie er eine zu jtarfe Zumuthung. Wenn ein literarifches Tribunal ihn der ärgiten Freibeuterei für jchuldig befinden wird, jo möchte ich vom Stand: punkte der Mufif aus zwar nicht für Freiſprechung, aber doc für mildernde Umftände plaidiren. Schmieder hat in Goethe etwas erfannt, was in jeiner Zeit Vielen verborgen blieb, und was unferm Nachdenken auch heute noch, wie man fiebt, ernftlich

zu Schaffen macht.

Selfonda

nfere Zeit iſt wenig geartet, den Werth eines Mufikers, wie Spohr e8 war, lebendig zu empfinden. Niemand verfagt ihm die Achtung, aber er vermag nicht zu feffeln. Seine Ideale liegen weit ab von denjenigen, nach welchen das ver- worrene Ringen der Gegenwart hindrängt. Die Thatſache ift von den wenigen, welche feiner Kunft innerlich nahe ftehen, längſt bemerkt und beflagt worden. Vor etwa zehn Sahren hat 9 M. Schletterer verfucht, das Intereſſe für den verehrten Meifter wieder aufzufrifchen, und die Vorurtheile zu widerlegen, in denen er die Welt Spohr gegenüber befangen glaubt. Seine Begeifterung hat ihn dabei zumeilen ins andere Ertrem getrieben, wie das bei oppofitionellen Beftrebungen zu geſchehen pflegt"). Ich glaube, es ift verfrüht, für Spohr Propaganda zu machen. Die Schidjale, welche die Werke eines Künftlers bei den nädhitfolgenden Generationen haben, erfüllen fich mit einer Art von elementarer Gewalt. Der Strom geihichtlicher Entwidelung it auf jo kurzer Strede viel zu ſtark, als daß fich gegen ihn anfämpfen ließe. Um Spohr’3 Kunft für unjere Tage erneuern zu können, müßte fie älter fein, als fie ift. Aber wenn die Zahl jeiner bingegebenen Berehrer auch feine große mehr fein mag, daß fie ganz verſchwinden follten, fteht noch auf lange Zeit nicht zu befürchten.

) Schletterer, Ludwig Spohr. Leipzig, Breitfopf & Härtel. 1881.

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I.

Unter den Opern Spohr’s ift Yeffonda die beliebtefte und wird auch ziemlich allgemein als die gelungenfte angejehen. Sie erfuhr ihre erjte Aufführung am 28. Juli 1823 in Gafjel. Im zweiten Bande jeiner Selbitbiographie erzählt Spohr in ber ichlicht:vornehmen Weiſe, welche diejes Bud jo werthooll und anziehend macht, wie er zur Compofition der Oper gekommen jei. Als er fih im Winter 1820/21 in Paris befand, bat er an einem Negentage, da ihm das Ausgehen unmöglich erjchien, jeine Wirthin um Unterhaltungslectüre. Sie brachte einen alten, ſchon ganz zerlefenen Roman: „La veuve de Malabar“. Er glaubte zu erkennen, daß derjelbe den Stoff zu einer Oper in ſich berge, eritand von der Frau das Buch für wenige Sous, und nahm es mit nad Deutſchland. In Gandersheim entwarf er das Scenarium und vervollitändigte es, als er im Herbit 1821 nad Dresden übergefiedelt war, im Einzelnen. Hier fand er in dem 26jährigen Eduard Gehe auch den Mann, welder die dichterifche Ausführung desſelben übernahm. Gehe lebte jeit 1817 in Dresden und war feines Zeichens Advocat. Wie Friedrich Kind, der Dichter des „Freiſchütz“, zog er jedoch lite- rariſche Bejchäftigungen der Nechtspraris vor. Zu feinem Trauer: jpiel „Heinrih IV.“, das am 6. Juni 1818 zum erjten Male aufgeführt wurde, hatte Carl Maria von Weber die erforber- liche Mufif gemadt. Weber war e8 aud), der die Bekanntſchaft zwifchen ihm und Spohr vermittelte. Nachdem die Oper durch ganz Deutichland einen großen Erfolg gehabt hatte, nahm Gehe 1836 die Dichtung in den zweiten Theil feiner „Vermiſchten Schriften“ auf. Daß er nad einem von Spohr gefertigten Plane gearbeitet habe, wird hier ebenjowenig gejagt, als daß diejer Plan ſich auf einen franzöfifchen Roman gründe.

Der Inhalt iſt befannt; es bedarf bier alfo nur einer ge- drängten Angabe. Die Handlung bewegt fi in der Zeit des beginnenden 16. Jahrhunderts, da die Portugieſen ſich in Indien feftiegten. Ein junger portugiefifher Kriegsheld, Triftan

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d'Acunha, hat am Ganges ein indiiches Mädchen fernen gelernt, das jeine Liebe erwedte und ermwiderte. Der Bater fürchtet die fremden Eindringlinge und entweiht mit Jejfonda und der jüngeren Schweiter Amazili heimlich an die malabariſche Küſte. Jeſſonda wird gezwungen, einem greifen Rajah in Goa ihre Hand zu reichen. Dieſer ftirbt, und nad religiöjem Brauch joll fie mit feiner Leiche verbrannt werden. Die portugiefifchen Anftedler in Goa find dur die Eingeborenen überfallen und niedergemacht worden. Um die That zu rächen, hat jich eine Belagerungsflotte vor die Stadt gelegt; ihr Führer wird Trijtan, der jeit jeiner erften Begegnung mit Jeſſonda jede Spur von ihr verloren hatte. Einige Tage der Waffenrube, und die durch Ehrenwort des feindlihen Feldherrn gemährleiftete Sicherheit geitatten der Jeſſonda in Begleitung ihrer Frauen einen Gang vor die Stadt zu einer heiligen Quelle: ein Bad in deren Fluthen joll dem Opfer die Weihe geben. Beim Rüdgang fieht Triftan fie und erfährt, was ihr bevorfteht. Kriegsrecht und Ehrenwort binden ihn, er muß fie in den Händen derer laffen, die fie zum Tode führen. Nadori, ein junger zum Briefteritand gezwungener Bramine, der den Brauch der Wittwenverbrennung verabjcheut und Amazili liebt, bringt zur Naht dem Triftan die Kunde, daß die Inder den Waffenftillitand felbit zu brechen und tückiſch die portugiehjchen Schiffe in Brand zu ſtecken fich rüften. Dies gibt ihm die Freiheit der Bewegung zurüd. Geführt von Nadori dringt er durch einen unterirbifchen Gang in die Stadt, untermwirft die Inder, rettet und gewinnt fich Jeſſonda.

Die dramatifche Anlage ift gefhidt und fiher. Da Gehe an ihr faum einen Theil haben dürfte, jo würden Spohr neben dem Ruhm der Gompofition auch noch dichteriiche Ehren von Belang gebühren. In Wirklichkeit möchte indefjen jein dichteriſches Verdienſt faum hoch zu jchägen fein, denn der Stoff war ur: jprünglih ein dramatifcher. Durch länger als ein halbes Jahr- hundert ſchon war er in den verjchiedeniten Bearbeitungen über die Bühnen Europa's gegangen. In Deutſchland hat man dies

240°

theil3 ganz vergeflen, in feinem vollen Umfange aber aud wohl niemals gewußt.

Antoine-Marin Lemierre, 1723 zu Paris geboren, bradte am 30. Juli 1770 durch die Comediens Francais ein Schau: jpiel „La veuve du Malabar“ zur Aufführung. Er war fein Neuling auf der Bühne. 1758 hatte er mit einer Öypermnejtra feine Laufbahn als Dramatiker begonnen. Noch einige Stüde antifen Stoffes waren gefolgt, dann 1766 ein Guillaume Tell. Auf die „malabarifche Wittwe” hatten Dichter und Schaufpieler große Hoffnungen geſetzt. Sie erfüllten ſich nicht, das Stüd wurde nur fechsinal bei Schwach befuchtem Haufe gegeben, und ihien damit für immer abgethban. Die Fremdartigfeit des Stoffes hatte abgeftoßen. Auch tadelte man die Dürftigfeit der Erfindung, Verſtöße gegen die Wirklichkeit, Härte der Verfi- fication. Der Dichter nugte den Tadel. Nach zehn Jahren erſchien er am 29. April 1780 mit dem gründlich ungearbeiteten Stüde aufs Neue vor dem Pariſer Publicum. Seine Arbeit wurde belohnt. „La veuve du Malabar ou l’empire des coutumes“ erregte die höchite Begeifterung: feit mehr als fünf- zehn Jahren hatte man in der Comédie francaife einen ſolchen Erfolg nicht erlebt. Die jpannende Entwidelung, die Wärme der Empfindung, die zündenden Schlagwörter überglängten weit, was an Schwächen dem Werfe etwa noch zurüdgeblieben war. Noch in demjelben Jahre erſchien es auch im Drud.

Neben den rein dichterifchen Schönheiten war es offenbar aber noch etwas Anderes, wodurd „La veuve du Malabar“ die Barijer hinriß. Das Stüd ijt von revolutionärem Geiſte erfüllt. Es gleicht hierin und auch in feiner Wirkung dem Luſtſpiel des Beaumardais: „Le mariage de Figaro*, welches vier Jahre ipäter zur Aufführung fam. Nur da diefes es auf den fitten: lofen Adel abgefehen hatte, welcher die Menfchenrechte feiner Untergebenen mit Füßen tritt, während Lemierre fich gegen bie religiöjen Vorurtheile wendete, die von einer herrſchſüchtigen Priefterichaft ſorglich genährt, barbariiche Gewohnheiten dem

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Volfe als gottgefällige Gebräuche erjcheinen laſſen. Inder und Europäer ftehen einander gegenüber, jene als Repräfentanten eines graujamen religiöfen Fanatismus, diefe als Vorkämpfer für eine mildere, menjchliche Gefittung. Eine franzöfiiche Kriegs» flotte die Handlung fpielt alfo etwa anderthalb hundert Jahre jpäter, als in der Spohr'ſchen Oper ift unter Führung des Generals Montalban vor einer malabariſchen Stadt ge: landet, hat Truppen ausgeichifft und belagert fie. In der Stadt wird auf Anordnung des DOberbraminen der feierliche Net einer Wittwenverbrennung vorbereitet. Lanafja jo heißt das junge Weib war drei Jahre zuvor mit ihrem Vater und einer perfijchen Begleiterin (Fatime) von Dugly daher gefommen. Auf dem Schiffe, das fie trug, war ein junger europäijcher Krieger gewejen; eine tiefe Neigung zu einander hatte während der Fahrt beide ergriffen. In Malabar angefommen, vermählt der Vater Lanafja wider ihren Willen mit einen vornehmen Inder, nachdem ihr Geliebter plöglich nach Europa zurüdgerufen war. Lanaſſa's ungeliebter Gemahl ijt fern von ihr geitorben. Aber jie hat nur die Wahl, entweder ihm freiwillig in den Tod zu folgen, oder durch ihre Weigerung ſich und die geſammte Anverwandtichaft mit unauslöfchliher Schande zu bededen. Still und feit wählt fie das eritere.

Nun befindet ſich unter den Braminen ein Süngling, ber, frühe in der Welt allein geblieben, im Tempel eine Zuflucht: itätte gefunden hatte. Auch er ein Opfer unmenjchlicher Ge- bräuche. Nach dem Aberglauben, daß ein Säugling, der drei- mal die Mutterbruft zu nehmen jich weigert, nicht leben dürfe, war er dem Tode ausgeliefert gewejen. Ein mitleidiger Mann rettete ihn, und brachte ihn aus feiner Heimath Bengalen nad) Malabar. Nah deſſen Tode wurde er Priefter. Aber der Stand läßt ihn unbefriedigt und jeine Sagungen empören ihm das Gemüth. Diejer Jüngling wird vom Oberbramin erlefen, Yanafla zum Tode zu führen. Er verfucht vergeblid, ihm das Widernatürliche

des Gebrauchs zu beweifen. Der Oberbramin veitheidigt den- Philipp Spitta, Zur Muſit. 16

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ſelben durch Hinweis auf den Grundgedanken ihrer Religion, auf die zahlreichen Beiſpiele verſchiedenartiger gottgefälliger Askeſe, auf das Alter des Gebrauhs, auf den tiefen Ein- drud, den er im Bolfe made. Den Hauptgrund jagt er nur

ſich jelbit:

C'est un usage saint, inviolable, antique, Et la Religion jointe ä la Politique Le maintient jusqu’ici dans ces états divers.

Auf wiederholten Befehl des Oberbraminen begibt ſich der Süngling zu Yanajja, ihr den ihm gewordenen Auftrag Fund zu thun. Er verhehlt nicht jeinen Abjcheu gegen das Gejeß, bei defjen Erfüllung er mitwirken muß. Er beflagt fein Ge: ſchick, erzählt von jeinen früheſten Erlebnifjen in der Heimath Dugly es kommt zu Tage, daß er Lanaſſa's Bruder ift. Dieje Entdedung dient wirkſam zur Vertiefung des Conflicts. In feiner Eigenfchaft als Bramin und als Anverwandter muß der Bruder dahin traten, daß Lanaſſa fi der Verbrennung nicht entzieht. Wie aber feine Sinnesart ift, muß es ihm jegt doppelt darum zu thun jein, ihren Tod zu verhindern. „Laß uns fliehn,“ ruft er ihr zu, „in Ländern, wo mildere Sitten herrjchen, ein Ajyl uns fuchen“ :

nous suivrons ces maurs à jamais conservees,

Que chez tous les humains la Nature a grav6es,

Ces vrais devoirs sentis et non pas convenus, Immuables partout, et partout reconnus,

Lois que le Ciel, non l’homme, à la terre a prescrites Et qui n’ont ni les tems, ni les mers pour limites.

Lanafja weigert ih: Schmacd werde dann auf ihrem Namen ruhen, untröftlich, nicht wagend, die Augen zu erheben, werde die Anverwandtichaft in der Heimath wie verbannt ein elendes Dajein führen, Racherufe ob des verrathenen Gatten werde das Volk ihr auf die Flucht nachſenden. Der Bruder geht mit dem Entichluß, in feinem Stande auszuharren, um die Schwefter zu retten, und jih dann für immer von ihm loszufagen.

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Mittlerweile hat der Befehlshaber der indifchen Truppen einen eintägigen Waffenitillitand mit den Franzoſen geſchloſſen, angeblich um die gefallenen Krieger zu beitatten. In Wahrheit will er für den ungeftörten Vollzug der Verbrennung Lanaſſa's Sicherheit gewinnen. Der Tempel des Brama, bei welchem dies gefchehen fol, liegt vor der Stadt. Er hatte gebeten, den Act im Angefiht der Feinde zu unterlaffen, da derjelbe fie zur Muth entflammen fönne, aber bei den fanatifhen Braminen mit jeinen Vorſtellungen nichts ausgeridhtet. Fatime deutet der Lanaſſa den Waffenitillitand als Zeichen der bevorftehenden Uebergabe: die Franzojen werden Herren der Stadt, vielleicht daß fie von dem verjchwundenen Geliebten Kunde bringen. Der Wunfch, leben zu dürfen, bligt einen Augenblid glühend in Lanaſſa's Seele auf.

Auch Montalban bat die junge Inderin nicht vergeiien, und als er ſich darum bewarb, der Führer des Unternehmens gegen Malabar zu fein, war ihm die Hoffnung, fie wieder: zufehen, eine geheime Triebfeder. Der Officier, welchen er aus: ſchickt, ih nah ihr zu erkundigen, kehrt unverrichteter Sadıe zurüd: eine ungeheure Menfchenmenge verjperrt den Durchgang, fie ift aus der Stadt geitrömt, um beim Bramatempel der Ver- brennung einer Wittwe zuzufehen. Ein ſolches Schaufpiel in feiner Nähe dulden zu jollen, empört Montalban's menjchliches Gefühl. Vergeſſen ift feine eigne Sade, er ftürmt fort, die Greuelthat zu hindern. Schon haben auch feine Krieger ſich drohend genähert, die Geremonie ift ins Stoden gerathen, und der Oberbramin tritt dem Feldherrn mit der Aufforderung entgegen, den Bruch des Waffenitillitands zu verhindern. Es fommt zu heftigen Auseinanderjegungen. Der Oberbramin gibt den Voritellungen Montalban’s nicht nad, und diefer ift durch jein Feldherrnwort gebunden. Er glaubt nicht, dab der feind- lihe Befehlshaber ihn hintergangen habe, und eilt, die Schonung der Wittwe von ihm zu fordern. Eine Ahnung, wer er fein

möge, durchzuckt Lanaſſa, als fie dies erfährt. Sie erfährt 16*

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aber auch, daß jein Leben dur die fanatijchen Inder bebroht jei; ein neuer Beweggrund für fie, die Opferung mit ſich voll- ziehen zu laſſen.

Der junge Bramin tritt dem zurüdfehrenden Montalban entgegen, und gewinnt fein Vertrauen dur die Entdedung, daß er der Wittwe Bruder ſei. Jetzt erfährt auch Montalban mit dem Namen Lanaſſa, daß es die Geliebte ift, der man den Tod bereitet. Mit Mühe beitimmt der junge Bramin den Feldherrn, den die Leidenſchaft zu den verzweifeltiten Wagniſſen fortzureißen droht, während des Waffenſtillſtandes nichts zu unternehmen und ihn jorgen zu laffen. Ein unterirdifcher Gang führt vom Tempel and Meer. Man jagt, daß durch ihn jchon einmal eine Wittwe den Händen ihrer Opferer entzogen worden jei. Auf diefem Wege wollen fie verſuchen, Lanafja zu retten. Doch fann ſich Montalban nicht enthalten, dem heranfommenden Oberpriefter zu drohen, er werde Tempel und Stadt dem Erd- boden gleih machen, wenn Lanaſſa ſterbe. Dieſe gegen das Heiligthbum und die Religion ausgefprodhene Drohung treibt die Braminen jelbit zum Bruch des Maffenftillftandes. Fanatiſirte Inder werfen bei Nacht Feuer in die Flotte der Franzofen. Die Hälfte der Schiffe ift zu Grunde gegangen, auf dem Reſt haben fih die vom Lande geflüchteten Franzoſen geborgen und eiligft das Weite gefuht. Montalban jelbit ift im Kampfe gefallen. Eo berichtet der junge Bramine, welcher nun nichts übrig ſieht, ald aus eigner Kraft den Tod der Schweiter zu hindern oder mit ihr zu fterben.

Der feierlihe Act beginnt, nachdem der Oberbramin den Bruch des Waffenftillitandes mit religiöjen Gründen vor dem Volfe gerechtfertigt hat. Der junge Bramin weigert fich, Lanaſſa zum Tode zu führen, entdeckt, daß fie feine Schweiter jei, und fagt ich feierlich [08 von einer Religion der Unmenſchlich— feit. Lanaſſa, von einem andern hergeleitet, verräth angeſichts des Scheiterhaufens, bei wen ihre Gedanken weilen und weſſen Wiederkehr fie heimlich erhofft hat. Auf die Nachricht vom

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Tode Montalban's bejteigt fie, aller Hoffnung entjagend, den Holzitoß. Vergeblich ringt ihr Bruder für fie. Da ertönt Waffenlärm. Durd den unterirdifhen Gang find franzöfifche Krieger eingedrungen. In dem auf den Scheiterhaufen zu— fpringenden, fälſchlich todtgeſagten Montalban erkennt Lanafja den Geliebten.

Bon dem eroberten Gebiete nimmt Montalban Belig und erklärt den unmenjchlihen Gebraudh der Wittwenverbrennung aufgehoben im Namen feines Königs:

D’autres chez les vaincus portent la cruaute, L’orgueil, la violence, et lui Phumanité.

Daß Lemierre unter dem Einflufje Voltaire’S gedichtet hat, ift einleucdhtend. „La veuve du Malabar“ joll die Zuſchauer nicht nur als Kunſtwerk erfreuen, jondern fie auch für gewiſſe philojophiiche Meinungen gewinnen. Es iſt ein Tendenzitüd, wie „Mahomet“, „Les Guebres“, „Olympie“. Man mag finden, daß Lemierre's Stüd in den Schlußfcenen geradezu an die entiprechenden Scenen der „Olympie“ anflingt, wenn jchon mehr durch die ſceniſche Erfindung, als durch Den inneren Gehalt. Sonſt kann man nit jagen, daß Lemierre fich eine bejondere Tragödie Roltaire’s zum Mufter genommen babe. Wenn der Baron Grimm in der „Correspondance litteraire“ behauptet, auch aus Sedaines „Aline ou la Reine de Goleonde* habe Lemierre einige Ideen genommen (es handelt ſich in dieſer Oper ebenfalls um die Berührung der Franzojen mit einem aliatifchen Volke und um ein Liebespaar, das ſich durch Die jäheſten Schidjalsjchläge hindurch treu bleibt und endlich glücklich wird), jo jchmedt das etwas nach Neminiscenzenjägerei. Wohl aber fällt die Aehnlichfeit auf mit einem Drama Fontanelle's: „Ericie ou La Vestale“. Dasjelbe iſt 1768 zu Lauſanne gedrudt; feine Aufführung wurde verboten, angeblich auf Ver: anlafjung der Geijtlichfeit, die in ihm einen Angriff auf Die Klöfter witterte. Abgefehen von dem Gegenjag religiöjer Vor: urtheile gegen die ewig gültigen Rechte der Menfchennatur,

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welcher die Seele des ganzen Stüdes iſt, erinnert es auch in den Einzelheiten oft jehr lebhaft an „die Wittwe von Malabar“. Ericie ift zum Dienit der Veſta gezwungen worden, von dem ihr Herz nichts willen will; jo ſteht auch der junge Bramin mit jeiner Ueberzeugung im Gegenjaß zu den Forderungen jeiner Neligion. Hier wie dort beginnt die Handlung mit einem Auftrage, der den inneren Conflict beider bloßlegt. Wie Lanaffa mußte auch Ericie einem Geliebten entfagen. Beider Geliebten find ſeit Jahren für fie verjhollen, aber ihre Neigung ift un: vermindert geblieben. Wie Osmide die Ericie, jo will der junge Bramin Lanaſſa zur Flucht bewegen; beide leiften Wider: jtand. Bei Yemierre joll der Bruder die Schweiter, bei Fontanelle der Vater die Tochter zum Tode führen. In beiden Tragödien ift ein unterirdiicher Gang von entjcheidender Bedeutung, worauf wieder der Baron Grimm mit einer abfälligen Bemerkung gegen Lemierre binweilt; anderer äußerlicher UWebereinjtimmungen zu geichweigen. Man kann aljo in gewiffen Sinne jagen, daß die Geihichte der Jeſſondafabel jhon mit Fontanelle's „Ericie* beginnt. 1.

„La veuve du Malabar“ gelangte bald nad Deutjchland. C. M. Plümide in Berlin, wegen feines „Entwurfs einer Theatergejchichte von Berlin” dem Kunithiftorifer ahtungswürdig, beſchloß, das ausländiihe Stüd feiner Nation zu vermitteln. Er begnügte ſich aber nicht mit einer Ueberſetzung. Ihm ſchien Kemierre „Jowohl im Plan und der Behandlung überhaupt, als in den Charakteren merfliche Fehler” begangen zu haben. Dieje meinte er bejeitigen zu jollen, und zugleich „durch wichtige Veränderungen das Intereſſe des Stüds noch mehr befördern“ zu fönnen. Am 25. September 1781 wurde „Lanaſſa“ To hatte er das Stüd betitelt in Berlin dur die Döbbelin’jche Truppe zum eriten Male gegeben. 1782 erichien es im Drud, da es mit „ausgezeichnetem Beifall von Kennern gejehen und wieder gejehen worden“.

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An diefen Beifall können wir freilich nicht einjtimmen. Plümicke Hat hier und da eine Andeutung des franzöfiichen Dichters nicht unwirkſam ausgeführt. Dahin mag gerechnet werden, daß bei dem jungen Bramin eine Hinneigung zum Chriſtenthum herrſcht, in welche er Lanaſſa hineinzieht. Auch fann man anerfennen, daß er den Dialog lebendiger gemacht bat. Dem gegenüber jtehen wenigiteng ebenjoviele dDramatifche Ungejchidlichkeiten, die ihm bei jeinen Veränderungen paſſirt find. Vor allem aber hat er fich befliffen, das fnapp gefaßte Original behaglich breit zu treten. Eine philiftröfe Geſchwätzig— feit und Nührfeligfeit machen feine Bearbeitung dem Kenner des Originals unleidlih. Die glänzenden Schlagworte Lemierre’3 bringen in diefer Fafjung zuweilen eine unbeabfichtigte komiſche Wirkung hervor. So läßt der Franzoje, ala Montalban den Oberbramin heftig zur Rede geitellt hat, folgendes zwischen ihnen geredet werben:

Le Grand Bramine. Es-tu vainqueur ici pour nous parler en maitre ?

Le General. Je parle en homme. Das „bearbeitet" Plümide jo:

„Oberbramin. Frevelhafter Fremdling. Bift du Hier Ueberwinder, um fo mit ung zu reden?

General. Mehr als Ueberwinder bin ih id bin Menſch.“

In der ſchwammigen Maffe, zu der das Stück aufgetrieben worden ift, verliert fich natürli auch die Schärfe der Linien, mit welcher Lemierre die Charaktere umriffen hat. Gleichwohl ift die Thatfahe nicht zu leugnen, daß „Lanaſſa“ in Deutjch- land großen und nachhaltigen Beifall, und weite Verbreitung fand. Plümicke hatte den Ton getroffen, welcher damals bei der Menge der Theaterbefucher beliebt war, und der Erfolg ftärkte ihn, in den beiden nächiten Jahren auch die „Räuber“ und ben „Fiesco“ von Schiller zu „bearbeiten“.

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Um die Zugkraft des Stüdes zu erhöhen, hatte er die Mitwirkung der Mufif beliebt, und dies ift für den von uns verfolgten Zweck von Wichtigkeit: es iſt das erite Mal, dab die Muſik Fühlung gewinnt mit einer Fabel, in deren aus- jchließlichen Beſitz ſie jich jpäter jegen follte.e Chöre mit Solo- jtimmen untermijcht, Jowie eine einleitende Inftrumentalfymphonie jollten im 5. Act, der hierdurch einen ſtark opernhaften Anjtrid) erhält, zu Verwendung fommen; Blümide fand in Johann Andre einen Mufifer, der nicht nur die von ihm gewünjchten Stüde, jondern auch noch Ouverture und Zwiſchenmuſiken für den zweiten, dritten und vierten Act componirte. Andre, feit 1777 Muſikdirector am Döbbelin'ſchen Theater, hatte feine Stärke allerdings mehr im Liede und in der Operette. Die Muſik zu Lanaſſa“, welche handichriftlich erhalten ift, zeigt indeſſen, dab er auch Aufgaben erniten Charafters wohl zu löfen vermochte. Sie ift überall zwedentipredhend, hat lebendigen Ausdrud und verräth hie und da das Studium Glud’s. Ein bis zwei Jahre zuvor hatte Mozart für diefe Art von Muſik ein glänzendes Mufter geliefert in jeinen Chören und Entr’actes zu „König TIhamos“. Es iſt aber unerwiefen, daß Andre dieſe jemals gefannt hat. Uebrigens blieb feine Muſik zu „Lanaſſa“ nicht die einzige. Als Goethe das Stüd in Weimar aufführte, mußte ihm fein Operntenorift Chriftian Benda die Chöre neu componiren und erhielt dafür ein Honorar von ſechs Thalern. An Breslau jchrieb 1802 Heinrich Karl Ebell eine vollitändige Muſik zu „Lanaſſa“, am 9. September desjelben Jahres wurde das Stüd mit Muſik vom Baron Schadt, 1834 mit Duverture und Zwifchenactsmufif von Franz Lachner aufgeführt. Beide Male in Wien. Die „Lanafja“ Franz Tuczek's ift vielleicht auch nur eine mufifaliihe Zuthat zu Plümicke's Bearbeitung.

Zum eriten Male zu einer vollftändigen Oper umgejtaltet wurde das Drama Lemierre's, welches inzwiſchen in englijchen Bearbeitungen von David Humphreys und Miß Mariana Starke aud in Vhiladelphia (1790) und London (1791) auf der Bühne

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erſchien, erſt im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts. Und zwar in Deutſchland von einem Deutſchen, aber über einen franzöſiſchen Tert. Chrijtian Kalkbrenner war der Componiſt. Er befand ſich jeit 1790 als Gapellmeifter im Dienfte des Prinzen Heinrid) von Preußen zu Rheinsberg. Hier wurde die Oper componirt und aufgeführt. E8 muß vor 1796 gemwejen fein, da in dieſem Jahre Kalfbrenner Rheinsberg verließ, und nad Italien ging. Das ungedrudt gebliebene Werk ift verichollen. Nah dem Tode des Prinzen Heinrich kamen die Rheinsberger Mufifalien durch teftamentarifche Beitimmung in den Beſitz jeines legten Gapell: meiſters Weſſely. Diejer iſt 1826 in Potsdam geftorben und jein Muſikaliennachlaß untergegangen oder zeritreut. Man kann aljo auch nicht Feititellen, ob der Operntext ih mehr dem Original oder der Plümide’jchen Bearbeitung anſchloß. Das eine bat joviel Wahrjcheinlichkeit für ſich, wie das andere.

Als im Jahre 1798 „La veuve du Malabar“ in Paris noch immer ein volled Haus machte, hielt Francesco Albergati Gapacelli eine Uebertragung ins Italieniſche für ein verdienftliches Unternehmen. Schon früher hatte Gozzi fi an diefer Aufgabe verfucht, ohne jedoch jeine Arbeit, die erit 1802 zum Drud gelangte, auf die Bühne zu bringen. Gapacelli’S Uebertragung nur das ift fie, und zwar eine recht gewandte, feine Bearbeitung ala Plümicke erichien 1798 zu Venedig, mit nicht uninterejfanten hiftorisch-fritiichen Bemerkungen als Anhang. Sie wurde ihrer: jeit3 wieder Veranlaſſung zu einer italienijchen Oper „Lanaſſa“, welhe Simon Mayr in Muſik jegte, und im Garneval 1817 im Teatro Fenice ohne großen Erfolg zur Aufführung brachte. Die Partitur befindet fich jegt nicht mehr dort; ob fie etwa in Bergamo vorhanden it, wo Mayr von 1802 bis zu jeinem Tode lebte, habe ih nicht in Erfahrung bringen können. Der Verfaffer des Tertbuches hat ſich nicht genannt. Dasjelbe ift, an fich betrachtet, nicht beſſer und jchlechter als hundert andere Libretti. Intereſſant wird es durch die Naivetät, mit welcher der Driginalitoff den ‚Forderungen der italienischen Oper gerecht

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gemacht worden iſt. Die langen philofophirenden Dialoge find überall auf das fnappeite Maß zufammengezogen; nur das von ihnen ift übrig gelaffen, was zur Motivirung der Entwidlung unerläßlih war. Dagegen find die Fugen, durch welche Mufik einjtrömen konnte und deren bat der Bau des Stüdes nit. wenige —, mit ficherem Blid erkannt und alsbald auch weit geöffnet. Naiv nenne ich die Bearbeitung, weil fie ſich um die Zendenz des Originals nicht die geringjte Sorge macht, einzig bedacht, den Aufriß eines lebhaft bewegten, farbenreihen Muſik— dramas herzuſtellen. Wo es die muſikaliſche Wirkung fteigern fann, jcheut der Bearbeiter auch vor erheblichen Zuſätzen und Henderungen durhaus nicht zurüd. Mean läßt fie fich gefallen, da er einen vernünftigen Zwed verfolgt. So beginnt die Oper mit einer Scene im Tempel des Gottes Calanidru: Braminen und Volk find verfammelt, Fatime mit Dienerinnen bringt Opfergaben, alles fleht um Genefung des ſchwer erfranften Najah, des Gatten der Lanaſſa. Dann erjcheint Zorai und verfündet feinen Tod; allgemeine Klage. Eine Scene, die an den Anfang der Glud’schen „Alcefte” erinnert. Nachdem der Oberbramin dem Zorai jeinen Auftrag ertheilt hat, hört man Kanonendonner. Das Bolf, jeines Führers beraubt, drängt ji in Beftürzung auf die Bühne. Der tapfre Palmore tritt ihnen Muth zufprechend entgegen. Man wählt ihn zum Rajah und Feldherrn. Er will einen eintägigen Waffenitillitand jchließen, da er vom Nabob von Ganganor Hülfe erwarte. Diejer Palmore ijt der übliche verfchmähte Liebhaber. Er naht ſich der Yanafja, welche einem Chor von Bluts- und Standes- Verwandten erklärt hat, fie werde ihrer Pflicht getreu dem Gatten in den Tod folgen, und verjpricht fie zu retten, wenn fie ihn erhöre, wird aber jtolz zurüdgemwiejen. Seine aus Liebe und Zorn gemifchte, ihre durch Rüderinnerung an den verlorenen Geliebten bewegte Empfindung jtellen dann wieder der Mufik eine angemefjene Aufgabe. Als Beifpiel, wie die Motive ber Handlung jorgfältig geipart, gefammelt und zu Anotenpunften

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zufammengeleitet werden, an welchen fih dann die Muſik mit ihrer ganzen Macht entladet, jtehe hier noch der Inhalt des erſten Finales. Die Vorgefhichte des jungen Braminen, die auch ihn als Opfer eines barbarifchen Gebrauchs erjcheinen läßt, ift fallen gelaſſen. Es wird angenommen, daß die Gejchwijter ſich als Kinder gekannt haben und dann getrennt worden find. Als Zorai feine Botſchaft an Lanaſſa ausrichten will, trifft er nicht fie, fondern nur Fatime. Palmore ift in glänzendem Aufzuge zu Montalban gefommen. Wegen der geftellten Frievensbedingungen erbittet er eintägige Bedenkzeit, da er im Stillen die Hülfe des Nabob erhofft. Er wünjcht jet nur freien Zutritt zum Brama- Tempel, damit eine heilige Sandlung dort begangen werde. Was dieſe betreffe, will er nicht jagen und erregt dadurch Montalban’s Argwohn. Montalban hat bereits einen Vertrauten beauftragt, über Lanafja, die er vor Sahren in diejer Stadt zurüdlaffen mußte, Erfundigungen einzuziehen. Auch Palmore traut dem feindlichen Führer nicht und trifft jeine Maßregeln. Nun aljo das Finale. Der Act der Opferung beginnt. Alles Volk ift verfammelt und wendet ſich in feierlichem Chore an die Gottheit. Lanafja erjcheint, prächtig gekleidet, mit Blumen und Jumelen geſchmückt. Noch könne er fie retten, flüftert ihr Palmore zu, fie möge fich weigern, den Tod zu erleiden. Ent- rüftet weift fie den Verführer zurüd. Der Oberbramin heißt den Holzitoß entzünden, die Trompeter das Zeichen geben (die Aehnlichkeit des Vorgangs mit dem legten Finale aus Marjchner’s „Templer und Jüdin“ wird man bemerken), jchon beiteigt Lanaſſa den Scheiterhaufen „Saltet ein,“ ruft eine Stimme und Montalban ftürzt herein; „wo ift fie? wen muß ich jehen? Lanaſſa!“ Auch fie erkennt ihn. Zorai erfennt die Schweiter. Entrüftung über die free Störung und Eiferſucht erfüllen den Oberbramin und Palmore. Fatime ift von Hoffnung auf Nettung erfüllt. Die verjammelte Menge in größter Weber: rafhung. Die aufgejtauten Wogen der Empfindung fluthen nun mit mächtigem Schwall einher. Nach dem erjten Entzüden des

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Wiederjehend aber fehrt Lanafja das Bemwußtjein ihrer Pflicht zurüd. Der Oberbramin erklärt die heilige Handlung für auf- gehoben, da die Gegenwart eines Fremdlings fie entweiht habe. Freudige Erregung Palmore's, der nun wieder hofft, ſich Lanafja zu gewinnen. Auf feinen Wink jchleicht fih ein Trupp indiicher Soldaten davon, den Ueberfall der feindlichen Flotte zu bewerkſtelligen. Montalban will jih Lanaſſa's bemädhtigen, der Hinweis auf den Waffenftillftand bindert ihn, Gewalt zu gebrauchen. Er droht für jpäter mit Gemwaltmaßregeln, die Inder drohen dagegen. Lanaſſa wird in die naheliegende Be- haufung der Braminen gejchleppt.

Man mag auf Grund diefer Proben meinen, dab von der eigentlichen „Veuve du Malabar* bier nicht mehr viel übrig geblieben jei. Das wäre indefjen auch nicht nöthig. Der Dichter darf fich die Stoffe juchen, wo er will, und es ift gänzlich jeine Sade, was er aus ihnen Neues geitaltet. Die Sicherheit, mit welcher in diefem Opernterte die mufifalifche Seele des Originals bloß gelegt und organisch ausgebildet iſt natürlich vom italienifhen Standpunfte aus verdient volle Anerkennung. Wohl nur durd eine Jahrhunderte alte, praktiſch ſtets lebendig erhaltene Tradition ließ ſich eine jo jihere Technik erreichen.

Wir fehren nach Deutichland zurüd. Am 19. Februar 1791 hatte die Voſſiſche Schaufpielergefellihaft in Pilſen Plümide’s „Lanaſſa“ aufgeführt. Mehr das Stüd jelbit als die Auf: führung begeifterten einen gemwijjen Johann Nepomuk Komared für eine Fortſetzung desſelben. Gedaht, gethan; er dichtete eine „Marie von Montalban, oder Lanaſſa's zweiter Theil. Trauerfpiel mit Chören”, und ließ es 1792 im Drud ausgehen. Folgendes ijt in Kürze das, was uns Herr Komared erleben läßt. Sechs Fahre find verjtrichen jeit den Ereignijjen, die in „Lanaſſa“ zur Darftellung fommen. Die Europäer haben fid) die Inder unterworfen. Lanaſſa, Montalban’s Gemahlin, it nebit ihrem Bruder und ihrer Vertrauten zum Chriftenthum übergetreten. Sie führen die Namen Marie, Emanuel, Chriitine.

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Die Braminen jinnen heimlih auf Befreiung und Race, ein Theil des Volkes hängt ihnen an. Deli, Lanafja’s früherer Gatte, von dem man glaubte, er jei im Schiffbruch umgefommen, [ebt und kehrt zurüd. Man wählt ihn zum Führer. Das nächte, was cr thut, ift indefjen, daß er, als Bramin verkleidet, zu Montalban geht und ihm Vorwürfe maht, warum er den Indern, die ihm nichts zu Leid gethan, die Freiheit geraubt babe und ihre Religion unterdrüde. Je weniger Stihhaltiges Montalban hierauf zu erwidern weiß, deſto jchroffer weiit er ihn ab. Deli geht, Rache drohend ; Marte wird ohnmächtig; Emanuel fommt die Sprade Deli's befannt vor. Feindjelige Bewegungen der Inder werden gemeldet. Die Männer entfernen fih, Ruhe zu ftiften. Alsbald dringt der Oberbramin mit Bewaffneten herein und jchleppt die Frauen fort. In ihr Gewahrfam kommt der verfleidete Deli, hält Marie ihr Vergehen vor, jtellt ihr Montalban’3 und ihren eigenen Tod in Ausfiht und weidet ih an ihren Qualen. Der Oberbramin ruft ihn ab, damit er die geplante Empörung zur Ausführung bringe. Diejelbe nimmt einen für die Inder günitigen Verlauf, da auch einige von Montalban’s Leuten Verrath üben. Der Oberbramin räth Deli, Montalban’s Haus anzugreifen. Dasjelbe wird angezündet; Montalban war aber nicht darin, er jtürzt voll Wuth herbei und jagt die flüchtenden Inder vor fi her. Danı drängt er weiter zum Gefängniß der Frauen, fprengt die Kerferthür und will fie fortführen. Aber die Flamme jchlägt ihm entgegen. Hinter ihnen öffnet fih eine Fallthür, und Deli mit Indern fteigt herauf. Im Kampf ſinkt Montalban verwundet; die Frauen werden abermals fortgejchleppt. Nun jollen Marie und Chrijtine verbrannt und Montalban feierlich gejchladhtet werden. Da aber erjcheint Emanuel, von dem Montalban geglaubt Hatte, er jei im Kampf gefallen, mit bewaffneten Europäern, jtößt Deli nieder, jagt die Inder auseinander, und die Chriften jtimmen zur Ehre Gottes einen Lob— gefang an.

——

Fortſetzungen beliebter Bühnenſtücke ſind nicht ſelten, aber nie mit ſonderlichem Glück verſucht. Ein wirkliches Kunſtwerk erſchöpft ſeinen Gegenſtand, und auch in Bezug auf die Friſche und Neuheit der Handlung iſt die Fortſetzung ſtets im Nach— theil. Bei Komareck's Stück war aber ſchon aus anderen Gründen nicht anzunehmen, daß es die ältere „Lanaſſa“ verdunkeln werde. Einige gute dramatiihe Motive find doch nur mangelhaft ver- werthet. Der Gang der Handlung ift jchleppend und unficher, die Sprade, welche Schiller's „Räuber“ übertrumpfen möchte, roh und hohlpathetiih. Komareck wünſcht, „daß die Mufif zu den Ehören nur für Sänger und für feine Schnattergänje, wie wir fie und ein wildes Miauen hier hören mußten, componirt werden möchte, damit es Voß und Conſorten nie einfallen fünnte, fih daran zu verfündigen“. Dieſe Probe dürfte die Sorgfalt feines Stils und die Gewähltheit feiner Bilder hinlänglich illu- jtriren. Ich weiß nicht, ob Jemand Luft gehabt hat, jeine Chöre überhaupt zu componiren.

Aber als Ganzes ift „Marie von Montalban“ allerdings componirt, wenn ſchon nicht in der Driginalform. Karl Neger in München arbeitete Komareck's Machwerk zu einem Opernterte um, und Peter Winter ſetzte denjelben in Mufif. Die erite Auf- führung der Oper „Marie von Montalban” fand am 28. Januar 1800 zu München ftatt. Warum Winter nicht lieber die „Lanafja“ als Opernftoff wählte, erklärt fih wohl am einfachſten daraus, daß diejes Stüd ſich ald Schauspiel ſchon zu jehr in der Gunft des Publicums feitgejegt hatte. Die Diction des Reger'ſchen Tertes erhebt fih nun freilich” nirgends über die gewöhnliche Opernreimerei. Dagegen ift durch einige glüdliche Aenderungen der Gang der Handlung einheitlicher und jpannender gemacht. Winter war im Ganzen genommen nur ein Talent von mittlerer Kraft. Aber er beſaß etwas, was zu allen Zeiten unter den deutjchen Componiſten jelten geweſen ift: lebendigen Sinn für das dramatiſch Wirkſame. Das zeigt fih auch in diefer Oper. Es find Stellen darin von binreißender Leidenfhaft und jogar von einem gemifjen

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imponirenden Wuchſe, die als Vorbild Gluck erkennen laſſen. Neben dem „unterbrochenen Opferfeſt“ errang ſich daher „Marie von Montalban” mit Recht den größten Ruhm unter den zahl: reihen Opern Winter's.

In der eriten Scene des zweiten Actes läßt Lemierre die über die Ungerechtigkeit der Wittwenverbrennung empörte Fatime jagen:

L'époux traine à la mort son &pouse fidelle; Mais lui, lorsqu’il survit, sS’immole-t-il pour elle? Au-delä du tombeau lui garde-t-il sa foi?

Quel droit de vivre a-t-il, que d’avoir fait la loi? Sans peine il l’imposa sur un sexe timide, Tandis qu'il s’affranchit de ce joug homicide.

Nahdem „La veuve du Malabar“ bei ihrem erſten Erjcheinen dur die Neuheit des Gegenitandes befremdet hatte und ihrer zahlreihen Schwächen wegen gleihjam durdhgefallen war, lag es nahe, daß der Parifer Wig aus ihr Nahrung 309g. Ach glaube fait, e8 find obige Worte geweſen, welche Framery auf den Ein- fall brachten, feine „Indienne* zu dichten, die mit Mufif von Gifolelli am 31. Oct. 1770 zur Aufführung fam. Es war feine eigentliche Oper, jondern eine jogenannte Come&die mälee d’ariettes. Der Name Opera comique bedeutet in der eriten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus das, was man jpäter Vaudeville zu nennen pflegte. Die eingelegten Lieder werden zu derzeit allgemein befannten Melodien gejungen: darin, daß zu irgend einem Gaflenhauer ein neuer dur den dramatischen Zuſammen— bang bedingter Tert gehört wird, liegt ein Hauptreiz dieſer Gefangsftüde. In ſolchem Veritande ift 3. B. bei Favart's Stüden überall das Wort Opera comique gebraudt. Zwiſchen diefer Gattung und der dur Einmwirfung der Opera buffa ipäter entitandenen höheren fomifchen Oper der ;Franzofen ſteht die Comedie möälde d’ariettes gewiſſermaßen in der Mitte. Der muſikaliſche Theil war gewählter und pflegte für das Stüd eigens componirt zu werden; auch gehörte eine jorgfältige Inſtru—

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mentalbegleitung dazu. Aeltere und einfachere Opere buffe, wie Pergoleſe's „Serva padrona*, führen in der franzöfifchen Ueber- tragung auch wohl geradezu den Namen Comedie melee d’ariettes. Andererfeits nähert der überwiegend luftige und tanzartige Cha— rafter der Nrietten fich wieder mehr dem Stil der alten Opera comique, Eine ſolche Comedie aljo war „L’Indienne“, und ein italienischer Baß-Buffo hatte die Muſik dazu geliefert. Baron Grimm meinte, fie hätte den Namen „La petite Veuve du Malabar* tragen jollen. Es wird angenommen, daß in Indien nicht nur die Frauen ihren Männern, fondern auch die Männer ihren Frauen durch Verbrennung in den Tod folgen. Ein Ober- bramin ift verwittmwet, und jchidt fih an, unter prahlerifchen Geremonien den Echeiterhaufen zu bejteigen. Eine junge Inderin it auch verwittwet, hat aber nicht die geringfte Luft, dem Leben zu entfagen. Durch allerhand Künſte bringt fie es nun dahin, daß der Oberbramin fih in fie verliebt und fie heirathen will, Kun ift fie gerettet. Denn wenn ein verwittweter Bramin, der fih zum Feuertode vorbereitet, eine Wittwe findet, die in der: jelben Lage ift, jo kann er dadurd, daß er fie heirathet, fie mit Ehren dem Tode entziehen. Natürlih nur bei einem Bramin it eine jolde Ausnahme von der allgemeinen Sitte zuläffig. Eine ſatiriſche Spitze gegen die Geiftlichfeit fühlt ſich aud hier heraus. Das einactige Stüd hat feinen großen Werth und ver- dankte, wie der Baron Grimm berichtet, feinen geringen Erfolg nur der Muſik Gifolelli’s. Dennoch fand e8 in Deutichland ‚Freunde. Joſeph von Pauersbah in Efterhäz verfaßte eine deutjche Bearbeitung, in welcher aber auf die Mitwirkung der Muſik verzichtet wurde. Unter dem Titel: „Die indianische Wittwe“ ließ er jie 1772 in Preßburg druden.

Als „La veuve du Malabar“ 1780 in ihrer Umgeſtaltung allgemeiniten Beifall fand, wurde fie von Pierre Germain Pariſau parodirt. Hier mögen politiſche Motive mitgewirkt haben. Parifau war ein Anhänger des ancien régime; die unausgejegten An— griffe, welche er fpäter gegen die Männer und Doctrinen der

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Revolution führte, brachten ihn 1794 auf die Guillotine Ein leichtes Blut, das fi in den verſchiedenſten Verhältniffen um— getrieben hatte, auch Theaterdirector und Schauspieler geweſen war, und dejjen wißige, originelle Stüde gern gejehen wurden. Die Parodie führt den Titel: „La Veuve de Cancale“ und wurde den 3. October 1780 in der „Komedie italienne” zum eriten Male gegeben. Die ſchonungsloſen Angriffe auf Lemierre's Perſon und Dichtung nahm aber das Publicum jo übel, daß Pariſau genöthigt war, die ſtärkſten Dinge zu ftreihen und einiges Lob einfließen zu lafjen. In diejer Geftalt wurde das Stüd beifällig aufgenommen, gedrudt und auch viel gelejen; 1786 er- ihien in ZTouloufe eine zweite Auflage. Der Echauplag der Handlung ift Gancale, eine Küftenftadt der Bretagne. Der Ober— bramin ift zum Amtmann von Gancale, der junge Bramin zu jeinem Gerichtsfchreiber gemadt. „Laſſana“ ift die Wittwe eines Kirchendieners, an Montalban's Platz steht ein Sergent der Milizen. Für die Sitte der Mittwenverbrennung ift die Fiction eingeführt, daß der Amtmann von Gancale, wenn ihm die Frau geitorben ift, das Recht hat, fih aus den Wittwen des Ortes eine neue Gattin zu wählen. Er wählt Lafjana, die den Sergent Eifenbrecher (Brifefer) liebt. Diefen läßt der Amtmann durch jeine Poliziften überfallen und dingfeit maden. Laffana jpringt in einen Brunnen, Eijenbrecher, der ausgebrochen ift, hinterher. Dan zieht das Paar wieder ans Licht; Eijenbrecher ftellt dem Amtmann die Alternative, entweder Lafjana oder jeine beiden Obren berzugeben, worauf diefer fich ſchleunigſt für erjteres ent- jcheidet. Das Intereſſante der Parodie liegt, wie bei Stüden diefer Gattung meiftens, in den Einzelheiten, in der überrafchenden Einführung von Citaten aus dem Original, in den jcharfen Schlag: lihtern, die auf die Schwächen desjelben geworfen werden, dann aber auch in dem Uebermuth, mit dem der Verfafler eine ge- feierte Tragödie zum Object feiner Laune macht. Der Gefahr, die ihm hieraus erwachjen konnte, und die der eriten Aufführung auch wohl wirflih erwachſen ift, bat er durch die Schlußverſe 17

Philipp Spitta, Zur Mufit,

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die Spitze abgebrochen: „Keiner weiß beſſer die Schönheiten eines Werkes zu ſchätzen, als der, welcher ſeine Fehler zu finden ſucht.“ Außerdem aber fehlt es dem Stücke auch nicht an allerhand ſatiriſchen Anſpielungen auf damalige franzöſiſche Sittenzuſtände.

Die Muſik iſt bei dieſer Parodie nicht herangezogen worden, obſchon man ſolches in Frankreich ſonſt zu thun liebte. Aber nach länger als 40 Jahren taucht die Jeſſonda-Fabel noch ein— mal in einem einactigen Vaudeville auf. „La veuve du Malabar“ von Saint: Amand wurde am 19. Auguft 1822 im „Theätre du Gymnaſe“ gegeben, zu der Zeit aljo, da eben Spohr in Deutſch— land feine „Jeſſonda“ componirte. Eine Stelle bei Lemierre, wo der junge Bramin dem Montalban verräth, daß durch den unterirdifchen Gang jchon einmal eine Frau um den Preis einer bedeutenden Geldjumme dem jFeuertode entzogen jein joll, hat offenbar den Verfaſſer auf die dee gebracht, den Brauch der Wittwenverbrennung einmal ganz unter den Gefichtspunft des faufmännifchen Geſchäfts zu bringen. Surville, ein reicher junger Franzoje, liebt Zeila, eine junge indifche Wittwe, welcher der Flammentod bevoriteht. Ein nad Indien übergeftedelter fran- zöfifher Kaufmann, Dupre, bat ſich gegen eine Summe von 20,000 Biaftern bereit erklärt, fie zu retten. Der berühmte unterirdiihe Gang führt vom Tempel, wo Zeila fih aufhält, in feine Wohnung. Hierher gelangen heimlich die Liebenden. Ein Schiff am nahen Strande ift bereit, fie nach Frankreich zu führen. Dupré mit feinen erworbenen Reidhthümern und dem Reit feiner Waaren will fih mit ihnen einſchiffen. Um aber alles Aufſehen zu vermeiden, das durch den Schluß feines Ge- ichäfts, die Entlafjung feiner Dienftboten entftehen und Verdacht erregen könnte, fommt Dupre auf den Gedanken, die Nachricht von feinem Tode zu verbreiten. Nun ijt feine Gattin, die er in Frankreich heimlich verlaffen hatte und die im Dienfte einer engliſchen Lady ebenfalld nad) Indien gekommen war, hier wieder mit ihm zujfammengetroffen. Die Frau, ſonſt zänkiſch und rück—

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fihtslos, wird alsbald von liebendfter Sorgfalt für ihren Gatten erfüllt, da fie erfährt, was ihr im Falle feines Todes in Indien bevorfteht. Die fingirte Nachricht von Dupre’3 Tode bringt fie daher in die größte Verzweiflung. Natürlich Elärt ſich der Irr— thum bald auf, herricht aber doch fo lange, dab ein gewiſſer Ali Brull-⸗Pha-Gos Raum geminnt, feine Eigenthümlichkeiten zu zeigen. Diejer ift ein Makler in Wittwenverbrennungsgejchäften, der gelegentlich gegen eine Summe von 40,000 Piaſtern auch par procuration verbrennen läßt, d. h. eine andere Wittwe oder auch wohl eine lebloſe Puppe unterfchiebt eine Figur von grotesfer Komik. Das Stüd enthält eine Anzahl recht brolliger Scenen. Unter den Melodien, zu welchen die Liedereinlagen ge— jungen werden, befinden fih auch jolde von Gretry und Roſſini. Die Bezugnahme auf Lemierre ift durch das ganze Stüd deutlich erfennbar, und daraus geht dann auch hervor, daß deſſen Dichtung den Zuhörern oder Leſern noch ganz geläufig geweſen jein wird; ſonſt würde das Vaudeville zum guten Theil unwirkſam haben bleiben müſſen. Daß eine fomifche Oper „Le veuf du Malabar“ 1846 und endlich auch noch 1873 eine ebenjoldhe „La veuve du Malabar“, gedichtet von Delacour und Créͤmieux, componirt von Herve, in Paris auf die Bühne gebracht worden ift, möge bier nur zum Abjchluß bemerkt fein.

II.

Es ift wohl möglih, daß die Menge der aus einem und demjelben Grundjtoff entwidelten Dramen mit den angeführten noch nicht erichöpft ift. So fünnte eine „Clara von Montalban“ von Elife Bürger, welde am 11. Auguſt 1822, alſo faft zur jelben Zeit wie Saint-Amand's Baudeville, in Würzburg auf: geführt wurde, auch wohl in diefe Familie gehören. Immerhin iit Klar, daß die Fabel mehr als fünfzig Jahre hindurch eine bedeutende Anziehungskraft für die dramatijchen Dichter und Componijten Frankreichs, Deutichlands und Staliens bejefjen

bat, und auch im Publicum zu den beliebteften und befannteften 17°

260

gehört haben muß. Blickt man nad) Gewinnung dieſer Erkenntniß auf Spohr’s anfänglich mitgetheilte Erzählung zurüd, jo kann man ſich einer gewiſſen Verwunderung nicht erwehren. Scheint e3 doch, als habe er von all’ diefen Dingen nihts gewußt. Er findet in Paris, wo damals Lemierre's „malabariſche Wittwe“ noch ein ganz befanntes Stüd war, einen Roman gleichen Namens und formt fi aus diefem ein Scenarium, ohne jih um Autor und Duelle des Nomans irgendwie zu fümmern. Kein Wort jagt, daß er Plümicke's „Lanaſſa“, Winter's damals ziemlicd) verbreitete „Marie von Montalban“, Mayr's „Lanaffa” gefannt habe. Lesteres ift befonders merkwürdig. Spohr war im Fe bruar und März 1817 in Neapel, wo Mayr nah Aufführung jeiner „Lanafja” in Venedig ebenfalls verweilte, zum 12. Januar jein Feſtſpiel „Il sogno di Partenope* in Scene gejegt hatte, und einige Wochen jpäter feine Oper „Cora“ von Neuem auf: führte. Beide Künftler verkehrten viel und gern miteinander. Es iſt doch kaum anzunehmen, daß Spohr hier von der Erijtenz und dem Inhalt der „Lanaſſa“ nichts erfahren habe. Ein Roman „La veuve du Malabar“ ift mir nicht befannt, und von jad)- fundiger Seite in Paris angeltellte Forſchungen haben ebenfalls nur ein negatives Refultat gehabt. War ein folcher wirklich vorhanden, jo iſt er jedenfalls dem Lemierre’fchen Drama nad): erzählt gemejen, und hieraus würde fich die geſchickte Anlage des Spohr’ihen Scenariums wohl jchon genügend erklären. Alein Spohr ſchrieb die Stelle feiner Selbitbiographie, welche von der „Jeſſonda“ handelt, beiläufig dreißig Jahre fpäter, als die erzählten Ereignifje fich zugetragen hatten. In feinem Nach— laſſe Hat jich der bewußte franzöfifche Roman ebenfalld nicht ge- funden. Es iſt aljo die Möglichkeit nicht ganz ausgefchlofien, daß dasjenige, was ihm in Paris in die Hand fiel, gar nicht der Roman, jondern das Lemierre'ſche Stüd ſelbſt geweſen ift, und das Gedächtniß ihn, der immer viele Romane las, in diejer Beziehung täuſchte. Möglih au, daß er von anderen drama- tiſchen Bearbeitungen des Stoffes wohl eine gewiſſe Kunde hatte,

%

diejelben aber für jeine Zwede abſichtlich unbeachtet ließ, und fih daher derjelben jpäter nicht mehr erinnerte. In Caſſel, wo die Oper „elfonda“ componirt wurde, war früher auch Plümicke's „Lanaſſa“ gegeben worden, und W. Eynfer macht in feiner „Ge— ihichte des Theaterd und der Mufik in Gafjel” auf die Weber: einftimmung der Fabel aufmerkſam. Wie dem aud jei, fo iſt Spohr's Verhalten in diefer Angelegenheit für ihn bezeichnend. Er liebte nicht, weite Umſchau zu halten. Was in feinen Ge- fichtöfreis kam, deifen bemächtigte er fih und that jein Werf in jeiner Weile. Was jenſeits dieſes Kreiſes lag, ging ihn nichts an.

Zuverläffig war Gehe nicht in diefen Maße unbefangen. Er kannte jedenfalls Winter's Oper. Bei Yemierre ımd in der Oper Mayr's find die erobernden Krieger Franzoſen, bei Blümide und Komaref Europäer, bei Reger Portugieſen. In der Portu— giejenzeit jpielt, wie erwähnt it, auch Gehe's Dichtung. Sollte man die Uebereinftimmung für zufällig halten wollen, jo jchließt ein fajt wörtliches Citat aus der dritten Scene des eriten Actes der Oper Winter's dieſe Annahme aus. Auch Plümide’s „Lanaſſa“ mag ihm nicht unbefannt gewejen jein. Dort er: jcheint der europäifche General erſt beim Heere, als der Kampf ihon im Gange iſt. Auch bei Gehe trifft Triſtan d'Acunha im portugiefiichen Lager ein, um die ſchon zwei Monate währende Belagerung durch einen Sturm auf die Stadt zum Ziele zu bringen. Hier und dort herricht Waffenruhe jchon, als das Stück beginnt. Dieſe Züge können nicht wohl der franzöfiichen Vorlage entitanımen; bei Lemierre finden fie fich wenigitens nicht. Doch das find Kleinigkeiten, durch welche Gehe's Eigenthums- recht auf die Ausführung des Opernbuches nicht verfürzt wird. Der Jeſſonda-Text ift viel gelobt worden; was die dramatiſche Anlage betrifft, mit vollem Recht. Auch die Sprade ijt gewählt und melodiſch, nicht jelten erfreut man fi an einer gewiſſen finnigen Zierlichfeit des Ausdruds. An andern Stellen jchwelgt

der Dichter in verſchwommenen Bildern bis zur Gefhmadlofig: feit. Berje wie:

Daß fih Mild’ und Pflicht vermähle,

An dem Himmel jeiner Seele

Mallt empor der Wehmuth Hauch

Wie ein ftiler Opferrauch jtehen hart an der Grenze des blühenden Unſinns. Wer Gehe's Dichtung unbedingt lobt, hat wenigftens fein Recht, am Stil des Euryanthe-Tertes Kritik zu üben.

Vergleiht man die Dichtung, jowie fie nun einmal befteht, mit ber „Veuve du Malabar“ des Lemierre, jo jpringt ein Unterſchied hell in die Augen. Bon den revolutionären Stoffen des Driginals ift dem Operntert nichts geblieben. Ich fegte oben Beaumarchais zu Lemierre in Parallele. Die Parallele läßt fich ver: längern. Beaumardais fand feinen Mozart, wie Lemierre feinen Spohr. Spohr verhält ſich, Hinfichtlich der Talentkraft, annähernd fo zu Mozart, wie Lemierre zu Beaumardais. Die Opernterte zum „Figaro“ und zur „Jeſſonda“ ftimmen darin überein, daß in beiden das tendenziöfe politische Element als ein unmufifalifches joweit ausgemerzt wurde, al3 es der Bau der Stüde irgend ver- trug. Der poetifhe Gehalt des Nejtes ift bei „Jeſſonda“ ent: ſchieden höher als bei „Figaro“. Hier aber trat Mozart’s mwunderwirfender Genius ein und ſchuf, den entgegenjtehenden Schwierigkeiten wie zum Troß, ein Kunſtwerk allerhöchſten Ranges. Diefe Bezeihnung kann man der „Jeſſonda“ nicht geben.

„Jeſſonda“ gehört gewiß zu den vorzüglichen deutjchen Opern, darüber kann fein Streit jein. Und das bedeutet ein großes Lob; denn die Zahl der quten deutſchen Opern ift verhältnig- mäßig Elein, wogegen freilich die beiten unter ihnen auch Alles hoch überragen, was andere Nationen auf diefem Gebiete auf- zumweijen haben. Aber „Jeſſonda“ ift mehr, man möchte jagen dur Zufall, durch ein glüdliches Zufammentreffen der Umstände zu dem geworden, was fie ift, als durch den gebieterifchen Willen

2693

des geftaltenden Künſtlers. Sie hat etwas Dilettantifches an fi, nicht in der Mufif, die überall ihren Meifter lobt, aber in der dramatifchen Geſtaltung. Spohr war fein Dramatiker; er bat das auch wohl gefühlt und wundert fich gelegentlich über fih jelbft, daß er das Opernfchreiben nicht lafjen kann, da er doch mit den wenigften feiner Dpern Erfolge erzielte. Seine Tonjprade ift durchaus eigenthümlich, aber nicht reih. Sie ift ftill, weich, dämmernd und ſchwermüthig, fie wirkt wie Mond- liht auf norddeuticher Ebene. Ein Charafterzug niederſächſiſcher Art fommt in Spohr zur Erſcheinung, man denkt an Hölty oder Storm bei feiner Mufil. Aus jener Grundftimmung aber findet er fich nie, oder nur mit großer Anftrengung heraus. Nun traf er in der „Jeſſonda“ auf einen Stoff, für welchen gerade dieje Stimmung gut verwendet werben konnte. Das Beichauliche, Träumerifche, geſtaltlos Zerfließende des indischen Weſens erhielt in ihm den rechten Gomponiften. Um den angemefjenen Ton zu treffen, brauchte er nur zu jchreiben, wie er immer jchrieb. Alle Partien der Oper, in welchen dies Weſen zum Ausdrud kommt: die Introduction des erjten Actes, die Scenen zwiſchen Jeſſonda, Amazili und Nadori, die Gewitterfcene im dritten Act, find von binreißender Naturwahrheit. In ihnen ruht, was die Oper un- vergänglid macht. Aber vom Drama bilden diefe Partien nur eine Seite. Den Indern ftehen die Europäer mit dem Recht auf gleih ſcharfe Charakterifirung gegenüber. Ja, die Inder jelbjt gliedern fich in eine quietiftifche und eine fanatiſche Gruppe. Hier reihen Spohr’s Mittel zur Charafterifirung nit mehr aus. Ein dramatifcher Componift muß fi in jeden Charakter und jede Situation lebendig und ganz verjegen fünnen, er muß eine Proteusnatur haben. Dan werfe einen Blid auf „Oberon“: in welch einleuchtendem Gegenfaß ſteht das fränkische Ritterthum zum morgenländifchen Wejen und zu beiden wieder das nordifche Elfentreiben. Weber beſaß jene VBerwandlungsfähigfeit in ſehr hohem Maße, darum ift er ein großer Dramatiker. Spohr be: jaß fie nicht, er agirt immer nur fich ſelbſt. Abfichtlich habe ich

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oben von dramatiichen Dilettantismus geſprochen. Spohr hat Weber einen dilettantischen Componiften genannt. Die Forderung it doch vernunftgemäß, daß der Operncomponift zunächſt und vor Allem vom Standpunkt des dramatifchen Dichters aus zu erfinden hat. So betradtet, ift Weber ein beherrfchender Meifter, und der von Spohr erhobene Vorwurf trifft ihn felbit.

Daß die Yeffonda - Fabel ſchon vor Spohr im deutjchen Nublicum befannt und beliebt war, dürfte dem Erfolge feiner Dper eher genügt als gejchadet haben. Lemierre hatte erfahren müſſen, daß ein ganz neuer und fremdartiger bramatifcher Stoff ein Theaterpublicum eben jo leicht abjtoßen als anziehen kann. Es jcheint, als ob dramatifche Stoffe fih überhaupt nicht leicht beim erjten Anlauf bewältigen laſſen. Gerade die beiten unter ihnen haben vielfach erjt dann ihre endgültige Ausprägung er- halten, nachdem ſchon eine Anzahl jchöpferifcher Kräfte fih an ihnen abgearbeitet hatte. Indeſſen diefe Betrachtung braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden, denn man muß leugnen, dat Spohr's „Jeſſonda“ die von Stufe zu Stufe weitergeführte endliche Löſung des von Lemierre aufgeworfenen dramatijchen Problems darſtellt. Daß in der Oper fehr viel verloren ge gangen ift, was gerade zu den glänzendften Vorzügen des Schau- ipiel3 gehört, ift jchon gejagt. Daß man aud für den Zwed einer Oper den Stoff ganz anders behandeln kann, beweiſt die italieniſche „Lanaſſa“. Spohr war jeinen Vorarbeitern zwar wohl an allgemeinem muſikaliſchen Talent, feinesfalls aber an der entjcheidenden dramatifchen Begabung überlegen. Was ihm den Erfolg ficherte, dürfte vielmehr dieſes geweſen fein, daß er zu einer Zeit, da das Intereſſe an dem vielbearbeiteten Gegen- ſtande anfangen wollte nachzulaffen, eine Seite desjelben bejonders ſtark und glüdlich heraushob, die der romantijhen Stimmung der Zeit entſprach: den fremdartigen, indijchen Localton. Eine alljeitig genügende muſikaliſche Behandlung, eine joldhe, wie fie 3. B. der Don Juan-Sage durch Mozart zu Theil wurde, hat die „malabariihe Wittwe“ überhaupt nicht erfahren. Bielleicht

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wäre dies eine Aufgabe für Spontini gewejen. An Spontini zu denfen liegt nahe, da der Jeſſonda-Text ſich mit jeder jeiner drei Hauptopern berührt. Es iſt gejagt, daß Lemierre's Stüd an Voltaire’3 „ÖOlympie* wenigitens anflingt, und aus Fon— tanelle’3 „Ericie“ mehrere wichtige Motive entnimmt. Voltaire's „Olympie* wurde die Grundlage für Spontini’S gleichnamige Oper, und daß Jouy, der Verfaſſer des Tertes zur „Beitalin“, die Tragödie Fontanelle's gefannt und benugt hat, darf als unzweifelhaft gelten. Die Nehnlichfeit endlich zwijchen „Cortez“, ebenfalls von Jouy gedichtet, und der „Wittwe von Malabar“ liegt auf der Hand; auch Gehe iſt jich ihrer bewußt gewejen, die Entlehnung des Frauennamens Amazili läßt e3 erfennen.

Man hat von jeher „Jeſſonda“ mit befonderem Stolz eine echt deutjche Oper genannt und in dieſer Eigenſchaft auch ihre Wirfung auf das deutfche Volk begründet nefunden. Ich meine, daß dies Urtheil doc einer weſentlichen Einſchränkung bedarf. Deutſch ift die Oper wohl in Bezug auf die Mufif, ja in ihren ihönften Partien jo eigenthümlich deutih, daß die Romanen Mühe haben würden, fie zu verftehen. Aber mit diefer nationalen Eigenthümlichkeit allein hätte Spohr doch niemals ein Werf ichaffen können, das im Stande gewejen wäre, fich neben den Producten der Staliener und Franzofen im deutichen Vaterlande dauernd zu behaupten. Mir jcheint die Mufif zum „Fauſt“ Feines- wegs geringwerthiger als die zur „Jeſſonda“, in mandhem Betracht möchte fie gar höher ftehen. Dennoch hat fich diefe Oper nicht dauernd einbürgern können. Die Lebensfähigfeit der „Jeſſonda“ liegt zum guten Theil in der Trefflichkeit der Dichtung und diefe verdanfen wir einem franzöfiihen Dramatifer. Dadurch wird Spohr von jeinem Berdienfte nicht genommen; er erjcheint nur einem geſchichtlichen Gejege unterthan, durch welches die Ent: widelung der Oper überhaupt bejtimmt worden iſt. Deutjche, Staliener, Franzojen und mit ihnen zeitweilig die Engländer und Spanier haben dur einen Zeitraum von mehr als drei: hundert Jahren nur einen gemeinfamen muſikaliſchen Haushalt

U

geführt. Die Geſchichte der europäiſchen Muſik zu begreifen it nur möglich, wenn man fich dies Verhältniß bei jedem Schritte gegenwärtig erhält. Es ericheint nit in allen Zweigen der Tonkunſt gleih wirkſam. Gerade aber die deutſche Oper wäre ohne die jtete Mithülfe der Italiener und Franzofen eine Un: möglichkeit gewejen. Dieſe internationale Entwidelung jhließt jelbftverjtändlich das Hervortreten nationaler Eigenthümlichkeiten nicht aus. Nur wird man ſich hüten müſſen, in ihnen den eigent- lihen Grund und Boden des Kunſtwerks jehen zu wollen. Wenn in unferer Zeit die deutſche Opernmufif die offenbare Neigung zeigt, fih national zu ijoliren, jo darf ung das doch nicht zur Verfennung desjenigen verführen, was wir den Ausländern bisher zu verdanken gehabt haben.

Er

Carl Maria von Weber.

(1886.)

3

O

Ir feinem Lande hat die VBerfchiedenartigfeit der Volksſtämme

c%* den Charakter der Muſiker und ihrer Werfe ftärfer be- einflußt als in Deutfhland. Die Sondereigenthümlichkeiten haben fich zuweilen zu einer Schärfe ausgebildet, die dem un- mittelbaren allgemeinen Berftändniß geradezu zu wehren jchien. Ein deutjcher Künftler, der fich diefem allgemeinen Gejege in feiner Beziehung unterworfen zeigt, ift folglich jchon deshalb eine merkwürdige Erjcheinung.

Carl Maria von Weber ijt gleichjam die verförperte Ver- ſchmelzung der Deutichen von Süd und Nord, von Oſt und Weit. Seiner Familie nad) ein Oberöfterreiher, ift er doch in Holitein geboren und ein Kind gewejen. Er hat al3 Kunftjünger zu den Füßen Michael und Joſeph Haydn’3 gejeffen und in der Zeitung der deutjchen Oper zu Prag zum erjten Male feine volle Genialität al3 Dirigent bekundet. Würtemberg und die Pfalz jahen ihn als großen Virtuofen, Clavier- und Liedercom- poniften jeine Kraft entfalten. Aber unter norbdeutichem Ein- fluß entjtanden die Lieder aus „Leyer und Schwert“, welche zuerjt jeinen Namen überall dahin trugen, wo die deutſche Zunge Hang. Die Wiege feines Weltruhms endlich wurde Berlin. Doc der Jubel jenes denfwürdigen 18. Juni des Jahres 1821, als im Schaufpielhaufe zu Berlin zum erjten Male die Töne des „Freiſchütz“ erflangen, jcholl in furzer Friſt von den Ufern

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der Donau, wie von überall her aus den Ländern deutſcher Sprade mit gleicher Gewalt zurüd. Ihm gegenüber gab es feinen Unterjchied der Stämme; er war, wenn je ein großer Mufifer dies geweſen ift, ein Alldeutjcher.

Ein Hiftorifer fpäterer Zeit wird vielleiht einmal auf den Gedanken fommen, die deutſche Muſik des neunzehnten Jahr: hunderts vom Standpunfte der MWeber’fchen Kunft aus zu be- traten. Der Gedanke würde fein unglüdlicher fein. Ohne Zweifel hat kein Künftler die moderne Muſik kräftiger und auch nachhaltiger beeinflußt als Weber: noch die unmittelbare Gegen- wart jpürt auf dem Gebiete der Oper, in gewiſſen Zweigen bes deutichen Liedes, in der Männergejangs - Compofition, in der Technik des Clavierjpiels, und vor Allem in der Orcheſtrations— funft den engen Zufammenhang mit ihm. Unberührt von feinem Geifte ift faum eine der Kunftgattungen geblieben, welche in unferem Jahrhundert mit Erfolg gepflegt worden find. Geziemt es jih, im Jahre von Weber's Sücularfeier diefen Umftand fräftig zu betonen, jo wird man fich doch vor einem abjchließen- den Urtheile hüten müfjen, weil eben Weber's Genius in feiner eigenthümlih an- und aufregenden Weife noch immer in ber Production der Gegenwart lebendig ift. Auf feiterem Boden jtehen wir, wenn wir ung bejcheiden, ihn im Verhältniß zu jeiner eigenften Zeit und zu feiner Vorzeit zu betrachten.

Hier finden wir etwas Räthſelhaftes. Es hat wohl feinen Künstler gegeben, deffen Tonfprache überzeugender, defjen Wirkung auf die Welt einleuchtender geweſen wäre. Aber diefer Künftler, von dem es ung jcheinen will, er jei im Befige eines Zauber: wortes gewejen, auf das die Melt nur gewartet habe, um in hellen Sang und Klang auszubrechen, er läßt fih auf rein muſikhiſtoriſchem Wege fchwer begreifen. Daß Mozart auf Haydn, Beethoven auf Mozart und Haydn gefolgt it, veritehen wir ohne Weiteres, hier haben wir das Gefühl einer Nothwendigfeit. Weber fteht außerhalb des Ringes. Er ift ganz anders geartet als jene großen Meifter, anders auch als Schubert, anders als

rn

Spohr. Man darf behaupten, daß am Anfang unjeres Jahr: hundert3 wohl faum Jemand eine Künftlererfcheinung, wie er fie ift, geahnt haben wird. Und dennoch bewies das Jauchzen, mit welchem das deutiche Volf feinen Sang belohnte, daß er ein Solcher war, der fommen mußte. Keine furzlebige Tages: größe, jondern ein Mann, der das Schaffen feines Jahrhunderts beftimmen half. Ein Geift voll neuer Ideen, die er in Werfen uriprünglichjter Art verkörperte. Und er theilte nicht das Schick— jal neuernder Talente, auf deren Schultern Andere fteigen, Die fie vergefien madhen. Monteverdi’3 Opern, Willaert'3 Madri- gale mußten den Compofitionen der Nachfolger weichen. Weber’s Opern blühen heute wie vor fechzig Jahren, und völlig außer Cours gejegt ift er faum nach einer Richtung feines vielfeitigen Schaffens hin.

Ich darf zur Erklärung diefer Erfcheinung mit einem Bilde beginnen. In einem von hohen Berglehnen eingejchlofjenen Thale zieht eine Schaar von Wallern dahin. Meift find es ernite, würbige Geftalten. Sie find jchon lange auf der Fahrt; man merft es ihnen an: fie fühlen fich al3 eine Gemeinde Der Charakter des Thales iſt wechſelnd: bald treten großartige Fels: mafjen bis an den Weg heran, bald führt der Pfad durch feier: lihe Waldesgründe, bald wieder dachen ſich die Berge in an- muthige Wiejen ab, ohne doch unterbrochen zu werden oder ſich zu verlaufen. Aber unter den Wanderern ift einer, der hat ſich berzugefunden, man weiß nicht recht woher, ein feder, jugend: licher Gejell. Den duldet e8 nicht länger bei den andern. Er verliert fih an der Bergeshalde, folgt verworrenen und ver: wachſenen Pfaden. Er erreicht den Bergesrüden: da ſieht er weit hinaus in ein fonnenbeglänztes, gejegnetes Land. Jubelnd ruft er die andern, fie drängen nach aus ihrer Einjamfeit und jteigen nieder in die freie weite Welt, dort erfennen fie langver— lafjene Brüder wieder, mit denen fie nun vereint wirken und fchaffen.

Die deutſchen Mufifer des 18. Jahrhunderts lebten ihrer Kunft in eigner Weife. Sie bildeten eine Gemeinde für fich,

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auch die höchſten und genialiten rechneten ſich zu dieſer. Was fie von der übrigen Welt abſchloß ih möchte es nicht die Zunft nennen, dieſes Wort würde nicht ganz pafjen, aber der Stand war e8. Aus dem Standesbewußtjein heraus betrachteten fie die Welt, und willig jahen fie fih durd) ihren Stand be- ſchränkt. Ich jage nicht, daß ihnen gefehlt hätte, was man all- gemeine Bildung nennt: war dies wirklich hier und da der Fall, jo hing es allerdings mit der Standesabgejchlofjenheit zu: janmen, aber eine nothwendige Folge derjelben war es nicht. E3 wäre lädherlih, wollte man bejtreiten, daß ein Gluck, ein Mozart eine große Vieljeitigfeit der Kenntniffe und Intereſſen an den Tag gelegt haben. Aber Alles, was außer der Mufit den Geiſt bewegen und nähren, die Phantafie mit fchönen und edlen Vorftellungen erfüllen fann, erſchien ihnen mehr nur als Mittel, das Leben äußerlich angenehmer zu gejtalten. Sie be- durften defjen nicht, wenn fie eben nur als Mufifer und an dem Plage ihre Pflicht thaten, welcher ihnen in der Hierarchie der damaligen Gejellihaft angewieſen war. Dieſer Pla war fein hoher.

Der Abgeſchloſſenheit in untergeordneter Stellung, welche aber gewiſſer Sicherheiten und Vortheile wegen nicht ungern ertragen wurde, hat Weber durch ſein Beiſpiel ein Ende gemacht. Er hat etwas geſtürzt, was freilich in der neuen Zeit überhaupt | nicht mehr völlig zu halten war. Er war auch nicht der einzige, den es in der herkömmlichen Standesenge der Mufifer unerträg- ih dünfte In Norbdeutichland ftrebte Joh. Friedr. Reichardt Aehnlihes an, in Defterreich Beethoven; aber jenem fehlte die ihöpferifche Genialität, diefem die geiltige Beweglichkeit und die Gunſt der Lebensitellung. Weber nahm jchon durch feine freiherrliche Geburt einen Platz auf den Höhen der Geſellſchaft ein. Er zwang durch jein Beijpiel die Welt, fih daran zu ge- wöhnen, daß auch eine berufsmäßige Ausübung der Kunft einem Hochgeborenen wohl anftehe. Seine umfaffende Bildung mar nicht äußerlich angelernt, fondern innerlich erworben; fie ver:

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band jich mit jeinem Muſikerthum zu einem unlöslichen Ganzen. Nicht gering war jein jchriftftellerifches und dichterifches Talent, für bildende Künfte und mechanische Fertigkeiten befaß er Intereſſe und Verſtändniß. Theils angeboren, theils durch feinen Verkehr mit Menſchen jeden Ranges praftifch erworben, waren jeine große Gewandtheit und feinen gefellichaftlihen Formen. Seine Er- ziehung zwar war feine regelmäßige geweſen. Aber das rubelofe Wandern mit einem abenteuernden Vater hatte ihm von Kind auf eine Menge der verichiedeniten Eindrücde zugeführt, die fein lebhafter Geift ergriff und fein kluger Kopf fi nugbar machte. Mit zwanzig Jahren hatte er mehr LYebenserfahrung und Menfchen- fenntniß, als mancher Künftler der alten Zeit bis an feinen Tod zu erwerben vermocht hätte. Eine Natur, die allen Ein- drüden weit offen ftand, die fih mit Enthuſiasmus hingab an die Schönheit der Welt.

Und meld’ einer Welt! Wie aus zweihundertjährigem Schlummer war in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts das geiftige Leben Deutichlands neugeltärkt erwacht. Raſch ent: faltete es fich zu einer Kraft und einem Reichthum, mie fie in unferer Gejchichte nie zuvor dageweſen find. Ließen die poli- tiihen und gejellihaftlichen Verhältniiie jeden Stügpunft für einen neuen Aufſchwung vermiffen, jo übernahm nun die Poefie die Führerrolle in der mächtigen Bewegung. Sie offenbarte jich in den höchſten Kunjtwerfen, welche die deutiche Literatur kennt, fie wies aber zugleich der Menſchheit ihre höchſten zu erftrebenden Ziele. Ihr nah zog in glängender Entwidelung die Wiſſen— ſchaft der Geſchichts- und Alterthumsforſchung, der Theologie und Philoſophie. Das deutſche Mittelalter mit feinen Gefängen und Geftalten wurde wieder lebendig. Eine neue deutſche bildende Kunjt erwuchs. Der Deutiche vermochte ſich wieder jeiner Nation zu freuen. Minder gewaltjam als jenjeit8 des Rheines und langjamer bahnte fi) auch bei ihm eine neue Ordnung der Gejellihaft an, als deren Grundlagen Qumanität und Freiheit galten. Diejer Geiftesfrühling ohne Gleichen gab

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Philipp Epitta, Zur Mufit,

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den Deutſchen auch die Spannkraft, das furdtbare Schidjal der napoleoniſchen Herrichaft zu ertragen. Und als das od der Fremdherrſchaft abgefchüttelt, als nach den fiegreihen Schlad: ten von Leipzig und Waterloo endlich auch wieder ein ein- miüthiges Gefühl patriotifcher Begeifterung erwaht war, da mußte es wohl auf Augenblide ein jeder Hochherzige empfinden, daß in einer Zeit wie dieſe, es eine Luft fei zu leben.

Dieje Zeit war Weber's Zeit. Wenn ich aber fagte, das geiftige Leben der Deutichen habe zweihundert Jahre gefchlummert, jo jollte von diefem Urtheil die Mufif ausgenommen fein. Sie und fie allein war gediehen in der Periode äußerfter Ermattung und Armjeligkeit; alle inneren Lebensfräfte hatten fich gleichjam in die Muſik zurüdgezogen, die großen Tonmeilter des 17. und 18. Jahrhunderts waren die einfamen Zeugen der Unverwüſt— lichkeit des deutjchen Volks. Das Leben konnte ihnen außer der Religion kaum etwas ihren Geift Befruchtendes bieten. Sie mußten fi jelbjt genug fein und waren ed. Die Schäße der Erfahrungen, Kenntniffe und Anfchauungen ftetig mehrend und läuternd, dergeftalt Ererbtes zu Ererbtem bäufend, laſſen fie ſich vergleihen mit einer altbegüterten Ariftofratie. Conjervativ wie eine ſolche lehnten ſie die innerlihen Berührungen mit dem Leben auch dann noch ab, als e3 dort fchon anfing ganz anders auszufehen. Wer merkt es der Mufif Haydn's und Mozart’s an, daß fie Zeitgenoffen von Klopftod und Herder, von Goethe und Schiller waren? Ueberall der dichtefte Zufammenhang mit der Mufit der Vorgänger und Mitlebenden; aber auch fat nur mit diefer. Daß jenfeit3 der Berge ihres Thales die Sonne aufgegangen war iiber dem weiten Lande, das merkten fie nicht, oder es fümmerte fie nicht.

Nun erwäge man, welch’ eine Wirkung es thun mußte, als endlich Jemand Fam, der zu vereinigen juchte, was doch im tiefiten Grunde zufammen gehörte. Ein genialer Muſiker, deſſen Geiſt aber taufendfältig befruchtet war von Allem, was die legten fünfzig Jahre frühlingsfroh hatten Feimen und wachſen

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fehen, und dem ein Gott gegeben hatte zu jagen, wie ihm zu Muthe war. Spohr, Weber's conjervativer Zeitgenofje, ſprach etwas verächtlich über deifen Talent, für „ben großen-Haufen“ zu fchreiben. Wer aber war diefer große Haufen? Die deutfchen Studenten, die Männer, die für Vaterland und Herd gelitten und gefämpft hatten, und die nun gegen Fremdländiſches mit Waffen des Geiſtes auf der Wacht ftanden, alle jene begeijterten Seelen, die in vaterländischem Ruhm und Größe glüdlich waren. Neben den Gebildeten das verbrauchte Wort hatte damals noch jeine friihe Bedeutung fand freilich auch der einfache Mann in Weber's Weifen jein eigenfteg Empfinden wieber. Jene jchöne, fait ein halbes Jahrtauſend zurüdliegende Zeit ſchien wiederzufehren, wo im deutſchen Volksliede diejenigen Empfindungen Form gewannen, in welchen die gejchiedenen Stände ſich als Wolf zufammenfanden und verftanden.

Nimmt Weber folchergejtalt unter den deutſchen Mufifern feiner Zeit eine vereinzelte Stellung ein, jo gehört nun gerade er, wie er leibt und lebt, in das Eulturbild der zehner und zwanziger Jahre unjeres Jahrhundert? als ein mwejentlicher Zug, als ein Ton, durch welchen andere erjt fich zur vollen Harmonie ergänzen. Wenn der Zuftand ein romantifcher ift, in welchem neue Gulturelemente in eine langbejtehende Ordnung der Dinge eindringen, diejelbe durchſetzen und endlich auflöfen, jo war jene gefjammte ‘Periode von der Mitte des 18. Jahrhunderts an eine romantiiche. Auch Weber war in diefem Sinne Romantifer durch und durch. Der Widerſpruch, den ein ſolcher Zuſtand bedingt, lag in ihm, ebenſo wie die ſtete Unruhe, welche dieſen Widerſpruch begleitet. Aber derſelbe mußte nothwendiger Weiſe bei einem Muſiker anderer Art ſein als bei einem Dichter oder Bildner. Goethe hat geſagt, um Großes in der Welt zu ſchaffen, müſſe man eine große Erbſchaft thun. Wenn irgendwer, ſo be— kam zu Weber's Zeit ein Muſiker etwas zu erben. Hätte Weber die Erbſchaft nicht anzutreten gehabt, ſo wäre bei all'

ſeinem geiſtigen Reichthum das Ergebniß ſeines Wirkens doch 18*

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ein anderes und viel geringeres gewefen. Aber obgleich er ab: jeit3 von den Anderen ftand, obgleih er als Jüngling den neuerungs- und originalitätsfüchtigen, anregenden, aber unechten und unproductiven Abt Vogler hoch verehrte, jo verleugnete er doch nicht im entfernteften die Kunſt feiner großen Vorgänger und Zeitgenoffen. Mozart und Cherubini blieben zeitlebens jeine höchſten Ideale und Beethoven lernte er mehr und mehr verehren und bewundern. Eo fonnte er mit dem Strome der norddeutichen Geiftesbewegung ziehen, und dennoh auch im Eüden Aller Herzen beglüden. Er war ein Sänger der Freih und des Volkes, der Millionen hingeriffen hat durd) den Schwung und das reine Pathos feiner Melodien. Und doch fonnte ihn wieder die alte Ordnung der Dinge anheimeln, und wenn er während jeiner Dresdener Zeit als verfappter Demagoge und Revolutionär argwöhniſch beobachtet wurde, jo verfannte man volljtändig feinen adligen und deutſchen Fürften aufrichtig er- gebenen Sinn.

Bekanntlich hat ſich die deutſche Dichtung jener Zeit wieder in eine claſſiſche und romantische Richtung gejpalten. Xebtere fönnte man aljo mit Nüdfiht auf den gefammten Charakter der Periode die potenzirte Romantik nennen. Auch zu ihr ftand Meber in einem Verwandtjchaftsverhältniß, doch iſt dasfelbe anderer Art, als es auf den eriten Blick als das natürliche an- genommen werden könnte. Nicht ſowohl die Dichtungen der Romantifer waren es, denen er ſich hingegeben, mit denen er feine Töne zu vermählen gefucht hätte. Wohl aber fympathifirte er mit der Art, wie fie den Kreis allgemeiner geiftiger Anſchau— ungen, wie fie den Begriff von der Beſtimmung der Kunft zu erweitern fuchten. Er that dies nicht als Gefolgsmann der Nomantifer, jondern durch die eigenfte Natur bewogen. Wenn nad Novalis’ Ausſpruch diejenige Kunft romantisch ift, welche auf eine angenehme Art befremdet, jo gibt es feinen Muſiker, der diefe Tendenz von frühefter Jugend unzweideutiger gezeigt hätte als Weber. Die engere Verbindung der Kunft mit dem

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Leben, welche im Gegenfag zum Glafjicismus die Romantifer anitrebten, wer hätte fie vollfommener verwirklicht ald er? Er

theilte ihr Intereſſe für Eultur und Kunft fremder Bölter und

Zeiten: groß war die Zahl der Opernftoffe aus dem jpanifchen Leben, welche ihn beichäftigten. Pizarro, Don Juan d’Auftria, Columbus, Eid, die Drei Pintos find theil® unangefangen, theil3 unvollendet geblieben. Aber in der „Preciofa“ hat er ein Bild jpanifchen Charafter8 gemalt, farbenreicher und reiz- voller, als es je einem romantifchen Dichter gelungen ift, und Seder weiß, wie er das Weſen des franzöfifchen Mittelalters und des wunderreihen Orients in den Tönen der „Euryanthe“ und des „Oberon“ zurüdgeipiegelt bat.

Wenn Herder zuerft erkannt. und die Romantifer den Ge-

danken weiter verfolgt hatten, daß hinter allen Kunftwerfen der Geiſt der Völker ftehe, welcher die legte unterjcheidende Eigen- thümlichkeit derjelben beftimme, jo ift in Weber’8 Opern diejer Gedanke zur That geworden, indem er einer jeden ihr eignes

Localcolorit gab. Die Lieder und Sagen des Volkes als uns

fcheinbare Gefäße eines köſtlichen Inhalts erkennen, fie ſammeln und erklären, auch an diefer großen Aufgabe haben die Roman- tifer hochverdienſtvoll mitgearbeitet. Weber aber war der erite große deutſche Mufifer, den es nicht zu gering däuchte, jene treuherzigen, ſchlichten, oft unbehülflichen Bolfzliederterte, wie fie des „Knaben Wunderhorn“, die Sammlung Büſching's und von der Hagen’ und andere darboten, und die gejungen werden müſſen, follen fie leben, durch jeine Töne zu neuem Da- fein zu erweden. Eine Lieblingsfigur der romantiſchen Dichter war der fahrende Sänger und Spielmann, eine Figur, die in der Vollsanfhauung zwar nie ihre Poeſie ganz verloren hatte, die aber in Geringfhägung fallen mußte, wenn, wie im 17. und 18. Jahrhundert, das Volksleben ſelbſt gering geihägt wurde. Wenn fie nun in den Dichtungen der Brentano und Eichendorff wieder auflebte, jo war Weber es, der fie durch jeine Perjon gleihjam ins wirkliche Leben zurüdführte. Daß bedeutende

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ausübende Mufifer umberreiften, um fich hören zu laflen, war ja nichts Ungewöhnliches mehr. Aber man vergleiche 3. B. die Eoncertreifen Spohr's, wie er jelbit fie uns fchildert, mit dem, was mir über Weber wiffen. Dort noch ganz der Mufifer der alten Zeit, der in herfömmlichen Formen einem Hohen Adel und verehrungswürdigen Publicum aufwartet, wenn jchon er in be» rechtigtem Stolz feiner Perfönlichkeit nicht zu nahe treten läßt. Hier dagegen ein bezauberndes Bild lebendigfter Frifche und launiger Ungebundenheit: Die eigentliche Zeit von Weber's fahrendem Sängerthum ift 1810—1813. Raſtlos von Ort zu Ort ziehend, entzüdt er durch feine feurigen, füßen und ſchalkiſchen Weiſen jedes offne Herz, imponirt durch ihre kecke Regellofigkeit der Jugend, macht die Alten verbrießlih, regt alle auf und verſchwindet jchnell wieder aus ihrer Mitte. In feiner Perfon Adel des Gebahrens und der Gefinnung mit läffiger Leichtlebig- feit verführerifch verbindend, in feinen Stimmungen ſchwankend zwifchen ausgelafjener Luft und tiefer Schwermuth, gewährt er ein Bild, das ganz von romantijcher Poeſie umfloffen iſt und in der deutſchen Kunftgeichichte einzig daſteht. Man denkt bei Weber gewöhnlih nur an deſſen letzte Lebensperiode, die mit dem „Freiſchütz“ beginnt und dem „Oberon“ abjchließt. Das ift die Zeit feiner großen Werke. Aber durch die Geſammtheit feiner Perjönlichfeit mit ihren vielfältigen Gaben hat er ſchon in der eriten Hälfte feines Künftlerlebens, obgleich nicht in jo weiten Kreifen, jo doch gewiß nicht weniger intenfiv gewirft. Die neubelebte Freude an der alten Zeit, an ihrer Gejchichte, ihrem Volksleben und Volksgefang gab jenem Abſchnitte deutschen Gulturlebens jein Gepräge nicht nur binfihtlih der Wiffenichaft und Kunſt, jondern auch der individuellen und gefellihaftlichen Lebensformen. In Bezug auf diefe verkörpert Weber jenen Spielmann aus alter Zeit, der, wie Eichendorff jagt, ins Land hinaus zieht und feine Weifen fingend von Haus zu Haus geht.

Was er fang, wenn er etwa nach einem Concert, wo er eine auserlejene Gejelichaft durch fein prachtvolles Clavier—

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jpiel und jeine Gabe der freien Phantafie hingerifjen hatte wenn er dann mit den Studenten Heibelbergs durch die nächt- lihen Gafjen zog, Serenaden zur Guitarre improvifirend, oder wenn er auf ihren Gelagen, tüchtig Beſcheid thuend, in ihrer Mitte jaß, oder wenn er in Darmitadt vor Soldaten und ihren Mädchen auf den Tifh jprang und Schelmenlieder hören lieh, oder wieder wenn er in Baden-Baden mit dem Kronprinzen von Bayern, dem jpäteren Könige Ludwig I., ganze Sommernädte hindurch die Zither im Arm umberfchweifte, oder wenn er mit feinem Freunde Alerander von Duſch im Feniter des Stiftes Keuburg bei Heidelberg eine Frühlingsmondnacht verträumte was er da jang, das hat zwar meiltend wohl der Wind ver- weht, wie der Augenblid es gebar. Aber die Art diejer feiner Geſänge ift doc in vielen Muſtern erhalten geblieben. Es find jene einfachen Strophenlieder, wie er fie zahlreich, namentlich mit Benugung von Bolfsliederterten gemacht hat, Lieder, theils zart und innig, theils unfchuldig : heiter, theils voll ſchelmiſchen Weſens und naturwüchſiger Derbheit. Zur Begleitung dient nur die Guitarre, das heute faſt verachtete und doch für die ein— fache Begleitung des wirklichen Liedes fait unerjegliche Initrument. Auch Weber’3 Lieder hat man heute bei Seite gejhoben, aber fie gehören dennoch zu den Schäßen der deutſchen Muſik, welche dauern.

‚Mit den Dichtungen aber der romantifhen Schule bat Weber, wie gejagt, fi wenig zu jchaften gemadt. Sein Ver: bältniß zu der Poeſie der ganzen Zeit, auch zu derjenigen unjerer größten Dichter, ift überhaupt ein eigenthümliches. Wie tief haben Schubert und Beethoven aus dem Born der Lyrif Goethe's geichöpft! Auch Mozart hat wenigitend das eine Lied vom „Beilhen auf der Wieſe“ componirt. Unter Weber’ Liedern findet fich nicht ein einziges Gedicht von Goethe. Dies fönnte einen perfönlichen Grund haben: Goethe war durch jchiefe Berichte Zelter's gegen Weber voreingenommen und fein Be: nehmen gegen ihn fonnte diefem nicht gefallen. Aber auh

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andere große Lyriker ſcheinen kaum für ihn vorhanden geweſen zu ſein. Es iſt, als ob von den Volksliedern abgeſehen die meiſten der übrigen Texte ihm durch den Zufall in die Hand geſpielt wären. Von Tieck, einem Haupte der romantiſchen Dichterſchule, mit dem Weber auch perſönlich befreundet war, und den er als genialen Vor Vorlefer hoch verehrte, iſt nur ein einziges Lied vorhanden. Spärlich vertreten find Matthiſſon, Bürger, Voß, Schenfendorf. Ueberwiegend find die Gubig, Kannegießer, Müchler und ähnliche. Eichendorff, an den Weber in jo vielen Zügen erinnert, fehlt ebenfalls ganz; und doch hatte diefer jhon 1815 in dem Roman „Ahnung und Gegen: wart” einen wahren Blumengarten. jeiner herrlichiten Lieder ge: öffnet. Selbit Wilhelm Müller, dejien Namen mit demjenigen Schubert's fo eng verwadjen ift, und der Weber einen Band jeiner Gedichte öffentlich widmete, blieb unbeadhtet. Nur aus Theodor Körner’3 „Leyer und Schwert“ entnahm er zehn Ge- dichte. Dieſe Ergüffe einer hochherzigen, reinen, von Schiller's Geiſte getränkten Jünglingsſeele waren freilich Weber’3 innerjtem Empfinden tief verwandt.

Im Allgemeinen aber darf man wohl jagen, daß er jelbit zu jehr Poet war, um das Bedürfniß zu fühlen, ji von anderen Dichtern zahlreichere Anregungen zu holen. Bon der roman- tiſchen Dichterfchule mußte ihn aud ein anderer Umſtand trennen. Eine der ſchwächſten Seiten berjelben war dad Drama: tiiche. Weber aber war Dramatiker vom Wirbel bis zur Sohle. In diefer Eigenschaft fonnten ihm die Schlegel, Tied, Arnim, Brentano und ihre Gefolgichaft nichts nützen. Die Verfafferin der „Euryanthe” darf man nicht als Gegenbeweis anführen. Diejes Gedicht, welches beſſer ift als fein Ruf, hat Weber größeren Theiles jelbit gemadt.

Weber iſt der Schöpfer der deutjchen romantijchen Oper. Was diefer Begriff bedeutet, braucht nicht gejagt zu werben;

ein Jeder weiß es, wenn auch vielleicht nicht ein Jeder ihn er: -

klären kann. Sieht man genau zu, jo bemerkt man au, daß

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der Begriff mufifalifder Romantik überhaupt zumeijt von Weber abjtrahirt it. Auch Beethoven und Schubert find voll von ihr; aber theils geht ihr Wefen nicht dermaßen in dieſem Begriffe auf, theils hat es ihnen Weber mit den fiegreichen Wirkungen feiner Dramatif zuvorgethan. Ein für das gejhichtliche Verftändnif wichtiger Gefihtspunft iſt e8 nun, daß die romantifche Oper ohne die Mitwirkung der romantiſchen Dichter zu Stande ge- fommen iſt.

Der Name war jhon vor Weber nicht ungeläufig. Aber er bedeutete etwas Anderes. Die Begriffe romantiſch und roman- haft bezeichneten nahezu dasjelbe, und gingen auf die Syabel, welche der gemeinten Oper zu Grunde lag.) Eine gewiſſe Art phantaftifcher und abenteuerlicher Erzählungen bildete fich in den legten Sahrhunderten des Mittelalter3 bei den romanifchen Völfern aus. Vom vierzehnten Jahrhundert an kamen die Romane der Spanier und Franzojen nad) Deutjchland. Einen neuen Zufluß erhielt der fabulirende Strom durch die orienta- lichen Märchen, welche 1704 zuerft durch Galland ins Franzö- fifhe, von da ſchon 1730 ins Deutiche übertragen wurden. Die erjte deutfche romantische Oper in diefem Sinne ift 1766 geichrieben; es ift Lifuart und Dariolette von Schiebeler, mit Mufif von Joh. Adam Hiller. Auch bezeichnet fie ein Schrift: jteller vom Jahre 1775 ausdrücklich fo.

Mittelalterliche Rittergefchichten, Sagen und Märchen galten als angenehmer Zeitvertreib und nichts weiter. Auch bedeutende Schriftiteller ließen fi wohl zu ſolchem Werk herbei, wie Wie- land und Mufäus, doch nicht ohne ein ironifches Lächeln. Für die Oper waren ſolche Stoffe aus zwei Gründen beliebt. Der dabei mögliche Ausftattungs-Prunt machte fie auch jtolzen Hof- bühnen als Feftopern annehmbar. Und dur nichts ließ ſich

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die naive Schauluft eines harmlofen Publicums befjer befriedigen. \

„Rübezahl“ von Schufter aus dem Jahre 1789 und „Oberon“ von Wranigfy, der ein Jahr ſpäter entjtand, find ſolche Opern. Die Muſik derjelben iſt von ahnungslofer Heiterkeit und Ge-

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müthlichkeit. Erniter iſt der ebenfalls 1790 erjchienene, werth- vollere „Dberon“ des Nordländers Kunzen, den er für Kopen- hagen jchried. Auch in Mozart’S „Zauberflöte wird verfucht, freilih, was den Dichter anbetrifft, in ungefhidter und unorga- nifcher Weije, dem Märchen eine ernite Folie unterzulegen. Aber eine durchſchlagende Wandlung fonnte bier erſt eintr eintreten

auf Grund des Geiftes der neuen Zeit. Wiederum war es \ Herder, der das große, löfende Wort fprah, Volksſagen und Märchen feien Refultate der finnlihen Anſchauung der Kräfte und Triebe des Vollsglaubens, „wo man träumt, weil man nicht weiß, glaubt, weil man nicht fieht, und mit der ganzen, unzertheilten und ungebildeten Seele wirket.“ Erſt einer ſolchen Anjhauung war es möglih, Sage und Märchen nicht mehr als Spiel der müßigen Phantafie, fondern ernithaft zu nehmen

als verkorperte Sumbole innerfter Lebens-Botenzen eines Wolfe.

Dies hat Weber mit vollfter Hingabe gethan, und er brachte zu jeiner Aufgabe, als einzigiter feiner Zeit, die Kraft eines genialen muſikaliſchen Dramatiferd mit. Und jo erit, durch Vertiefung | des Gefühls für die Bedeutung der Sage und der Geſchichte, entitand neben und zu dem romantijchen Opernterte die wirklich romantiſche Opernmufif. 7

Geſchichte und Sage find ihrer Natur nach epiſch. Und wenn das ſymboliſche Weſen der Sage bei ihrer fünftlerifchen Behandlung durchgefühlt, wenn der Zeit und dem Volke, dem die Handlung angehört, ein unterjcheidendes individuelles Geficht gegeben werden joll, dann wandeln jich leicht die einzelnen Individuen zu Typen um, in denen ſich gewiſſe allgemeine Lebens: mächte verkörpern, und der Nachdruck fällt weniger auf die Handlungen des Einzelnen, als auf die Darftellung der Zuftände und die Stimmung der Maffen. Dies find die Vorausfegungen, unter denen man Weber's Opern wird beurtheilen müfjen. Was dramatifcher Conflict heißt, ift in ihnen entweder überhaupt nicht vorhanden, wie im „Oberon“, oder er ift wenig energifch, wie im „Freiſchütz“, oder alltäglih, wie in der „Silvana“.

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Aber hierin liegt kein Fehler, wie e8 ebenjowenig viel verfchlägt, daß in der „Euryanthe” der Conflict in einer Weije überjpannt ift, die unter anderen Berhältniffen ins Lächerliche führen würde. Es hat mich immer gewundert, wie jchnell, von der Zeit des alten Zelter her, der den Tert zum „Freifhüg” ein „coloffales Nichts” nannte, bis auf heute jo Mandher über die Dihtungen der Opern Weber's abgeſprochen hat. Die Frage, ob denn Weber jelbit von ſolchen Dingen nicht auch ein wenig verjtanden habe, ift dabei, glaub’ ich, nicht ernfthaft genug ge- ftellt worden. Er, der das derbe Wort geſprochen hat: „Glaubt ihr denn, daß ein ordentlicher Componift ji ein Opernbud in die Hand jteden läßt, wie ein Schuljunge den Apfel?”, der das Theater fannte, wie irgend einer, und gleichfam zwiſchen den Couliffen aufgewachſen war! Seine Perfonen haben nicht die realiftiihe Lebensfülle, wie diejenigen in Mozart's „Figaro“ und „Don Giovanni”. Aber der Hintergrund, den er öffnet, ift reicher. Schöne bewegte Bilder ziehen vorüber, ein jedes in feine bejondere, leuchtende Farbe getaucht. Die Perſonen erfcheinen fajt mehr von den Zuftänden und allgemeinen Stimmungen ge: tragen, als daß fie dieſelben bewirften. Dies eben ift epiſch. Das Geheimniß des Genius aber ift es, daß Weber troß dieſer Art der Anſchauung dennoch überall die volle dramatische Lebendig- feit herrichen läßt. Denn man kann, auf diefjem Wege fort: jchreitend, allerdings dahin gelangen, daß die Individuen an fich überhaupt nichts mehr bedeuten, nicht mehr Typen, jondern Schemen find, und Alles fih in Schilderung und Stimmung auflöft. Das ift aber von Weber nie gefchehen.

Ich darf es wiederholen: ein Hauptmerkmal von Weber’s Natur Scheint mir jene begeifterte Hingabe an die Welt zu fein, welche alle Sinne öffnet, um die Eindrüde des Lebens aufzu— nehmen. Aus Bruchjtücden eines Romans, den er hinterlafjen hat, und aus Mittheilungen feines Sohnes willen wir, wie merkwürdig die Erjcheinungen der Außenwelt auch auf jeine mufikalifhe Phantafie wirkten. Diejelben jegten ſich unmittel—

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bar in Tonbilder um. Eine Gegend, die er durchfuhr, ſpielte ſich in ſeinem Innern wie ein Muſikſtück ab; vermittelſt des Tonbildes, das in ſeinem Gedächtniß haftete, mußte und konnte er ſich oftmals erſt wieder auf das Geſehene beſinnen. Ich glaube, es hängt mit dieſer Begabung zuſammen, wenn Weber's Tongeſtalten immer mit merkwürdigſter Prägnanz die Be— wegungen und den ſinnlichen Eindruck der Erſcheinungen wider— ſpiegeln, wie ſie entweder auf der Bühne vor uns ſichtbar ſind, oder mittelſt der Worte des Gedichts innerlich vorgeſtellt werden. Aeußerſt ſelten iſt dieſe Gabe muſikaliſcher Plaſtik bei den deut— ſchen Componiſten. Mit Weber theilen ſie von älteren Ton— meiſtern eigentlich nur noch Händel und Schütz, zwei übrigens von Weber grundverſchiedene Naturen; hin und wieder tritt ſie auch bei Mozart hervor. Ein Moment, wodurch Weber's Lieder ſich von denen Beethoven's, Schubert's und Späterer unter— ſcheiden, liegt hier. Selten genügt es ihm, nur die abſolute Em— pfindung eines Gedichtes darzuſtellen. Um ſeine Phantaſie anzu— regen, denkt er ſich lieber die Worte im Munde einer beſtimmten Perſönlichkeit, oder ſtellt ſich eine beſondere Situation vor. Für Erſteres mag das bekannte Lied „Unbefangenheit“ als Beiſpiel dienen: ein Charakterbild von größter Schärfe und mit ſeiner ſchalkhaften Innigkeit etwas gänzlich Neues in der deutſchen Muſik. Eine Scene iſt der berühmte „Reigen“, von Voß gedichtet. Hier erleben wir eine vollftändige norddeutſche Bauernfirmeß: im VBordergrunde die fich drehenden, jauchzenden Baare, im Hinter: grunde die fidelnden und blajenden meift falich blafenden Dorfmufifanten. Sole Stüde find aud in der mufifalifchen Form eigentlich feine Lieder mehr, jondern originelle Gebilde dramatifcher Schilderung. Wir bejigen deren von ihm eine be— deutende Anzahl, die man nicht ohne den größten Genuß ftudirt. Aber auch in der knappſten Liedform gelingt es ihm, einen ftetig forttreibenden fichtbaren Vorgang einzufangen. Bewunde— rungswürdig ift der Männerchor „Lützow's Jagd“. Hier fieht man die vermegenen Neiter aus dem Waldesdunkel hervortaudhen,

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heranbrauſen, mit wildem Hurrah! vorüberſtieben und das Alles in einem Tonbilde von einundzwanzig kurzen Tacten. Viele ſeiner kleinen Lieder ſind als Einlagen in Schauſpiele componirt, wo alſo die Rückſicht auf eine beſtimmte Perſönlich— keit und Situation unerläßlich war; und gerade ſie gehören zu den reizvollſten.

Für die Oper aber beſaß Weber in dieſer Unmittelbarfeit der muſikaliſchen Wiedergabe ſinnlicher Erjcheinungen ein Haupt: mittel zur dramatijchen Charafterifirung. Es gibt feinen Com— ponijten, der mit jolcher Energie den Hörer jedes Mal in die Eituation hineinzwänge, der mit jo unfehlbarer Sicherheit auch die volle Grunditimmung, welche eine Perſon im Zufchauer er- weden joll, beim eriten Anfang zu treffen wüßte als er. Wenige fede, ſcharfe Stride, und alles Nöthige ift da. Und wie die Menſchen und Dinge in der Wirklichkeit ſich jcharf von einander abheben, fo au in den Tonbildern, ala welche fie aus Weber's Phantaſie reflectiren. Er bejaß allerdings neben diefer Gabe noch eine andere: die einmal angenommene Miene kräftig feit zu halten. Der Grundton, in weldem eine Scene ſowohl, wie eine Rolle, ja endlich eine ganze Oper verläuft, iſt ſtets ein einheitlicher.

Die Möglichkeit, Zeiten, Völker, Gegenden, Stände muſika— liſch zu harakterifiren, ift zuerjt durch Weber ganz offenbar ge- worden. Darin, daß er Solches anftrebte, zeigte er ſich als modernen Menjchen, bem Herder’3 Ausſpruch in Fleiſch und Blut übergegangen war, daß jede einzelne That durch eine all- gemeine Kraft bedingt fei und in ihr begriffen werden müſſe. Aehnliches wollte vor und neben Weber jein Berliner Gegner Spontini, allein mit weniger reicher Vhantafie; auch lag ihm mehr an der Daritellung großer geſchichtlicher Momente und der hierzu nöthigen Entfaltung der Maffen, als an unterjcheiden- der Charakterifirung der jedesmaligen Zeiten und Berhältniffe. Weber aber ift immer ein Anderer: wenn er deutiches Volks: und Sägerleben nad) dem dreißigjährigen Kriege zu jchildern bat, oder das franzöfische Ritterthum des Mittelalters, die Zauber

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des Orients, oder die Romantik Spaniens. Unerſchöpflich iſt er, neue charakteriſirende Tonmittel zu finden; ein heutzutage ſehr abgebrauchtes, die Benutzung nationaler Melodien, geht auf ihn zurück. Mag die Welt, welche in „Precioſa“ und „Eury— anthe“ vor uns aufſteigt, auf Vorſtellungen beruhen, welche ſich ſpäter als nur theilweiſe richtig erwiejen, was thut es? Im Kunſtwerk leben dieſe Vorſtellungen ihr ſelbſtändiges Leben, und werden ſich behaupten, wie auch Schiller's Dramen trotz ihrer hiſtoriſchen Unrichtigkeiten.

Aber worin Weber Spontini ſo weit hinter ſich läßt, daß von einer Vergleichung ſchon überhaupt nicht mehr geſprochen werden kann, das ſind die Vaturbilder ſeiner Opern. Die wiedererwachte Poeſie hatte auch der Natur gleichſam ihre Sprache zurückgegeben, hatte ihr eine lebendige Seele eingehaucht, die mit der Luſt und dem Leid der Menſchenſeele harmoniſch zuſammenklang, und hatte die zu phantaſtiſchen Geſtalten ver— körperten elementaren Naturmächte als ſolche wieder verſtehen gelernt. Dieſes Leben der Natur, das mit tauſend geheimniß— vollen Lauten dem verftehenden Ohre Unausſprechliches zuraunt Weber hat es belaufht und in Kunftgebilden verkörpert, die neben dem Herrlichiten ftehen, was je des Dichters Wort her- vorzuzaubern vermochte. Wie die unheimlihen Sturmgeifter daherbraufen und den Ocean zu rafender Wuth empören, wie das Meer, ſich allgemach beruhigend, in feierlichem Abendjonnen- glanze jtrahlt, wie im Mondlicht auf der leisathmenden Fluth die Niren ihren bethörenden Gejang erheben, während am Strande die Elfen Oberon's ihren luftigen Reigen ſchwingen wo gäbe es Tonbilder, aus welchen ein folder Naturhauch uns anwehte, wie aus diefen? Das Graufen in nädtiger Wald- ſchlucht, die Sommermondnadt in tiefer Waldeinſamkeit, welche nur vom Schlag der Nachtigall und dem Zirpen der Grille belebt wird, der Abendfrieden im Burggarten, wenn von fern des Einfiedeld Glödlein tönt doch, wozu aufzählen, was Ale kennen, Ale mit elementar:beraufchender Gewalt an fich

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erfahren haben? Von den Mitteln, mit welchen Weber dies Kunftgebiet eröffnet hat, von dem feither Alle Nuten gezogen haben, die Aehnliches verfuchten, nenne ich nur feine Kunft der Snftrumentation. Bingeriffen durch die Schönheit der „Eury- anthe“ schrieb Schumann einjt in fein Tagebuh: „und wie klingen die Inftrumente! aus der inneriten Tiefe ſprechen fie zu uns!” Wirklich jcheinen fie dem Componiften ihre Seele offen- bart zu haben. Er gehört zu ben größten und ibeenreichiten Coloriſten aller Zeiten.

Wie Weber von dem patriotifchen Pathos der Zeit der Freiheitskriege tief erfüllt war, jo war er es auch von der echten Religiofität derjelben. Sein „Freiſchütz“ it die erfte Oper, in welcher Frömmigkeit und kindliches Gottvertrauen bedeutjame Momente bilden. Sie find mit einer Innigkeit vom Compo- niſten erfaßt, die allein feinen religiöfen Ernft beweiſen witrde, wüßte man nicht auch ſonſt von diefem. Jene alte Sitte, nad) welcher die Componiſten am Schluffe eines größeren Werkes zu jchreiben pflegten: Soli Deo gloria, „Gott allein die Ehre“, eine Sitte, die Anfangs unjeres Jahrhunderts ſchon abgekommen war, hat Weber noch beibehalten. Man pflegte fie zumeiſt nur bei firhlichen und geijtlichen Werfen zu beobadten; Weber folgt ihr auch bei feinen Opern. Wie merkwürdig mifchen ſich auch bier wieder die alte und die neue Zeit in ihm! Es ijt merkens— werth, dab er Katholit war. Nicht als ob ich eine Parallele mit den romantischen Dichtern ziehen wollte, die in krankhafter Ueberreizung fih dem Katholicismus zumendeten. Weber’s Religiofität war eine durchaus gefunde. Aber in den Geſtalten der Agathe und Euryanthe iſt doch etwas Marienhaftes, das wohl nur dem Katholiken gelingen konnte.

Was auch immer in jener Zeit an edlen Regungen durd) die Bruft der Deutichen zog, es Elingt aus Weber's Muſik zurüd. Der fühne Schwung, die Luft, für die idealen Güter fich zu opfern, die tiefe, oft gegenitandslofe Sehnjucht, die Rein- heit und Zartheit der Liebesempfindung, Alles ftrömt bei ihm

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in Tönen aus, die friſch von der Quelle fommen. Auch feine Snitrumentalwerfe find voll diefes Geiftes und nirgends ftärfer, als bei den feurigen Allegros der Weber'ſchen Duverturen, haben wir das Gefühl, als ob uns Flügel wüchſen, uns in jener jchönen Begeifterung aufzufhmwingen, welche nur die Jugend kennt.

Jugend das iſt das Wort, welches Weber und ſein Weſen am erſchöpfendſten bezeichnet. Jugend auch in ihrem liebenswürdigen Leichtſinn und in ihrer Unbehülflichkeit. Es iſt ja nicht zu leugnen, daß ſeine Compoſitionen an techniſcher Vollendung nicht immer den höchſten Anforderungen genügen. Aber bei einem Künſtler von ſeiner Genialität ſollten dieſe Schwächen niemals als Gegenſtand des Tadels, ſondern immer nur als Zeichen ſeiner Eigenthümlichkeit bemerkt werden. Als ob Weber, der immer ganz dasjenige war, was er als Künſtler ſchuf, dieſer ſeiner Natur bis zum Letzten hätte treu bleiben ſollen, iſt er früh dahingeſchieden. Nach einigen Jahren häus— lichen Glückes, das er ſich ſchwer errungen hatte, zog nein! wankte er noch einmal weit hinaus, um an fremdem Strande einſam zu verſcheiden. So klingt das Leben des letzten fahrenden Spielmanns romantiſch-wehmüthig aus. Auch Mozart mußte davon in der Blüthe des Lebens. Aber waren ihm auch nur fünfunddreißig Jahre bejchieden, doch hinterläßt jein Lebens— werf den Eindrud höchſter Reife, und daher auch der Abge— ichloffenheit, jomweit von jolcher im Menſchenleben überhaupt geiprochen werden fann. Bei Weber ijt e$ anders. Gerade in jeinen legten Lebensjahren nimmt er einen jo gewaltigen Auf- ihmwung, zeigt einen jo ungeahnten Erfindungs-Reichthum, öffnet derartig neue Ausfichten für die Kunft, daß man meint, nun erit beginne er recht. Mozart ſtarb früh, Weber zu früh. Mozart verließ das Leben nad kurzer Krankheit; eine ſanfte Hand nahm ihn raſch hinweg. Weber hatte ein jahrelanges, qualvolles Leiden zu tragen. Wem aber diefer Ausgang den Reiz jeines Yebensbildes trüben follte, der möge jehen, wie er e8 trug.

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War er eine Jünglingsnatur, jo war er e8 im edeliten Sinne: ein jugendlicher Kämpfer, ein aufwärts Strebender, der von dem eigenen Weſen mehr und mehr die Schladen löfte, feine Kräfte jtählte, fein Ziel fich nicht hoch genug ſtecken konnte. Als folder bewährte er fich leuchtend and) in feinem Leiden. Heroiſch zwang er den Leib in den Dienit des Geiſtes. Wer merkt es dem „Oberon“ an, daß ein langjam Sterbender ihn jchrieb ?

Die Alten haben gejagt: wen die Götter lieb hätten, den nähmen fie früh von der Erde hinweg, damit fein Bild ber Nachmelt in ewiger Jugend prange. Auch Weber war ein ſolcher Götterliebling.

Lhilipp Spitta, Zur Muſit. 19

Spontini in Verlin.

J.

pontini's Leben verlief in drei ſcharf unterſchiedenen Stadien;

das erſte bildete ſeine italieniſche, das zweite ſeine Pariſer, das dritte ſeine Berliner Zeit. Die mittlere Periode iſt die glänzendſte, die letzte vielleicht die merkwürdigſte; was auf ſie noch folgte, war nur ein mattes Verathmen.

Nach den erſten Mißerfolgen, die der Dreißigjährige 1804 in Paris erlebte, hatte er erkannt, daß die welk gewordene neapolitaniſche Muſik für die neue Zeit nicht mehr paſſe. Das neue Ideal, welches er ſuchte, ſchwebte ihm zuerſt nur undeutlich vor; in der Oper „Milton“ (27. November 1804) ergreift er es wohl, aber es will ihm wieder entſchlüpfen; voll verwirklicht zeigt es ſich in der „Veſtalin“. Beide Dichtungen ſtammen von Etienne Jouy. Der Componift jcheint die leßtere zuerjt in Angriff genommen, dann aber über der Compofition des „Milton“ zeitweilig zurüdgeftellt, und die an diefem gemachten Erfahrungen für das größere Werk benugt zu haben. Sicher lag die „Veſtalin“ ſchon 1805 vollendet vor: wir willen, daß es drei Jahre währte, bis Spontini die Hinderniffe bejiegte, welche der Aufführung entgegengejegt wurden, und am 15. Dezember 1807_erjchien fie zuerit auf der Bühne. Mit diefem Werke hatte er feinen früheren Stil ganz und für immer verlaffen, aber auch die Art feines Schaffens änderte fih nun in merfwürdigiter Weife. Hatte er bisher mit der leichten, flüchtigen Feder der neu-neapolitanifchen

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Schule geſchrieben und beifpielsmweife im Jahre 1800 für den Hof in Palermo drei, 1798 für die Theater in Rom und Florenz nicht weniger al3 vier Opern aufs Papier geworfen, jo ſchlug er jet ins Gegentheil um. Langjam und mühjelig brachte er zur Erſcheinung, was in feiner Phantafie lebte. Bei den Proben zur „Veſtalin“ wurde dieſer ſeltſame Werdeproceß zuerſt offen- bar. Sie veranlaßten ihn zu einem unermüdlichen Aendern und Umgeftalten, bis oft erit nach vielen Verſuchen und qualvollen Anjtrengungen die wirffamfte Form gefunden ihien. Dies Erperimentiren und Feilen ift ihm eigenthümlich en, ja, e3 nahm bei jedem neuen Werke zu. In Berlin leben noch jest Berjönlichkeiten, welche Spontini in dieſer Thätigkeit beobachtet haben. Bier, fünfmal wurde eine und diefelbe Stelle abgeändert und in der Partitur überflebt, jo daß fie did und hoch von Anfehen wurde, und nicht felten kam es vor, daß der Componift zum Beihluß der Verfuche auf die anfängliche Form zurüdgeführt- wurde. Zelter hatte eine nicht ganz unrichtige Empfindung, wenn er immer noch über: treibend genug behauptete, aus dem Componiften der „Veſtalin“ werde nie etwas Ordentliches werden, wenn er bei der Compofition diefer Oper über fünfundzwanzig Jahre alt geweſen jei. Einen Theil der Kunftmittel, durch welche Spontini hauptſächlich wirken wollte, hatte er nicht früh genug und daher niemals vollftändig beherrichen gelernt. Die langjame, peinliche Art zu arbeiten erflärt fih aud aus dem Gefühl einer gewiſſen Unficherheit, fo jehr fie andererſeits feiner künſtleriſchen Gemwifjenhaftigfeit zur Ehre gereicht.

Mit der „Veſtalin“ war Spontini in die Reihe der erften Operncomponijten feiner Zeit getreten. Seinen neuen Stil

s hatte er nicht allein aus ſich heraus gejchaffen. Daß er fi

Mozart's Einwirkung nicht verſchloſſen hatte, wird ſchon in feiner vorfranzöftigen Periode erjihtlih. Durchgreifender noch wurde der Einfluß Gluck's, deſſen Werfe er in Paris fennen lernte.

Es ſoll „Iphigenie in Aulis“ geweſen fein, deren eritmaliges

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Anhören ihm jeinen Weg zeigte. Nicht daß ihm Glud ein größerer Meifter erichienen wäre als Mozart. Als jpäter ein- mal in Berlin Jemand ihn als denjenigen Componiften feiern wollte, der alle Erfordernifje eines mufifalifch-dramatifchen Meifter: werfes in feinen Opern erfüllt habe, entgegnete er raſch: „Nein, nur Einer hat das wirklich vermoht, Mozart.” Aber offenbar war ihm das Weſen Glud’3 verwandter. Er theilt mit ihm die jtolze Größe; fie erfcheint bei Spontini manchmal durch eine edle Melancholie befonders anziehend, wogegen im Allgemeinen die Tiefe Gluck'ſchen Empfindens dem Italiener fehlt. Wie bei Glud überwiegt auch bei Spontini das dramatiihe Talent über das muſikaliſche. Er wird dadurch zu einer merkwürdigen Erſcheinung unter den italienifhen Componiften, die zwar alle einen ficheren Inſtinet für dasjenige haben, was auf dem Theater wirkſam ift, aber doch von der Bühne herab gern undramatifche Mufit machen. Bei allen Mängeln, die der „Veſtalin“ augen- ſcheinlich anhafteten, mußte do von Anfang her anerkannt werden, daß fie eine Menge origineller Schönheiten enthalte, durch noble Melodien und ungeftümes ‚Feuer, durch wahren Aus: drud tiefer Leidenſchaften und echt tragifchen Stil, durch glüdliche Charakteriftif der Perfonen und Situationen den Hörer ergreife. Der „Beltalin” war am 28, November 1809 „Ferdinand _Cortez” gefolgt, eine Oper, mit welcher Spontini bewies, daß er fih auf der im Sturm genommenen Höhe zu behaupten veritand. Alles jorgfältig erwogen, iſt jie der „Veſtalin“ gegen- über das vollendetere Kunſtwerk. Sie wurde, was fie ift, freilich erit nach zweifacher Umarbeitung, die namentlih auch den poetifhen Theil betraf. Die erfte und gründlichite hatte fie erfahren, als fie am 26. Mai 1817 wieder auf der Bühne erichien; die endgültige Faſſung des dritten Actes fand Spontini erit 1823 unter Beihülfe des Dichters Theauleon; Jouy, der Verfaſſer des Driginaltertes, war daran nicht mehr betheiligt. Nach dem „Cortez“ hatte e3 gejchienen, als ruhe der Sieger auf jeinen Lorbeern. In einem Jahrzehnt fam außer einer leicht

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wiegenden Gelegenheitsoper nicht3 Größeres von ihm ans Licht. reilih zeigten die Einlagen, die er zu Salieri's „Danaiden“ jchrieb, immer noch die Klaue des Löwen. Und er war wirflid innerlich nicht unthätig. Er verſuchte, ſann und grübelte, aber fein Gegenſtand konnte ihn dauernd fejleln. Endlich ſog er ſich an einem Stoffe feft, den ihm „Olympie“, Voltaire's Tragöbdie, darbot. In diefer Zeit geſchah es, dab ſich das folgenreichite Ereigniß der zweiten Hälfte feines Lebens vorbereitete!).

König Friedrih Wilhelm III. von Preußen hatte während jeiner zweimonatlihen Anmefenheit in Paris vom 31. März bis Anfang uni 1814 mehrfah Spontini'ſche Opern gehört und einen tiefen und nahhaltigen Eindruck von ihnen empfangen. In Folge defjen wurde nunmehr nit nur der „GCortez“ ſofort in Berlin einftudirt, der am 15. October 1814 dort zur eriten Aufführung Fam. (Den König beſchäftigten bei wiederfehrender Friedenszeit mandherlei Pläne zur Hebung der Muſik in Preußen.

‚Man erwog eine Anftalt zur Beförderung der firhliden Ton-

funft; nach „dem Vorbilde_ von Paris wünſchte der König ein Gonfervatorium für Mufif und Declamation zu errichten; die königliche Oper follte durch Berufung. eines berühmten Capell— meijter3_ einen neuen Aufſchwung nehmen. Es war Spontini, den der König für dieſen Capellmeijterpoften ins Auge gefaßt hatte. Schon im Herbit 1814 ließ er ihm von Wien aus, wo er fih zum Congreije befand, einen Antrag maden und unter der Bedingung, daß er jährlich zwei neue Opern für Berlin liefere, die für die Verhältniffe enorme Summe von fünftaujend Thalern Jahresgehalt anbieten. Spontini zeigte ih nicht abgeneigt, aber der Intendant der königlichen Schau: fpiele zu Berlin war dem Plane ungünftig gefinnt. Die Be: denken des Grafen Brühl, ds Nachfolgers von Iffland * dem

1) Wo nicht andere Quellen angegeben find, gründet ſich das Folgende

I auf die Acten der Archive des Fönigliden Haufes und der Föniglichen

Schauſpiele zu Berlin.

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@ Februar 1815, mußten um jo beachtenswerther erjcheinen, da es faum jemals einen jachveritändigeren Intendanten in Deutfch- land gegeben bat. Brühl war ſelbſt gegen einhundertfünfzigmal auf der Bühne aufgetreten, hatte in Weimar unter Goethe's Leitung mehrere Rollen ftudirt, in Rheinsberg, dem Reſidenz— ichloffe des Prinzen Heinrih, den Dedipus Sacchini's in franzöfiicher Sprache gejungen und aud andere Rollen in großen Opern daſelbſt ausgeführt. Gelegentlich hatte er mehrere Monate als Waldhornift in der Capelle mitgewirkt. Er hatte unter Genelli's Leitung gezeichnet, war fähig, ſelbſt Decorationen zu malen, hatte unter Hirt und Bötticher Archäologie ftudirt, ziemlich lange arditektonifchen Unterricht gehabt, und Fannte faft alle bedeutenden Theater in Deutjchland, Paris und London aus eigener Anjchauung. Nimmt man dazu jeinen feingebildeten Geihmad, jeine ideale Geiſtesrichtung und jeine hohe geſellſchaftliche Stellung, jo ergibt fich eine Summe von ausgezeichneten Eigen- ihaften, wie jie fih wohl nur jelten in der Perjon eines Theaterchefs vereinigt finden werden. Brühl verfannte num feineswegs den DVortheil, den es der Berliner Oper bringen 9 // werde, wenn ein ſo berühmter Künſtler an ihrer Spitze ſtände. Dagegen ſei es noch keineswegs ausgemacht, ob Spontini die nöthige Dirigentenübung habe, denn in Paris führe der Componiſt das Orcheſter nicht ſelbſt. Spontini verſtehe ferner die deutſche Sprache nicht, könne ſich daher mit den Muſikern nur ſchwer ver— ſtändigen und auch keine Oper in deutſcher Sprache componiren. Er habe bisher nur zwei anerkannt vorzügliche Opern geſchrieben; es ſei nicht bewieſen, daß er dem Anſinnen, jährlich zwei neue Opern zu componiren, auch werde entſprechen können. Und wenn er es könne, jo ſeien dieſelben für das ihm angebotene Gehalt zu theuer bezahlt, falls man nicht darüber ganz ficher fei, daß aus Spontini's Pirection der Sänger und des Orcheiters diejen eine bedeutende Förderung erwachſe. ) Hiernach ftodten die Ver: bandlungen, bis der König im Juli 1815 wieder nach Paris kom, _dort perfönlid dem Spontini_feinen Antrag erneuerte,

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auch die Dedication eines Militärmuſikſtückes entgegennahm. Eine Sammlung verſchiedener von Spontini componirter Märſche gelangte auf Befehl des Königs an Brühl zu gelegentlicher Verwendung. Am 22. December 1815 ſchrieb Spontini ſelbſt an Brühl und bat ihn, fich darum zu bemühen, daß die An- gelegenheit erledigt werde. Als dies nichts half, ließ er durch Vermittlung der preußifchen Geſandtſchaft ihn mündlich darum erfuhen. Am 28. März 1816 antwortete Brühl ausmweichend, und erjt am 3. November fchrieb er bejtimmt, er bedauere, daß der in jeiner Angelegenheit vom Könige gefaßte Beſchluß den Wünſchen Spontini’S nicht entiprehe, und er auf das Vergnügen, ihn in Berlin zu befigen, verzichten müſſe.

Damit jchien die Angelegenheit erledigt zu jein. Der König hatte den Vorjtellungen feines Intendanten nachgegeben. Spontini hatte damals außer dem Amte eines föniglichen Hofcomponiften in Paris feine feſte Anftellung. Es iſt begreiflich, daß ihn die glänzenden preußifchen Anerbieten lodten. Nun: mehr trat er in neue Verbindungen mit dem Königshofe zu Neapel. Im folgenden Jahre führt er den Titel: Gapellmeijter Sr. Majeftät des Königs beider Sicilien. Auch jegte ihm der König von Franfreih eine Penfion von jährlic) zweitaufend Francs aus. Den Gedanken an Berlin jcheint er fich aus dem Sinne geſchlagen zu haben.

Da kam König Friedrih_Wilhelm_1817 zum dritten Male

nah Paris. Er in der neuen Bearbeitung und war von der Oper jo entzüdt, daß er nicht weniger ala vier Vorftellungen derjelben befuchte. Die neue Partitur mußte jofort für Berlin erworben werden. Spontini_erhielt den Titel eines königlich preußiſchen Ehrencapellmeiſters (premier maitre de chapelle honoraire); er durfte den dem Könige das große von ihm für Salieri's „Danaiden“ componirte Bacchanal zueignen, welches er, der Neigung des Königs Flug entiprechend, für Die preußifche Militärmufif eingerichtet, auch durch Einfügung einer Melodie aus der „Veltalin“ (La paix est en ce jour le fruit

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de vos conquötes) bereichert hatte. Um ſich in der Gunſt des Königs noch mehr zu befejtigen, ging er aud daran, einen Chant national prussien zu componiren. Diejer, von einem gebornen Staliener und naturalifirten Franzofen componirte deutiche Nationalgefang fam wirklich zwifchen dem 25. November 1817 und dem 18. October 1818 zu Stande. Das Gebicht hatte der königliche Cabinetsjecretär Johann Friedrich Leopold Dunder verfaßt Es beginnt:

Wo ift das Volt, das fühn von That Der Tyrannei den Kopf zertrat?

Am 18. October (Tag der Schlacht bei Leipzig) 1818 ließ Brühl das Werk zum erjten Male im Berliner Opernhaufe aufführen. Von 1820—1840 wurde es jedes Jahr zur Feier des Geburts- tages des Königs (3. August) gejungen. Volkslied konnte es aus naheliegenden Gründen niemals werden; aber eine jtattliche, vornehmsritterlihe Haltung ift ihm nicht abzuſprechen. Nach dem Tode Friedrich Wilhelm’s III. verihwand es allmählich auch aus dem Mufifleben Berlins. 1875 ijt e8 noch einmal mit einem umgearbeiteten Tert als Hymne auf den Kaifer Wilhelm in der Scala zu Mailand gejungen worden. E3 geichah dies bei einer zu Ehren des Kaiſers dort gegebenen Galavorftellung. Gedrudt erichien es bei Schlefinger in Berlin. Der König aber bejtimmte im März 1818, daß von jet ab aljährlih am 1. April, als Erinnerung an den erften, 1814 in Paris verlebten Tag, die „Veitalin“ aufgeführt werben folle.

Gleichwohl verging auch dieſes Jahr noch, ohne daß des Königs Lieblingswunſch, Spontini an jeinen Hof zu feſſeln, zur Ausführung gefommen wäre. Spontini hatte recht wohl gemerkt, daß Brühl feiner Berufung entgegen war. Er wußte es daher zu bewirken, daß über defjen Kopf hinweg durch den Generalmajor von Wißleben, einen begeifterten Verehrer jeiner Muſik, der ihm auch den Anftoß zur Compofition des preußifchen Nationalgefanges gegeben hatte, die Verhandlungen geführt wurden. Im Augujt

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tember durch den König genehmigt. Spontini erhielt den Titel „Eriter Gapellmeiiter und General-Mufikdirector“ und durfte fich im Auslande auch den Titel „General-Oberintendant der fönig- lihen Muſik“ beilegen. Er war verpflichtet, die Generalober- aufjicht über das Muſikweſen zu führen und alle drei Jahre zwei große oder drei kleinere Opern für Berlin zu componiren. Zur Direction war er nur bei den erjten Mufführungen feiner eigenen Merfe ve rke verpflichtet ; ob, wann und wie oft er fonit nod) dirigiren wollte, jtand in feinem eigenen Ermeſſen. Außerdem hatte er die für Hoffeftlichfeiten und fonft vom König geforderten Gelegen- heitsjtüde zu componiren. Alles, was er überdies noch jchrieb und im Theater aufführen wollte, jollte ihm bejonders honorirt werden. Auch ftand ihm mit einer geringen Einſchränkung das Recht zu, feine Opern an anderen Theatern zu feinem Vortheil aufführen zu laffen, und an Verleger zu verfaufen. Er erhielt vier- taujend Thaler Gehalt mit halbjähriger Vorausbezahlung und ein jährliches Benefiz, deffen Einnahme ihm bis zur Höhe von 1050 Thalern vom Könige garantirt wurde. Außerdem vier Monate Urlaub im Jahre und nad) zehnjähriger Dienftzeit eine angemeſſene Penfion. Sein Engagement in Neapel wurde durd Vermittlung der preußiſchen Geſandtſchaft gelöft; die daraus etwa ſich ergeben: den Entihädigungsfoiten wurden vom Könige übernommen.

II.

Obgleich formell dem General-Intendanten unterſtellt, war Spontini ihm thatſächlich in Folge dieſes Contractes nebengeordnet. Auch war der Contract nicht überall beſtimmt genug gefaßt und ließ willtürliche Auslegungen zu. In die Oberleitung der fönig- lihen Schaufpiele wurde ein gefährlicher Dualigmus binein- getragen. Brühl's geübter Blid erkannte dies jofort. Natür- [ih mußte auch die Art, wie er bei Abſchließung Des Contracts übergangen war, ihn tief fränfen und gegen Spontini mißtrauifch machen. Er glaubte zu wiſſen, daß diefer wahrheitswidrige Neußerungen gemacht habe über perjfönliche Differenzen, die zwischen

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Beiden gewaltet hätten, und war geneigt, den nachtheiligen Ge: rühten Glauben zu jchenfen, die ihm über jeinen Charakter in Paris Schon vor Jahren zu Ohren gekommen waren. Er hatte fih 1814 dort befunden, gerade als Spontini die ihm über: tragene Zeitung des Theätre italien gegen eine Geldentihädigung an Angelica Gatalani abtrat, und ſich überhaupt in den An- gelegenheiten der Oberleitung von einer für die Öffentliche Be: urtheilung jeines Charafter8 nicht günftigen Seite zeigte. Die Adminiftrateure der Großen Oper fchilderten ihn damals Brühl gegenüber „als einen geldfüchtigen, unthätigen Menſchen von boshaftem, falſchem und hämiſchem Charakter”, wogegen Andere bervorhoben, er habe jtet3 das Beſte der Kunjt im Auge gehabt und mit Erfolg für dasjelbe zu wirken gefucht. Die Zwiejpältig- feit in der Beurtheilung jeiner Perfönlichkeit, welche jpäter in Berlin herrſchte, zeigte ſich alſo ſchon in Paris. Spontini jeiner: jeits jah in Brühl feinen natürlichen Widerfaher. Das Zu: jammenmwirfen beider Männer begann unter ungünftigen Vorzeichen.

Contractmäßig hatte Spontini feine Stelle in Berlin am 15. Februar 1820 anzutreten. Es wurde ihm jedod Urlaub gewährt erit biß zum 15. März, dann bi8 zum 15. Mai aus Rückſicht auf die beabfichtigte Umarbeitung der „Olympia“. Auch hatte der König genehmigt, daß „Olympia“ ihm als eine der alle drei Jahre zu componirenden großen Opern unter der Bedingung angerechnet werde, daß die Aufführungen in Paris und Berlin gleichzeitig erfolgten eine Bedingung, die nicht erfüllt wurde. Am 27. Mai 1820 traf Spontini in Potsdam, am 28, in Berlin ein. Das Theaterperfonal, bei dem feine unter jo unerhört günftigen Bedingungen erfolgte Anjtellung Mißvergnügen erregt hatte, brachte ihm nicht die freundlichiten Empfindungen entgegen. Im Uebrigen fand er die Berliner Gejellichaft ih nicht abgeneigt. Günftig geftimmt waren ihm vor Allem die Hoffreife, in denen der Generalmajor von Witleben und der Herzog Garl von Mecklenburg fih als jeine befonderen Gönner gebärdeten. Aber auch unter dem übrigen gebildeten Publicum hatte der Componift

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der „Beftalin“ viele leivenfchaftliche Bewunderer ; ihre Erwartungen gaben fie in lobpreijenden Zeitungsartifeln über den „Meijter der Töne, den Arion unferer Zeit“ laut genug fund. Andere verhielten ſich kritiſch abwartend, mehr neugierig als erwartungs- voll; eine gewiffe Spannung beherrſchte Alle. Die Oper war durch Brühl⸗* Bemühungen in einen aus: gezeichneten Zuftand gebraht worden. Die Sängerinnen Frau ilder-Hauptmann, Seidler: Wranigky, Schulz-Killitſchky, Fräu- lein Eunide, die Sänger Bader, Stümer, Blume, Eduard Devrient bildeten ein Perſonal von jeltener VBorzüglichkeit. Die Gapelle war durh B. A. Weber, einen Schüler Vogler's, gut geſchult. Auf eine ftilvolle Darftellung verwendete Brühl den größten Fleiß. Das Repertoire bereicherte er durch die beiten Meifterwerke. Er brachte Beethoven's „Fidelio“ und Glud’s „Alcefte” zuerjt auf die Bühne, andere Gluck'ſche Opern bürgerte er dauernd bei den Berlinern ein. | Auch Spontini's „Veſtalin“ und „Cortez“ hatte er mit großem Fleiße und feinem Verftänd- niß in Scene gejegf.) Mit Recht konnte er ſich rühmen, die Opernbühne Berlins zur erſten von. Deutſchland gemacht zu haben, und als ſolche wurde jie Damals aud) von allen deutſchen Componiften anerkannt. Spontini hatte bier weder Mipitände zu-bejeitigen noch Reformen einzuführen. Ein Künftlerperfonal eriten Ranges wurde ihm zur Verfiigung geitellt; feine Macht über dasjelbe war fait unbefchränft, das Vertrauen des Königs ein unbegrenzte. Seine Pflicht konnte nur fein, das Inſtitut auf der Höhe zu erhalten, auf welche Brühl es gebracht hatte. An dem guten Willen hierzu fehlte es Ihm anfänglich nicht.

E Er theilte dem Grafen Brühl jeine Pläne mit über Vergrößerung

des Orcheſters, Einrichtung einer Schule für die Theaterchoriften, über die Gejangsmethode, welche in der bei der Oper beftehenden Geſangsſchule zu befolgen ſei. Er dachte darüber nad, mie man die Opernjfänger noch mehr nad Seite des Dramatijchen ausbilden könne, und machte Vorfchläge zu einem neuen Regle— ment für die Orcheftermufifer. Zur Ausführung ift von allen

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diefen Dingen nicht viel gefommen deshalb, weil das, was Spontini wollte, in anderer Form ſchon beſtand, theils auch, weil es ihm an jener Stetigfeit und unparteiiſchen Ruhe fehlte, die in jeder leitenden Stellung erforderlich find. Außerdem fam es bald zu Competenzitreitigfeiten zwijchen ihm _und Brühl. Legterer betonte gegenüber dem Theaterperfonal und gegenüber Spontini felbit, ja durch Zeitungsartikel auch gegenüber dem Bublicum, vielleicht etwas zu eiferfühtig das ihm zuftehende Recht der oberiten Theaterleitung. Spontini, von deſpotiſcher Natur und in Sachen der Deffentlihfeit überaus empfindlich, berief fich dagegen auf jeinen Contract, der ohne Brühl’s Mit: wirkung zu Stande gelommen war, und den er nicht von Brühl nad deſſen Willfür ausgelegt wiſſen wollte; eigentlich erfannte er als jeinen Borgejegten allein und Direct den König oder höchſtens deſſen Hausminifter an. Unbekannt mit den Berliner Verhältniffen, der deutſchen Sprade nicht mächtig und bald um— geben von einer Schaar Schmeichler, die aus der Gunft des ein- flußreichen Mannes Vortheil für fi zu gewinnen hofften, ge: rieth er leicht in Mißverftändniffe, deren Folgen bei feiner arg- wöhnischen Natur jchwer zu bejeitigen waren. Kaum einige Monate waren in jchlecht verhehlter gegenseitiger Gereiztheit vergangen, To fam es jchon zwiſchen ihm und dem Intendanten zu einem heftigen Zuſammenſtoß. "Am 25. October ſollte unter dem Vorſitze Brühl's das Mochenrepertoire feitgeftellt werden. Spontini nannte den von Brühl gemachten Entwurf „parfaitement ridieule*, da nicht wenigitens zwei große Opern, „Beltalin“ und „Armide“, darin feien; die zur Aufführung bejtimmten Stüde waren „des miseres, des niaiseries“ u. ſ. w. Er jcheute ſich auch nicht, die Verwaltung des Grafen aufs Heftigite zu tadeln. Es fonnte nicht fehlen, daß Brühl ihm nunmehr in ernithafter Weiſe klar zu machen juchte, was im preußiichen Staate Subordination fei. Aber Spontini wollte von Subordination nichts wiſſen. „Ne m’envisagez pas moi-m&me,“ jchrieb er dem Grafen am 12. No: vember, „comme un subordonne de plus de votre puissance,

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car je ne suis nullement pas, ni par ma personne, ni par mon caractere, ni par mon contrat, ni par mon talent, quoique par ma place je me trouve compris dans le departement qui vous est confié, mais bien dans toute autre maniere que vous ne paraissez croire, ou que vous vous dissimulez.“ Der ganze Brief, dem ich diefe Stelle entnehme, ift äußerft leiden- Ihaftlih und ungezogen in der Form. Es dauerte eine Weile, ehe ein äußerlich erträgliches Verhältniß zwiſchen den beiden Männern mwiederhergeitellt wurde. Brühl wandte fi mit einer Beichwerde direct an den König. Endlich gelang es der Ver: mittlung des Herzogs Carl von Medlenburg, den Conflict zu be- jeitigen. Wie aber Brühl nunmehr den Charakter Spontini’s fennen gelernt hatte, hat er in folgender Schilderung dargethan. „Er iſt,“ schreibt er am 25. November an Witzleben, „höchſt leidenschaftlich, verliert in der Leidenjchaft alles Maß und Ziel, erlaubt ſich alsdann Ausdrüde, die fein Mann von Ehre dulden fann, und glaubt Alles mit feiner natürlichen Heftigkeit ent- ihuldigen zu können. Er ijt höchft mißtrauifch und zugleich höchft leihtgläubig und läßt fi von jedem Menſchen befhwagen, der jeiner Eitelkeit Schmeichelt ; daher umfchwärmen ihn aud) eine Menge höchſt unzuverläffiger Menjchen, deren Spielball er wird. Sein Stolz und feine Eitelkeit haben den höchſten Grad des Lächerlichen erreicht, und diefe Yeidenfchaft, zumal unter dem angenommenen Scheine der Bejcheidenheit, Teitet oder vielmehr verleitet alle feine Schritte und Handlungen. Seine Schwäde und Charafterlofigfeit thun das ihrige hinzu, um ihn wie einen Ball auf und ab zu treiben, und machen, daß er ſich und Andere alle Augenblide compromittirt. Und dieſem Manne joll man eine abgejonderte Ge: jhäftsverwaltung anvertrauen?“ Gegen dieſe etwas geveizte Charafterfhilderung muß man Spontini’3 große Eigenjchaften als Künftler in die Wagſchale werfen, um ihn gerecht zu be- urtheilen. Daß aber Brühl die Schwächen feiner Perjönlichkeit im Wefentlichen richtig erfannt hatte, wurde in der Folgezeit klar.

Die Vorbereitungen zur eriten Aufführung der „Olympia“

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in Berlin waren jchon im Gange, als Spontini Gelegenheit erhielt, zum eriten Male mit einer ganz neuen dramatijchen Compofition vor dem Hofe und dem Berliner Publicum zu er: jcheinen. Anfang 1821 fam der ruſſiſche Thronfolger Großfürft Nicolaus mit feiner Gemahlin nad) Berlin. Zu Ehren des Paares jollten große Hoffeitligkeiten ftattfinden. Thomas Moore’3 Ge: dicht „Lalla NRookh“ war unlängſt erſchienen und erregte all- gemeine Bewunderung. Brühl faßte den Gedanken, es zur Grundlage eines Feſtſpiels zu machen, welches die Hauptmomente des Gedichts in lebenden Bildern vorführte. Die Leitung in der Heritellung der Decorationen und in der Anordnung der Gruppen übernahm Schinkel, Spontini die Compofition der er- forderlichen Geſangſtücke, eines Einleitungsmarjches und der Tänze. Am 27. Januar 1821 fand auf dem königlichen Schlofje die Auf- führung ftatt, die nach dem Urtheil ſämmtlicher Anmwejenden an Schönheit und fremdartigem Glanz Alles übertraf, was in diefer Art von ihnen gejehen war. Die Dariteller gehörten ohne Ausnahme dem n Hofkreiſe an, die erlauchteſten Perſonlichkeiten wirkten mit. Den Dichehander Schah B.pielte Prinz Wilhelm, der ſpätere Deutſche Kaiſer, den Abdallah der Herzog von Cumberland, ſpäterer König Ernſt Auguſt von Hannover, die Dſchehanara ſeine Gemahlin, die Peri Prinzeſſin Eliſe Radziwill, den Aliris der Großfürſt Nicolaus, die Lalla Rookh ſeine Gemahlin. Am 11. Februar wurde eine Wiederholung des Feſtſpiels veranſtaltet vor einer ausgeſuchten Zuſchauerverſammlung, deren größter Theil aus den hervorragendſten Künſtlern und Gelehrten Berlins beſtand. Wilhelm Henſel, dem ſpäteren Gatten Fanny Mendels— ſohn's, wurde vom Könige der Auftrag, die lebenden Bilder zu malen und daraus ein Prachtwerk zuſammenzuſtellen, welches die Großfürftin als Geſchenk erhielt‘). Die Anordnung des Feſtſpiels war dieje, daß zunächſt die Erzählungen des Feramors

1) Welche Bedeutung diefes Werk für Henſel's Leben gewann, darüber ſehe man ©. Heniel, „Die Familie Mendelsiohn‘. Band I. Berlin, 1879 ©. 106 ff. (Erſte Aufl.)

Philipp Spitta, Zur Mufit. 20

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in lebenden Bildern dargeitellt wurden, nämlich: der verjchleierte Prophet von Khorajfan in zwei Bildern, das Paradies und Die Peri in drei Bildern, die Feueranbeter ebenfalls in drei Bildern. Dann folgte das Roſenfeſt in zufammenhängender Pantomime. Gewiſſermaßen als fortlaufenden _Gommentar zur Darftellung hatte der königliche Bibliothekar Spiker eine Anzahl von Ro- manzen gedichtet, weldde in Spontini’3 Compofition von den beiten Sängerinnen und Sängern der Oper vorgetragen wurden, doch fo, daß fie ſammt dem Orcheſter den Augen der Zufchauer verborgen waren). | Spontini’3 Merk, das er in Clavierauszuge bei Schlefinger in Berlin erjcheinen ließ, enthält vier Inſtrumental— und ſechs Geſangſtücke. Von leßteren ilt eines ein Chor von Genien (drei Soprane und Tenor), weldher Nurmahal’3 Schlummer begleitet. Er wird nur auf dem Bocale A gejungen und von einer duftigen, ganz leifen Inftrumentalbegleitung umfpielt ein entjchieden geniales Stüd. Die übrigen Geſänge find die oben genannten Romanzen. Die zweite derfelben ift eine freie Ueberjegung des Anfangs von „Paradies und Peri”. Die fi aufdrängende Vergleihung mit Schumann’3 Gompofition fällt natürlich zu Ungunften Spontini's aus) Ihm als taliener fehlte ſowohl der eigentlih) romantische Ton als aud) die Innig— feit des Ausdruds, welde das Gedicht erfordert. Nach diejer Seite hin konnte demfelben nur ein germanifcher Componiit Genüge thun. Ein Anderes ift e8, wenn man dag Feitipiel als Ganzes mit Schumann’8 „Paradies und Berti” vergleiht. Ob nicht der Bollgehalt des Moore'ſchen Gedichtes in „jenen an- gemefjener zum Ausdruck gefommen iſt, als in der oratorien- haften Form Schumann’s, möchte zweifelhaft fein.

Der erften Aufführung der „Olympia“ wurde mit großer Spannung entgegen gejehen, denn die Oper war neu für Berlin,

1) ‚Lalla Rakh. Ein Feitipiel mit Gefang und Tanz. Aufgeführt auf dem Königlihen Schloffe zu Berlin am 27. Januar 1821... . Berlin, 1822. Bei Ludwig Wilhelm Wittich.“ 4. Herausgegeben vom Grafen Carl Brühl und S. H. Spiter.

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und man wußte au, daß Spontini fie nach der Parijer Auf- führung nocd einer Umarbeitung unterzogen hatte. Sie war das erite feiner Werke, deſſen Inſcenirung in Berlin er von Grund aus jelbjt veranitaltete. Ihre Aufführung mußte aljo nah allen Seiten die ;Feuerprobe feiner Leiltungsfähigfeit be- deuten. Die Oper jollte am 5. März 1821 erjcheinen, ging aber in Wirklichkeit erft am 14. Mai in Scene. Spontini ſuchte die Schuld der dem Könige nicht unbemerkt gebliebenen Verzögerung dem Grafen Brühl zuzufchieben, in Wahrheit aber war er jelbit mit der Umarbeitung nicht rechtzeitig fertig geworden. Broden- weiſe ließ er dem Weberfeger des Tertes, E. T. A. Hoffmann, der u feinen lebhafteften Bewunderern gehörte, den legten Act zufommen. Am 18. Februar hatte der Chordirector der Oper noch feine Note vom legten Acte gejehen, noch auch der Ballet: meifter mit Epontini über die zugehörigen Tänze ſich unterrichtet. Spontini verlangte mindeitens drei Monate ununterbrochenen Studiums. Bei der ‚der Ausjtattung wurde nicht nur nichts gejpart, jondern jo verſchw chwenderiſch v vorgegangen, daß der König fich bernach ; zu dem Befehl veranlaßt jah, es jolle insfünftige der übertriebene und unzweckmäßige Geldaufwand eingejtellt werden. Die Rolle der Statira hatte Frau Milder, vielleicht die geeignetite Perjönlichkeit, welche je für diejelbe gefunden worden ijt. rau Schulz jang Olympia, Bader und Blume den Caſſander und Antigonus. /Chor und Orcheſter waren bedeutend verjtärkt, die Decorationen von Schinkel und Gropius hergeftellt. Zweiund— vierzig Proben hatte Spontini abgehalten. Nach diejen Veran- jtaltungen war_die Aufführung eine der pradtvolliten, eracteiten und _blendenditen, die wohl jemals erlebt jind. Der Beifall war ungeheuer. Brühl jelber war bingerifjen und jchrieb noch am Abend nah der Aufführung der Milder: „Ohne Uebertreibung fann man jagen, daß Sie ein vollendetes Ganze hingeitellt und ih eine neue Blume in Ihren Künſtlerkranz geflochten haben. Iphigenie in Aulis und die heutige Rolle find unjtreitig Ihre beiden vorzüglichiten und jchönften Leiftungen.“ Der Triumph 20*

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Spontini’3 war ein volljtändiger. Ein Werf, wie diefe „Olympia“, hatte unter den Opern der Zeit nicht jeinesgleichen. Diejer Er: Jumtniß fonnte fih auch der Widerwillige nicht verichließen.

‚geltep ſchrieb an Goethe, er billige das Kunftwerk nicht, könne aber doch nicht laſſen, es immer wieder zu hören.

fBriffaut und Dieulafoy hatten den Tert gemacht nad) Voltaire's Tragödie.J Ganz ungewöhnlich lange Zeit hatte Spontini für die Compofition gebraucht. Im December 1815 war er mit dem legten Acte befchäftigt, und im Januar 1819 war die Dper noch immer nicht vollendet. Gemäß der großen Mühe und Sorgfalt, die er angewendet hatte, hielt er fie denn auch für fein beftes Werl. „Quant & la partition,“ fchreibt er am 27. November 1819, „il faut la supposer d’une impor- tance et d’une &tendue au dessus de la Vestale et de F. Cortez,“ und bei diefer Meinung ift er auch fein Leben lang geblieben, troß vieler Erfahrungen beim Bublicum, die das Gegentheil zu beweiſen jchienen. Die erjte Aufführung hatte am 15. December 1819 in Paris jtattgefunden und dem Com: poniften eine bittere Enttäufchung bereitet. Die Oper hatte nicht gefallen troß der vielen Berehrer, die Spontini in Paris bejaß, trogdem aud das Publicum im Allgemeinen günftig für ihn ge- ftimmt war. Er war aber nit der Mann, nad) einem erjten Mißerfolg jeine Sache verloren zu geben. Derfelbe fam zum großen Theil auf Rechnung des ungenügenden Textbuchs. Die Dichter hatten fih zu eng an Voltaire angeichloffen, die Bedürfniffe des Mufiferd und die hergebrachte Form einer großen Oper nicht hinreichend berüdfichtigt. Namentlich hatte die tragiiche Löfung mißfallen, da man dergleichen in einer Oper nicht gewöhnt war. Diefe vor Allem wurde nun durch einen glüdlichen Ausgang er: jegt. Schon im Februar 1820 war Spontini mit der Umarbeitung des Werkes befchäftigt; im Januar 1821 mar fie vollendet. Aber im Jahre 1822 wurde „Olympia” nochmals überarbeitet. Die Aenderungen bezogen fih auf die Arien Gajlander's und Olympia's im eriten Act, auf das Duett zwiſchen Olympia und

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Caſſander ebendafelbit; außerdem wurde zum dritten Act eine neue Scene mit einem Terzett binzucomponirt. Da dieje fich in der gedrudten Ausgabe nicht findet, jo jcheint auch jeßt die ndgültige Form der Oper noch nicht erreiht worden zu jein. Der vollftändige Clavierauszug erihien 1826 bei A. M. Schle— finger in Berlin. Am 28. Februar 1826 wurde die Oper in Paris wieder auf die Bühne gebracht, und war bis zum 15. März ihon jechsmal gegeben worden !).) Sie gefiel mit jedem Male mehr, und ichließlih Fonnte Spontini einen großen Triumph verzeihnen. Doch nur in Berlin erhielt fie jih dauernd auf dem Repertoire. Vorübergehend wurde fie in Dresden und Darm- ftadt gegeben; eine 1822 in Wien in Ausficht genommene Auf- führung fam nicht zu Stande. est iſt das Werk aus dem öffentlichen Mufikleben verfhwunden. Es theilt dies Loos mit Cherubini's „Medea“. Doc ift mit legterem immer wieder von Zeit zu Zeit der Verfuch gemacht worden, e8 der Bühne zurüd- zugewinnen. Wenn der Verſuch bei der „Olympia“ unterblieb, jo liegt joldhes wohl zum Theil an den großen Anforderungen, welche an die Kraft der Dariteller und an die jceniichen Ver: anjtaltungen gejtellt werden. Die Eigenart der Spontini’fchen Opern verlangt aber auch einen bejondern Stil der Darftellung. Welcher Art derjelbe war, und daß dieſe Art feineswegs immer dem eriten Blide klar lag, davon willen die wenigen überlebenden Mufiler unferer Tage zu berichten, die in den zwanziger Jahren den Aufführungen Spontini'ſcher Opern in Berlin mit Verſtändniß folgten. Heinrich Dorn erzählt, man habe 1829 in Leipzig den Shlußhor des zweiten Acts der „Beitalin“ verjpottet und für einen Walzer erklärt. Als Dorn die Tirection der dortigen Oper übernahm und die „VBeltalin“ zum eriten Male dirigiren follte, machte er fich die Erfahrungen zu Nutze, welde er beim Anhören der Oper unter des Componiſten eigener Zeitung gefammelt hatte. In Folge deſſen erhielt der Schlußchor einen Charakter, daß man

!) Berliner Allgemeine muſikaliſche Zeitung. Redigirt von A. B. Marr. Jahrgang 1826, S. 104.

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ihn gar nicht wiederzuerfennen glaubte und die Einwendungen gegen ihn verjtummten. Dorn klagt: „Noch fünfzig Jahre und die Spontini'ſchen Traditionen werden, wie jchon jett die Mozart’ihen, ganz verloren gegangen jein.” Man kann aber jagen: fie find ſchon verloren gegangen. Es jteht dahin, ob fie fich länger gehalten hätten, wäre Spontini’s Wirkjamfeit in Deutfhland anders und beffer verlaufen. Die Stillofigfeit, welche jeit Jahrzehnten an den deutichen Operntheatern herricht, macht aber die Erjcheinung auch ohnedem begreiflich. „Olympia“ ift von einer Größe der Conception, wie fie, von Wagner’3 „Nibelungenring“ abgeſehen, faum eine andere Oper des 19. Jahrhunderts aufzuweijen hat. In einzelnen Stüden der „Hugenotten“ und des „Propheten“ hat Meyer: beer in dieſer Hinficht feinen Vorgänger wohl erreiht. Ein Ganzes in jo gewaltigen Formen zu bilden, ift ihm nie ge: lungen. Die Einheitlichfeit der Geftaltung tritt auch äußerlich darin hervor, daß die einzelnen Scenen der Acte mufifalifch in einander übergehen, und fomit jeder Act wie aus einem Guſſe ericheint, was in „Veſtalin“ und „Cortez“ in dieſem Make noch nicht der Fall ift. Weberall fügt fich die Muſik mit den Erjcheinungen der Bühne und den Bewegungen der Hanbd- lung auf das Engite zufanınen das erjte und wichtigite Kennzeichen eines echten Dramatifers. Die Hauptcharaftere find einander ſcharf entgegengejegt; der ihnen angemefjene Ton ift mit Kraft dur das Ganze feitgehalten. Die eriten Auftritte der Perfonen, die immer in der Oper für die Feltitellung der Charaktere das wichtigste Moment bilden, find ſtets von großer Prägnanz. Es ift interefjant zu beobachten, wie grundbverjchieden z. B. die mufifalifche Weife, mit welcher fih Olympia einführt, von derjenigen ijt, mit welcher Statira ericheint. Letztere die Hauptperfon der Oper hat nur noch in der Wieden Cherubini’3 und allenfalls in Gluck's Armida ihresgleichen. Ein gramerfülltes, von furchtbaren Erinnerungen umbüjtertes, rache— glühendes Weib, dabei in jedem Nugenblide Königin vom

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Scheitel bis zur Sohle. Man muß es unummwunden anerkennen: diefe Statira iſt das Bild einer Heroine, die des Alerander würdig war. Behält man die Größe des Gegenitandes und des gejchichtlihen Hintergrundes im Auge, jo erjcheint auch der Aufwand von Kunjtmitteln, deijen der Componift fich bedient bat, fein übertriebener. Gegenüber diejen bedeutenden Eigen- ihaften der Oper jteht freilich auch eine nicht geringe Anzahl von Mängeln. Abgejehen von den falihen geihichtlihen Vor: ausjegungen der Handlung, die dem gebildeten Zuschauer unferer Tage leicht jtörend werden können, erfältet der glüdliche Ausgang diejes Zugeitändniß an den Tagesgeihmad das Intereſſe an den Schidjalen der Hauptperjfonen; der urjprüngliche tragijche Schluß gab jedenfalls wenigitens dem Charakter der Statira mehr Feitigfeit und innerliche Folgerichtigfeit.. Der Muſik, die unleugbar groß gedacht it in ihren Gontouren, fehlt es an Reiz im Einzelnen. Spontini war fein eigentlicher Inſtrumental— componift. Seine Inftrumentalftüde find theils Duvertüren, theils Tänze und Märfche, aljo Etüde, welche nur einen einleitenden oder einen begleitenden Zwed haben, aber nicht ganz auf fich ſelbſt be: ruhen. Nun iſt aber die Inſtrumentalmuſik mit der unvergleichlich größeren Beweglichkeit und Mannigfaltigfeit ihrer Organe die rechte Schule für die Entwidelung eines inneren mufifalifchen Reichthums. Daß Spontini diefe Schule niemals gründlich durchgemacht hat, räht fi an der Wirkung feiner großen dramatijchen Formen. Sie haben etwas Eintöniges, Ermüdendes. Seine Begleitungen find wenig abwechslungsreidh , jeine Bälle dürftig. ES nimmt Wunder, daß er diejen Mangel nicht jelbit bemerkt zu haben Iheint, da er doch Mozart, das unübertroffene Mufter auch in diejer Hinficht, jo hoch verehrte. Den Melodien fehlt e3 häufig an Plaſtik, an jener freien und fühnen Bewegung, die unbe- dingt erforderlich ift, wenn die Melodie bei jo maſſenhaft ange- häuften Tonmitteln fih als die Herrfcherin im Tonreich be: haupten joll. Spontini's Tonſprache ift nicht beweglich genug, um bei raſchem Wechſel der Empfindungen im Verlauf einer

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Scene immer fofort mit den entfprechenden Ausdrudsmitteln bei der Hand zu fein. Er vermag auch die Inſtrumente nicht ge- nügend an der Daritellung der dramatiſchen Entwidelung theil- nehmen zu laffen. Wenn fait Alles nur durch den Gejang und die Action vermittelt werden ſoll, jo fragt man, wozu ber überreiche Orchefterapparat da jei. Die hohe Aufgabe der In— jtrumentalmufif in der Oper, Empfindungen vorzubereiten, zu vermitteln, ihr Erfcheinen innerlich glaubwürdiger und äußerlich einleuchtender zu machen, hat er entweder wenig begriffen ge: habt, oder cr fühlte ſich der Löfung diefer Aufgabe nicht ge: wachen. In allen diefen Dingen find ihm Cherubini und Weber, jeder in feiner Weiſe, hoch überlegen.

Die Zeit von Spontini's unbeftrittener Herrlichkeit dauerte genau fünf Wochen. Am 18. Juni 1821 erlebte Weber’s „Frei: ſchütz“ ir im neuerbauten Berliner er Echaufpielhaufe $ jeine erjte Auf- führung. Man weiß, was diefer Tag für die Gefdhichte der Muſik bedeutet. War der augenblidlihe äußere Erfolg auch dem der „Olympia“ nur gleich, jo wurde doch jofort bemerkbar, daß bei diefer das Publicum mehr nur vom Staunen über: wältigt wurbe, Joäßrend beim m „Sreiihüg” das Weſen des deutichen Volkes, im Innerſten ‚getroffen, dem Componijten jaud)- zend entgegenzitterte. Mährend „Olympia“ faſt auf das Ber- liner Theater bejchränft blieb, verbreitete fich Weber’s Werk mit größter Schnelligkeit durch ganz Deutfhland, ja alsbald durch die ganze Welt. Spontini ſelbſt fonnte es ſich nicht verhehlen: er war unmittelbar nach einem glänzenden Siege von einem bisher kaum beachteten Gegner volljtändig gejchlagen worden. Dies mußte ihn um fo tiefer treffen, als er fich bewußt war, in der „Olympia” fein Höchites geleiftet zu haben. Es hätte allein vielleicht nicht hingereiht, ihm den Muth zu nehmen. Aber in dem „Freiihüg“ trat ihm eine Seite des deutjchen Weſens gegenüber, für die er kein Verſtändniß hatte. Dieſen Gegner zu bekämpfen, fehlten ihm die Waffen. Eine weniger herrſchſüchtige Natur, als die ſeinige, hätte ſich nun mit dem

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begnügt, was ihm in Deutichland zu erringen überhaupt möglich war. Aber der Gedanke war ihm unerträglid, neben jeiner Kunft eine andere, gleich große, dulden zu müffen. Und da er Weber's Mufit_mit_eignen Kunftthaten nicht befämpfen konnte, verfuchte er es mit t_außerfünftlerifchen Mitteln. Seinem Ver— hältniffe zu Brühl, der, ein perjönlicher icher Freund Weber's, deſſen Mufik leidenschaftlich liebte, gereichte der Erfolg des „Freiſchütz“ nicht zum Vortheil. Was der Intendant fich gelegentlih vom Generalmufifdirector gefallen laſſen mußte, zeigt folgender Vor: fall. Im März 1822 wollte Spontini gern „Figaro's Hochzeit“ und Brühl den Freiſchütz“ geben. Spontini fchrieb mit —— * hierauf dem Letzteren am 13. März, die Mittel, deren er ſich bediene, um feinen Zweck für dies fein Lieblingswerk zu er: reihen, machten feinem Gejchmade und jeiner Unparteilicfeit I feine große Ehre. Daß von einer Berufung Weber3 nad | Berlin, die Brühl gar zu gerne gejehen hätte, nun nicht mir | die Nede fein fonnte, verfteht fih von ſelbſt.

Als am Abend nad der eriten „Freifhüg” - Aufführung Weber für den enthufiaitifchen Beifall danfend auf der Bühne erſchienen war, hatte man ein Gedichtblatt im Theater veritreut,

in weldem_e&, mit Anfpielung auf. die-in der... Olympia“ vor: | kommenden Elep hanten hieß:

So laß dir's gefallen in unſerm Revier, Hier bleiben, fo rufen, fo bitten wir;

Und wenn es aud feinem Elephanten gilt, Du jagft wohl nad anderem, edlerem Wild.

Bon diefer Stunde an jchied fih das PBublicum offen in zwei Parteien. Die nationale Partei, an Geilt, Gemüth umd Bildung die überragenbere, | ichaarte fih um Weber. Eie fühlte inftinctiv den Gegenfag heraus, in welchem er fich zu Spontini befand, und ließ ſich auch gar nicht beirren durch die ängjtliche Berliffenheit, mit welcher der Letere vor dem Publicum jeden Schein zu vermeiden fuchte, als hintertreibe er die häufigen Wiederholungen des „Freiihüg“. Spontini’s Rückhalt blieben

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die Hoffreife, deren Einfluß freilich ftarf genug war, ihren ünftling in feiner Machtitellung zu halten. Durch die damals noch) i im preußiihen Staate herrſchende Cenſur wurden ſogar die ie_freien_Meinungsäußerungen der er Preſſe über Spontini ge hindert, und wenn biefer bei Hofe über eine ihm vermeintlich widerfahrene Alnbill klagte, geſchah es ftetS mit günftigem Er- folge für ihn. Aber was das künſtleriſche Anjehen betrifft, fo war Spontini'3 Stern, der jo glänzend aufgegangen war, und nad) der eriten Olympia-Aufführung in blendendem Scheine gejtrahlt batte, vom 18. Juni 1821, dem Jahrestag der Schlacht bei Waterloo, an ſchon wieder in langſamem Niederfinkten begriffen. Der Vorzüglichkeit der eriten Olympia Aufführung ließ auch Weber volle Gerechtigkeit widerfahren?), und es mag bier der Ort fein, über Spontini’3 Directionsbegabung Einiges zu jagen. Ob er Talent bejaß für das, was man gemeinhin einen tüchtigen Gapellmeifter zu nennen pflegt, möchte jehr zweifelhaft jein, fann aber faum entjchieden werden, da er von fremden

Opern eigentlih nur zwei zu dirigiren pflegte, „Armida” und

„Don Juan”, die er beide jehr genau Fannte?). Für Die Direction der übrigen Opern waren zwei Mufikdirectoren, Seibel und Schneider, und zwei Goncertmeilter, Möſer und Seibler, vorhanden. Gapellmeijter Bernhard Anfelm W Weber war am 23. März 1821 geftorben. Als Spontini nad) Berlin kam, beſaß er kaum irgend welche Uebung im Dirigiren und wollte deshalb anfänglich auch den Tactſtock überhaupt nicht führen, ſondern es ſollte, ſo oft er im Orcheſter war, ein Concertmeiſter neben ihm ſitzen und nach ſeiner Beſtimmung den Tact angeben. Die techniſchen Handgriffe des Dirigirens hat er ſich auch während

= 1) F. W. Gubig, Erlebniffe. 3. Band. Berlin, 1869. ©. 241 f.

2) M. v. Weber, Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild. 2. Band. Leipzig, E. Keil. 1564. ©. 306.

%) Am 6. November 1826 dirigirte Spontini die zum Beften der Hinterbliebenen Weber's beftimmte neunundneungigfte Vorftellung des Freiſchütz‘“, was ihm bei feiner Abneigung gegen das Wert hoch anzu- rechnen ift.

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jeiner Braris in Berlin nit mehr bis zur vollen Eicherheit an- geeignet. So war namentlich feine Art, die Necitative zu dirigiren, ungefhidt und unklar. Dies berichtet Heinrih Dorn, der ihn oft genug hat dirigiren jehen, und in diefer Sache gewiß ein competenter Beurtheiler it‘). Auch im Partiturlefen fehlte es ihm an jchnellem Ueberblick und Routine?); als er Pfingften 1847 auf dem rheinifchen Mufikfefte zu Cöln dirigiren wollte, fonnte er fich jogar in der Partitur jeiner eigenen Oper „Olympia“, da er fie eine geraume Zeit nicht angejehen hatte, nicht mehr zu: rechtfinden. Die Folge davon war, daß er mit dem Einjtudiren eines Werkes nur langjam zu Stande fam. Aber nicht um jeinetwillen allein machte er von jeder jeiner Opern eine Unzahl von Proben. Die peinliche Genauigkeit, welche ihm beim Com- poniren eigen war, übertrug er auch auf die Ausführung jeiner Werke. Er ruhte nicht, bis Alles und Jedes ganz genau jo zur Erſcheinung fam, wie es in feiner Borftellung lebte, anfänglich oft nur ſchwankend und undeutlich, bis es bei wiederholtem Er: perimentiren auch ihm jelber endlich Klar hervortrat. Rückſichts— [08 und deſpotiſch ging er dabei mit feinen Untergebenen um. Er konnte Sänger und Spieler durch unaufhörliches Wieder: holen zum Tode ermatten; es fam vor, daß er Proben abhielt von acht Uhr Morgens bis vier Uhr Nachmittags, oder von fünf Uhr Nachmittags bis elf Uhr Nachts. Aber er machte e8 mit Anderen doch nur jo, wie mit fich felbit, da er ſich durchaus feine Mühe ſchenkte, feine Werke immer von Neuem wieder um- zuarbeiten und bis in alle Einzelheiten durchzuprüfen. Kam dann die Aufführung heran, jo fonnte jedes einzelne Orcheftermitglied feinen Part auswendig®), und Spontini mochte nun taktiren

un

1) Dorn, Aus meinem Leben. Muſikaliſche Skizzen. Berlin, Behr's Buchhandlung. 1870. Dritte Abtheilung S. 3 f.

2) Ed. Devrient, Meine Erinnerungen an Felix Mendelsfohn- Bar- tholdy. 2. Aufl. Xeipzig, J. J. Weber. 1872, ©. 28

3, Mie der Opernregiffeur Blum einmal hinsichtlich der Oper „Alcidor“ in den Acten ausdrüdlich bezeugt.

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wie er wollte, e8 ging doc Alles wie am Schnürden. Er nahm auch gar feinen Anſtand, neu angefertigte Decorationen und Coſtüme, wenn fie ihm nicht zufagten, ohne Weiteres zu ver- werfen, und ohne Rückſicht auf die entitehenden Kojten andere dafür zu verlangen. Als echter Dramatiker hatte er jtets ein wahjames Auge ebenjowohl auf das, was auf der Bühne ge- ſchah, als was im Orcheiter. Die jcenifchen Vorgänge mußten aufs Genauefte feinen Vorftellungen aud in Nebendingen ent- jprehen. Bald nad feinem Amtsantritt gerieth er mit Brühl in Streit, weil er verlangte, daß die Milder in der „Beltalin“ das im Tempel der Belta zu Rom aufbewahrte alte Pallasbild (palladium) öffentlih trüge, wogegen Brühl, geftügt auf die Autorität Hirt's, behauptete, dad Palladium fei niemal3 dem Volke gezeigt worden. Er gerieth außer fi, als jpäter einmal im „Cortez“ der Flottenbrand nicht mehr fihtbar, wie früher, dargeitellt werben ſollte. Es findet ſich jogar, daß Spontini’s Frau im Auftrage ihres Gatten fich bei Brühl wegen Nenderung eine Aermeld im Gemwande der Sängerin Schulz verwenden muß. Bei der Auswahl der Vertreter feiner Operncharaftere ſah er nicht nur auf Stimme, Temperament, jchaufpielerifches Talent, jondern mit größter Sorgſamkeit auch auf die äußere Erſcheinung. Dorn hatte ihm einft einen ausgezeichneten Baſſiſten für feine Oberprieiter-Rollen empfohlen. Er ließ ſich aber nicht einmal herbei, von dem Manne fih auf feinem Zimmer etwas vortragen zu laſſen, „weil er doch jchon von Natur für einen Oberpriefter mindeitens anderthalb Fuß zu Klein ſei“. Er bielt unerbittlih auf vollftändige Verjchmelzung des Gejanges mit dem Inſtrumentenſpiel, der dramatifchen Vorgänge mit ber Muſik, und verlangte von den Solojängern ſowohl als von dem Chor die möglichite Vertiefung in den Charakter ihrer Rolle, das genauefte, bewußtelte Erfaffen jeder Eituation. Der ihm eigne Zug zum Grandiofen und Erjchütternden, dem er in den gewaltigen Verhältniſſen feiner Opernformen den entſprechenden Ausdrud zu geben wußte, führte ihn einerfeit3 zur Anwendung

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der glänzendften decorativen Mittel und bisher unerhörter Maffen von Spielern, Sängern und Tänzern, andrerfeit3 zur Erwirkung der ftärkften Accente und aufregendften Contrafte. „Forte wie ein DOrcan, Piano wie ein Hauch, Crescendo, daß man unwill: fürlich die Augen aufriß, Decrescendo von zauberifch ermatten- der Wirkung, Sforzando, um Todte zu erweden,” jagt Dorn. Er trieb Spieler und Sänger nad) diejer Richtung bis aufs Aeußerſte. Man erzählt fich noch jegt in der Berliner Capelle, wie er einmal eine gewiſſe Baßpafjage in einer feiner Opern durchaus nicht ftark genug befommen fonnte. Immer und immer ließ er wiederholen, die Spieler gaben das Aeußerſte her, was fie an Ton! in ihren nftrumenten, an Kraft in ihren Armen hatten; e8 genügte nicht. Endlich famen die Violoncelliiten auf die Idee, die Baßpaſſagen ſämmtlich mitzufingen. Spontini, der das Kunftmittelden nicht merkte, war überrafcht durch den jegt ih ergebenden fonoren Klang und nun völlig befriedigt. Den Ausruf „Saffander!”, welchen Statira im erjten Act der „Olym— pia“ dem vermeintlichen Mörder ihres Gatten entgegenjchleudert, mußte die Milder ſtets mit dem höchiten Aufgebot der Kraft fingen. Sie hatte ſich einmal dabei jo angeftrengt, daß ihr für das Folgende die Stimme gänzlich verfagte. Seit der Zeit hielt fie Spontini für unbraudbar und feßte im Jahre 1829 ihre Benfionirung dur. Weil die Seibler-Wranigfy von zarter Geſundheit und mehr für den lieblichen und innigen Gefang geeignet war, fand fie troß ihrer großen Gejangsfunft vor Spontini’8 Nugen wenig Gnade. „Il faut braver, Madame!“ rief er ihr zu, als fie in einer Probe der „Beitalin” unter den ihr zugemutheten Anftrengungen zu erliegen drohte, und es rührte ihn wenig, als fie endlih ohnmächtig zuſammenbrach. Nicht weil er unjanglich gejchrieben, oder die Singitimmen durch zu ſtarke Begleitung gededt hätte, waren jeine Partien jo über- mäßig anjtrengend. Spontini war viel zu jehr Italiener ge- blieben, al3 daß er nicht ftetS in den Singjtimmen die Haupt- organe für jeine Wirkungen gejehen hätte. Der Grund lag eben

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in jener Neigung, die Contrafte bis zur denfbariten Schärfe zu treiben, und in feiner Rüdfichtslofigfeit beim Einftudiren. Die Klage, daß er die Stimmen ruinire, ward bald unter den Sänge- rinnen allgemein. Die Seidler bat 1826 um ihre Entlaffung, weil die Opern Spontini's ihrer Gefundheit zum größten Nach- theil gereichten, die Milder bat ſchon 1823, man möge „Olym- pia“ nicht öfter als höchſtens alle vierzehn Tage geben, jonft überjteige e3 ihre Kräfte. Die Schehner jchlug ein Engage- ment nach Berlin aus, weil fie fih vor den Anftrengungen der Spontini’fchen Opern fürchtete. Selbit die dem Meijter unbedingt ergebene Schulz gerieth im März 1824 außer fich ob der Rückſichts— dojigfeit, mit welcher er fie unaufhörlich in den ichwerften und größten Rollen anjtrenge, und feheint ihm öffentlich in der Probe jo unverbindlihe Dinge gejagt zu haben, daß er fie bejtrafen lafjen wollte; doch befann er ſich hernach eines Anderen.

Das Bild, welches Spontini bei Aufführung feiner Werke an der Epige der Capelle gewährte, war ein impojanted. Er glih einem Feldherrn, der feine Armee zum Siege führt. Wenn er zum Beginn der Vorjtellung raſch und leife durchs Orcheſter zum Pirigentenfig jchritt, verhielt ſich jedes Orcheſter— mitglied lautlos in gejpannter Erwartung des Anfangs. Der Arm mit dem Taktirftod hob und ftredte fih und ruhte jo eine Weile, als jei er in Erz verwandelt‘). Dann flog der Blid zur legten Mujterung über jeine Schaaren, der Arm fiel nieder, und die Töne raufchten auf. Seine Armbewegungen beim Diri- giren waren energisch, präci® und doch graziös, der übrige Körper in gebieterifcher Haltung wie in Bronze gegoffen, nur daß das Auge bald nad rechts, bald nad) links fih wandte, und „der wildeite Paufenjchläger wäre im rajenditen Wirbel verftummt, wenn ihn ein Flammenblick dieſes Auges getroffen hätte.” Spon- tini’3 Erſcheinung war in ſolchen Stunden die der verförperten

Noblejje, aber auch der jchranfenlojeiten Selbitherrlichkeit, der

1) A. B. Marr, Erinnerungen. Berlin, D. Janke. 1865. 1. Band,

ı ©. 220.

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jeder andere Wille fih unbedingt unterwerfen mußte. Der pedantiiche Zug feiner Natur trat auch hier in manchen Aeußer— lichfeiten hervor. Er konnte 3. B. nur aus einer geſchriebenen Partitur dirigiren und nur vor einem ganz bejonders conftruirten Notenpult. Er bediente fich beim Taktiren eines dicken Stodes von ſchwarzem Ebenholz, an deijen beiden Enden fich ein maſſiver Elfenbeintnopf befand. Diefen Stod ergriff er nit am Ende, jondern in der Mitte mit der vollen Fauſt, und hielt ihn wie einen Marſchallſtab!).

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lit dem 14. Mai 182] waren die drei bedeutenditen der von Spontini noch in Paris componirten Opern (Beitalin, Cortez, Olympia) in einer den Abfichten des Componiften genau ent- jprechenden Form auf der Berliner Bühre dargejtellt und auf lange Zeit zu feiten Nepertoireftücden gemadht worden. Ihre häufige Aufführung hatte allerdings mehr in der Gunft des Königs ihren Grund, als weil fih das Publicum fehr zu ihnen gedrängt hätte. Es ift vielmehr erfichtlih, daß die allgemeine Theilnahme bald bemerflih nachzulaffen anfing, und zu künſt— lihen Mitteln gegriffen werden mußte, un das Theater im einer Spontini erwünjchten Weife zu füllen. Spontini theilte mafjen- baft Freibillets aus. Zu einer Olympia-Vorſtellung am 21. De: cember 1821 ließ er fih 3. B. von der Intendantur fünfzig Freibillets liefern und kaufte noch fünfundzwanzig dazu. Im September 1824 drängte er den Intendanten, daß die großen Opern, alſo vor Allem feine eigenen, nicht bei erhöhten Preiſen gegeben würden, das Publicum fomme jonft bald gar nicht mehr hinein, und wünjchte, daß bei der nächiten Aufführung der „Veitalin“ alle Tage vorher auf den Anjchlagzetteln mit großen Buchſtaben zu lejen jei: „Gewöhnliche Preiſe.“ Eine neue Oper Spontini’8 wurde dagegen immer noch als ein Er-

1) Rihard Wagner, Erinnerungen an Spontini. Geſammelte Schriften. 5. Band. Leipzig, Fritzſch. 18372. ©. 116 f.

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eigniß betradhtet, das mit Recht das ganze Publicum in Be- wegung ſetzte. Dazu war die Perjönlichkeit des Mannes eine zu bedeutende, jeine Stellung in der Gejellihaft eine zu jcharf hervortretende. Auch wußte man, daß es bei Spontini’3 Opern immer etwas Präctiges zu jehen gab. Nach feinem Contract war er gehalten, alle drei Jahre zwei große Opern zu fchreiben. Als eine derjelben war ihm Olympia angerechnet worden. Die Compofition der zweiten faßte er Ende 1821 ins Auge.

Aus verichiedenen Stoffen, unter denen er Mufterung bielt, wählte er das Rojenfeft von Kafchmir aus Moore's Lalla Rookh. Schon in dem Feitipiel_ vom_27. Januar_1821_ hatte er mit demjelben zu thun gehabt. Die Beobachtung der großen Wirkung, welche dieſes Feitipiel machte, dürfte jeine Wahl mitbeftimmt haben, auch wohl die dem langjam arbeitenden Componiſten a ee nugen zu fönnen. Denn das Weſen des Stoffes erjcheint jonft dem Charakter des Spontini'ſchen Talents nicht grade ange- mefen. Den Text ſchrieb der Theaterdichter Carl Alerander Herklots. Im März 1822 finden wir Spontini in voller Arbeit am erjten Acte; er arbeite täglich fiebzehn Stunden, fchreibt er an Brühl. Zwei Acte hat die Oper nur, und am_27. Mai 1822 fonnte zur Feier der Vermählung der Prinzeffin Alerandrine von Preußen mit dem Erbgroßherjog von Medlenburg- Schwerin die erfte Aufführung fein. Unter dem Titel „Nurmahal oder das Roſenfeſt von Kaſchmir“ ift die Oper, im Clavierauszug vom Componiften, bei Schlefinger in Berlin erfchienen und der Erbgroßherzogin Alerandrine gewidmet. Die verbreitete Mei: nung, e8 fei die Oper „Nurmahal* nur eine Umarbeitung des Feſtſpiels „Lalla Rookh“ ift falſch. Sie ift ein ganz jelbitändiges Merk, für welches allerdings einige Stücke des Feitipiels benugt find. Nämlich der Einleitungsmarſch für Nr. 8. der Oper, die Romanze zum Bild „Die Peri“ für Nr. 25, die Romanze der Nurmahal für Nr. 26, ferner der Chor der Traumgenien für Ar. 20 und das Meifte der Balletmufif, Außerdem ift ein Lied

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aus „Les dieux rivaux“, und das Ballet zu den „Danaiden” benugt (Nr. 10 und 14).

Die Terte zur „Veſtalin“, „Cortez” und „Olympia“ litten wohl an einigen Fehlern, aber die Vorzüge überwogen diejelben. Die Dihtung „Nurmahal“ aber iſt ein gänzlich verfehltes Product. Es ift dem Dichter weder gelungen, eine fejjelnde Handlung zu jchaffen, no für eine der Perfonen des Dramas unjere Theilnahme zu erweden. Auch hat er auf die nächite Be- jftimmung dieſer Oper, einer Hoffeftlichfeit zu dienen, in zu aus: gedehntem Maße Rüdficht genommen, und ihr dadurh in jtörender Weiſe den Charakter eines Gelegenheitsjtüdes aufge: prägt. Was Spontini an dem Stoffe gereizt hat, fann nur der orientalifhe Localton gewejen jein, der jeiner Kunft eine neue Aufgabe ftellte. Unter diefem Gefihtspunfte ift „Nurmahal” eine intereflante Erjcheinung. Wenn es im Allgemeinen weder den Italienern noch den Franzofen gegeben ift, für das Phan- taftiijche und Märchenhafte die entiprechende muſikaliſche Weife zu finden, und wenn auch Spontini in der „Nurmahal” weit hinter Weber'3 „Oberon” zurüdbleibt, jo zeugt doch dasjenige, was er hier geleijtet hat, immerhin von der Kraft jeines dra— matifchen Talentes und von der Energie jeines Strebens. Die beiten Stüde find wohl das erite Finale, das Duett Nr. 17 und da3 Duett mit Chor Nr. 20. In dem Finale ijt die Stelle, wo zwiſchen den entzweiten, getrennt auf beiden Seiten der, Bühne ruhenden Liebenden das Volk mit bachantifhem Jauchzen jeinen Reigen jehlingt, dann allmählich verftummt und zu tanzen aufhört, während die Klagetöne jener auf der Septime e-d wie in ungeftillter Sehnjucht weiter Klingen, ganz ergreifend und von wahrer Genialität. Der beſte deutſche Romantiker brauchte fih ihrer nicht zu jchämen. Das Duett Nr. 17 hat einige phrajenhafte Melodien, reißt aber als Ganzes hin durch feinen leidenſchaftlichen Ungeſtüm. Eine Empfindungsart, die in der deutjchen Oper zuerjt bei Marjchner auftritt, 3.8. in dem Duett Nr. 17 von „Templer und Jüdin“, hat ſich wohl an diefem

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Philipp Epitta, Zur Mufil.

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Spontini'ſchen Vorbilde entzündet. Der Geifterhor Nr. 20 ift von zauberifher Klangwirfung und in der Verwendung ber Kunftmittel etwas ganz Neues. Im Vergleich zu Weber's Ton- bildern diefer Art bleibt aber die Wirkung doch mehr eine äußerliche. Auf Weber den Bli zu werfen, liegt hier auch des- halb nahe, weil in Nr. 21 ein Genius das Lieb „From Chin- dara’s warbling fount I come* fingt. Auch Weber hat dies Lied mit Muſik verfehen; es war feine legte Arbeit, er ſchrieb fie am 25. Mai 1826 in London. Wer die beiden Eompofitionen gegen einander hält, veriteht ohne Weiteres, was Spontini für ſolche Aufgaben fehlte. Ganz inhaltsleer find die jpäteren Ge- fänge Nurmahal’3; gerade hier, wo es galt, den vollen Zauber der Melodien zu entfalten, bleibt Spontini dem Hörer Alles Ihuldig. Hingegen finden fih in den übrigen Stüden der Oper noch Schönheiten mancher Art. In dem Andantino malinconico Nr. 16 überrafchen einige ganz neue und tief ausdrudsvolle Wendungen. Die Nr. 3, 4 und 5 find von einjchmeichelnder Melodif, aber ganz in Spontini’S früherer, neapolitanischer Weife, jo daß man auf die Vermuthung geräth, er habe fie aus feinen Sugendopern genommen. Einige Anflänge an Mozart finden ſich aud. Ballets und Duverture find glänzend und feſtlich, leßtere freilich jehr al fresco gemalt, wie e8 die Italiener bei ihren Duverturen lieben. Endlich merkt man es auch der Dper an, daß fie in einer dem Gomponijten nicht geläufigen Sprache componirt ift. Die Declamation ift oft ungeſchickt und die Betonung fremdländiſch.

Am 9. Juni 1822 verließ Spontini Berlin zu fiebenmonat: lihem Urlaub. Er ging zunächſt nad) Dresden und hatte hier am 11. Juni eine Zufammenfunft mit Weber, bei welcher ſich Legterer überaus liebenswürdig und bienjtbereit zeigte, während Spontini nicht unterlaffen fonnte, ihm unter der Masfe des Wohlmwollens fein nur eben erft beginnendes Renonmde als Opern- componijt empfindlich zu machen. Am 29, Juni war er in Wien und bemühte ſich vergeblich, hier eine Aufführung der „Olympia“

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für die nächte Saifon zu bewirken. Dann ging er nad) Italien und jah feinen Geburtsort Sefi wieder. Im September befindet er fi in Paris, wo er die nochmalige Meberarbeitung der „Olympia“ vornimmt. Auch den alten „Milton“ juchte er wieder hervor und erperimentirte mit allerhand Aenderungen daran herum. Am 12. Januar 1823 fchrieb er dem Grafen Brühl, er werde ihm dieſe Oper in drei verjchiedenen Formen vorlegen. Ende Januar war er nah Berlin zurücdgefehrt. Die Art feines Verkehrs mit dem Intendanten läßt fchließen, daß er guten Willen hatte, nunmehr verträglih mit ihm zu leben. Xeider hielten dieſe guten Vorſätze nicht lange an. Eine der vielen zwifchen beiden herrjchenden Meinungsverjchiedenheiten bezog fih auf die Gaftjpiele fremder Künftler. Spontini mißbilligte fie, während Graf Brühl in ihnen ein geeignetes Mittel jah, neue Kräfte fennen zu lernen und ihren Eindrud auf das Berliner Bublicum zu beobachten. Als im Sommer 1823 Carl Devrient mit jeiner Braut Wilhelmine Schröder zu einem Gaſt— jpiel nad Berlin famen, ließ fih Spontini wieder zu einem impertinenten Briefe an Graf Brühl hinreißen. Diefer nahm am 7. Juli Beranlaffung, ihm bemerflich zu machen, daß er, an- jtatt Andere an ihre Pflicht zu erinnern, lieber feinen eigenen Contract etwas genauer jtudiren ſolle. Diejer verpflichte ihn, entweder alle drei Jahre zwei große, oder alle Jahre eine Fleine Dper zu componiren. Er fei nun bald vier Jahre im Dienite und babe noch nichts gemacht, als einige Scenen zur „Olympia“ und ein paar Stüde zur „Nurmahal“. An der That wurde es ſchon jet bemerkbar, daß Spontini eine contractliche Ver— pflihtung übernommen hatte, die er, bei feiner pedantifchen Art zu componiren, nicht erfüllen fonnte. Auf Brühl’3 Ermahnung hin faßte er (2. Auguft 1823) zuerft den Plan, den „Milton“ umzuarbeiten zu einer großen Dper in zwei Acten mit Recita- tiven, Chören und Ballets. Bald darauf verwarf er den Plan wieder, und am 17. October ift er, wie er jchreibt, Tag und Nacht beihäftigt mit der Compoſition der Oper „Alcidor”. Die 21*

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Dichtung verfaßte Theauleon in Paris, welcher, wie erzählt worden ift, auch die Umarbeitung des Schluffes des „Cortez“ bejorgte. Im November 1823 war Theauleon in Berlin an- wejend, um ſich mit Spontini über die Oper ausführlich zu be- jprehen. Da diefer die Arbeit auf eigene Fauft begonnen und die erite Scene ſchon componirt hatte, jo war es für den Dichter fein Leichtes, jeine Worte der Mufif anzupajjen. „Hatte ich einen Vers von zehn Silben gedichtet,“ erzählt er, „Io brauchte er grade einen von fünf. Kaum war nun diefer arme Vers ausgefrochen, als ich ihn bis zu zwölf ja fünfzehn Silben verlängern mußte, und wenn ich dem Tonjeger bemerflich machte, daß jo viele Silben in unferer Dichtkunſt gar nicht üblich wären, antwortete er mir, indem er mit dem Pianoforte accompagnirte, ja faſt im Opern:Recitativ: ‚Die Ueberfegung dedt Alles zu.‘ Noch nie hat ein jo mittelmäßiges Gedicht feinem Verfaſſer mehr Mühe gekoftet” '), Spontini componirte aljo zu franzöft- ihem Tert, Herklots machte hernach die deutjche Ueberjegung. Für die decorative Ausftattung der Oper waren Scinfel und Gropius thätig. Die erite Aufführung, deren Inſcenirung ſchon im September 1824 vorbereitet wurde, fand jtatt am 23. Mai 1825 zur Feier der Vermählung der Prinzeſſin Louife mit dem Prinzen der Niederlande. Der König war ſehr befriedigt und überfandte am 29. Juni dem Componiften die gelegentlich der Hochzeit geprägte goldene Medaille. In dem begleitenden Schreiben jagt der König: „Je partage l’approbation Eclatante, que le public vous a temoigne d’une maniere si inconte- stable.“ Das beruhte, jomweit e8 die Anhänger Spontini's an— ging, allerdings auf Wahrheit, und auch manch' Anderer ließ ſich von den unerhörten decorativen und mufifaliichen Effecten blenden. Aber auf Seiten der nationalen Partei erfchofl dafür der Wider: ſpruch lauter als je vorher; fie behandelte das Werf in ge drudten und ungedrudten Kritifen geradezu mwegwerfend und

!) Ledebur, Tonkünitler-Yerilon Berlins. S. 564 f.

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verbreitete mit Behagen den berlinifhen Wis: „Allzudoll, eine Zauderoper“. Unparteiiſcher urtbeilte nur Zelter, was ihm allerding3 durch jeine Abneigung gegen Weber's Muſik erleichtert wurde. Aber auch er kann den Spott nicht ganz zurüdhalten, wenn er an Goethe jchreibt: „Das Stück ift von Theauleon franzöfifch gedichtet und nad dem Franzöfiihen in Muſik geſetzt; jo befigen wir endlich ein berlinifches Original das ift: ein neues Kleid gewendet,” und: „Spontini fommt mir vor wie ein Goldfönig, der mit jeinem Golde den Leuten Löcher in den Kopf ſchmeißt.“ Außerhalb Berlins ift „Alcidor” ebenjo wenig wie „Nurmahal” aufgeführt worden. Daß aber auch in Berlin jelbit das Intereſſe jehr bald erfaltete, beweist der Imftand, daß von diefer Oper nicht einmal ein Clavierauszug erichienen it. Der Tert beruht auf dem Märchen von den neun Bild- fäulen aus „Taufend und eine Nacht”. Alcidor, ein junger Held, ſchwankt zwiſchen Kriegsruhm und Liebe. Zu erjterem will ihn Ismenor verloden, der Beherricher des Gnomenreichs, doch mit der eigennügigen Abficht, ihn auf diefer Bahn zu verderben. Für die Liebe jucht ihn Almovar, der König der Genien, zu gewinnen, doch nicht bevor er feine Treue durch mannigfahe Prüfungen bewährt gefunden hat. Ein innerer Confliet, ähnlich dem in Gluck's „Armida”, nur daß die Ent- ſcheidung nad der entgegengejegten Seite fällt. Die dramatiſche Geftaltung des Stoffes ift unficher und erwedt für die handelnden Perſonen wenig Intereſſe. Daß bei der Wahl des Stoffes die Rüdfiht auf die oben genannte Hoffeitlichfeit mitbeſtimmend gewejen ift, fieht man leicht. Außerdem aber hat Spontini offenbar der damals in Deutschland herrichenden Vorliebe für Opern märchen- und jagenhaften Inhalts, in denen das Geifter- wejen eine Hauptrolle jpielt, ein Zugeitändniß machen mollen. Die Erfolge des Weber'ſchen „Freifhüg” Tießen ihn nicht Schlafen. Mit größerer Anftrengung und in weiterem Umfange noch als in „Nurmahal” ſucht er im „Aleidor“ ein Gebiet zu erobern, das feiner Jndividualität unzugänglid war. Was den deutichen

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romantijchen Dpern aus diejer Zeit zu ihrem Erfolge verhalf, war der Umjtand, daß die Componiften nicht, wie in den älteren Wiener Zauberopern, in dem Uebernatürlichen der Märchen: und Sagenitoffe ein inhaltsleeres, nur unterhaltendes Spiel der Phantafie jahen, jondern dieſe als Aeußerungen innerlih wirkender Lebensfräfte auffaßten. Dies konnte nur den Germanen gelingen mit ihrem tiefen Gefühl für Die geheimnißvollen Kräfte der Natur, als deren Verförperung ihnen die Geifterwelt erjcheint. Der Romane fonnte immer nur in ein äußerliches Verhältniß zu ſolchen Stoffen treten. So iſt e8 auch bei Spontini’3 „Aleidor”. Daß er troßdem vermocht hat, vielfach einen angemefjenen und zumeilen gar einen jchönen und ergreifenden Ausdrud für das Leben ber Geifterwelt zu finden, kann nur von Neuem für fein dramatiſches Talent zeugen. Vielleicht hätte die Oper auch ein etwas glüclicheres Schidjal gehabt, wäre nicht wenige Jahre hernach Meber’3 „Oberon“ erjchienen, mit welchem der deutſche Meijter alle Nebenbuhler auf dem Gebiete der orientalifhen Zauber: oper für immer niederwarf. Die äußerlihe Art, mit welcher Spontini feinen Stoff erfaßt hat, zeigt fi jchon in der von ihm geforderten Aufwendung der denkbar prädtigiten decorativen Mittel. Wenn aber einmal auf der Bühne dieje unerhörte, das Auge beraufchende Pracht, diefe goldenen Paläſte und Gärten, diefer Zuftpalaft mit goldglühenden Bildern, mit Säulen von verdichteter Luft und lebendigem Feuer, dieſe blendenden Aufzüge und Tänze gezeigt werden follten, jo mußte auch die Muſik den entfprechenden materiellen Glanz entwideln, und die Oppofitions: partei hatte infofern Unreht, über die muſikaliſchen Maſſen— wirfungen Zeter zu jchreien. Die Verwendung von gejtimmten Amboſſen im „Alcidor” hat lange Zeit als bezeichnendes Beifpiel dafür gegolten, bis zu welchem Grade betäubenden Lärms es Spontini in feinen fpäteren Opern getrieben habe. Wohl die Wenigiten, welche hierüber jchrieben und jpradhen, haben bie Dper mit eigenen Ohren gehört oder deren Partitur gejehen.

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In diejer, die ſich jegt auf der königlichen Bibliothek zu Berlin befindet, find nur drei, nicht zehn, verjchieden geitimmte Amboffe aufgezeichnet. Ihre Wirkung muß mehr eine glodenähnliche und kann in feinem Falle jehr lärmend gemwejen fein. Der Eingangschor des eriten Actes, in welchem fie vorfommen, ge: hört zu den jchönften Stüden der Oper. Er wird von ben Gnomen Ismenors gejungen, die man beichäftigt fieht, den Tempel der Liebe zu zerftören und Waffenftüde zu jchmieben, um mit ihnen die „Welt in Feſſeln zu jchlagen“. Zu der ungeitümen Energie ihrer Weifen bildet dann der Chor der Hagenden Sylphen einen jehr wirfjamen Gegenjag. Den Chor der Traum: Genien im vierten Auftritt desjelben Actes hatte Spontini der zweiactigen Feſtoper: „Pelage, ou le Roi et la Paix“ entlehnt, die von ihm zur ‘Feier der Thronbeiteigung Ludwig's XVII. componirt und am 13. Auguſt 1814 zur erften Aufführung gebradht worden war.

Für den Sommer 1826 war er verpflichtet, eine neue große Oper zu jchreiben, und eine Woche nach der erjten Aufführung des „Alcidor” fragte er beim Grafen Brühl an, ob eine Um— arbeitung und Vergrößerung jeines „Milton“ als eine ſolche gelten fünne. Brühl meinte, für eine „große“ Oper ſei der Stoff wohl zu dürftig, doch erflärte fi) der König unter dem 29, Juni mit dem Plane einverftanden. Spontini erhielt ſchon am 31. Mai einen Urlaub auf elf Monate. Er reifte Anfang Zuli nad) Paris ab und wohnte am 28. Februar 1826 einer Wiederaufführung der „Olympia” bei. Unmittelbar darauf fehrte er nach Berlin zurüd, Aber vom „Milton“ verlautete nicht mehr, und das Jahr verftrih, ohne daß er die fällige neue Oper geliefert hätte. Theaterdichter war zur Zeit Ernft Raupach; mit ihm verabredete er eine Dichtung über einen Gegenjtand aus der Gejchichte des deutjchen Mittelalters. In Folge deſſen ſchrieb Raupach den Tert zu „Agnes von Hohen- ftaufen”. Der erjte Act, welcher lang genug war, um für eine ganze Oper angejehen werden zu Eönnen, war 1827 in ber

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Compofition fertig und wurbe den 28. Mai bdesjelben Jahres aufgeführt. Das ganze, aus drei Acten beitehende Werf lag 1829 vollendet vor und fam am 12. Juni zur Darftellung als Feſtoper zur Vermählung des Prinzen Wilhelm, des nachherigen Deutſchen Kaiſers. Spontini war mit der eigenen Arbeit auch dieſes Mal nicht zufrieden. Er ließ das Buch durch den da- maligen Opern-Regifjeur, Baron Lichtenjtein, und andere Freunde umgejtalten und nahm mit der Mufik jo eingreifende Nenderungen vor, wie faum in einer andern feiner großen Opern. In end- gültiger Geitalt erjchien „Agnes von Hohenftaufen” erft am 6. December 1837 wieder auf der Bühne.

Das Intereffe für die Geſchichte des Mittelalterd war damals in Deutjchland jehr lebendig. Ohne Zweifel ift Spontini dur dieſen Umſtand bei der Wahl des Gegenjtandes ftarf beeinflußt worden. Er ging mit all’ dem Ernft and Werf, der eine jo hervorragende Eigenthümlichkeit feines Fünjtlerifchen Weſens bildete; er las, forjchte und that Alles, was in jeinen Kräften ftand, um in den Geift von Zeitverhältniffen einzubringen, die von den ihm befannten jo ganz verfchieden waren'). Das Gedicht, wie es endlich geworden war, darf man als ein im Ganzen brauchbares bezeihnen. Die Handlung geht zu Mainz im Sabre 1194 unter der Regierung Kaiſer Heinrih's VI. von Hohenſtaufen vor ih; im Mittelpunkt derjelben jtehen die Barteifämpfe der Welfen und Waiblinger. Hier war Spontini wieder in feinem eigenjten Elemente, im großen bijtorifchen Drama nah Art des „Cortez" und der „Olympia“. Die Compofition trägt denn auch einen von „Nurmahal“ und „Alcidor“ grundverfchiedenen Charakter und verdient mit feinen Parijer Opern in eine Linie gejtellt zu werden. In der Größe der GEonception fommt „Agnes von Hohenftaufen“ der „Olympia“ ziemlich gleih, ja in einzelnen Partien übertrifft fie dieſe nod). Die zweite Hälfte des zweiten Actes ift eine Yeiftung, deren Ueber:

1) „Spontini in Deutichland*. Leipzig, 1830. S. 102.

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größe fein Seitenftüd in der Opern-Literatur hat. Der Ausdrud der Leidenichaften, welche diefe Scenen durchtoſen, dürfte ebenfowenig zu überbieten jein, wie die gigantische Aufthürmung der Maſſen. Bewundernswerth iſt die Neuheit des Localcolorit3, das ſich von dem des „Gortez“, der „Olympia“ oder aud) des „Alcidor“ ſehr ſcharf unterfcheidet. Spontini hat ſich der Art deutjcher Muſik in diefer Oper jo weit genäbert, wie es jeine Eigen- thümlichfeit nur geitattete: die Harmonifirung ift reicher und gefättigter, den Melodien fehlt nicht ein gemwiller nationaler Zug, einzelne Tongänge erinnern an Spohr und jelbjt an Weber, aber ohne jede unfelbjtändige Nahahmung. Etwas Stilgemäßeres als den deutichen Walzer im Finale des erjten Actes kann man fich nicht wünjhen. Die franzöfifchen Ritter und Troubadours find im Gegenjag zu den Deutjchen nicht weniger gelungen harakterifirt. Durchweg ift die Mufif das Ergebniß eines tiefen Eindringens in die dramatische Situation und die Charaktere. Man betradhte 3. B. den Gejang der Nonnen im zweiten Net und vergleiche damit die jentimentalen liedartigen Ergüfje, in denen ſich jelbit die tüchtigen deutſchen Tonjeger jener Zeit bei ähnlichen Veranlaſſungen gefallen: man wird erfennen, wie hoch Spontini fie als dramatifcher Componiſt immer nod überragt. Auch kann ich Feine Anzeichen entdeden, die auf Erſchöpfung der Erfindungsfraft bindeuteten. Der Strom der Melodie fließt jo frei wie je zuvor, und es finden fich einige Gejänge von einer Breite, einem Schwung, einem Feuer, wie fie ihm in jeinen früheren Opern nur jelten geglüdt find. Im zweiten Act zeigt das Terzett „Ja, ſtatt meines Kerkers Grauen” und das Solo der Agnes „Nein, König droben“ ſolche hinreißende Züge. Die Kritifer jener Tage behandelten die Oper mit einer unglaublichen Ungerechtigkeit: nur leidenſchaftliche Verblendung oder abjichtliches Verkennen konnte ſolche Beurtheilungen zu Tage fördern, wie Rellſtab's Bericht über die Aufführung des erjten Actes. im Jahre 1827. „Agnes von Hohenftaufen“ ift mur in Berlin und aud bier jelten gegeben; im Drud erfchienen it

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das Werk ebenfo wenig wie „Alcidor”. Aber die handfchriftliche Partitur eriftirt, und ihre Prüfung würde zeigen, daß ich des Lobes nicht zu viel gejagt habe. Es jollte niemals zu jpät fein, ih ein unparteiifches Urtheil zu bilden; einem jolchen würde die Ueberzeugung folgen, daß wir die Verpflichtung haben, eine Miederaufführung zu verfuchen; denn „Agnes von Hohenflaufen“ it die einzige Oper, die an Größe der Anlage und Macht der Gejtaltung jener großen Zeit deutſcher Geſchichte würdig ift, aus ber fie ihren Stoff entnimmt. Wenn man dies erft ein- mal vollfitändig anerkannt haben wird, dann wird es immer noch früh genug fein, auch auf die Mängel des Werkes hin- zumweijen. IV.

Es war die legte Oper, welche Spontini vollendete. Mannig— fache neue Pläne und Entwürfe hörten nicht auf, ihn zu be» ihäftigen, wie dies jchon während der zweiten Hälfte jeiner Pariſer Zeit der Fall geweſen war, wo er fich mit den Opern Zouis IX., La colere d’Achille, Artaserse trug. Auf „Olympia“ gedachte er anfänglich eine „Sappho“, dann wieder „Die Horatier” folgen zu laffen. Später, in Berlin, richtete er jeine Auf- merffamfeit auf zwei Trauerfpiele Zacharias Werner’s: „Das Kreuz an der Oſtſee“ und „Attila”. Aber bei feinem Ddiefer Pläne jeheint er über die erſten vorbereitenden Schritte hinaus: gefommen zu jein. Etwas weiter gelangte er mit einem Gedicht feines alten Freundes Jouy, „Les Atheniennes“, das ihm diejer zuerit im Jahre 1819 anbot und das Spontini in über: arbeiteter Gejtalt 1822 annahm. Goethe, den das Gedicht genug intereflirte, um es nod in feinem letten Lebensjahre einer Beiprehung zu unterziehen, jeßt in Ddiefer voraus, daß die Mufit vollendet war; aber nah Spontini's Tode haben fid) nur unbedeutende Bruchſtücke vorgefunden '). Länger bejchäftigte

!) Goethe’ Werte in K. Goedeke's Ausgabe. Stuttgart, Cotta. Bd. XI, ©. 632. Spontini in Deutihland, S. 22, Nobert, „Spontini”. Berlin, 1883. ©. 34.

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ihn eine Oper aus der englifchen Geſchichte. Ich habe mehr: jah erwähnt, daß er den „Milton“ umarbeiten wollte Als er hierzu eingehendere Studien machte, wurde jein Intereſſe für die englifhe Geſchichte des 17. Jahrhunderts lebhaft erregt. 1830 jchrieb Raupadh einen Tert für eine große Oper diejes Namens; das Curatorium, welches die Finanzangelegenheiten der Königlichen Theater leitete, erwarb ihn für dreißig Friedrich&d’or und ftellte ihn Spontini zur Verfügung‘). Aus der Muſik der älteren Kleinen Oper jollte nur die fchöne Hymne an die Sonne beibehalten werden, im Uebrigen eine ganz neue Compofition entftehen. Nachdem „Agnes von Hohenitaufen“ umgearbeitet und endgültig abgefchloffen war, jchrieb Spontini am 9. Mai 1837 dem Intendanten, er denke, feine neue Oper „Milton's Tod und Buße für Königsmord“ im Winter 1838 zur Aufführung bringen zu können, und bat ihn, bis dahin fein anderes mufifalifches oder recitirendes Drama aufführen zu laffen „sur la revolution d’Angleterre du XVII. siecle, sur le r&gicide de Charles I, sur le protectorat de Cromwell et le retablissement de Charles II, sur Milton et sur des c&r&monies expiatoires, couronnement de Monarques etc...“ Den Sommer 1838 verbrachte er in der That in England, um „biftorifche, nationale und locale Studien“ für jeine „hiſtoriſch-romantiſche“ Oper zu machen. Zu dem Zmwede hatte er fich zweitaujend Thaler Reije- geld erbeten, die der König aber nicht bemilligte; vielmehr ließ er ihm jagen, daß, wenn der Inhalt der Oper fo bleiben jolle, wie er durch Spontini’3 Mittheilungen befannt geworden jei, er fi) diefe Oper ausdrüdlich verbitten müffe. Ein Dr. Sobern- heim, der fich zu Spontini’3 Hausfreunden zählte, hatte Rau: pach's Dichtung überarbeitet und um zwei Acte erweitert; es war dadurd) eine politifche und religiöje Tendenz hineingefommen,

1) In „Spontini in Deutſchland“ wird gejagt, dab diefer Tert von Jouy fei. Jouy hatte das Buch der einactigen Oper „Milton“ gebichtet. Ob er etwa auch für das größere Werk den Plan entworfen und Raupach ihn nur ausgeführt hat, habe ich nicht feitftellen können.

die dem Könige nicht gefallen konnte. Die beiden Acte wurden wieder entfernt, und das Stüd follte nun „Das verlorene Paradies” heißen. Am 5. Mai 1840 Fonnte der Baron Lichten- ftein dem Grafen Redern melden, daß ein Theil des eriten Acts und zwei Drittheile des zweiten Actes in der Partitur vollendet feien. Bis März 1841 glaubte Spontini die ganze Oper vollendet haben zu Fönnen. Aber feine Note des Werks ift jemals an die Deffentlichfeit gefommen. Es mag binzu- gefügt werden, daß Spontini dem Könige am 4. Juni 1838 auch über den Plan zu einer Zauberoper mit Tanz berichtet hatte, zu welcher er ſich den Tert in Paris verjchaffen wollte, und im December 1840 bereit war, eine neue komiſche Oper zu beginnen. Sein Wunſch, auf dramatiihem Gebiete mit frifchen Leitungen hervorzutreten, war offenbar, auch beflagte er fih oft, daß die Theaterverwaltung ihm nicht Opernbücher in genügender Anzahl zur Auswahl vorlegte. Aber feine mit den Jahren immer ftärfer werdende Pedanterie beim Componiren und der Zuftand unabläffiger Gereiztheit, in welchen ihn bie feindjeligen Kritiker verjegten, machten ihn ſchaffensunfähig. Was Spontini an anderen Compojitionen während jeiner Berliner Zeit geichaffen hat, ift unerheblid. Ein Feitgefang zur Feier der Krönung des Kaifers Nicolaus von Rußland mit Worten von Raupach wurde am 18. December 1826 und 9. Mai 1827 aufgeführt; zu jeder der fünf Strophen jollte nad) der Abficht des Dichters ein lebendes Bild geftellt werden, was aber bei der Aufführung unterblieb. Eine Cantate „Gott fegne den König”, gedichtet von Herflots, hatte großen Erfolg auf dem Mufikfeit zu Halle im September 1825, welches Spontini zu jo allgemeiner Befriedigung leitete, daß man eine goldene Medaille auf ihn prägen ließ und die Univerfität ihn zum Ehren- doctor madte. Ein „Domine, salvum fac regem“ für zwölf Stimmen mit inftrumentaler Begleitung wurde am 15. October 1840 zur Huldigung Friedrich Wilhelm’s IV. aufgeführt. Außerdem veröffentlichte er eine Anzahl franzöfiicher, deutjcher

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und italienifcher Gejangitüde mit Pianofortebegleitung, von denen ein Kriegsgefang für drei Männerftimmen, „Die Cimbern“ betitelt, das hervorragendite iſt. Unter den italienifchen Geſängen findet fi die Ganzonette „Ninfe se liete“; es iſt intereffant, fie mit der reizenden Compofition feines Rivalen Weber zu vergleichen; unter den deutjchen fällt Goethe's „Kennſt du das Land, wo die Gitronen blühn“ bejonders auf.

Im Verhältniß zu feiner bevorzugten Stellung hat Spontini die mufifalifchen Dinge in Berlin nur wenig gefördert. Das königliche Orcheiter lehrte er mit Feuer und Ausdrud fpielen; die Sänger hielt er an, fi in ihre Rollen dramatifch zu ver: tiefen, und er ſcheute feine Mühe, die vielen und verfchieden: artigen Elemente, die bei der Dper in Betradht kommen, zu einem großen Ganzen zufammenzufchweißen und in einer bis- her nicht befannten Weife in den Dienſt einer einzigen Idee zu zwingen. Sein Standpunkt war ein hoher und feine Ziele von edler fünftlerifher Art. Er bemühte fih aud, die am Theater beitehende Geſangſchule zu verbejjern, und richtete eine Orcheſterſchule ein. Aber in der Regel zielten jeine Anftrengungen nur auf die Opern, die er ſelbſt dirigirte, d. h. auf feine eigenen, auf Glud’s „Armida” und Mozart's „Don Juan“, welche lettere er als „l’immortel chef d'œuvre“ bezeichnete. Die Aufführungen dieſer Werke bradte er durch fein Genie, jeinen Einfluß auf die Künftler und feine faſt unbejchränfte Macht über fie zu einer Vollendung, die damals ohne Gleichen war. Die Werke dagegen, welde der Leitung der anderen Dirigenten überlaffen blieben, gingen jchlecht, theils weil Spontini die Sänger erjchöpfte, theilg weil er fich für das Repertoire im Ganzen wenig intereflirte. Es fehlte ihm auch an Talent für Organifirung und Gejhäftsführung. So lange das aus- gezeichnete Material vorhielt, welches Brühl ihm 1820 übergab, trat diefer Mangel nicht zu Tage. Aber als die Sänger an: fingen, fi abzunugen und für Erjag gejorgt werden mußte, zeigte es fich, daß Spontini nicht nur des Urtheils und Scharf:

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blids, jondern auch der Unparteilichfeit ermangelte, die für eine folhe Aufgabe nötbig find. Bis zum Herbſt 1827 hatte er perjönlih nur ein einzige8 Engagement zu Wege gebradt, und dies betraf einen Soliften, der fih hernach nur als Chorjänger brauchbar erwies. Dagegen hatte er den tüchtigen Baſſiſten Sieber vertrieben, der fich feine Gage nicht um Hundert Thaler verfürzen laſſen wollte, ihn bald darauf aber für zweihundert Thaler als Gaft auftreten laffen müſſen, damit nur Spontini's Dpern gegeben werden fonnten. Die Gabe, den Gejchmad des Publicums herauszufühlen, e8 durch Entgegenfommen zu heben und zu bilden, die Gabe, für die Theatercafje zu ſorgen, ohne der Würde der Kunft etwas zu vergeben dies lag außerhalb des Bereichs feiner Fähigkeiten. Der Beſuch der Föniglichen Dper nahm in bejorgnißerregender Weiſe ab, namentlich jeit im Sahre 1823 das Königftädtifche Theater eröffnet worden war. Spontini ſcheint feine Unfähigkeit zu Zeiten ſelbſt gefühlt zu haben, unglüdlicherweife aber ließ er ſich durch feine Eitelkeit und Herrſchſucht und dur Einflüfterungen jogenannter Freunde zu dem Glauben verführen, daß Brühl den Niedergang der Oper verfhulde, wogegen diejer wieder geltend machen konnte, daß alle feine Vorſchläge dem eigenwilligen und unbegründeten Widerſpruche des Generalmufikdirector8 Degegneten. Durch die unabläffigen Reibereien endlich” mürbe gemacht, legte Brühl 1828 jein Amt nieder; ihm folgte der jugendliche Graf Redern. Diefer erlangte vom Könige eine neue Dienjtinftruction. Den: noch fand ſich auch jet fortwährend Veranlaffung zu Zwiſtig— feiten, und Spontini’3 zunehmende Neizbarkeit und Wanfel- mütbigfeit machten dem Grafen Redern viel zu jchaffen. Zu Zeiten erkannten felbit die Bewunderer feiner Mufif, daß Spon- tini’8 perſönlicher Einfluß ein jchädlicher fei, und daß die Oper, jo lange er an der Spitze bleibe, unmöglich gedeihen könne. Spontini hatte das Recht auf die Einnahmen der eriten Voritellungen jeiner eigenen Werfe. Dies wurde als jein jähr- liches Benefiz angejehen, doch fonnte ihm jtatt deſſen auch eine

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Entihädigung von 1050 Thalern gezahlt werden. In diejem Falle durfte er außerdem mit den Kräften der föniglichen Oper ein Concert geben, und in der That hat er deren eine beträchtliche Anzahl veranitaltet, vocalen und inftrumentalen Inhalts. „Die Concerte, welche ich gebe“ jo hatte er fih einmal felbit geäußert —, „ſind dem Andenken großer Meiiter geweiht, denen ih dur die möglichſt vollendete und glänzende Ausführung ihrer Werfe meine Ehrfurcht beweifen, und deren Gebädhtnik ih beim Publicum lebendig zu erhalten wünjche”'). Die Pro- gramme beitanden vorzugsweife aus Compofitionen deutſcher Meifter: Händel's, Haydn's, Mozart's, Beethoven’d. ES war in Spontini’8 Concert vom 12. Mai 1824, daß Beethoven's A-dur-Sinfonie zum eriten Male vor dem Bublicum Berlins erihien. Am 30. April 1828 führte er von Beethoven die C-moll-Sinfonie, Kyrie und Gloria aus der D-dur-Mefje und die Coriolan-Duverture auf; außerden das Credo der H-moll- Mejje von Bad. Dieje Mefje war gerade damals von Nägeli in Zürich zuerit herausgegeben worden, und Spontini ijt der Erite gewejen, der die Berliner mit einem Stüd derjelben durch eine öffentliche Aufführung befannt madte. Die Aufführung jelbit jcheint allerdings mangelhaft geweſen zu fein, wie bei der gänzlichen Berjchiedenheit Bach'ſcher und Spontini’jcher Art auch kaum anders erwartet werden fonnte, aber der gute Wille verdient doch Anerkennung ?). Ein anderes Verdienit erwarb er fih durch die Unterflügung der Inſtrumental-Concerte Möjer’s. Die königliche Capelle durfte ohne jeine Erlaubnif nicht mitwirken; wenn er gewollt hatte, wäre es ihm leicht ge- wejen, Schwierigkeiten zu bereiten. Freilich einen großen Werth legte er ſolchen Bejtrebungen nicht bei. Er hat es nie ver: itanden, daß damals Chorgefang und Inſtrumentalmuſik die beiden vornehmlichiten Grundlagen deuticher Tonkunjt waren.

1) Gubitz, Erlebniffe. Bd. IN, S. 242. 2) Marr, Berliner Allgemeine Mufilalifhe Zeitung. 1828, ©. 146 und 152.

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Ihm galt nur die Oper, und namentlich feine eigenen; hierfür jegte er feine ganze Kraft ein, in ehrenwerthem Streben, aber eben jo jehr zum Nachtheil als zum Nugen der Sadıe.

Es wurde jchon gejagt, daß Spontini’3 jpätere Opern außerhalb Berlins feinen Erfolg hatten. Ausgenommen ein paar verlorene Aufführungen der „Olympia“ in Dresden und Darmitadt, famen fie nirgends zu Gehör. Gelegentlich leitete er auswärts eines feiner Werke, jo die „Veſtalin“ am 7. und 11. October 1827 in Münden, am 18. September 1834 in Hamburg. Aber es jcheint nicht, daß er durch ſolche perjönliche Berührungen größere Sympathien für fi erregt hat. Im Allgemeinen muß man jagen, daß nur die „Veitalin“ und „Gortez“ in Deutichland die verdiente Würdigung erfahren haben.

In Berlin jelbit wuchs die Zahl feiner Gegner mit jedem Jahre. In die Reihe feiner Freunde war 1824 Marr getreten, welcher in der von ihm herausgegebenen Mufikzeitung Spontini’s Talent mit Liebe und Berftändniß würdigte; ihm gejellte ſich Dorn. Aber diefer verließ Berlin im März 1828, und Marr, objhon Spontini aufrihtig ergeben, glaubte doch die Zeitung auch Kritiken der Gegner nicht ganz verſchließen zu dürfen. Spontini war von franfhafter Empfindlichkeit gegenüber der öffentlichen Meinung und brachte dadurd feine Vertheidiger oft in ernftliche Werlegenheit. Entgegen dem Rathe verftändiger Freunde antwortete er perfönlich auf anonyme Angriffe, geitattete den Schmeichlern, ihre ungeſchickten Federn für ihn in Bewegung zu jegen, und rief jogar die Genfur zu Hülfe. Solde Schritte fonnten feiner Sache nur jchaben. An der Spige der Oppofition befand ſich Rellſtab, Berichterftatter der „Voſſiſchen Zeitung”, ein gewandter Schriftjteller und nicht ohne mufifalifche Kennt: nijfe. Ein eifriger Anhänger C. M. von Weber's, verfolgte er alles Fremdländiſche mit Erbitterung und ftand damals in der vollen Friſche kampfluftigen Jugendmuthes. Seiner jchon er: wähnten maßlojen Kritif über „Agnes von Hohenftaufen“ wurde

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allerdings durch Dorn erfolgreich widerſprochen. Allein Rellitab, weit entfernt zu jchweigen, veröffentlichte nun ein Buch von 149 Seiten in Klein-Octav: „Ueber mein Verhältniß als Kritiker zu Herrn Spontini al® Componijten und Generalmufikdirector in Berlin nebit einem vergnüglien Anhange” (Leipzig, 1827), worin er dem Meiſter jchonungslos zu Leibe geht und das lächerlide Treiben der Spontini’fchen Clique verjpottet. Dieje gab ihrerſeits eine Bertheidigungsfchrift heraus unter dem Titel: „Spontini in Deutjchland oder unparteiiiche Würdigung feiner Leiftungen während jeines Aufenthalts dajelbit in den legten zehn Jahren“ (Leipzig, 1830). Sie ift aber alles Andere eher als unparteiiich, außerdem ohne Sachkenntniß verfaßt und jchlecht ſtiliſirt.

Spontini's zehnjähriger Contract ging im Jahre 1830 zu Ende. Er wurde erneuert, aber die frühere Inſtruction, als „für befondere Umstände gegeben”, wurde aufgehoben und dur eine andere erjegt, welche die einheitliche Leitung der föniglichen Theater zu Gunjten de General: Intendanten wiederherſtellte. Am 8. Februar 1831 wurde fie vom Könige vollzogen, während Spontini auf Urlaub in Paris weilte. Bejchwerden darüber, an denen er es nicht fehlen ließ, blieben erfolglos. Er mußte jih endlich vom Könige daran erinnern lafjen, daß er in jeinem eriten Contract Berbindlichkeiten in Bezug auf neue Opern übernommen babe, die nicht in Erfüllung gegangen feien und deren Leiftung von ihm rechtlich hätte gefordert werden können; er babe aljo Feine Veranlaffung, sich ſeinerſeits über Nicht: erfüllung des Contractes zu bejchweren (9. Juli 1835). Dieje Dinge blieben fein Geheimniß und konnten Spontini’$ Feinden nur erwünjcht kommen. Auch dab jeine jchöpferiiche Kraft ganz erjtorben jchien, gab zu jchadenfrohen Gereden Anlaß. Eine Jndiseretion gewährte ihnen die gefuchte Handhabe, den Verhaßten neuerdings anzufalen. Wilhelm Dorom, der befannte Alterthumsforſcher, welcher jeit 1829 in Halle lebte, gab 1837

eine Sammlung autographer Schriftitüde hervorragender Männer Philipp Epitta, Zur Muſit. 22

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heraus. Unter ihnen befand ſich ein Brief, den Spontini am 12. Auguft 1836 von Marienbad aus an den befreundeten Dorow gerichtet hatte; in ihm ftellt er über den Niedergang der dramatiſchen Muſik Betradhtungen an. Dorow hatte in gutem Glauben gehandelt und gemeint, er erweife Spontini mit der Beröffentlihung einen Dienft. Aber die Gegner be: mädtigten fich des Schriftitüds und ließen es als jelbitändige Brojhüre: „Des dramatischen Leibcomponijten, Königlich preußi- ſchen General: Mufikvirectors Nitter G. Spontini Klagen über den Verfall der dramatiihen Muſik aus dem Franzöfifchen überjegt und mit erläuternden Anmerkungen begleitet von einer Gejellihaft von Kunftfreunden und Verehrern des großen Meiiters“ zu Zeipzig 1837 ausgehen. Spontini wird hier in Ausdrüden ironifhen Reſpects mit ausgefuchter Bosheit behandelt. In demjelben Jahre erſchien in der Nr. 101 und 102 des „Kometen“ ein Basquill von einem stud. jur. Namens Thomas, worin be- hauptet wurde, Spontini habe ſich der Aufführung von „Robert dem Teufel”, des „Boftillon von Yonjumeau” und der „Stummen von Wortici” widerjegt; die Aufführungen feien dann auf Allerhöchiten Befehl erfolgt; Spontini's Dienftitellung jet durch ein Reſcript des Minifteriums des Königlichen Haujes geändert und er der General-Intendantur untergeordnet; er jet zur Ver: antwortung gezogen wegen Verkaufs der ihm contractmäßig zu- jtehenden Freibillets; die Sängerinnen Faßmann und Löwe jeien contractmäßig von der Verpflichtung befreit, in Spontini’s Opern zu fingen u. dgl.

Thomas, wegen diefer Pasquille zur Unterfuhung gezogen, berief ih auf einen „jehr hohen Staatsbeamten“ als jeinen Gewährsmann. In der That war an allen jenen Anfhuldigungen etwas Wahres. Spontini hatte fi zwar der Aufführung ber genannten Opern nicht geradezu widerjegt, aber er hatte fie auch nicht veranlaßt, vielmehr offen ausgeſprochen, daß ihm diejelben widerwärtig feien. Es war zwar in allerlegter Zeit Feine neue Dienftinstruction für ihn erlaffen, wohl aber im Jahre 1831,

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durch welche die Stellung des Intendanten wejentlich gefräftigt murde, und formell war der Generalmufifdirector dem AIntendan- ten immer bis zu einem gewiſſen Grade untergeordnet geweſen. Spontini hatte ſelbſt zwar niemals Handel mit jeinen Freibillets getrieben, wohl aber war dies hinter jeinem Rüden von feinem Diener geihehen, und in Folge deffen war eine harte und verlegende Maßregel die Zahl der ihm zu gewährenden Frei— billets jehr eingefhränft worden u. j. w. Da man aber zu vermeiden wünſchen mußte, daß der König von diejem Zeitungs- jcandal erführe, jo ließ fi” Graf Redern zu einigen begütigen- den Erklärungen herbei, die das Unrichtige jener Anſchuldigungen dementirten, und das Wahre derjelben mit Schweigen über: gingen. Thomas wurde veranlaßt, Epontini wegen unbegrün— deter Beichuldigungen öffentlih um Verzeihung zu bitten, und jo jchien die Angelegenheit erledigt zu fein. Aber einen Augen hatte Spontini hiervon nicht; wo die Gehäſſigkeit ſchon zu jolher Höhe gediehen war, Stand auch noch Schlimmeres zu erwarten.

V.

Am 7. Juni 1840 ſtarb König Friedrich Wilhelm II. Mit ihm verlor Spontini den legten ſicheren Rückhalt. Wenn auch der König nicht umbin gekonnt hatte, ihm wegen der un: abläfligen Zänfereien mit dem Intendanten einige Male fein Mißfallen auszudrüden, fo war er doch feiner Muſik und feiner Perfon unerſchütterlich wohlgeneigt geblieben. Friedrih Wil- helm IV. ließ Spontini’s Stellung ganz unangerührt; aber jeine fünftlerifchen Neigungen gingen nad) einer anderen. Richtung, und bei der Ausführung der großen, idealen Kunjtpläne, mit denen er fich trug, war ihm feine Rolle zugedacht. Dies blieb im Publicum nicht verborgen. Hätte Spontini es jegt über ſich vermocht, fich ruhig zu verhalten, jo wäre eine Aenderung des bisherigen Zuftandes wohl fo bald nicht eingetreten. Aber er fuhr fort, den Querulanten zu jpielen und reichte dem Könige

29) %

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eine Bejchwerdejchrift über die Theaterverwaltung und über den Grafen Redern ein. Der König ließ fih über die Be- fchwerdepunfte vom Intendanten Bericht eritatten und zeigte fich von den gegebenen Aufflärungen durchaus befriedigt, war aber doch, um Spontini jeden Verdacht einer parteiifchen Behandlung jeiner Angelegenheiten zu benehmen, gnädig genug, noch eine befondere Commijfion zur Prüfung der Bejchwerden Spontini's einzujegen. Mittlerweile aber hatte jich bereits die Preſſe der Sade bemädtigt. In der „Zeitung für die elegante Welt“ Nr. 253 und 254 vom 28.—29, ecember ) 1840 erſchien ein Artikel, der triumphirend verfündigte, jeßt jei es endlich ent- ſchieden, wer an der königlichen Oper zu Berlin zu befehlen und wer zu gehorchen habe. Spontini habe dem Könige eine Denf- ichrift über die Mängel der Theaterverwaltung eingereicht, Vor- ichläge zur Verbeſſerung der Oper gemadt und bei diefer Ge: legenheit die Perfon des Intendanten wenig gejchont. Die Denfichrift jei aber direct aus dem Gabinet an den Grafen Nedern gelangt, mit einem Schreiben, daß Se. Majeftät nur von dem Grafen, als von dem erjten und alleinigen Vor—

jtande der Anjtalt Vorſchläge annehmen könne, übrigens auch

feine andere Autorität dort gelte, als die jeine. „Ein jolcher Ausgang,” hieß e3 weiter, „it niederjchlagend für Herrn Spon- tini, und wir müffen nun erwarten, ob derjelbe feine oft ange— drohte Entlafjung fordern, oder den Umſtänden fich fügen werde.“ Mieder einmal er mag es jpäter bitter bereut haben ließ ſich [Spontini duch schlechte Rathgeber zu einer Entgegnung verleiten. Er erklärte unter dem 20. Januar 1841 in Nr. 29 der „Leipziger Allgemeinen Zeitung”, dab eine Ordnung der Dienftverhältniffe zwifchen ihm und dem Intendanten, wie jie in obigem Artifel angegeben, unmöglich jei, „denn es würde dadurch die Unterfchrift und das geheiligte Wort zweier preußiicher Könige compromittirt werden.” Sollte e8 aber doch geſchehen, jo werde er, bevor er jeine Entlaffung gebe, das Urtheil der competenten Gerichtshöfe anrufen. In Folge diejer Erklärung,

2 Mi

welche von Spontini in franzöſiſcher Sprache aufgejegt, von einem feiner Freunde nicht ganz finngemäß übertragen morden war, beantragte Graf Redern am 30. Januar, Spontini wegen Majeftätsbeleidigung zur Verantwortung zu ziehen. Dem An- trage wurde Folge geleifte. In einer Gabinetsorbre vom 5. Februar gab ihm auch der König fein höchſtes Mißfallen über fein Verfahren zu erfennen, und ſchloß das Schreiben mit den Worten: „Sch kann nur annehmen, daß eine leiden- Ichaftlihe Aufwallung Sie dazu veranlaßt hat, eine Tactlofig- feit zu bemweijen, deren Rüge ich gern überhoben geblieben wäre und vor deren Folgen ih Sie nicht ſchützen kann.“

Im PBublicum aber hatte jene Erklärung, in welcher ein Ausländer, der Jahrzehnte lang eine_beifpiellofe Begünftigung

am Hofe erfahren hatte, das preußifche Königshaus zu ber °

ihimpfen ſchien, den Haß zur Wuth gefteigert. Für den 5. Februar war „Iphigenie“ von Glud angejegt, und Spontini wollte dieſe Oper dirigiren. Der Bolizeipräfident von Putt— famer, in der gegründeten Vorausjicht, daß es Störungen geben würde, bat den Intendanten, zu verhindern, daß Spontini am Dirigentenpulte ericheine. Es geſchah jo, und während der beiden folgenden Monate hielt fich dieſer von jedem öffentlichen Auftreten fern. Dann fcheint er gemeint zu haben, die Auf: regung gegen ihn habe fich gelegt; vielleicht wollte er auch dem Gerücht begegnen, als fei er während des gegen ihn jchwebenden Procefjes vom Amte juspendirt. Er beichloß, am 2. April den „Don AJuan“ zu dirigiren. Warnungen, die noh am Nach— mittage des Tages, ſelbſt noch unmittelbar bevor er ind Or— heiter trat, an ihn ergingen, blieben fruchtlos. Sowie er fi im Orcheſter zeigte, erfcholl ein donnerndes Boden, gellendes Pfeifen und ein müthendes Gefchrei: „Hinaus! hinaus!” Er wich der Demonftration nicht, fondern ließ die Duverture be- ginnen, deren Klänge in dem furdhtbaren Getöje des Publicums unbörbar wurden. Nach der Duverture wollte er auch die Oper beginnen lajjen. Sept ftieg die Erbitterung aufs Höchſte; einige

ey,

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Individuen wollten ſich über die Ordeiterbrüjtung jchwingen, um dem Verhaßten thätlih zu Xeibe zu gehen. Die Polizei ſtand im Begriff zu thun, was unerläßlich war, und ihn aus dem Orcheſter führen zu laffen. Da aber fühlte Spontini feine Widerſtandskraft jchon ſelbſt gebrochen: leichenblaß verließ er feinen Bla und verſchwand durd eine Feine Thür, die aus dem Ordefter in den Majchinenraum führte. Bon da gelangte er auf die Bühne und aus dem Theater. Er hat e$ al$ Dirigent niemals wieder betreten.

Der König war über das Gericht, welches das Volk joldyer: geitalt über Spontini gehalten hatte, höchſt aufgebracht. In— deſſen es war gejchehen. Der Fortgang jeines Proceſſes hielt Spontini noch den Sommer über in Berlin. Am 31. Auguft ging er auf Urlaub nad) Paris und kehrte am 10. December zurüd. Schon am 25. Auguſt aber hatte Friedrih Wilhelm jein Verhältniß zur Oper gelöft. In öniglicher Weije war er mit dem Künftler verfahren. Spontini behielt jeine Titel und jein vollftändiges Einfommen, ohne in der Wahl jeines Aufent: haltsortes gebunden zu jein; er jolle ſich, verfügte der König, in aller Ruhe der Hervorbringung etwaiger neuer Werfe widmen fönnen, es werde dem König jehr willfommen jein, wenn er diefe auf der Berliner Bühne aufführen wolle, auch jolle er jelbjtveritändlih berechtigt jein, sie perſönlich zu Ddirigiren. Irgendwelche Gegenverpflihtungen für dieje wahrhaft groß: artigen Gewährungen hatte Spontini durchaus feine zu über: nehmen. Die Gerichte verurtheilten ihn wegen Majeſtäts— beleidigung zu neunmonatlicher Feitungshaft, und die höhere Inſtanz, an welde er appellirt hatte, beitätigte das Urtheil. Aber der König erließ ihm die Strafe. Während alles diejes fich vollzog, hatte Spontini die Kühnheit, noch einen Schaden- erijag von nicht weniger als 46,850 Thalern zu fordern. Er begründete die Forderung damit, dab die Intendanz ihm feine Operntexte geliefert habe. Dadurch jei ihm die contractlic für die erite Aufführung jeder neuen Oper feitgejegte Gratification

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von je 1050 Thalern und auch der Vortheil entgangen, den er durch den Verkauf der Partitur an andere Theater und an Kunſthandlungen gehabt haben würde, welche er für jede neue Oper auf dreitauſend Thaler berechnete. Dieſe unglaubliche, gänzlich unbegründete Forderung wies der König gleichwohl nicht ab, ſondern verwies Spontini mit ihr an die Gerichte. Die beſſere Natur ſcheint aber bei dieſem ſpäter doch zum Durch— bruch gekommen zu ſein; am 23. December 1841 zog er ſeine Geldforderung zurück. Als er im Sommer 1842 endlich Berlin definitiv verlaſſen wollte, gewährte ihm der König auch noch einen Vorſchuß von ſechſstauſend Thalern. Seine Freunde gaben ihm am 13. Juli 1842 ein Abjchiedsconcert. Er hatte ein Lied gedichtet und componirt, das da vorgetragen wurde, und aud) im Drud erjchienen ift. Dem Leſer wird es intereffant jet, die Dichtung hier zu finden’). „Adieu à mes amis de Berlin (20, Juillet 1842). Elegie. (Annonce.) Asyle cher?), ma Lyre ou Musette A trop longtems*) soupire sous mes doigts;

7 emoin discret de ma peine secrötte, Ecoute-moi pour la derniere fois!

(Explication.) Je vais partir! helas, l’heure est sonnee, A mes Amis je dis adieu! ... Plus ne reviendra la journee, Qui me ramene, dans ce lieu! .. De vous revoir, Amis, plus d’esperance, (uand je m’exile sans retour! Eternelle sera P’absence! Eternel sera mon amour!

(Reflexion.) Pleurez, Amis, o vous, qu’un sort funeste

Arrache du toit paternel! Souvent un doux espoir nous reste! Mais l’adieu peut ötre öternel!

1) Ich theile es nach der gedrudten Ausgabe mit. Die Form, in der im Concert vorgetragen wurde, Scheint in Einzelheiten etwas abweichend gemweien zu fein; ſ. Robert a. a. O., ©. 52 f.

2) „Mon cabinet,“ Anmerkung des Dichters.

2) „Vingt trois ans.“

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(Application.) Adieu, me dit un tendre pere En me pressant contre son sein! De mes pleurs inondais sa main! . Et cette fois fut la derniere, Qu’il dit adieu ce tendre pere, Qu’en larmes, il me dit adieu!*

Die Rührung, melde aus diefem Gedichte jpriht, war feine erfünftelte.e Der Abſchied von Berlin ergriff Spontini tief. Am Schluſſe des Concertes war er jo bewegt, dab er vor Thränen fein Wort hervorbringen Fonnte.

Viele Freunde waren es nicht, die er in Berlin zurüdliep. An feine Stelle als Generalmufifdirector der Oper trat Meyer: beer. Auch Mendelsjohn erhielt. diefen Titel. Beiden war Spontini nicht jonderlid gewogen gewejen, und weit von den jeinigen ab führten ihre Kunſtwege. Am treueiten bewahrte noch fein Andenken das fönigliche Orcheiter, und bis heute ift diefem die Erinnerung an Spontini nicht erlojchen, obwohl die meiften der Mitglieder längit geitorben find, die noch unter ihm geipielt haben. Das Orcheſter war jtolz auf feinen majejtätischen Feldherrn, der fie jo oft zum Siege geführt hatte. Auch hatte er ſich für ihre Eriftenz jtet3 warm bejorgt gezeigt, die ärmeren unter ihnen oft genug aus jeiner eigenen Taſche unterjtügt. Seit 1826 hatte er auch auf den Ertrag der ihm contractmäßig zuftehenden Concerte freiwillig verzichtet, zu Gunften eines für Unterjtügung der Orcheitermitglieder zu jchaffenden Fonds, der mit Genehmigung des Königs „Spontini-Fonds“ genannt wurde und raſch zu einer anjehnlichen Höhe anwuchs. Der Fonds be: fteht noch heute, aber der Name it ihm genommen. Daß das Berliner Rublicum viel an Spontini gejündigt hat, ift unzweifel- haft. Man braucht nicht zu der reizbaren, leicht verleglichen Gattung von Menjhen zu gehören, welche die Künftler nun einmal find, und kann es doch begreifen, wie die Jahrzehnte bindurd) dauernden jcharfen und bösartigen, ungeredten und verleumderifhen Angriffe Spontini's Gemüth verwunden und verbittern mußten. Der legte Act der Bolfsjuftiz, den man

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an ihm vollzog, muß geradezu eine Brutalität genannt werden, wenn man nicht zur Entſchuldigung annehmen will, daß die GSereiztheit gegen ihn im tiefiten Grunde ganz allgemein dem Umjtande entiprang, daß er ein Ausländer war. Das nationale Sefühl der Deutichen war in Folge der politifchen Ereigniſſe der mit den Freiheitskriegen beginnenden Zeitperiode ein be- jonders feines und reizbares geworden. Und da die preußijche Kegierung durch Verweigerung einer Verfaſſung dem Volke die Möglichkeit verjperrte, feine Kräfte im Dienjte des öffentlichen Gemeinwohls zur Geltung zu bringen, warfen jich die thaten- luftigen Männer und Jünglinge mit ihren Intereſſen auf das Theater und wollten in dieſem eine Art von politifher Redner— bühne ſehen. Daher es ihnen unleidlich erjcheinen mußte, daß bier ein Ausländer, und nod dazu ein naturalifirter Franzoſe, das große Wort führte. Indeſſen fehlte es nicht ganz an Stimmten im Wublicum, welche die dem SKünftler angethane öffentliche Beihimpfung entjchieden verurtheilten, und manch' ein früherer Gegner wurde jegt zum Anwalt des Gekränften. Dies war bei dem Juſtizrath Kunowski der all, der fich bereit finden lieh, CS pontini’$ Angelegenheit in zweiter Inſtanz zu vertheidigen, und die Vertheidigungsschrift im Drud herausgab. In warmherzigiter Weiſe nahm Bettina von Arnim jeine Bartei. Am 27, September 1841 jchrieb fie an den Geheimen Commerzienrath Morig Robert: tornomw, einen der vertrauenswürdigen und wohlmeinenden Freunde Spontini's:

ee Die Anklage Spontint’s finden Sie abjurd und Fleinlich ich auch finde fie undriftlih, und die Würde des Königs, Die man hierdurch zu vertreten vorgibt, verlegend. Gehäffig it es, einen Mann, deſſen leidenjchaftlicher Ariſtokratismus und ſchwärmeriſche Liebe für den König weltbekannt iſt, eines ungeeigneten Ausdrucks wegen der Majeſtätsbeleidigung zu beſchuldigen; die Welt wird dies zu glauben nicht albern genug ſein. Unverfchämt it ed, den eriten Dioment, in dem ein Mann von bewährtem Ruf durch Zufall ſich eine Blöße gibt, wahrzunehmen, um von allen Seiten Steine auf ihn zu werfen. Ganz unmwürdig ift es, die Anklage, welche Spontini, der allein berechtigt tt, den Sinn feiner Worte auszulegen, als

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verleumderisch zurüdweiit, noch geltend machen zu wollen, wodurd) fie zur Schmach alles befjeren Gefühls zum Gegenjtand eines partei- lichen nterefjes geworden, und fomit die Allbemußtheit von Recht und Wahrheit, die in jeder Bruſt begründet it, auch von Jenen geleugnet wird, die durch Geburt und Stellung vom gemeinen Haufen jih getrennt wiſſen wollen und jo wahnmißig find, an jener Gemalt, die das göttliche Amt hat, das Recht zu vertheidigen, zu rütteln, um jie zur bezeihenden Auslegung eines zmweideutigen Ausdruds zu mißbraudhen. Unfittlich iſt es, jegt nach dem Tode jeines früheren Herrn, deſſen Gnade ihn gegen die Angriffe feiner Widerfacher Ihüßte, ungegründete Beihuldigungen ihm aufzubürden, und ift fein Beweis, daß des Königs Andenken nod Gewicht in unjerem fittlichen Gefühl habe, oder daß die findlihe Würde unferes jegigen Königs au nur ahnungsweife rejpectirt werde, denn jonjt würde man die Ueberzeugung, Spontini ſei frei von beleidigender Abfiht, nie zu verläugnen gewagt haben. Ungeziemende Ausdrüde konnten ihm als Ausländer nie zur Laſt gelegt werden, und genügend ift, daß der Sinn, den er hineinlegt, in dem franzöfifchen Originaltert ver: itanden werden fann, und die Beichuldigung, die man ihm auf- zwängt, fällt auf die Ueberfegung zurüd. Wenn man aber den Staat von jedem fleinen Unflätchen bejenrein halten will, jo werben die treuen Diener bald lauter jtumpfe Bejen jein, die, unter dem groben Unrath, der vor der eigenen Thüre ſich häuft, begraben, felbit zum Kehricht gerechnet werden müfjen. Denn ungeziemend iſt auch das Verfahren gegen Spontini, wo er in feinem öffentlichen Amte auftritt, ungeziemend eben jowohl gegen den König, daß man jeinen Diener gleihjam unter feinem jchügenden Mantel hervorreißt, um ihn zu beleidigen; denn fein Amt iſt des Königs Schugmantel. Ungeziemend ijt die Auslegung feiner Worte, als habe er feinen gnädigjten Herrn beleidigen wollen. Man fann den König nicht be- leidigen wollen, fann ihn nicht beleidigen, und eine ſolche Auslegung ift ungeziemend, beleidigt das fittliche Gefühl und die Ehrfurcht, die wir vor der Großmuth des Königs hegen. Ungeziemend ift ferner das Gefchrei der Mipbilligung gegen eine Sache, die unentſchieden it; der Unmille, den man auf ihn häuft, und die Verleumdungen, mit denen man hervorrüdt; follte man wegen dieſen vor Gericht ge fordert werden, jo würde es wohl jchmwerer fein, jich darüber zu rechtfertigen, ald es dem reinen, von böfer Abficht ganz freien Mann jein fann, jo jinnlofe Bejchuldigungen von fi zu wälzen. Ein reines Gewiſſen iſt immer noch eine gute Wehr und Waffe gegen ein taftlofes, gewiſſenloſes Verfahren, was nicht fcheut, die Perfön- lichkeit des Königs zur Bafis einer parteilihen Nechtsitreiterei zu machen. Was uns heilig it, das berühren wir nicht mit ungewafchenen Händen, fondern wir reinigen fie erit in der Unſchuld unſers

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Gewiſſens. Wer aber, der Einen des Vergehens bezeihten mit dem Koth der Verläumdung wirft, fann jagen, er thue es aus un- ichuldiger Abfiht? O nein! folde find Tempeljchänder, und find nicht geeignet, ein menfchliches Verſehen zu beurtheilen, und nicht würdig, den Purpur der Majeftät vor Befledung zu ſchützen.

Der König hat dem geachteten Diener feines Vaters nicht feine Gnade entzogen, er hat ihn geſchützt und geehrt. Spontini konnte feinen gnädigen Herm nicht aus Uebermuth beleidigen wollen, wie man des miderfinnig ihn beſchuldigt. Man macht ihm den Vor: wurf, er habe viele Feinde und feine Freunde. Was follten ihm aber folche Freunde genüßt haben, die jet zu Hauf jo jelbitvergefien, jo alle Menſchenwürde vergeflend auf ihn eindringen? D nein! es Spricht mehr für ihn, daß diefe Alle nie feine Freunde waren, und die jo wirklichen Seelenadel haben, find ihm jest von ſelbſt zugefallen. Man wirft ihm vor, daß er, den Warnungen der Polizei Troß bietend, fi) aus Hochmuth und Bosheit der Verhöhnung des Publicums ausgejegt habe. Weſſen würde man aber ihn be- Ihuldigen, hätte er diefen Warnungen nachgegeben, und ſich ge- fürchtet, ſein königliches Amt zu vertreten. Würde er hierdurch irgend einem Ungemad, einer Verhöhnung, einer Verläumdung ent- gangen fein? Man würde laut genug, daß feine Ohren es ver- nähmen, ihn der Feigheit, des böjen Gemifjens, der Würdelofigfeit bejhuldigt haben, und auch der Unfähigkeit, fein Amt zu vertreten. Der Triumph würde volllommen geweſen fein, und die unmeife Warnung der Polizei, der nur ein Schuldbemwußtfein fi fügen fonnte, würde zur Schlinge geworden fein, welcher Spontini aus eigenem Inſtinet, der ihn auf fein rechtliches Gefühl verwies, glücklich entgangen ift. Unter feinen vielen Feinden würden feine Freunde für ihn aufgeftanden fein, die durch die Gemeinheit jenes unverzeihlichen Verfahrens im Theater ſich bewogen fühlen, an jeine Seite fi zu jtellen, weil ihre Achtung der Function eines föniglichen Beamten, ihre Achtung vor fich felbit fie bewegt, öffentlich darzulegen, daß fie nicht mit der Bosheit eines ftumpffinnigen, feilen Pöbels über- einftimmen. Dieſe freunde würde er jetzt entbehren, hätte er gezagt, in feiner Schuldlofigfeit fi den Mißhandlungen, von denen er ge: warnt war, auszufegen. Jetzt, mo diefe unerhörte Schmähung über ihn ergangen tft, hat Spontini den großen Vortheil, daß alle edel— denfende ‘Barteilofe, an deren Spitze ich unbedingt den König ftelle, ihm eine feite Schugmwehr gegen unnüße, ungerechte Angriffe find, und die feinfte Politik würde ihm nicht beſſer haben rathen fönnen, um feine betheiligte Lage ins hellfte Licht zu ftellen. Von Seite der Polizei fcheint es mir aber ein unpolitifches Verfahren, öffentlich auszufprechen und einzugeitehen, man habe dem Pöbel nicht Einhalt thun können, objchon fie 14 Tage vorher Spontini gewarnt hatte.

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Alfo in diefer langen Zeit war es nicht möglich, einem voraus be- fannten Unfug zu ſteuern? Wie fehr wird fi das Publicum dies merken, daß die Polizei der großen Königftadt nicht im Stande war, troß aller Berhandlungen, ein Häuflein im engen Raume des Dpernhaujes eingepfergt im Zaum zu halten, oder aud nur wagen durfte, den Vorhang des Theaters zur beftimmten Zeit aufziehen zu lafjen, wodurd der Unfug wenigitens durdjfchnitten war, und mußten fie ungehindert ihren Muthwillen jättigen lafjen. Wie leicht fönnte da durch diefes Eingejtehen ihrer Ohnmacht die Polizei Veranlaſſung werden, daß nebit vielen Nebengedanfen der Hauptgedanfe in dem Nublicum mad werde, ald ob die Polizei wirklich feine Gewalt über dasjelbe habe; und wie jchnell fönnte dann jene Behauptung bei eriter Gelegenheit als prophetiſche Ahnung in Erfüllung gehen. Sit es aber nicht wahr, was die Polizei hier als Entſchuldigung für den zugelafjenen Frevel befennt, mie jehr ftellt fie alsdann ihre Lift an den Pranger, und wie argen Schaden thun doch jolde Farcen und Pfufchereien, wo man jtets, wie Mephiſtopheles das Gute vor⸗ aibt und das Böſe Ihafft......

Der Empfänger diejes Briefes hatte darauf an Bettina geichrieben, es ſei jchade, daß fie ihn nicht an dem König ge- rihtet habe. Man wird auch das mit Intereſſe lefen, was fie hierauf antwortete.

„Sie bedauern es, Herr Nobert, daß mein Schreiben über Spontini nicht lieber an den König als an Sie gerichtet fei, jo ver- anlafjen Sie doch, daß es den Mcten, die der König lefen wird, beigelegt werde. ch bejinne mich zwar nicht aufs Genauefte, ob es nicht Unlegitimes enthalte, aber hier, wo der aefunde Sinn des Königs jo jchmerzlid von einem alten Diener in Anſpruch genommen wird, den feindfeligen Bedrängnifjen Einhalt zu thun, da fürchte ich gar nicht, ja, ich wünſche vielmehr meine lebhafte Aufregung über den unterfangenden Widerjpruch der Uebelgefinnten gegen die ur- Iprünglihe Großmuth des Königs auszudrüden. Aud mein eriter Brief, der verftümmelt und nur halb in die Zeitung gefeßt wurde, war nur dazu gefchrieben, daß ihn der König ganz und allein lefe, und jene Veröffentlichung lag nicht in meiner Abſicht.

Eine Bemerfung made ih noch. Warum hat man nod nicht den Ueberjeger diefer mißlichen Anzeige Spontini's ermittelt, der doch, wenn eine Verfhuldung hier ftattfindet, mit dafür verant- mwortlih it. Spontini's Großmuth, ihn nicht nennen zu mollen, jpridht ihn von der Verpflichtung nicht los, jein Zeugnig für Spon- tini's Unbefangenheit dabei, vor Gericht geltend zu maden, oder war es Spontini's ausdrüdliher Wille, diefe gewagte Schreibart

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beizubehalten, jo fann es ıhm feinen Nachtheil bringen. War er aber jelbit ahnungslos, welche böfe Auslegung man diefer Ueberjegung geben fönne, fo iſt er feiner eigenen Ehre fchuldig, dies ala Recht— fertigung für Spontini vor Gericht auszufagen; man fordere ihn doch in öffentlichen Blättern hierzu auf, jchweigt er, dann möchte wohl böſer Muthwille und Liftige Abficht diefer Weberfegung zum Grunde liegen, und Spontini, dem man mit ungefchliffenem Mefjer die Ehre abjchneidet, der einzige Unfchuldige dabei fein, und die neunmonatliche Feitungsitrafe, die man ihm mit jo großer Genauig: feit zugewogen, fünnte mit Fug auf den Ueberjeger übertragen werden. Ihre ergebenite 19. October"). Bettina von Arnim.”

Spontini war ein Charakter, in dem große und gute Eigen: ihaften mit üblen und Eleinlichen fait zu gleichen Theilen ge- miſcht waren. Seine Freunde wie feine Gegner konnten jich zur Begründung ihrer Anfichten auf Thatjachen berufen. Auf beiden Seiten ſchloß man die Augen vor den entgegengejegten Eigen- ihaften. Nachdem die Katajtrophe von 1841 die Schmeichler Spontini'S zum Schweigen gebracht hatte, ift das Urtheil der Gegner über ihn, in Deutjchland wenigitens, das maßgebende geworden. Es jei daher hier mit Nahdrud ausgeſprochen, daß diefes Urtheil zum Theil ein ganz ungerechtes ift. Der Vor: wurf, Spontini habe die deutiche Muſik verachtet und unter: drüdt, ift einfach eine Unwahrbeit. Unjern großen Meiftern von Händel bis Beethoven war er mit Bewunderung und Liebe zu— gethan. Er hat dies jein ganzes Leben hindurch bethätigt, und niht nur durd Kunſtthaten. Aus den zuverläffigiten Quellen berichtet C. Robert, daß Spontini für die Wittwe Mozart’S und deſſen Kinder die größten Opfer gebradht habe; daß er, als Kiffen feine Mozart-Biographie herausgeben wollte, perjönlich unermüdlich dafür Subjcribenten gefammelt, die Subjcriptions- beiträge für die Wittwe eingezogen, die Weberjegung der Bio- graphie ins Franzöfiiche bejorgt, und überhaupt die Wittwe auf jede Weife unterjtügt habe. Eine gewiſſe Vorliebe für die eigenen

') Beide Briefe verdanke ich der gefälligen Mitwirfung des Herrn Walter Robert-tornow.

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Werke muß man bei einem Künjtler von jelbftändiger Productions— begabung als berechtigt anerkennen, und es ift thöricht, von einem ſolchen Künstler überall unparteitiche Beurtheilung anderer Werke zu verlangen. Weber's Muſik war Spontini unverständlich und antipathifh, und daß dem fo war, hat ihm in Berlin vielleicht am meilten gejchadet. Aber die verjpäteten Aufführungen der „Euryanthe” und des „Dberon“ hat er do mehr durch feine Unthätigfeit dafür, als durch activen Widerftand dagegen ver: ihuldet. Für Spohr hatte er große Hochachtung und hat dieſe häufig durch die That bewiefen. Es ift aanz ungegründet, daß er der Aufführung der „Seffonda” die „allergrößten Hinderniſſe“ in den Weg gelegt habe, wie S. Henfel (Die Familie Mendels: john, Bd. 1, ©. 144) behauptet. Die Acten des königlichen Theaters erweifen das Gegentheil. Für Meyerbeer interejlirte er fih bis zum Erfcheinen des „Robert der Teufel” ; diefe Oper allerdingd nannte er „un cadavre* und fonnte fie nicht aus— jtehen; daraus wird man jeinem Kunjtgeichmad doch feinen Bor: _ mwurf machen wollen. Daß die „Hugenotten” zu jeiner Zeit nicht aufgeführt wurden, lag nicht an Spontini, fondern an dem Berbot Friedrich Wilhelm's III. Wenn er Marſchner's „Templer und Jüdin“ ein Arrangement nad Spontini genannt haben ſoll), jo ift dies falls die Neußerung wirklich jo gelautet bat allerdings eine ungerechte Beurtbeilung; aber man muß doh auch zugeitehen, dab Marjchner von Spontini lebhaft be- einflußt worden iſt. Gewiß war er von Neid und Eiferfucht nicht frei, aber dieje richteten fi, wenn einmal angenommen werden joll, daß fie bei jeinen Entſchließungen mitwirften, eben- ſowohl gegen ausländiſche Componiften. Während er Cherubini ſehr hoch ſchätzte er bradte die „Abencerragen“ in Berlin auf die Bühne und erwirkte für den Componiften ein anfehnliches Honorar war ihm Auber’3 „Stumme von Portici” ein höchſt

') Nach einem Briefe Marſchner's an Ed. Devrient in der „Deutichen Rundſchau“, 1879, Bd. XIX, S. 98.

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unerwünſchtes Werk, ebenjo Halevy'3 „Jidin“. Zur Aufführung diefer Werfe bot er nicht die Hand und ärgerte fich auch wohl, wenn fie dem Publicum troß feiner ungünftigen Meinung dar- über dennoch gefielen. Auch mit feinem Landsmann Roffini war er nicht zufrieden. Sein fünftlerifcher Horizont war nun einmal fein weiter. Wenn aber das Genie das Vorreht hat, befhränft Tein zu dürfen, wenn man es einen Spohr hingehen läßt, daß er Weber nicht, und Beethoven nur zum Theil begriff, dann darf man auch über Spontini’s künſtleriſche Antipathien nicht zu hart urtheilen. Mit Bedauern bemerkt man, wie die Fähigkeit, ihm gerecht zu werden, damals auch in den gebildeteiten Berliner Familien fehlen konnte. Mit dem Haufe Mendelsjohn, das ihn anfangs gaftlih aufgenommen, dem er aber auch jelbit viele Gefälligkeiten erwiejen hatte, war Spontini jeit der Aufführung der Oper „Die Hochzeit des Camacho“ zerfallen‘). ES mag fein, daß er dieſes Eritlingswerfchen unveritändlich beurtbeilt bat. Daß aber der edle Felix Mendelsfohn ich zu jo gereizten und verächtlichen Bemerkungen über ihn hinreißen läßt, wie fie fih in feinen Briefen finden, muß man beflagen. Wie nun aber auch immer zu Spontini's Berliner Zeit das Für und Wider betreffs feiner Wirkſamkeit beichaffen gewejen fein mag, dies ift Sicher, daß er durch den kläglichen Ausgang jeiner Thätigfeit an der dortigen Oper genugjam gebüßt bat, was von ihm je dort verfehlt worden it. Ihn über diefen Zeitpunft, ja über das Grab hinaus noch mit übler Nachrede zu verfolgen, wie e3 leider in Deutjchland bis in die neuejte Zeit geſchieht, ift unmürdig.

Ueber Spontini’3 letzte Lebenszeit ift wenig zu berichten. Er ging von Berlin zunächft nad Italien. Im Januar 1843 befand er fih in Majolati. Es mag bier nadhgetragen werden, daß er fein Geburtsland jeit 1822 verſchiedenfach mwiedergejehen bat. 1835 war er in Neapel. Im Archiv Di San Pietro a

1) Devrient, Erinnerungen an Felix Menvdelsiohn-Bartholdy, S. 27 f.

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Majella zeigte man ihm das Autograph einer Concurrenzarbeit, welche er vierzig Jahre zuvor als Schüler des Conservatorio della Pietä de’Turchini gemadt hatte. Er betrachtete fie mit Thränen in den Augen, rieth dann aber dem Ardhivar, er möge „queste meschine e sconce note* zerreißen und ins ‘Feuer werfen‘). Aud im Jahre 1838 ijt er in Rom geweſen. Er hatte fih am 4. Juni 1838 dem Könige von Preußen angeboten, eine Vermittlung zwifhen dem Papſte und dem Könige in Anbetracht der Kölner Wirren herbeizuführen. Ob von diefem Anerbieten Gebrauch gemacht worden ift, weiß ih nit. Sicher it, daß der Papſt ihn hochſchätzte und ihn auch veranlaßte, fih über eine Reftauration der fatholifhen Kirchenmufif

äußern. Die niemals ganz gelöften Beziehungen zum Vater: (ande benußgte er auch dazu, deutichen Componiften von dort her Auszeihnungen zu verichaffen. Er Hat, während er in Berlin lebte, nicht weniger als fünfzehn Deutſche zu Mitgliedern der Akademie Di Santa Cecilia in Nom vorgejchlagen und pflegte den Gemwählten ihr Patent mit einem verbindlichen Schreiben jelbit zu überfenden?). 1843 ging er von Italien nad Paris, wo er durch jeine Frau, eine geborene Erard, ans genehme verwandtichaftliche Beziehungen hatte, und ließ ſich

hier dauernd nieder. Seit 1888 war er Mitglied ber Parifer

Akademie. Der Papſt ernannte ihn 1844 zum Grafen von St. Andrea. Auch andere Auszeichnungen fehlten nicht. Aber die

Hoffnung König Friedrih Wilhelm's IV., daß er der Welt noch einige neue Werke jchenfen werde, ging nicht in Erfüllung. Die legten Berliner Erlebniffe hatten ihn geiftig und körperlich gebroden. Seiner hypochondriſchen Eitelkeit erfchien das ihm zugefügte Unrecht als ein fluchwürdiger Frevel gegen Gottes Geſetz. Als ihn Guftav Nobert:tornow im September 1844

’) Florimo, Cenno storico sulla scuola musicale di Napoli. 1869. Ss. 595.

2) Brief Wilhelm Dorom’s vom 27. Auguft 1841, im Befig des Herrn Walter Robert-tornomw.

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in Paris ſah, berührte das Geſpräch auch den Brand des Ber— liner Opernhauſes (Auguſt 1843). „Et savez-vous“, bemerkte Spontini, „ce que le peuple en a dit? Le peuple a dit: Voilä le jugement de Dieu pour avoir chass&e Spontini*.

Deutichland bejuchte er noch einige Male wieder. 1844 war er in Dresden; NRihard Wagner hatte ihm eine Aufführung der „Veſtalin“ vorbereitet, die er ſelbſt mit noch immer großer Energie leitete. Zu dem neunundzwanzigften Nieberrheinifchen Mufikfeft, das am 23. und 24. Mai 1847 in Köln jtattfand, war er eingeladen, um Bruchitüde aus feiner „Olympia“ auf: zuführen. Er erſchien auch und wurde jehr gefeiert, war aber doch ſchon jo gebrehlih, daß er die Aufführung nicht jelber mehr leiten konnte; Heinrich Dorn, damals Capellmeifter in Köln, mußte für ihn eintreten. Im Auguft fam er auch nad) Berlin. Der König empfing ihn aufs Huldvollfte und lud ihn ein, im nächſtfolgenden Winter einige feiner Opern in Berlin perjönlid) zu dirigiren. Dieje Einladung hatte ihn hoch erfreut; die Ge: danken an die Aufführungen bejchäftigten ihn aufs Lebhaftefte, als er nad Paris zurüdfam, und er jann darüber nad, wie er am beiten dem Könige feine Dankbarkeit und Ergebenheit bei diejer Veranlafjung bemeifen fünnte. Das Project Fam aber nicht zur Ausführung, da er den ganzen Winter hindurd Frank war. Im Jahre 1848 befiel ihn Schwerhörigfeit; jein immer zum Ernfthaften geneigter Geift verjanf in tiefere Schwermuth. Er begab ih nah Italien zurüd und nahm in Seft feinen Mohnfig, wo er Schulen und andere gemeinnügige Anjtalten ftiftete. 1850 fiedelte er in jein Geburtsdorf Majolati über. Hier ift er am 14. Januar 1851 geftorben.

LIION

Philipp Spitta, Zur Mufit. 23

Niels WB. Gade.

v

er am 22. December 1890 erfolgte Tod des größten Com:

poniſten, den Dänemark fein eigen nennen durfte, hat in Deutſchland nicht ganz den hohen Grad von Theilnahme erregt, welchen Mancher erwartet haben mag. Gade's Mufif ftand noch vor zwanzig Jahren bei uns in großer Beliebtheit, ſeitdem it das Intereſſe an ihr merklich geringer geworden. Während e3 Ende der jechziger Jahre noch viele Kreife gab, welche ihn al3 den hervorragenditen lebenden Componiſten auf dem Gebiete der Orchefter- und Kammermufif verehrten, erwuchs ihm doch ſchon damals in Brahms ein gefährlicher Nebenbuhler, der ihn allmählich in die zweite Linie drängte. Die Aufregung, von der die mufifalifche Welt durch Wagner's Werke erfaßt wurde und die immer weitere Wellenringe zog, das Eindringen diejer Werfe auch in die Goncertinftitute und die Ueberreizung des Kunſtge— ſchmackes, die geringſchätzige Haltung, welche gewiſſe Kreije gegen die verwandte Kunft Mendelsfohn'3 und Schumann's unter Be- rufung auf den jogenannten überwundenen Standpunft ein- nahmen, bat vielleiht noch mehr dazu beigetragen, gegen die Mufit des dänischen Meifters gleichgültiger zu flimmen. Es fam hinzu, daß Gade jelbit in feinen jpäteren Werfen, jo ber: vorragende Eigenschaften diefe immer noch bejaßen, doc eine Abnahme der früheren Frifhe und Urfprünglichfeit bemerfen ließ. So ift die Welt einmal bejchaffen, daß fie vom mit-

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lebenden Künftler fortdauernde Anreizung verlangt, joll fie ihm treu bleiben. Hinter den immer neu herandrängenden Wogen, welde das Schiff der öffentlihen Meinung dabintragen, ver: ſchwindet ihr ſonſt allzubald fein Bild.

Später fommt dann eine Zeit, wo das wahrhaft Bedeutende wieder auftaucht und über dem Wogenſchaum des Tagesgefhmads aus ruhiger Ferne leuchtet. Im Vertrauen, daß diefe Zeit auch für Gade eintreten wird, brauchen wir mande Erfahrungen des legten Jahres und gewiſſe Stimmen, die über den Werth feiner Werfe unter uns laut wurden, nicht allzu ernjthaft zu nehmen.

Was der Mann feinem engeren Baterlande und dem jfandi- navischen Norden überhaupt bedeutet hat, kann von Deutjchland aus kaum dargelegt werden; ich wenigitens getraue mic) nicht, es zu thun. Wir willen wohl, welch' unbegrenztes Anjehen und allumfafiende Verehrung er dort genoffen hat. Aber um den Taltfinn zu befigen für die Innigkeit feines Zuſammen— hanges mit dem Geijte der Stammesgenofjen, insbeſondere des dänischen Volkes mit jeinem hochgeiteigerten Nationalgefühl, dazu müßte man wohl jelbit ein Däne fein. Die kurzen Be- trachtungen, welche ich hier anitellen möchte, aejchehen von einem anderen Standpunkte der Beobahtung aus. Gade bat wichtige Jahre feines Lebens in Deutichland verbradt Zu den größten deutichen Tonmeiſtern der Zeit ſtand er in engen äußeren und inneren Beziehungen. Won Yeipzig aus drang jein Ruhm zuerft in die weite Melt. Hier jchuf er eine Anzahl hervor: ragender Compofittonen. An der Spike des Gewandhausconcert: Vereins nahm er als Mendelsjohn'S Nebenmann und Nachfolger feine erite Dirigentenftelle ein. Seine Bocalwerfe find zum Theil über deutſche Dichtungen geſetzt; er ließ zeitlebens feine Gompofitionen am liebften durch deutiche Verleger der Melt ver: mitteln. Wir haben wohl das Recht, ihn zu einem Guttbeil als den Unfrigen zu betrachten, und das deutiche Volk bat ſich immer jo zu ihm geitellt. Gounod, Bizet, Verdi jo viel

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ihre Werke bei uns aufgeführt werden, fie find unferem Empfinden doh immer die Ausländer geblieben. Mit Gade wohnten wir unter einem Dache, wie ein Bruder ijt er aus und eingegangen, und wenn den Dänen gewiſſe Weifen jeiner Muſik noch eigen- artiger innerlich widerflingen werden, in der Herzlichfeit des gefammten Verftändniffes glauben wir ihnen nicht nachzuſtehen.

Es ift nicht das Gemeingefühl germanischen Urſtammes allein, was dies zuwege gebracht hat. Eine Frucht langen ge: meinfamen geiftigen Streben ift in Gade's Kunſt hervorge— wachjen. Sahrhunderte hindurch haben Dänen und Deutjche in allen Künften und Wiffenfchaften lebendigen Austauſch gepflogen. Im vorigen Jahrhundert fcheint eg manchmal, als wären auf diefem Gebiete beide nur eine einzige Nation. Auch in neuerer Zeit hat eine engere Verbindung noch beitanden, bis das Jahr 1548 jie zerriß. Gade liebte fein Vaterland mit Leidenjchaft, und bie politifchen Ereigniffe von damals, vollends der Krieg von 1864 find auf jeine Haltung Deutichland gegenüber nicht ohne Einfluß geblieben. Er mied Jahre hindurch unfer Land, und daß er im Auguft 1871 zum Beethoven:FFeite in Bonn er: jhien, wurde als etwas NAußerordentliches bezeichnet. Die politijche Verftimmung milderte fich allgemach; Pfingſten 1881 war er zum Niederrheinifchen Mufiffefte in Düffeldorf anweſend; er gedachte auch im Mai des vergangenen Jahres zur Gentenar- feier der Singafademie nah Berlin zu fommen. Seinen muji- kaliſchen Freunden in Deutichland ift er aber unerfchüttert treu geblieben, wie e8 auch nicht anders fein Eonnte. Fiel doch feine Jugend und früheite Blüthe in die Zeit, da die Verbitterung zwijchen Deutihen und Dänen noch nit um fidh gegriffen hatte und für die legteren am allerwenigften Grund zu einer folden vorhanden war.

Eine Gefhihte der Mufif in Skandinavien iſt noch nicht gejchrieben, und wenn die Aufgabe einmal in Angriff genommen werden follte, würde es nicht leicht zu entjcheiden fein, ob es beffer von dort oder von Deutjchland aus geſchähe. So viel

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icheint fiher, daß es zweihundert Jahre hindurch vorzugsweiſe deutiche Muſiker waren, welche in Dänemark das Feld beitellten, und daß man während des größeren Theiles dieſer Zeit von einem däniſchen Charakter der dortigen Muſik in dem Sinne, wie man von franzöfifcher, italienischer, englifher Muſik jprechen fann, nicht viel gewahr wird. Zur Zeit des breißigjährigen - Krieges war es Heinrih Schüß, der größte beutiche Componiſt feiner Zeit, welcher Jahre hindurch die Richtung für die Mufif am Königshofe zu Kopenhagen angab. Im December 1633 wurde er dort mit bejonderen Vergünftigungen als Capellmeijter angenommen; König Chriftian IV, beftimmte jelbit, daß man ihm zu feinen Muftfübungen den Saal neben des Königs Gemach einräumen folle, und jorgte dafür, daß die Mufifanten ihm ge- bührlihd Ordre parirten. Sein Aufenthalt dauerte zunächit bis zum Jahre 1635; in der Folgezeit it er noch mehrere Male von Dresden herübergefommen. Eines feiner vorzüglichiten Werke hat er 1647 dem damaligen Kronprinzen von Dänemark gewidmet; einer feiner beiten Schüler, der Thüringer Matthias Weckmann, wurde in den vierziger Jahren fein Nachfolger im Gapellmeifteramt zu Kopenhagen. Schauen wir auf die zweite Hälfte des Jahrhunderts, jo glänzt uns Dietrih Burtehude’s Name entgegen. Der größte nordifche Orgelmeijter jeiner Zeit iſt zwar in Selfingör auf Seeland geboren (1637), fein Water war an der Olai-Kirche dajelbft Organift. Aber der Name zeigt, dab die ‚Familie feine dänische geweſen fein kann, jondern aus den Gegenden der Unterelbe ftammen muß. Wie fie ihrer Zeit nad) Dänemark überfiedelt war, fehrte ihr berühmteiter Sohn im Jahre 1667 nah Deutichland zurüd und wurde Organift an der Marienfirhe zu Lübeck. Aber fein Einfluß auf den ſkandinaviſchen Norden blieb nahhaltig ein großer und muß fich, wie die Bejtände der Univerfitäts-Bibliothef zu Upjala ausweifen, auch über Schweden eritredt haben. Wie Schütz im 17., jo jtand Reinhard Keijer im 18. Jahrhundert zum Kopenhagener Hofe, oder doch annähernd jo. Er iſt als Capell-

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meifter nur zwei Jahre dort in Thätigkeit gewejen (1722— 1724), aber jeine Muſik hat tiefen Eindrud gemadt, und gewiß nicht nur die eigens für Kopenhagen gejchaffene: bei dem regen Ber: fehr zwijchen Hamburg und Dänemark muß die gefammte Kunit de3 genialjten deutſchen Opercomponijten feiner Zeit den nordijchen Nahbarn nahe getreten jein. Nicht weniger ilt dies hernach mit Emanuel de3 Hamburger Bach's Muſik der Fall ge: wejen; Niels Schiörring, der Herausgeber des däniſchen Choral- bus, an welchen Emanuel Bach mitgearbeitet hat, gehörte zu feinen Schülern. Bon Hamburg aus wurde ferner Johann Adolph Scheibe im Jahre 1744 als Capellmeijter nach Kopen- hagen berufen, wo er bis zu jeinem Tode verblieb, wenn aud) nicht eben durch feine Compofitionen, jo doch durch feine mufi- faliiche Gelehrſamkeit und umfafjfende Bildung deutfches Kunit- wejen dort in Geltung erhaltend.

Schütz, Wedmann, Keifer, Bah, Scheibe waren Mittel: deutiche geweſen. Nach ihnen beginnt eine Zeit, in welcher vorzugsweiſe niederfähliihe Mufifer das Wachdthum der Ton: funft in Dänemark beftimmen, und jept werden die erften An- zeichen ſichtbar, daß bier die Muſik einen befonderen Charafter annehmen will. Die Erfheinung ift merkwürdig genug, denn fie tritt in Fortjegung der Rolle auf, welche die Niederſachſen im fiebzehnten bis achtzehnten Jahrhundert in der Mufif Deutjch: lands fpielten. Aus diefem Stamme, der allgemein als künſtleriſch nur gering begabt gilt, waren jene Orgelmeifter wie Scheidemann, Schildt, Tunder, Burtehude, Bruhns, Lübeck, Leyding, Delphin und Adam Strungf hervorgegangen, die die Bewunderung ihres Jahrhunderts genoſſen. ES ift auch ein Zug innerer Ber: wandtjichaft zwiſchen Niederſachſen und Dänen unverkennbar, und ich glaube mich nicht zu täujchen, wenn ich diejen jchon aus Buxtehude's tiefjinnigen und phantaftiichen, ſchwermüthig träumenden und mächtig aufbraufenden Orgelcompofitionen heraus: höre: es ftedt vom Mejen des Meeres etwas in ihnen. Die Ge- ihichte der modernen dänischen Muſik hebt mit 1787 an, dem

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Sahre, in welhem Johann Abraham Peter Schulz, aus Lüne- burg gebürtig, Capellmeifter in Kopenhagen wurde. Die Pflege des nationalen Wolfsliedes in Ddichterifcher und muſikaliſcher Hinfiht war damals ein allgemeines Zeichen der Zeit. Es it unnötbig, bier noch einmal darauf hinzumeijen, mie dieſe neue Bewegung entitanden ift und wie fie in Deutjchland an Klopftod und Herder anfnüpfte, auf Klopftod’s Stellung in Dänemarf, auf die führende Rolle, die der niederſächſiſche Hainbund in ihr jpielte. Won diefer Bewegung getragen, hatte Schulz; feine „Lieder im Volkston“ gejchrieben, von denen zwei Theile 1782 erichienen. Der erite beginnt mit dem Liede „An die Natur“ des Grafen Leopold Stolberg, der damals Minijter in Kopen- hagen war; außer ihm haben Bürger, Voß, Claudius und Hölty die meiſte Berüdfihtigung gefunden. Als Schulz den dritten Theil herausgab, war er ſchon drei Jahre in jeinem dänifchen Amte. Seine Lieder erfchienen alsbald mit dänischer Ueberfegung; an dem Unternehmen war wiederum Schiörring betheiligt, der fich, dur” Schulz angeregt, als Componijt volfs- thümlicher dänischer Lieder jelbft mit Glüd verſuchte. Schulz hat dann auch als Componiit dänifcher Opern ſowie in der Oratorien- und Kirchenmufif eine reihe Thätigfeit in Kopen- hagen entfaltet. Eine der bedeutjamjten Anregungen aber gab er 1790 durch jeine inhaltreiche kleine Schrift: „Gedanken über den Einfluß der Muſik auf die Bildung des Volfs, und über deren Einführung in den Schulen der Föniglich däniſchen Staaten.“

Ihm gejellte fih in Friedrich Ludwig Aemil Kunzen aus Lübeck cine andere hervorragende Kraft. Schulz, der das gleich: geitimmte Talent in ihm erkannte, feste 1789 die Aufführung von Kunzen's erfter Oper in Kopenhagen durd. Die Oper hieß „Holger Danske“, doch würde man irren, wenn man als In— halt der von Jens Baggejen verfaßten Dichtung einen dem dänischen Volksbuche entnommenen Stoff vermuthete. Es it nichts Anderes als der Stoff von Wieland’s „Oberon“, nur

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daß ftatt des Hüon von Bordeaur der dänische Held eingejept ift. Aber zwei eigenthümliche Züge treten doch hervor: die Luſt an nationalen Gejtalten und an dem Phantaſieſpiel mit Natur: geiftern. Wirklich ift diefe Oper die erfte, durch deren Muſik ein wenngleih nur erjt Schwacher Klang der Nordlandsharfe zittert. Es wird recht einleuchtend, wenn man den gleichzeitigen „Dberon” des Wiener's Wranitzky vergleiht. Kunzen lebt wirflihb in der YJauberwelt, die dem Süddeutichen nur ein unterhaltender Spaß iſt. Er findet ahnungsvollere Töne für das Leben der Elemente, als irgend Jemand feiner Zeit, und Melodien von einem zarten, durchſichtigen Incarnat, das zu den lebenglühenden Gefichtern ſüdlicher Weifen einen ftarken Gegen: ja bildet. An Mozart und die taliener erinnert in dieſer Muſik nichts, außer den Dingen, welche damals in allen Opern Gemeingut waren; viel entjchiedener macht ſich Glud als Vor: bild bemerkbar. Aber auch jene von Schulz gefundene volfs: thümliche norddeutjche Liedweiſe Flingt an, in einigen In— ftrumentalfägen der Volkstanz, und mit dem Liede vom Ritter Oller tritt zum erjten Male die nordiſche Ballade in einer con- genial erfundenen Weije in die Opernmufif ein. In dem großen Grfolge, den „Holger Danske“ hatte, offenbarte ſich denn auch, daß das dänische Volk fich von diefer Mufif innerlich getroffen fühlte. Kunzen verließ Dänemark wieder, kehrte aber 1795 als Nachfolger von Schulz dahin zurüd, nachdem er fich inzwiſchen in Deutjichland mit Mozart's Muſik vertraut gemacht hatte. Er bat dann noch eine große Anzahl dänifcher Opern ge: jchrieben. 1817, im Geburtsjahre Niels W. Gade’s, iſt er gejtorben.

Seine Erbſchaft traten Friedrih Kuhlau aus Uelzen und G. €. F. Weyſe aus Altona an. Kuhlau hatte die glänzenderen Erfolge: im Jahre 1811 erjchien der Fünfundzwanzigjährige zuerit in der Deffentlichfeit Kopenhagens; nad drei Jahren gewann er fi die dauernde Gunft der Dänen durch jeine Eritlingsoper „Die Räuberburg“. Wenn in neuerer Zeit von

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dänischer Seite angedeutet worden ift, die Eigenart der romantiſchen Oper jei in Dänemark eher zur Erfcheinung gefommen, als in Deutihland, jo kann das freilih nicht ſchlechthin zugeftanden werden, aber etwas Wahres ift daran. Was Kuhlau betrifft, jo war er ein äußerit gefchidter Muficus, aber als Componift nur Anempfinder, nicht Selbitichöpfer. In der „Räuberburg“ lehnt er ji an Eherubini an, was damals fait alle deutichen Operncomponijten thaten. „Lodoiska“ ift das Hauptvorbild, Ihon die vielfachen Aehnlichkeiten des Gegenſtandes mußten dies bewirfen; am Anfange des dritten Actes findet fi eine Stubie nah dem „Wafferträger“, zu dem canonijhen Terzett hat „Faniska“ das Mujter geliefert. Anklänge an Mozart und Andere treten mehr nur in Einzelheiten hervor. Nun wurzeln zwar auch die deutichen Nomantifer vielfältig in Cherubini’s Muſik, aber fie ftelen Werke mit einheitlihem muſikaliſchem Sepräge hin. Was an der „Räuberburg“ neu war und aud jegt noch feinen Reiz nicht ganz verloren hat, ift durch An- regung der Dichtung entitanden. Thatfählih iſt es auch Dehlenjchläger gewejen, der das dramatifche Talent Kuhlau's entbedt, gelockt und eigens für ihn die „Räuberburg” verfaßt bat. Daß er unter einem ſtarken Eindrude von Schiller's „Räubern“ gearbeitet haben muß, fieht ein Jeder. Aber der revolutionäre Grundzug des deutichen Werks ift bis auf bie Spur getilgt, eine gegenwartvergeffene Nomantif bat ſich an jeine Stelle gejegt: Roſen der Provence jollen duften, Troubadourweifen erklingen; grüne Wälder, aus denen finitere selfenjchlöffer aufragen, bilden die Scenerie. Kuhlau hat nad) dem Mab feiner Begabung den Anforderungen bes Dichters gerecht zu werden geſucht. Einiges, wie die Eingangsicenen: Aimar's Verirrtjein, Camillo's mwehmüthige Hornmelodie aus Waldespunfel, ihr Aufitieg zu der verhängnißvollen Burg im Abendroth, auch die Romanze der Ritterfräulein im Burggarten, ſtrömt einen ftärferen Duft der Romantik aus, als ihn deutjche Opern biöher zu empfinden gaben. Aber diejen Duft verbreitet

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im Grunde nicht die Mufif, jondern das Gedicht. Man denke fih einen Weber über diefer Dichtung, und was wir dann er- lebt hätten! Wenn aber die Dänen fih bisher größtentheils von deutſcher Mufif genährt hatten, nad einer Richtung Hin gewannen fie uns ſchon jekt einen unjchägbaren Borfprung ab. In Dichtung und Mufif gingen ihre beten Kräfte Hand in Hand. Bei uns herrſchte zwijchen beiden ein Zwiejpalt, der aud in der Folgezeit niemals ganz gejchlichtet ift, jo große Opfer auf beiden Seiten gebradht wurden. Mit welchen Opern: terten mußten ſich unfere edeliten Geifter behelfen; wie hoc) erkennen wir es ſchon an, wenn ihre Vorlagen nur erträglich waren! Die deutichen Dichter hielten fich entweder zu vornehm, für Mufif zu jchreiben, oder verftanden von diejer Kunſt zu wenig. Bei ung ijt die romantijche Oper ohne wejentlide Mit: wirkung der gleichzeitigen Poeſie entitanden. Die däniſchen Dichter haben jene Selbſtgenügſamkeit ihrer deutichen Kunſtgenoſſen nie gekannt; freilich hatten fie e8 auch leichter, ihre Muſiker mit fich zu ziehen, denn deren Gepäd wog damals nicht eben jchwer. Aber die Einheitlichfeit des Kunftlebens iſt es nun doch, was jett als auszeichnendes Merkmal gegenüber Deutſchland hervor- tritt, und in diefem harmonischen Zufammenflang nimmt die Muſik den nordifch - nationalen Charakter an.

Es ift wichtig, ſich zu erinnern, daß mit Kuhlau's erjtem Auftreten die erjten umfafjenden Sammlungen jfandinavifcher Volkslieder zufammenfallen. Abrahamſon, Nyerup und NRahbed gaben in Kopenhagen von 1812—1814 in fünf Bänden Udvalgte danske Viser fra Middelalderen heraus, denen 1821 zwei Bände Danske Viser, von Nyerup und Nasmufjen gefammelt, folgten. Geijer’s und Afzelius’ berühmtes Sammel- wert Svenska Folkvisor erſchien von 1814—1816 in brei Bänden in Stodholm. Daß Kuhlau aus dieſem unerjchöpf: lihen Quickborn feine Kunft verjüngt hätte, fann man wahr: heitsgemäß nicht behaupten; ich geitehe, daß ich von einem nordiihen Zuge in feinen Melodien auch nicht die Andeutung

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entdeden kann. Auch nicht in „Lulu“, feinem reidhiten und reifften Werke, das ihm C. F. Güntelberg nach dem Märchen aus Wieland's Dſchinniſtan dichtete, eine ins Nordifche überſetzte „Zauberflöte“. Ueberall hat Kuhlau die Intentionen der Dichtung ausgeführt, angemefjen, äußerſt gewandt, oft in wirklich reiz- voller Art; aber jein Verhältniß zur Sade bleibt doch ein äußerliche8, eine Verdolmetſchung, feine Wiedergeburt. Da der romantifhe Ton von Anfang bis zu Ende viel ſtärker durdklingt, alg in der zehn Jahre älteren „Räuberburg“, er: flärt fich leicht. Inzwiſchen war Spohr mit „Fauft“ und „Zemire”, und war Weber mit dem „Freifhüg” und der „Preciofa” aufgetreten. Kuhlau, wenn ihm aud im „Frei— ſchütz“ Manches nicht behagte, ging doch mit feiner Zeit. Und dieje Anſchmiegſamkeit machte ihn endlich auch auf dem Gebiete des Wolfsliedes noch zu einem verdienftlichen Vermittler und Förderer. Er ſchrieb 1828 zu J. L. Heiberg's Schaufpiel „Erlenhügel” Duverture und Gejänge und benußgte dazu fait ausschließlich Nationalmelodien. Hier hat er fi an eine Auf: gabe gemacht, für welche jein anempfindendes Talent wie ge- ichaffen war, und fie in vollendeter Meije gelöft. Die Wirkung, welche diejes Werk, das bis heute zu den beliebteiten gehört, auf das dänifhe Volf ausgeübt hat, wird nicht leicht über: jchägt werden können, und Kuhlau mit dem „Erlenhügel“ gewiß noch lange unter den Dänen fortleben.

Weyſe, Kuhlau's um zwölf Jahre älterer Freund, entbehrt der beitechenden Eigenfchaften, die Jenen auszeichneten. ch möchte indefjen vermuthen, daß er tiefer und nachhaltiger ge wirft hat. Getragen von der Woge nationaler Dihtung wurde aud er; Oehlenſchläger und Boye haben ihm lebendige und ftimmungsvolle Opernbücher gegeben, zahlreiche Lieder der beiten dänischen Dichter hat er mit Mufif verjehen. Im Vergleich zu Kublau hat er etwas Altmodiges, aber die größere Urſprünglich— feit iit bei ihm. Moſcheles meinte, allein durch feine Clavier: ftüde Op. 8 habe fih Weyſe einen Pla unter den erſten

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lebenden Claviercomponiſten geſichert; Schumann, der noch im Jahre 1836 nur dies eine Werk von ihm kannte, bewunderte den Phantaſiereichthum und die markige Geſtaltung dieſes „Original— geiſtes, wie wir nicht viele aufzeigen können“, und möchte Männer wie ihn „am liebſten jenen einſamen Leuchtthürmen vergleichen, die über das Ufer der Welt hinausragen.“ Ueber den Claviercomponiſten Kuhlau iſt wohl niemals ein ſolches Urtheil vernommen worden. In Weyſe's Geſängen begegnen uns, ſchärfer ausgeprägt, gewiſſe Züge, die ſchon im „Holger Danske“ auffallen: eine zarte, knoſpenhafte Empfindung, um die aber eine ganz eigene Helle und Klarheit ſchwebt, wie in Oehlenſchläger's Vaarsang (Frühlingslied): „Endelig revned de hengende Skyer*“ und wiederum ein düjterer, alterthüm- (iher Balladenton, wie im Gejang Abelone's „Det blanke Sverd paa Veggen hang“ aus der Oper Sovedrikken (Der Schlaftrunk), in Goethe’3 „Erlkönig” und in Dehlenjchläger's Uebertragung des „Königs in Thule”. Den Elfengefängen in jeiner Oper „Floribella” liegt ein tieferes Gefühl für das Charafteriftiihe zu Grunde, als es Kuhlau bejaß. Der ernite Sinn des Mannes offenbart ſich auch in jeiner Pflege der Chor: und Kirchenmufif. Mit der Sammlung von zweimal fünfzig „Alten Heldenliedern“ (Gamle Kaempevise-Melodier), welche er mit Clavierbegleitung verfahb und am Ende feines Lebens herausgab, hat er jeinem Volke ein edles Geſchenk hinterlaffen. Mir it nicht befannt, daß Gade mit Kuhlau in Berührung ge- fommen iſt; e8 hätte dies nur in feiner frühen Jugend gejchehen fönnen, da Kuhlau ſchon 1832 ſtarb. Wohl aber beitanden Beziehungen zwiſchen ihm und Weyſe, und dies fann man nur natürlich finden, denn der alte Meilter war wohl geeignet, die Flamme nationalen Kunjtgefühls in dem Jüngling zu nähren.

In der jlandinavifchen Welt fand die deutfche romantische Oper ein Verjtändniß, deifen Innigkeit und Tiefe unjerm eigenen faum nachſteht, und einzelnen Werfen gegenüber fih jogar dauerhafter gezeigt hat, als bei uns jelbit. Der phantaftische

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Bug, welcher bald aus fernen Ländern und Bölfern fich die Stoffe holt, bald in der geheimnißvollen Sagenwelt des ger- manifchen Volfslebens Einkehr hält, der Drang, fremdländijcher bisher übermächtiger Muſik die nationale Weiſe entgegenzufegen, die Schägung des Volksliedes als des gedrängteiten Ausdruds derjelben, die Sehnſucht, das germanifche Naturgefühl in einer vollgenügenden muſikaliſchen Sprache zu erfättigen aus all diefem hatte ja unjere romantifche Oper ihre wejentlichen Merk— male gewonnen. Den itammverwandten Skandinaviern Fangen bei ihren Tönen tiefinnere Saiten des Gemüthes mit, und das Gefühl für die nationale Eigenart, das wir erjt wieder in ung großziehen mußten, hatten fie fich immer gewahrt gehabt. Kein Wunder, daß in Dänemark Weber’3 Opern wie Blige zündeten und ihren Inhalt durch alle Adern des Volfslebens ergoſſen bis in feine unterjten Schichten hinein. Ein bedeutſames Beifpiel: die Zigeunermufif in der achten Scene des zweiten Actes der „Preciofa‘ it auf Yangeland und in Jütland ein allgemein beliebter Bauern- tanz geworden, und ſelbſt der vortreffliche Berggreen jcheint fich feines Urjprungs nicht mehr erinnert zu haben, als er ihn in die große Sammlung feiner dänischen Volkslieder und Volfs- tänze aufnahın (Nr. 270). Kaum weniger ſtark ſchlug Marjchner duch, als er 1836 den „Sans Heiling“ in Kopenhagen jelbit zur Aufführung bradte; die dänischen Studenten feierten ihn mit einem von Dehlenfchläger verfaßten Gedichte, und nicht lange hernach wurden Verhandlungen angefnüpft, ihn als Gapellmeifter zu gewinnen, die, wenn fie Erfolg gehabt hätten, ihn vielleicht zu einem neuen Auffhmwung als Componift g% fräftigt haben würden. „Hans Heiling“ gehört und hierin bejhämen uns die Dänen bis heute zu ihren beliebtejten Opern. Aber aud das „Schloß am Netna” und den „Templer und die Jüdin“ haben fie ſich angeeignet. Mit geringerer Kraft bat Spohr gewirkt und, wie mir fcheint, mehr als Inftrumental- componiſt; als foldher hat er freilich leicht erkennbare Spuren bei den dänischen Gomponijten zurüdgelafjen, und hierzu mag die

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verwandte Stimmung niederſächſiſchen Weſens wieder das Jhrige beigetragen haben.

Aber auch nah dem Eintritt diejes neuen jtarfen Stromes deutfcher Mufif in das Culturleben der Dänen wurde die Ein: heitlichfeit desjelben nicht gejprengt. Der Nationalgeift war mächtig genug, die fremden Elemente aufzufaugen. Ein neuer Bunft wird nunmehr Kar, in dem fie ſich uns überlegen zeigen. Die Pflege des Volksthümlich-Eigenartigen ift bei ung mit mehr oder weniger Bewußtheit von den größten neueren Componijten unternommen worden; das Gelingen verdanken fie der Kraft ihres Genies. Aber auf ein ficherites Hülfsmittel, zum Ziele zu fommen, mußten fie faft ganz verzichten: der Quell des Volksliedes floß für fie ſpärlich. Wohl befaßen einft die Deutfchen einen überreihen Schat von Vollsgejängen, und die Muſik des 15. und 16. Jahrhunderts zeigt, wie er der höheren Kunſt zu Gute gekommen ift. Aber die Verbindung mit jenen Zeiten hatte der dreißigjährige Krieg zerfchnitten. Nach ihm ver: jtummt der weltliche Volksgeſang auf hundert Jahre fait gänz- lich; nur das kirchliche Volkslied blüht bejcheiden noch eine Weile fort, wie es denn auch die evangelifche Kirche war, in deren Schuße ältere Geſänge fich erhielten. Von den weltlichen Liedern aber, die heute im Munde des Volkes leben, find auch die ältejten kaum viel über Hundert Jahre alt. Wie fo vieles Andere, mußten wir uns auch das Volkslied neu ſchaffen. Die Skandinavier haben einen ſolchen Zuftand nicht gefannt. Sie haben im breißigjährigen Kriege erfolgreih geholfen, unfere Eultur zu zertreten, aber ihnen jelbft ift eine Krifis, die bis an den Rand der Vernichtung führte, erfpart worden. Eine Lieder- fülle von unvergleihliher Schönheit und Eigenthümlichkeit ift ihnen aus alten Zeiten lebendig geblieben. Seit fie ſich des Merthes desfelben wieder voll bewußt geworden find, was am Anfange unjeres Jahrhunderts gejhah, war es unmöglich, daß diefe Gejänge auf den Mufikfinn der Allgemeinheit und auf bie Erfindungsfraft ihrer Componijten für die Dauer ohne Einfluß

Philipp Spitta, Zur Mufit. 24

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blieben. In ihnen bejaßen fie eine Wünfchelruthe, welche fie auf den Schatz der in ihrem Volke verborgen ruhenden Kunit: kraft hinwies; fie brauchten fie nur verftändnißvoll zu handhaben, um den Schatz zu heben.

Wenn ich recht beobadhtet habe, macht ſich heute bei uns eine Anſchauung geltend, als ob Gabe ein mufifalifch ausnahms: weife veranlagter Däne geweſen fei, der ſich nach deutjchen gleichzeitigen Muftern gebildet, und was er von diefen gelernt, feinen Landsleuten mundgereht gemacht habe. Ich glaubte deshalb, die geihichtlihen Hauptſachen hier furz andeuten zu dürfen, weil aus ihnen von jelbjt hervorgeht, daß die Lage der Dinge eine andere ift. Nicht um eine fimple Danifirung deutſcher Muſik handelt es jih, ſondern um eine von langer Hand her vorbereitete Mifchung, zu melder das dänifche Volk feinen wahrlich nicht werthlojen Theil beigetragen hat. Gade's Mufif erwuhs aus einem Boden, der durch zahlloje Keime altadelig deutſcher Kunſt befruchtet, aber in einer Luft, die durch den Sonnenſchein nationaler Poeſie erwärmt und mit den Klängen heimathlicher Urweiſen gejättigt war. Daß unter ſolchen Be: dingungen etwas ganz Neues entftehen kann, wird Niemand leugnen, der ähnliche Vorgänge in der Kunjtgefchichte zu be: obachten im Stande war. Dies Neue briht auch bei den Dänen nicht mit überrajchender Plöglichfeit hervor, es kündigt fih für den, der aufmerkſam laufcht, jchon lange vorher an. Merfwürdig ift, daß der Entwidlungslauf fi Generationen hin- durh auf Baare von Künftlern fügt. Wie Schulz und Kunzen, wie Weyfe und Kublau zufammengehören, jo %. P. E, Hartmann und Gabe.

Der verehrungswürdige Neltor der dänifhen Muſiker das iſt der 1805 geborene Hartmann längit führt jeinen Stammbaum zwar auch auf deutſche Ahnen zurüd. Aber die Familie ift Schon im vorigen Jahrhundert aus Schleſien ein: gewandert. Berggreen bat in feinen „Däniſchen Volksliedern“ dem Begründer der dänifchen Linie ein Feines finniges Denkmal

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gejeßt: hinter „Liden Gunver“ von oh. Ewald (Nr. 17), einem Liede, das mit Schiörring's Melodie in den Volksmund übergegangen ift, findet fich die Bemerkung: „barmonifirt nad) oh. Hartmann, geb. 1726, geit. 1793.“ Eine ähnliche Be- merfung findet fih in der Sammlung nur noch einmal: bei Tordenskjolds Vise (Nr. 61) lieft man am Ende der Begleitung „Niels W. Gade.“ So ericheinen die beiden durd die Kunft und durch ein FFamilienband verfnüpften Namen aud in diejem monumentalen Werke däniſcher Volksmuſik vereinigt. Hart— mann's Werke find in Deutſchland wenig befannt, und Die Frage wäre bier wohl aufzuwerfen, ob wir nicht die Pflicht hätten, etwas jchärfere Ausfhau zu halten nad dem, was jenfeitS des baltifchen Meeres vorgeht, anitatt jelbitgenügjam uns höchſtens das gefallen zu laſſen, was man ung von dort ind Land trägt. In Dänemark fteht I. P. E. Hartmann in hohem und, wie mir fcheint, wohlverdientem Anſehen; er wird in mandem Belang faum viel geringer geſchätzt als Gade. Die jtärfere muſikaliſche Naturfraft wohnt wohl jicherlich dem Yegteren bei, aber fie ergänzen ſich merkwürdig genau, indem Hartmann bejonders in ſolchen Gattungen hervorragt, die jein Schwieger: john unangerührt gelaffen hat oder in denen er weniger erfolg: reih war: in der Oper und der Claviercompofition.

Dan muß alfo, wenn man Gade's Eigenthümlichfeit ge: reht werden will, hauptſächlich zwei Dinge ind Auge fallen: den poetiihen Bannkreis, in welchem feine Phantafie lebt, und jeine am ſkandinaviſchen Volkslied genährte Melodik. Nicht aber darf man, wie es bei uns jo viel gejchieht, von ſeinem vor: handenen oder eingebildeten Verhältniß zu Mendelsjohn aus: gehen. Natürlich hat er in Leipzig unter defjen perjönlichem Zauber geftanden, was fih an manden formellen Aehnlichkeiten und Anklängen feiner dort gejchaffenen Compofitionen zeigt, und hat fih auch vorher ſchon dem Eindrud nicht widerjegt, den Werke wie die Duverturen „Sommernadtstraum“, „Hebriden”,

„Melufine“ auf einen nordifchen Tonfeger machen mußten. 24°

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Aber jo neu dieſe Werke mit Recht erſcheinen konnten, man darf doch nicht vergeſſen, daß Gade die Hauptanregungen, die ſie ihm etwa gewährten, aus anderer und unvermittelterer Quelle beziehen konnte. Mendelsſohn wurzelt mit einem wichtigen Theile feines Weſens in Weber; gedenken wir daran, daß jelbit für die poetifirende Concertouverture ſchon ein Vorbild in der Duverture zum „Beherrfcher der Geifter” daftand. Außerdem aber bejaß er einen an unferen Claſſikern erzogenen Formſinn und in der genialen Verbindung von romantischer Vhantafiefülle und claffifcher Zucht beruht feine Größe al3 Inſtrumentalcom— ponift. Gade ift niemals formlos, davor bewahrt ihn jeine grundmufitaliihe Natur. Es foll auch nicht geleugnet werden, daß gewiſſe Eigenthümlichkeiten Mendelsſohn's, die z. B. in ber Verfettung der Perioden hervortreten, jchon in jeinen früheren Werten bemerkbar find. Aber im Grunde ift feine Formbildung in den maßgebenden Compofitionen eine ganz andere, und vollends verichieden jind in dieſen feine Tongedanfen.

Gade's erites veröffentliches Werk ift die Duverture „Nad)- länge von Oſſian“; fie wurde 1841 unter Spohr's Mitwirkung mit einem Preiſe des Kopenhagener Mufitvereins gekrönt. Nach einem mir vorliegenden Briefe des Componiſten ijt fie jchon 1840 gefchrieben, und es verlohnt fich wohl, das kunſtgeſchichliche Datum bier feitzuftellen. Mit dreiundzwanzig Jahren ift er als eine fertige Berjönlichkeit innerhalb der erjtaunten Kunjtwelt aufgegangen. Bon jeinen früheren Contpofitionen hat er nichts befannt werben lafjen; Schumann erzählt nad) eigenen Aeuße— rungen, „ed wären zum Theil Ausbrüche einer fürdhterlichen Phantafie gewefen”. Wären fie uns zugänglih, jo würde fi ficherlih herausftellen, daß diefe „Ausbrüche” zumeift aus einem Ueberſchuß poetifcher Einbildungsfraft entitanden. Ein jolder lag im Weſen feines Volls und feiner Zeit. „Ihn erjogen die Dichter feines Vaterlandes”, jagt Schumann; „er kennt und liebt fie alle; die alten Märchen und Sagen begleiteten ihn auf feinen Anabenwanderungen, und von Englands Küjte

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ragte Oſſian's Riejfenharfe herüber“. Dieje Worte treffen ins Schwarze, und noch in ganz anderer Weiſe, ala es etwa auf Schumann felbit paßte, wurde Gade von den Dichtern feines Vaterlandes erzogen; wer meinen Ausführungen bis hierher ge- folgt ift, weiß, wie er den Sat zu verftehen hat. Der Titel jeines eriten Werkes verräth, daß Geitalten und Scenen aus gälifher Vorzeit feine Phantafie in Bei genommen hatten, denen er ohne Mitwirkung des Gefanges mufifalifche Form zu geben ſuchte. Nicht, daß er dies überhaupt unternahm, jondern wie er es ausführte, ift nun das Bezeichnende.

Unjere claſſiſchen Inſtrumentalformen furz gejagt aljo, Duverture und Sinfonie, denn in Sonaten, Duartetten und der- gleihen wird der Bau der Einfonie nur durch andere Organe dargeftellt beruhen auf der harmonisch modulatorifch geregelten Entwidlung gewiffer Hauptgedanfen, die unter einander in einem fich gegenjäglich ergänzenden Verhältniß ftehen. Hierdurch it der Charakter jener Gedanken bedingt. Sie dürfen nicht fo geartet fein, daß fie die Idee des Componiften auf einmal voll- ftändig aussprechen, jondern man muß ihnen anhören, daß ihr Gehalt nur dur die Mittel mufifaliicher Fortſpinnung und überhaupt im Berlaufe eines größeren Ganzen voll zur Er- Iheinung gebradht wird. Gejangsmelodien werden daher, wenn es nicht eben die Heritellung eines vorübergehenden ftarfen Gegenjages gilt, nur ausnahmsweiſe zu gebrauchen jein, am wenigiten liedartige, denn in ihrem Weſen liegt e8, eine Em- pfindung in eine fnappe Form abjchließend zufammenzufaffen. Sind die geeigneten Gedanken gefunden, fo ift eine zweite Forde— rung die lücenlofe, niet und nagelfefte Verfnüpfung der einzelnen aus ihnen gewonnenen Tongruppen vermöge rein muſikaliſcher Mittel. Die Werke unferer großen Inftrumentalmeijter bieten die Belege zu dieſer Theorie haufenmweife, und feiner jchlagendere als Beethoven. Auch Mendelsfohn fucht ihr nachzuleben. Mit Gade verhält es ſich anders. Natürlich will er Einheiten ſchaffen, fucht aber jein Ziel mehr durch eine jehr ftarfe poetifche Grund-

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ſtimmung zu erreihen. Er erfindet Gebanfen von ausgedrüdte- ſtem Charakter, aber dieſe find in fich fertig, lafjen ohne Ber- flüchtigung ihres Gehalts feine Entwidelung zu, oder bedürfen wenigitens deren nicht. Eben ihrer innerlichen Geſchloſſenheit wegen rufen fie num die Vorftellung von Geſangs- oder Tanz: melodien hervor, wo aber Gejang ilt, da ift Poelie, und wo Tanz, da bewegen ſich Menfchengeitalten. Die poetiſchen Bor- jtellungen, welche Mendelsſohn's Mufif erregt, find viel elemen— tarerer Art, weil er fich ftrenger an die rein muſikaliſchen Ge- jege bindet. Sollte nad) einem Vorbilde für Gade gejucht werden, jo müßte es viel mehr Weber fein. Wäre es möglich, fih die feinen Duverturen nachfolgenden Opern fortzubenten, jo würde man von jenen einen ganz ähnlichen Eindrud empfangen, wie ihn 3. B. die „Nachklänge von Oſſian“ oder die Duverture „Sm Hochland” hinterlaffen, ähnlich, meine ich, in der bilder: erzeugenden Kraft; denn auch bei Weber treten melodijche Ge- ftalten, die ſchärfſten Charakter mit erjchöpfendem Ausdrud ver: einigen, zu einer Neihe zufammen. Bei Weber wie bei Gabe jtehen die fogenannten Durführungsabjchnitte meist an muſika— liſchem Werthe zurüd, weil die Gedanken eine Durchführung verwehren oder entbehrlich machen. Dagegen macht Weber, der Dramatifer, die Gegenjäge fchärfer ; der eine treibt den anderen hervor; dadurd) wird die Bewegung des Ganzen feuriger, denn Kampf ift Leben; dadurd wird auch der Hörer über Fleine Un- ebenheiten der Zufammenfügungen unmerflicher hinweggerifjen. Gade ijt der Gefahr der Zerbrödelung jpäter dadurd begegnet, daß er fich der Geſtaltungsweiſe Beethoven’s jo weit annäherte, als es jeine Natur zuließ.

Wenn ich oben jagte, daß die jfandinaviichen Volksmelodien die Erfindungsfraft der Componiften nothwendig hätten beein: fluffen müfjen, jo ift es natürlich nicht jo zu veritehen, als ob diefe jih getrieben gefühlt hätten, fie nadhzubilden, wie man Muster nachzeihnet. Auf joldem Wege jegen fih Kumnftentwid- lungen nicht fort, Weber jchrieb volksthümlich fait ohne vor-

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bildliche Volksmelodien, weil er die Gabe bejaß, die Form jener Weiſen vorauszufühlen, die dem Bolfe als adäquater Ausdrud jeiner Empfindung im Xiede erjcheinen mußte. Der Künitler joll die Seele feines Volkes kennen, wenn er will, daß es ihn versteht. Aber ihm dies Verftändniß zu erjchließen, dazu iſt freilih das Vorhandenfein einer Volksmuſik das ſicherſte Mittel. Die Melodien der Skandinavier find von befonders fremdartigem Reize, tief, ſchwermüthig, fehnjuchtsvoll, aber ohne die dem neueren deutſchen Wolfsliede manchmal eigene Empfindjamfeit, auch wohl derb-luftig, aber jelbit jo durch ein gewiſſes jchweres Weſen von der leichten Fröhlichkeit ſüdlicher Völker gründlich unterfchieden. Die Moll: Melodien find im Uebergewicht, in: deſſen ift die Eintheilung nad) unjeren zwei Tonarten nicht durchaus zuläſſig, da mande in feine derjelben paſſen würde. Das Gefühl für die Entfaltung von KHarmonien aus einem Grundklange heraus und für die daraus fließenden Geſetze auch hinſichtlich der melodiſchen Fortichreitungen hat fich erit in den legten Sahrhunderten voll entwidelt, über welche die jchönften der Melodien ficherlich weit zurüdreihen. Daraus erklärt fi aud eine fremdartige Verwendung oder Umgehung der joge- nannten Leitetöne, erflären jich ſprungweiſe Tonfortichreitungen, namentlich nach abwärts, welche den hinzuzudenkenden Harmo— nien zu widerftreiten jcheinen, oder umgekehrt ſprungweiſe Be- wegungen durch die Töne eines Accordes, die durd eine harmo- niefremde Tonftufe unterbrochen werden, und ein Aufbau der Melodie, den wir uns nur durch Verjchiebung der harmonijchen Grundjäulen erklären fönnten. Während ſich jonft Volksmelo— dien gern in einem mäßigen Tonumfange bewegen, jchwingen ih die jfandinavifchen oft in weitem Bogen auf und nieder, beſonders macht das jchnelle Aufitreben glei am Anfange, welches manden der jchönjten Melodien eigen ift, den ergreifen: den Eindrud gewaltiger Sehnfuht. Die jchwediichen Lieder vom Nöffen und „Vermelands pris“, die auch bei und ziemlich befannt geworden find, haben ſolche Melodien. Auch gewiſſe

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häufig wiederkehrende Schlußfälle, und eine Gliederung, die durch das beliebte Abwechjeln zwiſchen Vorfänger und Chor bedingt it, dienen zur Feitftellung des Charakters. Vergleicht man num mit ihnen Gade's Melodien, fo findet man leicht übereinjtim- mende Züge. Auch jtärfere Anklänge an ganz beftimmte Melo- dien fommen vor, jo treffen die Hauptmelodie der Oſſian— Dwverture und das Lied vom Ritter Ramund (Berggreen I, 89) in ihren Anfängen fajt ganz überein. Aber jchwerlich ift dies dem Gomponiften zum Bewußtſein gefommen; er hatte jene Melodienwelt ganz in fi aufgenommen, und was er jelbit ſchuf, trug die Spuren ihres Wefens. Im Allgemeinen läßt fih wohl beobachten, daß ihm die düſtere Mächtigkeit nordiſchen Sanges weniger gemäß war, als jene ernjte Lieblichfeit der Weiſen, welche zu der Natur feiner dänischen Heimath paßt. Jenen bat er mehr nur in feinen frühen Werfen angeftimmt, diefer ift er fein Leben lang treu geblieben. Eine befondere Art dänischer Melodie, die Schon in der Mufif zu „Holger Dansfe“ zu treiben anfängt, in Weyſe's Gefängen und manchen jeden- fall3 neueren Volksliedern als Knofpe erfcheint, ift bei Gade aufgeblüht. Etwas Zartes, Duftiges und doch Friſches; be- thaute Rofen möchte man diefe jungfräulic ſchlanken Melodien nennen. Ich bezeichne die Art als dänifch, denn unter den gleich- zeitigen ſchwediſchen Melodien, auch den jchöniten Liedern von Lindblad, habe ich fie nicht gefunden. Jeder Kenner Gade’jcher Mufif wird ihren Zauber an fi erfahren haben; gleih in feinem erjten Werke, der Oſſian-Ouverture, ift die zweite Haupt- melodie von diefer Art; Niemand vergißt fie wieder, der fie einmal in fich aufgenommen hat. Im dritten Sage der eriten Sinfonie, im Mittelfage der erjten Biolinjonate, im zweiten Sate des E-moll-QDuintett3 begegnet man ähnlichen Geftalten und noch jehr oft fonit.

Gade iſt geborener Orcheſter Componiſt. Unter jeinen zwanzig erſten Werfen find vier Sinfonien und drei Ouverturen. Mendelsjohn war bis zum jechsundfünfzigiten Werke gelangt,

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als,er feine zweite, Schumann bis zum adhtunddreißigiten, als er feine erite Sinfonie veröffentlichte. Nächſt der Offian-Duver- ture ift es zumeiſt die erſte Sinfonie gewejen, welche die Augen der Welt auf Gabe lenkte, und Mendelsſohn's begeijterte Theil: nahme für fie zog ihn in den Kreis der Leipziger Künftler. In diefer und der unmittelbar nad) ihr gejchriebenen zweiten Sin: fonie, und in den beiden Ouverturen „Oſſian“ und „Jm Hoch— land“ tritt die oben befchriebene Art feiner Formgebung am ficht- barſten zu Tage. Den erſten Sat der eriten Sinfonie dürfte man bei ftrengen Anjprüchen faum einen ſolchen nennen; er ift viel- mehr ein mufifalifches Gemälde in finfonifhem Rahmen, und es zeugt für die Genialität der Erfindung und die Kraft der poe- tiihen Stimmung, dab die Hörer damals wie heute darüber hinweg famen. ch weiß nicht, ob man es jchon bemerkt hat, daß der Hauptgedanke, der eigentlih nur ein rhythmiſches Ge- bilde it, jeine Wurzel in dem Kampfchor aus dem dritten Act von Webers „Euryanthe“ (Nr. 24) zu haben jcheint. Dort aber bligen die Schwerter glängender franzöfifcher Ritter, bier jtürmen Nordlands - Reden unter Heerhörnerſchall und Schild— gekrach gegeneinander. Wie in beabfichtigtem Gegenjag führt die zweite Sinfonie vorwiegend heitere Bilder vorüber, der Charakter des nordiſchen Volkstanzes beherricht fie, fie ift in dieſer Eigen- ſchaft eine völlig neue Erſcheinung in der Welt der Sinfonien. Wogen von Poeſie jchlagen uns aus den beiden Duverturen ent: gegen. Im „Oſſian“ Bardengejang und Harfenklang, ein Ein: zelner anftimmend, antwortend ein mächtiger Chor, darüberher Kampfgetümmel, und dann die ſüße Stimme Colma's, „da fie auf dem Hügel allein jaß”. Die „Hochland“ - Duverture ift ein Stüd voll wunderbarer Morgenfriihe und von einem hin- reißenden Schwung, wie er jeit Weber feinem Componiften mehr geglüdt iſt.

Der Leipziger Einfluß madt fih am ſtärkſten in der dritten Sinfonie geltend, im fördernden Sinn und auch im nachtheiligen. Im eriten Sage, der für das ganze Werf jedesmal den Charakter

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fejtftellt, it Gabe den claffiihen Vorbildern am nächſten ge- fommen, ohne von der Grundeigenthümlichkeit ſeines Weſens ein Erheblihes zu opfern, welche im dritten Sage in ihrem berüdendften unvergleichlichen Reize ericheint. Aber im zweiten zeigt die fein und geiſtreich geſponnene Melodie eine gewiſſe Bläſſe und im legten begegnen auffälligere Anklänge an Mendels— john. Es iſt offenbar, daß feine Entwidlung bier eine Krifis durchzumachen hatte Wie er fie überitand, lehrt die vierte Sinfonie: in ihr ijt der Gomponift ganz; wieder er ſelbſt ge— worden und bat zugleih die Wortheile einer mufifalifch ge: ichlofjeneren Form zu benugen gelernt. Ungeſchädigt fügte fich jeine Natur ihr nur dann, wenn ihr Ausmaß fein zu weites war. Die Kürze der Sätze, durch welche diefe Sinfonie auffällt, kehrt auch in der wenn jchon nicht ganz gleichwerthigen jechsten wieder. Sie trägt viel dazu bei, den Werfen einen zierlichen und jchmuden Charakter zu geben. Aber in diefem Charakter offenbart ji eben ein Grundzug des Gade'ſchen Wefens, der im Verlauf feines Lebens immer berrfchender wird; den düſteren Kordlandston feiner Jugend hat er jpäter nur noch einmal wieder angejchlagen, in feiner ſchönen achten und legten Sin: fonie, und bier den Troß mehr zur Schwermuth hinüberge- ſtimmt. Auch der Ernit erjcheint bei ihm mit der Miene milder Schönheit, wahrhaft groß und hoheitävoll in der Duverture, die er „Michel Angelo” benannt hat; eine andere, für welche Hamlet den poetifchen Hintergrund bildet, läßt ſich weniger auf den grübleriihen Sinn des Dänenprinzen ein, als auf bie ſchaurige Majeität der Erjcheinung des mahnenden Geiftes und die holde Geftalt der Ophelia.

Wie viel zur Erzielung einer poetiſchen Stimmung die Klangfarbe beiträgt, ift bekannt. Gade iſt eine Flangjelige Natur. Er veriteht ſchon in feinen früheiten Werfen coloriftifche Wirkungen mit erftaunlicher Meifterfchaft hervorzubringen. Wohl iit er hierfür bei unferen Romantifern in die Schule gegangen, aber eigene geniale Begabung bat ihre Anregungen fruchtbar

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werden lafjen. Anfänglic hat jeine Anjtrumentation manchmal etwas Dröhnendes, als hörte man das muchtige Stapfen nordijcher Kämpen. Aber bald lernt er Maß halten und eine zauberifche Farbenpradht aleihmäßig über jeine Geftalten aus: breiten. Sein Colorit hat etwas Gedämpftes; er iſt Meiiter des Helldunfel® und zart in einander verfließender Farbentöne. Daß fih auch hierin ein localer Charakter ausprägt, wird hand— greiflih, wenn man fih einmal das Vergnügen macht, die „Oſſian“-Ouverture etwa mit Roſſini's Duverture zu „Wilhelm Tell” zu vergleihen: bier überall grell nebeneinander aufge: tragene Grundfarben und das durchdringendfte jüdliche Licht über das Ganze gegofjen, dort die verjchleiernde Dämmerung der Mittiommernadt. Dft findet man bei Gabe Stellen, an denen es zuerjt laut und lebhaft hergeht, aber ehe man es ver: muthet, iſt Alles in ein leijes Tönen zurüdgefunfen; die Be- wegungen werden undeutlih und ſeltſam verzogen, Schatten icheinen jih zu jpreiten, und Nebel Meer und Land zu über: ziehen Stellen, die nur bei ihm und nad) ihm bei der jung: nordiſchen Schule vorkommen. Es iſt erftaunlich, wie ihm bier die Inſtrumente ihre inneriten Geheimniffe verrathen zu haben iheinen. Ganz neu ift oft feine Verwendung des Hornklanges, namentlih in den tieferen Tongebieten. Am Ausgange des zweiten Sates der vierten Sinfonie ift eine Stelle, die vermöge dieſes Mitteld eine Stimmung ausftrönt, wie purpurne Abend- wolfen über der verdunfelnden See. Nächſt der Orcheſtercompoſition ruht Gade's Stärke in der Kammermuſik, und hier darf man wieder ſondern zwiſchen Werken, welche dem Clavier beſtimmt ſind oder es doch zur Mit— wirkung heranziehen, und ſolchen, die nur durch Saiteninſtru— mente dargeſtellt werben ſollen. Gade's Clavierſtil iſt äußerſt wohlklingend und nach den beſten Muſtern ſeiner Zeit gebildet; er war auch ſelbſt ein ſattelfeſter Spieler des Claviers und der Orgel. Ein ſtarker innerer Zug zu dieſem Inſtrumente lebte wohl nicht in ihm, viel ſympathiſcher und vertrauter war ihm die

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Geige, und jo jind auch jeine Werke für Streichinftrumente offen- bar mit größerer Hingabe gejchrieben. Aber jeine Elangdurftige Natur verlangte nach übergemöhnlich reichen Mitteln: acht, jechs, fünf Inſtrumenten; bei der claffifshen Zufammenjtellung des Quartetts ijt er erjt in jpäten Jahren angelangt. So fah er fih leichter im Stande, von den geliebten DOrcheiterwirfungen Manches auf die Kammermufif zu übertragen. Ein ficherer Takt für das Angemefjene ſchützte ihn davor, nach diefer Seite zu weit zu gehen; er erfannte auch bald, daß die Idee jeiner Orcefterformen bier nicht am Plage ſei. Es liegt über diejen Merfen der Glanz romantiſcher Poefie, aber der Componiſt hat fih doch auch tief auf das eigentlich mufifalifche Urleben einge- lafjen. Nur ein frühes Werk, die erfte Violinjonate, trägt noch mehr malerifche und nur Elanggebende Elemente in fi, als ſich mit dem Stil der Gattung verträgt, jo beftridend auch zum Theil ihr melodifcher Zauber ift.

Der oberflählihen Betrachtung Fönnte verwunderlich er- fcheinen, daß der Sohn eines Volkes mit jo reihem Liederfchag fih nicht felbit als Liedcomponift hervorgethan hat. Gabe’s Gejänge mit Clavier machen einen Eindrud, wie den einer nicht ganz flüſſig gewordenen Handſchrift. Das durh Mendelsjohn ung zurüdgewonnene unbegleitete Chorlied bat er nur mit einigen Eoftbaren Perlen bereichert; jeine frifchen Männerchöre find gewiß in Skandinavien weit verbreitet, bei uns haben fie nicht recht Wurzel faffen wollen; aber diefe Gattung jcheint für ein jo großes Talent auch nur einer beiläufigen Berück— fihtigung werth. Was man vor Allem von ihm erwarten konnte, war Balladencompofition. In der That bat er fich ihrer be- fliffen, nur nicht in der Weife, die uns durch Löwe vertraut geworden it. Bei der großen Erpanfivfraft, welche Gade's muſikaliſchen Stimmungen eigen it, mochten ihm eine Sing- ftimme und Glavier zu dürftige Mittel erjcheinen. Er brauchte Solojtimmen, Chor und Orcheſter. Schon Löwe hatte in ver- einzelten Fällen zu ihnen gegriffen, und damit offenbar gemacht,

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wie nahe die Idee der Ballade derjenigen des Dratoriums jteht. Mendelsjohn hatte mit der „Erjten Walpurgisnadht” den Weg erfolgreicher fortgejeßt, und aus derjelben Wurzel, nicht etwa al3 weltliher Nebenzweig des bisherigen Dratoriums, iſt Schumann’s „Paradies und Peri“ aufgewachſen. Gade hat in jeinen jpäteren Jahren eine Reihe ſolcher von Carl Anderfen gedichteter balladenartiger Werke gejchrieben: „Die Kreuzfahrer“, „Kalanus“, „Amor und Pſyche“. Das legte von ihnen war für das 1882 in Birmingham veranftaltete Mufikfeit beftimmt, und zu dem gleichen Zwede hatte er ſchon 1876 ein geiftliches Chorwerf „Zion“ geliefert, das man am richtigften vielleicht auch als Ballade bezeichnet. Es ijt das fein müßiges Spiel mit Eti- quetten, denn das Weſen der Ballade bedingt einen anderen Stil, al3 das Dratorium; man wird fich gegenwärtig halten dürfen, daß fie aus einem einftimmigen Gejangftüde mit Clavier hervorgegangen ift, und darnad) den Standpunkt der Beur— theilung für die Chorbehandlung und für das Verhältniß zwischen Chor und Solo ander8 nehmen. Mir jcheint, daß man über diefe Werke, in denen ein großes Talent jeine ganze Kraft zu: jammengenommen bat, bei uns zu jchnell zur Tagesordnung übergegangen ijt. Indeſſen darf man wohl zugejtehen, daß fie den vollen Reiz der früheren Compofitionen Gade's nicht mehr befigen. Unter jenen früheren find nun aber aud jchon zwei Balladen: „Comala” und „Erlfönigs Tochter”. „Comala“ führt uns wieder in die Oſſianiſche Welt, und ift etwa fünf Jahre ſpäter gejchaffen, al3 die Duverture. Der Tert ift nah Oſſian's Gedichten zufammengeftellt und ausgeführt. Bemerfenswerther Weiſe begegnet e8 Gade in jeinen Gejangswerfen manchmal, was in den Snftrumentalcompofitionen faft nie vorfommt, daß er in eine ans Weichliche grenzende Art verfällt; man denke an die „Fzrühlingsphantafie” und „Frühlingsbotichaft". Davon bat er fih auch hier nicht ganz frei gehalten. Set man ſich über ſolche Stellen hinweg, dann darf behauptet werden, daß „Somala” nicht minder ein Mufter der Gattung ijt, wie Mendels—

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ſohn's „Walpurgisnadt“. Die mit feinem Inſtinct georöneten Gegenfäge erhalten die Theilnahme jtet3 rege, die Erfindung it durchaus eigenthümlich, die Farbe von hinreißender Schönheit. Der Geſang der Geilter, welche auf den Schwingen des Sturmes daherziehen, um die Seelen der Gefallenen vom Schladhtfelde heimzuführen, ift von einer fchaurigen Gewalt, als ob die Natur jelbit ihre Stimme erhöbe. Als Comala auf dem Hügel nieder: figt, um Fingal's zu barren, ertönt der Anfang jener holden Melodie aus der Difian- Duverture. E3 war alſo feine will» fürlihe Deutung, wenn ich oben die Geftalt Colma’3 in dem Sinftrumentalwerf erkennen wollte. „Erlfönigs Tochter“ ift nabe an zehn Jahre fpäter componirt. Der Titel befagt: „Ballade nach dänischen Volksſagen“. Der Inhalt it im Wejentlichen der des bekannten Löwe'ſchen „Herrn Dluf”; doch find als Prolog einige frei umgeftaltete Strophen der Ballade „Elfenhöh“ vorangeſchickt, und als Epilog folgt die Schlußſtrophe ein glüdliher Gedanfe, der das Ganze verftändlichit in die Sphäre der Volfsphantafie rückt. Das Werk ift, wie es der Stoff mit ih bringt, weniger padend, aber die Bilder rollen fih in an- muthigem Wechfel ab; wiederum find die Naturjftimmungen: Oluf's nädtliher Ritt dur den mondbeglänzten Erlengrund und der Elfen bethörender Reigen, voll tiefer Poeſie des Klanges und der Melodien.

Auf die neuere Tonfunft Efandinaviens hat Gade nicht nur ſtark eingewirkt, er hat fie bejtimmt. Keines der jüngeren ihöpferifhen Talente ift ohne ihn denkbar. Hamerif, der jüngere Hartmann, die Norweger Spendfen und Grieg und wer in jüngjter Zeit ji dort noch hervorgethan hat, Alle laſſen jie auf den erjten Blid ihre Abkunft erfennen. Selten bat ein Componiſt in fol beherrichendem Maße Schule gemadt. Es jpriht für die dem germanischen Norden innewohnende Kraft, daß die jungnordiichen Talente eigene Wege einſchlagen wollen und ſich neue Ziele jteden. Noch in viel ergiebigerer Weiſe als Gade glauben fie die Schachte ihrer Volksmuſik ausichürfen zu

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fönnen, und träumen vielleicht gar von einer ganz neuen, aus- ichließlih auf nationales Vermögen gegründeten Kunft. Möchten fie bei ihrem theilnahmmürdigen Streben nur die Grundlagen nicht vergeffen, auf denen die höhere Tonkunft Skandinaviens bisher geruht hat, und daß dem Abrüden von ihnen zunächſt immer ein Zujanmenfturz folgen müßte Was Gade groß ge- macht hat, it, daß er die von Deutfchland und im weiteren Sinne aus der ganzen europäifchen Culturwelt nad) Dänemark jeit Jahrhunderten eingeitrömte Kunftmufit völlig mit nationaler Empfindung durchtränkte. Dadurch hat er es auch erreicht, daß er jelbit nicht nur feinem Vaterlande, fondern der Welt an: gehört. Er iſt der erjte dänische Componift, von dem dies ge: jagt werden fann. Er hat, wie vor ihm in anderer Meije Thorwaldien, jeinen Bla gefunden unter den erlauchten Geistern des Jahrhunderts.

Ede

Sohannes Brahms.

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Pbilivp Spitta, Zur Muſit.

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L

r fortzubewegen, darf man nicht darauf ſtehen,“ ſagt

a Robert Schumann einmal und will durch das Bild ver- finnlihen, daß der geftaltende Künftler ſich über den Zuftand innerer Erregung erheben müjje, der den Keim des Kunſtwerks in fih birgt. „Ein rafender Roland würde feinen dichten fönnen; ein liebendes Herz jagt es am wenigſten.“ Man denkt leicht an Schumann, wenn von Brahms die Rede fein joll. Ich übertrage, was er von der Kunjt gemeint hat, auf die Gefchichtswiffenjchaft. Werden und Wirkung von Gejchehniffen oder Perfönlichkeiten fann man nicht darjtellen, wenn man im Strome mitjchwimmt. Wer ſeit länger als dreißig Jahren jedem Schritt, den Brahms als Componiſt gemacht hat, mit lebhafter innerer Theilnahme gefolgt iſt, kann über diefe Schritte im Einzelnen genau unter: richtet fein. Er wird fi aber nit anmaßen dürfen, über den ganzen Mann etwas gejchichtlih Aufflärendes jagen zu wollen. Es iſt nicht überflüflig, diejes zu betonen. Die Entwidlungs- theorie ijt heute dergeitalt populär, dab Feine bedeutende Er: ſcheinung ſich mehr zeigen kann, ohne jofort viele Hände ge- ſchäftig zu machen, fie in den großen Zufammenhang der Dinge einzufügen, wie man zu jagen liebt. Da die Mitlebenden zu ſolchem Werf durchaus nicht berufen find, läuft e8 auf eine nuß- oje oder jchädliche Spielerei hinaus. Schädlich namentlich für die Kunſt. Der Künitler lebt für die Gegenwart, und der

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Tonkünjtler, deifen Werk mit der Minute verraufcht, thut es in doppeltem Sinn und Maß. Er will aus dem Augenblide heraus begriffen werden, in welchem er jein Werk der Welt erjcheinen läßt. Er will, daß man es nicht nur beziehungsweife genießt mit abjchweifendem Blid auf das, was neben oder hinter ihm jteht, jondern fo, als ob im Augenblide nichts außer ihm auf der Welt wäre. Wenn man beobachtet, wie heute die öffentliche Stimme neuen Runftwerken gegenüber ſich äußert, jo fragt man ſich, was an ihnen es denn iſt, das den Leuten Freude macht; oft ‚icheint es mehr bie vergleihende Abſchätzung zu fein, als der unbefangen hingenommene Eindrud. Brahms bat unter dieſem Gefhichts-Dilettantismus um jo mehr zu leiden gehabt, als die Eigenart feiner Kunft ihn ſtärker herauszufordern jcheint. Ein Andres ilt es, wenn man fi) bewußt zu werden jucht, wodurch die Eigenthümlichfeit des Eindruds bedingt fei, welchen ein Kunftwerf hervorruft. So lange nicht geleugnet wird, daß auch dieſes Letztere die äſthetiſche Erziehung fürdere, behält die vergleichende Thätigfeit ihre vertiefende und läuternde Be- deutung. Das Bild einer Künftlerperfönlichfeit mit Worten zeichnen, ijt vollends unmöglich, ohne befannte und vertraute GSeftalten erflärend heranzurüden. Aber die vorschnelle Werth: abſchätzung ift vom Uebel. Die Zeitgenoſſen eines großen Künftlers fönnen nichts thun, als jeine Individualität verjtehen lernen. Hierzu haben fie ein Necht und vor jich ſelbſt die Pflicht. Alles Weitere kann ihnen gleichgültig fein, fie mögen e8 der Nachwelt überlaffen. Diefe wird zu beurtheilen vermögen, wie weit des Künstlers Kraft fortzeugend ſich eritredt hat, und das allein ift die Frage, auf die e8 der Gefchichtsbetradhtung ankommt. Denn die Schönheit an ſich ift unendlich vielgeftaltig; in ihrem Bereiche gedeiht das Verſchiedenartigſte friedlih und harmoniſch neben und mit einander.

Ich nenne Brahms einen großen Künftler und behaupte, daß diefer Eindrud allgemein, wenn auch von Manchen mit Wider: jtreben, getheilt wird. Zu denen, die ftarfe äußere Aufregungen

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hervorrufen, gehört er nicht und bildet auch in diefem Punkt den graden Gegenjak zu Richard Wagner. Was bei feinem eriten Seraustreten weitere Kreiſe aufmerffam machte, war Neugier, die fih bald verlor. Da er dann Jahre bindurd) ſchwieg, wurde er fajt wieder vergeifen. In den jechziger Jahren wuchs die Zahl jeiner Verehrer langjam und ganz ftill. Er jelbft ſchien Alles zu vermeiden, was Aufjehen machen konnte. Keine Opern oder Oratorien, keine Sinfonien jchrieb er, ſondern Xieder, Kammermuſik und Serenaden. Er trat nicht perjönlich für jeine Werfe ein; waren fie veröffentlicht, fo überließ er fie gelaften ihrem Schidjal. Er ſtand nicht an der Spite weithin fichtbarer Kunftanitalten, er geizte nicht nach den Lorbeeren des Virtuojen. In jpäteren Jahren hat er fich der Welt gegenüber gelegentlich zu größerem Entgegentommen bequemt; im Wejent: lihen ift jein Verhalten das gleiche geblieben.

Schon feine früheiten Compofitionen zeigen den ganzen Mann. Er war zwanzig Jahre alt geworden, als er fie zu veröffentlichen begann. Die vorherliegende Zeit gehörte dem ftillen Reifwerden; viel äußere Anregungen waren nicht vorhanden, fein Heimaths- ort alles Andere eher, als eine Stätte höherer Mufikpflege. Er mußte das Beite aus fich felbit ziehen, war aber der Sohn eines Orceftermufiters und lernte früh erfahren, was Handwerk ift. In einigen Zügen ähnelt feine mufifalifche Jugend derjenigen Beethoven's.

Es iſt durchaus nicht zu ſagen, an welche Meiſter der jugendliche Componiſt ſich anſchließt. Alle Nachweiſe, die man verſucht hat, ſcheinen mir an Aeußerlichkeiten haften zu bleiben. Mit dem Hervorſuchen von Anklängen iſt es nicht gethan. Sie beweiſen bei dieſem Componiſten weniger, als bei andern, einen Mangel an Selbſtändigkeit; er iſt ihnen auch ſpäter nicht aus dem Wege gegangen und hat ſie im Bewußtſein eigner Kraft wohl gar gefliſſentlich geſucht. Was die erſten Sonaten und Lieder verrathen, iſt eine völlige Vertrautheit mit Allem, was deutſche Kunſt vor ihm geſchaffen hatte, ſoweit es damals der

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Kenntniß überhaupt zugängli war. Aber die von dorther ge: wonnenen Anregungen haben bereits das eigne Gepräge ange: nommen. An fo jungen Jahren beobachtet, ſetzt diefe Erſcheinung eine innere Arbeit voraus von jeltener Energie und Zielbewußt- heit, und eine Frühreife, die darum nicht weniger erjtaunlich ift, weil fie nicht nach außen leuchtete, jondern fich ſcheu in ſich verſchloß. Die Fähigkeit, Alles, was ihm in den Weg kam, auf- zufaugen, hat Brahms fein Leben hindurch behalten; ſie gehört zu feinen hervortretenditen Eigenfchaften. Es giebt feinen Diufiker, der in feiner Kunjt belefener wäre und jo unausgejegt geneigt, Neues, vor Allem auch neugefundenes Altes fich anzueignen. Die Lernluſt erftredte fih aber von jeher auf alle Gebiete und hat eine reichte umd nicht minder urjprüngliche Gefammtbildung zur Folge gehabt, weil in ihr Nichts nur erlernt blieb, fondern Alles lebendig und fruchtbar wurde. Das Eeltjamfte, was man heute noch über Brahms zu hören befommt, ift, daß er ein Nachfolger Schumann's jei. Er iſt von ihm jo gänzlich verfchieden, wie es zwei Künftler mit übereinftinmenden Grundanſchauungen über: haupt jein fönnen. Eben dieſe Selbitändigfeit war es, bie Schumann zur Bewunderung hinriß, dazu die Meifterfhaft, um die er jelbit jich jo viel länger hatte mühen müſſen, und die er hier ſchon früher erreicht fand. Man muß wiffen, weldhes Maß von Formgefühl in den Componiften um die Mitte unſeres Jahrhunderts lebendig war, um Schumann’s Urtheil als be- rechtigt anzuerkennen. Brahms jelbit hat uns jpäter an einen höheren Grad formeller Gejchloffenheit gewöhnt. Nicht mit feinen eignen nachfolgenden Werfen hat man jeine früheiten zu ver: gleihen, fondern mit denen der Meiiter feiner Yugendzeit, Schumann's und Gade's etwa.

In den erſten zehn Werken liegen alle Haupteigenſchaften der Brahms'ſchen Muſik deutlich erkennbar vor. Die bis zur Rauheit gehende Männlichkeit, die Abneigung gegen bloße Stimmungsmuſik, das herbe Zuſammendrängen des melodiſchen Gehalts, die Luſt am organiſchen Bilden, durch Mittel ſtrengerer

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Polyphonie zumal, die mit dem freieren Beethoven’ichen Stil zu ganz neuen Erjcheinungen zuſammenwirken. Die ernite Grund- jtimmung und der Drang in die Tiefe, die durch eine edle Ver: ichämtheit verjchleierte warme Schönheit des Gefühls. Auch das Miderfpruchsvolle: der Troß, gewaltiam zu verfoppeln, was fich von Natur auszuschließen fcheint, und die Laune, organisch: plaftifche Gliederung als ein höchſtes Ziel zu verfolgen, doch aber deren Genuß durch dichtes Kreuz und Quergeflecht der Gedanken zu erjchweren.

Componiſten, die fogleih mit jcharfgejchnittenen Gefichts- zügen in die Welt getreten find, haben fich nicht felten wenig ergiebig gezeigt. Auf Brahms jollte diefer Erfahrungsjag nicht paſſen, obwohl es eine Zeit gab, wo es äußerlich jo jchien. Anfang der jechziger Jahre fragten fich die Freunde zuweilen, wohinaus er nun wolle. Mancher dachte damals noch (Brahms jelbjt ließ über jeine Pläne nie ein Wort verlauten), daß er ji mit unerhörten Neuerungsideen trüge. Inzwiſchen hatte er jein Programm jchon fertig vorgelegt. Weber den um .1865 um- riffenen Kreis ijt er, vom „Rinaldo“ abgejehen, nicht hinaus: gegangen; jelbit die großen Chorwerke deuten fich in dem Be- gräbnißgefang, den erften Motetten und Anderm jchon an, wie in vernehmlicherer Weife die Serenaden auf die jpäteren Sinfonien präludiren. Dieje thatkräftige Perfjönlichkeit fühlte nicht das Bedürfniß, neue Welttheile zu entdeden. Sie fand in der alten Heimat) genug zu thun und ließ fih durch Schlagworte, wie „Epigonenthum” und „erichöpfte Kunftformen“, nicht im ge ringiten beirren. Die Zeit hat bemwiefen, daß er recht daran that. In diefen Formen quoll der Born eigner Erfindung un- erijhöpflid und überall mit gleicher Stärke. Bei den meiften Componiſten findet man leicht die Gattungen heraus, in denen ihr Talent ſich am vortheilhafteiten zeigt. Solche YLieblings- gattungen wüßte ich bei Brahms nicht zu nennen. Den Liedern laffen ſich die Sinfonien und Duverturen entgegenjegen, Der Kammermufif das Deutiche Requient und das Triumphlied, den A cappella - Compofitionen die Concerte oder Rinaldo. Ueberall

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ift der Componiſt mit feiner ganzen ungetheilten Perjönlichkeit zugegen; wer dieje wägen will, darf Feines jeiner mehr als hundert Werke bei Seite lafjen.

I.

Das Zuſammenfaſſen aller Formen und Ausdrudsmittel der legten Jahrhunderte, wie es ſich bei Brahms findet, und ihre Nupbarmahung für die von ihm gepflegten Gattungen hat etwas Großartiges und ift in diefer Meife noch nicht dagewejen. Wer die Borftellung bat, er arbeite nur in den Ideen Haydn's, Mozart's, Beethoven's weiter, mit gelegentlichen Anleihen bei Sebaftian Bach, kennt ihn ſchlecht. Da ift zunächſt die Be- reicherung der Tonalität duch Zurüdgreifen auf die Anfhauungen des 16. Jahrhunderts. Dieje Anſchauungen waren zwar niemals ganz abgeftorben, aber fie frifteten ihr Dafein incognito und fonnten, wenn man jie entdedte, froh fein, überhaupt geduldet zu werden. Brahms ift jeit hundert Jahren der erite große Gomponijt, der mit Bewußtjein und Abficht wieder doriſche Melodien fchrieb und darthat, welche Ausprudsfähigfeit ihnen auch heute noch innewohnt. Man überzeuge fih an Nr. 8 der Lieder Op. 14 und Nr. 6 aus Op. 48. Durd das Einleben in die Natur der Dctavengattungen wurde auch die Kraft und der NeichtHum feiner Harmonik genährt. Viele der überrafchend- ten Wirkungen laſſen fih darauf zurüdführen. Die erniedrigte zweite Stufe der heutigen Molltonleiter galt den Alten als ſyſtem— gemäßer diatonisher Ton. Als Grundton verwendeten fie ihn nicht wegen des unmelodifchen Dreiganzton : Schrittes, welchen der Baß dann auszuführen hätte. Unſere, mehr auf harmoniiche als melodijche Fortichreitungen horchende Zeit hat dieſe Rückſicht nicht zu nehmen. Der D-dur-Accord in der Cis-moll-Tonart, wie man heute unzutreffend jagen würde, iſt demnach berechtigt (Op. 46, Nr. 1, Takt 34). In Dur begründet jene erniedrigte Stufe den Dreiflang der großen Unterjecunde, deſſen herrliche Wirkung jeder Kenner alter Vokalmuſik erfahren hat; in Brahms’

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vierftimmigen Marienliedern (Op. 22) ich nenne von vielen nur dies einzige Beispiel ift er wieder aufgelebt. Die Erhöhung kleiner Terzen und Serten erſchien den Alten als vorübergehende Schärfung des Tons, welche dejfen Potenz im Syſtem nicht abwandelte. Wir empfinden im Allgemeinen nicht mehr jo, hromatiiche Erhöhungen und Erniedrigungen bedingen neue Accordverwandtichaften. Sudt man daneben die alte Anſchauung wieder ftärfer zur Geltung zu bringen, jo ergiebt jich eine Doppel: - deutigfeit der Zuſammenklänge, die modulatorijch ergiebig gemacht werden kann. Wie Brahms dies zu thun verjteht, weiß Jeder, ber jeine Compofitionen daraufhin aufmerkſam betrachtet hat. Auch der unvermittelte Wechfel zwifchen Fleiner und großer Terz erfolgt oft im Sinne der älteren Anſchauung. Daß Moll und Dur derjelben Tonftufe nahe verwandte Tonarten jeien, dafür ijt das Gefühl freilich immer lebendig geblieben, und bei Schubert bedürfen wir dejjen recht jehr, um jeinen Modulationsreichthunm zu verjtehen. Aber mir ift doch bei ihm fein Beifpiel bekannt, wo c$ jo deutlich hervortritt, daß ce und eis mit Bewußtfein al3 ein und derjelbe Ton behandelt find, wie in Nr. 5 der Lieder Op. 7 von Brahms. Ueber diejen Gegenitand ließe ſich eine Abhandlung fchreiben.

Da ift ferner die Rhythmik. Von der Mannigfaltigkeit der Periodengliederung, von Taktarten wie + 3, 3 + und Aehnlichem rede ich nicht. Dagegen erneuert die Ausweitung des Taktmaßes bei Cadenzen alte Gebräudhe. Die jeit Händel’s Zeiten faſt verjchwundene Hemiole, das Hineinjpielen des geraden Zaftes in den ungeraden, ift durch Brahms wieder zu Ehren gekommen. Bei den Alten findet es fih auch, daß eine Tonreihe um den Werth eines oder zweier Taktglieder verfchoben wird, trogdem aber fortfährt, ihren Berlauf nach dem allgemeinen Taktmaße zu regeln. Hier jei auf Schüß verwieſen (Werke VII, S. 69; X, ©. 58). Brahms fennt diefe rhythmiſche Figur ebenfalls (Op. 107, Nr. 3). Wie in den mehritummigen Ge- jängen der alten Meijter oft die verſchiedenſten Rhythmen zu-

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fammenflingen, jo geſchieht e8 auch bei dem jüngiten Meifter wieder. Ein Gebilde, wie das Lied „ES weht um mid Narciffen: duft“ ift wohl für unfer Jahrhundert einzigartig. Die Sing- ftimme fingt $, die rechte Hand fpielt $, die linfe Hand jpielt ebenfalls $, aber um zwei Viertel verjchoben.

Sieht man über die Formelemente hinaus auf die Formen jelbit, jo fteigen überall neben und zwischen den Gebilden neuerer Kunſt die Geftalten vergangener Zeiten empor. Den zum Spiel: werk herabgejunfenen Canon hat ſchon Schumann wieder ernit: daft nehmen gelehrt; Brahms beforgte feine jtrengere Aus- bildung und vielgeftaltigere Verwendung. Die Vergrößerung und Berfleinerung einer Melodie aber, das Verfahren alio, welches die Zeitwerthe einer Tonreihe in doppelter Länge oder auf die Hälfte verkürzt erfcheinen läßt, und das in der Muſik des 15.—16. Jahrhunderts ein jo wichtiges Gejtaltungsmittel war, offenbart erft bei Brahms wieder die ihm innewohnende orundmufifalifche Lebenskraft, und ſchon in den früheften Werfen (3. B. Op. 3, Nr. 2) beweiit er, wie tief er fie erfannt batte. Nicht minder die durch Verfehrung der Tonjchritte bewirkte Ab- leitung einer neuen Melodie aus einer gegebenen. Kamen jolche „Künfte”, wie man in munderlicher Verfennung des Urmwejens der Muſik zu jagen liebte, bisher auch anderweitig noch zur Anwendung, jo wollte man fie doch auf den fogenannten gelehrten Sat beihränft wiffen. Das hieß: Bedeutung baben fie nur als Schulſtudien, nicht für das lebendige Werk des Künſtlers. Bei Brahms durchdringen fie feine ganze Muſik und finden eben- jowohl in der Glavierfonate und dem einfachen Lied, als im großen Chorbild mit Orchefter ihren lat. Der rundläufige Baß (ostinato) und deſſen befondere Arten, der Passacaglio und die Ciacona, treten jeit Bach's Zeit zum eriten Male wieder mit Bedeutung hervor und vermehren die innere Wucht ihrer Natur durch die NRüftung des ſinfoniſchen Orcheſters. Vor Allem aber zieht die NWariationenform aus den Schägen der Altmeiiter Gewinn.

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Brahms’ Variationen find etwas Anderes, als was gemeinhin mit diefem Namen bezeichnet wird. Ihr Urbild ift Bach's „Aria mit dreißig Veränderungen“, und dies Werk ftellt ſich wieder als eine Erweiterung des Baflacaglio dar. Nicht die Figurirung oder mannigfahe Begleitung der Thema-Melodie ift hier die ge- ftaltgebende Idee, jondern das SFeithalten des Baſſes derjelben. Diefer bleibt ſich durch alle Variationen im Wefentlichen gleich; über ihm wird ein freies Tonfpiel entfaltet, von dem aber ge: legentlihe Bezugnahmen auf die Melodie nicht ausgeichlofjen find. Beethoven hat die Form dadurch der allgemein üblichen genähert, dab er die Alleinherrichaft des Baſſes durch Abwechs— lung mit melodijcher Variirung bejchränfte, und Schumann ift ihm hierin nachgefolgt. Bei andern Meijtern fommt fie nicht vor, und auch Beethoven und Schumann bedienen fich ihrer nur wabhlweife. Brahms jteht mit feinem Reichthum combina= toriicher Einfälle näher zu Bach als zu Beethoven, theilt aber mit dieſem die freiere Behandlungsart. Erweiterung oder Zu: fammendrängung des im Thema gegebenen Periodenbaues find VBartirungsmittel, die Beethoven nicht gebraudt, und die auch Brahms nur in den Variationen der eriten beiden Sonaten und dem jelbjtändigen WVariationenwerf Op. 9 verwendet. Hier oft überrafchend geiſtvoll; aber es muß das Verfahren der Strenge jeines Formfinnes bald unzuläfiig erichienen fein, wie er auch den Tonartenwechjel unter den einzelnen Variationen, den Schumann fih gern, Beethoven nur ein einziges Mal (in Op. 34) geftattet, bald immer mehr abthut. Dagegen tritt jhon in der zweiten Variation aus Op. 9 die maßgebende Be- deutung hervor, die er dem Baſſe zu geben gewillt it, und in der zehnten desjelben Werkes legt er ihn gar als Melodie in die Oberftimme. Doppelte oder vierfache Verkürzung des Thema- anfangs bildet dann wohl ein Motiv, deifen Fortipinnung die gegebenen Maßverhältnifie bei Felthaltung der mejentlichen Harmonienfolgen ausfüllt, fo dab das Thema, oder ein Theil desjelben, wie aus zwei oder vier Spiegeln zurüdgeworfen er-

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ſcheint. Da jenes erite Wariationenmwerf über ein Thema Schumann’s gefchrieben und Clara Schumann gewidmet iſt, hat Brahms noch andere Tongedanfen diejer Beiden huldigend binein- gewoben. Man findet dergleichen witzige Benugung fremden Materiales in feinen Werfen öfter. Ein glänzendes Beijpiel von Geiſt und Combinationskunft bietet die neunte Variation, welde mit leichten Umbildungen ein vollftändiges Stüd Schumann's zu bringen jcheint (aus den „Bunten Blättern“, Op. 99, Nr. 5), in der Mittelftimme aber die zufammengedrängte Thema-Melodie vernehmen läßt. Wie gründlich er dem Variationenwejen nad): jann, geht daraus hervor, daß er auch das modulatoriſche Ver: hältniß der Themaperioden unter einander zu „verändern“ liebt. Der Hauptort dafür ift der Anfang des zweiten Theils, nächſt diefem die zweite Hälfte des erjten Theile. Die mehr oder weniger weiten Ausweichungen, die er hier eintreten läßt, find aber immer jo gewählt, daß die Wirfung der neneingeführten Tonart annähernd derjenigen entjpricht, welche die urfprüngliche Tonart der vorhergehenden oder nadhfolgenden Periode gegenüber ausübt. Auch die Cadenzen ericheinen wohl unter dieſem Ge- jihtspunft abgewandelt. Es it unmöglich, fi von dem Reid): thum an Bhantafie und Geltaltungsfraft und von dem energijchen Leben, das in den Brahms'ſchen Variationen ftedt, nach Be: ſchreibungen aud nur eine ſchwache Vorftellung zu machen. Ach wüßte übrigens nicht, wie dieſe Form noch feiner und tiefer ausgebildet werden könnte, als es Brahms 3. B. in den Clavier: Variationen über ein Thema Händel’s (Op. 24) gethan hat. Eher jcheint mir die Gefahr nahe zu liegen, die Variationen- Idee zu verflüchtigen, die doch urjprünglich nur die fortlaufende Umjpielung einer Melodie war. Die Bälle einfach gejegter Thema- Melodien werden in der Negel nicht viel Charakteriftiiches haben. Trifft e8 ih, daß auch das Thema jelbit landläufig und un: bedeutend it, jo entiteht eine Reihe von Stüden, die mit dieſem nur die gleichgegliederte Zahl der Takte und den Wechjel zwijchen Srundton und den beiden Tominanten gemeinfam haben. So

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it es in den Paganini- Variationen (Up. 35); freilich auch ſchon bei Beethoven in den 33 Veränderungen über einen Walzer von Diabelli.

Im 17. Jahrhundert jtand in nächiter Verwandtichaft zur Variation die Suite, beide als Gattungen der Claviermufif ver- ſtanden. Bon den Tänzen, aus denen die Suite bejteht, war der erite das Thema, die andern varüirten ihn in den ihnen eigenen Rhythmen. Nod im 18. Jahrhundert zeigen ſich Spuren des Zujammenhangs, bi$ Bach ihn endgültig zerichnitt. Als deſſen Suiten in unferer Zeit wieder beliebt geworben waren, haben aud moderne Gomponiften ſich angeregt gefühlt, der: gleichen zu ſchaffen. Aber ihre Suiten jind feine; wenn nicht Sonaten oder Sinfonien in bejcheidener Form, jo find fie Sere- naden. Brahms hat die Suite ganz beifeite gelafjen. Wenn in der zweiten Sonate aus dem variationenhaften Andante fich als gleihjam letzte Variation das Scherzo entwidelt, jo it es einer von den genialen Einfällen, an denen die Jugendwerke jo reih find. Bewußte Rüdfihtnahme auf eine alte Formidee wird nicht vorliegen. Aber den Tanz an fich hat er nachdrück— lichit gepflegt, in der Art, die zur Zeit der Wiener Meiſter be- liebt wurde: Tänze gleicher Gattung werden in beliebig langer und bunter Reihe zufammengeftellt. Nun zeigt ſich dieſelbe Er- jheinung wie im Zeitalter der Suite. Die Tänze, aus welchen fie ſich zujammenjegte, dachte man ſich anfänglich auch als praftiic) verwendbar. Allmählih wurden fie mehr und mehr idealifirt, und nad einer Bach'ſchen Gourante tanzen zu wollen, fonnte Niemandem mehr einfallen. Ebenſo können Schubert’jche Walzer noch zum Tanze aufgefpielt werden, Brahms'ſche meift nicht mehr. Brahms hat dem Walzer das Heimathsredht in der höheren Kunftmufif zurücderworben. Zuerft al3 Clavierſtück behandelt, erfuhr er alsbald durch Hinzuziehung des Gejangs eine weitere Idealiſirung. Aehnliches vollzog ſich an ungarischen Tanz: und Liedweiſen. Brahms erfand dieje nicht jelbit, that aber aus Eignem jo viel und jo Wejentliches hinzu, daß man

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ſeine „Ungariſchen Tänze“ faſt als Originalſchöpfungen anſehen kann. Jeder weiß, wie anregend er durch alles dies auf die mitlebenden Componiſten gewirkt hat.

III.

Brahms ſchöpft tief aus dem Born der Vergangenheit. Dennoch kann man nicht ſagen, daß in ſeiner Muſik etwas Archaiſirendes ſei. Dieſes könnte nur bedeuten, daß er ihr durch Anwendung alter, uns fremd gewordener Ausdrucksmittel einen äußerlichen Reiz anputze, der poetiſirend und ſtimmung— gebend zu wirken habe. Da dergleichen in Ton- und Dicht— kunſt heutzutage wirklich geſchieht, ſo möchte ich mit Nachdruck ausſprechen, daß mir die Brahms'ſche Schaffensart mit dieſer realiſtiſchen Richtung nicht das Geringſte gemein zu haben ſcheint. Alles, was er von den Alten gelernt hat, iſt ihm grundeigen geworden und hat ſich in ſeine höchſt perſönliche Tonſprache verflößt. Dieſe iſt ſehr reich an neuen Ausdrücken und Wendungen, aber er gebraucht dieſelben immer nur zur Darſtellung des inneren Gehalts ſeiner Ideen. Wie iſt doch in den Marienliedern die knoſpenhaft zuſammengeſchloſſene, jungfräulich herbe Empfindung getroffen, die den Untergrund der Gedichte bildet! In den vierſtimmig geſetzten Volksliedern wechſelt die Behandlung jedes— mal nach dem Charakter des Tertes und der Melodie: leben die alten Anihauungen in ihnen, jo geht Brahms auf fie mit An: wendung derjenigen Mittel ein, die ihrem inneren Weſen natürlich find, Modernes jet er modern. Ueberall ein Hinabdringen in den Kern der Sadıe.

Daß Brahms dem Volksliede überhaupt die größte Auf- merkjamfeit zumwendet, iſt von feinem erjten Merfe an erfichtlich und muß nach dem Gejagten jelbitverjtändlich erjcheinen. Seine eigne melodiſche Erfindung hat fih an ihm genährt und an dem geiltlihen ebenjo jehr wie am weltlihen. Er bat aud immer mit Vorliebe Volksliederterte verjchiedeniter Zeiten und Völker in Muſik gefegt; die urfprünglice Friiche der An—

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Ihauungen und Empfindungen in ihnen gewährt offenbar feiner Productiongluft einen mächtigen Anreiz. Seit das Volkslied bei uns zu neuem Leben erwacht ift, hat es diefen auf manchen Componijten geübt, und viel Schönes und Echtes ift in feiner ihlihten Form zu Tage getreten. Man denke nur an Weber. Aber Manches auh, was turhfühlen läßt, dab der Compontit das Uecberlegenheitsgefühl des gebildeten Menjchen nicht hat los- werden fönnen. Solche Zwitter mögen zeitweilig gefallen, find aber doch tief unerfreulihd. Brahms, der fich reflectirtes Weſen jo oft vorwerfen laſſen muß, steht zum Volksliede ganz naiv. Es fommt ihm nicht bei, am Gedicht etwas zu ändern, ſprach— lihe Härten, fremdartige oder jelbit gejchmadloje Ausdrücke durch gebildete zu erjegen. Er liebt e8 in feinem Naturzuftande, Den Gehalt, welchen es ihm offenbart, weiß er mit unüber: troffener Prägnanz muſikaliſch widerzufpiegeln. Ich kenne nichts, was durch Anappheit des Ausdruds nachhaltiger wirkte, als der über ein geiltlihes Gedicht de8 16. Jahrhunderts componirte Begräbnißgefang „Nun laßt uns den Leib begraben“. Mit un- erbittlihen, fait gleihmüthigem Ernft, dem unabmwendbaren Schickſal gleich, jchreitet die einfache, eintönige Weife im der Bewegung eines Trauermariches dahin. Die den Chor be- gleitenden Inſtrumente find nah Gattung und Zahl auf das Nothwendigite beichränft, ihr Klang ein Gemiſch von Grellem und Feierlichem. Im Trio feine fanfte Klage, fein zerfließendes Gefühl, jondern der Troft, den die Gewißheit einftiger Erlöjung vom Lebensleid in ein Mannesherz ſenkt. Die Melodie durchaus volfgliedartig, jeder Ton wie gemeißelt. Aber aud bei den Volfsliedern für eine Stimme findet jich dies zufammengedrängte Weſen, das jih mit jeder neuen Strophe mehr zu entfalten jcheint, jo daß man meint, eine ſolche Melodie ohne Ende fort: fingen zu fönnen.

Neben das ftrophifche, das eigentliche Lied, hat ſich jeit der Zeit der öſterreichiſchen Meiiter der ſinfoniſch und der dramatiſch erweiterte Gejang geftellt. Als vierte Art haben Zumiteeg und

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Löwe die Iyriich-charakteriitiihe Ballade hinzugebradt. Brahms bat auch Balladen geichrieben, aber das Charafterijirende in Löwe's Sinn, jagen wir das Maleriiche, iſt nicht feine Sache. Gänzlich fern hat er ſich dem dramatifirenden Gejange gehalten, der überhaupt von deutſchen Componijten ſpärlich gepflegt iſt: Meber ift jein Hauptvertreter; einige jchöne Eremplare gab Mozart, Bortrefflihes Marjchner in den Bildern des Orients, namentlich der neuen Folge (Op. 140). Mit nahezu zweihundert Liedern und Gejängen hat Brahms gezeigt, wie ſtark es ihn zu diefer Gattung binzieht. Als er begann, ftand Schumann obenan, zunächſt hinter ihm mit bejcheidenerer Kraft, aber in zartfinniger Eigenthümlichkeit Robert Franz. Mit beiden hat er wenig ge- mein, wenngleich die Schöne Verwendung der phrygiſchen Tonart durch Franz diejem bier nicht vergeflen jein joll: er war darin der erite, wogegen Brahms mehr das Dorifche liebt. Vereinzelte fleine Züge feiner Melodiegebilde erinnern von fern an das Lied der zwanziger und dreißiger Jahre, da es feinen Schumann gab und Schubert in Norddeutichland noch nicht durchgedrungen war. Ich glaube, daß Brahms in feinen Kinder: und Jugend» jahren unter dem Einfluß jener Liedmuſik geftanden hat, und jih aus der Zeit ein Ton berleitet, welcher lebenslang jeine Kunft ganz leife durchklingt. An gewiffe melodiſche Wendungen und Gadenzen können ſich perjönlihe Empfindungen knüpfen, Die uns wie Kindheits - Erinnerungen theuer bleiben, mögen fie jüngeren Generationen auch altmodig erfcheinen. Die erfichtliche Vorliebe, mit der Brahms auf Dichter wie Flemming, Hölty, Voß zurüdgreift, wird aus derfelben Quelle fließen. Die Romantif des Schumann’schen Liedes findet bei ihm feinen Widerhall. Dem zauberiſchen Gejpinnft und Geranfe, dem luftig durch— brochenen Weſen Schumann’fchen Glavierjages jeßt Brahms eine viel compactere Begleitung entgegen. In der Daritellung von Naturjtimmungen wird der Unterſchied am fühlbarften. Dan vergleihe Schumann » Eichendorff’8 „Dämmrung will die Flügel jpreiten“ mit Brahms» Goethe's „Dämmrung ſenkte fich

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von oben“, oder beider Compofitionen der Gedichte „Aus ber Heimath Hinter den Bliten roth“ und „Es war, als hätte der Himmel die Erde jtill gefüßt”. Won Eichendorff's Liedern hat Brahms überhaupt nur wenige in Mufif gejegt. Die Wonne Schumann’s: das Untertauchen des Menjchlich » Berfönlichen in das jtille Meer pantheiftiichen Naturgefühls, wird von Brahms nicht getheilt. Die beiden zulegt genannten Lieder hat er nur befcheiden colorirt, dagegen aber feft gezeichnet; durchaus Haupt: ſache ift die Gefangämelodie, die bei Schumann nur wie aus Träumen in das inftrumentale Weben bineinklingt. Dagegen findet Brahms wie nur irgendwer den rechten Ton für bie berg- quellartige Friſche und die ftille Wehmuth der Eichendorff’ichen Romanze. Hier Stehen Menfchen mit ihrer Luft und Trauer im Borbergrunde, und der Menjchen Empfindungen barzuftellen iſt feines Liedes erftes Ziel. Die Naturftimmung bildet nur die Folie; als ſolche freilich wird fie bei ihm im höchften Grade wirkſam. Hölty's „Mainacht“, Schad’8 „Abenddämmerung”, Klaus Groth's „Regenlied“, Allmer's „Feldeinſamkeit“, Lieder, wie „Es kehrt die dunkle Schwalbe", „Mit geheimnißvollen Düften”, „Unbewegte laue Luft”, „Ich ſaß zu deinen Füßen“, „Ueber die Haide hallet mein Schritt“, „Mein Herz ift ſchwer, mein Auge wadht”, zeigen das Verhältniß, in das er beibe Factoren zu einander zu jegen liebt. Gefänge, wie „An eine Aeolsharfe“ oder „Die Meere“ (aus den Duetten Op. 20) ftehen ihnen gegenüber ganz vereinzelt.

Zu diefem Berhältniß, das man das normalere nennen darf, ohne die zeitweilige Berechtigung jeiner Umkehrung anzu: zweifeln, ſtimmt die Rolle, welche Brahms der Begleitung zu— weilt. Auf ihre Elemente hin betrachtet, iſt ſie viel einfacher als bei Schumann, oder auch bei Franz, der Schumann's phan— taftiihe Polyphonie durch eine ftrengere Führung der Mittel: ſtimmen erjegt. Sie will immer untergeordnet fein. Das fchließt nicht aus, daß fie doch zumeilen jehr kunstvoll fein fann, daß fie durch Fülle des Klangs auch wohl einmal den u be-

Philipp Epitta, Zur Mufit,

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drängt und zuweilen recht jchwer zu jpielen ift. Aber mit un- erichütterlicher FFeitigkeit ftehen Melodie und Baß als die Grund- fäulen der GCompofition da. Man kann bei Brahms wieder von einen Generalbaß ſprechen. Es gibt nicht wenige Lieder von ihm, für deren Begleitung man außer dem Bafje nicht viel Weiteres mehr braucht, bejonders wenn diejer die Harmonie in gebrochenen Accorden ſchon angibt; die rechte Hand hat dann Füll— accorde oder jpielt die Melodie mit, der er bejonders gern durd) Terzen und Serten jecundiren läßt. Seine Begleitungsfiguren find oft jehr geiſtreich erjonnen, vielfach aber begnügt er ſich auch mit dem einfachſten Materiale. Einige Begleitungsmittel hat er aus dem Arjenale älterer Meifter wieder hervorgeholt, jo die befannte jchwebend vorwärtsitrebende Bewegung Bach's, hütet ji aber, das polyphone Gefpinnit feiner Sologefänge nachzumachen; die „Sommerfäden” (Op. 72) bilden eine witige Ausnahme Wiederum legt er die Melodie bei Vor:, Zwiſchen— und Nachipielen manchmal in den Baß, ein allgemein übliches Verfahren zu Bach's und Händel's Zeit in Fällen, wo außer der Singitimme nur der Baß aufgezeichnet wurde, das aber in unjerm Jahrhundert gänzlich) abgefommen war. Wurde das Nitornel auch noch von andern Inſtrumenten dargeitellt, ſo haben die Altmeijter zuweilen durch Hineinflehtung der Sing— ftimmen ihm ein verändertes Geficht gegeben und dadurch zugleich den vocalen Theil der Compofition anmuthig erweitert. Daß Brahms dies nicht unbemerkt gelajjen hat, it aus Op. 69, 1; Op. 85, 3; Op. 86, 1 zu erjehen. Mas aber von den Liedern, gilt in höherem Grade noch von den Duetten. Nicht nur daß der dreiftimmige Satz ftrenger durchgeführt it, als bei Mendelsjohn und feinen geringeren Nachfolgern. Der Baß betheiligt ſich auch thematiſch, und es fommt dann zu polyphonen Stüden, die in unſerm Jahrhundert ihres Gleichen nicht finden; man müßte ihon auf Steffani’S und Händel's Kammerduette zurüdgehen. Die erften fünf Hefte enthalten fait nur ſtrophiſch gebaute Lieder. Dann ändert fih mit einem Male das Bild, und cs

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ericheinen große Gefänge, bei deren Bau die Inftrumentalformen zu Hülfe genommen jind. Hier iſt Schubert'3 Reich. Ihm iſt Brahms auch darin ähnlich, daß es feine dramatischen Situationen, feine piychologiichen Proceſſe jein jollen, die er uns miterleben läßt. Er taucht in lyriſche Zuftände ein, ganz ausnahmslos, auch bei folhen Gedichten, die wie das Lied vom Herrn von Falkenftein oder andre Balladen dialogiſch verlaufen. Er iſt jtrenger als der jorgloje Schubert, der zumeilen nicht Anjtand nimmt, Recitativ einzumijchen. Charafterijtiiche Muſik im eigent- lihen Sinne, wie ſie fih in Löwe's Balladen und reicher ent- faltet im Oratorium findet, ijt es, wie ich jchon bemerkte, nicht. Vorſtellungen, welche das Gedicht bietet, wirken wohl anregend auf die Erfindung ein, aber fie ftellen nicht den Untergrund dar, es find Bilder, die vom Ufer her in den Spiegel des Fluſſes fallen. Sie erhöhen jeinen Reiz, aber wären fie nicht, er würde eben jo ſicher jeine Bahn ziehen. Der Gewalt des inneren Lebens geichieht dadurd fein Abbruch. Dieſes ift viel aus: ichließlicher rein mufifaliich, als bei irgendwem aus der nad): beethoven’schen Zeit. Brahms ift darum auch fein Freund vom Boetifiren, nicht einmal in der Inſtrumentalmuſik, wo es doch jegt alle Welt thut. Wenn er Volkslieder der verjchiedenften Nationen in Muſik jest, geichteht es doch nicht, um den Charafter ihrer Nationalmufit nachzuahmen. Er kann gelegentlich von dort- her ein Motiv entnehmen, aber der Hauptzwed ift ihm, Muſik im Sinne jeiner eignen Individualität zu madhen. Wäre es anders, jo würden wir in den „Liebesliedern” Walzer im Charakter der Ruffen, Polen, Serben, Türken, Berjer, Malayen haben; die „Kränze“ (Op. 46, 1) wären helleniſch und das tief deutih empfundene „Es träumte mir, ich jei dir theuer“ (Op. 57, 3) ſpaniſch.

Unter den finfonischen Geſängen id geitatte mir der Kürze halber diefen Ausdrud thun fich die fünfzehn Romanzen aus Tieck's „Magelone” durch ihren befondern Glanz hervor. Die Frage, ob Sologefangsmufif in groß gegliederten

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Formen in unferer Zeit möglich ſei, iſt durch fie nachdrücklich bejaht worden. Wer Solches zu fehaffen vermochte, würde auch in geiftliher Muſik und im Oratorium arienartige Gejänge mit Orchefterbegleitung jchreiben können. Dies hat Brahms nicht gethan, wohl aber find im „Rinaldo” Arien von hoher Vollendung. Hier ftand ihm die geeignete Dichtung zu Gebote, ohne welche es nun einmal nicht gebt. Zu Tied’s Gedichten wird ihn vor anderm auch der Umstand hingezogen haben, daß fie fih gut für breite Geſangſtücke verwenden ließen.

Mit den bezeichneten beiden Gattungen des Liedes hat es aljo für Brahms jein Bewenden. Wer fo ganz ber Lyrik fich ergibt, muß das Bewußtfein in ſich tragen, ftarf in Melodie- Erfindung zu fein. Die Stärke ijt in der That vorhanden und fann von Niemandem verfannt werben, der nicht Melodie mit melodifcher Gefälligfeit gleichjegt. Gefällig iſt Brahms jelten. Auch die Herzlichfeit Schumann's iſt nicht jeine Art, dagegen theilt er eine ganz bejondere vornehme Anmuth wieder mit feinem andern Componiften. Seine Wärme hat etwas Zurüd- haltendes; feine Innigkeit ſcheut fich hervorzufommen und drängt fih gern in den möglichſt fnappen Ausdrud zufammen. Das it nordbeutih, und ein Norbdeutfcher ilt der Mann vom Kopf bis zum Fuß. Langes Zurüdhalten des Gefühls hat zur Folge, daß es, endlich hervorbrechend, leicht dag Maß überjchreitet. Wenn Brahms, der Hamburger, fih in Wien niederließ, geſchah es vielleicht in der Erwartung, daß die Wärme füdlichen Ge- fühls die nordiſche Verſchloſſenheit löſen und die Gegenfäge im Bujen ausgleihen würde. Gradweiſe mag dies auch geſchehen jein, aber eine Natur, dermaßen aus ganzem Holz gejchnigt wie er, fann fi nicht auseinander nehmen und neu zufammenjegen. Seine Ruhe neigt zur Erhabenheit, feine Leidenschaft zur Wild: beit. Eine jo harmonische Bereinigung von ſchwärmeriſchem Gefühl und goldreifem, wunfchlofem Genügen, wie fie in dem Liede „Wir wandelten, wir zwei zujammen“ fich vollzogen hat, ift bei ihm nicht häufig. ES gibt auch Werke, wo fi Kälte

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und Gluth jo dicht an einander ſchmiegen, daß einem unheimlich zu Muthe wird.

Unfere großen Liedcomponijten: Weber und Schubert, Mendelsfohn und Schumann haben allefammt etwas Jünglings- haftes an fih. Sie find auch jung oder in den beiten Jahren geitorben. Brahms bewegt ſich in der Tonart männlicher Lyrif und ift in diefem Sinne eine ganz neue Erjcheinung; nur Beethoven würde zu vergleichen fein, hätte er ſich mit dem Liede mehr als gelegentlich abgegeben. Ach weiß nicht, ob es jchon beachtet worden ift, daß von Op. 32 an alle Brahms’schen Lieder bis auf einen geringen Bruchtheil Männerlieder find. Sie jollten auch immer nur von Männern gejungen werden. In den Em: pfindungen der Jugend ftehen fich die Geſchlechter näher, fie find weicher und unausgeprägter. Schubert's „In Grün will id) mich fleiden“ und „Wo ein treues Herze in Liebe vergeht” Elingen auh aus Mädchenmund harmoniſch. In reiferen Jahren wird der Gegenjag jchärfer und damit auch der Ausdrud der Em- pfindungen verjchiedener und ihr Austausch jchwieriger. Eine Frauenftimme bleibt uns mit dem Liede „OD Nachtigall, dein füßer Schall” die Hälfte feines Gehaltes ſchuldig. Die Leiden: ihaft gräbt fich tiefer ein und rüttelt an den Grundfejten bes Weſens. Schon für die „Mainacht“, die Magelonen-Romanzen und andere ungefähr gleichzeitige Gefänge gilt dieſe Beobachtung. Im volliten Sinne und Umfange für Op. 57 und die folgenden Sammlungen. An diefen Liedern hängen nicht Thränen, jondern Blutstropfen.

Die Jugend ſchwimmt mit Genuß in den hohen Wogen des Gefühls; mit hellem Jubel jauchzt fie den Frühling an, und in ftiler Wonne klagt fie um verlorenes Glüd. Ein Sänger der Jugend war Geibel. Brahms hat von ihm nur wenige Lieder componirt, während er jonjt feine norbweitdeutichen Landsleute Hebbel, Storm, Claus Groth, Schaf und Andere mit Vorliebe berüdjichtigt. Geibel's „Nun wollen Berg und Thal wieder blühn” würde er ganz anders auffallen, als es der Dichter gemeint hat.

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An feiner Muſik des Frühlingsliedes „Mit geheimnißvollen Düften“ klingt nicht der Yerchenton der jungen Seele, die Geibel auch im Alter behielt und deren Wunſch und Bein, wie Ubland jagt, der Himmel gnädig lächelnd vorübergehen läßt. Männliche Wehmuth bat andere Weijen. Umübertroffen im Ausdrud ift das Lied „Es kehrt die dunkle Schwalbe”. Nur dem, welcher die Ent: täufchungen des Yebens bis ins Mark empfunden bat, jtellen jih Töne ein, wie jie ung Schack's „Herbitgefühl”, Candidus' „Schwermuth”, Lemcke's „Verzagen“ zu hören gibt. Aus dem Munde eines ſolchen Mannes verjteht man auch die ironisch bitteren Betrahtungen über die „Dirngeipinnfte der Menichen“, die „Fetzen goldner Liebesträume”. Von blafirtem Weltichmerz find ſolche Aeußerungen dennoh um eine Welt entfernt. Mit ernster Ruhe finnt er dem unmerflichen Niedergange nad) von der Höhe des Lebens bis zu dem Port, der Alle bergend aufnimmt; von Menjchenveradhtung heilen die erguidenden Töne aus dem alter des Vaters der Xiebe.

Es iſt nur jelbitverftändlih, daß eine folche Natur auch das Erotifche derber auffaßt. Mozart's und Goethe'3 Sinn- lichkeit ift naiver und heiterer. Wenn man aber für das Ber- jtändniß des Figaro und der Römischen Elegien die berrichende Zeititimmung mit beranzieht, jo jollte man der Kraftnatur eines Brahms im Zeitalter materieller Lebensanſchauung das Gleiche nicht verweigern. Wie bei jenen älteren Meiſtern ift der erotische Inhalt durch die ftrengite Kunftform gereinigt und von ftofflicher Schwere entlaftet. Einzelne Züge mag man hinweg wünjchen, der Gejammteindrud it Gejundheit. Wollte an diefer Jemand zweifeln, jo würden ihn die fleinen volfsmäßigen Lieder eines Beileren belehren müſſen, die Brahms jein ganzes Leben hindurch hat entitehen laffen. Nichts übertrifft die Unschuld, Friſche und Herzigkeit diejer Weifen, deren viele in den Volksmund übergehen könnten, was fie mit der Zeit auch wohl thun werben. Es gehört feine Vortragsfunft dazu, ie als harmoniſche Kleine Kunitwerke ericheinen zu laſſen. Bei den übrigen Gelängen,

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namentlich den größeren, verhält es ſich anders. ch halte es jogar für jehr jchwer, fie in der Wiedergabe angemeſſen zu ge: jtalten. Die Melodien haben nicht immer die weichen, fließenden Linien Schubert’3; fie zeigen fcharfe Spigen und Kanten, aud) wenn ein fünjtlerifcher Grund dafür nicht zu finden ift. Eine Art injtrumentaler Figuration begegnet zuweilen, die der Sänger als jolche verftehen muß, um fie nicht aufdringlich zu machen. Je beicheidener die Mitgift von Umfang und Kraft ift, welche die Natur der Menjchenitimme gewährt hat, deſto umlichtiger wird der Gomponift mit ihr haushalten müſſen. Schon Fleine Schritte entiprechen bier ftarken inneren Bewegungen, und Intervalle von aeringer Treffichwierigfeit können gewaltſame Störungen der Schönheitslinie bedeuten. Die Berufung auf Bach zur Erbhärtung des Gegentheils verjagt. Eine Bach'ſche Singmelodie herricht nicht, fie hat gleichberechtigte inftrumentale Melodie-Mächte zur Seite, die fie einfchränfen, und denen fie ſich nothgedrungen an: paſſen muß. Dies gilt nicht von Brahms. WBielleiht wandelt er manchmal unbewußt auf Bach's Wegen, in deſſen Kunft er ih jo tief heimisch fühlt. In andern Fällen mag der Schrei der Yeidenfchaft gewollt fein, nur weil er der Natur des Com: poniſten entſprach. Merkwürdig iſt eine gewijie Vorliebe für den TDreiganztonschritt und fein Gegenbild, die verminderte Quinte, dies legtere befonders in der Gadenz, in welcher er jonit durch Neuheit und Gewähltheit jo oft überraſcht. Die Schwierig- feit liegt aber auch in der Begleitung. Nicht Figurenreihthum it es, was zunächit als hervortretendes Merkmal auffällt, jondern Vielgeftaltigfeit des Rhythmus und Neuheit der Harmonie. Beides fann den Gefammteindrud mächtig heben, aber auch die Aufmerkſamkeit mehr, als erwünſcht it, von der Melodie ab- lenfen. Mir it, als ob dies zumeilen geichähe, und als ob bei der Wiedergabe cher auf eine Abbämpfung diefer Wirkungen zu jehen jei, als auf deren volle Entfaltung. In jedem Falle bat Brahms, der Liedercomponiit, feine Stilgeheimniffe, deren Schlüfjel niht am Wege liegt.

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Die alte Zeit kannte eine reich entwidelte Kammermuiif für Gejang, die im vorigen Jahrhundert allmählich unterging. Das Lied, ihr Todfeind, befiegte fie. Brahms hat zahlreiche Singquartette mit Clavier gejchrieben. Ich finde «3 nicht richtig, wenn man biefe an Schumann's „Spanifches Liederſpiel“, „Spanifche Liebeslieder”, an das „Minneſpiel“ nad Gedichten Rüdert’3 anfnüpft, Werke, in denen der Quartettgefang nur nebenher auftritt. Sie find doch im Wefentlichen etwas Neues, zu dem fich feinjte Kunſt, Geift und warmes inneres Leben ver: einigen. Der Ton heiterer Anmuth herrſcht vor: die erite Sammlung (Op. 31), die Zigeunerlieder, die zwei Sammlungen Liebeslieder in MWalzerform find Unterhaltungsmufif gewählteſter Art. Legtere fol man nad) Belieben mit oder ohne Gejang vortragen können; es iſt bei einzelnen nicht leicht zu jagen, welche Idee die urfprünglichere war. Der mannigfaltige Reiz, ‘den diefe von blühender Erfindung gefättigten Fleinen Ton- bilder gewähren, wird durd die Sonne des Humors erhöht, die über dem Ganzen leuchtet. Die verfchiedenartigften Liebes: empfindungen jammt und jonders in Walzerforn abfingen laſſen, jeßt eine freie Erhebung über diefelben voraus, die nur der Eigenart dieſes Componiften zuftand, und auf dem Gebiete der Poeſie an Goethe erinnert. Ein Meifterjtüd entzüdenden Humors in breiterer Form ift das Quartett „Fragen“ (Dp. 64, Nr.3). Aber Brahms müßte nicht fein, der er ift, hätte er die neu gejchaffene Form nicht auch dem Ernſt dienitbar gemacht. Der Gefang an die Heimath, „Spätherbit” und „Abendlied“, ganz vor Allem die jüngit erſchienenen „Sehnſucht“ und „Nächtens“ find tieffinnende Mono: loge der Einſamkeit. Die vier Sänger und der Spieler dienen dem Künſtler nur als Organe, fein perſönliches Empfinden auszutönen.

Dagegen brauchte der unbegleitete mehritimmige Gefang in unferem Jahrhundert nicht erjt neu gejchaffen zu werden. Er war da; aber man jcheint das heute faft vergeffen zu haben er erjcheint wejentlich al3 eine Erweiterung und Ver- feinerung des vierjtimmigen Männergefanges. Diejem, nicht etwa

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einem Zurüdgreifen auf die Liedblüthe des 16. Jahrhunderts, verdanken wir jein Wiedererjtehen. Damit war auch feinem muſikaliſchen Gehalt und feiner Empfindungsart die Grenze gezogen. Brahms unterfcheidet fih von Mendelsjohn und ben GSeinigen dadurch beftimmt, daß er Stimmung und Technik des alten Liedes in die beftehende Form einzuführen ſucht. Es ift dadurch eine breitere Grundlage gewonnen, und ich halte es für möglid, daß das mehrjtimmige Lied jih auf ihr gedeihlicher entwidelt als bisher, da es nad dem eriten Schuß, den es machte, jogleih wieder abzuwelfen begann. Daß durhaus die alte Diatonif wiederhergeftellt werde, ift natürlich ausgeſchloſſen. Es genügt, fie al8 den nothwendigen Ausgangspunkt zu erkennen. Sängern unjerer Tage, welche harmonijch zu empfinden gewöhnt find, fann Manches zugemuthet werben, was ihren Collegen vor dreihundert Jahren als jtillo8 vorfommen mußte, die nur fym: phoniſch zujammengeordnete Melodien kennen wollten. Wie weit darin gegangen werden darf, liegt außerhalb der Borherbeitimmung. Der Künftler muß wiſſen, was er wagen darf, ohne fih am eignen Leibe zu jchädigen. Ich jage nicht, daß die Intonations- reinheit bei Brahms nicht manchmal größere Schwierigkeiten böte, al3 nöthig wäre. Wenn man aber den neuen Gehalt dagegen in die Schale wirft, den er dem Liebe zugebracht hat, dürfte fie doch jehr zu feinen Gunjten jinfen. An den enharmonijchen Schwierigkeiten in „Darthula's Grabgejang“ wird fich jede ge: bildete Sängerfhaar mit Freuden mühen, um zum Genuß des Ganzen zu fommen, das mit wahrhaft wunderbaren Tönen wie aus fernjter Vorzeit herüberklingt. Es erklärt ſich gleichfalls aus der Beichaffenheit der alten Vorbilder, warum Brahms bei der üblichen Bierftimmigfeit nicht ftehen geblieben if. Wie er ohne Zwang jehsitimmig zu jchreiben verftcht, hat er noch in einem feiner jüngften Werfe (Op. 104) gezeigt. Für das Männer- quartett jcheint er fih wenig zu interejfiren, mehr für den Frauenchor, und aud hier hat er es gewagt, bis zur Sechs— ftimmigfeit vorzufchreiten.

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IV.

Polyphon ſchreiben läßt ſich lernen; was nicht gelernt werden kann, iſt urſprünglich polyphon empfinden und alſo auch erfinden. Schumann beſaß dieſe für unſere Zeit ſeltene Gabe, aber er hat ſie nur auf inſtrumentalem Gebiete nutzbar gemacht. In die Geſangs-Polyphonie tiefer einzubringen, fühlte er ſich nicht getrieben. Brahms befigt die Gabe ebenfalls, ih darf nicht entjcheiden wollen, ob in noch ftärferem Grade, jedenfalls ließ ihn feine Energie vor der jchwierigen Aufgabe nicht Still halten, welde Schumann jih aus dem Wege jchob. Um eine Löjung im Sinne Cherubini’s und Mozart’s fonnte es Sich für ihm nicht handeln. Diefe jchöpften die Mittel aus Paleſtrina's Born; für den protejtantiichen Norddeutichen ſtand Bad dazwiſchen. Bach's Rolyphonie ift nicht original gejanglich, jondern dem Geſang nur angepaßt. Er bejaß ein Recht, jo zu verfahren; follte ihm einmal die kirchliche Muſik Anfang und Ende alles Schaffens jein, jo war dies nur möglich auf Grund der Orgelkunſt, welche damals im proteftantifchen Bereich allein noch firhlihd war. Die Zeiten haben fich geändert, die pro- teſtantiſche Kirchenmuſik ift untergegangen, Bach ift geblieben. Ihn umgehen fann Niemand; jehe Jeder, wie er mit ihm fertig werde.

Dies ift die Lage. Wie ein Ausweg aus ihr zu finden jei, fann fein Hiftorifer zeigen, die That des Künſtlers allein fann ihn brechen. Wer nicht auf das Erbe des 16. Jahrhunderts verzichten will, jteht vor einer doppelten Schwierigkeit. Wie joll er es nutzbar machen, nachdem Bad) es in andere Werthe umgejegt zu haben jcheint? Das Gebahren der heutigen Com: poniften zeigt deutlich ihre Verlegenheit. Die Katholiken, ſo— weit fie jegt dabei find, ihre Kirchenmufif zu reformiren, wiſſen nichts mit ihm anzufangen. Die Winterfeld-Grel’iche Richtung, welche von Berlin ausgeht, hält ihr Ideal mit Bach's Art pofitiv unvereinbar. Brahms fucht den doppelten Bogen zu jchlagen von dem Neformationszeitalter zu Bad, von diefem zur nad):

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beethoven’schen Periode. In dieſem Lichte erjcheinen mir jeine Motetten, das Deutfhe Requiem und das Triumphlied; Die Zeit wird lehren, ob ih richtig jah.

Die firhliche Liturgie gibt ihm feinen Stügpunft. Aber darum jchweben jeine geiftlichen Tonmwerfe doch nicht in der Luft. Ahr Unterbau ift die religiöfe Volfsempfindung, wie fie fich in Luther's Bibel und der geiftlichen Dichtung ſeit Jahr- hunderten ausſpricht. Er hat aus diejer Quelle jeinen Ideen— ihag in gleicher Weife bereichert, wie aus dem weltlichen Volfslied. Er ſteht zu ihr ganz ebenfo naiv, wie zu dDiefem. Es fommt dabei gar nicht in Frage, ob die Verfündigungen der Bibel und die Gebete des Kirchenliedes jeine perfönlichen Glaubens- grundjäge enthalten. Als Ausdrudsformen der Vollsanihauung und Bollsempfindung find fie ihm Wejenbeiten.

Die geiftlihen Gefänge für Frauenftimmen über lateinische Terte möchte ih am liebiten als Studien bezeichnen. Sie find zum Erjtaunen künftlich, nicht ohne Gewaltjamfeiten, und haben außerdem nicht allzuviel von Brahms'ſchem Weſen an fih. Auch in den frübeiten deutjchen Motetten: „Es ift das Heil uns fommen ber“ und „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz” für fünf Stimmen zeigt er noch nicht ganz denjenigen Grab der Sewandtheit, welchen die Schwierigkeit der Aufgabe erheifcht, die er fich ſtellt. Alle folgenden find bewunderungswürdig; der Meiſter hat fih nun einen eigenen Stil gejchaffen, bei dem man weder an Balejtrina oder Eccard noch an Bad), jondern immer nur an Brahms jelber erinnert wird, und der in den adt- jtimmigen Felt: und Gedenkſprüchen ſich ebenfo elaftiih wie majejtätifch bewegt. Nur die Einführung des Chorals „Mit Fried’ und Freud’ ich fahr” dahin” am Schluſſe der köſtlichen Motette „Warum iſt das Licht gegeben den Mühjeligen“ gehört zu den Bach dargebrachten Huldigungen, die in der dee des Kunſtwerkes jelbit nicht begründet find. Ein Choral, als fremder Beitandtheil in einem Originalwerfe verwandt, kann nur als Symbol der evangelifchen Gemeinde gelten. Bach durfte dies

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thun, da feine Werfe dem Gottesdienfte zugehörten; bei Brahms trifft die Bedingung nicht zu. Das mußte er gewiß jo gut wie wir. Darum nenne ich eine Huldigung, was er gethan hat.

Kleine Chorftüde mit Begleitung: außer dem Begräbniß- gefang ein Ave Maria mit Eleinem Orcheſter, ein Geiftliches Lied von Flemming mit Orgel, der 23. Palm mit Orgel bereiten auf das Deutjche Requiem vor, das dennoch bei feinem Eintritt in die Welt mit der Gewalt einer Offenbarung wirkte. Auch wer fih von Brahms des Außerorbentlichen verfah, hatte diejen adlergleichen Aufſchwung nicht erwartet. AU das Feuer, welches ſich durch Berührung mit dem Größten und Höchften im Genius des Künjtlers entzündet hatte, war bier mit feinen intenfivjten Strahlen in einen Brennpunkt zufammen geleitet. Zu den kleinen Chorftüden verhält fih das Requiem etwa, wie Brahms’ große Liedformen zu feinen Strophenliedern. Beethoven’3 Symphonik ift nad Form und Darftellungsmitteln in die dee einbezogen. Die Art der Lyrif ift infofern oratorien= haft, als fie jih in der Mehrzahl der Säte an volfsthümlichen Voritellungen und Bildern von Tod und ewigem Leben ent- zündet. Andrerſeits wird diejen doch eine jo tief gehende Einwirkung auf die mufifalifche Erfindung wie bei Händel nicht geitattet. Alles geht entjchiedener auf dem Grund und Boden der reinen Mufif vor fich, und dadurch erjcheint das Werk doch auch der Weiſe Bach's verwandt. ES tritt alfo auch bier ftiliftifch etwas Neues entgegen. Neu ift ferner, daß das Deutſche Requiem nur aus Chorfägen befteht. Anderwärts hat Brahms bewiejen, daß er auch große Sologefänge zu bauen vermag. Im Nequiem werden nur breimal kurze Solofäge mit dem Chor combinirt, um deſſen Wirkungen durch den Gegenſatz zu heben. Cherubini's Requiem als Vorbild bezeichnen kann nur die ober: flächliche Betrahtung. Dies gehört durchaus in die katholische Liturgie, ift feiner ganzen Stimmung nad) durch fie bedingt umd rechnet auch mit den mannigfachen finnlich-fichtbaren Eindrüden, welche der Aft einer Seelenmefje darbietet. Brahms bat jein

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Werk „Ein“ deutfches Requiem benannt und dadurch genügend angedeutet, daß es zur kirchlichen Todtenfeier nur in einen entfernten Vergleich gejegt werben darf. Nah dem deutſch— franzöfifchen Kriege hat man es mehrfach für geeignet befunden, zur Gedächtnißfeier für die Gefallenen aufgeführt zu werden. Mir erichien dies als eine unglüdlihe Wahl. Welche Art von Mufit für eine ſolche Gelegenheit paßt, zeigen Stüde wie die Todtenflage aus Händel's „Saul“ oder der Eingangschor des „Judas Maccabäus“. Steht die Zuhörerſchaft Schon unter einer jtarf ergreifenden, ftimmunggebenden Vorftellung, jo it ihr nur eine ſolche Muſik annehmbar, die dieſe vorausfegt, ausbreitet und verflärt. Die Muſik des Deutichen Requiem gräbt fich zu tief ein und fliegt zu hoch; fie kann nur ein ganz unbelaftetes Gemüth mit fich ziehen. Selbſt diefem wird «8 nicht leicht jein, ohne Erihöpfung zu folgen. Den Hörer jo andauernd im Zuftande höchſter Anfpannung halten, iſt Brahms'ſche Grau: jamfeit. Sie tritt vielleicht noch rüdjichtslofer auf im Triumph: lied für adhtitimmigen Chor und Orcheiter, mit weldem Brahms 1872 den Sieg der deutſchen Waffen feierte. Wie im Requiem männlihe Trauer, jo gibt hier eine heldenhafte Freude den Grundton an. Aber nur eine Natur von Erz ift im Stande, den koloſſalen Aufbau dieſes unvergleichliden Monuments iympathetifch mitzuleben und feine Wucht nicht vielmehr als Belaftung zu empfinden. Brahms hat unbeachtet gelaffen, daß der mufithörende Theil des deutjchen Volfes nicht aus lauter Spartanern beiteht. Gibt das Triumphlied auch nur drei Säße gegenüber den jieben des Requiem, jo herrſcht in diefen doch vergleihsweije größere Abwechslung der Stimmungen. Sit die Art der Lyrik hier und dort diejelbe, jo jind doch im Requiem die Bilder mannigfaltiger, an denen fie fih aufranft. Wohl hat der Componift den allgemein lautenden biblifchen Tert der eriten beiden Chöre durch geiltvoll gewählte Mittel gegen- ftänblicher gemadht: das Hauptthema des eriten Chores ift eine Umbildung der Nationalhymne, das bedeutet die Huldigung

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für den Herrſcher im Siegerfranz; im zweiten Chor weijt die wie Glodenton hineinklingende Melodie „Nun danket alle Gott“ auf eine kirchliche Dankfeier hin. Aber die dadurd erzeugten Voritellungen werden für die Maſſe der Zuhörerſchaft nicht greifbar genug, um fich lebendig in ihr zu entfalten. Erſt die efftatiihe Viſion des dritten Chores von dem Helden auf weißem Roß, der dur die geöffneten Himmelsthore reitet, padt Alles, was lauſchen kann, mit finnlich bezwingender Gewalt. Für Brahms’ Auffaifung der Bibel, aus der er fih für das Triumphlied wie für das Nequiem den Tert jelbit zu— jammenftellte, ift dieier Chor lehrreih. Sie ift ihm das Volfs- buch, deſſen Erzählungen er in Töne umfegt. Wer der Offen: barung Johannis einen myſtiſch kirchlichen Sinn unterjchiebt, möge es ihm verübeln; er bat dann aber jedenfalls den Com: ponijten nicht verjtanden.

Ein Chorwerk von dem Umfang dieſer zwei hat Brahms jeither nicht wieder geſchrieben. Aber er hat neben fie vier fleinere geitellt, die man ebenfalls religiöje nennen kann. Doch nur in der Rhapſodie nach Goethe's „Harzreife im Winter“ gilt die Religion der Liebe, welche das Chriſtenthum predigt, und dieſes Merk würde man ebenſo richtig nicht zu den chorifchen rechnen. Die Hauptſache in ibm iſt der Gejang einer Alt- jtimme, welche im herrlich entwidelten Formen von Menſchen— haß redet und jener Liebe, mit der ein allwaltender Vater aus taujend Quellen den Durftenden tränft. Der jchließlich Hinzu- tretende Männerchor gibt nur den weichen, wärmeathmenden Grund ber, auf welchem der Einzelgejang troitvoll und erhaben dahinwallt. Die andern enthalten helleniſche Anſchauung: durch eine tiefe Kluft jind felige Götter und unjelige Menjchen ge- ihieden. Als habe ihn der Gegenſatz gereizt, läßt Brahms unmittelbar auf die Rhapſodie das Schidjalslied aus Hölderlin’s „Hyperion“ folgen, dem er jpäter noch Goethe's Parzenlied an die Seite jeßte. Dort wohnen die Götter im Himmel entihwundenen Kinderglüds, knoſpenden Lebens voll aus ftillen Elaren Augen

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blidend, und der Menſch, aus diefem Himmel vertrieben, jtürzt in tobender Unraft wie ein Strom übers Geklipp ins Dunfle hinab. Hier find die Götter das felbitfüchtige Ariftofraten- geichleht, das die Menſchen braucht und von fich jtößt, ihnen ihr gutes Necht verweigernd. Mit der Verſchiedenheit des In— halts dedt fih die Muſik. Im Schickſalslied iſt fie jinnender, jchwermüthiger: wenn der Chor geendet hat, vom Dahinſchwinden der leidenden Menſchen zu fingen, zieht das Bild des Reichs der Seligen dem jehnjuchtsvoll Aufblidenden noch einmal vorüber, hoch im lichten Azur, wohin fein Laut der menschlichen Stimme mehr dringt. Vom Liede der Barzen, „als Tantalus vom goldnen Stuhle fiel”, ſagt Ipbigenie: „Sie litten mit den edlen Freunde; grimmig war ihre Bruft und furchtbar ihr Geſang.“ Der düſtre Zorn tft es, der hier jeine dröhmende Stimme erhebt. Mit zer- malmender Wucht wirft fich dieſes Stüd auf den Hörer. Nur gegen Ende jchleicht fich beim Ausblid auf die Leiden der fom- menden Tantaliden-Gejchlehhter eine tiefe Wehmuth ein. Das dritte Werk ift Schiller'3 Nänie „Auch das Schöne muß fterben“, Im Requiem hatte es gelautet: „Der Tod it verichlungen in den Sieg.“ Bei den Hellenen beugen ſich jelbit die Götter dem bezwingenden Schidjal. Im Senfeit$ der Chriiten werden alle Thränen getrodnet und ewige Freude wird über ihren Häupten jein; der hellenifche Geift verförpert in Schönheit nur, was groß und herrlich war; das „Gemeine“ geht in das wejenlofe Reich der Schatten hinab. Der Lichtglanz der altgriechiichen Welt und ihre geheime Melancholie haben die Fäden geiponnen, aus welden die Nänie gewoben iſt. Leicht bemerkt man, daß in diejen fo zu jagen antifen Stüden der mufifaliiche Stil ein anderer iſt, als in den chrütlihen. Der Tieffinn der Rolyphonie war ihrem Wejen nicht gemäß; ein mehr durd Mailen wirkender, homophonerer Chorjag herriht und überall eine gewiſſe Einfach— heit. Sie zeugen ebenfowohl von der eindringenden, wie von der umfafjenden Kraft des Künſtlers. Ihre geringe Anzahl gegenüber den chriftlich-religiöfen Werfen zeigt aber deutlich an,

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daß er ſich doch am wohlften fühlte, wenn er im Anſchauungskreiſe jeines Volkes wirkte.

V.

Ich habe erwähnt, das Brahms es nicht liebt, in der In— ftrumentalmufif zu poetifiren. Schumann's reizvolle Clavier- bilder mit Ueberichriften finden bei ihm nur wenige Seitenjtüde im Andante der F-moll-Sonate und in den Clavier- „Balladen“ (Op. 10). Ich meine nicht, daß poetifche Vorftellungen in feine Inſtrumentalmuſik nicht Doch zuweilen ihre farbigen Lichter würfen. Ganz flares, in fich jelbft befriedigtes Tonleben fließt durchaus nur bei Mozart; Haydn und Beethoven zeigen fich poetifchen Stimmungen zugänglider, und Beethoven noch um ein jtarkes Theil mehr ald Haydn. Ich würde jagen, daß Brahms unge: fähr auf den Standpunkt Beethoven’S tritt, vielleiht mit noch etwas größerer Zurüdhaltung: ein Baftoralfinfonie-PBrogramm, ein Danfgebet des Genejenden, jelbit Duverturen wie zu Egmont und Coriolan, die von ihrem Zweck einen bejtimmteren poetischen Charakter entlehnen, hat er fich nicht geftattet. Dagegen erzielt er dergleichen Wirkungen manchmal durch die aparte Wahl der mufifalifchen Organe (Horn-Trio, Clarinetten-Quintett), durch gedämpfte Geigen, durh Tongänge, die irgend eine Vorftellung zu weden geeignet find. Alles dies verhältnikmäßig jelten.

Worauf er von Anfang an mit feiner ganzen Energie los— geht, ift organische, einheitliche Durhbildung nach ausſchließlich mufifalifchen Gefichtspunften. Seine Form der öfterreichifchen Meiiter bleibt unbenugt, auch das vernachläſſigte Rondo tritt in jeine Stelle wieder ein. Den großen Rahmen bildet die vier- ſätzige Sonaten- oder Sinfonie-Form, in welchem er jedem der Sätze nah Charakter und Conftruction die Nolle beläßt, welche er aus Haydn's, Mozart’S und Beethoven’s Hand empfing. Die muſikaliſchen Politiker unferer Tage nennen ihn einen Reactionär. Es gibt feinen wunderlicheren Vorwurf. Niemand beanftandet do, daß heute noch Lieder componirt werden. Dieje Form be-

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fteht feit einem halben Jahrtaufend, ift, wennſchon gelegentlich etwas verändert und erweitert, im Grundriß immer die gleiche geblieben, und Hunderttaufende von Liedern find entitanden, ohne daß fie fich erichöpft hätte. Sit dies in fo knapp zu: gejchnittenen Verhältniſſen möglich, wie jollte e8 unmöglich fein in den denkbar weiteiten finfonifchen formen, die der Freiheit individueller Bewegung einen unmeßbar größeren Raum ge: währen? Andere jagen, Brahms bemweife dur die That, daß fih in diefen Formen „noch“ etwas Neues jagen lafje. Nicht „noch“ , jondern immer wird es der Fall jein, jo lange unjere Muſik bejtehbt. Denn fie find aus dem innerften Weſen der: jelben abgeleitet und im ihren Grundzügen gar nicht voll: fommener denkbar. Selbit diejenigen, welche meinen, fie zer: brochen und damit eine befreiende That vollbracht zu haben, be- dienen fich ihrer, mwofern fie überhaupt noch irgend einen be— friedigenden Eindrud erzielen wollen. Sie fünnen nicht anders, jo lange e8 noch Sat und Gegenjfag in der Mufif gibt. Nur machen fie es viel jchlechter, als der, welcher die Hinterlafjen- Schaft der Vergangenheit mit Bewußtjein und in der Abjicht antritt, fie im Dienjte des Schönen nad Kräften zu verwenden. Kraft freilich gehört dazu; im Uebrigen führen viele Wege ins Heiligthum. Weber und Schubert, Schumann und Gade haben das feite Gefüge Beethoven’s vielfach gelodert und find in der muſikaliſchen Architektonik unzweifelhaft geringere Meiſter. Sie fuchen diefen Ausfall durch andere herrliche Eigenichaften zu vergüten, und Niemand, dem Mufif mehr ift als Rechenkunſt, wird Pedant genug fein, fie ihrer Schwächen halber jcheel an— zufehen. Nur die Annahme, als ſeien ihre Millfürlichkeiten die Wegweiſer zu neuen höheren Zielen, it irrig. Die Grundlagen müſſen feit bleiben, auf ihnen baue ein Feder feinem Bedürfniſſe gemäß. Nach Brahms werden Andere kommen, die es anders machen als er. Sein Streben geht auf Concentrirung und un— trennbar feſtes Zuſammenfügen mit all den Mitteln, welche der Tonkunſt als ſolcher eigen ſind.

Philipp Spitta, Zur Muſik. 27

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Von jeher hat Brahms an fich jelbit die allerhöchſten An- forderungen geftellt und feine Kräfte jeder Aufgabe gegenüber vorlihtig geprüft. Nicht alle jeine Werke find gleichwertig, dies muß einmal in menjchlichen Dingen fo fein; von Bedeutung aber it Alles, was er hat erjcheinen laffen. Unverfennbar hat er vor gemiffen Gattungen einen jehr großen Rejpect: mit Sinfonien fam er erit hervor, als er längſt auf die Höhe feines Entwidelungsganges gelangt war, die Clavierjonate hat er nad) den erſten jugendmutbigen Würfen bis heute ganz unangerührt gelaffen. Sehr zahlreich aber find die Kammermufifwerfe, in denen fih das Glavier mit andern Inſtrumenten verbindet. Seinen Glavierftil hat er jeit den frühelten Anfängen kaum mwejentlih geändert. Daß er fih Schumann's Art nicht an- eignete, fommt ihm für die Kammermufif zu ſtatten. Schumann's Clavierpolyphonie erjchwert den andern hinzutretenden Inſtru— menten die Betheiligung. Sie werden in eine untergeordnetere Stellung gedrängt, als fie verdienen. Iſt Schon ganz allgemein die Zmweiltimmigfeit für den Clavierfag das Normale, jo be- jonders dann, wenn ein oder zwei concertirende Inſtrumente hin- zutreten. In diefer Beziehung bleibt es durchaus bei den Grund- jägen, welchen Bad in den befannten jehs Biolinjonaten ge: folgt ijt. Natürlich können fich den beiden Hauptitimmen general: bakmäßig füllende Harmonien gejellen, auch können dieje zerlegt oder figurativ umſpielt werden, In jeinen Biolin- und VBioloncell- Sonaten fowohl wie in jeinen Trios zeigt fi) Brahms über diefen Punkt von Anfang an vollitändig im Klaren. Jene find in dem bezeichneten freieren Sinne durchaus dreiftimmig, dieſe bald vierftimmig, bald gegendhörig, indem die concertirenden Inftrumente dem Clavier gegenüber zufammenbalten. Faſt durch: aus in diefem Stile hält fih das C-moll-Trio, in jenem das vier Jahre frühere Trio in C-dur, Es ift belehrend, fie unter dieſem Gefihtspunfte zu vergleihen, und faſt jcheint es, als babe der Componiſt fie mit Abficht in Gegenjag gebradt. Im C-dur-Trio ift nur das Andante in Variationenform gegenchörig,

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dieſes aber auch jo entjchieden, wie es eben nur far bemwußter Vorſatz zu Stande bringt: Streidhinftrumente und Elavier haben je ihr eignes Thema, welche in contrapunktifchem Gefüge zu— jammen auftreten, dann wird bald das eine, bald das andere variirt, zum Bejchluß beide zufammen. Ein Einfall, den Bad gehabt haben könnte. Treten dem Clavier mehr als zwei In— jtrumente zur Seite, jo ändert jich das PVerhältniß und die Gegenchörigkeit wird das herrichende Stilprincip. Das un: übertroffene Mufter für diefe Schreibart ift Mozart. Brahms finden wir bier anfänglich auf anderer Fährte. Er mag er- wogen haben, daß die Klangfülle des Claviers fich jeit Mozart’s Zeiten ſehr verftärft und es gegen den Chor der concertirenden Initrumente das Uebergewicht gewonnen bat. An den erjten beiden Clavierquartetten und im Glavierquintett berricht ein Berhältniß, das man injofern ordheitral nennen fann, als das Glavier ungefähr die Rolle jpielt, wie im Orcheſter das Streidh- quartett: es jtellt Kern und Hauptjadhe dar, die andern Sn= | jtrumente find verjtärfend und füllend thätig, und treten zumeilen mit Solocharakter, jeltener in gejchloffenen Maſſen alternirend hervor. Die Schreibweije deckt jich doch nicht ganz mit derjenigen Schumann’s, welder das Clavier in noch viel höherem Grade überwiegen läßt. Sie ilt etwas Neues, was aber dem Meijter jpäter jelbft nicht mehr gefallen haben dürfte. Im dritten Elavier- quartett ift er zum Stile Mozart’s zurüdgefehrt, oder befier: er hat ihn fich im veränderten Tonmateriale neu errungen. Mozart’3 Muſik macht überall den Eindrud des natürlichen Blühens und Quellens; es fcheint, als habe es Arbeit für ihn nicht gegeben, daher die elyſiſche Wonne, mit der er das Herz erfüllt. Beethoven weiß, daß er unfehlbar fiegen wird, ihm folgen wir mit dem jtolzen Vorgefühl des Triumphes. Brahms haujt in eyklopiſchen Werkjtätten; mächtige Kräfte dienen ihm, aber fie jind manchmal widerſpänſtig und müſſen durch einen gebieteriihen Willen gezwungen werden. Er imponirt immer, und der Hörer fügt fih, wenn aud nicht immer —* Wenn *

N

das dritte Glavierquartett dieſe Betradhtung anregt, jo geichieht e3 nit nur aus einem Grunde Seine Vorgänger und Das Glavierquintett, auch das erſte Streichjertett find von einem Reihthum der Gedanken, den man verichwenderifch nennen würde, wenn es für einen jo umfichtiaen Haushalter überhaupt Verihwendung gäbe. Im dritten Quartett hat er, jo jcheint e3, zeigen wollen, daß man es auch anders machen könne, ganz anders. Er beichränkt ji in den Hauptgedanfen auf das Aller: nothmendigite, er geht jo weit, daß er im erjten Satze jogar auf einen längeren Seitengedanfen verzichtet und jtatt deſſen beide Male eine Eleine Bariationenreihe über ein achttaktiges Thema einbaut. Unerfhöpflich, wie dort in neuen Melodien, zeigt er ih hier in der Ausjpinnung des thematifchen Gehalts, über: haupt eine jeiner ſtärkſten Eigenichaften. Weil er auf fie mit voller Zuverficht vertraut, mißachtet er zumeilen, daß die natür- lihe Bejchaffenbeit der Gedanken ihrer Verwerthung doc eine Grenze zieht. ES kommen bei ihm Stellen vor, wo die Dinge zwar themätifch oder motivisch verbunden find, der Hörer aber von ihrem inneren Zufammenhange doch nicht überzeugt wird. Auseinanderreißen laſſen fte fich nicht mehr, aber man fieht die Eijenflammern und daß Gewalt gebraudt worden ilt.

Auffällig ift mir immer gewejen, daß Brahms, wenn er ſich einer neuen Gattung bemächtigt, dies in doppeltem Angriff, wie von zwei Seiten her, zu thun liebt. Er fchreibt zwei Serenaden, zwei Glavierquartette, zwei Streichquartette, zwei Sinfonien, zwei Ouverturen unmittelbar hintereinander. Hier herrſcht offenbar eine Art Methode. Pan hat gejagt, jedes vollendete Kunſtwerk laffe im Künftler einen Reſt von Unbefriedigung zurüd und dieſer bilde den Keim feiner nächiten Schöpfung. Das kann es aber bei ihm nicht wohl fein, denn in Stil und Mittelbeherrichung ſtehen fich die beiden Eremplare immer gleich. Niemand wird jagen fünnen, das eine jei bejjer als fein Nach— bar, es ijt eben nur anders. Es hat den Anjchein, als fpalte fih bei ſolchem Anlaß jeine Phantaſie gleihjam in zwei Hälften,

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deren jede nun mit verboppelter Energie arbeitet. it die Auf- regung des eriten Angriffs vorüber und er im fichern Beſitz, jo läßt er e8 dann gemächlicher angehen. Man würde auf einen ſolchen Gedanken nicht gerathen, zeigten ſich nicht auch andere rätbjelhafte Züge. Wie kommt es nur, daß ein Künſtler, dem das Bilden einheitlicher Gejtalten über Alles geht, den einfachiten Mitteln für ſolchen Zmwed oft jo eigenfinnig ausweiht? Die ganze Architeftonif eines Sonatenfages beruht auf dem plajtifchen Hervortreten der Hauptgegenjäte. Das weiß unſer Meijter ganz genau und erfindet auch demgemäß. Aber nun treibt ihn fein Dämon, ſich am eignen Kinde zu vergreifen. Eine Melodie, weldhe, wenn fie auf ſchwach bemwegter Woge dahinſchwömme, durch ihre Schönheit Alles entzücken würde, jtattet er mit einer unruhigen, jchweren, durch ineinander ipielende Rhythmen auf: fälligen Begleitung aus, die zunächſt nur den einen Zweck ficher erreicht, die Aufmerkſamkeit zu ftören. Es ift, als ob ihn die eigene Schönheit verlegen machte. Dadurch ſchwindet die Kraft des Gegen- jates und das Ganze jcheint eintönig, was es nicht fein fol, und in der Nähe betrachtet, auch nicht iſt. Andrerjeits fommt es vor, daß die Gegenjäge zu jchroff ausfallen und der Hörer Mühe hat, die verbindende Grunditimmung feitzuhalten. Daß Brahms durch jein Temperament in Gefahr fommt, bei leiden- ihaftlihen Steigerungen das Maß zu verlieren, iſt ein jchon bei der Geſangsmuſik erwähnter Zug. Er fällt häufiger auf in der Kammermufif für Streidhinftrumente allein, als dort, wo das Klavier mitthätig ift. Bei den öfterreichifchen Meijtern bleibt einige jpätbeethovenifche Werfe ausgenommen auch dort, wo die größte Kraftentfaltung ftattfindet, immer noch ein be: trächtliher Reit in Reſerve, der nicht angegriffen zu werden braudt. Dies wird vom Hörer empfunden und hält ihn im ruhigen Genuß. Brahms treibt die Spieler manchmal bis zur äußerjten SKraftanfpannung, und dennoch reicht fie zur völligen Daritellung der Idee nicht aus. In den Durchführungspartien find joldhe Stellen am häufigiten. Man höre fie mit gejchloffenen

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Augen, denke fie als Neuerungen menſchlicher Organe, und ver- fuche ſich vorzuftellen, in welchen Zuständen fih Menjchen be: finden müßten, damit ſolche Töne für fie paßten, welches ihre Mienen, ihre Gebärden wären. Würden fie noch ſchön genannt werben können? Man findet diefen Einfall befremdlidy ? „Der Menſch ilt das Map aller Dinge“, jagt Protagoras.

Zu den räthjelhaften Zügen gehört auch die Gleihgültigfeit, die Brahms gegen die Elangliche Erjcheinung an den Tag legen fann. Das Glavierquintett war anfänglid nur für Streid)- injtrumente gejchrieben. Dann ſchmolz er es in das Material um, in welchem es jegt bejteht, ließ e& aber auch als Sonate für zwei Claviere ausgehen. Die Bariationen über ein Thema von Haydn erjchienen für Orchefter und zugleich für zwei Claviere, ohne daß fich beitimmt jagen ließe, für welche Organe fie ur- iprünglih gedaht waren. Manche Variation jcheint für dieſe, manche für jenes bejjer zu paſſen. Er ift ein Spiritualijt, wird gejagt, auf die Erfindung an fi) fommt es ihm an. Aber es gibt in der Mufif feine Erfindung an fi, und ein Segen it's, daß es fih jo verhält. Brahms felber ftraft diefe Ausrede Zügen. Er kann genial erfinderiich fein in Klangwirkungen. Alle feine Werke geben davon Zeugniß, von den Serenaden, dem eriten Clavierconcert und den Frauenchören mit Harfe und Hörnern an bis zu dem Glarinettenquintett. Er it es immer, wo ihm etwas darauf anfommt. Die Heritellung eines durchſchnittlichen Wohlklangs und der gehörigen Abtönung der Klang: Qualitäten, dasjenige, was Andere ohne Mühe erlernen, die, mit einem Zehnt: theil feines Genies begabt, fich reich dünfen könnten, macht ihm zu Zeiten wenig Sorge.

Selbitverftändlich jage ich alles dies nicht um zu verkleinern, fondern um zu fennzeihhnen. Es wäre auch ganz falſch, zu meinen, die erwähnten Sonderbarfeiten fänden fi) in allen feinen Werfen. Sie tauchen auf und verfchwinden wieder, fie werden in feinen jpäteren Compofitionen immer jeltener. Die goldne Ernte an Kammermuſikwerken, welche die legten fünf Jahre ge:

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bracht haben, befundet ein Hineinreifen in eine harmoniſche Aus: geglichenheit der Kräfte, welches nicht das höhere Alter allein hervorgebracht haben kann, denn die Lebensenergie und Schaffens: luft durchftrömt den Neunundfünfzigjährigen noch mit gleicher Stärke wie je zuvor. Es ift ebenſowohl das Ergebniß unaus: gejegten Ringens nach den höchiten Idealen.

Brahms hat vier Concerte gefchrieben. Was man von ihm erwarten fonnte, ift, wenngleich ſpät, in Erfüllung gegangen: er hat das Concerto grosso der Alten, welches in Beethoven’ un- zutreffend fo benanntem „Tripelconcert” feinen legten Ausläufer entjendet zu haben jchien, von Neuem auf dem Plan erjcheinen laſſen (Op. 102). Violine und Violoncell find es, die gemein» ichaftlih gegen das Orcheſter concertiren. Im Aufbau be— wunderungswürdig und an bedeutenden und jchönen Gedanken reich, Tcheint mir diefes Werk doch in der Behandlung der Solo- inftrumente nicht glüdlih und namentlih im Paſſagenwerk zu jehr clavierartig. Anders fteht es in diefem Betracht mit dem Biolinconcert (Op. 77), einem glänzenden Werk von ftolzer, männlicher Haltung, das allerdings auch ein männliches Solo: jpiel erfordert. Wer es ausführen will, muß ſich nicht nur an Beethoven, jondern aud an Bad geichult haben; virtuoſiſch blendend, elegant und infinuant ift es nicht. Im Mitteljag it das Soloinftrument wohl zu ſehr aus der führenden Rolle ge: drängt, die ihm hier von Alters her und von rechtswegen zu: fommt. Die übrigen beiden find Clavierconcerte. Die Praris der älteren Meifter, ihre Concerte für fich jelbit zu fchreiben, it das Naturgemäße, wobei es joviel wie möglich verbleiben müßte. Im Concert foll das Soloinjtrument feine höchſte Leiltungs- fähigfeit nach allen Seiten hin hervorkehren; wie das anzufangen jei, fann doch vollftändig nur der wiſſen, der es ſelbſt beherricht. Brahms ijt fein Claviervirtuos; ſich zu diefer Specialität aus: zubilden, hat es ihm an Zeit und Luft gefehlt. Aber einen ge: waltigen Spieler muß man ihn nennen. Er bat feine eigne Art von Technik und ift in ihrem Bereiche ſehr erfinderifch.

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Ihr Charakter prägt fih mehr nach dem Kraftvollen hin aus, als nad) dem Zarten. Bollgriffigfeit, weite Spannungen, fühne Sprünge, eine große Gewandtheit und Ausdauer in Terzen:, Serten- und Octaven-Gangwerf, Unabhängigkeit der Hände und Finger, auch im rhythmifch-verzwidteiten polyphonen Geflecht, find einige ihrer Haupteigenfchaften. Seine Variationen über ein Thema von Paganini, fünf Hefte Studien für Pianoforte über Compofitionen von Chopin, Weber und Bach, Manches aud) in den acht Clavierftüden (Op. 76) und den zwei Nhapfodien (Op. 79) laſſen jtaunen über das, was ihm möglich iſt. An den Concerten entwidelt er diefe Technik am großartigiten und macht fie dadurd auch für die Virtuojen hoch intereffant. Dankbar im landläufigen Sinne iind jie trogdem nicht, und zwar aus folgendem Grunde.

Man hat Brahms’ Glavierconcerte wohl Sinfonien mit Clavier genannt; dies find fie nit. Grade dasjenige, was die Eigenthümlichkeit der Concertform ausmadt, und was Mendels: john und Schumann, zum Theil auch Weber, geringichäßiger behandelten, hat er jtreng refpectirt. Die Form der Sinfonie erjcheint in ihr mit der des älteren italienifchen Kammerconcerts gemifht. Wie das neuere Concert aus Mozart's Händen hervor: ging, it es ein Mujter rein muſikaliſcher Vernunftmäßigkeit, prägt zugleid die dee des Concertirens zweier verjchieden be- gabter Mächte aufs Glüdlichite aus und zeigt endlih ein jo dehnbares Gefüge, daß e8 dem freien Spiel des Soloinftruments, das, um feinen Zweck zu erfüllen, immer einen improvifatorifchen Zug haben muß, allezeit willig nachgibt. Brahms ift ein viel zu jcharffichtiger Künftler, als daß ihm entgehen fonnte, wie hoch die Mozart - Beethoven’sche Eoncertform die phantafieartigen Gebilde feiner nächſten Vorgänger überragt. Aber in einem andern Punkte weicht er von den Wiener Meiltern ab. Ihre GConcerte halten ſammt und jonders die Grunditimmung eines heiter glänzenden Spiels feſt. Der Ernft hat nur joweit Zutritt, als er der freude zur Schattirung dient. Auch die Romantifer

haben das Concert nicht anders aufgefaßt. Brahms iſt der erfte, welcher nicht die Form, aber die Stimmung der Sinfonie auf das Concert überträgt. In diefe muß der Solofpieler eingehen, und damit ijt von jelbit gegeben, daß er jein eignes Ich zurüd- zudrängen hat. Mir jcheint, daß es ein Mittel war, die Form zu vertiefen und nahhaltig zu bereichern, und ich gejtehe gern, daß ich das D-moll-Concert (Op. 15) für eins der bemunderungs- würbdigiten Stüde jeines Schöpfers halte, um jo mehr, als diefer fühne Wurf ihm ſchon in feinen Jugendjahren gelang. Der Eindrud einer düftern Majeftät geht von ihm aus, die fich zu feierlicher Erhabenheit klärt und erſt im legten Sage der Menſch— heit freundlicher zulächelt. Das fajt ein Vierteljahrhundert fpätere B-dur-Eoncert (Op. 83) ift heller gefärbt. In den erften beiden Sägen ein Ausbruch unbändiger Kraft, findet es fih in den beiden legten zu wohlthuendem Maßhalten und holder Anmuth zurüd. Die Einfügung eines vierten Sates erklärt fi aus dem Sinfonie-Charafter. So lange es bejtimmende Idee des Concerts war, daß Solo und Tutti die Mannigfaltigkeit ihres Ausdrucks— vermögeng gegeneinander ausjpielten, war ein folcher überflüffig. Der von Brahms componirte ift jehr ihön; von der Nothwendig- feit, über die Dreifäßigfeit Hinauszugehen, hat er mich noch nicht überzeugt.

Nahdem die Zurüdhaltung gegen die Orcheftercompofition einmal aufgegeben war, hat Brahms fie mit einer Nachhaltig: feit gepflegt, daß man ein Jahrzehnt feines Lebens kurz das finfonifche nennen fann. Won 1877 an erichienen während neun Jahren vier Sinfonien und außer zwei Concerten noch zwei große Owverturen. Die eriten beiden Sinfonien bilden den bei Brahms häufig zu beobachtenden Phantafiegegenfat und müfjen wie ein Paar betrachtet werden, das aus einer und derjelben tief ver- borgenen Wurzel aufgewadhien ift. Wer den Charafter des Mannes gleihjam im Auszug fennen lernen will, höre und jtudire fie. Der Anfangsfag der erften fteht da wie ein Berg in Wetterwolfen und entwicelt fich mit einer furchtbaren Energie

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faft nur aus einem einzigen Motiv von drei Noten. Der Ver- glei mit dem erften Sate von Beethoven's C-moll-Sinfonie jei nur deshalb angeregt, um fich die Eigenthümlichkeit des jüngern Meijters daran Elar zu machen. Das Andante ein Bild erhabener Innigkeit und edler Schwärmerei, im Allegretto jene ernſte Grazie, die in diefer Art fein anderer deuticher Componiſt beſitzt, Glud vielleicht ausgenommen. Den Finale geht eine Einleitung vorher voll aufregender Phantaſtik, gemifcht aus wilder Heftigfeit und prachtvollen Feierflängen; jelbft ift es ein Jubelgefang von einer Kraft der Steigerung, wie fie etwa nur der jechite Satz des Deutihen NRequiems noch zeigt. Das Gegenbild, die zweite Sinfonie, leuchtet mie heller Yrühlingsfonnenjchein bald in romantiicher Waldfrifhe, bald auf freiem, feſtem Wanderpfad, bald Lieblich ſchwebende Geftalten umfließend ; nur das pathetifche Adagio entfernt jih auffallend weit von der Grundftimmundg. Im Hinblid auf den Schluß des erjten Satzes kann ich bier den Hinweis auf die außerordentliche Schönheit der Brahms'ſchen Codafäge nicht unterdrüden. Beethoven war der erite, welcher der Coda einen bejonderen rüdblidenden Reiz verlieh. Brahms wirft an dieſer Stelle fat noch eindringlidher, weil der Gegen- fat gegen das Vorangegangene oftmals ein jchärferer iſt. Man ftaunt, daß die mwohlbefannten Themen noch eine joldhe Fülle neuen hinreißenden Zaubers zu offenbaren im Stande find. Für Alles, was die Heftigfeit und Nüdjichtslofigkeit des Künftlers dem Hörer etwa angethan haben jollte, wird er hier entjchädigt und jcheidet verföhnt und glücklich.

Die beiden legten Sinfonien find vollfaftige, ausgereifte Früchte, die der Meifter auf eigenftem, wohlgefihertem Grund und Boden erzog. Es wäre müßig, fie zu vergleichen und hätte nur ganz jubjective Bedeutung, wenn ich jagen wollte, daß mir die E-moll-Sinfonie das Herrlichite einzujchließen jcheint, was Brahms in diefem Bereiche feiner Kunft zu verkünden hatte, daß vor Allem das Andante in der finfoniichen Welt jeinesgleichen nicht findet. Wer bei den Serenaden an feinem Berufe für die

Sinfonie gezweifelt und nah dem erſten Paar noch nicht die Zuverficht gewonnen hatte, jeine Bedenken völlig zu bannen, die legten beiden Sinfonien und die Duverturen bejeitigten ihm jeden Zweifel, daß ein geborener, ureigenthümlicher Sinfonifer daſtand, der fich zugleich in ftrengfter Arbeit zu feinem hohen Berufe er- zogen hatte. Wie er jih an nachhaltiger Wirkung zu feinen Vor: gängern, den großen wie den größten, verhält, wird die Zukunft wiſſen. Wir Gegenmwärtigen dürfen uns freuen, ihn zu beligen.

Wie deutlich fih Brahms aus dem allgemeinen Zuge der gleichzeitigen Künftler abjondert, wie er gegen fie und die jüngfte Vergangenheit vielfach gar in entjchiedenen Gegenſatz tritt, dürfte klar geworben fein, ohne daß ich es überall ftark betont habe. Wir leben im Zeitalter der jchriftjtellernden Muſiker. Brahms jchreibt nicht. Es ift auch wenig über ihn gejchrieben worden, und ich vermeine, daß ihm dies eher lieb als leid geweſen ift. Der Gegenjag tritt auch darin hervor, daß er dem Oratorium, und noch mehr darin, daß er der Oper fern geblieben ift. Ein einziges Werk, der „Rinaldo“, berührt jenes, und in der fait feenifch zu nennenden Einleitung auch diejes Gebiet. Er jelbit joll auf diefe Compofition einen großen Werth legen, und un- möglich wäre ja nicht, daß er noch einen Vorftoß ins Dramatiſche unternähme. Aber ftarf kann der Zug dahin nicht fein, jonit hätte er wohl nicht bis nahe ans jechzigite Lebensjahr gewartet, ihm nachzugeben.

Für uns bedarf es deſſen nit. Er gehört auch jo, wie er jegt dajteht, zu den mächtigen Schügern und Mehrern des viel- bundertjährigen Reiches deutfcher Tonkunſt. An diefem Urtheil wird die Nachwelt nichts zu berichtigen finden.

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Mufikalifche Seelenmeſſen.

s

m 22. Februar 1891, einem Sonntage, gelangte in der

Thomasfiche zu Leipzig ein Requiem für Chor und Or: heiter von Heinrih von Herzogenberg unter der Leitung des Eomponiften zur erften Aufführung. Einige Verehrer des Künftlers und jeiner Werke waren von Berlin herübergefahren. ch be- fand mich unter ihnen, und was ich zu hören befommen habe, jcheint mir bedeutend genug, um als Standpunkt zu dienen, von dem aus auf die nächſte Vergangenheit lohnende Rückſchau ge- halten werden fann.

Was man in der Sprade der Kunft unter einem Requiem verſteht, deckt fich jchon jeit Yangem nicht mehr völlig mit dem firhlichen Begriff der Seelenmeffe. Das Wort „Choral“ in evangelifhen Landen wird in und außerhalb der Kirche in dem- jelben Sinne aufgefaßt, bei ihm hat man fich allgemein das Gefühl für feinen Urfprung und ausfchließlihen Gebrauch noch bewahrt. Bei einer Muſikmeſſe aber und vollends einen Requiem denkt der Mufifer zunächſt immer an eine Kunjtform, die fich zwar auf eine firchliche Einrichtung gründet, die aber unter- jcheidende Merkmale hat, welche ſich aus jener nicht ableiten laſſen. Eine mehrhundertjährige Entwidelung hat ihm hierzu ein gewijjes Recht verliehen.

Ich denfe nicht jowohl daran, daß Feineswegs der ganze für den rituellen Act vorgejchriebene Tert, jondern nur gewiſſe

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Hauptpartien desjelben durch die Figuralmufif dargejtellt werden. Dies Verfahren bedingt allerdings ſchon eine in feitgefegter Reihe verlaufende Folge von Tonftüden, die ih zu einem Ganzen zu— fammenfchließen, alfo eine jelbftändige Kunftform abgeben müſſen. Aber eine ſolche kann doc mit dem rituellen Act zufammenpaffen und in ihm aufgehen, wie es in der That mit den Mefjen des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger der Fall war. In der Folgezeit ift aber ein Element eingedrungen, welches das mufifalifche Kunftwerf in der Meſſe zu immer größerer Unabhängigkeit erwachſen laſſen mußte. Dies Element zeigt jih im Trachten nach individuellem und charakterifirendem Ausdrud und Steht im Widerſpruche zur firhlichen Empfindung, deren Erſtes und Letztes andäcdhtige und demuthvolle Hingabe an Gott fein fol. Es ift derjelbe Zug, der in der Monodie, in der Oper und dramatifchen Cantate, im Dratorium ſich als die treibende Kraft erwies. Der Chor weit zurüd, der Einzelne tritt in den Vordergrund. Be— gleitende Inſtrumente verftärfen, verzweigen, verfeinern Die ge: äußerten Empfindungen. Dem Zufammenhange wird tiefer nad: gejpürt, der zwiſchen den Borftellungen fichtbarer Bewegungen und den hörbar verfließenden Tonreihen befteht, dieje werden zur Darftellung jener verwendet, ein charafterifirender, „male- riſcher“ Stil bildet fih, dem es nicht ſowohl um andachtsvolles Gebet zu thun ift, der vielmehr die Wirkung darjtellen will, welche die Vorjtellung eines erhabenen VBorganges auf die Em- pfindung ausübt. Da der Berlauf der Meſſe fih auf eine Neihe folder Vorgänge bezieht, die in einem innerlichen Zu- jammenhange jtehen und gleichſam die Gejchichte der chriftlichen Kirche in ihren monumentaliten Ereigniffen andeuten, jo nähert ih die Mufitineffe des 17. und 18. Jahrhundert dem Drato- rium. Stärfer noch thut dies das Requiem. Denn in ihm ift an Stelle des Gloria und Credo nad) dem Graduale die Sequenz „Dies irae, dies illa* getreten, jenes mittelalterliche Gedicht, das im erjchütternden Bildern und volltönender Sprade den Weltuntergang und das legte Gericht jchildert.

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Die katholiſche Kirche Hat die oratorienhaften Mefjen geduldet und duldet fie noh. Das Ideal kirchlicher Muſik fonnte fie nicht in ihnen jehen, aber eine darauf zielende Betrachtung hat fie lange Zeit hindurch wohl nicht angejtellt. Der Kunftweife, die außerhalb der Kirchenmauern blühte, ließ fie auch innerhalb ihrer eine Stätte bereiten, wo fie nun eine tiefer leuchtende Farbe, einen eigenartig entzüdenden Duft annahm. Wer an Beethoven'3 Missa solemnis, an die Seelenmefjen Mozart’8 und Eherubini’s denkt, wird dankbar jein, daß der Lauf der Seihichte die Entitehung diefer Wunderwerfe gejtattete. Heut— zutage erhebt die Kirche gegen Muſik folcher Art, wennſchon fie fie noch nicht verbietet, doch entjchiedenern Widerfprud. Sie will zu der Weiſe Paleſtrina's und des 16. Jahrhunderts zu- rücdfehren, und thut von ihrem Standpunkte aus ganz recht daran. Die Bewegung für die unbegleitete Vocalmufif zieht immer weitere Kreiſe; es ift wohl möglich, dab fie die Dratorienmufif endlich ganz aufs Trodene wirft.

Einftweilen ift e8 noch nicht jo weit, und bis der fall ein- tritt, könnte Manches gejchehen, die Form menigitens für das Kumitleben zu retten. Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts war ihre Selbjtändigfeit jo weit eritarft, daß man Meſſen und Requiems auch losgelöft von ihrer kirchlichen Beitimmung auf- führen fonnte. In unjeren Tagen iſt dies etwas ganz Gewöhn— liches geworden. Die Gefchichte lehrt, daß die Keime der Kunit- formen meiftens in gewiſſen praftijchen Forderungen der Lebens: einrichtungen gegeben waren; je feiter ſie jih im Boden des Leben einwurzelten, deſto fräftiger war in der Regel ihr Wachs thum. Aber wenn fie eine gewiſſe Entwidelungsftufe über: jchritten haben, iſt die derbe Nahrung des Mutterbodens feine Nothwendigkeit mehr für fie. Sie fönnen jih ihm entziehen und in einem mehr nur idealen Zufammenhange fortleben. Be— jtände nicht dieje Möglichkeit, jo wären alle unjere Bemühungen, Tonwerfe vergangener Zeiten dem Leben der Gegenwart wieder

zuzuführen, eitel Thorheit. Denn dann wären fie tobt, wie die Vhilipp Spitta, Zur Mufik, 28

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Bedingungen es find, durch welche fie einjt ins Daſein ge- rufen wurden, und Todtes läßt fich nicht erweden. Aber es iſt nur nöthig, die Phantafie der Menjchheit von Neuem mit den Anſchauungen zu erfüllen, die einftmals die Vorausjegung der Kunftwerfe bildeten, und fie zur lebendigen Verfnüpfung der: jelben zu erziehen, dann fangen auch die Kunftwerfe jelbit, wie Dornröschen im Märchen, wieder an zu athmen und fchlagen die hellen Augen auf.

Den beiten Beweis hierfür liefern die Gantaten Sebaftian Bach's. Sie waren ein Jahrhundert lang unbekannt geblieben, und als man fie vor etwa 60 Jahren zuerit hervorzog, hatten fih mittlerweile die Zeiten gründlich geändert. Anfänglich wirkte ihr fremdartiges Weſen abftoßend. Se mehr man fi mit ihren geſchichtlichen Vorbedingungen, mit ihrer Beitimmung für den evangeliichen Gottesdienft, mit defjen damaliger Ge- ftaltung, mit der fymbolifchen Bedeutung des Chorals in ihnen vertraut machte, dejto lebendiger wurden die gleihjam eritarrten Züge. Unſer Verlangen, fie ganz wie früher der evangelifchen Liturgie einverleibt zu ſehen, hat feinen Grund darin, daß es auf diefem Wege am eheiten gelingen würde, in weiten Kreijen die Vorausjeßungen für ihr Verſtändniß neu zu ſchaffen. Man joll hierin feinen Realismus jehen. Wir wiſſen wohl, daß der Eindrud, den die Cantaten ihrer Zeit machten, fi mit voller Genauigkeit nicht wieder erreihen läßt. Dazu müßte man die- jelben Sänger, Spieler, Gemeinden, Prediger in Ddiejelben Kirchenräume, vor diejelben Orgeln aus dem Schattenreiche ber: aufbeichwören. Nur die Belebung der Phantafie des Hörers, ihr jelbitthätiges Mitichaffen, ohne melches überhaupt Feine Kunftwirfung möglich ift, jol erleichtert werben. Mo diefes an fich vorausgejegt werden Fann, find ſolche äußerliche Mittel nicht nothwendig. Indeſſen haben fie nicht nur eine belebende, ſondern auch heilſam beſchränkende Kraft.

Gar zu leicht Schlagen Kunftformen aus der Art und ver- geuden ihre Kraft in zwedlojem Wuchergewächs, wenn die Er-

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innerung an ihren Urſprung zu ſtark verblaßt. Bei den muſi— kaliſchen Meſſen iſt dies nicht ausgeblieben; ſie befinden ſich in einer Art von Selbſtzerſtörungsprozeß und ſind in ihn nicht zum geringſten Theile durch die evangeliſchen Tonſetzer gerathen. In Bach's Zeit wurden noch Kyrie und Gloria, ab und zu auch das Sanctus während des proteſtantiſchen Gottesdienſtes figura- liter muficirt, die Compofition von Meſſen hatte alſo damals ihren praftiihen Grund. Am Ende des vorigen und Anfang des jegigen Jahrhunderts zeigen fi jchon veränderte Verhält— niffe. Der Romantifer €. T. A. Hoffmann componirt ein Re— quiem, weil der poetiihe Stoff in Mozart’3 Muſik ihn mächtig ergriffen hat. Faſch in Berlin jchreibt eine fechzehnftimmige Meſſe, da ihn der reine Bocalftil der Staliener anzieht. Als ih in Nord-, Mittel: und Weſtdeutſchland die Chorvereine bildeten, waren fie es, die mehrfach weiteren Anftoß gaben. Lie fih nun doch jogar ein Spohr zu einer vieljtimmigen Bocalmefje verloden, Friedrich Schneider ſchrieb an vollftändigen Meſſen, theils mit, theils ohne Orcheſter, nicht weniger als 14, Morit Hauptmann deren 2. Dann. 30g die Zeititrömung nad) dem in romantisch » myftiichen Farben erjcheinenden Mittelalter, die Sehnjucht nach der „verlorenen Kirche im Walde“ die Gom- ponijten weiter fort. Grell wurde gewiß mehr durd) fie, weniger durch die von Faſch ausgehende Tradition getragen, als er jeine berühmte jechzehnftimmige Meſſe ſchrieb. Auch fein wenig be: fannt gewordene? Requiem für unbegleiteten Geſang entitand in diefer Zeititimmung. Schumann jah in der Hinwendung zur Kirhenmufif die höchſte Entfaltung feines Mannesalterd und ſchrieb nicht etwa proteitantiihe Choralcantaten, jondern eine Meffe und ein Requiem. Wie jehr fich bei ihm die Vor— ftellung des legtern zu einem rein poetiichen Begriffe verflüchtigt hatte, mag man aus feinem „Requiem” für Mignon jehen. Der Ausdrud ſtammt von Schumann, nicht von Goethe, und konnte e3 nicht; denn wenn irgend etwas, fo iſt diefes Wechjelgedicht helleniſchen Geiſtes voll. 28 *

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Auf der Hand liegt die Gefahr, daß das Requiem jolcher: geitalt zu einem Spiel mit Schatten wird. Die Kunft aber braucht lebenswarme Körper. Ach glaube, es war diefe Erfennt- niß, welche Johannes Brahms bewog, jein „Deutiches Requiem“ zu componiren. Denn verlangt man nichts Anderes mehr als nur ein Tonwerk zur Gebächtnißfeier für die Geftorbenen, wozu ein Tert, der nur als Beftandtheil einer liturgifhen Handlung veritändlich wird? Wozu ein lateinifcher Tert für Deutfche, welche Luther’3 Bibel befiten? Der oratorienartige Charakter kann ge: wahrt bleiben, auch wenn man alles diejes aufgibt. Brahms hat ihn gewahrt und darum nennt er fein Werk mit vollem Rechte ein Requiem. Bach gibt in der Gantate „Gottes Zeit ift die aller- beite Zeit” den Gefühlen der Trauer, der Ergebung in Gottes Willen, der Hoffnung auf ein Senfeits einen unmittelbaren lyriſchen Ausdrud, und Werfe diefer Gattung find in den verjchiebenjten Stilarten und Qualitäten bis auf den heutigen Tag gejchrieben worden. Bei Brahms find es die Bilder vom Schnitter Tod, der mit furdtbarer Sichel die Blüthen der Erde niedermäbt, von der Menjchen Unruhe, von den Wohnungen der Seligen, von dem Häuflein Kinder, das mutterlos zurüdgeblieben und dem eine bimmlifche Stimme Troft und Wiederjehen zufingt, von der legten Pofaune und der Auferwedung aus den Gräbern. Fromme Empfindungen derer, „die da Leib tragen“, rahmen dieſe Bilder ein. Der außerordentliche Eindrud, den das ge: waltige Werk jogleih machte, als e8 vor nun bald 25 Jahren zum eriten Male hervorfam, beruhte zunächft auf der genialen Schöpferfraft, die fih in ihm ausſprach. Wefentlich mitwirkend war aber auch die beglüdende Wahrnehmung, daß die Kunit eine beengende Hülfe abgeftreift, einer hemmenden Feſſel ſich ent- ledigt hatte. Um zu wirken genügt es nicht, daß man etwas Bedeutendes thut, man muß es auch zur rechten Zeit thun. Das „Deutfche Requiem” gehört zu den fünftlerifchen Groß: thaten unjer® Jahrhunderts.

Wil man aber die Form der alten Seelenmefje lebensfräftig

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erhalten, jo muß man jich, glaube ich, etwas eindringender auf ihre eigentliche Beitimmung befinnen. In den legten 30 Jahren it manch ein lateiniſches Requiem componirt worden, jedoch von jenem grundrührenden Wefen laſſen die Componijten nicht eben viel gewahren. Die Katholiihen, welche noch direkt für die gottesdienftliche Aufführung arbeiteten, haben ſich der Mehr- zahl nad in den altererbten Typus zu jehr eingewöhnt, um no mit unbefangener Frifhe aus dem Gegenftande neue Nahrung zu jaugen. Tradition ift in der Fatholifchen Kirche eine große Macht; was ſeit hundert und mehr FJahren in ihr üblih war und typijche Form angenommen hat, gilt leicht auch als echt kirchlich, obgleich gerade dieſe Meffenmufit mindeftens mit einem Fuße draußen fteht. Kommt aber einmal ein großes Talent daher, wie Verdi, erfaßt lebendigen Sinnes die Aufgabe in allen ihren Beziehungen und füllt die Form mit einem feurigen Inhalt, jo fängt dieje jelbit an bis zur Wurzel hinab zu erglühen und flüjfig zu werden, und dann offenbart fich gleich wieder, wie wirkſam jie jein fann. Es ift italienisches Temperament, was in diefem Werfe pulfirt, und uns Deutjchen würde es ſchlecht zu Geficht ftehen, wollten wir das nahahmen. Aber den Stil müſſen wir gelten laffen, wenn wir nicht entſchloſſen find, die fatholifche Kirchenmuſik der legten 200 Jahre als eine große Verirrung zu bezeichnen, denn die Tendenz ift von Leonardo Leo bis Verdi diejelbe geblieben. Und ſprächen wir wirklich die Verurtheilung aus die großen, ergreifenden Werke, die man auf diefem „Irrwege“ antrifft, werden doch wohl bleiben, was fie waren. Aber innerhalb Deutichlands haben wir aus neuer Zeit dem Requiem Verdi’3 nicht? entgegenzufegen gehabt. Franz Lachner fam Anfang der fiebziger Jahre mit einem Werfe her: vor, das von fich reden machte und eine Zeit lang viel aufge- führt wurde. Er hat wie immer angenehme Muſik gegeben, und auf der Bahn feiner fpiegelglatten Technik fährt ſich's bequem dahin. Allein eine Seelenmeſſe in tieferem Berftande it es doch nicht, jondern eine concertirende Chorcompofition in

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den äußern Formen derjelben. Selbitändiger hat Joſeph Rhein- berger jeine Aufgabe erfaßt in dem Requiem, welches er „dem Gedächtniſſe der im deutichen Kriege 1870 71 gefallenen Helden“ widmete. Er fügt ſich nicht der ſüddeutſchen Scha- blone und weiß dem Gegenitande neue Seiten abzugewinnen, ohne die praftifche Verwendbarkeit jeiner Arbeit irgendwie aus den Augen zu verlieren. Scheinbar gefliffentlich enthält er ſich der jogenannten dramatiichen Ausführungen, die namentlich beim „Dies irae* jeit langem feititehend find, faft gänzlich, und weicht ihnen geradezu aus. Der Lebhaftigfeit des Gejammteindruds thut diefe Enthaltfamfeit wohl einigen Abbruch, doch wird man durch eine jchöne andädhtige Stimmung und den quellenden Wohllaut des jehr gewandt componirten Werkes lebhaft ange- zogen und wahrhaft gerührt. Als jein muſikaliſcher Grund- charakter ift indeſſen jene Freundlichfeit beſtehen geblieben, die der ſüddeutſchen Meffenmufif jeit Haydn’3 und Mozart's Zeit eigen iſt. In Nord: und Mitteldeutichland verlangt man nad einer ernitern und jtrengern Weije, ſeit wir gewöhnt worden find, aus dem Duell Bach'ſcher Mufif zu trinfen.

Andere, wie Bernhard Scholz, Friedrid Kiel, Felir Dräſeke, fönnen an eine Aufführung ihrer Nequiems beim Todtenamte wohl kaum gedacht haben. Scholz, deffen Compolition etwa vor 30 Jahren befannt wurde, hat von den breien, wie mir jcheint, am febendigiten in der Stimmung des firdlichen Actes ge ftanden. Der jchöne Gedanke, am Schluſſe die Todtenglode in tiefen, feierlichen Pulſen bineinflingen zu laſſen, verräth es. Kiel übertrifft ihn durch Reife der Meifterfchaft und edle Wärme, beionders in jeinem zweiten Requiem, das ein ſchönes Denkmal des begabten, ernſt und fromm gefinnten Künjtlers bleiben wird. Innere Beziehungen zur kirchlichen Idee find feine vorhanden. Die Anregungen, welche ihm Mozart und Beethoven gewährten, hat der Sohn einer nachlebenden Zeit, erfüllt von religiös-poetifcher Stimmung, ſtill und keuſch in ſich reifen laffen. Es war die Seit Friedrih Wilhelm’s IV., in welder Kiel zu Berlin die

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Eindrüde empfing, welche für jeine Kunftrichtung entjcheidend wurden. Vor wenigen Jahren erjt iſt Dräfefe mit einer mufi- kaliſchen Seelenmejfe hervorgetreten. Das Werk erregte Auf: merkſamkeit und verdient fie. Wennſchon das Ringen des Com: ponilten mit einer ihm nicht völlig gehorchenden Technik und mißglüdte harmonische Wagnifje einen reinen Kunfteindrud nicht entitehen laffen, jo zeugt diejes Requiem doc von entjchiedener Selbftändigfeit der Empfindung, inbrünftiger Umfafjung des Gegenftandes und liebevollitem Fleiße. Es ift aber, ſoweit meine Kenntniß reicht, das Aeußerſte, bis wohin die frei poetifirende Be- handlung des Seelenmefjentertes heutzutage gelangt iſt. Yon dem typifch gewordenen Gepräge der einzelnen großen Abjchnitte jind nur noch geringe Spuren übriggelafien. Im Offertorium ertönt zu den Worten des Chors: „Libera animas omnium hidelium defuncetorum“ u. ſ. w., und: „Sed signifer Sanctus Michael repraesentet eas in lucem sanctam“ u. ſ. w. im Orcdeiter die Melodie „Jeſus meine Zuverfiht”, alſo eines deut— jhen, evangelifhen Chorald. Am Schluſſe des Offertoriums übernimmt jogar auch der Chor diefe Weiſe. Dergleichen ift Seba- ſtian Bach nachgemacht; aber wenn zwei dasjelbe thun, ift es nicht dasjelbe. Bei Bad ſoll in jolchen Fällen die inftrumen- tale Choralmelodie den Gehalt des ganzen Tonftüds in eine be- jtimmte kirchliche Empfindung einfchließen. Dazu gehört, daß dem Hörer jowohl die Melodie als der zugehörige Tert bekannt ift, und daß er beides zufammen als Ausdrud der Empfindung der evangeliichen Gemeinde im Bewußtjein trägt. Dies ift eine von den Berftändnißgrundlagen, welche Bad) jeiner Zeit bei jeinen Hörern vorausfegen durfte, und die wir ung wieder erwerben müſſen, wollen wir die Abſicht feiner Kirchenmuſik begreifen. Aber was will ein evangelifches Gemeindelied inmitten einer fatholiihen Meßhandlung? Dan fieht, hier ift jeder Zuſammen— bang des Kunftwerfes mit feinem Urſprunge jelbjt in der Idee aufgehoben. Aber auch ein Concertpublicum, welches voraus- ſetzungslos und nad) dem unmittelbaren Eindrud urtheilt, wird

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jener Combination unempfänglich gegenüberjtehen, die nad der Abfiht des Componiften einen höhern poetifchen Glanz über das Tonſtück verbreiten joll. Dräſeke ift offenbar ein ſehr belefener Künftler. Sollte er an Vogler's Es-dur- Requiem gedadt haben? Der katholifhe Abt bringt hier die Worte: „Te decet hymnus Deus in Sion“ u. f. w. zu der Melodie des evange- liſchen Sterbechorals:

Herzlich thut mich verlangen Nach einem ſel'gen End’,

nachher übernehmen ihn die Inſtrumente und der Chor contra: punftirt dazu. Man weiß nicht, ob man dieſe Thatjadhe auf Rechnung der wunderlichen Einfälle jegen joll, an denen Vogler, der hier offenbar ein Gegenftüd zu Mozart liefern wollte, reid) war, oder ob fie ein Zeichen der Ausartung find, in welde fhon damals die Requiemmuſik unbeanftandet verfallen durfte. Dräſeke beruft ſich aber vielleicht auch auf Albert Beder, der in feine Meſſe denjelben Choral und noch mehrere andere in gleicher Weife verflodhten hat, und Beder wiederum verichangt fih hinter Bach und jeine Zeitgenoffen. Es ift wahr, wir finden bei jenen zuweilen den gejungenen Mejjentert mit gejpielter Choralmelodie verbunden. Aber dann ift es immer diejenige Melodie, die dem betreffenden Meffenabfchnitt auf dem Gebiete des evangelifchen Gemeindegejanges entipricht. Außerdem waren die fogenannten furzen lateinifchen Meſſen damals, wie gejagt, noch ein vertrauter Beitandtheil des evangelifhen Gottesdienftes. Das ift jeßt ſchon lange nicht mehr der Fall.

An gewiſſem Belang ift mın das Requiem von Herzogen- berg, deſſen erjte Aufführung ich oben meldete, das gerade Gegen- theil des von Dräſeke componirten und der ganzen Richtung, als deren legte Conſequenz diefes erfcheint. Was man wünſcht, glaubt man gern; vielleicht täufche ich mich alfo, wenn ich an- nehme, daß die von der Muſikwiſſenſchaft betonte Abhängigkeit der Wirkung eines Kunftwerfes von feinen biftorifchen Voraus: jegungen bei dem Componijten praktiſche Zuftimmung gefunden

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hat. Es ijt ebenjowohl möglich, daß er nur dem Zuge jeiner In— dividualität folgte. Er it Katholif und hat Jahre der friicheften Jugend in dem geijtlichen Erziehungsinititut zu Feldkirch verlebt. Mit dem kirhlihen Offictum und feinen eigenartigen Stim- mungen iſt er genau vertraut. Die Auffafjung, welche in dem Requiemterte nur ein zur Compofition jehr geeignetes Gedicht fieht, mußte ihm von Natur eine fremde fein.

Jener Gejammtton, den man mit dem Worte „katholiſch“ bezeichnen darf, iſt e8 denn auch, was an dem Werke ſogleich beim erjten Hören auffällt. Wie er erzielt wird, ift in feinen legten Mitteln Geheimniß des Künſtlers. Aus der Meffe, der Todtenmefje zumal, aus ihren einzelnen Acten quillt ein jebr ftarfer Stimmungsduft auf, der fih dem in feine Aufgabe ver- jenkten Componijten unwillfürlih in Muſik umfegt. Daß die liturgifhen Vorgänge ihm fortwährend lebendig vorjchwebten, erfieht man auch aus dem gedrängten Bau der einzelnen Sätze. Die Verzögerung oder Unterbrechung der rituellen Geremonien, die bei einer mufifalifhen Seelenmefje kaum vermeidlich iſt, darf doch nicht über ein gewiſſes Maß hinausgehen, ſoll das ganze Offictum noch als eine einheitliche Handlung zur Geltung fommen. Es gibt aber auch handgreifliche Mittel, ein Requiem jeiner Beitimmung gemäß mufifalifch zu charakterifiren. Bad) hat in unübertrefflicher Weife gezeigt, wie fich zu ſolchem Zwede das evangeliihe Gemeindelied ausnugen läßt. Eine ähnliche Verwendung gregorianifcher Choralmelodien wäre denkbar, und in Mozart’3 Requiem ift thatfählih eine Andeutung davon („Te decet hymnus Deus in Sion“). Herzogenberg hat fich der Anwendung des Mitteld, das ihm, dem genauen Kenner und langjährigen Dirigenten Bach'ſcher Muſik, befonders naheliegen mußte, dennoch enthalten. Freie Nahbildungen gregorianifcher Weiſen finden fi aber im Agnus Dei, wo Alt und Baß in Octaven vorlingen und ihnen ein vierftimmiger Chor von So- pranen und Tenoren antiphonifch gegenübertritt. In gewifjen Schlußpartien, in der Sequenz namentlich und auch am Ende

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des ganzen Werkes, kommt e8 den Hörer bei der eintönigen Führung des Chores an wie das leife Murmeln von Todten- gebeten. Hier werden wir an Cherubini erinnert, nicht weil Her: zogenberg ihn unfelbitändig nachgeahmt hätte, jondern weil bie Tendenz beider die gleiche ift. Jener berühmte Ausgang des großen Cherubini’ichen Requiems, in dem die gebämpften Stimmen fih das „Requiem aeternam dona eis Domine* auf demfelben Tone nachſprechen, während das Orcheſter ftill jeine Trauerflöre ausbreitet, ift zumeift deshalb von jo jchaurig- erhabener Wirkung, meil die Muſik gleihjam jceniich gedacht it: jie wendet Mittel an, die das Bild der firchlichen Hand— lung ſelbſt hervorrufen. Darin liegt ein Cigenartiges dieſes großen Künftlers, daß er Tongedanfen einführt, die poetifche Ideen- und Empfindungs-Nffociationen weden, aus welchen dann wieder auf jein Kunſtwerk ein geheimnißvolles Licht zurüdfält. Er läßt diefe Weile auch in jeinen Opern bemerken und hat mit ihr tief auf die deutfchen Romantiker eingewirft. Unzweifel- haft auch auf Beethoven, und ich glaube nicht, daß das „Et incarnatus est“ jeiner zweiten Mefje ohne Cherubini geworben wäre, wie e8 it. Im Requiemjchluffe findet fih die Nach— ahmung des Orationstones ebenfalls bei Verdi und Rheinberger; bei legterem zwar mit reicherer mufifalifcher Ausftattung, aber fie verfehlt auch jo ihre ftimmunggebende Wirkung nicht.

Man könnte auf einen Vergleich zwijchen Rheinberger und Herzogenberg gerathen, nicht nur, weil fie fich bier in einer gleihen Aufgabe berühren. Beide find Fatholifche ölterreichifche Deutſche (es wird wohl erlaubt jein, Liechtenitein mit Vaduz zu Deiterreich zu rechnen), und auch der um einige Jahre ältere Rheinberger, obſchon aus ganz andern Kreifen ftanımend, hat einen Theil feiner AJugendbildung zu Feldkirch in orarlberg erhalten. Beide find Componijten von großer Bielfeitigkeit. Aber ohne auf eine Abſchätzung der beiderjeitigen Talente ein- zugehen, jo liegt jchon darin ein ftarfer Unterfchied, daß Rhein: berger in feiner Muſik weſentlich Süddeutſcher geblieben ift,

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was bei Herzogenberg durchaus nicht zutrifft. Es gibt gewiß feinen lebenden Künjtler, der feiter als er auf der breiten Grundlage ruhte, welche die gefammte deutſche Mufif der Ver: gangenbeit und Gegenwart zujammengefügt hat. Oeſterreichiſche Stammeseigenthümlichfeit jpricht fih, was an jeiner Herkunft liegen mag, in jeinen Compofitionen überhaupt nicht hervortretend aus; nur einen gewiſſen treuherzigen, volksthümlichen Ton fönnte man zu ihr in Beziehung bringen. Won der gefälligen Freundlichkeit ſüddeutſcher Muſik findet fich aber bei ihm nicht die Spur. Won jeher ift diefem Componiften etwas Ariftofra- tijch-Refervirtes eigen gewejen. Eine wenn auch noch jo harm— (oje Trivialität niederzufchreiben würde jeine ‚jeder fich ſträuben. Im Zauberfreife Schumann'ſcher Mufif hat er zuerjt die eigenen Schwingen geregt; aber von ihr und durch fie hat er den Weg zu allem Großen und Ernften gefunden, was die Schagfammer deutſcher Muſik bewahrt. Er gehört nicht zu denen, welche wie Weber und Schumann, um von den ganz großen Geiftern zu ſchweigen, jofort mit icharfgefchnittenen Charafterzügen vor die Welt traten. Er bedurfte längerer Zeit der Anlehnung, um in ih zur Selbjtändigfeit zu erftarfen; ſoll das Vergleichen fortge- jegt werden, jo jei in diefem Sinne auf Schubert hingewiejen. Wer jeine frühen Werke anfieht, wird fi überrafcht finden dur die Fülle von Geift, die in ihnen lebt. Aber es jcheint häufig, als intereffire ihn mehr das Bauen als das Schöpfen, und diefer Zug tritt auch noch jpäter und manchmal vet jtarf hervor. Er ift nicht dadurch bedingt, daß ein innerer Quell nit warm und lebendig in ihm jprudelte. Der Grund liegt, wie mir ſcheint, an einer andern Stelle.

Herzogenberg hat eine Eigenfhaft, die er ficherlich mit feinem Künftler unferer Zeit theilt, nur mit Mühe überwinden können: die Luft, ſich durch eine gleichgültige Miene unſcheinbar zu machen. Es klingt vielleicht befremdend, dennoch glaube ich das Nechte gejagt zu haben. Diefe reihbegabte Künjtlernatur, auf einer Höhe allgemeiner Bildung jtehend, welche allein die

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Ausgewählteiten feiner Kunftgenofjien mit ihm theilen dürften, ſchien ſich zeitweilig nur dann ganz wohl zu fühlen, wenn man ihn nicht bemerkte. Aber was er in diefem Zuſtande trieb, war nicht ein Einfpinnen in holde Träume, das ein Berühren mit der Wirklichkeit jcheut, weil diefe die Träume zerftört. Es war ein energiſches Schaffen und Bilden, das ſich ein Kunitgebiet nad dem andern mit bewundernswürdiger Kraft eroberte, und wenn eben die Proben der Meilterfchaft für eine gewifle Gattung erbracht waren, ſchon auf einer ganz andern Stelle wieder an der Arbeit war. Was er an die Deffentlichfeit gelangen lieh, verrieth nicht jelten einen jtarfen Grad von Unerfahrenheit in dem, was der Melt gefallen kann. Daher fam es, daß er nur langjam das öffentliche Intereſſe auf ich z0g. Aber Alle, die fein Schaffen aufmerfjam verfolgten, durften ſich jagen, daß ein- mal eine Zeit kommen müſſe, da er mit einem Uebergewicht der Meiiterfchaft daftehen werde, das fich die Aufmerkſamkeit der Welt erzwingt. Ich glaube, der Zeitpunkt iſt eingetreten: nie fich vordrängend, noch weniger gefchoben, iſt er wie durch eine ſich von jelbit öffnende Gafje hinausgetreten an den Platz, der ihm zufommt, in die vorderjte Reihe der lebenden Gomponiften. Ein ſolcher Pla verbürgt noch nicht die fogenannten großen Erfolge. Es redet ein Feder jeine eigene Sprade, und zum Volksredner gehören bejondere Organe. Herzogenberg's Sprade ift die eines zurüdhaltenden, nachdenklichen Mannes, Herzlichfeit und geiſt— reihe Laune fpielen oft fonderbar durcheinander, bisweilen wird er zu einem ergreifenden Pathos fortgeriffen. Er ift durchaus eine Individualität für fih, die mafjenhafte Verarbeitung von Bildungselementen, die in ihm vorgegangen it, hat endlich nur dahin geführt, feine Selbftändigfeit zu erhöhen. Wohin ihn in Zufunft jein Weg einmal gelangen läßt, fann Niemand willen, und iſt bei einem jo energifchen Arbeiter, der über ein jo er: jtaunliches NRüftzeug verfügt, am allerfchwierigiten zu Tagen. Die Frage ift aber auch deshalb müßig, weil ſchon eine lange Reihe

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jeiner Compofitionen vorliegt, zu denen die deutſche Welt Stellung zu nehmen haben wird.

Wodurch fih mir jein Requiem in der Gefammtauffaffung von denen feiner Zeit zu unterfcheiden jcheint, habe ich deutlich zu machen geſucht. Die Vorjtellung des kirchlichen Dfficiums, unter der e3 gejchrieben ift, mußte zu jenem tiefen Ernite führen, der fich über das ganze Werf ausbreitet. Sie wird auch be- wirft haben, daß nur der Chor zur Anwendung kommt und Einzelgefang völlig ausgejchloffen if. Soloftimmen beleben, bringen aber auch, wenn man fie nicht nur mit dem Chore furz alterniren, jondern in ihren eigenen Formen ſich entfalten läßt, etwas Leidenſchaftlich-Dramatiſches herzu, das fich dem Ausdruck des Opernenjemble nähern fann. Da nun jchon einmal das Re— quiem al3 Kunftform über den Rahmen der Kirchenmuſik hin- ausgewachſen ift, jo wären hiergegen grundjägliche Bedenken faum zu erheben, und thatjächlih haben die Componiiten fie auch nie gehabt, vor allen die Staliener nicht. Sicherlich aber bot der Ausschluß des Sologefanges in dem vorliegenden Falle ein wirfjames Mittel zur Charafterifirung. Das hatte feiner: zeit auch Cherubini wohl erfannt, obſchon er Italiener war. Für die erforderlihe Abwechſelung kann durch andere Mittel geforgt werden. Der Kunitverftand ſowohl wie die Erfindungs- gabe Herzogenberg's erweijen fi dadurch, daß ihm dies ohne alle befondein Aufwendungen und Manipulationen gelungen: ift. Man fühlte fih ohne Ermüdung fortgezogen, beim Schluß des einen Abjchnittes ſchon begierig horchend auf den Beginn des andern. Bon großem Vortheil ift, daß die fünf Haupttheile in ihrer Architektur jehr verfchieden find. Das große formbildne- riihe Talent des Componiſten hat hier ganz neue Geitalten ge: ihaffen. Sch kenne fein Requiem, das mit einer jo weit voraus- ſchauenden Inſtrumentalexpoſition begönne wie dieſes. Die ganze lange Sequenz ift in eine Form gefaßt, die Freisartig in ſich zurüdläuft, innerhalb ihrer wird das Material in wenigen mächtigen, aber Elar gegliederten Gruppen aufgebaut. Sanctus,

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Osanna und Benedictus bilden auch nur einen einzigen, feierlich prädtigen Sat, von deijen Fräftigem Glanze ji das trauer: marjchartig einherwanfende Agnus Dei um fo düjterer abhebt. Die fühnen Harmonienfreuzungen und gewiſſe krauſe Umſpie— lungen feit gezogener Grundlinien im Sanctus zeigen, wie tief die Kunft Bach's dem Componiften ins Blut gegangen iſt. Im Allgemeinen berricht jenes flüffige, vielfach abgetönte Colorit, das wir modern nennen. In einem Strome dunfeln Wohllautes ſchwimmen die Tongeitalten daher. Leber polyphone Combina- tionen und die Technik, auf welcher fie beruhen, iſt bei dieſem Künstler gar nicht mehr zu reden: er hat hier einen Grab der Meifterichaft erreicht, in dem er von feinem Lebenden übertroffen wird und die meilten weit hinter jich läßt. Aber während es ih in früheren Werfen zuweilen empfindlich madt, daß er funitvolle Ausführungen um ihrer ſelbſt willen liebt, tritt bier jene Einfachheit auf, die das Zeichen vollkommener Beherrichung it. In der Behandlung der Choritimmen erfreut eine weiche, ichmiegfame Linienführung, welche in unferer Zeit faſt verloren gegangen fchien. Ueberall bleibt der Gejang der Menfchenitim- men das mahgebende Organ und der Träger der Hauptjadhen, aber er jpannt fich niemals ſtärker an, als feine natürlichen Kräfte erlauben, er läßt alfo dem Orcheiter weiten Raum, jeinen ganzen Reichthum zur Geltung zu bringen. Das vor Allem ift es, was den Eindrud des Stilvollen hervorruft: die Abfichten des Künſtlers deden ſich ſtets mit dem, was die Natur der Kunftorgane verlangt.

Als wir die Kirche verließen, trug ich die Ueberzeugung mit mir davon, daß die deutfche Kunſt um ein hervorragendes Werk reicher geworden ift.

IF

Oskar von Riefemann.

(Sin Gedenkbfatt.)

s

er Gedanke, der Erinnerung Rieſemann's einige Blätter

zu weihen, wurde in mir bald nach deſſen Hinfcheiden an- geregt. Es ijt mir fchwer geworden, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Rieſemann's Bedeutung vor der Welt be- rubte auf feiner Thätigkeit im Dienfte des Reval'ſchen Gemein- weſens, aber eine Schilderung dieſer Thätigkeit, auf welche weitere Kreife einen Anſpruch haben, fühlte ich mich nicht zu geben berufen). Es gehörte dazu eine innigere VBertrautheit mit den Menjchen und Dingen, als fie derjenige bejigen fonnte, der dem Wirken des Freundes, wenngleich mit ſtets regem Intereſſe, doc die längfte Zeit nur aus der Ferne folgte. Was ich zu jagen hätte, fönnte fi immer nur auf die geſammte Perfön- lichfeit beziehen, die in Rieſemann's öffentlicher Wirkſamkeit einen zwar energifchen und ſcharfen, aber doch nur einfeitigen Abdrud fand. Es könnte auch gejchehen, daß ich dasjenige be- jonders zu betonen mich gedrungen fühlte, was zur Ergänzung des Bildes, wie es der Deffentlichkeit erſchien, noch fehlt. Ob diejes im Sinne des Gejchiedenen fein würde, wäre die Frage. Er fannte genau die Grenze, wo das Recht der Deffentlichkeit aufhört und das des Freundes beginnt, und wie er fie mit zarteftem Tacte bei Anderen refpectirte, forderte er dasſelbe aud)

!) Auf fie ift eingegangen W. Greiffenhagen in der Allgemeinen Deut: ſchen Biographie, Band XX VII, S.577ff. Leipzig, Dunder & Humblot. 1889. Philipp Spitta, Zur Mufit. 29

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für fih. Wenn es gleichwohl etwas gibt, was diefe Bedenken bejeitigen fonnte, jo ift es der Gedanke an die jchrankenloje Hingabe, mit welcher Riefemann feiner baltiſchen Heimath zu- gethan war. Es war nit nur, daß er jeine reihen Gaben freudig und immer wieder auf3 Neue in ihren Dienft jtellte. Er trug in fi) das klare Bemwußtfein, daß jeine gefammte Eigen- art durch den Charakter feiner Heimath bedingt jei. Er gehörte ihr mit Leib und Seele. Einer der edelften Vertreter des baltiijhen Wejens war er in allen feinen Eigenjchaften. Mit der Beicheidenheit, die ihn zierte, würde er es ſtets weit von fich gewiejen haben, als mehr zu gelten, wie als einer von denen, die vor der Welt und ihrem Gemilfen ihre Pflicht thun, und deren übrige Sein Niemanden zu intereffiren vermöge Den Ueberlebenden aber, die ihn jo früh dahingeben mußten, hat er durch jene Heimathsliebe das Necht verliehen, mit einem ftolzen „Denn er war unſer“ fih am Bilde des ganzen Mannes zu ftärfen. So möge bier der Verſuch ftehen, es im Umriß zu zeichnen. Andere Federn dürften dazu gefchidter fein; von Liebe und Wahrheit wird, glaube ich, feine mehr geleitet werden, ala die meinige.

Niefemann war, als ich ihn 1864 kennen lernte, eben zum Syndikus der Stadt Reval erwählt. Es mußte auffallen, wie raſch er in fürzefter Zeit der Gegenitand allgemeinjten Vertrauens wurde. Die von ihm entfaltete Gejchidlichkeit im Organifiren und Verwalten, jein bedeutendes Talent namentlich für Finanz- angelegenheiten, die Gewandtheit, mit der er als Deputirter der Stadt in Riga und Petersburg fi jeiner Aufgaben entledigte, die vornehme Stattlichfeit feiner Repräfentation, die feinen ge— ſellſchaftlichen Formen, alles diefes in Verbindung mit gründ- (ihen SKenntnifjen und unantaftbarer Ehrenhaftigfeit machten, daß fein Name bald in Aller Munde war und er eine Stellung im ftädtifchen Leben einnahm, wie fie in fo jungen Jahren in ähnlichen Verhältniffen nur jelten Semandem zu Theil wird. Während der eriten Jahre feiner Amtsthätigfeit waren die Um:

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ftände ſchwierig und wenig ergiebig. „Es iſt ein mißliches Ding," jchrieb er einmal, „an der Spite eines entjchieden im Rückgang befindlichen Gemeinwejens zu ftehen. Die Urſachen des materiellen Verfalles werden von der ungebildeten Menge nicht dort geſucht, wo fie wirklich liegen: in den veränderten wirthichaftlihen und Berkehrsverhältnifien unferes Landſtrichs, jondern in den Mängeln der localen Verwaltung. Die nädhite Folge diefer Erjcheinung find Fleinliche Neibereien, Zänfereien, Verftimmungen, und unter diefen unerquidlichen Regungen haben die Leiter des Stadtregiment3 wieder insbejondere zu leiden.“ Es fehlte auch nicht an heftigeren Zufammenftößen. Im Herbit 1866 wurde ihm einmal feine Stellung ganz verleidet, und er war nahe daran feine Entlafjung einzureihen. Doc bielt er jelbjt e3 bei ruhigerem Bedenken nicht für manneswürdig, dem eriten Anprall zu weichen. Indeſſen hatte ihn feine Amtsführung mit ihren ungewöhnlichen Anftrengungen und Aufregungen doc jo angegriffen, daß er im Frühjahr 1867 erkrankte und im Aus: lande für feine zerrütteten Nerven Genefung juchen mußte. Auf der Rückreiſe begriffen, erhielt er im September in Berlin die Kunde von der Erneuerung und Verschärfung des Sprachenukaſes von 1850 und dem erſten praftifchen Verſuch jeiner Erfüllung. Der Forderung, welde jegt an die baltiſchen Patrioten heran: trat: ihre beften Kräfte der Aufrechterhaltung deuticher Sprache und Gefittung, deutichen Weſens und Lebens zu widmen, war er entjchloffen mit Einjegung jeiner ganzen Perjönlichkeit zu ge- nügen. Gleich nach feiner Rückkehr entjandte ihn die Stadt zur Vertretung der baltifhen Sonderrechte nach Niga, und daß er mit Erfolg dort für die Sache feiner Heimath zu wirken verjtanden, lehrte der Verlauf der angeregten Frage. Seitdem ftand Rieſe— mann in den vorderiten Reihen der Streiter für Erhaltung baltiihen Rechts, durch Wort und That unabläfjig bemüht, deutiche Gefinnung unter jeinen Mitbürgern zu kräftigen. Sein Wirken war von deito größerer Bedeutung, als eine Zeitlang Eithland im Borbertreffen des Kampfes ji befand und Riefe- 29 *

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mann die Rolle einer der erften Führer zufiel. Daneben wurde feine Kraft von anderen außergewöhnlichen Ereigniffen ſtark in Anſpruch genommen. Wiederholte Mißernten, Waldbrände, ge- fcheiterte Auswanderungsverfuche der Zandbbevölferung in den Jahren 1867 und 1868 hatten einen harten Nothitand der efth- ländiſchen Provinz zur Folge. Ihm wurde die Aufgabe, unter den Erften eines zu diefem Zwecke gebildeten Gomite den Noth- itand zu befämpfen. Es gelang; aber erit ala 1869 eine gute Ernte erzielt wurde und eine Befferung der materiellen Verhält— nifje unverfennbar bervortrat, konnte er einen Augenblid auf: athmen. „Bon vieler Sorge und Mühe bin ich nun befreit,“ ichrieb er gegen Ende des Jahres. „Und doch wie gern habe ih fie getragen, Angefichts der überrafhenden Erfolge unjeres Wirkens.“ ALS dann auch die Eifenbahn eröffnet wurde, die neuen Hafenbauten, für welche er ſich ganz beſonders intereffirte und jeinen Einfluß aufwandte, einen guten Fortgang nahmen, jonnte er fich in der ficheren Erwartung eines allfeitigen großen Aufſchwungs. „Wir rüften uns, das Emporium des Molga: bandel3 zu werden. Möchten wir nur,“ ſetzte er in trüber Ahnung hinzu, „dabei unſer Beites nicht verlieren!” Die Ahnung jollte in dem Eindringen fremden Wejens, neuer Sitten, die die Grundlagen des baltifchen Lebens zu jprengen drohten, fich bald erfüllen. Dem reißend gefteigerten Erwerb und dem fich mehren: den Hange nad demjelben entſprach die wachſende Gleihgültig- feit gegen die Grundideen provinzieller Politik. So feſt Riefe- mann zum Widerſtande entjchlofien war, jo ſah er doch düfterer als je in die Zukunft. Sa, gelegentlich fonnte auch wohl der Gedanke der Emigration in ihm auffteigen. „Es gilt,“ jchrieb er im Mai 1870, „bei Zeiten ſich darauf gefaßt zu machen, daß das lette Ziel, welchem mit Ehren wird nachgegangen werben fönnen, jein wird: mit Ehren untergehen. Iſt hier der Kampf bis aufs Aeußerſte ausgefämpft und find wir unterlegen, dann wird nichts übrig bleiben, als der Heimath den Rüden zu fehren und anderswo fich einen neuen Boden für feine Eriftenz zu er:

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ringen. Wie? nun, wie Emigranten es eben fertig bringen können.“ Es Elingt durch dieſe Worte bei aller fittlichen Energie jhon jene tiefe geiftige Ermattung, unter der NRiefemann nad drei Jahren raſtloſer Thätigfeit abermals zufammenbrechen jollte. Einen langen Theil des Winters 1870/71 verbrachte er in fchwerer Krankheit. Er mußte fih aller Gejchäfte, jelbit jedes Verkehrs enthalten, da ſchon eine Stunde freundichaftlichen Abendgeſpräches ihn fo aufregte, daß an nächtlichen Schlaf nicht zu denken war. Kaum nur wenig wieder zur Befferung gelangt, zwang er feinen noch halb verfagenden Kräften die Vollendung des Entwurfs einer neuen Stadtverfaffung nebit Motiven ab. Den Sommer verbradte er zur Herſtellung jeiner Gejundheit wieder in Deutichland. Er erholte ſich zwar, konnte jeine Amts— geihäfte im vollen Umfang wieder aufnehmen, auch im Herbſt 1871 die Volkszählung mit alter Energie und Gewandtheit organifiren, allein die frühere Schaffensfreudigfeit wollte noch lange nicht wiederfehren. Seine Erfolge, überſchlug er fie ge- legentlih, erfchienen ihm gering, feine Thätigfeit unfrucdhtbare Zeriplitterung. Einzigen Troft gewährte ihm der Umſtand, daß das öffentliche Wirfen in den baltifchen Provinzen fich mehr und mehr zu einer nationalen Aufgabe geitaltete. Dadurch erhielt für ihn die ſich zeriplitternde Arbeit eine gewiſſe Weihe, ein weiterer Horizont that ſich vor jeinem geiltigen Auge auf: „man fühlt fih auf Augenblide mindeitens im Zufammenhange mit den die Welt bewegenden Ideen und Strömungen, und vergißt darüber die vielen erbärmlichen Kleinlichfeiten des Lebens, in denen man ſonſt erjtiden müßte”. Erft im Laufe des Frübjahrs 1872 fühlte er fih wieder ganz friih, und entfaltete num noch einmal im Dienfte des Gemeinmwejens jeine vielfeitige Thätigfeit. ALS Delegirter Revals auf dem ejthländifchen Landtage folgte er mit lebhaften Interejje dem Gange der 1872 begonnenen Grund- ſteuerreform, arbeitete im Winter 1873/74 den Plan einer neu zu gründenden jtäbtiichen Realjchule aus, nachdem er in früheren „jahren ſchon mehrere ejthnifche Elementarfchulen ins Leben ge-

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rufen hatte, und gab zu anderen mehr oder weniger wichtigen Einrihtungen den Impuls. Aber e8 war dod offenbar, daß ih in dieſer Thätigfeit feine Kräfte raſcher und raſcher ver- zehrten. Dazu beugten ſchwere Unglücksfälle ihn, der jonft mit jo männlicher Refignation zu ertragen wußte, tief darnieber. Unter ſolchen Umftänden mußten ihn auch einige vorübergehende Mißerfolge peinlicher als fonit berühren. Am Sommer 1874 bat er um feine Entlafjung, und erreichte zunächſt wenigftens eine Beurlaubung bis zum 1. Juli 1875 gegen die Zufage, die Stadt in politifhen Fragen, namentlid den Petersburger Conferenzen wegen Einführung der neuen Städteordnung während diejer Zeit noch ferner zu vertreten. Im October begab er fi zur Erholung nad Oberitalien. Er hatte in jungen Sahren längere Zeit in Venedig zugebradt. An dieſen Ort und die weitere Umgegend fnüpften fih für ihn manderlei ſchöne Erinnerungen, die auf- zufrifchen ihm gerade jegt eine bejondere Erquidung ſchien. Auf der Rückkehr verweilte er einige Wochen bei uns in Leipzig. Die gewonnene Frifche hielt nicht vor. Mehrere adminiftrative Neuerungen, verbunden mit perfönlichen NReibungen und pein- lichen Erfahrungen, und die wiederaufgenommenen Verhandlungen mit der Regierung wegen Einführung der ruffifchen Stäbte- ordnung brachten Anjtrengungen und Erregungen mit fi, denen er noch nicht oder nicht mehr gewachſen war. Er legte jein Amt endgültig nieder, blieb nur Director der von ihm be- ſonders geförderten jtädtifchen Hypothefenbanf und wandte fi) wieder der 1864 betriebenen Advocatur zu. Der Schritt wurde ihm jchwer, doch die Erleichterung von Amtsgeſchäften lie ihn heiterer al3 früher in die Zukunft bliden. „Mein Streben,“ jchrieb er im uni 1875, „mich meinem theuren Heimathlande nad Kräften nüglich zu ermweifen, gebe ich deshalb nicht auf. Warum ſollte baltifcher Patriotismus nur an das Syndikat der Stadt Neval geknüpft jein? ch verhehle mir nicht, daß der gethane Schritt mich zeitweilig auf den Sand gebraht hat. Gelange ich aber erſt wieder zu voller Kraft, jo

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fonıme ich wohl wieder in flottes Waſſer.“ Und einige Monate jpäter: „Die unmittelbare Betheiligung an dem politifchen &eben der Heimath vermifjfe ich zwar, aber doch weniger als ich anfänglich befürchtete.” Es fonnte bei dem außerordentlichen Anjehen, in dem er jtand, nicht fehlen, daß feine Praxis als Advocat Schnell eine fehr bedeutende wurde. Der ftarfe Zudrang von Glienten gejtattete ihm mit Auswahl zu arbeiten; die ge- wonnene Zeit verwandte er in jelbitverleugnenditer und uneigen- nügigfter Weiſe zur langwierigen Vertheidigung einer Sache, die in der öffentlihen Meinung als eine fchlechte zu brandmarfen den Anftrengungen einer fanatiichen Preſſe und der Nachgiebigkeit amtlicher Gewalten bereit3 gelungen war. Mehr als je genoß er jetzt die harmonisch jtimmende Ruhe einer glüdlichen Häus- lichkeit. Er bejchäftigte jih mit literarifchen Arbeiten, auch auf diefem Felde den feltenen Reihthum feiner Begabung be: während. Zu Ausgang des J. 1877 verließ er noch einmal den fiheren Hafen, um als erſtes Stadthaupt nah Einführung der neuen Verfaſſung an die Spige der jtädtifchen Angelegenheiten zu treten. Dem einmüthigen Bertrauen jeiner Mitbürger, das ihn an dieſe Stelle rief, konnte er nicht widerftehen, und mit ausgezeichnetem Tact entledigte er fich der jchwierigen Aufgabe, aus den alten Verhältniſſen in die neuen hinüberzuleiten. Mehr als dieſes zu thun, war ihm nicht vergönnt, denn jchon nach wenigen Monaten meldeten jich die alten Krankheitserjcheinungen, und er mußte zurüctreten. Aber auch das, was er in dieſer furzen Zeit gethan, war groß genug, um den bedeutendjten jeiner übrigen, faum zu überjehenden Verdienſte un die Stadt Reval an die Seite gejegt zu werden. Im Sommer 1878 war er zur Erholung in Deutſchland und auch in Berlin, wo ich ihn zum legten Male jah. Er zeigte fich zufrieden mit feinem Schidjal. Die Advocatur wurde zum dritten Male und fogleid wieder mit großem Erfolge aufgenommen. Dabei blieb er der Entwidelung des jtädtifchen Weſens nicht fern. Er fonnte auch al3 einfacher Stadtverordneter wie als Privatmanıı durch jeinen

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Rath und das Gewicht ſeiner Perſönlichkeit vielfach ſeinen un— erſetzbaren Einfluß geltend machen. Die letzten Jahre verlebte er in gleichmäßig ruhiger, nur zu angeſpannter Berufsarbeit, und ſoweit es der durch die Verhältniſſe auf ſein patriotiſches Gemüth ausgeübte Druck geſtattete, in ziemlich heiterer Stimmung. Jene melancholiſchen Aeußerungen, die ſonſt manchmal aus ſeinen Briefen wie Ahnungen eines frühen Todes hervorklangen, fanden keine Statt mehr, und es ſchien nicht, als ob ſie gefliſſentlich unterdrückt würden. Da erkrankte er plötzlich am 12. Juli 1880 und wußte nun gleich mit voller Beſtimmtheit, was ihm bevor— ſtand. Drei Tage währte es, dann ging er hinüber. Er iſt 46 Jahre alt geworden.

Rieſemann war eine durchaus groß angelegte Natur. Schon der äußere Eindruck ſeines Auftretens ließ dies ahnen, und Jeder, der ihn reden hörte und überhaupt für dergleichen Empfindung beſaß, mußte ſich davon überzeugen. Seine Art, die Dinge aus der Höhe herab zu ſehen, hatte etwas Befreiendes und Im— ponirendes zugleich. Ueberragende Geſichtspunkte zu finden, weite Ziele ſich zu ſtecken, Entferntes zu verbinden, in ſolcher Thätigkeit fühlte ſein Geiſt ſich vor Allem wohl. Sein baltiſcher Patriotismus hatte in dieſer Eigenthümlichkeit eine ſeiner kräftigſten Wurzeln. Er ſah die Ereigniſſe des Tages im Zuſammenhange mit der Vergangenheit. Ohne eigentliche hiſtoriſche Studien ge— macht zu haben, fand er mit der angeborenen Weite des Blickes in der Geſchichte der baltiſchen Provinzen die vornehmſte Be— rechtigung ihres Sonderweſens. Aus ihr zog er die Zuverſicht, daß dasjenige, was die Stürme der Jahrhunderte ungebrochen überdauert habe, auch für die Zukunft Beſtand haben werde und eine Fortentwickelung auf gegebener Grundlage verdiene. Auch bei den kleinen Fragen der Tagesarbeit war es ihm unabweisliches Bedürfniß, dieſelben von Zeit zu Zeit immer wieder zuſammen— zufaſſen und höheren Anſchauungen unterzuordnen. Nicht der denkt groß, der über dem Wichtigen das Unſcheinbarere über— ſieht, ſondern der, welcher dieſes zu jenem in das richtige Ver—

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hältniß zu bringen weiß. Rieſemann konnte auch dem Kleinen die liebevollſte Sorgfalt zuwenden. Sein Beruf, ſeine Stellung gab ihm dazu überreiche Gelegenheit; es iſt mir nicht bekannt, daß ihn dies verſtimmt hätte. Seit dem Winter 186768 fanden fich befreumdete Männer zu beſtimmtem regelmäßigen Abend zu: fammen, um über gemeinfame Intereſſen ihre Gedanfen aus- zutaufchen. Riefemann befuchte diejen Cirkel eifrig, zumeift weil er ih davon eine Kräftigung des deutſchen Sinnes verſprach. Auch Vereinen zu rein gejelligen Zmweden war er aus demjelben Grunde jahrelang ein jtandhaftes Mitglied, obfchon er fich nicht verhehlte, daß die dort gebotene geiltige Anregung ihm nicht genügte. Nur dann konnte er ungeduldig werden, wenn er bei der ihm zugemutheten Zerjplitterung feiner Kräfte die Fähigkeit für höheres Streben in ſich jchwinden fühlte oder zu fühlen glaubte. Und er fannte feine Schonung, wenn in erniter Zeit feine Mitbürger fih um Geringfügigfeiten entzweiten und den nationalen Lebensfragen gegenüber gleihgültig blieben. In bitterem Unmuth und mit einer ſarkaſtiſchen Härte, die ihm fonit ganz fremd war, konnte er ſich dann über ſolche „Krähminfeleien“ und „Froſchmäuslerkriege“ auslaffen und jelbit perjönliche Be- ziehungen löfen, wenn er bei den betreffenden Perjonen ſich in ſolchen Dingen unverftanden jah. In einer Stadt Deutjichlands von der Größe und Bedeutung Revals wäre eine Natur wie die jeinige in einer ſolchen Stellung auf die Yänge nicht denkbar gewejen. Sie wäre bier entweder eritidt oder hätte den Zu— ſammenhang mit der engeren Heimath eigenmächtig getrennt. Es muß eine Zebensbedingung für ihn aenannt werden, daß fein Wirken in eine Zeit der Kämpfe fiel, die ihm auf der Grundlage feines ſtädtiſchen Amtes ein weiteres Feld politiicher Thätigfeit er- öffnete und ihm erlaubte, Alles, was er that, zu dieſer in Be: ziehung zu fegen. Der ftärfende Einfluß großer Aufgaben war bei ihm oft in überrafchender Weife erfichtlih. Als er in Sommer 1874 ſich geiltig und förperlich gänzlich ermattet fühlte, wurde er veranlaßt, nad Riga zu reifen, wo die Vertreter der drei

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Hauptorte der baltiſchen Provinzen zuſammenkamen, um ſich über eine einheitliche Haltung der Regierung gegenüber in der Ver— faſſungsfrage zu verjtändigen. Die höhere Aufgabe vor Augen, eritarfte er von Tag zu Tage an Muth und Kraft, und als er nach zwei Wochen heimfehrte, war er für den Augenblicd wieder fähig geworden, mit mehr Selbjtvertrauen in die Jufunft zu jehen.

Nie in den eigenen, jo hatten auch in fremden Verhältniffen alle großen Bewegungen für ihn einen mächtigen Reiz. Weit— geipannte wirthichaftliche, Literariiche, bejonders politiiche Unter: nehmungen waren von vornherein jeines lebhaften Intereſſes ficher, und er gefiel fich darin, die möglichen Rejultate recht ins Große auszumalen. Als 1870 der Krieg zwiſchen Deutjchland und Frankreich ausbrach, brannte er vor Verlangen, auch nur einen Tag inmitten der Bewegung zuzubringen, zu feinem anderen Zweck, als um jich in dem braufenden biftorifchen Luftitrom zu baden. „Wie wächſt die Kraft und der Muth!” schrieb er. „Iſt es nicht wunderbar, daß wir diefe Zeit erleben? Wie viel reicher, wie viel glücklicher find wir, als die Menjchen jeit bald fünfzig Jahren!“ Am Juli 1871 ging er von Berchtesgaden zum Truppeneinzuge nad München, „um doch auch einen Athem- zug in der Atmojphäre der großen Zeit zu thun. Wir Oftjee- provinzialen jind die rechten Männer für nationale jFeierlichkeiten. Wir haben den Kinderglauben, das Ideale ſchwebt uns vor, die Wirklichkeit ftört ung weniger als die Nächftbetheiligten“. Das bewies er auch jpäter, als die Conflicte zwifchen der liberalen Partei der deutjchen Volksvertretung und dem Fürſten Bismard ichärfer wurden und eine Verftimmung gegenüber dem leitenden Staatsmann um fi zu greifen anfing. Er blieb demfelben in Bewunderung und Vertrauen zugethan. Aber ich zweifle, ob er weſentlich anders gejinnt worden wäre, aud wenn er mitten in der Sade drin gejtanden hätte. Er gehörte, wie mir jcheint, zu den jeltenen Menjchen, vor deren geiftigem Auge ſich durd) die Nähe der Dinge das Verhältniß derjelben zu einander nicht verjchiebt. Seine Gabe, das Große an den Menjchen und Er-

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eigniffen zu jehen, war eine ganz merkwürdige und fonnte auch den, der ihn genau von diefer Seite kannte, immer noch über: rafchen. ch erinnere mich eines kleinen Zuges, der mir be— zeichnend zu jein jcheint. Er befand fih im Sommer 1878 gerade zu der Zeit in Berlin, da das zweite Attentat auf den Kaiſer Wilhelm jtattfand. Als die Kunde davon fi dur die Stadt verbreitete, gingen wir unter die Linden vor das faijerliche Palais. Eine unzählbare Menfchenmenge hatte Fih verjammelt. Vom Denkmal Friedrichs des Großen bis hinab zum Zeughaus und Palais des Kronprinzen ſtand es Kopf an Kopf, auch die Treppen des Opernhauſes und jelbit deren Geländer waren dicht bejett. Alles Hatte die Augen nad jenen Barterreräumen gerichtet, wo, wie man vermuthete, der Schwerverwundete lag. Kein Wagen: rollen, fein lauter Ton; eine unheimliche Stille lag über den Taufenden, wie im Vorgemach eines Kranfenzimmerd. Sichtbar einmüthig war Alles im Gefühl des Schredens, der Empörung und des Schmerzes. Rieſemann's menjchliches Mitgefühl war von einer bejonderen Weichheit und Tiefe. Man fonnte um jo mehr annehmen, daß er von dem allgemeinen Zuge fortgeriffen jei. Aber jein Geift bewegte fi unter dem eriten Eindrude des Ereigniffes nad) einer ganz anderen Richtung. Er jah eine Meile jchweigend auf die düjtere, impojante Scene. „Ein welt: geihichtliher Augenblid!” ſagte er dann leife.

Er war eine groß angelegte Natur nit nur in der Be: urtheilung der Ideen und Kräfte, welche die Welt bewegen; er war es nicht weniger in jeinen Charaftereigenjchaften. Das Gemeine reichte nicht an ihn hinan. Vor dem Adel jeiner Ge- finnung, welcher der Nobleffe jeiner äußeren Erſcheinung jo ſchön entſprach, mußte jelbit der Niedriadenfende fich zufammennehmen. Man wurde beffer in feiner Nähe, es ſchwebte etwas von idealer Sittlichfeit um fein Wejen. Seine Stellung brachte es mit fich, daß er die großen und fleinen Fehler und Schwächen der Menschen in weitem Umfang fennen lernte und auch an der eigenen Perſon erfuhr. E3 war unmöglich, daß eine jo fein organifirte Natur

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nicht peinlich dadurch berührt wurde. Trotzdem ift er in dem Glauben an das Gute im Menfchen nie wankend gemwejen; zum Pejlimiften war er gänzlich verdorben. Er vertraute, er hoffte immer wieder von Neuem, und fühlte fih glüdlih darin, es zu fönnen. Bon der Treue der Pflihterfüllung, melde fich nicht zufrieden gab, bis auch das Letzte und Kleinſte gethan war, fönnen Alle zeugen, die Gelegenheit hatten, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Wie er ſich aber in Eonflicten zwifchen Pflicht und perfönlicher Neigung mit der legteren abfand, haben Wenige gejehen. Man kann nicht jagen, daß e8 überhaupt zum wirklichen Conflicte Fam. Die Ausführung von Lieblingsgedanfen, von lang gehegten ſehnlichen Wünſchen, ließ er in ſolchen Augenbliden zu Boden fallen, ala hätte es dergleichen Spielzeug nie für ihn gegeben. Gewiß geſchah es nicht ohne eine manchmal tiefe innere Erregung. Aber die Ueberzeugung, was zu thun fei, war von Anfang her fo unerfchütterlich, dab es frivol geweſen wäre, zu Gunſten eines Ausgleichs zwijchen Neigung und Pflicht auch nur ein Wort zu jagen. Im Ertragen perjönlichen Leids und Mip- geihids zeigte er eine ſtolze Männlichkeit. Neben dem Muthe der Reſignation bejaß er in hohem Grade den Muth der Selbit- anflage. War etwas mißglüdt, was er veranlaßt hatte oder an deſſen Ausführung er auch nur mitthätig gewejen war, fo fonnte man Sicher fein, daß er jtets die Schuld zuerft bei fih ſuchte. Und nichts, alaube ich, jpricht beredter für die Großherzigfeit des Mannes, als jene Art von Beruhigung, die ihn überkam, wenn er in folchen Fällen gefunden zu haben glaubte, daß nur er den Fehler gemadt babe und feine Mitwirkenden von jeder Schuld befreit fein. Scheu vor Uebernahme einer Verant— wortlichfeit war ihm unbefannt; er pflegte bei Allem, was er that, jeine volle Berfönlichkeit einzufegen.

Die Rihtung feines Weſens ging entjchieden auf dasjenige hin, was man praftifche Thätigfeit nennt. Er felbit war fid) darüber nicht zu allen Zeiten ganz Klar, und noch in den Jahren 1865 und 1866 zweifelte er manchmal, ob er wohl auf dem

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rihtigen Wege jei. Das Rejultat feiner Selbftprüfungen war aber doh: „Mich hat das bürgerliche Leben und mich wird es haben.“ Als er im Jahre 1868 auf die volle Höhe feines Wirfens gelangte, war der Kampf endgültig entjchieden. In einem Briefe vom 30, Auguft 1868 äußerte er ſich darüber ausführlih: „Die Gefilde der Wiſſenſchaft und Kunſt jcheinen mir ebenjo para- dieſiſch wie unerreichbar, wenn ich, bededt von Staub und Schweiß, den Karren öffentlicher Arbeit mühjam auf der großen Heeritraße des Lebens fortjchleppe. Allein mehr als je habe ih in den legten Jahren empfunden, daß diefes Gebiet doch das meinen Kräften angemefjenite iſt und das Schidjal vielleicht nicht Unrecht daran gethan hat, mich auf dasjelbe mit meiner Arbeit anzumeifen. Auch auf diefem Gebiete mögen die mich umgebenden Ber: hältniſſe augenblidlih auch noch Klein ſein iſt es ja möglich, Nügliches, den Tag Ueberdauerndes zu Schaffen. Früher beihlich mich zumweilen Unzufriedenheit. Jetzt ift es mir klar geworden, daß ich doch der Welt angehöre, in der ich lebe, und daß nur die Berührung mit der Mifere diefer Welt, mit allen den Hein- lihen Erbärmlichfeiten derfelben, mich jo unluftig machte. Dieje Empfindung zu überwinden und dabei die höheren Ziele nicht aus den Augen zu verlieren, ift jegt mein Beftreben, und ich finde, daß darin der Kampf in meinem Innern einen verföhnenden Abſchluß erhalten hat.” Wie bier überhaupt ein Zweifel möglich gewejen jei, konnte nur der begreifen, der den ganzen Reichthum diefer jeltenen Natur kannte. Waren Riefemann’s hohe Gaben für ein öffentliches Wirken ſchon zu Anfang feines Syndifats überrafchend hervorgetreten, fo entwidelten fie fih von Jahr zu Jahr glänzender. Er war ein Meifter des geiprochenen Wortes. Zu dem Schwung feiner Gedanfen und dem fittlihen Pathos, mit dem fie durchtränkt waren, gejellte fich ein feiner Sinn für fünjtlerifche Geftaltung und ein Eräftiges, ſympathiſches Organ, Er verfehlte jelten jeine Wirkung. Obgleich er es im Allgemeinen nicht liebte, unvorbereitet zu reden, jo verftand er e8 doch auch, dem Unerwarteten zu begegnen, und hatte ihn der Gegenitand

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tief erfaßt, jo fonnte er fih dann in einer feurigen Beredtfam: feit ergießen, die um jo hinreißender wirkte, je fpontaner fie erihien. Ein jtarfes Gedächtniß, eine leichte und fichere Auf: faffungsgabe fam ihm zu Hülfe. Lange Vorträge war er im Stande nad einmaligen aufmerfjamen Hören inhaltlih genau und zum Theil wörtlich wiederzugeben. Es war ein Vergnügen, ihn in berathenden Verfammlungen den Vorſitz führen zu fehen, die leichte Sicherheit zu beachten, mit der er die Discuffion im GSeleife hielt, aus dem vermworrenen Knäuel der Meinungs: äußerungen den fachlichen Kern heraushob, die Schärfe der Gegenſätze unſchädlich machte. Vor Allem geeignet war er zur Repräfentation, und je jolenner die Gelegenheit, defto höher wuchſen jeine Kräfte Die Art, wie er zum Beijpiel bei den jeit 1866 in Reval mehrfach ftattgehabten Mufikfeften die Hon- neurs der Stadt madhte, war bemwundernswerth. Er konnte über mande bei joldhen Gelegenheiten üblihen Formen wohl gelegentlich herzen und fich ſelbſt ironifiren; aber man merfte es ihm doch an, er fühlte fih in feinem Elemente.

Es jteht mir nod die Stunde deutlih vor, als er zum eriten Male die Schumann'ſche Mufif zu Scenen aus Goethe's Fauſt fennen lernte, wie mächtig ihn da die Compofition der Worte ergriff, die Fauſt vor feinem Tode jpridht:

Sold ein Gewimmel möcht' ich ſehn,

Auf freiem Grund mit freiem Volke ftehn.

Zum Augenblide dürft’ ich jagen:

Verweile doh! Du bift jo ſchön!

Es kann die Spur von meinen Erdentagen

Nicht in Aeonen untergehn. Offenbar fühlte fih eine Saite feines eigenen Innern tief ſympathiſch berührt. Rieſemann bejaß ohne Zweifel viele Eigen- ichaften für einen bedeutenden Staatdmann. Zu Allem, was in diefer Beziehung ſchon gejagt ift, jet bier noch die Sicherheit und der Scharfblid gefügt, den er im Beurtheilen der menſch— lihen Charaktere bewies, und die Fähigkeit, die Erfahrungen des Lebens fchnell in pofitive Werthe umzufegen und für ftaats-

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männiichen Calcul brauhbar zu machen. Vielleicht batte er jonft Alles, was ihn zur Ausfülung eines hohen politischen Poſtens geeignet gemacht hätte. Nur eines fehlte ihm: jene fühle Objectivität, die bei Allem, was fie unternimmt, die eigene PVerfönlichfeit nicht mehr, als gerade eben nöthig it, in Mit: leivenjchaft jegt. Rieſemann that nichts, wobei er nicht das volle Maß feiner intellectuellen Fähigkeiten, zugleih aber auch die ganze Innigkeit feines Gemüthes in Bewegung gebracht hätte. Jedesmal verbraudte er jo ein unverhältnigmäßiges Duantum eigener Kräfte und ſchuf fih Schwierigkeiten, wo für eine weniger tiefe Natur ſolche nicht vorhanden gewejen wären. Wenn die Menfchen manchmal ſchon durd rein ſachliche Gründe ſchwer zu überzeugen find, jo pflegen fie vollends jtörrifch zu werden, wo fie die Mitwirkung eines perjönliden Moments wittern. Schwierigkeiten solcher Art mußten ihn dann um jo mehr afficiven, als jein Blid Elar genug war, um zu jehen, daß ihm feine eigene Natur im Wege jtand. Bejonders verderblich wurde ihm jein gemüthvolles Wejen auch da, wo ihn fein Wirken mit der Noth und dem Elend der Mitmenjchen in Berührung bradte. Es fraß ihm am Herzen, wenn er Jemanden leiden jah. Zur Zeit der Hungersnoth griffen ihn die Eindrüde des allge: meinen Unglüds jo jehr an, daß die Freude über den endlichen Erfolg der von ihm organilirten Bekämpfung desjelben die Ein- buße an eigener Kraft nicht zu erjegen vermochte. Es lag in diefer Eigenthümlichkeit der tragiſche Conflict feines Lebens. Immer nur wenige Jahre konnte er es treiben, dann trat regel- mäßig ein Zufammenbrud feiner Kräfte ein. In Folge davon überfamen ihn düftere Stimmungen, die zwar anfänglich vor der Elafticität feiner Natur nicht lange Stand hielten, ſpäter aber immer intenfiver auftraten. „Wie hat mir doc die Lebensſonne noch einmal jo hell und warm geleuchtet, nachdem ich faft daran verzweifelt, jie wieder aufgehen zu jehen!“ das waren bie Worte, mit denen er von einen Freunden und von Deutjch- land jchied, wo er 1871 Genejung geſucht hatte. Einige Jahre

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jpäter Klang der Ton jchon anders. „Bei mir heißt es wohl: „Nun ift mein’ bejte Zeit vorbei!” !) verzettelt in meiſt er- jolglojen Kämpfen. Blicke ich auf mein verbrachtes Leben zurüd, jo finde ich geringen Trojt allein darin, daß das Wenige, was ih gethan, aus uneigennügiger Liebe zum Vaterland und zur Sade geihah. Darin liegt denn auch ein Stüd deutjchen Idealismus. Jene Liebe zur Sache hat aber das Unbequeme, daß nothwendig eine dentificirung der allgemeinen mit den eigenen Intereſſen eintritt. ch leide perſönlich unter Dingen, die, bei Licht bejehen, der großen Menge, die von ihnen be- troffen wird, ziemlich gleichgültig find. Dieſes unausgejegte Geriebenwerden am Schleifitein jeeliicher Unruhe jchärft zwar, jchleift aber au ab. Sold eine abgejchliffene Klinge, tauglich weder zum Schneiden noch zum Stechen, bin jeßt id. Ja, nicht allein in Geldfachen ift die Gemüthlichfeit von Uebel, in der Politik darf das Gemüth erit recht nicht mitreden.“ Er ſprach auch viel vom Nahen des Alters, was bei feinen Jahren und der ſtets bewahrten Jugendlichkeit feiner äußeren Erſcheinung Fernerſtehenden ganz unbegreiflich vorfommen mußte. Sentimen: talität und Affectation waren aber jeinem Wejen jo gänzlich fremd, daß der Freund aus jolchen Neußerungen nur mit Beſorgniß auf eine gründliche Erjehütterung jeiner Kräfte ſchließen konnte.

In engiter Verbindung mit jenem gemüthvollen Zuge feines Charakters, der für ihn jo verhängnißvoll wurde, ſtanden gewiſſe Gaben Rieſemann's, die man gewöhnt ift in einer Art von Segenjag zu den „praktiſchen“ Talenten zu jehen. An jeine literarifhen Arbeiten denfe ich bier weniger. Einige rechts: wifjenichaftliche Abhandlungen: Leber Schwurgerichte und Schöffen: gerichte mit Rüdjiht auf die einheimifche Gerichtsorganijation, Die Erpropriation nad) provinziellem Recht, Bilder aus ber Strafrehtspflege Revals im 17. Jahrhundert, hat er in der

!) Anjpielung auf ein Gedicht D. Roquette’s, das uns gemeinfam ge- fallen hatte.

„Baltiichen Monatsſchrift“ veröffentliht. Ein Auffag: „Ueber Heren und Zauberer in Reval“ erfchien in den Beiträgen zur Kunde Eſth-, Liv: und Kurlands, eine Darftellung des Criminal: falle Ladner im Neuen Pitaval (IX. Band, 1. Heft. Yeipzig, 1874). Ich kann den Werth der wiſſenſchaftlichen Refultate diejer Arbeiten nicht beurtheilen. Die Methode der Unterfuchung iſt Har, die Darftellung von ruhiger Sadlichfeit, und ich glaube wohl, daß Riefemann, wenn er es darauf angelegt hätte, es zu einem tüchtigen Nechtslehrer hätte bringen fünnen. Aber einen viel breiteren Raum in jeinem gefammten Weſen nahmen unftreitig die fünftlerifchen Neiqungen ein. Er hatte lebhaftes Intereſſe für Poefie und bildende Kunft, und für beides ein fiheres, dur reiche Erfahrung gejchultes Verſtändniß. Die Sprade hatte er jelbit vollfommen in der Gewalt. Seine Briefe könnten unverändert gedrudt werben, fie würden zu Muftern einer treffenden, gewählten und anſchaulichen Ausdruds: weile taugen. Der eigentlihe Schwerpunkt aber jeiner fünftle- rischen Interefjen lag in der Muſik. Die Natur hatte ihn mit einer herrlichen Baritonftimme begabt, der er theils während jeines Aufenthaltes in Italien, theil3 in Berlin durch Mantius eine gründlide Schulung hatte zu Theil werden lajjen. Dabei wohnte in ihm eine productive Kraft, ein Gejtaltungstalent im Vortrag, das einen echt Fünjtleriihen Zug trug. Tiefere theoretiihe Studien hatte er, wohl zumeiit aus Mangel an Zeit, nicht gemacht. Aber er erjegte dieſe „Lüde feiner Bildung“, wie er ſelbſt e8 zu nennen liebte, aufs Glüdlichfte durch einen fiheren muſikaliſchen Inſtinet. Seine Liedervorträge waren durhaus eigenthümlich, das treue Spiegelbild feiner Perſönlich— feit. Das Ernſt-Pathetiſche, Kraftvoll-Innige einerjeits, und andererjeits das Glänzend -Nitterlihe lag ihm am nächiten. Gewiſſe Lieder, wie den „Wandrer“ von Schubert, „Fluthen- reicher Ebro“ und „Stille Thränen” von Schumann konnte man

ih kaum jchöner vorgetragen denken. E3 lag ein dramatijcher Philipp Epitta, Bur Mufit. 30

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Anhauch auf feiner Iyriihen Empfindung, der, ohne je fich törend geltend zu machen, ihr einen gewiſſen hinreißenden Aus: drud verlieh. Zuverläffig wäre er großer Erfolge ſicher geweien, wenn er fi ganz der Künftlerlaufbahn hätte hingeben wollen. An Lockungen dazu bat e8 in feinen Jünglingsjahren nicht ge- fehlt; wie er im Ganzen geartet war, ift es ihm wohl kaum jchwer geworden, denjelben zu widerſtehen. Aber zur Verklärung feines Lebens, zur Neinigung und Erbauung feines Gemüthes unter den niederdrücenden Erfahrungen, die ihn fein öffentliches Wirken jo vielfach erleiden ließ, war ihm die Kunft ein unfchägbares Gut. Er blieb ihr fein Leben lang mit begeifterter Liebe zu— gethan, fie war ihm ein Stüd des Velten, das er in ſich trug. Wie er gewohnt war, alle jeine Gaben im Dienfte der Deffent- lichfeit zu verwerthen, jo bat er fih auch um die allgemeine Mufikpflege Revals große Verdienfte erworben. Nicht nur, daß er bis in die legten Jahre bei den öffentlichen Aufführungen der dortigen Vereine an hervorragender Stelle mitwirkte. Er befümmerte fi) auch um die Organijation und Verwaltung der Vereine und nahn fie zeitweilig jelbft in die Hand. Bon ihm ging der Anſtoß aus, daß im Jahre 1866 das für Neval in Ausfiht genommene Männergejangsfeit zu einem Mufikfeft im größeren Stil und mit reicheren Mitteln erweitert wurde. Er half 1870 die Beethovenfeier zu Stande zu bringen und ftand 1874 an der Spige der Mufiffeftlichkeiten, die zum fünfundzwanzigjährigen Subiläum des Nevaler Männergejangvereins veranitaltet wurden. Auch iſt es vor Allem feinen Bemühungen zu verdanfen, daß für den Dienft an der großartigen Orgel der Dlailirche im Jahre 1880 in einem ausgezeichneten Künſtler eine angemeſſene Kraft gewonnen wurde. In der Selbitbiographie der Eängerin Mara, deren Manufeript er in Neval auffand und 1875 mit fahgemäßen Erläuterungen verjehen berausgab, hat er ber Mufitgefhichte des 18. Jahrhunderts eine werthvolle Quelle erſchloſſen. Daß aus dem Staatsarchiv zu Moskau ein für das

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Leben Sebaftian Bach's jehr wichtiges Document ans Licht ge: fördert wurde, ift zu einem wejentlichen Theile jein Verdienft. Ich deutete das Antereffe an, mit weldem Riejfemann den Bewegungen im deutſchen Mutterlande folgte. Das Intereſſe war ein umfallendes, und jo bejchäftigten feit 1871 auch die firhlichen und religiöjen Fragen häufig fein Nachdenken. Seine Stellung zu diefen war von Natur eine andere, als es bie eines Angehörigen des deutichen Neiches fein Fonnte. Für ihn als Balten dedten ſich Confeſſion und Nationalität; in jo fern eine Abfonderung der eriteren nur eine fihere Schädigung der leßteren bedeutet hätte, Fonnte für ihn der Streit über das Verhältniß zwijchen Kirche und Staat ein praftifches Intereſſe zunächſt nicht haben. Aber er würde aud) unter anderen Umständen fich ſchwer— lih in die Reihen derjenigen gejtellt haben, die in der „freien Kirhe im freien Staat” das Ideal der Zukunft ſahen. „Was joll aus der Menſchheit werden,” fragte er, „wenn bie ihr leibliches Sein bedingenden, im Staate verförperten Einrichtungen und Formen feinen Zufammenhang mehr haben mit der Kirche, in welder der unbewußte Zug, das ſehnſüchtige Bedürfniß nach dem Idealen Zuflucht und Nahrung jucht und findet? Wird die europäifche Menfchheit die Löfung diefes Zufanmenhanges zu ertragen vermögen?“ Niefemann war, wie alle Menjchen, von tiefem und reichem Gemüth und von idealer Gefinnung, eine religiöje Natur. „Jegliche Frivolität in Diefen Dingen war ihm in der Seele zumwider, jo duldſam er fonft gegen alle ehrlich ge- wonnenen Ueberzeugungen fich verhielt, mochten fie auch weit von der jeinigen abweichen. Für jeine Perſon hielt er treu an den kirchlichen Grundſätzen feit, in denen er erzogen war. Auf Erörterungen über fie ließ er fih eben jo wenig ein, wie aufs Philofophiren über die legten Ziele der Menjchheit. Was diefe betrifft, jo war er der Meinung, ein Jeder müſſe nad) Maß— gabe feiner Kräfte muthig feine Pflicht thun und das Uebrige Gott anheimſtellen. Dieje jelbitgewählte Beſchränkung erſchien 30 *

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ihm als unerläßliche Grundlage jür eine gedeihlihe Lebens: arbeit. Ich finde in feinen Briefen eine Stelle, die mir feine Denkart ſchlagender zu charakterifiren fcheint, als es jede aus— führlihe Schilderung eines Andern vermöchte. „Steht man ein: mal mitten im Kampf, dann fragt man nicht mehr: wirb der Ausgang desfelben mich, wird er die Menschheit fördern? jondern man fragt: wird meine Sade jiegen? Und in der äußerften Anjpannung der Kräfte für diefe Sache, im Bewußtſein, feine Kraft pflihtgemäß einzufegen für etwas, was man als gut und nothmwendig anerkannt hat, findet fich dann auf Augenblide eine Empfindung ruhigen Glücks, einzig die Frucht gethaner Arbeit und erfüllter Pflicht.“ Nicht ein Wort möchte ich einer ſolchen Aeußerung hinzuzufügen wagen.

Im Verkehr zeigte Riefemann die gelaſſene Sicherheit, welche Leuten eigen ijt, die gewohnt find, an erfter Stelle zu ftehen. Er war wortkarger, als es im Allgemeinen der baltifche Deutihe zu fein pflegt. Eine gewiſſe Kürze im Befcheidgeben war ihm eigen, die als Schroffheit oder furzangebundenes Wefen hätte erjcheinen fönnen, wäre fie weniger ruhig gewejen. Im Verlauf eines ihn interejfirenden Geſpräches wurde er lebhaft, ohne jedoch eine gewiſſe Gemefjenheit zu verlieren. Leidenfchaft- lih erregt jahb man ihn felten; wurde aber fein fittliches Ge- fühl verlegt oder hielt er e3 für nöthig, Unziemlichkeiten oder Ehrlofigfeiten im allgemeinen Intereſſe entgegenzutreten, jo konnte jein Auftreten eine jo niederzwingende Wucht befommen, daß e3 nur Wenige geben mochte, die den Muth fanden, ihm Stand zu halten. Die vornehme Faſſung, welde ihm der Welt gegen: über zur zweiten Natur geworden war, diente ihm auch als Waffe gegen die Neizbarkeit des eigenen Gemüths. Heftige Aufregungen waren ihm wie allen fein organifirten Naturen qualvoll; indem er ruhig ſchien, gelang es ihm leichter, wirklich ruhig zu werden. Auffallen mußte es, wie auch in Augenbliden tiefer Bewegung das Wenige, was er jagte, immer eine präcife

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und abgerundete Form hatte; war er dazu nicht mehr im Stande, jo jah er mit etwas geipanntem Gefichtsausdrud vor jih hin und ſchwieg. Rührung liebte er, außer etwa im intimften Kreife, durch einen Scherz oder eine ironijche Bemerkung zu verhüllen. Bei der feinem Weſen eigenen Mifhung von geiftiger Kraft umd Freiheit mit tiefer Gemüthsinnigkeit ift es fait jelbft- verftändlih, daß er einen lebhaften Sinn für den Humor bejaß. Humoriſtiſche Schriftiteller: Dickens, Freytag, namentlich Fritz Reuter las er mit Vorliebe. Auch den eigenen Humor ließ er oft in brillanten Farben ſprühen; er hatte eine Art, feine Ein- fälle über einen gewiſſen Gegenftand durch immer neue und fühnere ſelbſt zu überbieten: ein Funke fünftlerifchen Uebermuthes durchleuchtete dann, und auch ſonſt wohl, wenn er fidy heiter erregt fühlte, fein Weſen. Für ein trauliches Familienleben war er bejonders empfänglid. Weilte er von den Seinen fern, jo überfiel ihn Heimweh. Als er 1874 in Mentone war, verfchwor er es, je wieder allein auf Reifen zu gehen. Es quälte ihn, wenn er einmal glaubte, fich feiner Familie nicht jo ernſtlich widmen zu Fönnen, wie er müßte. Ueberhaupt jo voll ſich Niefemann jeines Merthes bewußt war, fo ehr er fich hatte daran gewöhnen müfjen, überall in der Gejellfchaft mit befonderer Auszeihnung behandelt zu werden, er war im Grunde doch die Selbftlofigfeit jelber. Er befaß eine ungeſuchte Art, ſich in den Schatten zu ftellen, eine Wärme und Herzlichfeit in der Freude über fremdes Verdienft und Glüd, die auf dem Hintergrunde fo glänzender eigener Eigenschaften etwas Bezauberndes hatte. Eigen: thümlich fpielten in feinem Verhältniß zu den Menjchen die gegen- jäglihen Grundzüge feines Weſens durcheinander. Sein Ber- trauen fannte feine Grenzen, wo er einmal glaubte vertrauen zu fönnen. Er, der jonft jo ſcharfſichtig die Menſchen durchſchaute, mit jo freiem und weitem Bli die einem Jeden angemefjene Stelle erfannte, gefiel fih förmlich darin, gegen die Schwächen der Menfchen, die er liebte, blind zu fein, dagegen die quten

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Eigenſchaften derſelben ſich in ein beſonders glänzendes Licht zu rücken und eifrig Alles abzuwehren, was ihm ſein Idealbild ſtören konnte.

Wenn er in fremde Kreiſe trat, pflegte er eine vornehme Reſerve zu beobachten. Er ließ die Menſchen an ſich heran— kommen, gehörte übrigens zu den Perſönlichkeiten, die auch im großen Kreiſe gar nicht zu überſehen waren. Er konnte eine eiſige Temperatur um ſich verbreiten, wenn Jemand das Miß— geſchick hatte, es formell irgendwie gegen ihn zu verſehen, zeichnete ſich übrigens im Verkehr durch ein ſehr verbindliches Weſen aus. Aber es war ſchwer ihm näher zu treten. Seiner großen Ge— wandtheit im beruflichen Leben, der Leichtigkeit, mit welcher er ſich in den allgemeinen geſellſchaftlichen Formen bewegte, ſtand eine faſt ſcheue Zurückhaltung gegenüber, ſowie es ſich um An— bahnung eines vertrauten perſönlichen Umgangs handelte. Und fo jpielend leicht er fich die Dinge aneignete, die ihm im öffent- lihen Wirken als neu entgegentraten, fo langjam überwältigte er, was ihm ein innerlicher Befig werden jollte. Cine gewiſſe Schwere der Bewegung die natürliche Folge der wohlge— fiherten Solidität feiner innerjten Güter war hier nicht zu verfennen. So dauerte e8 zum Beifpiel lange, ehe er ein neues Muſikſtück vollftändig beherrjchen lernte, um jo länger, je tiefer es ihn ergriff. Es war da eine neuere Compofition der jchönen Klopſtock' ſchen Ode „Die frühen Gräber”, die ihm befonders zu: jagte. Wochenlang trug er fi mit ihr herum, wo er ging und ftand. Er erzählte mir, daß er in ſchlafloſen Nachtſtunden fih das Gediht langſam vorſpreche, gleihjam den Klang eines jeden Wortes und die von ihm ausgehende Stimmung langfam trinfend und bis ins legte Atom durchkoſtend. Hatte er dies eine genügende Weile getrieben, dann redete beim Vortrage aber auch aus jedem Ton, aus jeder melodijchen Wendung fo voll feine eigene Seele, als ob er das Stüd im Augenblide jelbit ihüfe. Man weiß, wie die leßte Strophe der Ode lautet:

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Ihr Edleren! ad) es bewächſt Eure Male jhon ernftes Moos. D wie war glüdlich ich, als ich noch mit euch Sahe fi röthen den Tag, ſchimmern die Nacht!

Wenn ich jegt an die Stunden zurückdenke, wo er fie mit feiner unvergleihlichen edlen Innigkeit den Hörem ins Herz fang, jo frage ich mich immer, wie e8 möglich war, daß mir nie der Gedanke kam, ob nicht bald einmal diefe Worte auf ihn ſelbſt Anwendung finden würden. Bielleicht hat er e8 geahnt. Aber e3 würde das zu den Dingen gehört haben, über die er zu

ſchweigen pflegte.

PVierer'jche Holbuchdruderei. Stephan Geibel & Eo, in Altenburg.

Mulikgefihichtliche Aufſähe.

Aufkaelijicptlide Auflühe

von

Philipp Spitta.

Berlin. Verlag von Gebrüder Paetel. 1894.

Alle Rechte, vornehmlich das der Ueberfegung, vorbehalten.

N 3

Vorwort.

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9 Veranlaſſung zum Erſcheinen dieſes Buches iſt der erſte 9 der in ihm enthaltenen Aufſätze. Er ſoll die Aufgabe, die ich vor zehn Jahren mit der Gefammt-Ausgabe der Werke Heinrich Schützens mir geftellt hatte, gleichzeitig mit dem Er- jcheinen des legten Bandes dieſer Ausgabe zum Abſchluß bringen. Für eine größere monographijche Arbeit über Schüß halte ich die Zeit noch nicht für gekommen, und wenn wir fo weit gelangt jein werden, daß die allgemein gewordene Theil- nahme für den Mann eine jolche Arbeit rechtfertigt, dann wird man doch vielleicht lieber eine Gejchichte der deutſchen Muſik im 17. Sahrhundert jchreiben wollen, in welcher Schüß einen beherrijchenden Plak einnehmen würde. Ein Aufjag aber von dem geringen Umfange des bier vorliegenden ließ ſich nicht wohl allein veröffentlihen. Es fchien mir nicht unangemefjen, den großen Meifter mit einer Gefolgſchaft auszuftatten, die von feiner Zeit und Umgebung ausgehend ſich bis auf die Gegen- wart berabzöge. Unter dieſem Gefichtspunfte habe ich aus meinen früher erjchienenen Arbeiten eine Auswahl getroffen und biete fie hier al$ Sammlung dar. Enthält fie zum Unterfchiede

HE

von der älteren Sammlung „Zur Muſik“ auch Daritellungen und Unterfuhungen aus etwas entlegeneren Gebieten der Mufif- wiſſenſchaft, jo ergab fich dies eben aus der Natur des Planes; diefe verlangte auch gebieterifh, daß die italienische Muſik nicht fehle. Sollte ih mid in der Erwartung täujchen, daß ein weiterer Lejerfreis jenen entlegeneren Dingen die es eigent- (ih für uns doch nicht mehr jein dürften jeine Theilnahme jchenfen werde, jo wird er fi hoffentlich durd den übrigen Anhalt des Buches einigermaßen entichädigt finden.

Der Auflag über Schüg it vor etwa drei Jahren ent- worfen worden, da die Arbeit an der Gejammt-Ausgabe im wejentlichen vollendet jchien. Der Entwurf hat in der „Al: gemeinen Deutſchen Biographie” Beröffentlihung gefunden. Auf ausführlichere Quellennachweiſe und jene Ergänzungen, welche in das Gebiet der Anmerkungen gehören, mußte ich freilich ver- zihten. Eine meinen Abfichten völlig entiprechende Geftalt hat demnach der Aufſatz erit jegt erhalten fünnen. Es hat fich feit- dem aber auch noch manches bisher Unbekannte eingejtellt, das zu berüdfichtigen war; imgleihen gab es einige Irrthümer zu verbeſſern. So tft er in jeiner jegigen Geftalt doch etwas Neues und, wie ich hoffe, Vervollkommnetes. Wiederholte gründliche Durdarbeitung babe ich mir auch bei feinem der andern Auf: ſätze erlafjen, bei einzelnen hat dieje zu erheblichen Erweiterungen und Venderungen geführt. Daß mehrere von ihnen zuerft in den früheren Jahrgängen der Bierteljahrsichrift für Mufifwifien: ihaft geitanden haben. erwähne ich hier mit Bezug auf eine im Borwort der Sammlung „Zur Mufil” gemachte Bemerkung: als ich jie ihrerzeit niederfchrieb, lag mir der Gedanke noch fern, ein Buch herauszugeben, wie es das vorliegende jein möchte.

VI

Der übrige Beitand, ſoweit er nicht Gelegenheitsichrift it, er- Ihien während eines Verlaufs von vierundzwanzig Jahren in der Leipziger „Allgemeinen Muftfalifchen Zeitung”, den „Monats: beiten für Muftfgefchichte” und der „Deutſchen Rundſchau“.

Auffäge, wie „Der deutihe Männergefang”, „Johann Georg Kaftner“, „Xaver Schnyder von Wartenfee“ bitte ich als Verſuche zu betrachten in einer Form, die meines Willens in der Mufiffchriftitellerei früher faum gepflegt jein dürfte. Es jcheint mir unzweifelhaft, daß die Entwidelung der Ergebnifje eigner Unterfuchung durch Anfnüpfung an die Arbeit eines Andern für den Leſer einen befonderen Reiz mit fi zu bringen und auch dem Verfaſſer gewiſſe formelle Bortheile zu gewähren ver- mag. Db ich veritanden habe, jenen zu erregen und dieſe aus: zunugen, darüber fteht Andern das Urtheil zu.

Berlin, den 9. März 1894,

Yhilipp Spitte,

Heinrich Schütz' Leben und Werke,

>

Philipp Spitta, Ruſitgeſchichtliche Aufjäge, 1

Wie Aufmerkjamkeit unſeres Jahrhunderts zuerft mit Nach— > drud wieder auf Schütz gelenkt zu haben, gehört zu den Verdienften Carls von Winterfeld. Bald nah ihm begannen Localhiftorifer Sachjens über das Leben des Dresdener Meifters ergiebige Forſchungen anzujtellen. Friedrich Chryfander ergänzte fie und wies der Beurtheilung der Kunſt Schüßens eine neue Richtung. Während nun die Mufifvereine anhuben, feine Werke der Kenntniß der Welt von Neuem zu vermitteln, kam die literariſche Bejchäftigung mit ihm durch zwei Jahrzehnte nicht erheblich vorwärts, bis 1885 die Jubelfeier einen neuen Anſtoß gab”). Die von mir unternommene Geſammt-Ausgabe feiner

1) C. v. Winterfeld, Johannes Gabrieli und fein Zeitalter. Berlin, Schleſinger. 1834. Band I, S. 50 ff. Band II, ©. 168. Derfelbe, Der evangeliiche Kirchengefang. Band II. Xeipzig, Breitfopf und Härtel. 1845. S. 207. Karl Auauft Müller, Forihungen auf dem Gebiete der neueren Geſchichte. Dresden und Yeipzia, G. Fleifcher. 18358. ©. 161 ff. Wilhelm Schäfer, Sachſenchronik. Erfte Serie. Dresden, Blohmann jun. 1854. ©. 500. Morig Fürftenau, Zur Gefchichte der Muſik und des Theaterd am Hofe zu Dresden. Eriter Theil. Dresden, Kunte. 1861. ©. 21 fi. Friedrich Chryfander, ©. F. Händel. Band I. Leipzig, Breit- fopf und Härtel. 1858. ©. 19 fi. Derjelbe, Jahrbücher für mufifalifche

ziſſenſchaft. Band I. Ebenda 18693. ©. 159 ff.

2) Friedrih Spitta, Heinrich Schü. Cine Gedächtnißrede. Hildburg- haufen, Gadow. 1886. Derfelbe, Die Paſſionen nad) den vier Evangeliften von Heinrich Schütz. Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1886.

1 *

Werke ſetzte eine gründliche Durcharbeitung des vorhandenen gedruckten und handſchriftlichen Muſik-Materials und der Be— ziehungen voraus, in welche dieſes hineinführte. Ich habe die Ergebniſſe in den Vorberichten zu den einzelnen Bänden nieder— gelegt, mich aber auf geſonderte literariſche Veröffentlichungen, ſolange dieſe Arbeit noch unvollendet war, nicht eigentlich ein— laſſen mögen. Nunmehr erſcheint es mir an der Zeit, auf ihrem Grunde das Bild des Künſtlers ſo vollſtändig zu zeichnen, wie es mir meine bis zu dieſer Stunde fortgeſetzten Studien er— möglichen, und ich wünſchte, daß man den nachfolgenden Verſuch als eine Ergänzung zu meiner Ausgabe der Werke Schützens anjähe?).

L

Heinrid Schütz (Henricus Sagittarius, audy Enrico Saet- tario) iſt nach urfundlicher Angabe der Pfarrregiſter zu Köftrig an der Eliter am 9. October 1585 dajelbit getauft worden. Da die Taufe entweder am Tage der Geburt jelbjt oder an dem nädhitfolgenden vollzogen zu werden pflegte, jo wäre er am 9. oder 8. October geboren. Man hat fich aber für das lettere Datum zu enticheiden, da der gedrudte „Lebenslauf“, welcher jeiner Leichenpredigt angehängt iſt, berichtet, er jei geboren „am 8. Tage des Octobris, Abends umb 7 Uhr“). Auffälligerweiie muß fih Chüß über feinen eignen Geburtstag im Irrthum befunden haben, da er in einem Geſuch an den Kurfüriten Johann Georg I. von Sachſen, datirt vom 14. Sanuar 1651, jchreibt, er jei am

1) „Händel, Bad und Schütz“ in den gelfammelten Aufſätzen Zur Muſik (Berlin, Gebr. Paetel, 1892) ©. 59 ff. und „Die Paſſionsmuſiken von Sebaftian Bach und Heinrih Schütz“ (Damburg, Verlagsanftalt A.G., vormals J. F. Richter, 1895) find zwei frühere fleine Beiträge von mir, die bier zu nennen mir geitattet jei.

2) Diefer „Lebenslauf“ bildet noch immer eine der wichtigften Quellen. Erenplare befinden fih u. a. auf der Königl. öffentlichen Bibliothel zu Dresden und der Fürftl. Stolbergiichen Bibliothel zu Wernigerode.

er

Tage Burkfhardi geboren, was der 14. October wäre. Der Name Schütz fommt noch heute in der Umgegend von Köftrig jehr häufig vor, und mande Anzeichen deuten darauf bin, daß auch die Familie Heinrih Schügens von Alters ber in diefer Gegend jeßhaft war. Der Großvater indeffen, Albrecht Schüß, baujte zur Zeit in Weißenfels, war Eigenthümer des noch heute ftehenden Gaſthofs „Zum Schüßen“, der vielleicht von ihm erbaut worden it, und hatte zugleich das Amt eines Rathskämmerers inne. Der Vater, Chriſtoph Schü, war Beſitzer des Gajthofs „Zum goldenen Kranich“ in Költrig und eine Perjönlichkeit, die in Der Gemeinde allgemeines Anfehen und Vertrauen genoß').

Köjtris gehörte jchon damals zur Herrihaft Reuß-Gera, und aus Gera hatte jih Chriſtoph Schütz die Gattin geholt. Sie hieß Euphrofina und war die Tochter des Nechtspraftifanten und Bürgermeifters Johann Berger dajelbit. Aus der Ehe gingen, joweit es ſich hat feititellen laffen, vier Söhne hervor: Andreas, der feiner Zeit das Beligthum des Vaters in Köſtritz übernahm, Heinrich, Valerius und Georg. Die beiden leßteren Ihlugen die Gelehrtenlaufbahn ein: Balerius erwarb die Magifter- würde, Scheint aber nicht zu hohem Alter gefommen zu fein, da er fchon 1632 gejtorben ift; Georg, der AJurift wurde und dem Heinrich bejonders nahe geitanden haben muß, wird uns noch weiter begegnen. Auch eine Schweiter wird erwähnt, die jich in Weißenfels verheirathet hatte.

Als Albreht Schütz im Jahre 1591 geitorben war, jiedelte Chriſtoph nach Weißenfels über, um die ihm als Erbe zuge: fallenen väterlichen Gitter in eigne Verwaltung zu nehmen. Sein Name und die Jahreszahl 1616 find bis heute am Gaft- hauſe zu lefen. Faſt vierzig Jahre noch hat er hier gelebt und in hohem Anſehen geitanden, auch das Amt eines Bürgermeifters befleidet; am 9. Det. 1630 (nit am 25. Aug. 1631) ift er ge:

Mittheilungen ded Herrn Paſtor Dr. Leo zu Köftrig.

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ſtorben!). Seinen Kindern ließ er die jorgfältigite Erziehung zu Theil werden. Daß der Sohn Heinrich ein ungewöhnliches Talent zur Mufik beige, wurde jchon früh bemerkt, da diejer in kurzer Zeit ich zu einem Discantjänger von „bejonderer An- muth“ entwidelte. Gute Discantiiten waren in einer Zeit, da man Frauengejang bei öffentlichen Veranftaltungen noch nicht kannte, ein jehr gefuchter Gegenitand. Es fügte fich im Jahre 1598, daß Yandgraf Morig von Heljen-Eaffel durch Weibenfels kam und in dem Gafthofe Chriſtoph Schügens Nadhtquartier nahm. Bei dieſer Gelegenheit börte er den dreizehnjährigen Knaben fingen und fand fo großes Wohlgefallen an ihm, daß er ihn am liebjten gleich mit fi genommen hätte. Die Eltern mochten fih von dem zarten Kinde nicht trennen. Als aber der Land- graf von Caſſel aus jeine Anträge wiederholte, ihn nicht nur als Sängerfnaben gebrauchen, jondern zu „allen guten Küniten und Llöblichen Tugenden auferzichen” wollte, als die Eltern merften, wie den phantafievollen Knaben jelbit die eröffnete Aus- ficht reizte, stellten fie einfichtSvoll und jelbitverleugnend ihre perſönlichen Wünjche zurüd, und Heinrich wurde am 20. Auguft 1599 von jeinem Bater an den Hof zu Caſſel gebradt.

Diefe Wendung entjchied über den Gang jeiner Entwidlung und fein Leben. Mori’ des „Gelehrten“ glänzende, vielfeitige Gaben, jein feuriger Eifer, fie zum Bejten des Yandes zu ver- wenden, jind bekannt. Seine zahlreichen geiltlichen und welt- lihen Compojitionen, welche die jtändifche Landesbibliothek in Caſſel aufbewahrt, bezeugen eine ungewöhnliche muſikaliſche Be- gabung und Fünftleriiche Einfiht. Er jpielte Orgel und andre Inſtrumente mit Beherrſchung. Die Hofcapelle wurde von ihm erweitert und gebeflert, für die drei Kirchen der Refidenz jchaffte er neue Orgeln an und führte in den Kirchen und Schulen jeiner

1) Magiitratsacten und Pfarr:Regifter der Stadt Weißenfels. Ueber dem Thor des Gaſthofs „Zum Schüten“ befindet ſich die Jahreszahl 1544, jedenfalls das Jahr der Erbauung bezeichnend.

Herrſchaft zwei von ihm ſelbſt bearbeitete Choralbücher ein. H. L. Haßler widmete ihm ſeine Madrigale von 1596. Aber auch dem Schauſpiele wandte er eifrige Pflege und ſelbſt— ſchöpferiſche Theilnahme zu. Erſtaunlicher noch waren ſeine wiſſenſchaftlichen Gaben, ſeine Kenntniſſe in den alten und neuen Sprachen, in der Theologie und Philoſophie, ſeine Gewandtheit im Disputiren, feine pädagogiſche Einſicht. Was er den Eltern Schützens verjproden hatte, hielt er vollauf. Die Sängerfnaben der fürftlihen Gapellen pflegten in Gonvicten oder ähnlichen An— jtalten von dem Capellmeijter oder jeinem Vertreter in der Art erzogen zu werben, daß fie bier nicht nur den muſikaliſchen, jondern auch den elementaren wiflenjchaftlihen Unterricht er: hielten. Schüß erfuhr ein Beijeres: er empfing jeine Bildung im Collegium Mauritianum, das der Yandgraf 1599 gründete. Da es vorzugsweife ein Erziehungsinititut für junge Edelleute jein jollte, war es für Schüß eine Auszeichnung, als Alumne dorthin aufgenommen zu werden. Der vornehme Charakter, welcher der Bildung des gereiften Mannes in unverfennbarer Weiſe aufgeprägt erjcheint, hat in diefer Schule augenjcheinlich jeine Wurzeln, in der nicht nur den Wiſſenſchaften und Künſten obgelegen, jondern auch der Körper durch ritterliche Uebungen gefräftigt wurde. ES währte nicht lange, jo that ih Schütz glänzend hervor, zunächſt im Lateiniſchen, Griechiichen und Franzöjifchen, dann aber auch in den andern Fächern dergeftalt, daß er feinen Lehrer gehabt haben fol, der nicht gewünſcht hätte, der Schüler möge das von ihm vertretene Fach zu jeinem Haupt: jtudium erwählen.

Bon feinen mufifalifchen Beftrebungen während der Caſſeler Zeit erfahren wir nicht3 weiter, als daß er als „Gapellfnabe mit aufgewartet habe“. Lange kann aud dies nicht gedauert haben, da er mit 14 Jahren nad Caſſel fam, aljo bald ing Mutationsalter getreten jein muß. Ob er alsdann eingehender fih mit Compofition und Inſtrumentenſpiel bejchäftigt hat, muß man auf Grund jpäter hervortretender Erjcheinungen ebenfalls

bezweifeln. Jedenfalls aber waren die Männer, an die er be— hufs ſeiner muſikaliſchen Ausbildung gewieſen war, der fürſtliche Capellmeiſter und fein Vertreter. Letzterer hieß Andreas Oſter⸗ maier, ihm fiel ein Theil der Singchorübungen zu. Capell- meijter war Georg Otto aus Torgau. Schütz ſelbſt thut in einer bandichriftlih erhaltenen autobiographifchen Skizze weder des einen nod des andern Erwähnung. Georg Dtto, ſchon durch Landgraf Wilhelm den Weifen vom Gantorat zu Salza als Gapellmeifter nad Cafjel berufen, war indefjen ein tüchtiger Meiſter, der auch unter dem anfpruchsvolleren Morig als fleißiger Kirchencomponift feine Stelle mit Ehren behauptete. Seine voll: ftimmigen Compofitionen es find deren noch acht-, zehn und zwölfftimmige vorhanden verrathen den Einfluß der venetia- niſchen Schule, der, wie die folgenden Ereignifje lehren, auch der Yandgraf zugethan war. Es mag hiermit zufammenhängen, daß diejer ein Mitglied der Hofcapelle, Chriftoph Cornett, im Sabre 1605 zur Vollendung feiner mufifalifchen Ausbildung nad Italien ſchickte. Cornett wurde ſpäter Dtto’3 Nachfolger im Gapellmeifteramt, und Schüß zeigt fich ihm dauernd befreundet ?).

Nah Beendigung feiner Studien auf dem Mauritianum beſchloß Schüß, ſich der Rechtswiſſenſchaft zu widmen und begab fih um das Jahr 1607 in Gejellichaft feines Bruders Georg und eines Vetters auf die Zandesuniverfität Marburg, wo er es durch jeinen Fleiß bald dahin brachte, eine Disputation de legatis rühmlich durdyguführen. Im Landgrafen muß aber die günftige Meinung von jeinem Mufiktalent zu tiefe Wurzel ge: faßt haben, um ihn aus dem Auge zu verlieren. Als er 1609 nah Marburg Fam, überrafchte er Schüg mit dem Anerbieten eines zweijährigen Stipendiums von jährlich 200 Thalern, mit dem er in Venedig bei Giovanni Gabrieli Muſik ftudieren follte.

1) Vierftimmige Magniftcat-Compofitionen von ihm aus dem Jahr 1594 bewahrt im Manufcript die Yandesbibliothet zu Caffel. 2) S. Schütz' Werte Band VII, Vorwort S. VI.

Natürlich ſchlug Schütz das Anerbieten nicht aus. Allein es ſcheint, als ob ihn mindeſtens eben jo ſehr die Ausfahrt in die weite Welt, als die Lehre Gabrieli's gelodt hätte. Wenigſtens ging er mit dem Vorſatz davon, nach feiner Rückkehr die wiſſen— fhaftlihen Studien wieder aufzunehmen. Er befand fich hier- mit im Einklang mit dem Wunſche der Eltern, denen es durch— aus nicht in den Sinn wollte, daß der Sohn Muſiker würde, und die daher auch die Ercurjion nach Venedig nur ungern zus gaben.

Schütz ift von allen großen deutſchen Componiften am jpäteften zur Muſik gefommen. Als er den erften gründlichen Compoſitions— unterricht erhielt, war er 24 Jahre alt. Wenn er die anfäng- lihe Unficherheit des Selbiturtheils über jeine jchöpferifche Be— gabung mit Gluck und Schumann theilen mag, jo ijt ihm ganz eigenthümlich der offenbare Mangel an Luft, den Pfad der Kunft zu beſchreiten. Die Umftände waren es, melde ihn dahin drängten; mehrfach betont er jelbit, wie er es als eine ganz be- fondere Fügung Gottes anjehe, daß er Mufifer geworden ei. Er befennt auch ganz unbefangen, daß es ihm zuerit faft leid geworden, Marburg verlaffen zu haben, nachdem er ala Gabrieli's Schüler habe einjehen lernen, mie jchwer das Studium ber Muſik fei und wie gering und unficher feine Vorkenntniſſe. Bunädft war es nur das Gefühl der Pflicht, was ihn Geduld lehrte und bei der einmal begonnenen Arbeit feithielt. So mübte er ſich zwei Jahre lang und überrafchte dann die Welt und vermutbli auch ſich jelbit durch ein Werk der Meifter- {haft und des Genies.

Es waren die fünfftimmigen Madrigale über italienische Dichtungen, die er 1511 (mit 1512, wie er verwunderlicher Weiſe 40 Jahre jpäter jelbft angibt) bei Gardano in Venedig erjcheinen ließ und dem Landgrafen Morig widmete!) Mit diefem Werfe überholte er nicht nur fofort die jüngeren Männer,

1) Werke Band IX.

die wie er in Venedig ſich der Tonkunſt beflifien, jondern zog auch die Aufmerkjamfeit der gereiften Meilter auf fih. Sein Lehrer Gabrieli, ©. C. Martinengo, der damals Gapellmeijter an ©. Marco war, und andere angejehene Muſiker Venedigs er- munterten ihn und rvedeten ihm zu, die Mufif als Lebensberuf zu wählen. Sie hatten wenigitens joweit Erfolg, als Schütz, deffen Stipendium abgelaufen war, ſich entſchloß, auf eigne Koften noch länger in Venedig zu bleiben. Ihn lodte noch manches andre dort, als nur die Mufil. Seine reihe Natur, gepflegt und angeregt in Verhältniffen, wie fie günftiger für ihn vielleicht im ganzen Deutjchland damals nicht zu finden waren, öffnete fich jest zum erjten Male den vielfarbigen Erjcheinungen der großen Welt. Mit durftigem Blide jog er fie ein, finnend ducchichritt er die Stätten großer Begebenheiten, bedeutenden Männern juchte er fih zu nähern und von ihnen zu lernen. Zu Gabrieli aber trat er in ein inniges Verhältniß bewundernder Ver- ehrung, die dieſer mit warmer Theilnahme für den genialen Süngling erwiderte. Noch auf dem Todtenbette gab er feinem Beichtvater, einem Mönd aus dem Auguftinerkloiter zu Erfurt, wo einjt Luther gemweilt hatte, den Auftrag, dem lieben Schüler, der ihm zur legten Ruhe das Geleit gegeben hat, einen Ring aus feinem Nachlaſſe zum Andenken zu überreihen. Schüß ver- gleicht in der Zueignungsjchrift jeiner Madrigale den Gabrieli einem goldführenden Strome, wie es im Alterthum der Tagus und Paktolus waren: reichlich habe er ihm von feinen geiltigen Schäten mitgetheilt. Als er nah 20 Jahren zum zweiten Vale Venedig wiederjah, überfam ihn die Erinnerung an Gabrieli und die goldne dort verlebte Jugendzeit mit jolder Gewalt, daß jelbft aus den gezierten Phraſen der lateinischen Zueignung der Symphoniae sacrae!) uns ihr warmer Hauch entgegenftrömt. Nah Gabrieli'8 Tode verließ Schü Venedig, nicht ohne viele Freunde dort zurüdzulaiien. Die Zeugniſſe ftimmen darin

1) Werke Band V.

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überein, daß er 1613 wieder in Deutichland war. Genaueres würde fich jagen laffen, wüßten wir dad Datum von Gabrieli’& Tod. Aber in diefem Punfte widerſprechen ſich die Angaben. Wenn er 1609 nad Stalien ging, und quadriennio toto die Unterweifung Gabrieli'3 genoffen haben will, müßte diejer erft 1613 geftorben fein. Auch in der autobiographifchen Skizze iſt 1613 das Jahr der Heimkehr, im gedrudten Lebenslauf wird dagegen 1612 als Gabrieli's Todesjahr angegeben. Vielleicht bat hier der abweichende venetianijche Kalender eine Verwirrung angeitiftet.

Auf der Rüdfahrt mug Schü in Weißenfels vorgeſprochen und mit den Eltern über jeine Zufunft Rath gepflogen haben. Dieje waren nad wie vor der Anficht, er folle die Muſik nur nebenher treiben. Der Sohn jchlua einen vermittelnden Weg ein: er juchte die Bücher wieder hervor, das juriftiihe Studium fortzufegen, stellte jich zugleich aber dem Landgrafen in Caſſel zur Verfügung. Diejer übertrug ihm vorläufig, mit einem Ger halt von 200 Thalern, das Amt des Hoforganiften, al$ der er in der Schloßfirche zu jpielen und nach damaliger Sitte auch die Aufführungen der Gapelle zu accompagniren hatte. Daß er aber höheres mit ihm beabfichtigte, wurde offenbar, als er ihn 1616 zum Hofmeifter jeiner heranwachſenden Kinder, Anfang 1619 zum Gapellmeilter an Stelle des Eur; vorher verjtorbenen Georg Otto beftimmte. Seine Pläne famen nicht zur Verwirklichung. Von Weißenfels aus war die Kunde von Schüßens Künftler- thum nach) Dresden gedrungen. Er jelbit vermuthet, es fei durch den Kammerrath v. Wolfersdorff, Hauptmann zu Weißen— fel3, oder den Hofmarfchall, Geheimen Rath v. Loß geichehen. Die kurſächſiſche Hofcapelle ermangelte damals einer frifchen führenden Kraft. Der Gapellmeiiter Rogier Michael war alt und leiftungsunfähig, der Kurfürjt Johann Georg aber liebte es, die Feite feines Hofes dur die Kunft verjchönt zu ſehen und hörte auch fonft in der Kirche und bei Tafel gern gute Muſik. Schon hatte der wolfenbütteljche Capellmeifter Michael Praetorius

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mehrfach aushelfen müſſen. Als nun im September 1614 die Taufe des Herzogs Auguſt, des zweiten Sohnes Johann Georgs, der ſpäter Adminiſtrator des Erzſtifts Magdeburg und Begründer der Linie Sachſen-Weißenfels wurde, mit großem Aufwande gefeiert werden ſollte, erbat ſich der Kurfürſt vom Landgrafen den Schütz, dabei mit ſeinem Muſiktalente „aufzuwarten“. Es geſchah dies in Gemeinſchaft mit Michael Praetorius; dieſer componirte die Muſik für die kirchliche Feier, Schütz wird für die Tafelmuſik in Anſpruch genommen worden ſein. Bei dieſer Veranlaſſung wurde die Bedeutſamkeit und das Gewicht ſeiner Perſönlichkeit ſofort voll empfunden. Der Kurfürſt wünſchte ihn an ſeinen Hof zu feſſeln, und nuin entſpann ſich eine Jahre hin— durch fortgeführte Correſpondenz zwiſchen Sachſen und Heſſen, deren keines auf den Mann verzichten wollte. Zunächſt erbat der Kurfürſt im April 1615 ſich den Schütz, der im October 1614 nach Caſſel zurückgekehrt war, für ein paar Jahre, bis andre geeignete Kräfte zur Hebung der Capelle herangebildet ſeien. Er wurde im Auguſt für zwei Jahre nach Dresden be— urlaubt, ſollte aber vorkommenden Falls mit ſeiner Kunſt auch dem landgräflichen Hofe zu Dienſten ſtehen. Ende 1616 aber verlangte ihn Moritz ſchon zurück, da er ihn zum Prinzen— erzieher machen wolle. Johann Georg antwortete darauf mit dem Begehren, jener möge ihm den Künjtler gänzlich abtreten. Zögernd und mit fichtlicher Ueberwindung entjchließt fih Morig hierzu, nachdem er die VBerliherung erhalten hat, es ſolle Schütz nicht gehindert werden, ſich gelegentlih auch ferner noch dem Landgrafen mit feiner Kunjt willfährig zu erweijen. Moritz ſuchte aus politifhen Gründen ſich mit Kurſachſen gut zu ftellen; die und die Erwägung, daß Schüß in gemwiffen Sinne des Kurfüriten Unterthan ſei die Herren von Reuß waren Kur— ſachſen lehnspflihtig mochte ihm den Entichluß erleichtern. Schütz reifte nun im Februar 1617 nad Caſſel zurück, jeine Angelegenheiten dort zu ordnen und endgültig nah Dresden zur Uebernahme des Capellmeifteramtes überzufiedeln. Wie ſchmerz—

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li aber Morig den Pflegling vermißte, dem er beim Abjchied unter warmen Worten fein Bildniß mit einer Kette jchenkte, geht daraus hervor, daß er im Januar 1619 nad Georg Dtto’s Tode noch einen legten Verſuch machte, ihn zurüdzugemwinnen. Begreiflicherweife jchlug der Verſuch fehl, und die Schüb zuge: dachte Stelle erhielt nunmehr Chriſtoph Gornett.

Schü aber trat auf den Pla, auf dem bis ang Ende jeines langen Lebens zu bleiben ihm bejtimmt war. Nicht weniger als 55 Sahre hat er der furfürftliden Muſik als oberfter Leiter vorgeitanden. In drei Abjchnitte gliedert fich dem überfchauenden Blicke diefe Zeit. Der erjte reicht bis zum Jahre 1633. Sn ihm entfaltete fich der jugendliche Meiſter zur vollen Kraft, jah er die unmittelbarften Wirkungen feines Streben, lächelte ihm am holdeiten das Glüd. Die Fähigkeit zu organifiren, zu lehren und zu leiten war ihm angeboren. Ohne vorhergegangene praf- tiiche Erfahrung, deren doch die mwenigjten bei jolden Dingen entrathen fönnen, gelang es ihm in wenigen Jahren, die fur- ſächſiſche Capelle zu einer der beiten und angefeheniten Deutich- lands zu mahen!). Das geijtige Niveau des Hofes zu Dresden ſtand freilich unvergleichlich viel tiefer al3 dasjenige, welches er von Cafjel her gewohnt fein mußte. Aber Johann Georg fargte nicht mit den Mitteln, ließ feinen Capellmeifter gewähren und freute fih, Ehre mit ihm einzulegen. Die regelmäßige Be: ihäftigung der Gapelle war eine doppelte: für die Kirche und für die Kammer. Unter leßterer ift in jener Zeit an den deutichen Höfen faſt ausjchließlih die Tafelmufit zu veritehen. Wir jträuben uns gegen die Vorftellung, den äfthetifchen Genuß im Dienite des finnlichen zu jehen; aber e8 war jo. Und zwar

) Midyael Altenburg jagt im Vorwort des erſten Theils feiner „Newen vnd zierlihen Intraden mit fehs Stimmen“ (Erfurt, 1620): „Denn von Ehur- und fürftlihden Muſiken wil ich jegunder nicht jagen, denn diefelben von Tag zu Tage immer je höher fteigen, wie ſolches die herrlichen Opera der fürtrefflihen vond hochbegabten Musicorum Praetorij, Schüßen und anderer mehr genuglam bezeugen.“

wurde bei Tafel keineswegs nur mit Inſtrumenten muſicirt, ſondern auch geſungen, und nicht nur Weltliches, ſondern auch Geiſtliches. Ab und zu müſſen jedoch in den fürſtlichen Ge— mächern auch erbauliche Verſammlungen mit Muſik (der eigent— liche Nährboden für das Oratorium) ftattgefunden haben; man wüßte fih jonft den Titel von Schütz' „Auferftehungs-Hiftorie“ nicht zu erflären'). Außerordentliche Beranlafjungen zu Muſik— aufführungen gaben die am Hofe aefeierten Tauf- und Hoch— zeitsfeite, oder der Beſuch fremder Fürftlichkeiten ; für ſolche Zwede wurde auch wohl einmal eine theatralifche Vorftellung gewählt, ein ftändiges Opernhaus befaß der Hof damals noch nicht. Außerdem aber liebte es Johann Georg, wenn er außer: halb des Landes zu politiichen Zweden erſchien, feine Capelle mit ſich zu führen, und ſolche Gelegenheiten werden es nicht zum mwenigiten gewejen fein, was ihren Ruhm verbreitete. Von den Kindern Johann Georgs waren es nur die beiden ältejten, deren QTauffeierlichfeiten Schü durch feine Kunft nicht verjchönern half; SHochzeitsmufifen hat er für jämmtliche zehn gejchrieben. Eine ſolche iſt die vielgenannte Oper „Daphne“. Sie fam Freitag den 13. April 1627 zu Torgau zur Aufführung, nad): dem am 1. April des Kurfürften ältefte Tochter mit dem Land— grafen Georg II. von Heffen-Darmitadt Hochzeit gemacht hatte ?). Dpig hatte nah Ottavio Rinuccini's Muſter den Tert gedichtet, Schützens Muſik ijt verloren gegangen. Seine reiche Bildung geitattete ihm übrigens, in ſolchen Fällen nicht nur als Com— ponift, jondern auch ſelbſt ald Dichter aufzutreten. Als am 25. Juli 1617 Kaifer Matthias mit dem böhmischen König Ferdinand und dem Erzherzog Marimilian zum Beſuch in Dresden eintraf, hatte er mehrere lateinifche und deutiche Begrüßungs— gedichte feiner Erfindung druden laffen, die er dann, mit eigner

ı) „In Fürftlihen Capellen oder Zimmern vmb die Dfterlihe zeit zu geiftlicher Chriftliher Recreation füglichen zu gebrauchen.“ Werte Band 1.

2?) Dr. Dtto Taubert, Zweiter Nachtrag zur Gefhichte der Pflege der Mufif in Torgau. Torgau 1890.

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Muſik verjehen, gewiß auch aufgeführt hat. Eines derjelben hat die Form des MWechjelgeiprähs und läßt Apollo und die neun Mufen auftreten; e8 würde dies die frühefte dramatiſche Compofition Schüßens fein, von der wir wiflen, die Muſik felbft it auch bier nicht mehr erhalten’).

Nah der Shlaht am Weiten Berge hatten allein die ſchlefiſchen Stände gezögert, fi dem Kaifer Ferdinand zu unter: werfen. Es gelang der Vermittlung Johann Georgs und feiner Käthe, fie zum Aufgeben des Widerftandes zu bewegen. Amneftie wurde zugefagt, und der Dresdener Accord vollendete am 18. Februar 1621 den Vertrag. Nun blieb nur der Act erneuter Huldigung übrig. Johann Georg vollzog ihn im Namen des Kaifers: mit einem Gefolge von 855 Perſonen mit 878 Pferden brah er am 5. October von Dresden auf und traf am 14. in Breslau ein. Schü war mit 16 Mitgliedern der Capelle im Gefolge. Er hatte ein dreichöriges Stüd componirt, das bei der Huldigung zur Aufführung fam und erhalten ift. Die Huldigung fand am 3. November ftatt?). Aus dem Titel kann vermuthet werden, daß er auch den Tert verfaßt hat: in tadellofen, freilich ftark rhetorifchen lateinischen Diftichen preift er den furfürftlichen Friedebringer, fordert Schlefien auf, ſich feines Geſchicks zu freuen und ihm feine Gelübde zu weihen. Schüß ließ das Werf in Breslau druden und widmete es den fchlefifchen Fürften und Ständen. Solcher Compofitionen, die man politifche nennen kann, bejigen wir von ihm noch mehrere. Auch zum Kurfürftencollegtag in Mühlhaujfen (4. October bis 5. November 1627) ijt er und eine Auswahl der Gapelle in „2 Kutſchen und einem Rüftwagen vor die Inſtrument und ander Bagage“ mitgezogen?). Das

!) Ein Eremplar auf der Herzoglichen Bibliothet zu Wolfenbüttel. In dem Heft ftehen auch Gedichte anderer ſächſiſcher Localpoeten. Schützens Arbeiten finden ſich unter Nr. VII.

2) Acten des Staatdarhivs zu Dresden. Gretichel, Geſchichte des Sädhftihen Volkes und Staat. Band 11. Leipzig, Orthaus, 1847.

©. 215. Die Compojition: Werke, Band XV, Nr. 1. 3) Acten des Staatdarhivs. Werke Band XV, Nr. 2.

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„Da pacem, Domine“ feiner Compofition, das er hier muficirte, offenbart aufs greifbarjte die bahnbrechende Kraft des Meiſters. Ein drittes Chorftüd: „Teutoniam dudum belli atra pericla molestant“ bezieht ſich wahricheinlich ebenfalls auf die Huldigungs⸗ feier von 1621). Auch beim Convent der proteftantijchen Fürjten und Stände, der vom 10. Februar bis zum 2. April 1631 in Leipzig gehalten wurde, war Schütz mit der Capelle anweſend, ohne daß jich nachweisen ließe, was er für diefen Zweck componirte.

Unter den Bejuchen an fremden Fürjtenhöfen ift als aus- zeichnend und folgenreich für Schütz zunächſt ein folder in Bayreuth zu erwähnen. Er hat im Sommer 1619 jtattgefunden. Zum eriten Male, ſoviel wir willen, traf Schüß hier mit dem Fürſten zuſammen, dem er von Geburt als Landeskind zugehörte: Hein- rih Reuß Poſtumus?). Samuel Sceidt, der nebſt Michael Praetorius ebenfalls anmejend war, hat die Begegnung erzählt. Sie muficirten im Schloß vor einem Kreije von Fürjten und Adligen, und bier zeigte der reußiſche Herr ein jo hohes Intereſſe und Verſtändniß für die Mufif, eine jo liebenswürdige perjön- lihe Betheiligung an dem Auftreten und den Xeiltungen bes Gejanghors, daß er jagt Scheidt wie ein Obercapell- meijter aller Muſiker erjchien ®). In der Folgezeit jtand Schüß bei ihm in bejonderer Gunſt, jeine Compofitionen wurden von ihm

1) Werte Band XV, Wr. 3.

?) Die Reife des Heinrich Reuß nach Bayreuth dauerte vom 12. Auguſt bis zum 3. September. In den Acten des Fürftliden Hausarchivs zu Schleiz findet fih in der Koftenberehnung folgende Stelle: „I fl. 16 ar. an einem ganzen Neuen Reufiihen Reihsthaler dem alten Schügen von Weiſſenfelſſ.“ Es fcheint darnach, dab Heinrih Schüßens alter Bater die Reife mitgemadt hat.

2) S. Vorrede zu Scheidts Concertus Sacri (Hamburg, 1622). Sie ift größtentheil® abgedrudt bei Carl Israël, Die mufitaliihen Schäge der Symnafialbibliothef und der Petersfirhe zu Frankfurt a. M. Frankfurt, 1872. S. 72—73. Aud Burkhard Großmann rühmt in der Vorrede ber 1623 von ihm herausgegebenen Compofitionen des 116. Pſalms die Yiebe des Reuß Poftumus zu den Werten des riedens und fein Muſikverſtändniß (Werte Band XI, Vorwort S. V).

vor andern hochgeſchätzt und an Hulbbeweifen ließ er es nicht fehlen. Als Johann Georg ihn am 17. Aug. 1627 auf Schloß Dfterftein bei Gera bejuchte, iſt Schü zweifellos im Gefolge gewefen. Das jchönjte Denkmal jeines Verhältniſſes zu dem be- deutenden Fürften, defjen Vorzüge ihm dur den Vergleich mit Johann Georg nur um jo heller erjcheinen mußten, hat er ihm nach) feinem Tode (3. December 1635) gejegt. Heinrich Poſtumus hatte jih, als er jein Ende nahe fühlte, in der Stille einen Sarg anfertigen laffen, der auf dem Dedel und an den Seiten mit denjenigen Bibeljprüchen und Lieditrophen bedeckt war, welche der fromme Mann bejonders liebte. Schütz fahte fie alle als Tert zu einer Chorcompofition zuſammen, der er die Form einer deutjchen Meile gab. Die Pialmmworte: „Herr, wenn ich nur Dich habe, jo frage ih nichts nah Himmel und Erde”, die Heinrich als Tert feiner Leichenpredigt, und die Worte Simeon’s: „Herr, nun läſſeſt Du Deinen Diener in Friede fahren”, die er zum Grabgejang beitimmt hatte, verwendete Schüß ebenfalls zu zwei achtjtimmigen Chorgefängen. Mit dem legten verband er aus eigner Bewegung ein „Selig find die Todten“, das, von hohen Stimmen vorgetragen, den Gejang der Engel verfinnlichen follte, die den aufjchwebenden jeligen Geift empfangen. Am 4. Februar 1636, dem Tage der Beifegung, brachte er dieje tief in den Duft ber Poeſie getauchten „Muſikaliſchen Erequien” in Gera zur Aufführung. Keinem deutjchen Fürjten iſt von einem großen Gomponiften jemals ſolch' ein deutjches Requiem gejungen worden !).

Wenngleid Schü am Hofe zu Caſſel jeit 1617 fein Amt mehr befleidete, fo fühlte er fich doch dem Landgrafen Morig viel zu tief verpflichtet, als daß er ihn nicht die Früchte feiner Kunſt hätte genießen lafjen fo oft er konnte und willflommen zu fein glaubte. Dies bezeugen die zahlreihen handjchriftlichen, zum Theil autographen Compofitionen, welche die jtändijche

ı) Werfe Band XII, S. 53—111. Philivp Spitta, Muſitgeſchichtliche Aufiäge. 2

Landesbibliothek zu Caſſel noch heute aufbewahrt. Manche von dieſen dürften freilich wohl ſchon zwiſchen 1613 und 1615 ent— ſtanden ſein, da er die aus Italien heimgebrachten Keime pflegend, ſtill in Caſſel arbeitete und die Zeit erwartete, wo er als Com— ponift mit einem gewichtigen Werke hervortreten fünnte. Biele der mehrchörigen, mit inftrumentalen und vocalen Füllftimmen im Geifte Gabrieli’3 prädtig ausgeftatteten Compofitionen mögen bier noch gejchaffen fein. Dagegen hat er fi) in jener Art der concerthaften Compofition, durch die er recht eigentlich den deutichen Muſikſtil feines Jahrhunderts bejtimmte, in Diejen frühen Sahren wohl noch nicht verfudht. Was derartiges in Caſſel vorhanden ift, wird er von Dresden aus überſchickt haben, doch jchwerlid fpäter als 1632, da mit dem Tode des Land— grafen die Bande fich loderten, oder gar löjten, die ihn an den heſſiſchen Hof fnüpften. Nicht wenige der Goncerte, die er zwifchen 1636 und 1650 im Drud erjcheinen ließ, finden fich bier in abweichender und zwar älterer Gejtalt, was zu dem Schluſſe nötbigt, daß zwifchen ihrer eriten Conception und der Herausgabe eine Neihe von Jahren verftrih. Auch feine be- deutfame Compoſition der Eieben Worte Chrifti am Kreuz, Die einzig in einer Gafjeler Handjchrift überliefert ift, möchte aus obigem Grunde, dem ich ſtiliſtiſche Gründe gejellen, noch in die zwanziger Jahre zu jegen jein. Aeußere Zeichen direkter Be- ftimmung für Gafjel find nur an zwei Werfen wahrnehmbar, einer mächtigen vierchörigen GCompofition über den Hymnus Veni, sancte Spiritus und einem Concert „Herr, nun läſſeſt Du Deinen Diener in Friede fahren“, das dem Gapellmeiiter Gornett gewidmet iſt!).

Das Meifterwerf aber, mit dem er fih im deutjchen Vater- lande würdig einführen wollte, ließ er unter dem 1. Juni 1619 im Selbftverlage ausgehen. Es war nicht das Erfte, was er

1) Werfe Band VII, Nr. 12. Der Hymnus Veni, sancte Spiritus Band XIV, N. 2., die „Sieben Worte“ Band 1, S. 145 ff.

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in Deutfchland druden ließ: ſchon 1618 Hatte er zwei mehr- chörige Hoczeitägefänge mit Anftrumenten veröffentlicht. Aber fie waren als Gelegenheitscompofitionen für einen Kleinen Kreis beftimmt gewefen. Mit den „Bialmen David's jampt etlichen Moteten und Concerten“ wendete er fih an die Welt. Dem äußeren Umfange nad bilden diefe 26 mehrchörigen Compoſi— tionen, bei denen die Zahl der zufammenmirfenden Stimmen bis auf 21 fteigt, das größte Werk, das Schüß je herausgegeben hat. Der Anhalt bietet das Höchite dar, was zu leiften er fich damals im Stande fühlte. Cine prächtige Ausstattung follte den ge- wichtigen Eindrud der Erfcheinung erhöhen. Nicht weniger als neun lateinifche Lobgedichte find beigegeben. Entſprach dies auch einer, wie uns dünkt, unfeinen Eitte der Zeit, die für der— gleihen Dinge einen Haufen von Phrafen ſtets im Vorrath hatte, jo bleibt nach Abzug alles Conventionellen in jenen Ge- dichten immer noch ein Reſt übrig, der uns die zwingende Gewalt ahnen läßt, mit welcher der geniale Künftler ſich die Geiſter feiner Umgebung unterworfen haben muß. Den Pfalmen folgte 1623 die „Hiltoria der fröhlichen und fiegreichen Auf- eritehung unjers einigen Erlöjers und Seligmadjers Jeſu Ehrifti“, nach diefer famen 1625 die „Uantiones sacrae*, 40 vierjtimmige Geſänge, die der Componijt dem Fürften Johann Ulrich v. Eggen- berg widmete, dem er 1617 beim Kaiferbefuch befannt und werth geworden war. Bon ihrem Erfcheinen nimmt Schütens Ruhm jeinen eigentlichen Anfang, der nun ftetig wuchs, ſodaß er, wie ein Mufifer gegen Ende des Jahrhunderts jchrieb, um 1650 „für den allerbeiten teutſchen Componiſten gehalten worden” it").

Neben dem reichen künſtleriſchen Grntefeld dieſes Yebens- abjchnittes blühte ihm auch das menschliche Glück der Liebe und Freundſchaft. Es ift ein rührender und für Schüß bezeichnender

1) Wolfgang Cafpar Bring, Hiftorifche Beichreibung der Edelen Sing-

und Kling-Kunſt. Dresden, 1690. S. 136. 2 *

Be

Zug, daß das Datum, mit dem er die Vorrede feines groben Pſalmenwerkes unterzeichnet, zugleich das feiner Hochzeit it. Aın 1. Juni 1619 vermäblte er fi mit Magdalene Wilded, der Tochter eines furfürjtlihen Beamten, des Land- und Tranf- Steuer-Buchhalters Chriftian Wilded zu Tresden. Sie jcheint der Augapfel der Eltern gewejen zu jein, denn, wie der Kur: fürjt an Landgraf Morig nicht ohne Behagen jchreibt, Schütz erhielt fie von ihnen nur gegen die Verpflichtung, daß er Dresden nicht verlaffen wolle. In dem Hochzeitsgedichte Konrad Bayers ift von den Madrigalen die Rede, die fie ihm dichten helfen werde; fie mag aljo nicht ohne Kunftbegabung geweſen jein'). Zwei Töchter, Anna Juftina und Euphrofina, gingen aus diejer Ehe hervor. Nur wenige Monate nach jeinem eignen Hochzeits— tage, am 9. Auguſt, trat auch jein Yieblingsbruder Georg in die Ehe, der ſich als Nechtsgelehrter in Leipzig niedergelaflen hatte und die nächſte Veranlaffung fein mochte, dab auch Hein- rih in den Juriſtenkreiſen Leipzig3 und Dresdens manchen genaueren Freund beſaß. et componirte diejer ihm zum Hoch— zeitsfejte den 133. Pſalm: „Siehe, wie fein und lieblidh it's, daß Brüder einträdhtig bei einander wohnen.“ Die Wahl diejes Tertes, die, ohne der hochzeitlihen Beitimmung der Compofition zu adten, nur das innige Zujanmenleben der Brüder betont, beleuchtet ebenjo zart wie deutlich das Verhältniß, in dem fie zu einander ftanden. Auf dem Titel des Werkes, das Schüg zu Ehren de3 Bruders druden ließ, finden jidy einige lateinijche Diſtichen jeiner Feder, in denen er der eben ausgegebenen Pſalmen gedenft: mit ihnen habe er ſich an das Volk der Deutichen ge- wendet, diejes Stüd gehöre dem treuen Bruder ganz allein. Zwei Charaktergrundzüge Schügens treten uns in dieſem Gedicht vor Augen. Er hat den Bruder lange überlebt. 13 Jahre nad jeinem Tode, 31 Jahre nady der Entitehung des Pſalms

) Conrad Bavarıs, Ode zu hochzeitl. Ehrenfrewden Heinrih Schützens

und der Jungfrawen Magdalena Wildede. Dresden, 1619. Ein Eremplar auf der Königl. öffentlichen Bibliothek dajelbit.

nahm er dieſen erinnerungsvoll in den dritten Theil ſeiner Symphoniae sacrae auf!).

Das Jahr 1625 wurde ein Wendepunft in doppeltem Sinne. Mit den Cantiones sacrae, deren Vorrede den 1. Januar als Datum trägt, lenkte Schü in die Bahn des Ruhmes ein. Der Stern feines Familienglücks aber begann alsbald zu finken. Anna Maria Wilded, eine Echweiter jeiner Gattin, war als Braut am 15. Auguft unerwartet und plößlich geftorben. Ein Zeichen der Innigkeit, mit welcher Schüß Freud und Leid der ihm Nabeftebenden theilte, it e8 wieder, daß er dem Andenken der Gejchiedenen eine jchöne Compofition über das Kirchenlied „sh hab’ mein Sach' Gott heimgeftellt“ widmete und alsbald in Drud erjcheinen ließ?). Aria de vitae fugaecitate hatte er fie überfchrieben. Wie flüchtig das Leben fei, follte er aber jfogleih noch in viel herberer Weife erfahren. Schon am 6. September ftarb feine Gattin der bräutlichen Schweiter nad). Sechs Fahre nur bat das Glück ihrer Vereinigung gedauert. Die übrigen 47 Jahre hat Schüß allein durchlebt, in erſchütterndem Gegenjage zu der mwachjenden Verehrung der ihn wie Kinder umgebenden deutſchen Kunftgenofjfen, in feiner Familie ebenjo raſch fajt ganz und gar vereinfamend. Während der Zeit tiefer Trauer, die dem Tode der Lebensgefährtin folgte, nahm er das Pſalmbuch Cornelius Beders zur Hand. Schon früher hatte er aus Ddiefem Gegenſtück zum Lobwafjerfhen Pfalter, der an dem jtreng lutheriſchen Hofe nicht wohlgelitten war, einige Stücke componirt. Als Gapellmeilter mußte er in der Zeit, da er einen eignen Hausſtand bejaß, ſtets mehrere Capellfnaben, die bei ihm wohnten, erziehen und unterweifen: mit ihnen pflegte er einfache mufifaliiche Morgen: und Abendandadhten zu

I) Die ältere Faſſung ded Pſalms Band XIV, Nr. 13, die fpätere Band XI, Wr. 5.

2) Werte Band XII, Nr. 3. MWeberarbeitet aufgenommen in den erften Theil der Kleinen Geiftlihen Concerte. Leipzig 1636. (Werte Band VI, Nr. 24.)

halten. Ein tieferes Intereſſe hatte er für die Erfindung ſchlichter liedartiger Tonſätze bisher nicht gefühlt. Jetzt, da ihm jede andere Arbeit verleidet war, ſchien es ihm, Gott habe ihn von neuem über den Pſalter Beckers gerathen laſſen, damit er Troſt im Schmerze fände. So ſchuf er nach und nach zu der Mehr— zahl der ſtrophenmäßig gereimten Pſalmen Melodien in vier— ſtimmigem Satze und lieg mit ihnen verſehen Beckers Arbeit 1628 in Drud ausgehen. Das Bild der Gattin lebt in dieſem Tonwerf fort, wie das der Echweiter in der Aria über des Lebens Flüchtigkeit; Schüß hatte gethban, was ihm Opig in einem ZTroitgedichte zurief: „Laß erjchallen deine Lieder . . . Sol fie auf das Neue leben Und ſich jelbit dir wiedergeben. Sieb ihr durch dein lieblih’3 Singen, Was der Tod bat hin- gebracht“). Noch als 76jähriger Greis veranftaltete er eine neue Ausgabe, die er dergeftalt erweitert hatte, daß fie nunmehr für jämmtlihe Pſalmlieder Muſik enthielt?).

Es fteht gewiß im Zujammenhang mit jenen traurigen Erlebnifjen, wenn Schüß nicht lange naher den Plan faßte, Dresden auf einige Zeit zu verlaffen. Nachdem er im Jahre 1627 anjcheinend wieder mit voller Kraft feines Aıntes gemaltet hatte, fam er um Urlaub ein für eine Reife nad) Italien. Man machte einige Schwierigkeiten, gewährte ihn aber doch. Ende Auguft 1628 reifte er ab und blieb über ein Jahr fort. Zunächſt zog es ihn nad) Venedig; ob er auch andere Städte Italiens befucht hat, willen wir nicht. Die Fortjchritte des neuen Mufikitiles, welcher ſich an die Namen Viadana, Monteverdi, Grandi fnüpft, fonnten ihm auch von Deutjchland aus nicht verborgen geblieben jein. Da jeine eigne Kunſt in die italienische tief eingewurzelt war, mußte er wünjchen, jene Fortjchritte an der Quelle zu ftudiren. Hierzu war in Venedig, mo jetzt Monteverdi die herrichende Stellung

") Martini Opitii Deutfcher Poematum Anderer Theil. Breslau, 1623. ©. 417: „An 9. Seinrih Schügen, auff feiner liebften Frawen Ab— ſchiedt.“

2) Werke Band XVI.

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einnahm, die bejte Gelegenheit. Hierhin hatte er jeinen Dresdener Schüler Caspar Kittel dirigirt, mit dem er nun zufammentraf und der ihn auch auf der Rückreiſe begleitet hat. Die Eindrüde, die er in Venedig empfing, wirkten jo lebhaft auf jeine eigne Schöpferkraft, daß er in kurzer Zeit 20 größere Stüde componirte und al® Symphoniae sacrae unter dem 1. Eeptember 1629 in Venedig bei Bartolomeo Magni herausgab. Er hat fie dem damals jechzehnjährigen Kurprinzen von Sachjen gewidmet, bei dem er ein tieferes Mufifintereffe wahrzunehmen glaubte, und die Folgezeit hat bewiejen, daß er nicht im Jrrthum gewejen ift. Immer be: dacht, den Zuwachs eignen Vermögens auch für die Zwede feines Amtes zu verwerthen, fehrte er mit einem werthvollen Vorrathe neu:italienifcher Mufif gegen Ende des Jahres 1629 in fein ver: ödetes Dresdener Heim zurüd. Der „Lebenslauf“ jagt, wenn auch in andrer Beziehung, der liebe Gott habe ihm jedesmal das Slüd, welches er in der Fremde erfahren, „bey feiner Zurüd-Kunfft mit Traurigkeit verfalgen.“ Am 19. November 1630 ftarb ihm ein lieber Freund und Kunftgenoffe, der hochbegabte Thomas- cantor in Leipzig, Johann Hermann Schein. Schütz Hatte ihn noch in feiner legten Krankheit befucht; da nahm ihm Schein, des nahen Todes gewiß, das Verjprechen ab, die Worte des Paulus „Das ift je gewißli wahr und ein theuer werthes Wort, daß Chriſtus Jeſus fommen it in die Welt, die Sünder jelig zu machen” in Muſik zu ſetzen und zur Erinnerung an feinen Tod zu veröffentlichen. Der Freund hat das Verſprechen treu ge- halten: unter dem 9. Januar 1631 erjchien die ſechsſtimmige Motette zu Dresden im Drud. Als Schüg 17 Jahre jpäter eine große Motettenfammlung herausgab und dem Rath der Stadt Leipzig für deren Thomanerchor widmete, hatte er die Parenta- tionsmotette auf den verjtorbenen Thomascantor der Sammlung einverleibt'). Aber des Salzes der Traurigfeit war noch nicht genug: 1630 und 1631 ftarben ihm auch der Vater und

!) Werte Band VIII, Ar. 20. Die urfprüngliche Geftalt der Motette Band XH, Nr. 2.

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Schwiegervater. Inzwiſchen hatten ſich die Wetter des Kriegs über Sachſen zuſammengezogen. Die Mittel der Hofcaſſe wollten zu Fregelmäßiger Soldzahlung für die Mitglieder der Capelle nicht mehr reichen, und die eriten Zeichen ihres Verfalls treten bervor. Schüß jelbit, der ein Jahresgehalt von 400 Gulden er- hielt, hatte ſchon jeine italienische Reife ganz aus eignen Mitteln beitreiten müfjen, und im Jahre 1630 fchuldete ihm die furfürft- lihe Rentfammer nicht weniger als 500 Gulden, die er während der folgenden Jahre nur langſam in Abjchlagsfummen nachge— zablt erhielt- So ging ihm der erſte Abfchnitt feines Drespener Lebens nad jonnigen, reichgefegneten Jahren trüb, unter Sorgen und mit zerftörten Hoffnungen zu Ende.

Wie der dreißigjährige Krieg allmählich alle geordneten Ver: bältnifje aus den Fugen trieb, das fpiegelt fih aud in Schügens Leben zwifchen 1633 und 1650 deutlih ab. Er war Hofcapell- meilter zu Dresden, aber der Schwerpunkt feiner Thätigfeit lag an andern zum Theil außerdeutichen Stätten, mo man die Kunft beiler in Ehren hielt. So lange die Unterhaltung der Capelle dem Kurfüriten feine Sorge madte, vergnügte er fih an ihren Leiltungen und dem Lob, das er ihretwegen erntete. ALS die Jahre der Bedrängniß kamen, ließ er fie rüdfichtslos verfallen und die Mitglieder, jomweit fie ihm nicht davon liefen, in Hunger und Elend verfommen. Vergebens ftrengte Schütz fih an, den Ruin aufzuhalten und den Sammer unter den Capelliften jelbit durch Unterftübungen aus eigner Tajche zu lindern. 1639 war ihre Zahl, die in guten Zeiten 36 betragen hatte, auf 10 ge- funfen, eine nur halbwegs befriedigende Figuralmufif fonnte gar nicht mehr gemacht werden. Die Gapelle hätte fih vollſtändig aufgelöft, wäre es Schütz, deffen organifatorifher Weitblick fich auch in diefen Fritifchen Zeiten bewährte, nicht 1641 gelungen, wenigſtens das Capellfnabeninftitut auf etwas erweiterter Grund: lage ficher zu ftellen. Er wollte mit dieſer Einrichtung, wie er jelbit jagt, nur einen Samen der Muſik ausftreuen, der für bejjere Zeiten aufgehen folltee Wie einem Panne von feinen

Eigenfhaften unter den Eläglichen Trümmern des einft fo glänzen- den Baues zu Muthe fein mußte, ift leicht vorzuftellen. Aber wie er bier feine Hoffnung auf das nachwachſende Gefchlecht feste, jo that er e8 auch beim Kurprinzen. Er hatte defjen muſikaliſchen Neigungen ftets feine Theilnahme bewiefen und ihn vielleicht felbft in der Commpofition unterrichtet. Eine neue drama— tijche Arbeit feiner Feder war bei des Kurprinzen Vermählungs— feier am 20. November 1638 zur Aufführung gefommen: Orpheus und Eurydife, ein fogenanntes Ballet, gedichtet von Auguft Buchner, deiien Muſik aber, ebenjo wie die der beiden früher genannten dramatischen Werke, verloren gegangen ift!). Da der Kurprinz nun einen eignen Hausftand führte, unternahm er mit Schützens Beihülfe die Einrihtung einer eignen Capelle. Dbgleih auch er ſich oft in Geldnoth befand und 1649 ſogar zur Verpfändung feiner Pretiofen, feines Gold- und Eilber: gejchirrs jchreiten mußte, hatte die Capelle doch Beitand, kam jogar zu einer gewilfen Höhe, und leiltete wenigitens beſſeres als die furfüritliche.

Chriſtian II., Johann Georgs I. älterer Bruder, dem diejer in der Regierung nadhfolgte, war mit Hedwig, einer däniſchen Prinzejfin vermählt gewejen. Schü hatte der liebensmwürdigen Fürſtin unter dem 6. September 1627 feine Compofitionen der Bederihen Palmen zugeeignet. Sie dürfte es geweſen jein, durch welche zuerit die Aufmerkjamkeit des dänischen Königs: hauſes auf Schüß gelenkt wurde. Der Kronpinz Chrijtian über:

) Die Dichtung Buchners, mit dem Schütz ſchon 1626 in brieflidhem Verkehr ftand, ift neu gedrudt im „MWeimarifhen Jahrbuch“ II, S. 13 ff. Buchner ftügt fi) weder auf Rinuccini's „Euridice* noch auf Striggio's „Orfeo*, fondern hat den Gegenstand ganz jelbftändig behandelt. Die Mufitalienfanımlung des Königs von Sachſen in Dresden enthält auch ein „Ballet von Zufammentunfft und Wirkung derer VII Planeten Auf Ihr. Chur. Fürftl. Durchl. zu Sad. groffen Theatro gehalten den 3. Febr. Anno 1678.* Ein Settel mit der Rollenvertheilung liegt bei, der, wie Fürſtenau vermuthete, von Schütz jelbit geichrieben ift; dann müßte das Wert ſchon früher componirt und aufgeführt worden fein. ich glaube aber an Schützens Urbeberichaft nicht.

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raſchte ihn mit der Einladung, für einige Zeit Dresden mit Kopenhagen zu vertauſchen. Schon länger hatte ſich Schütz mit dem Gedanken getragen, dem Kriegsgetümmel zu entweichen und Dresden zu verlaſſen, wo ihm nichts mehr Freude machte, er fih entbehrlih und überflüflig fühlte. Auch in feiner Kunft konnte er, wie die Dinge lagen, hier nur zurüdfommen und war doh in den Jahren der beiten Kraft und verlangend, fie als Eomponijt zu betätigen. Er plante, ſich nad Niederjachjen zu begeben, doch erfahren wir nicht, welcher Ort ihm befonders im Sinne lag. Mehrfahe Urlaubsgefuhe hatte der Kurfürft unberüdfichtigt gelaffen. Da nun aber der Kronprinz von Däne- marf, fein bejtimmter Schwiegerfohn, Intereſſe an Schüß zeigte, wurde diefem auf eine Eingabe vom 9. Februar 1633 fein Wunſch endlih erfüllt. Er hatte nicht verfäumt zu bemerken, daß er auf jede Geldunterftügung, jelbit die Auszahlung jeines wieder rüdjtändig gebliebenen Gehaltes verzichte; ganz beſcheiden und mit jenem milden Humor, der ihm eigen war, hatte er nur gebeten, daß, wenn überhaupt während jeiner Abweſenheit Zahlungen an die Gapelle erfolgen jollten, man ihn nicht ver: gejfen möge. Doch kann er früheitens im Juli Dresden ver- lafjien haben. Ein paar Monate hielt er fih in Hamburg auf und weilte vielleicht vorher nody am Hofe des Herzogs Johann Albredt von Medlenburg-Güftrow, da er 1637 einmal gegen jeinen Kurfürften verlauten läßt, er babe nicht nur vom dänischen Kronprinzen, jondern aud) anderwärts noch Einkünfte zu erwarten, und da 1640 der Herzog Adolf Friedrich desjelben medlenburgijchen Fürftenhaufes den Schüß-Bederfchen Plalter aus eigenen Mitteln neudruden ließ. Im November jegte er von Hamburg aus die Reiſe nordwärts fort, war 14 Tage lang, wie e8 jcheint, in Haberslevhus, wo ſich Kronprinz Chriftian vorübergehend befand, und brach am 6. December nad Kopenhagen auf. Schon am 10. December wurde er zum Königl. dänifchen Capellmeijter er- nannt mit einem Jahresgehalt von 800 Reichsthalern, und am 18. Dec. gibt König CEhriftian IV. diefe Anftellung befannt;

Er

es war alſo nit auf eine oberflädhliche Berührung, jondern auf die Herjtellung eines dauernden Berhältnifjes abgejehen. Die bevorftehende Vermählung des Kronprinzen mit Johann Georgs jüngfter Tochter und die hierfür in Ausficht genommenen Feftlichfeiten mögen diefen Entihluß bewirkt haben. Schütz wurde mit umfafjenden VBollmachten behufs Schulung der Mufifer ausgeitattet und mit Auszeichnung behandelt. Seine Wohnung hatte er in der Stadt, die Uebungen aber wurden auf Schloß Groneburg, neben dem Gemache de3 Königs abgehalten. Ein halbes Jahr vor der im October 1634 gefeierten Hochzeit be- gannen ſchon die Vorbereitungen zu den Aufführungen; für Schaufpiel (zwei Komödien von Joh. Lauremberg), Ballet und Mastenball hatte Shüg mit Muſik zu jorgen. Bei ihm befand fih fein Schüler und Neffe Heinrich Albert aus Königsberg; ihm war vergönnt, fi an den FFeitcompofitionen mit einer von Michael Behm gedichteten Aria auf den Einzug der ſächſiſchen Brinzejfin in Kopenhagen (30. September 1634) zu betheiligen '). Nah dem Feite blieb Schü noch 7 Monate am dänischen Hofe, deſſen Gunft er in hohem Grabe erworben hatte. Bei feinem Ab- jchiede am 4. Mai 1635 bejchenfte ihn der König mit einem Bild- niß (das doch wohl des Königs eignes gewejen fein wird), mit einer goldenen Kette im Werthe von 100 Thalern und einer Summe von 200 Thalern; er gab ihm auch „ein Grußbrieflein“ an den Kurfürften mit, des Inhalts, daß er jeinen „bejonders lieben“ Heinrih Schüß gern noch länger behalten hätte, und wenn der Kurfürft ihn entbehren fünne, möge er ihn bald wieder beur- lauben, damit er die Einrichtung der Muſik am däniſchen Hofe vollends zu Stande bringe. Ein Brief des Kronprinzen, der die „böhftrühmlichen Dienfte” Schügens hervorhob, folgte unter dem 25. Mai nah. Der Meifter jelbit, dem am 10. Mai fein 1) Alberts Aufenthalt in Kopenhagen ift feinem Biographen 2. 9. Fifcher (j. Gedichte des Königsberger Dichterkreifes. Halle, Niemeyer. 1883. S. I. ff.) unbemerkt geblieben. Die Compojition findet fih mit anderem Zert ald Nr. 8 des fünften Theils feiner „Arien“. Königsberg, 1642.

Monatsgehalt zum legten Male ausgezahlt worden, war mit einem vom 25. Mai datirten Paſſe in der fiheren Erwartung baldiger Wiederkehr gejchieden.

Nach der Herausgabe der „Symphoniae sacrae“ in Venedig hatte Schüß eifrig fortgefahren, die Form des concerthaften Sologejanges, die er damals in Italien fennen gelernt hatte, für feine eigene Kunft zu verwerthen, wie er denn auch jpäter noch bemüht war, bedeutende mufifalifche Neuheiten von dorther fich zu verfhaffen!),. Eine Anzahl größerer Geſangscompoſi— tionen war entitanden, die er mit nach Kopenhagen genommen und mebit ſolchen, die er etwa dort hinzucomponirte, auch in Kopenhagen gelafjen hatte. Wußte er doch, daß in Dresden für folde Mufif jet feine Verwendung ſei. Man wird feine Mitwirkung zur eier des Prager Friedens (Juni 1635) in Anſpruch genommen haben. Im Uebrigen fand er Muße, eine Reihe Eleinerer Etüde zu jchreiben, die er, weil für Größeres jett fein Verleger zu finden war, unter dem 29. September 1636 gleihjam als Vorboten ausfandte. „Kleine geiftliche Concerte“ nannte er fie. Ihre jchäbige Ausftattung durch den Verleger Große in Yeipzig it auch ein Zeichen der Zeit. Am Schluſſe diefer Sammlung ſteht jene „Aria de vitae fugaci- tate“ von 1625, nad) der gereifteren Einfiht des Componiften umgejtaltet. Im Stil hebt fie fih dennod von den andern Stüden ab. Schü mochte das Werfhen, das als ſchwach— lebiger Einzeldrud nur in weniger Hände gelangt war, nicht haben untergehen lajjen wollen. Sich des Inhalts zu erinnern, hatte er Grund genug: 1635 war jeine Mutter, 1636 die Mutter jeiner früh dahin gegangenen Gattin geftorben. In dieſe Zeit fällt auch die Compofition der „Muſikaliſchen Exequien“ für Heinrih Reuß Poſtumus.

1) Nächſt der venezianiſchen ſcheint ihn beſonders die neapolitanifche Mufif intereffirt zu haben. Im Jahre 1632 fucht er durch die Vermittlung Philipp Hainhöfers in Augsburg dergleichen zu erhalten; f. feinen Brief an dieſen bei Ya Mara, Mufikerbriefe aus fünf Nabrhunderten. 1. Band. Leipzig, Breitfopf und Härtel. 1886. ©. 70 ff.

Die zweite Reiſe nach Kopenhagen kann nicht vor dem Frühjahr 1637 vor ſich gegangen ſein, da Schütz erſt unter dem 1. Februar nachſucht, ihn wieder dorthin zu entlaſſen. Aus ſeiner Sehnſucht, fortzukommen, wird er wohl auch gegen Andere kein Hehl gemacht haben; er fühlte ſich in Dresden „faſt weder Gott noch Menſchen, am allerwenigſten aber ſich ſelbſt etwas nütze.“ Vielleicht munkelte man, er kehre überhaupt nicht zurück. Darüber beruhigte er den kurfürſtlichen Herrn: er laſſe ſeine Kinder, laſſe Haus und Hof dahier und „allerhand ziemliche Anforderung“, d. h. den ihm zukommenden Gehalt, deſſen Rück— ſtand chroniſch geworden war. Der Aufenthalt in Dänemark ſcheint dieſes Mal nur ein Jahr gedauert zu haben, weil, wie der „Lebenslauf“ glaubwürdig berichtet, Schütz im Jahre 1638 einer Einladung an den herzoglihen Hof zu Wolfenbüttel gefolgt ift, und wir ihn um Pfingften 1639 in Dresden finden. Auch) durch die Reifen diejer Jahre ſchlingen die Sterbefälle in feiner jhon auf wenige Häupter zuſammengeſchmolzenen Berwandtidaft ihr ſchwarzes Band. Der treue Bruder Georg ging 1637 dahin und 1638 gar die ältere feiner beiden Töchter, Anna Juſtina, vielleicht in Abwejenheit des Vaters!). Nun war ihm nur noch ein Kind geblieben, und auch dieſes jollte er im Jahre 1655 begraben. Da die Möglichkeit, feine größeren Werke druden zu lafien, fi immer noch nicht bot, ließ er 1639 einen zweiten Theil der „Kleinen geiftlihen Concerte“ erjcheinen. Sie find dem Prinzen Friedrich von Dänemark gewidmet, jüngerem Bruder des Kronprinzen Chriftian, welcher, da dieſer jchon 1647 finder: (08 jtarb, nad Chrijtians IV. Tode den Königsthron beitieg. Auch zu Friedrih war Schütz ſchon bei feinem erjten Beſuch in Kopenhagen in freundliche Beziehungen geflommen. Um das Jahr 1640 wurde Schüg von einer lebensgefährlichen Krankheit

1) Ueber den Tod der Tochter ſandte Buchner an Schütz eine gedrudte Troftichrift in Profa mit angehängtem Liede. Ich fenne nur das lektere, das Hoffmann von Fallerleben im „Weimarifhen Jahrbuch“ III, S. 173 f. bat abdruden laflen.

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niedergeworfen. Er fam wieder auf und verließ im März 1641 Dresden, wahricheinlih um nad) Weißenfels zu gehen, dem alten Familienfig, wo ihn noch eine Schweiter lebte, und für den er nun eine immer ftärfer werdende Vorliebe zeigt. In Jahre 1642 begab er fich wieder nach Dänemark, wurde am 3. Mai von Neuem als Obercapellmeiiter mit feinem früheren Gehalte an- geftellt, und wir wiſſen nicht anders, als daß er von dort erft im Frühjahr 1644 wieder abreifte?). Bei feinem Abjchiede hatte er dem Kronprinzen Ehriltian eine umfangreihde Samm— lung von Gejangscompofitionen im Manufeript überreicht, die er endlich drei Jahre ſpäter als zweiten Theil der „Symphoniae sacrae“ erjcheinen laſſen konnte, da einer jeiner frübheften Schüler, der Dresdener Organijt Johann Klemm, und Alerander Hering, Organift in Bauten, den Verlag übernahmen. Das Dresdener Amt aber wünjchte Schüß nad) der Heimkehr aus Däne— mark nicht wieder in vollem Umfang anzutreten. Zur Verrichtung des -regelmäßigen Dienftes fühlte er fich nicht mehr friich genug. Für außerordentliche Fälle und zur Führung der Oberaufiicht wollte er fi auch ferner zur Verfügung halten und gegen eine ſolche Vergünitigung gern auf einen Theil des ihm zujtehenden Gehalts verzichten. Er jehnte fih nah Ruhe und freiheit, um ganz der Vollendung feiner angefangenen Werke zu leben. Er war nur ein Gaft im eigenen Haus, das er an einen „guten Mann“ vermiethet hatte, bei dem während feiner Abmwejenbeit die Tochter Euphrofina lebte. Gern wäre er ganz nach Weißen: felö gezogen. Im Herbit 1645 jcheint dies wenigjtens vom Kur: fürjten für eine Weile zugeftanden zu fein. Eine Einladung an den Hof Herzog Wilhelms zu Weimar, wo er vom 7. bis 13. Februar 1647 glüdliche Tage verlebte?), lieferte ihm einen

) Ueber Schüg’ Heilen nad Kopenhagen und fein Wirken dafelbit hat auf Grund ardivaliiher Forſchungen neues Licht verbreitet Angul Ham— merich, Musiken ved Christian den Fjerdes Hof. Kopenhagen, Hanſen. 1892. Eine auszügliche deutiche Bearbeitung dieſes Buches von Catharinus Elling in der Vierteljahrsichrift für Muſikwiſſenſchaſt 1893, S. 62 ff.

2) ©. Werke Band XV, No. 11 und dad Vorwort dazu.

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neuen Beweis, wie man ihn an fremden Fürjtenhöfen zu jchägen wußte. Aber von feinen Amtspflichten in Dresden wurde ihm feine erlaffen. Es half ihm nichts, daß er in zahlreichen. Ge- ſuchen auf fein Alter und feine lange Dienstzeit hinwies, auf die um ihn ber in die Höhe fommende junge Generation, welche feine Weiſe nicht mehr verftehe und geringſchätze, auf die Abnahme feines Gefihts und häufigen Schwindelanfälle, auf den erbärm- lihen Zuſtand der Capelle, der troß aller feiner Vorſchläge nicht wirkſam gebejjert werde. „Sch befinde es weder löblich noch chriſtlich,“ jchreibt er am 19. August 1651, „daß bei fo löblichen großen Landen nit 20 Mufifanten können und wollen erhalten werden und lebe der unterthänigiten Hoffnung noch, Ihre Chur- fürjtlihe Durchlaucht jich eines andern befinnen werden.“ Die Hoffnung trog, wie immer. Auswärtige Verehrer lodten ihn, dem unmirthliden Sachſen für immer den Nüden zu fehren. Als die Tochter Euphrofina fih am 25. Januar 1648 mit dem Auriften Chriſtoph Pindert zu Leipzig vermählt hatte, über: jandte Chriftoph Kaldenbah aus Königsberg ein Gedicht, in dem er beflagt, daß Schüß den rechten verdienten Lohn feiner Kunft noch nicht erhalten habe. Warum juche er feinen andern Aufenthaltsort? Auch in Königsberg lebten Funftgefinnte Leute, mit Freuden werde man ihn empfangen, und dorthin reihe der Krieg nicht mehr‘). Schüg äußert in diefen Jahren jelbit einmal, er möchte fih „zu feiner legten Herberge auf diefer Welt irgend eine vornehme Reichs- oder Kunſt-Stadt erwählen“. Er ilt in Dresden geblieben. Aber nicht ohne Bewegung lieft man, wie der größte deutjche Componift jeines Jahrhunderts im 67. Lebensjahre es zu bereuen verfichert, daß er jemals die Leitung der furfürftlichen Gapelle übernommen und auf die in

!) Chriftoph Kaldenbachs Deutihe Lieder und Gedichte. Tübingen, 1683: Zmeiter Theil, Bud I, Nr. 9. Das Gedicht ift auszugsweife mit- getheilt von 2. 9. Fiſcher in den Monatsheften für Mufifgefchichte, Jahre. 1883, ©. 31 ff. Bu der Hochzeit der Tochter fandten auch Simon Dad und Heinricd Albert glüdwünichende Gedichte; j. Hermann Defterley, Simon Dad. Stuttgart, 1876. S. 999 unter Nr. 798.

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Deutſchland mißfannte und geringgeihägte Tonfunjt die Kraft feines Lebens verwendet habe.

Gleichwohl gelang es ihm, das ihm unverrüdt vorjchwebende Ziel, feine Werke zu jammeln und herauszugeben, wenigitens sum Theil zu erreichen. 1648 erjchien die „Geiſtliche Chor: mufif”, eine Sammlung von 29 meiſtens großgeitalteten Mo- tetten. Wieder war es der treue Johann Klemm, welcher die Herausgabe übernahm. Wollreife Nehren einer reichen Lebens— ernte wurden bier geboten; nicht nur die Parentationg-Motette auf Johann Hermann Schein iſt in jorgfältiger Ueberarbeitung aufgenommen, auch die jehsitimmige Motette „Die Himmel er: sählen die Ehre Gottes” dürfte aus den zwanziger Jahren ftammen !) und wohl noch manches andere. Zu der Herausgabe des dritten Theil® der „Symphoniae sacrae“ (1650) hatte jo- gar der Kurfürſt ſelbſt einen Theil der Koften beigejchofien ; Schütz danft dafür in der Vorrede und widmet ihm, der es fonjt nicht um ihn verdient hatte, diejes unvergänglidye Werf. Wie viel noch im Vorrath war, erfieht man daraus, daß er die „Geiftlihe Chormuſik“ als einen erjten Theil anfündigte und auch in einem Verzeichnig von 1647 ?) dem großen Palmen: werke von 1619 den Vermerk „Erjter Theil“ beifügt, der ſich auf dem Titel des Werkes ſelbſt nicht findet. Aber die Fort: jegungen find nicht erfchienen. Die wenigen neuen Gompofitionen von Schü, die jpäterhin noch gedrudt worden find, haben andere herausgegeben. Er jelbjt war des Treibens müde geworden.

Mit dem Tode Johann Georgs 1. (8. Oktober 1656), da er nun jchon über 70 Jahre zählte, trat endlich für ihn die Zeit der Ruhe ein. Der neue Kurfürſt entlajtete ihn, der dem Hin— geichiedenen noch zwei Schöne Trauermotetten componirt hatte?)

!) Sie ift in der urſprünglichen Faflung mitgetheilt Werte Band XIV, Anhang Nr. 2.

2) Werte Band VII, Vorwort ©. V.

”) Werte Band XI, Anhang.

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vom regelmäßigen Dienft. Die jüngere Capelle wurde mit der älteren vereinigt, und die Hofmufif nahm einen neuen Auffchwung, an dem fich der greife Meijter aber nicht ſtark mehr betheiligte. Italieniſche Künftler, die Johann Georg II. jchon als Kurprinz begünjtigt hatte, fingen an in der Eapelle die erſte Rolle zu jpielen. Dem konnte Schüß, jeinem eignen Bildungsgange zu: folge, jahlih nicht zumider jein. Perſönlich empfand er zu- weilen jehmerzlih die Wahrheit des Worts, daß die Jugend dem Alter gegenüber Net hat. Auch hielt er begreiflicherweije mit den Veränderungen, welde die italienifhe Muſik in der Periode nad) Wionteverdi erfuhr, nicht mehr gleihen Schritt. Doch jtand er zu den jüngeren italienischen Gapellmeiftern, die ihm beigeordnet waren, in guten Beziehungen; namentlich von Bontempi hatte er eine vortheilhafte Meinung, die diefer durch tiefe Verehrung erwiderte; als er 1660 eine Compoſitionslehre druden ließ, eignete er fie dem alten Meifter zu’). Die Deutichen hingen ihm an wie einem Vater, und was er in den Zeiten bitterer Notb,für fie gethan und mit ihnen gelitten, blieb ihm bei diejen unvergejien. Unter ihnen zählte er begabte Schüler, deren hervorragenditer Chriſtoph Bernhard war. Jetzt fonnte er auch häufiger in jeinem geliebten Weihenfels auf eignem Beſitzthum meilen; jhon im Jahre 1657 finden wir ihn dort und jpäter noch öfter, auch hatte er jeine Bibliothek dorthin ſchaffen laſſen, wo er ungejtört arbeiten fonnte. Unthätig zu leben, war er weit entfernt. Schon in den vierziger Jahren hatten jich die Beziehungen zum braunjchweigiihen Hofe in Wolfenbüttel fejter gefnüpft. Herzog Auguft war jeit 1635 in dritter Ehe mit Sophie Elijabeth, einer Tochter des Herzogs Johann Albredt von Medlenburg - Güjtrow, vermählt. Wenn die Vermuthung zutrifft, daß Schüg ſchon auf feiner erjten Reife

1) S. Emil Bogel, Die Handſchriften nebit den älteren Druckwerken der Mufil-Adtheilung der Herzogl. Bibliothek zu Wolfenbüttel. Wolfen- büttel, Zmwißler, 18%. S. 97.

Thiltipp Spitta, Muſitgeſchichtliche Kufiäge, >

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nad) Kopenhagen an dejjen Hofe Station gemacht hat, jo erklärt fih leicht, wie er nad Wolfenbüttel fam. Die junge Herzogin war es, die ihn dorthin z0g. Seit 1638 vergehen freilich fieben Jahre, ehe wir von einem neuen Beſuche etwas merfen. Aber auf der legten Rüdreife von Dänemarf war er in Wolfen: büttel eingefehrt und hatte Vorfchläge gemacht zur Gewinnung tüchtiger Mufifer für die herzogliche Capelle. Ein Brief, den er am 17. März 1645 von Braunfchweig aus an die Herzogin richtet, läßt jchließen, daß er unmittelbar von Wolfenbüttel kam. Ihm lebte in Braunjchweig ein befreundeter Künſtler, Delphin Strund, der treffliche Organift an St. Martini, welder aud feine gedrudten Werfe vertrieb. Daß Schüß, von Kopenhagen zurüdfehrend, in Niederjachjen eine längere Station gemadt hat, fagt er unter dem 30, Juli 1646 felbit: an diefem Tage waren feine „Saden“, d. h. die Mufikalien eigner und fremder Com— pofition, die er auf der Reiſe mit ſich geführt hatte, noch da— jelbft rüdjtändig. Den Ort nennt er nicht, es wird aber Braun- ſchweig gewejen jein, wo er fih bei Strund oder einem be- freundeten Kaufmann, Stephan Daniel, aufgehalten haben mag, und von wo aus der herzogliche Hof in Wolfenbüttel immer leiht zu erreihen war. Der Verkehr mit viefem bat bis in Schütens hohes Alter angedauert, und aus feinem Briefwechjel mit der mufilverjtändigen Herzogin geht hervor, wie lieb und mwohlthuend er dem alten, durch feine Lebensſchickſale jo viel- fach enttäujchten Manne war. Seit Oftern 1655 war er her: zoglih wolfenbüttelicher Obercapellmeiiter von Haus aus mit 150 Thalern Gehalt. Einen Untercapellmeifter hatte er in dem— jelben Jahre in dem talentvollen Sohann Jacob Löw aus Eiſenach angefchafft, der vorher fi in Wien aufgehalten hatte), 1663 als Gapellmeifter nah Zeit, 1682 als Organift an die

! Bon wo er ichon 1652 an Schüß empfohlen wird, „weil er in der musica non omnino contemnendam scientiam, auch felbige noch weiter zu ergreifen Zuft hat.“ Königl. Sächſ. Haupt-Staatd-Ardiv, Loc. 8241, Bol. 1, BU. 265, 270.

Nicolaikirche nach Lüneburg ging, wo er Sebaſtian Bach noch erlebte und im September 1703 geſtorben iſt. Schütz nannte ihn feinen Sohn und vielgeliebten Freund. Wenigftens bis zum Jahre 1665, da er alſo 80 Jahre zählte, ift er noch am Wolfenbüttler Hofe thätig geweſen. Perſönlich dahin begeben hat er fich 1660 vielleicht zum legten Male. Die Nachwelt verdanft dieſem jeltenen Verhältniß die Fojtbare Sammlung gebrudter und handjchriftlicher Werke Schügens, die, von ihm jelbft in den Jahren 1664 und 1665 überfandt, die herzogliche Bibliothek zu Wolfenbüttel noch heute aufbewahrt.

In den legten Lebensjahren litt er an rheumatischen Be— jhwerden, von denen er im Mai 1663 in Teplig Heilung zu finden hoffte. Auch fein Gehör nahm ab. Aber objchon er dergeitalt vom Verkehr mit der Außenwelt mehr und mehr ge: ſchieden wurde, fein inneres Leben erlitt hierdurch feine Ver— fümmerung. In frühere Zeiten reichen noch die „Zwölf Geiſt— lihen Geſänge“ zurüd!), weldhe Chriftoph Kittel nah und nad) gejammelt und 1657 mit Schügens Genehmigung herausgegeben hatte. Aber eine Frucht feines höchften Alters find vier bib- liſche „Hiſtorien“, deren eine, die Weihnadhtshijtorie, er auf An— ordnung des Kurfüriten um 1664 componirte. In diefem Jahre iſt fie in Drud erichienen, leider nur, was den recitativifchen Theil anlangt?). Sie war mit Anfangs: und Schluß-Chor, außerdem mit acht Intermedien im concerthaften Stile ausge- jtattet, welche jämmtlich verloren gegangen find, aber durch ihre Inhaltsangaben einen Schluß auf die reihe Mannigfaltig- feit und Bhantafiefülle des Werkes gejtatten. Die andern drei jind Paſſionshiſtorien nah Matthäus, Yucas und Johannes und erjchienen nicht mehr im Drud. Die Johannes: Bajlion trägt das Datum „Weißenfels, den 10. Aprilis Anno 1665“, die Matthäus: Paffion das Jahr 1666. Einzigartig wie der

1) Werke Band AU, S. 113 ff. 2) Werke Band I, ©. 161 ff. 3*

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Anfang diejes Künftlerlebens war, it auch jein Ausgang ge- wejen. Daß ein achtzigjähriger Greis Werke fchafft, jo voll von Leben, Wärme und Tiefe, wie dieſe evangeliichen Hiftorien, dafür kennt die Geſchichte Fein zweites Beifpiel. Auch noch mehrere Pjalmen waren „jtattlich” von ihm in Mufif gejegt, aber jie befigen wir nit mehr. Den Tert zu jeiner Grabrede hatte er voraus beftimmt und ihn auch von Chriſtoph Bernhard, einem feiner Lieblingsjchüler, als fünfjtimmige Motette compo- niren laſſen. Es ijt der 54. Vers des 119. Pjalms: „Deine Rechte find mein Lied in meinem Haufe“. Bernhard war da- mals Gantor an der St. Jacobikirche zu Hamburg und hatte von dorther jeine Compofition geichidt, über die ibm Schüg zurüdichrieb: „Mein Sohn, er hat mir einen großen Gefallen erwiejen durch Ueberſendung der verlangten Motette. Ich weiß feine Note darin zu verbejjern.“ Am 6. November 1672, Nach— mittags um 4 Uhr, ohne Todesfampf, unter dem Gejange der das Lager umgebenden Freunde, ging das Leben dieſes großen, guten Mannes zu Ende. Kinder und Kindesfindir hatte er vor ſich jcheiden jehen, eine einzige Urenkelin jtand an jeiner Gruft, die man ihm in der Vorhalle der alten Frauenkirche neben der früh verjtorbenen Gattin bereitet hatte!). Bei der Trauerfeier: lichkeit wurden Bernhards Motette und mehrere von Echüßens eigenen Compofitionen gejungen. Die jein Grab dedende Marmor— tafel trug die Worte: Seculi sui Musicus excellentissimus, und eine an der jüdlichen Wand der Halle eingelafjene Bronce: tafel verfündete ihn al$ Assaph Christianus, Exterorum Deli- cium, Germaniae Lumen, Saxoniae Electorum Capellae immortale decus. In der Stunjtwelt blieb ihm der Name „Vater der deutjchen Muſikanten“. Schü beſaß nicht die ſtolze Unnahbarfeit Händels, Gluds und Beethovens. Die milde Hoheit jeiner menjchenfreundlichen Natur erwedte Verehrung

!) Die alte Frauenkirche iſt 1727 abgebrannt. Auf einer Dachlammer der neuen ‚srauenfirche bat man fürzlic (Sommer 1893) verſchiedene Grab- denfmale gefunden. Vielleicht ift die Gedächtnißtafel für Schü darunter ?

und Vertrauen zugleich. Friede und Ordnung gediehen unter ſeiner liebevoll pflegenden, behutſam glättenden Hand. Tief empfindend und klug erwägend, beſcheiden und freimüthig, in ſeiner geiſtigen Ueberlegenheit dem Humor geneigt, viel gewandert und welterfahren, aber ebenſo ernſt und treu beharrend ſteht er wie eine tröſtende Lichtgeſtalt in einer Zeit des Dunkels und der Wirrniß, ein guter Genius, welcher der deutſchen Kunſt den rechten Weg wies.

1.

Die Compofitionen Schübens, welche zu feiner Zeit in Drud erjchienen find, dürften mit geringen Nusnahmen erhalten jein, wenngleih mande nur noch in einem einzigen vollitändigen Exemplar vorliegen. Außer ibnen it eine nicht unerhebliche Anzahl in Handſchrift überliefert, theilweiſe gar in der eignen des Componilten. Wie die Bibliotheken in Caſſel und Wolfen: büttel zu ihrem reichen Beitande Schüßicher Werke gekommen find, habe ich oben erzählt. Auch Heinrich Albert beſaß eine Menge bandichriftlicher Compofitionen jeines Meiſters!), von denen ich vermuthe, daß fie uns wenigftens zum Theil in den Schätzen der Gottholdſchen Bibliothef zu Königsberg erhalten geblieben find. Aber jehr vieles und wichtiges ift in Dresden 1760, in Kopenhagen 1794 durch Feuersbrunit zu Grunde ge— gangen, und auch in Gera bat wahrjcheinlich der große Brand von 1780, welcher fämmtliche Kirchen einäfcherte, Die dort gewiß zahlreih vorhandenen Compolitionen Schütens vernichtet. In Dresden verbrannte fein gefammter mufifaliicher Nachlaß, den er der furfüritlichen Capelle vermacht hatte. Betrachtet man fein langes, in raftlofem Fleiße bingebrachtes Leben, jo fommt man zu dem Schlufie, daß die gedrudten Werfe nur den Eleineren Theil des von ihm Geſchaffenen bilden können und daß jeden:

1) S. die Zueianung vor dem ſechſten Theile feiner „Arien“. Königs bera, 1645.

falls ein ſehr beträchtlicher Theil als verloren angeſehen werden muß. Diejenigen von ihnen, welche zu uns ſich herüber gerettet haben, ſind ausſchließlich Vocalcompoſitionen. Daraus folgt noch nicht, daß nicht auch inſtrumentale dageweſen ſein können. Gabrieli, Schützens Lehrer, war ein großer Orgelſpieler und -Componift, e8 wäre verwunderlich, wenn der Schüler fich gegen dieje Kunft gleichgültig verhalten hätte. Das jcheint nun aud nicht der Fall gewefen zu fein. Mag aus dem Umſtande, daß er in Caſſel kurze Zeit Hoforganift war, nicht viel geſchloſſen werben fünnen, da ihm dieje Stelle offenbar nur übertragen wurde, um ihn am Gajjeler Hofe überhaupt zu bejchäftigen, jo ift doch jehr beacdhtenswerth, daß ihn der furfächliiche Hofpoet Johann Seuße in mehreren Gedichten grade als Urgelmeifter preift. Einmal führt er den Gedanken aus, daß der Geift beider Gabrieli, des Oheims Andrea und des Neffen Giovanni, in Shüß vereinigt fei: der eine bejeele feine Stimme, der andere beflügele jeine Hand. Wäre Schü auf feinem Inſtrument nicht ein über das Mittelmaß binausreichender Spieler gemeien, jo würde es auch nicht leicht zu veritehen fein, wie ein Orgel- virtuos von der Bedeutung Matthias Weckmanns aus feiner Schule hervorgehen konnte, über ven wir erfahren, daß er die Kunſt, eine Motette „aus dem bloßen Generalbaß auf zwei Clavieren zu variiren“, bei Schü gelernt hatte!). Daß diefer auch in der vollftimmigen Inftrumentalfonate Giovanni Gabrieli'3 fih verfuht haben wird, laffen Einfonien, wie fie z.B. in feinen „Sieben Worten“ vorfommen, vermuthen. Indeſſen, daß er der Gejangsmufif den Vorzug gab, darüber würden ſchon jeine Werfe jelbit feinen Zweifel beitehen laſſen, wäre uns dies auch nicht ausdrüdlih als fein künſtleriſcher Standpunkt von einem Zeitgenoſſen überliefert, dem er geitattete, es in einem Beqleitgediht zu feinen „Kleinen geiftlichen Concerten“ auszu— ipreden ?).

") Gerber, Lexicon der Tonkünftler, I, Sp. 784. 2) Werte Band VI, Vorwort &. VI.

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Die italienifhen Madrigale, mit melden Schüg 1611 in die Componiftenwelt eintrat, find über ſechs Dichtungen von Guarini, aht von Marini, eine von Aleſſandro Aligieri gejegt; die Dichter der vier übrigen Madrigale haben bis jetzt nicht feitgeitellt werben fönnen. Marini's und Aligieri's Gedichte entnahm er vielleiht einer Madrigalfammlung, welche im Januar 1611 unter dem Titel „Il Garreggiamento poetico del confuso accademico ordito“ in Venedig bei Barezzi er- ſchien, woraus folgen würde, daß er dieje neun Madrigale ſämmt— lih in den eriten Monaten des Jahres componirte, da die Bor: rede feines Werkes vom 1. Mai datirt ift!). Guarini’s Poefien beitehen in Bruchitüden feines Hirtendrama „Il Pastor fido*, aus dem Schüß fie unzweifelhaft jelbjt ausgejucht hat. Als er diefe feine Compofitionen herausgab, gedachte er nod andere derjelben Gattung folgen zu laffen. Dazu ift es nicht gefommen, und italienifhe Madrigale kennen wir weiter überhaupt nicht von ihm. Aber mit der Kunftform ſich zu bejchäftigen, hat er auch in Deutichland nicht aufgehört. Sehr empfindlich mußte ihm freilich fein, daß es in der deutfchen Litteratur das Ma: drigal nit gab, denn die anmuthige Zwanglofigfeit jeines Baued machte es zur Kompofition bejonders gut geeignet. Noch faft ein halbes Jahrhundert follte vergehen, ehe Casvar Ziegler in Wittenberg durch feine Schrift „von den Madrigalen, einer ſchönen und zur Mufif bequemeften Art Verje” (Leipzig, 1653) den Anftoß gab, daß auch bei uns dieſe Form eine nachträgliche Pflege erfuhr. Schüß, der den Ziegler feinen Schwager nennt, begleitete deifen Verſuch mit lebhafter Theilnahme. „Und habe ich zwar,“ jo fchrieb er ihm am 11. Auguſt 1653 aus Dresden, „ein Merklein von allerhand Poeſie bishero zujammengeraspelt, was mich's aber für Mühe gefojtet, ehe ich denjelben nur in etwas eine Geftalt einer italienifchen Muſik geben fönnen, weiß

!) Ein Eremplar des jeltenen Buches befigt Herr Dr. Emil Vogel in Leipzig.

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ih am beiten“ (j. ©. 73). Hieraus geht hervor, dab Schü Damal3 eine Sammlung deutjcher Madrigalcompofitionen fertig daliegen hatte. Dieje ift untergegangen, aber vielleiht gehörten zu ihrem Beitande die ſechs Madrigale nebit einer Canzonette, die fich vereinzelt handjchriftlich erhalten haben. Ein „Madrigale spirituale* hat zum Text die 9. Strophe des Meihnachtsliedes „Bom Himmel bob, da fomm ich ber“ '). Die genannten ſechs Madrigale find ſämmtlich über Dichtungen von Martin Opit componirt, dem Schüß Schon 1625 befannt war und durch die Torgauer seitlichfeiten nahe gekommen jein muß, und fallen wohl ungefähr in diefe Zeit. Eines derjelben ift gejeßt auf eine in Mlerandrinern abgefaßte Verdeutichung des beliebten anafreontifhen Gedichts. H y7 uehawva zriver. Fernere drei nehmen den poetijchen Stoff aus den erotiichen Ergüſſen des Hohenliedes Salomonis und werden von dem Dichter „Himm- lifche Hirtenlieder“ genannt ?). ALS die wirkliche Madrigaldichtung in Deutichland in Aufnahme fam, war Schüs ein alter Dann. Nichtsdeitoweniger hat er auch noch mit einem der erften Nach: folger Zieglers darob Verkehr gepflogen, mit Ernft Stodmann, welcher 1660 jeine „madrigalifhe Schriftluft“ herausgab. Bon ihm hat der Greis einige Male Terte zur Kirchen- und Tafel- muſik verlangt und, wie ein Gedicht Stodmanns auf ihn an: zudeuten jcheint, auch componirt. Wer, wie Schüß, die Geſangs— mufif auf jeine Fahne gefchrieben hatte, jah fich dadurd natür- lich auf die gleichzeitige Yitteratur hingewieſen. Mit Opis, Buchner, Johann Lauremberg, David Schirmer, Johann Seuße, Conſtantin Chriftian Dedefind und andern hat er nachweislich Verkehr unterhalten?); daß er dem Königsberger Dichterfreife

1) Merfe Band XIV, Wr. 10.

2) Werfe Band XV, Nr. 4, 5, 6, 7, 8 und 10: die Ganzonette im Anhang.

%) Buchner, der den Dactylus in die deutiche Poeſie einführte, fchreibt am 19. November 1639 an den Fürften Ludwig von Anhalt: „Daß der berühmte Muftcus Herr Henri Schüge gegen mir fich vernehmen laffen, es fünne faum einige andere Art deuticher Reime mit befferer und an-

nicht fernblieb, bewirkte ſchon ſein Neffe Heinrich Albert. Aber bekanntlich war damals auf dem deutſchen Parnaß nicht viel zu holen. Schon aus dieſem Grunde würde es begreiflich ſein, daß Schütz ſich mehr der geiſtlichen Muſik zuwandte, wo er aus der Poeſie der lutheriſchen Bibel, empfindungstiefen Kirchen— liedern und Gebeten ſich Anregung holen konnte, wenn nicht auch der Zug der Zeit und die eigne Natur ihn dahin geführt hätten.

Sieht man ſeine weltlichen Madrigale auf das an, was ſie als Muſik bedeuten, ſo muß man ihnen zum Theil einen ſehr hohen Rang einräumen. Dasſelbe gilt von den lateiniſchen Staat3:Compofitionen. Unter dem mufifalifchen Gelihtspunft läßt ſich Geiftlih und Weltlich bei ihm überhaupt nicht jcharf trennen; es ift ein und derſelbe jtarfe Strom, von dem beide Schiffe getragen werden. Diejer Strom bedeutet das, was wir, wenn Schüß heute lebte, die moderne Richtung nennen würden. Shr gab er fich um jo entichiedener hin, als er erſt verhältniß- mäßig jpät zur Muſik fam, in Jahren, da die Luft zu eignem Schaffen ſchon mächtig zu fein und das Neue den ftärkiten Reiz auszuüben pflegt. Hätte ihn Landgraf Morig nicht nach Venedig, jondern nach Mantua zu Monteverdi geihidt, vielleicht hätte die Reife feiner allgemeinen Bildung die gefunde Entfaltung feines rein muſikaliſchen Talentes gehindert. Gabrieli verband in fih aufs glüdlichite Altes und Neues, und Schüß erſtarkte

muthigerer Manier in die Muſik geiegt werden, als eben diefe dactylifche. Deromwegen er auch die Einrichtung der Poeſie zu dem Ballet Orpheo mich ionderlih gebeten, dahin bedacht zu fein, Damit das ‚Freudengeichrei und Glückwünſchungen bei Schließung desfelben ja in dergleihen Art möchte aebracht werden. Ind iſt fait männigliches Urtheil dahin gegangen, daß diejes in der Muſik zum beiten gefallen.” (S. Wilhelm Buchner, Auguit Buchner, fein Leben und Wirfen. Hannover, Rümpler. 1868. ©. 38 f.) Dedefinds „Aelbianiſcher Mufen-Luft* ift ein Brief Schüßens an den Verfaſſer vorgedrudt, Datirt „Weißenfeld, den 21. September 1657.“ In ihm lobt Schüß, „daß die [von Dedefind jelbft herrührenden] Melodeien nicht allein nad) den Regulis und modis Musicis Kunftmäffig, ſondern auch hierüber dero modulationes anmuhtig überſäzzet und geführet feind.“

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unter jeiner Leitung zu einem mufifalifchen Neuerer, der fich feſt auf die erprobte Solidität der älteren Kunſt ftügt. Allerdings geht er gleich in feinem eriten Werfe weit über das Aeußerfte hinaus, was Gabrieli jemals gewagt hatte, ja er gab fich den Reizen der neuitalienifhen Kunft mit einem Enthufiasmus hin, von dem er fpäter jelbit um etwas zurüdgefommen ift. In diefer Beziehung find feine italienischen Madrigale ein rechtes Jugendwerk. Chromatiihe Schärfungen und antiharmonifche Hebungen und Senfungen der Gejangsmelodie, die den Em: pfindungsausdrud der Sprachmelodie möglichft treu widerzu— jpiegeln ſucht, treten hier mit verblüffender Kühnheit nicht nur in einer einzigen Stimme, jondern auch contrapunctiich auf. Sprungweife erreihte disharmoniſche Intervallſchritte, wie Septimen, verminderte Quinten, difjonirende Quarten, Um: gehung der regelrechten Auflöfung einer Diffonanz find voll jenes Empfindungsüberfhwanges allerperjönlichiter Art, der in Monte: verdi’8 „Lamento d’Arianna“ hinreißenden Ausdrud gefunden hatte. Dur Umſpielung einfacher intervallichritte, durch Durchgangstöne auf ſchwach oder ſelbſt weniger ſchwach betonten Zeiten gab er der Melodie ein flüjfiges und gejchmeidiges Wejen, das ihr geitattete, die leidenjchaftlichen Accente des Sängers in den verjchiedenften Abftufungen aufzunehmen. Dergleichen voll: bringen, ohne in ein wüſtes Tongemwirr zu gerathen, fonnte nur ein Talent, welchem zugleich ein lebhaftes Gefühl innewohnte für die logifhe Ordnung der Grundharmonien, zwifchen denen fih die Mielodiengewinde hinzuziehen hatten. Schütz zeigt in den italienischen Madrigalen, daß er diefes Gefühl bejaß; auch in gewilfen verharrenden Tönen, die vorübergehend bar- moniefremd werden, offenbart es fich deutlich. Freilich war von hier bis zur Harmonien- Ordnung im inne Bachd noch ein weiter Meg. Noch gehörten die chromatifhen Erhöhungen einzelner Töne nicht wejentlih zum Syſtem, es waren vorüber: gehende, zufällige Erjcheinungen zur Steigerung des Affects, und der Theorie nach galten ce und eis, f und fis immer nod)

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als diefelben Töne. So konnte es ihm beifommen, den natür- fihen und den chromatiihen Ton in verjchiedenen Stimmen unbefümmert zufammenfklingen zu laffen; die hieraus entitehende Wirkung, für unfere Ohren verlegend und kaum verftändlich, follte ihm eine befonders ſüße Gefühlsfchwelgerei bedeuten. Er wurde jo auf Jufammenflänge aeführt, die eine jpätere Zeit nicht mehr gutheißen fonnte, weil fie von andern Grundan— ſchauungen ausging, und wenn zufällig erhöhte Töne ald Grund: lage von Dreiflängen benugt wurden, mußten Sarmonienfolgen entitehen, denen nach moderner Auffafjung der Zuſammenhang fehlt. Aber die Inbrunſt der Empfindung und der energiiche Tieflinn, mittelft welcher Schüß beim eriten Anlauf ſchon weit über das hinausdrang, was je ein Staliener in diefem Betracht erreicht hat, fichert feinen italienifhen Madrigalen für immer den Werth einer der bedeutfamsten Ericheinungen jener Zeit. Die deutichen Madrigale weichen mit Ausnahme des einen geiftlihen von der Form der italienifchen mwefentlih ab. Sie find nicht unbegleitete mehritimmige Gejangsitüde, wie es die Madrigale überhaupt bisher gewejen waren, ſondern verwenden den Generalbak und auch andere Inftrumente. Sie nähern fidh der Form, welche man damals in Italien Canzonetta zu nennen anfing, und auch der Empfindungsart derjelben, find aber meiſtens weiter und reicher ausgeführt. Die Anlage mehrerer diefer Stüde iſt bedeutfam durch die Rolle, die in ihnen das Inſtrumental— Ritornell fpielt; eingangs führt es eine Anzahl muftkalifcher Gedanken in ununterbrochenem Zuge vor, die fpäter zwiſchen den vocalen Abjchnitten vereinzelt wieder auftauchen, dieſe ver- binden und das fo entjtehende Ganze gleihjam nur als Er- mweiterung des Vorſpiels erjcheinen laffen. Die im 17. Jahr— hundert hervorfommende jelbftändige Inſtrumentalmuſik juchte Formen anzunehmen, welche durch ſymmetriſche Anordnung und Wechjelbeziehung der Theile auch ohne den Regulator der Poeſie rein mufifalifch verftändlich wären. An dieſem Werk hat Schü durch feine deutſchen Madrigale mannigfach mitgearbeitet ; wenn«

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ſchon fie Gejangsmufif find, bilden fie doch Einheiten, die feines- wegs nur fur die Form der Dichtung vorgezeichnet waren. Der leichten, canzonettenhaften Empfindung begegnet man auch in den wenigen weltlichen Liedern, die von Schü übrig ge blieben find. Schon der Name Aria, der diejer Form in Deutichland während des Kahrhunderts eigen blieb, zeigt, dab die Staliener das Mufter lieferten. Um uns von der Mufif in Schützens Opern eine deutlichere Vorftellung zu machen, fehlen zwar fichere Anhaltspunkte; aber vermuthen läßt fic, da auch für fie die Ganzonette und namentlich die Aria von Bedeutung waren. Einem dramatifchen Talente gaben fie, jo jcheint es, nicht eben reihliche Gelegenheit, fich zu zeigen. Da— gegen iſt die in gleichem Jahre mit der „Daphne“ entitandene Feltcompofition zum Mühlhäuſer Kurfüriten-Convent eine dra— matifche Scene von eritaunlicher Yebendiafeit und Neuheit. Die Vorſtellung ift offenbar diefe, daß in der Kirche von der Ge: meinde um Frieden gebetet wird, während draußen eine Volks— mafje ſich mit profanen Aubelrufen auf die verfammelten Kur- fürften gütlich thut. Jeder der beiden Chöre ift mit großer Kraft charakterijirt, und beide werben ebenfo ſcharf auseinander gehalten wie kunſtvoll ineinander gefügt. Schwerlid hat ſich früher jchon jemand an eine Aufgabe wie dieje gewagt, die zugleich in ihrer Miſchung von Kirchlich und Weltlich jene freiere Anihauung gewahren läßt, die dem Oratorium zu Grunde liegt.

Auf geiftlihem Gebiete ſchließen fih an die italieniichen Madrigale von 1611 die Cantiones sacrae von 1625 und die „Beiltliche Chormufif“ von 1648. Die drei Werke liegen zeitlich jcheinbar weit auseinander. Allein die beiden letteren faſſen nur zujammen, was im Laufe der Jahre allmählich gejchaffen war, jo daß fie fich im einzelnen Beftandtheilen berühren, ja ineinander übergreifen fönnten. Im übrigen bezeichnen fie, als Ganzheiten betrachtet, in der That verichiedene Stationen in des Künſtlers Entwidlungsgang und tragen demgemäß unterfchiedenes Gepräge. In den Cantiones zeigt fih der ungejtüme Jugend:

drang beſchwichtigt und die gährende Kraft geläutert. Aber in der vollſaftigen Empfindungsweiſe ſtehen ſie den Madrigalen nicht nach. Wenn man ſie den Texten nach als Motetten be— zeichnen müßte, ſo ſind ſie doch als Muſikſtücke in der Mehr— zahl vielmehr geiſtliche Madrigale zu nennen, ſo bis zum Rande gefüllt find jie mit jubjectivem Pathos. Schütz jagt, fie ſeien zum Theil im älteren, zum Theil im neueren Stile geichrieben. Der legtere überwiegt jtarf, doch darf man auch bei erjterem niht an ardaifirende Schulftudien denfen. Auch jie, die man leicht berauserfennt !), enthalten Züge voll perjönlichen Aus» druds und frappirender Erfindungsfraft, während fie zugleich den Beweis führen, wie fiher Schüß die ältere contrapunctijche Technik handhabte. Einige wenige Stüde jind noch darin, die weder älteren noch neueren Motetten- oder Madrigalftil, jondern vielmehr den Charakter des neuaufgefommenen geiftlichen Con— certs tragen?) und dadurch auf eine weit über jene ‚Formen hinausführende Entwidlungsbahn der Tonkunft hinmeijen. Um: fängt uns bei den Cantiones sacrae das beraufchende Gefühl, als jei man in den Frühling einer neu entdedten Welt ein- getreten, jo bietet die „Geiſtliche Chormuſik“ gereifte Früchte eines gejegneten Herbites. Der vollfommene Ausgleich, zu dem jih die polyphone Bocalfunit des 16. Jahrhunderts in dem ganzen Umfange ihrer Eigenthümlichkeiten mit der vocal:in- jtrununtalen, auf die Monodie und die Harmonienverwandtichart gegründeten Muſik des 17. Jahrhunderts verbindet, erhebt die „Beiftliche Ehormufif” zu dem ſchönſten Motettenwerke ihrer Zeit. Neigen die Cantiones mit dem blühenden Gewoge ihrer Em: pfindungen mehr dem Weltlichen zu, jo die Chormuſik mit ihrer mildernften Zurüdhaltung dem Kirchlichen, wie denn auch die Ordnung der einzelnen Stüde ji an den Gang des evangeliichen Kirchenjahres erkennbar anjchließt und die Terte ohne Ausnahme der lutheriichen Bibel und deutichen Kirchenliedern entnommen

1) Werte Band IV, Nr. 9, 10, 19, 20, 29. 2) Nr. 32, 33, 34, 35.

find. Den firhlihen Charakter kehrt auch die Mehrzahl der Zwölf geiftlihen Gefänge von 1657 mit Entjchiedenheit hervor.

Wo wir Schüß ald Componiſten deutſcher geiftlicher Werke begegnen, zeigt fich jein Sinn vorzugsweije auf die Pialmen der lutherifhen Verdeutihung gerichtet, und manche von ihnen bat er mehr als einmal in Muſik gejegt. Die meiften Pjalmen waren wegen ihrer Länge zur motettenartigen Behandlung nicht geeignet; oder man mußte fie in eine Anzahl jelbitändiger Stüde zerlegen, wie Schüg beim 116. Pſalm wirklich gethan hat, dann aber ging der Pſalm als poetijche Einheit verloren. Darum verfuchte er es mit einer zwar chorifchen, aber mehr recitativischen Art der Compojition, die rajher von Sat zu Sag fortſchritt und nur zuweilen von breiter entwidelten polyphonen Bartien unterbroden wurde. Das Vorbild für diefe Behandlung war im einjtimmigen kirchlichen Pſalmengeſange gegeben, und das „Ehre ſei dem Vater“ (Gloria patri), weldes der Mehrzahl diefer Compofitionen angehängt ijt, bemeilt, daß Schüß Die firhliche Beitimmung vor Augen hatte. Stüde joldher Art find es, die größtentheils den Anhalt jeines Pſalmenwerkes von 1619 bilden. Er ſchuf mit ihnen für die deutiche Muſik etwas Neues, das um jo fühner gedacht erjcheinen muß, als er die Palmen nicht für einen einfadhen vierftimmigen Chor jegte, jondern für deren mindejtens zwei, denen meiſtens noch einer oder mehrere ergänzende Chöre hinzugefügt wurden. War jchon rejpondirende Zweichörigfeit eine Eigenthümlichfeit venetianifhen Stils, jo vollends jene gewifjfermaßen im Hintergrund gehaltenen Chor: majjen, die an den entjcheidenden Stellen mit ihrem Glanz ber- vorbredden und auf jeinen Wellen die Haupthöre dahin tragen jollten. Indem es für jolden Zwed dem Gomponijten nicht mehr darauf ankommen fonnte, jede Stimme der Ergänzung: höre in ein contrapunctiich jelbftändiges Verhältniß zu den Stimmen der Haupthöre zu fegen, ergab ſich eine neue Sap- mweije, die Nehnlichfeit mit der des claſſiſchen Sinfonie-Ordefters bat. Den Kern des Sapes bilden die Hauptchöre, in ihnen

ſind alle Stimmen ſelbſtändig geführt. Die Complementchöre oder Capellen dagegen ſollen zwar in ſich auch rein geſetzt ſein, können aber nach Belieben bald die Stimmen der Hauptchöre verſtärken oder verdoppeln, bald deren Zuſammenklänge durch ſelbſtändige Tongänge bereichern, und von ſtrenger Correctheit der Stimmenfortſchreitungen wird hierbei zu Gunſten der klang— lichen Fülle abgeſehen. Sie ſind es vor allem, in denen nun die Inſtrumente: Zinken, Poſaunen, Fagotte, Geigen, ihre Wirkungen entfalten, während in den Hauptchören die Menſchen— ſtimme herrſcht oder doch vorherrſcht. Doch findet ſich, daß auch in die Capellchöre Menſchenſtimmen hineinſingen und um— gekehrt die Hauptchöre durch eine inſtrumentale Beimiſchung gefärbt werden; die Aufſtellung der verſchiedenen Chorförper, welche Schüß immer mit bejonderer Aufmerkſamkeit beachtet willen will, thut dann das weitere, um alle Factoren zu einem vielfarbig glänzenden Gemälde zufammenfließen zu laſſen. Mag Schüß in der breitwogenden Pracht des Klanges feinen großen Lehrer mindejtens nicht übertroffen haben, jtärfer als diefer iſt er in der Kühnheit, mit der er, geitüßt auf den Generalbaß der Orgel, die Mafjen regiert, und auch in der Mannigfaltigfeit des Golorit3. Nicht weniger als 19 vollitändig componirte Pſalmen find in der Sammlung von 1619 enthalten. Den übrigen Stüden liegen kürzere Bibelabfchnitte zu Grunde, einem ein Kirchenlied. Indeſſen herrſcht in den vollftändigen Pſalmen nicht immer die gleiche Eompofitionsart. Die eriten 17 find jämmtlich für zwei Hauptchöre gejegt, während bei den übrigen mehr als zwei ver: wendet und dieſe in ein Fünftlicheres Verhältniß zu einander gebracht werden. Davon abgejehen, wird in einige durch Gegen: überftellung von Soloitimmen und Chormaſſen ein ftärferer concerthafter Zug bineingetragen, und um den Gegenjag recht wirfjam zu maden, auch einmal von der rafch fortjchreitenden declamatorifchen Behandlungsweiſe abgejehen.

Der Begriff „Concert“ war im zweiten Jahrzehnt des Jahr— hunderts noch nicht zu voller Schärfe ausgeprägt. Urſprüng—

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li jollte er nicht$ weiter andeuten, als eine bejonders lebhafte MWechjelbeziehung der zujammenmwirkenden Kunftorgane. Daher fonnte am Ende des 16. Jahrhunderts jchon ein lebendiger Wechſelgeſang zweier Chöre ein Concert genannt werden. Geit Viadana erjcheint die Mitwirkung des Generalbajjes erforderlich, da erit auf deſſen Grundlage die einzelnen Factoren fi in voller individueller Freiheit ausgeben fonnten. Immer bleibt der Charakter leidenjchaftlicherer Bewegtheit, die der feierlichen Würde vorgängiger kirchlicher Kunſt jich entgegenjegt, auch für die formale Entwidlung des Concerts maßgebend. Schüt hat mit den Bahnen einige Werfe vereinigt, die er ausdrücklich Eoncerte nennt. Sie unterjcheiden ſich von jenen größeren theils nur durch ein breiteres, mannigfaltigeres und vielfarbigeres Mefen. Ein tiefgreifender Unterfchied ijt meiitens nicht vor— handen, und ebenjo verhält es ſich mit den zahlreichen Com- poſitionen ähnlicher Gattung, die ſich nebenher noch erhalten haben. Sechs Pſalmen, mehrere lateinische und deutjche Hymnen, vier Hochzeitsgefänge und anderes gehört dahin. Stüde, wie das „Domini est terra“ '), jind von grandioſem Wuchs und über: wältigender Klangpracht. Auch zeigt Schüß ſich deutlich betrebt, die Mafjen zu gliedern und durch rein muſikaliſche Mittel in eine überfichtliche Form zu bringen. Mehrfach gejchieht dies durch einen vollitimmigen fürzeren Tonjaß, der dad Ganze ein: leitet und dann nad) ſchwächer bejegten, gegenſätzlich charakterifirten Abjchnitten jedesmal als eine Art Ripresa wiederfehrt?). Es it bemerfenswerth, daß Schüß dieje Form unmittelbar der voll: ftimmigen SInftrumentalcanzone Gabrieli’s nachgebildet hat. So früh jchon macht die Inſtrumentalkunſt ihren Einfluß auf die muſikaliſche Formenwelt geltend, durch den dieje in der Folge zeit von Grund aus verändert werden jollte. Das choriſche Concert bot nun zwar aud für die Einfügung des Einzel- gefanges Raum, und Schüß hat ihn nicht unbenugt gelafjen.

!) Werte Band XII, Wr. 1. 2) ©. 3. B. Band IH, Nr. 5, Band XIV, Nr. 11 und 14.

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Aber obgleih ſcheinbar alle mufifalifchen Mittel in ihm zur Geltung fommen fonnten, die jene Zeit verfügbar hatte, Schütz ift diefer Gattung des Concerts nicht dauernd treu geblieben. Nach jeiner zweiten italienischen Reife dürfte fie für ihn ab» gethan gemwejen ſein. Wie im Stalien auf die chorifche In— ftrumentaljonate die ſchwach bejegte, durchaus foliftifche Kammer: jonate jo unmittelbar folgte, daß man nicht ſowohl von einem genetifhen Zuſammenhang, als von einem plöglichen Umjchlag zu reden bat, ebenjo jegte ſich der vielftimmigen Geſangsmuſik der Sologejang fiegreich entgegen. Auch zeitlich laufen beide Erſcheinungen durhaus parallel. Im Fahre 1628 war der Kampf ſchon entjchieden, und diefe Dinge find es, auf welche Schütz hindeutet, wenn er 1629 von Benedig aus jchreibt, daß eine neue Art der Muſikübung in Italien aufgefommen fei. Bon nun an ſtützt fich feine Goncertcompofition eine lange Zeit fait ausfchliehlih auf den Sologejang, den er durch den Generalbaf und auch andere Inſtrumente begleiten läßt; unter diejen er- halten die Violinen bald die Oberhand, die vorher neben den Blasinjtrumenten nur eine zweite Rolle gejpielt hatten. Die beiden Theile der „Kleinen geiftlihen Goncerte” von 1636 und 1639, der erjte und zweite Theil der Symphoniae sacrae von 1629 und 1647 find mit Goncerten diefer Gattung gefüllt. Hier öffnet fich zum Theil eine ganz neue Formenwelt, denn je weniger jubitantiell das Material, dejto williger fügt es fich der bildenden Hand des Künſtlers. Wenn aber Peri's und Caccini's erſte Verſuche in der Monodie ein Bruch mit der Vergangenheit find, jo hat Schüß die Verbindung wieder angefnüpft, und jo- viel, al$ möglich war, von den alten Formen in das joliftifche Eoncert hinübergeleitet. Wir finden Stüde von durchaus recita- tiviſchem Charakter; wo aber mehr al3 eine Stimme in Thätig- feit tritt, ftellt fich doch der nachahmende Stil wieder ein, und auch die hinzugejellten Inſtrumente erweiſen fich ihm unterthan. Wie in Motette und Madrigal jchreitet die Compofition jaß-

weije mit dem Terte fort, aber um die Gruppen bejtimmter ber- Philipp Spitta, Muſikgeſchichtliche Auffäse. 4

——

vor- und voneinander abzuheben, treten inſtrumentale Vor⸗ und Zwiſchenſpiele, ſogenannte Sinfonien, ein. Mehr noch: eine muſikaliſche Architektonik wird angeſtrebt, welche Haupt- und Nebengedanken ſondert und jene durch häufigere Wiederholung als die eigentlichen Stützpunkte des Ganzen erkennbar macht. Die Anlehnung an inſtrumentale Formen, ſchon im choriſchen Concerte wahrzunehmen, erweiſt fich bier ganz beionders fürder- ih. Ein längerer Anfangsabſchnitt kehrt am Schluffe wieder und umjfchließt ringartig den Mittelteil. Eine kürzere Anfangs: gruppe wiederholt fi in der Mitte und am Ende. Ein Tert wird in verjchiedenen Theilen componirt, denen allen derjelbe Schlußſatz (Ripresa) angehängt wird. Der diefer Schlußjag ericheint in immer neuen Ummandlungen, die jedoch jeine Ur- geitalt jtets erkennen laffen. Oder gar eine weit ausgeführte Sinfonie madt den Anfang, und wenn fie cykliſch wiederfehrt, wird fie durch hinzutretende Singſtimmen contrapunctiich be reihert !). Bedeutjame Sinfonien, die zum Theil einer bejonderen Art von italienischen Inſtrumentalcanzonen nachgebildet find, finden ſich namentlich in den Symphoniae sacrae von 1629, welche in italienifcher Umgebung entitanden. Im vocalen Theile jtehen neben belebtem, energiihem Sprechgeſang langathmige Melodien von einer Schönheit und Tiefe, wie fie nicht nur der früheren Zeit, fondern auch den italienischen Zeitgenoffen Schützens fremd waren und als jein eigeniter Befit angejehen werden müfjen. Verbraucht erjcheint uns das Mittel der Affectiteigerung durch Wiederholung derjelben Melodiephraſe auf höheren Ton: jtufen; in jener Zeit war es das doch nicht, und es fommt wohl nur auf die Art des Vortrags an, der das Einzelne im Ganzen rihtig zu geitalten weiß, um das Mittel aud für heute wieder annehmbar zu machen. Bei Concerten für nur eine Singitimme wird oft die Vertaufchung einer Sopranftimme durch einen Tenor freigeitellt. Hierin zeigt ſich der Durchbruch einer ganz neuen

1) Werke, Band V, Nr. 15.

Anſchauung am einfachiten. Die ältere Kunjtmufif abjtrahirte auch die einzelne Stimme immer von einem mehrjtimmigen Satze, fonnte fie daher auch von ihrer urſprünglichen Tonlage nicht loslöfen.

In dem dritten Theile der Symphoniae sacrae (1650) tauchen die ergänzenden Chöre wieder auf. Schüß zeigt dadurch, daß er die beiden Formen des horifchen und foliftifchen Concerts abichließend zu verbinden jtrebte, hat er doch jogar eine ver— einzelte GCompofition des Yahres 1619 in dieſes Werf aufge: nommen). Indem hierdurch die Maffenmufif zum Einzelgefang, die allgemeine Empfindung zur perfönlichen innerhalb eines und desjelben Ganzen in lebhafteren Gegenjag gebracht wurde, it der Grundriß für die gefammte firhliche ſowohl wie oratorien- hafte Kunft der nächſtfolgenden hundert Jahre fertig gejtellt, wenn auch zunächſt in Kleinen Maßverhälinifien. Aber welche Entwidlung immer der Sologefang noch erlebte, er ließ ih in diefen Rahmen einfügen. Der Chorgejang nicht minder, doc hat diefer feine Formen nicht in gleichem Maße mehr geändert, da Schü nicht nur den concerthaft leidenschaftlichen mehr- ftimmigen Sa für den horifchen Charakter empfänglih gemacht, jondern auch der jtrenger ftilifirten Motette jchon die Mit- wirkung der Inſtrumente zugeführt hatte Sowohl Bad wie Händel wurzeln in Schügens geiftlichem Concert, doch diejer un- mittelbarer und tiefer. Das Oratorium jchließt fih um eine Begebenheit, welche e8 in erbauliche Betrachtung auflöjt. Biblifche Vorgänge hat Schütz mehrfach jo behandelt: die Verkündigung des Engels Gabriel an Maria, den Knaben Jeſus im Tempel, den Bharifäer und Zöllner im Tempel betend. Wenn er Die biblifchen Hiltorien von Ehrijti Geburt, Leiden und Auferjtehung, zu denen auch die Compoſition der Sieben Worte zu rechnen ilt, in Muſik geſetzt bat, jo it es zu demjelben Zwede gejchehen. Hier waren allerdings kirchliche Gebräuche und liturgifche Formen

!) Band XI, Wr. 5. 4*

= Ed

vorhanden, auf die er fich ftügen fonnte, und in bejchränftem Maße hat er es auch gethan. In der Abfingung des biblijchen Tertes mit vertheilten Rollen, auch in der Art wie die Hiftorie eingeleitet wird und ausflingt, folgte er der firhlichen Tradition. Aber die Verwendung des Lectionstones iſt doch nur eine jchein- bare, da er in denjelben das ausdrudsvollite Recitativ feiner Zeit hineingebildet hat, und wenn er in dem Werk jeines Alters, den Paſſionen, auf jedes begleitende oder ftügende In— ftrument verzichtet, jo liegt darin nicht das Anzeichen einer refignirten Rückkehr zu bewährten firhlichen Kunftformen, jondern vielmehr einer Steigerung feiner durchaus modernen dramatiſchen Anſchauungsweiſe. Wenn man in unjerer Zeit die eine und andere diejer Paſſionen wieder aufzuführen verjucht hat, jo hat man unwiſſentlich mit dem Schwicrigjten begonnen, und erjchien zu dem Zwecke die Hinzufügung einer Orgelbegleitung nöthig, fo ift durch Ddieje ein wejentlicher Charafterzug der Werke ver: wicht worden. Daß Schütz fich jeder Begleitung enthielt, dazu war die nächſte Beranlaffung wohl das Verbot, während der Leidenszeit in der Kirche mit Inſtrumenten zu muficiren. Aber der äußere Umftand wurde für ihn die Quelle bejonderer künſt— lerifcher Anregung. Dieſe drei Paſſionen (die Marcuspaifion halte ich für unecht, da fie aus Schügens Stil gänzlich heraus: tällt) jollen, allerdings im Rahmen der Liturgie, die Begebenbheit durh die Mittel des mufifalifch-dramatiihen Vortrags mit größtmöglicher Natürlichkeit verfinnlichen. Für die Auferſtehungs— biftorie äußert Schüß den Wunſch, man möge die Muficirenden jo aufitellen, daß nur der Evangelift gejehen würde, alle übrigen aber den Bliden der Hörer entzogen wären. Er meinte dadurd die Phantaſie der Zuhörerichaft, die nun ausſchließlich auf die Eindrüde des Gehörsfinnes angewiefen war, aufs intenfivfte an: zuregen. Wegen der Paſſionen iſt eine ſolche Borfchrift nicht befannt geworden, und da fie wohl nicht vom Orgelchor herab, ſondern im Altarraum gefungen werden jollten, möchte auch ihre Erfüllung ſchwer zu bewerfitelligen geweſen fein. Aber deutlich

er ES

erfennt man doc des Meifters Hlicht. Die Erzählung des Evangeliften rollt gleihjam die Bilder der Begebenheiten vor dem inneren Auge auf und erfeßt jo die fehlende Scene. Sit die Phantafie des Hörers in diefe Dispofition gebracht, jo jollen ihr die handelnden Perfonen durh Wort und Ton ohne jede Störung unterftügender muftfalifcher Organe nahetreten. Der Verjuh, die Paſſionen ganz originalgetreu aufzuführen, würde jedenfall3 neue, eigenthümlich dramatiihe Wirkungen zu Tage fördern.

Das bejondere evangeliſch-kirchliche Clement iſt aber in diefen Hiltorien ſchwach vertreten. Nur an einer einzigen Stelle, im Schlußchor der Johannespaſſion, hat Schütz eine gegebene Choralmelodie benußt. Ueberhaupt nimmt er zum Choral eine un: abhängige Stellung ein. Nicht jelten componirt er Geſangſtücke über Strophen von Kirchenliedern, kümmert fih dabei aber nicht um die zugehörige Melodie, jondern behandelt jie eben als braud)- bare Dichtungen. In anderen Fällen nimmt er zwar Rückſicht auf die Melodie, aber nur ganz ausnahmsweiſe führt er fie motettenhaft als Cantus firmus durd. Sein Verhalten ift ge- mwöhnlich jenes viel freiere, phantafievoll launenhafte, für das die Mufifer des 16. Jahrhunderts den Ausdruck ad imitationem gebrauchten: die Choralmelodie erjcheint mehr nur als Anregung zur eigenen Compoſition, nicht als herrichende und führende Macht in ihr. Manchmal begnügt er jich mit verftreuten Anklängen, die fichtlich nur den Zwed haben, den Stimmungshintergrund poetifch zu vertiefen. Oder er verwendet fie wohl vollftändig, aber concert- baft pathetifch, mit gruppenmweijer Anordnung und Wiederholung der Zeilen, mit Vor: und Zwijchenjpielen und überhaupt jo reihlih untermijchter freier Erfindung, daß man deutlich er- fennt, die Choralmelodie war ihm eben nur ein ngredienz neben anderen!). Er treibt es bier nicht anders, als wenn er über ein Madrigal Monteverdi’s eine eigene Compofition

)®. z. 3. Band VII, Ar. 14 und 15.

=.

macht. Unrichtig aber it es, dies Verfahren unfirhlih zu nennen und demgemäß den ftiliftiichen Werth ſolcher Werke zu bejtimmen. Es kann nicht jtarf genug betont werden, dab das Verhalten des evangeliichen Künftlers zu dem Volksgeſang jeiner Kirhe damals ein anderes jein mußte, als hundert Jahre jpäter zu den Zeiten Bades. Schütz erwuhs und wirkte in einer Periode, da der weltlihe Volksgeſang noch unabläffie in den geiftlihen überging; jo wenig wie die Grenzen zwiſchen beiden genau zu bejtimmen waren, jtanden jie auch unter ſich im Gegenjag. In Bachs Zeiten hatten fich die Hauptchoralmelodien zu kirchlichen Symbolen vertieft und forderten demgemäß ihre befondere Behandlung. Für Schütz war davon nody feine Rede. Eine Choralbehandlung im Einne Bachs wäre damals garnidt veritanden worden. Ohne Frucht für die Entwidlung der Kunit find aber Schützens Choralarbeiten nicht geblieben. Merkwürdiger— weiſe war e3 das Gebiet weltliher Inftrumentalmunf, wo ſie gebrochen werden jollte. E3 gibt von ihm einige Compofitionen über Stirchenlieder, deren Tert er vollitändig benugt, während er die Melodie nur bei der erjten (einmal auch noch der legten) Strophe beibehält. Dagegen bleibt der Grundbaß, über dem jie auftrat, durch alle Strophen verjelbe; Ddiejer regulirte die Harmonie und hält nun im Hörer die Erinnerung an Die Melodie dergejtalt wach, daß fie ihm innerlich weiterflingt durch all’ die wechjelnden Gebilde, welche in der Folge fih über dem Grundbaſſe erheben '). In einem diejer Stüde wirken noch zwei Violinen mit, die dur Zwifchenjpiele den Charakter der Arıa marfiren und im Borfpiele eine Probe davon geben dürften, wie der Ürgelipieler Schütz gelegentlih eine Choralmelodie durchgeführt hat. Sonjt find fie die bedeutungsvollen Urbilder jener höchſten und kunſtreichſten Form der Claviervariation, Die Bad in einem Muſterwerke vollendet hat und Beethoven und Brahms nah ihm gepflegt haben.

') Band VI, ©. 59 ff., &. 147 ff.: Band VII, Nr. 26.

er

Eine Melodie, welde in den Volksmund übergegangen wäre, hat Schütz nicht erfunden. Dies fteht nicht zu verwundern, da es jeine Lebensaufgabe jein jollte, die deutſche Kunft gerade duch Zuführung fremdländifcher Elemente zu bereichern, bat aber jeinen Grund gewiß auch in dem Hinwelfen des deutfchen Volksgeſanges an fih, das wir im Jahrhundert des großen Krieges bemerken. Er hat doch mand ein Lied gefchaffen, das mindeftend das gleiche Recht beſeſſen hätte, zum Firchlichen Volkslied zu werden, wie dies und jenes jeiner Zeitgenofjen. Eine köſtliche Sammlung geiftliher Lieder bietet jein Pſalter nad) Beders Dichtungen‘). Die abfihtlihen Anklänge an befannte Melodien, welche in einigen Geſängen auftauchen, ſcheinen zu beweijen, daß er fi) in ihnen bemühte, volfsthümlich zu erfinden, und mehr als einmal ift ihm dies in jchönfter Weiſe gelungen. Die meiften Geſänge find aber zu ariftofratifchen Weſens, als daß die Mafje ihr Empfinden in ihnen hätte wieder: erfennen können. Es iſt erftaunlich, welch’ eine ‚Fülle von Bildung und Geift auch dieje fleinen Tonfäge in ſich jchließen. Nur ein auf der Höhe künſtleriſcher Herrichaft waltender Meijter fonnte den alten Tonarten, die ſchon im Abendroth ihres Tages ftanden, noch einmal einen ſolchen Reihthum von Wirkungen abgewinnen. Auch die ältere Rhythmik gehorht ihm willig, wo er fie braucht. Aber in das Farbenſpiel miſcht ſich zugleich das Licht einer neuen Zeit. Sin Stimmenführung und Harmonie macht es fich geltend, am meilten in der Melodieerfindung und dem Glanz; des poetiſchen Erfaſſens. Die Mannigfaltigkeit des Empfindungsausdruds und der Charakteriſirung muß Bewunderung erregen. Stille Ergebung im Leid und feierliche Andacht, Teiden- ichaftlihes Rufen aus tiefer Noth, zornige Erregtheit und friegerifche Energie, Lobfingen Gottes in fajt bacchantiſchem Schwung und wieder in tief innigem Genügen, für alles hat der Componift scheinbar unerfchöpflihe Ausdrudsmittel bereit.

1) Werfe, Banb XVL

Uebertroffen werden dieſe Vorzüge faſt noch durch die plaſtiſche Kraft, mit der Schütz auch in dem engen Rahmen der Lied— form Charafterbilder auszuführen vermag, welche die poetischen Vorſtellungen muſikaliſch widerſpiegeln. Man hört nicht nur, man glaubt zu jehen. Und dies führt auf eine der größten Eigenihaften des Mannes. Das Eindringen der Mufif in bie Tiefen der dichteriſchen Schöpferfraft ift ein Hauptmerfmal jener neuen Kunjtbewegung, die um 1600 von Stalien aus be- gann. Sie hat feinen genialeren Apoftel gehabt als Schütz, und vielleicht wird man einmal jagen, daß er in diefer Richtung allen älteren und jüngeren Zeitgenofjen weit voraus geweſen ift. Es geihah in ihrem Zuge, wenn er feinem Schüler Wedmann rieth, behufs Componirung von Terten aus dem Alten Teitament Hebräifch zu lernen, und in feinen Paſſionen hat er gezeigt, wie tief er dur die lutheriſche Meberjegung hindurch in die Urvorftellungen des Evangeliums einging. Er bejaß die ge heimnißvolle Gabe, jene herzbewegenden Nccente und Tonbiegungen zu finden, welche, fcheinbar den Modulationen der Sprache ab- gelaufcht, uns in die Tiefen individuellen Empfindens binab- jhauen laſſen. Die inneren Borftellungen und Anfchauungen, welche die Poeſie erzeugt, jog er gleihjam mufifaliih aus, jo deutlich läßt der Kryſtall feiner Töne deren ganzes Wefen durchſcheinen. Der Stern, welder den Weifen voranzieht und leuchtend über Bethlehem ftehen bleibt, der Engel vom Himmel, der den Stein vom Grabe des Gefreuzigten abmwälzt, der Beter, der mit andachtövoller Bewegung vor Gott niederfinft, das Klopfen des liebenden Mädchenherzens, die Thautropfen, welche aus den Locken des Geliebten niederfallen hbundertfältig ſtehen in Schügens Werfen die Beijpiele, welche derartige und andere Vorgänge, wo fie immer die Poelie darbietet, mit greifbarer muſikaliſcher Plajtit verfinnliden. Eine Begabung wie dieje mußte naturgemäß zur dramatiſchen Scene hinziehen. Schüth bat fi” mit erfichtliher Vorliebe und feinem Takt Abjchnitte jolhen Charakters aus der Bibel ausgewählt. Einige von ihnen

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wurden ſchon erwähnt als Beiſpiele der oratorienhaften Tendenz, Begebenheiten ins Lyriſche zu verallgemeinern. Die dramati— ſirende Behandlung iſt für die Darſtellung dieſer Begebenheiten aber nicht die allein mögliche, und wenn Schütz ſie vorzog, zeigte er dadurch, daß ſie ſeinem Weſen am meiſten entſprach. Die Scene, wo der ſelbſtgerechte Phariſäer und der zerknirſchte Zöllner mitſammen im Tempel beten, gehört, jo knapp gefaßt fie ift, zu den größten dramatifchen Meifterwerfen des Jahr— hundert, und kaum weniger ergreifend, nur durch die Mehr- ftimmigfeit etwas gebundener im Ausdrud, ift das Wechiel- geipräch zwischen dem auferftandenen Jeſus und der ihn erfennenden Maria oder zwiichen der Braut und dem Bräutigam aus dem Hohenliede'). Auch für den dramatifhen Monolog find die Beifpiele vorhanden. Ein Prophet tritt unter feinem Volke auf, um es zu lehren; ihm werden die Anfangsworte des 78. Pſalms in den Mund gelegt. Dat es Schüß nicht auf den Anhalt des Tertes ankommt, jondern nur auf die Darftellung einer hobeits- vollen PVerfönlichkeit, ergibt fi daraus, daß der Baffift nichts weiter fingt, als die Aufforderung, ihm zuzubören. Ein Seiten- ftüc ift die Klage Davids um Abjalon. Tongänge, Declamation, Sruppirung des Toonmaterial® find bier von jo fprechender Natur, dab es durchaus Feiner äußeren Zuthaten mehr beburfte, um die Ecene des leidenschaftlid um jein Lieblingskind Elagenden föniglihen Greiſes zu vervollitändigen?), Ganz und gar dramatiich erfaßt und hierin einen entjchiedenen Gegenfag zu Bad bildend find die Vorgänge in den Baffionen, überdies hat es der Meifter auch vermocht, feine Tonſprache je nad) dem verjchiedenen Charakter der drei Evangeliften abzuftimmen. Daß fi Ddiefe Seite feines Talents auch in der Weihnachtshiſtorie mannigfach bewährt haben wird, fünnen wir aus der Inhalts- angabe der concerthaften Intermedien wohl ahnen. Hier muß jogar mandes zur mufifaliihen Darftellung gekommen jein,

1) Band XIV, Wr. 4; Nr. 5: V, Nr. 18. 2) Band V, Ar. 14 und 13.

= BB. ee

was nicht unmittelbar die agirenden Perjonen betraf, jondern die Scene, welche dieje in der Vorftellung des Componiften um: gab. Leicht ließe jih aus Schügens Werfen eine lange Reihe von Stüden zujanmenitellen, in denen jeine Phantafie bis zu diejer höchſten Lebhaftigkeit und Bollitändigfeit des inneren Schauens vordrang. Das berühmte Concert von der Befehrung des Saulus!) läßt ung nur die göttliche Stimme hören, aber wie in hundertfahem Echo von allen Seiten zurüdgemworfen dringt jie auf den am Boden Xiegenden ein, der, von der Majeftät diejes Cindruds bezwungen, verftummt. Das erite der Kleinen geiitlihen Concerte von 1636 konnte nur der Voritellung von einer in der Dede Berlajjenen entquellen, die weithinaus nah einem Helfer ruft. Am Schlußfage der Muſikaliſchen Erequien Elingt Engelsgefang vom Himmel zur Erde nieder. Der Mühlhäufer Feitcompofition liegt gleihfam die Vorftellung einer zweigetheilten Bühne zu Grunde: bier das Innere der Kirche, dort der freie Platz vor derjelben, auf dem ſich das Rolf drängt, während in der Kirche fromme Gejänge ertönen. So voll von Poeſie war Schügens Künitlerherz, daß nah Compofition eines Werkes zuweilen ein Ueberſchuß davon zurüdblieb, den er dann in tief empfundenen Beiichriften ausließ. Die jchönen Verſe, welche er an den Schluß der Auferftehungshiftorie und vor den Anfang der „Sieben Worte“ jegte, der Bibeljprud, welcher das Titelblatt der Auferitehung ziert, und anderes geben davon Zeugniß.

Schütz hat natürlich eine große Anzahl begabter und body: begabter Schüler gehabt, Bernhard, Wedmann, Adam Krieger, Johann Jacob Löw, Caspar Kittel, jein Neffe Heinrich Albert, der ihm den zweiten Theil feiner „Arien“ widmete, gehörten zu ihnen. Aber wenn man fie auch alle namhaft machen wollte und fönnte, nicht im entfernten würde man damit die Grenzen jeines Eunfterziehlihen Einfluffes angedeutet haben. So wie

1) Band XI, Nr. 8.

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von ihm hat niemals von einem anderen das ganze muſikaliſche Deutfchland gelernt. Ob Künftler von Beruf oder Liebhaber, alle jahen fie zu ihm auf als einer oberften Autorität, gingen ihn um feinen Rath und in Streitjadhen um feine Entſcheidung an, juchten feine Zuftimmung und waren jeiner Theilnahme froh. Eine ftattlihe Anzahl Neußerungen, zu denen Schüß in diejem Sinne veranlaßt wurde, läßt fih ſammeln, und vieles gleicher Art wird im Laufe der Zeiten noch ans Licht treten’). Ueberzeugender noch al3 aus ſolchen Aeußerlichfeiten offenbart ih fein unermeßlicher Einfluß aus den Kunftwerfen des Jahr— hunderts ſelbſt. Bis in deſſen zweite Hälfte hinein ftehen fie in unmittelbar zu erfennender Abhängigkeit von ihm, fofern es fih nit um Gattungen handelt, denen er ſich ferner hielt, wie Orgel: und Claviermufil, oder in welchen wir, wie in der Oper, feine Thätigfeit nicht mehr abjchägen können. Vielleicht ift feine eritaunliche dramatiſche Befähigung in den theatralifchen Werfen nicht einmal voll hervorgetreten; die Dichtungen waren nicht darnad), ihr den nöthigen Borfchub zu leiten. Im mufifalifch- dramatifchen Enjemble zeigt er fich feiner Zeit jo weit voraus— geſchritten, daß ein halbes Jahrhundert triebfräftiger Entwidlung no nicht genügte, ihn einzuholen. Sein Verhältniß zu Händel und Bach kann nur ideell begriffen werben, ein Zuſammenhang in dem Sinne, daß dieje einjt aus feinen Werfen zu lernen ver-

!) Beifpielsweife jeien hier noch genannt die Briefe Schüßend von 1646 und 1648 an den Warjchauer Capellmeifter Marco Sacchi in deſſen Iudieium Cribri musici (f. Gasparini, Catalogo della Biblioteca del Liceo Musicale di Bologna. Vol. I. Bologna, 18%. S. 254), und jein Gutachten über die Compofitionen des Gapellmeifters Samuel Capricornus in Stuttgart (f. Sittard, Zur Gefhichte der Muſik und des Theaters am MWürttembergifchen Hofe. Band I. Stuttgart, Kohlhammer, 1890. S. 56). Dem Sohne des Zittauer Drganiften Sternberger fchrieb er in Dresden am 7. Auguft 1655 in fein Stammbud:

„Opitius super ps: 146 Gott der Herr joll mein gejang Immer fein mein leben lang.“ (Rathsbibliothek zu Zittau; dort im Jahre 1888 von Emil Vogel gefunden.)

ſucht hätten, ift nicht nachweisbar. Gemifje Züge hat er mit jedem von beiden gemeinfam: mit Händel die Neigung zum Dratorienhaften, Plaſtiſchen, Dramatifchen, die freie Empfänglid- feit für die Vorzüge der italienischen Muſik, wie für alles, was die weite Welt darbot, mit Bad das Fromm-Beichauliche und die tiefe Gefühlsinnigfeit. Kaum einer unferer größten Ton- fünftler hat in gleicher Harmonie, wie Schüß, zu vereinigen ge- wußt: helle Ausihau ins Leben, unbefangene Würdigung aller feiner Erjcheinungen, und ftilles Verfinfen in die myſtiſchen Tiefen des eigenen Gemüths; Feiner ift geweſen, der ſolche fünftlerifche Eigenschaften in gleihem Maße durch Güte und Hoheit der menſchlichen Gefinnung verflärt hätte Als Ver— mittler zwifchen zwei Kunjtperioden von fundamentaler Gegen- fäglichfeit hat er dem Berftändniß unferer Zeit gegenüber einen fchweren Stand. Es fällt leichter, die Kunft des 15. und 16. Sahrhunderts zu begreifen, bei der im voraus angenommen wird, daß auf eine Menge von modernen Vorausfegungen ſchlechthin verzichtet werden muß, als die Kunſt einer Zeit, in welcher die Anihauungen der Gegenwart und fernen Vergangenheit fi un- entwirrbar durchfreuzen. Kein Zweifel, daß, um einer ſolchen Muſik gegenüber als äſthetiſch Genießender ſich zu fühlen, eine Erziehung der Fünjtlerifchen Urtheilsfraft von Nöthen ift, die fih nicht von heute auf morgen verwirflidt. Wir müfjen uns zufrieden geben, wenn wir die Geftalt des großen Mannes in- mitten ber Jebtlebenden wieder haben aufrichten fönnen. Ihn alljeitig zu würdigen und innerlid ganz fich wieder anzueignen, wird eine Aufgabe des nächſtfolgenden Jahrhunderts jein.

Die Anfänge madrigaliſcher Dichtung in Deulſchland.

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28 ih die Muſik im Lichte der Dichtkunft betrachten und (9 beurtheilen läßt, jo fann man die Dichtkunft wiederum unter den Gefichtspunft des Mufifers bringen, und manches erjcheint dann anziehend und bedeutend, was im anderen Falle faum Beachtung finden würde. So verhält es fih auch mit dem Madrigal. Die Literarhiftorifer konnten feine Veranlaſſung haben, ſich eingehender mit einer Form zu befchäftigen, die in der Gejchichte der reinen Poeſie ein unscheinbares und unmejent- liches Moment bildet. Für die mufifalifche Poeſie aber ift fie von hoher Wichtigkeit, denn fie hat an der Geitaltung von Tonformen mitgeholfen, die ein weites Gebiet der Kunft des 18. Jahr— hunderts beherrſcht haben und zum Theil jetzt noch fortleben. Das. Madrigal iſt italienifhen Urfprungs und ftellt, da der Name ficherlid mit mandra, die Herde, zufammenhängt, urfprünglid ein Hirtengediht dar!). ES diente ſchon jeit der eriten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Ilnterlage zu mehr: ftimmiger Gompofition und bildete in diefer Benutzung bald eine jelbitändige mufifalifche Gattung, die als weltliche, aus- drudsvollere und perjönlicher bewegte zu der jtrengeren, kirch— lihen Motette in Gegenjat trat. Die Oper lehnte fih zunächit ganz an das Madrigal, und als fie jelbjtändig ihre Kräfte ent- faltete, hatte fich der Versbau desfelben bereit3 jo brauchbar

1) Abfchließendes, wie mir fcheint, fagt über diefe Frage Gioſuè Carducci, Studi letterari. Yivorno, 1880. ©. 388 f.

erwieſen, daß er auch jetzt die formelle Grundlage der italieniſchen Opernterte blieb. Es iſt bekannt, wie die muſikaliſchen Neue— rungen der Italiener bald auch in Deutſchland merkbar wurden. Ihr Einfluß äußerte ſich aber, den Verhältniſſen gemäß, zuerſt vorwiegend in der Kirchen- und Kammermuſik und würde auf letzterem Gebiete wohl noch mehr hervorgetreten ſein, hätte den Deutſchen nicht eben der entſprechend geformte poetiſche Stoff gefehlt. Nachbildungsverſuche, wie ſie in der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts z. B. Joh. Hermann Schein in ſeiner Musica boscareceia anſtellte, einem Werkchen mehrſtimmiger Lieder, deren Terte er nach Art der italieniſchen Villanellen ſelbſt ge— dihtet hatte, blieben vereinzelt, im Allgemeinen begnügte man jich, die muſikaliſchen Merkmale des italienifchen Stil3 zu adop- tiren und denjelben an Bibeliprüdhen und Strophen von Kirchen: liedern zur Anwendung zu bringen. So entitanden die geiltlich- madrigaliihen Compofitionen von Schein, Hammerjchmidt, Briegel und Anderen. Indeſſen je mehr die italienifche Kunft eindrang und namentlich auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Oper in Deutjchland ſich verbreitete, dejto deutlicher fam den Gomponiften der große Bortheil zum Bewußtſein, den die Staliener an der madrigalifchen Tertgeitaltung bejaßen. Ihr lebbafter Wunſch, etwas Ähnliches auch in der deutſchen Sprache ſich dar- geboten zu jehen, war es hauptjächlich, was endlich einen Leipziger Gelehrten veranlaßte, mit Gründlichfeit der Sache näher zu treten.

Es war der Theolog und Nechtsgelehrte Caspar Ziegler, geboren 1621 zu Leipzig, geitorben 1690 als Profeſſor in Witten: berg. Er ließ im Jahre 1653 ein Büchlein erfcheinen, in welchem das Mejen des Madrigals zuerit theoretiich eingehend erörtert und jodann durd einige jelbitgefertigte Proben illuftrirt wird?).

1) „Caspar Ziegler | von den | Mabdrigalen | Einer ſchönen und zur Muſik be | quemeften Art Verje | Wie fie nad) der Italianer Ma- | nier in unjerer Deutihen Sprache | auäzuarbeiten, | nebenft etlihen Erempeln Zeipzig, | Verlegts Chriftian Kirchner, | Gebrudt bey Johann Wittigaun, | 1653. | * 8. Eine zweite Auflage erichien 1685.

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Diefe Schrift ift al3 der Nusgangspunft einer geordneten madri— galifchen Dichtkunft in Deutſchland anzufehen und wurde auch von Zieglers Zeitgenofjen alabald als joldher erfannt. Dadurch rechtfertigt fih wohl die mörtliche Mittheilung ihrer wichtigiten Stellen. Ziegler jagt: |

„Weil es [das Madrigal] demnach kurtz gefaßt und nachdencklich gemacht jein muß, fo iſt es nichts anders als ein Epigramma, darinnen man offtermals mehr nachzudencken giebt und mehr verjtanden haben wil, als man in den Worten ge- jegt und begriffen bat, ....... nur daß ein Epigramma in aller: (ey Reimarten beftehen fan, ein Madrigal aber der eußerlichen Forme halber gewiffe Kennzeihen an ſich hat und haben muß. In gemein ift” dieſes Po&ma wie ein unausgearbeiteter Syllo- gismus, bißweilen simplex, bißweilen compositus, darinnen die Haupt conelusion allezeit aus den legten zweyen Reimen aud) wohl nur aus der legten Zeile zu erfcheinen pflegt. ... .

„Was nun die Form folder Madrigalen, nach der fie ge macht werden follen, betrifft, jo ift zu wiſſen, daß in feinem einzigen genere Carminis größere Freyheit zu finden jey, als eben in diefem, denn erjtlih ift man an feine gewiſſe Anzahl Verſe gebunden, wie etwan in den Sertinen, Sonneten und der- gleihen, . . . jondern da gehe Ich nach meinem belieben fort, und darff wohl mit einer ungeraden Zahl Berje den ganten Madrigal beichließen, welches denn bei den Stalianern gar ge— wöhnlich ift. Gleichwohl finde ich nicht, daß der kleinſte Madri- gal weniger als fünff und der längite mehr als funffjehen zum höchſten jechzehen Verſe in fich begreiffe. Und die Wahrheit zu befennen, jo habe ich nicht mehr als einen einzigen von 16 Verſen, welchen Gio. Battista Leoni gemacht, gefehen. Die gemeineften find von 7. 8. 9. 10. oder 11. Verſen, nad) dem fich der Ver— ftand in wenig oder mehr commata jchließen left.

„Zum andern, fo dörffen die Verſe nicht gleich lang, oder einer fo lang als der andere jein, jondern da jteht e8 abermals in des Poeten wilkühr, welchen er furg und melden er lang

Philipp Spitta, Muſikgeſchichtliche Auffäge.

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maden will... .. Ich habe in acht genommen, daß die Jta- lianer nur zweyerley als fieben und eilffiylbichte Verje unter einander fchrenden. . . .

„Zum dritten, jo dörffen die Verje auch nicht alle gereimt fein, ſondern Jh fan wohl einen, zwey auch wohl drey dar- innen ungereimt lafjen, gleich als ob es vergeflen worden. Die Urſach ift, weil ein Madrigal io gar feinen zwang leiden kan, daß er auch zu mehrmahlen einer ſchlechten Rede ähnlicher als einem Poemati fein will... .

„Ih muß aber zum Beichluß erinnern, das fein einziges genus carminis in der Deutſchen Sprache ſich bejjer zur Mufid Ihide, als ein Madrigal. Denn darinnen left ſich ein Concert am allerbeften ausführen, und weil die Worte jo fein in ihrer natürlichen construction gejeßt werden fünnen, jo fümbt aud die Harmony umb joviel deſto befjer und anmutbiger. wird ein Madrigal (was die bloßen Verje, nicht aber die com- position belanget) dem Stylo reeitativo faſt gleih gemacht, und balt ich bejagten Stylum reeitativum, wie ihn die Jta- lianer in der Poefie zu ihren Singe Comedien gebrauden vor einen ſtets werenden Madrigal, oder vor etliche viel Mabdrigalen, doch joldher geitalt, daß ie zumweilen darzwijchen eine Arietta, aud wohl eine Aria von etlihen Stanzen lauffe welches denn jo wohl der Poet alö der Componiſt fonderlich in acht nehmen, und eines mit dem andern zu verjüßen, zu rechter zeit ab- wechjeln muß.”

Die hierin enthaltene Definition des Madrigals ift eine er: jchöpfende, und jpäteren Madrigaliften blieb nur noch Unwefent- liches oder Selbftverftändliches hinzuzufügen: daß im Italieniſchen die Verje weibliche Endungen zu haben pflegten, woran man fih im Deutſchen aber nicht zu binden brauche, daß die Cäfur am beiten nad der vierten Silbe einträte, daß das Versmaß das jambijche jein müſſe u. dergl. Die Definition zeigt zugleich deutlih, warum eine jolche Form ſich vor allen anderen zur muſikaliſchen Behandlung eignen mußte. Was nur irgend der

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freien Entfaltung der Tonkunft Hinderlic fein konnte, war in ihr zu vermeiden; übermäßige Länge des Ganzen ſowohl, als auch der einzelnen Zeilen, einengende Ebenmäßigfeit der Zeilett- Gruppen, der Reim-Rejponfionen und der Zeilen-Ausdehnung, verwidelte und weit ausgefponnene Sagconftruftionen. Dabei wurden aber doch die eigentlichen mufifalifchen Elemente eines Gedichtes beibehalten: Rhythmus, Reim und Wohlklang über- haupt; in Bezug auf leßteren jagt der nächſte Nachfolger Zieglers ausdrüdlih, daß dieſes und jenes Madrigal, es fei gemacht fo gut es wolle, deshalb nicht gefiele, weil auch das Ohr ein Urtheil zu fällen habe, ob etwas klinge oder nicht flinge. Und endlich bewirkte das Epigrammatifche der Form, da3 Auslaufen in einen gewichtvollen Gedanken die zur Compo- fition eines Tertes fo jehr nothwendige Einheitlichkeit und Be- ftimmtheit des Affects.

Die Beifpiele, die Ziegler feinem Tractate beifügte, laffen wir bier unberührt: in ihnen liegt die Stärfe des Verfaſſers nicht, obgleich es aud ihnen an Bewunderern nicht mangelte, als erft einmal die madrigaliihe Dichtung nad) den Zieglerfchen Princeipien allgemeiner gepflegt wurde. Einjtweilen ging es damit noch langfam. Wohl fanden fi einzelne Nahahmer, diefe aber befolgten viel zu gewiſſenhaft die Zieglerſche Negel, daß ein Madrigal feinen Zwang leide und oft der Proja ähn- licher jcheine als der Poeſie. Sie nahmen die Sache zu leicht und ließen, wie ſpäter Jemand derb bemerkte, ihre Mapdrigale „mie die Sau von der Weide laufen.“ Wenige erkannten, daß es hier wirklich eine jchwierigere Aufgabe zu löfen galt. Unter ihnen ragt an Ernjt und Einficht, ſowie durch den Erfolg feiner Beitrebungen hervor Ernit Stodmann, der Sohn Paul Stodmanns, den die Hymnologie als Berfaffer des Paſſions— gefanges „Jeſu Leiden, Pein und Tod“ fennt. Er war 1634 in Zügen geboren, jtudirte Theologie, wurde Pfarrer in Bayer: Naumburg, darauf Superintendent in Allftädt, Afjeffor des Con— fiftoriums zu Eiſenach und weimarifcher Kirchenrath ; er ftarb 1712.

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Als er in den Jahren 1654 und 1655 in Leipzig jtudirte, lernte er. Ziegler kennen, der gerade damals die Theologie verlafjen und fih dem Studium der Rechtswiſſenſchaft zugewendet Hatte. Durch ihn gewann er für die madrigalifche Kunit Intereſſe und ging auf dem gewieſenen Wege weiter fort. Im Jahre 1660 erſchien jeine „Madrigaliſche Schriftluft“, die bis zum Jahre 1704 dreimal aufgelegt wurde'). Ein ausführlicher „Vorbericht von denen Madrigalen” umfchreibt die Zieglerfhen Grundjäge und erwähnt, daß Ziegler den VBerfaffer feinen unmittelbaren Nachfolger in der madrigaliihen Dichtung genannt habe. Alg folcher ift er auch literarhiftoriich anzufehen, obgleidh der „Vor: bericht” andeutet, daß ein anderer, deffen Namen ich nicht anzu— geben weiß, ihm dieſen Ruhm habe beftreiten wollen. Dem Inhalt nad find jowohl Stodmanns Madrigale, als auch die: jenigen feiner Nachfolger, überwiegend geiſtlich: fie ſchließen fich meiftens an furze Bibelfprüche oder allgemeiner an irgend einen bibliihen Vorgang an. Das wenige, was den Deutfchen damals von Idealen übrig geblieben war, lag ausjchließlich auf religiöſem Gebiete; auch ihre Opernftoffe nahmen fie dorther, jo lange big das Fremdländiſche fie gänzlich überfluthete. Einen weltlichen Stoff aud nur in Fleinjter Form anmuthig zu gejtalten, waren fie außer Stande. Stodmann machte mit feinen Madrigalen Glück, obwohl fie aller wirklichen Poeſie vollitändig baar find; vielleicht wirkte hier das rein formale Intereſſe, denn von diejer Seite find fie nicht eben anzufechten. Als Probe mag ein Ge- dicht daftehen, das über die Worte der Hirten in der Weihnacht „Laſſet ung nun gehen gen Bethlehem” verfaßt ift:

1) Die zweite vermehrte Auflage erichien 1668. Die dritte führt folgenden vollitändigen Titel: „E. Stodmanns, | Zum dritten mahle wieder aufgelegte | Madrigalifche | Schrifft-Zuft, | Mit dem Buche der Richter | und | Büchlein Ruth, auch verbeiferten Vorberichte, vermehret, | Beftehend in ge- ſammt in hundert und jech- | zig meiſt geiftlichen, auch politifchen Madri— galen. | Denen Liebhabern der Poefi zu Nug und | Luft, mit allerley Freuden- Trauer: Zeit- | Feit- und andern Oden, Elegien | und Sonnetten erweitert. |

Leipzig, Verlegt durch die Landifhen Erben, | drudts, Chriftian Bogelge- fang, | Anno 1704, * 8,

„Die Einfalt eilt dabin,

Verläßt ihr Vieh, und wandert in die Stadt, Es trifft auch alles ein,

Sie ſehn das Kindelein,

Das Nofeph und Maria bei fich hat,

Sie freuen fih und fallen vor ihm nieder, Und fingen Jubel-Lieder.

Sie ſchreien laut und rufen in den Thoren: Meiftas ift, Meſſias ift geboren.”

Vier Jahre nad) dem Erjcheinen von Stodmanns „Madri- galifher Schriftluft” trat ein neuer Madrigaliit auf: Johann Gottfried Dlearius, Piaconus an der Marienkirche in Halle, ſpäter Superintendent und Confiftorialrath in Arnitadt, geb. 1635, geit. 1711. Er veröffentlichte eine Sammlung geiitlicher Lieder nebit 34 Mapdrigalen, welche größtentheils auf die hauptjählichiten Sonn- und Feſttage des Kirchenjahrs Be- zug nehmen!). In der Borrede beruft er fih auf Zieglers Vor- gang und auf das Beifpiel Stodinanns, auch find zwei lobende Madrigale des Legteren dem Werkchen vorgedrudt. Eine un: mittelbare Beeinfluffung ift hierdurch zugeitanden. Seinerjeits wirkte wieder Dlearius auf einen jüngeren Dichter ein, dem allein aus diefer ganzen Gruppe eine gewifle poetifche Kraft zugefprohen werden kann. Salomo Frand aus Weimar, geb. 1659, lebte von 1691 bis 1697 in Arnftadt ala Confiitorial- Secretär und gab in demjelben Jahre, als die zweite Auflage der Oleariusſchen Madrigale erichien, dajelbit jeine „Madri— galifche Zeelenluft über das heilige Yeiden unferes Erlöfers” heraus, welche Dlearius durd ein vorgedrudtes Lobgedicht, der Sitte der Zeit gemäß, in die Deffentlichfeit einführte?). Frand

und Ma- | drigalen, | Dem Verlangen quter Freunde zu will: | fahren ber- für gegeben | von | M. Johann. Gottfricd Oleario, | Diac. zur 2. Fr. in Hall. | Hall, drudt und verlegts Chriftoff Salfelot, | M. DC. LXIV.“ 8. Eine zweite vermehrte Auflage erihien 1697 zu Arnitadt.

2) „Salomon Frandens | Madrigaliiche | Seelen-Yuft , über | Das heilige Leiden unfers | Erlöfers. | Arnftadt, drudts Nicolaus Bachmann. | m Jahr Ehrifti, 1697.“ 8. Weiteres über grand findet fi in meinem Werke

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zeigt fich in diefem Werkchen, jeiner zweiten poetiſchen Publica- tion, noch nicht auf der Höhe, die er nah Maßgabe feines Talentes erreihen jollte: die Gedankfenverbindung leidet an Un- Harheit, der Ausdrud an Gejchmadlofigkeit und Schmulit. Gleichwohl findet ſich auch hier ſchon jene wohlthuende Wärme, die ihn über jo viele jeiner Zeit- und Kunftgenoffen erhebt; er dichtete in der That aus innerem Drange, die andern Madri- galiften reimten nur. Zum Beijpiel diene das Madrigal „Auf den vom Engel geſtärkten Jeſum“:

„Du unerichaffner Engel!

ft, Jeſu, dir ein Engel dort erichienen ?

Muß das Gefchöpf zur Kraft dem Schöpfer dienen,

Der mit dem Tode ringt,

Und mir das Leben bringt?

Ad ſend, o Jeſu du,

Mir in der Angit auch deinen Engel zu:

Und wenn ich von der Erden

Nach deinem heilgen Schluß,

Mein Jeſu, icheiden muß,

Zo lat den Tod mir jelbit zum Engel werden.“ Franck trat jpäter mit Seb. Bach in Berührung und fpielt in defien Lebensgeihichte feine unmichtige Rolle; in Weimar lieferte er ihm eine Anzahl Terte zu feinen Kirchenmufifen, und auh in Leipzig componirte Badı noch Franckſche Cantaten. Dadurd greift er jchon in eine Zeit hinüber, die außerhalb des Kreifes unferer Betrachtung liegt. Andererjeits aber ftand er auch zu Stodmann in einem perjönlichen Verhältniß, denn als diejer im Sabre 1710 „Evangeliiche Reim-Dispositiones“ herausgab und dem Herzog Wilbelm Ernit von Sachſen Weimar widmete, dDichtete ihm Frand dazu ein beglüdwünfchendes Madrigal. In diefer Zeit war indeſſen die Pflege des Madrigals ſchon in weitere Kreiſe gedrungen; namentlich it noh Roh. Jacobi

über ‚job. Seb. Bad. I, 521 fi. Eines der dort gegebenen Daten hatte ich bier zu berichtigen nad) der lateinifchen Lebensbeichreibung Francks in Joannis Uhristophori Coleri Anthologia. Tom. J. Fase. VI. Lipsiae MDCUXXVIIN. ©. 430 bis 438.

aus Zwidau zu erwähnen, der 1678 jeinen „eriten Verſuch deutſcher Madrigalen” herausgab, und jpäter jogar madrigalijche geiftlihe Dramen ſchrieb. Chriſtian Weije beichäftigt fich theoretiijh und praftiih mit dem Madrigal in einem Buche, das er 1675 veröffentlichte‘). Nah dem Tode Zieglers und am’ Anfange des 18. Jahrhunderts mehrten fich die Arbeiter auf diefem Gebiete in demjelben Maße, in weldyem das Madrigal feine Bedeutung als jelbjtändiges Gedicht verlor. Dieſe Ent- werthung aber wurde durch die Cantaten- und Operndichtungen bewirkt, deren Verfaſſer die Errungenfchaften der Madrigaliiten fih zu Nutze mahten und ihren Terten durhaus die madri- galifchen Formen zu Grunde legten, nunmehr aud) hierin ganz dem Vorbilde der Italiener nadhjtrebend. In die Gantate, welche al3 deutjches Gedicht immer zunächſt die Kirchencantate bedeutet, führte Erdmann Neumeijter diefe Neuerung ein; er wurde dadburh für die Form der Kirchenmufif in der eriten Hälfte des 18. Jahrhunderts, namentlih auch für die Seb. Bachs bahnbredhend, was ich an einem anderen Orte ausführlich be- jprodhen habe?). Zunächſt war es freilich nur der Tert der Recitative, welcher in madrigalifcher Form gebaut wurde. Aber ihr leichtflüffiges Wefen übte allmählich auf alle Beitandtheile der Gantatendichtung, joweit fie nicht Schriftwort und Kirchen— lied waren, feinen umbildenden Einfluß aus. Neumeifter war auf die neue Gantatenform nicht unmittelbar durch das deutjche Madrigal geführt: in eriter Linie waren es die italienischen Dperndichtungen, denen er es gleichthun wollte. Daß er aber dies in einer Weiſe vermochte, die feine Arbeiten von Anfang an als vollendete Mujfter ihrer Gattung erjcheinen ließ, das ver- dankte er doch allein den Bemühungen Ziegler® und feiner Nachfolger, denen er in Bewunderung zugethan und theilweije perfönlich verbunden war. Aus dem, was er in feiner Disser-

6. das Genauere S. 102 ff. 2) „I. S. Bad“, I, 465 ff.

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tatio compendiaria de poetis Germanicis über Ziegler und Stodmann jagt, geht zur Genüge hervor, wie eifrig er ihre Werke ftudirte. Stodmann ſelbſt geiteht am Schlufje des Bor- berichtS zur dritten Auflage feiner „Madrigalifhen Schriftluft“ die formelle VBerwandtichaft der Madrigale mit den Gantaten zu, und lobt Neumeijter als ihren „meifterlichen“ Berfertiger. Ja, in feinen „Evangelien NReim-Dispositiones” hat jogar der ältere Dichter den jüngeren nachgeahmt, da fie fait immer aus drei ſich reimenden Zeilen beftehen und ſomit ganz Die nämliche Form haben, wie die Tutti-Terte des zweiten Jahr— ganges von Neumeifters „Fünffachen Kirchenandadhten“. Hier liegt aljo der continuirliche Zujanımenhang klar zu Tage. Nicht fo evident läßt er ji machen zwiſchen Madrigal und Operndichtung. Wenn man aber bevenft, daß in der Operndidtung die madri- galijchen ‚Formen erjt dann zu allmählicher Herrſchaft ſich durch— ringen, nachdem das jelbjtändige deutſche Madrigal in Flor ge: fommen war, jo wird man fich jchwerlich überreden, daß diejes nur durch die directe Nahahmung italienifcher Opernterte be: wirft worden jei, wird vielmehr überzeugt fein, daß jo fein ge: bildete Librettiften, wie Roftel und Breffand, in nicht minderer Weiſe als Neumeifter, die Früchte der deutichen Madrigaliften zu verwerthen verftanden haben.

Es ift noch übrig zu fragen, wie fih die gleichzeitigen Mufifer dem deutihen Madrigale gegenüber verbielten. Die Blüthe der unbegleiteten mehritimmigen Madrigalcompofition war, al3 Ziegler mit jeinem Tractate bervortrat, ſchon vorüber. Doch erfuhr die Gattung immer nod einige Pflege, ging in den concertirenden Stil über und hat fogar aus dem Jahre 1705 in Antonio Xotti’3 Duetti, Terzetti e Madrigali a più voci noch ein Meifterwerk eriten Ranges aufzuweiſen. So war es natürlich, wenn manche deutiche Componiſten die poetiichen Ver: ſuche ihrer Yandsleute mit Freuden begrüßten, um jo mehr als diefe meift geiftlihe Stoffe wählten und jomit die gefügigen madrigaliihen Wortreihen auch zur Kirchenmufif jehr wohl ver-

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wandt werden konnten. Im Grunde waren es ja die Componiſten ſelbſt geweſen, die den Anſtoß zu jenen Verſuchen gegeben hatten. Ziegler jagt, er habe „zu unterfchiedenen mahlen verjtändige Componisten, auch den in der Welt gnungjam befanten, und bey Ehur-fürftliher Durchlaucht zu Sachſen mwohlgehörten und geliebten Capellmeifter Herrn Henrih Schügen u. ſ. w. felbft darüber Flagen gehört, daß fie mit den Deutfchen Poeten nicht allemahl wohl zurechte fommen fönten, weil fich alle Verſe in die composition nicht ſchickten“ Da er mit Schüg verwandt war, jo ilt es wohl nicht zu viel vermuthet, daß diefer ihm die mehr oder weniger directe Veranlafjung gab. Ueberdies ift der Zieglerſchen Schrift ein Stüd aus einem Briefe von H. Schüß an den Verfaſſer vorgedrudt, das wir feines vieljeitigen Intereſſes wegen bier folgen lafjen:

„Hochgeehrter, freundlicher vielgeliebter Herr Schwager, nah dem specimine feiner Deutſchen Madrigalien, welde er auszulafjen gefonnen ift, verlanget mich gar ſehr, und wird der Herr Schwager defjelbigen gewißlich, als der die erfte Probe ſolches generis Poöseos unter denen Deutſchen Poeten hiermit ableget, eine bejondere große Ehre haben, und möchte der Herr Schwager in feiner Worrede mit gutem beftande auch wohl an- führen, daß ob wol die Deutichen Componiſten fich bishero vielfältig bemühet hätten der heutigen neuen Poeſie jchöne Er- findungen mit guter Manier in die Mufif zu verfegen, fie fich doch allezeit darneben beflagt hätten, daß dasjenige genus Poeseos, welches fich zu Auffegung einer fünftlichen Composition am allerbeiten jchidete, nemlich der Madrigalien bißhero von ihnen nicht angegriffen, jondern zurüd geblieben were. Vnd habe ih zwar ein Werdlein von allerhand Poefie bißhero zufammen gerafpelt, was michs aber für Mühe gekoftet, ehe Ich denfelben nur in etwas eine gejtalt einer Italianiſchen Mufik geben können, weiß Jh am beiten. Vnd demnach u. j. w. Dreßden am 11. Augufti 1653.

Henrich Schütz.“

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Der legte Sa des Briefes bezieht fih, zum Theil wenigftens, auf die Opitziſchen weltliden Gedichte, die Schüß in Muſik ge- feßt hat (j. S. 40), Daß Schüb auch dieſes oder jenes Der Zieglerſchen Madrigale componirt habe, darüber ift feine Nach— riht vorhanden. Wohl aber jcheint e8 mit gewiffen Madrigalen Stodmanns gefhehen zu fein, der nit unterläßt, in feinem „Vorbericht“ zu bemerken, daß der alte Tonmeifter einige Male mit ihm correfpondirt und auf Verlangen einige Madrigale zur Kirchen: und Tafel-Mufik erhalten habe. Dankbar widmete er feiner Perſon jelbit ein jolches Gedicht):

„Auf Herrn Heinrich Schüten, Churfürſtlich Sächſiſchen

Gapell-Meifter.

Sp lange noch mein edler Schütze fingt

Und unter feinem Silber

Die Kunft in Noten bringt,

So wird Muſik und Gompojfition

Gewißlich rein verbleiben.

Die heut zu Tage fchreiben,

Die pfeifen bloß nach weltlicher Manier,

Sie füllen nur die Obren,

Was herzen foll, das gehet fait verloren,

Und foldhen fchnöden Ton

Den haſſet fein gelehrtes Kunſt-Clavier.

Nun wohl. Der edle Schwan

Erhöhe noch Muſik und Poeſie

Im höhern Chor zur Himmelsharmonie.“

Daß das Beiſpiel des hochangeſehenen Schütz Nachfolge fand, darf wohl nicht bezweifelt werden. Der herzoglich ſächſiſche Kapellmeijter zu Gotha, Georg Ludwig Agricola, ließ 1675 jelbitgedichtete Madrigale druden, die er dann vermuthlich auch componirt hat. Aber eine jelbjtändige muſikaliſche Form fonnte doch auf diefe Dichtungen nicht gegründet werben. Die Möglich: feit wäre allein auf dem Gebiete proteftantifcher Kirchenmufif gegeben gemwejen, denn die Dichtungen weltlihen Inhaltes

1) M. Ernſt Stodmanns Yob des Stabdtlebens. Nebit einem Anhang etliher Madrigalien. Jena, 1683. 8. ©. 64 f.

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fommen nit in Betradht, und die fatholiiche Kirche hatte ihre lateinifchen Meſſen und Motetten. Dort aber hatte man fich zu fehr ſchon an das Bibelwort und Kirchenlied gewöhnt; außer- dem begannen die kirchlichen Compofitionen eine Ausdehnung und innere Mannigfaltigfeit zu gewinnen, melde durch bie Koften eines einfahen Mabrigaltertes nicht mehr beftritten werben fonnten, fie erforderten auch immer ausgreifender die Hinzu- ziehung concertirender Inftrumente, was dem Stile des mufifalifchen Madrigal® doc im Grunde mwiderftrebte. Wenn die deutjchen Tonjeger an dem lutherifchen Schriftworte und an den aus dem Schoße ihrer Kirche hervorgegangenen Liedformen feit hielten, ob» gleich diefe Wortreihen fi dem Wefen einer reicher erblühenden Tonkunſt nicht immer recht fügen wollten, fo fann man das nur töblih und erfreulich finden; fo lange fie e8 thaten, bejaß ihre Muſik, wenngleich mit manderlei Mängeln behaftet, doch immer einen gejunden nationalen Kern. Die deutfchen Madrigaldichter betonten freilich ſtark die mufifalifche Verwendbarkeit ihrer Er- zeugniffe, verzichteten jedoch darauf, je in ein jo enges Verhältniß zur Tonkunft zu kommen, wie ihre italienifchen Borbilder'). Dafür hofften fie, man werde ihnen feine felbjtändige poetische Bedeutung zuerfennen, eine Hoffnung, welche die Nachwelt nicht erfüllen Eonnte. Ihre Wichtigfeit haben die deutſchen Madrigale als nothwendige Vorftufe zu den mabdrigaliihen Gantaten- und Dpern-Dihtungen, und wiederum für erftere in weit höherem Grade als für lebtere. Denn die deutfche Oper in der erften Hälfte des 18. Jahrhunderts, welche Bach nie berührte, diente für Händel nur als frühefter Ausgangspunkt und hat e8 an fi zu einer Vollendung nicht gebracht, während die Kirchencantate diejenige Form werden jollte, in der fich die Schöpferfraft Bachs am fiegreichiten offenbarte. Allerdings wurden durch das ein- dringende madrigalijche Weſen Bibelmort und Kirchenlied in der Cantate jehr beſchränkt, aber doch nicht in dem Grade, daß der

1) Stodmann, Madrigalifhe Schriftluft. 3. Aufl. S. 18.

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zehte Mann dem firchlichen Elemente nicht jeine dominirende Bedeutung hätte wahren Fönnen. Dafür gewann man das Recitativ und die dreitheilige Arie und jomit die Möglichkeit, den gejammten Reichtum damaliger Tonkunſt auch für bie Kirhenmufif zu verwenden, eine Aufgabe, der freilih nur Seb. Bad gewachſen war. Händels Ideale lagen anderswo; er hat die Gebiet nur durch feine beiden Paſſionen berührt.

Die mufikalifche Hociefät und das Convivium muficale zu Mühlhaufen

im XVII. Jahrhundert.

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» im 16. und 17. Jahrhundert fich der deutjche Bürger- ftand bei einer allgemeineren Pflege der Muſik bethätigte,

ift eine wichtige Frage, zu deren Beantwortung gleihwohl bis— ber noch wenig gejchehen iſt. Einen ſchätzbaren Beitrag hat Dr. Otto Taubert in feiner Abhandlung: „Die Pflege der Muſik in Torgau 2c.” (Torgau 1868) geliefert. Ein Seitenftüd mögen die folgenden Mittheilungen bilden, denen ein im Rathsarchiv zu Mühlhaufen befindliches Aktenmaterial zu Grunde liegt. Sie be- wegen fich freilich nur innerhalb der Grenzen des 17. Jahrhunderts; allein gerade während diejes Zeitraumes ftanden auch die mufi- kaliſchen Beitrebungen Mühlhaufens in ihrer höchiten Blüthe, jo daß zu der fünftlerifchen Thätigkeit eines Rudolf und Georg Ahle und anderer hiermit ein Stüdchen kulturhiſtoriſchen Hintergrundes gegeben wird.

Die muſikaliſche Societät, auch mufifalifches Kränzchen ge- nannt, bejtand jchon im Jahre 1617 und ift vielleicht eben damal3 gegründet, wenigjtens ftammten aus diefem Jahre die eriten Statuten derjelben. Ihre Hauptbeitandtheile bildeten die „Schulcollegen“ und die „Adjuvanten“. Unter jenen find ftreng genommen nur die Lehrer der Mühlhäufer Schule zu verftehen, doch iſt e8 nicht unmöglich, daß hier der Begriff etwas weiter zu faſſen ift. Ndjuvanten waren eigentlich diejenigen, welche den zum Singen verpflichteten Chor freiwillig und aus Liebhaberei

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unterjtügten. Die muſikaliſche Societät hatte fih alio aus und an dem Chorförper von Lehrern und Schülern gebildet, dem die Ausführung der oralen und fiquralen Muſik in der Kirche oblag, und der auch neben der Societät fortbeitand, jo daß dieje als freie Vereinigung zu Kunjtzweden erjcheint. Die Anzahl der Adjuvanten war bedeutend. Den Protejt gegen eine ſpäter zu erwähnende Revifion ihrer Statuten im Jahre 1667 unter: zeichneten 23, und aus einem Aktenſtücke vom 29. December desjelben Jahres erfahren wir, daß fich für die wiberjeglichen alten Mdjuvanten 32 neue gemeldet hatten. Obwohl zur Bor: führung mehritimmiger Gejänge Knabenſtimmen unentbehrlich waren, jo ift doh von Schülern bei den Angelegenheiten der muſikaliſchen Societät nirgends die Rede; fie gaben ihre Stimmen ber und ftanden jonit zu der Societät in feinem Verhältnifie; das ericheint jelbjtveritändlih, joll aber auch noch bejonders belegt werden.

Außerdem finden wir noch die „exteri* erwähnt, unter denen man jich jchwerlich etwas Anderes denken fann, als die mufifalifchen Mräfte, bejonders die Lehrer, der umliegenden Dorfichaften. Daß dajelbit eifrig, hier und da jogar in außer: gewöhnlid reger Weije die Muſik gepflegt wurde, dafür liegt wenigjten® aus dem Anfange des folgenden Jahrhunderts eine Reihe von Bemweifen vor. Demnach jcheint die muſikaliſche Societät den Mittelpunkt der muficirenden und mufilliebenden Perjonen aus dem ganzen Mühlhäufer Kreife gebildet zu haben, und dies jtimmt auch zu der Bedeutung, die das Anititut be jeffen haben muß.

An einer Eingabe an den Rath vom 14. November 1623 jagt die Societät von fi, daß fie „gemeiner jtadt nicht geringes (ob zumwege gebracht hatt“. Die Gelegenheiten, bei welchen jie fih hören ließ, waren aber folgende. Zunächſt muficirte fie in den Kirchen beim Gottesdienit figuraliter; der eigentliche „Singe: chor“ der Schüler wird demnad hier auf die Reſponſorien be- Ihränft geweſen jein, im Uebrigen fand er ein weites Feld feiner

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Thätigkeit im Gurrende-Singen, das in Mühlhauſen bis in die zweite Hälfte unjeres Jahrhundert3 beftanden hat. Sodann producirte ſich die Geſellſchaft bei Hochzeiten, und hieraus er- wuchs ihrem Fiscus die Haupteinnahme; vielleiht auch bei Beerdigungen, worüber ich jedoch nicht8 erwähnt finde. In einem Aktenftüde vom Jahre 1667 werben die reditus fisci folgender- maßen angegeben: 1) Ein Faß Bier aus der Cämmerey. 2) Auß der Herren KirchVäter D. Blasij Einnahme 5 fl. 3) Auß der Herren KirchVäter B. Mariae Virginis Einnahme 4s fl. 4) Die Brautmeßen Gelder, jo fi) praeter propter auf 30 fl. belauffen.

Die Einkünfte aus der „Herren KirchVäter Einnahme“ werden Remunerationen aus dem Gottesfajten für das Muftciren fein. Die Kirhen-Rehnungen zu Divi Blafii führen aus dem— jelben Jahre, und ebenjo vorher ſchon und jpäter noch, ben ftändigen Poſten von 5 Schod 5 ar. an; gr. find Hier gute Groſchen, ein Schod enthielt 20 ggr., ein Meiſſenſcher Gülden und dieſe find gemeint 21 gar. Zugleich erflärt uns ein verrätheriſcher Zuſatz dajelbit, wozu die Herren Societät3-Mit- glieder ihre Einkünfte vorzugsweije verwendeten: zum Convivio musicali.

Man würde jehr irren, wenn man dies Convivium für eine gelegentlihe Zufanmenkunft halten wollte, wo in unge- zwungener Weife den gejelligen Freuden nachgegangen wurde. Vielmehr war es eine alljährlich mit jteifer Gravität in Scene gejette Gafterei, und es jcheint, als ob fie für den Zufammen- halt der Geſellſchaft mindeftens ebenfo wichtig geweſen märe, wie die Mufif jelbit. Denn als einmal der Fortbeitand des Eonvivium in Frage geitellt war, drohte die ganze Societät aus den Fugen zu gehen, und hatte aus diefem Grunde, wie

es jcheint, eine mehr als zwanzigjährige Krifis a a si Philipp Spitte, Nufitgefhihtlihe Auffäge.

Genanntes Convivium ſtellte ſich in der That auch in ziem— lich großen Verhältniſſen dar. Es dauerte jedesmal zwei Tage, und nicht nur alle Mitglieder aus Stadt und Land werben fidh dazu vollzählig verfammelt haben, auch zahlreihe Einladungen ergingen an die Würdenträger der Stadt und andre angejehene Perſönlichkeiten. Gewöhnlich wurde es am Beninn des Jahres beim Rathswechſel gefeiert, oder auh, um Licht und Holz zu jparen, nad dem zur Sohanniszeit itattfindenden Brunnenfejte in Popperode; in den Jahren 1623 umb 1624 wurde es aus unbefannten Gründen im November gehalten. Jedesmal bejorgte eines der Gejelichaftsalieder die Ausrichtung und hieß daher hospes, oder hospes activus im Gegenjage zu den geladenen Gäſten. Die Koiten, etwa 10 Gülden, wurden urjprünglid aus dem Fiscus beftritten; war man jchledht bei Kaſſe, jo erwies der Rath ſich hülfreich. Daß es bier nun ziemlich) hoch her- gehen konnte, wird man aus dem unten mitgetheilten Aften- ftüde erjehen. Davon ift freilich nirgends die Rede, dab zur Veredlung der materiellen Genüfje die Gejellihaft an diejen Feſttagen auch muſikaliſch thätig geweſen je. Doch mag es immerhin geſchehen fein. War auch die Compofitionsthätigfeit der beiden Ahle, an die man bier zunädjit denkt, der geiftlichen Arie vorzugsweife zugemwendet, jo befißen wir doch auch Gelegen- heitäcompofitionen von ihnen, oder wiſſen von jolden. Daß überhaupt beim convivium musicale muficirt wurde, wenn aud nicht von der Geſellſchaft, ſteht jogar urkundlich jeit: Die Muſi— fanten mußten aufjpielen und wurden mit Wein traftirt für 1 Schod 12 ggr., die Schüler traten auf und fangen. So be- richten die Kirhen-Rechnungen vom Jahre 1667 und 1669. Die Schüler nehmen aljo nicht am Convivium Theil, wie in Torgau.

Später war es aufgefommen, daß zur Beitreitung der Koften für das Convivium aus dem Fiscus ſechs Thaler gegeben wurden, wie aud die Zuſchüſſe des Raths und Ertra - Zahlungen aus dem Gottesfaften regelmäßig geworden zu fein jcheinen. In den Kirchenrechnungen wiederholt fich zeitweilig mit ziemlicher

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Stetigkeit die Notiz: „Zum Convivio Musicali wegen Zulag der Herren Seniorum 1 Schod 12 ggr.“, d. h.: genannte Summe wird gezahlt, da auch der Rath zugelegt hat. Allein jelbit jo wurden die Koften nicht gededt, und den Reit mußten nun die Adjuvanten der Reihe nah tragen. Diefe aber wurden einer ſolchen Belaftung zulest überdrüffig, mochten auch ihre Rechte mehrfah gejchmälert jehen und der Ehrlichkeit in Ver— waltung des Fiscus nicht trauen, kurz fie verlangten eine Revi- fion der Statuten, und zwar: 1) dab aud die „Schulcollegen“ die reftirenden Koften des Convivium tragen jollten, 2) daß zwei fiscales ernannt würden, ein Schulcollege und ein Adjuvant, die jährlich über die Kaffenverhältnifie Rechenſchaft ablegten. Hieraus entipann ſich nun gegen Ende des Jahres 1667 ein Streit, der von beiden Seiten mit Bitterfeit geführt und dem Rathe mit Feierlichkeit vorgetragen wurde; zu Weihnachten des- jelben Jahres betheiligte fih ein Theil der Adjuvanten nicht an den Feittagsaufführungen. Erft im Jahre 1689 kam die Sache zum NAustrage; es liegt iiber fie folgende Eingabe an den Rath vor:

(S. praemittendis.)

Nachdem die Aigen Membra der Musicalischen Societät reifflich erwogen, wie das gewöhnliche Jährliche convivium leicht- li hinfallen könte, weil zeithero ettliche der Herren Adjuvanten, fo Gott zu Ehren und auß liebe der edlen Music auff denen Choris Symphoniaeis erſchienen, Sid, wegen der vermeinten vielen impensen jo fie bey fünftiger außrichtunge auffwenden müßen den Convivio entzogen; Al haben Selbige ſolchem Borwandt abzuhelffen ſolche moderation einhellig getroffen.

Erftlih joll an Speijen aller überfluß abgeichaffet fein, und nicht mehr als Jeden Tag 5 Gerichte, nebenß Käße und Kuchen, Zöpfchen oder Bregeln auffgetragen werden.

Zweytens follen die auß dem Fisco Zeithero gereichten sumtus, nemblih 8 Rthl. [diefe Steigerung war offenbar nad)

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= Bu.

Ausbruch des Streites eingetreten; früher 6 Thlr.] vermebret, und dem zufünfftigen Hospiti zwölff Reichtsthl. gegeben werben.

Drittens jollen hier zu invitiret werben

1 als Hospites [ IV. Consules 2. Censores [die Semner] 4. Kirhen Väter 4. Hospital Inspectores 2 als Membra ( 6. Ministeriales [die Geiftlichkeit) Herr Bernhard Knorre 9 Collegae Adjuvantium Coetus 2 Organoedi 6 Musici

Vierdens weil die Herren Ministeriales, welche zuvor nur Hospites gewejen, ihnen gefallen laßen das convivium auch als membra mitzuhalten [es jcheint die Vorausfegung zu Grunde zu liegen, daß wenn 12 Thlr. nicht reiten, alle Mitglieder ohne Ausnahme zur Tragung der übrigen Koften verpflichtet waren], fo joll auch auß Ahnen gleich wie auch auß den andern beyden Orden [Schulcollegen und Adjuvanten], ein Fiscalis conftituiret werden, und jo wohl zur rechnunge, als zur wahl eines neuen Hospitis gezogen werden.

Fünfftens jolte der Hospes activus wider die leges sum- tuarias handeln, jo joll Er Fünff Thaler Straff-fällig jein, da— mit allem excess möge gemwehret werben.

Sechstens, weil die Herren Cantores gejucht, daß bey vor: nehmen Brautmeßen die Herren Adjuvanten auff gejchehene invitation erjcheinen möchten, fo wollen ſich jelbige deßen nicht entjchlagen.

Zum GSiebenden wird anbey mit gebührender reverentz ge- juchet, e8 wollen Unjere hochgebietende Herren Superiores Jhnen geneigt gefallen laßen, anordnunge zuthun, daß ins Künftige dem Hospiti ettwas Hol wie Bor gejchehen zu beßer auf- rihtunge möge verehret und geführet werden.

Domini

Domini

Zum achten weile Unſere Hochzuehrende Herren Obern zu ruhiger und beßerer Sabbats-feyer einmüthiglich beſchloßen, daß ins Künftige Keine Sontags-hochzeiten mehr ſollen verſtattet, ſondern ſolche in der Woche gehalten werden, ſo wird geziemender maßen gebeten günſtige verordnunge zuthun, daß ſolche Hoch— zeiten choraliter mögen beſungen werden, und davon dem Fisco zu leichterer ertragunge der wachjenden Unkoſten ein gemißes inseriret werben.

Wie jolches gerichtet Zu conservirunge der Musicalischen Geſelſchaft, aljo wird an geneigter deferierunge nicht gezweiffelt.

Damit nun obgejegter vergleich unzerbrüchlich möge gehalten werden, jo gehet der ganten Musicalischen societät unterthänige Bitte an Einen Hoc und wol Edlen auch hochweijen Innern Rath, e3 wolle Selbiger hochgeneigt geruhen, obgejegte convival-ordnunge durch Seinehochtragende Autorität zu ratificieren und confirmiren.

Dero Wohl und Edlen Herrlichkeit Gebett und Dienft-fchuldigfte Müllhaufen den 6. Martij

Anno 1688. [Folgen 28 Unterjchriften.]

Punkt 7 und 8 fehlen in dem vom Rath beftätigten Erem- plare, wo außerdem einzelne kleine Aenderungen eingetragen find, die aber feine erhebliche Bedeutung für das Ganze haben. Uebrigens bemerkt man, daß die Mitgliederzahl Eleiner geworben war. Hiermit find die Nahrichten über die Schickſale des merf- würdigen Inſtituts zu Ende.

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Dadiana.

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1. Bad und Chriftian Friedrich Yunold.

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3- Herbit des Jahres 1717 folgte Bach einer Berufung als Gapellmeifter an den Hof bes Fürjten Leopold von Anhalt-Cöthen und iſt in diefer Stellung geblieben bis zum Frühjahr 1723. Seine Thätigfeit als Componiſt richtete er zumeift nad) den Anforderungen ein, die fein Amt an ihn ftellte. Kirchenmuſik wurde an dem Hofe reformirter Confejfion nicht gepflegt, Kammermufif dagegen um jo eifriger, als der Fürft jelbft die Tonkunſt in ungewöhnlihem Maße liebte, eine be- merfenswerthe mufitaliihe Bildung befaß und ſich auch mit der mufifalifhen Ausübung eifrig befaßt. Was nun an Kammer: mufifwerfen Bachs aus der Cöthener Periode vorliegt, ift größten- theils injtrumentaler Gattung. Bon Bocalmufif kannte man lange nur eine beglüdwünfchende an den Fürſten gerichtete Can- tate („Durchlauchtger Leopold, es finget Anhalts Welt“). Eine andere Kammercantate ift dann ans Licht gezogen worden, von der jedoch der Anfang verloren gegangen if. Es war anzu» nehmen, daß der verlorene Theil nicht mehr als einen engge- jchriebenen Foliobogen betragen hat, daß die Cantate bejtimmt war, zum Sahreswechjel im Schloſſe aufgeführt zu werben. Aus der Dichtung ließ fich jhließen, daß, fie an das gefammte anhalt:cöthenifche Fürftenhaus gerichtet geweſen ift, ſowie daß

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jie nur zwijchen den Jahren 1717 und 1721 componirt jein fann!). Es find jest die Mittel vorhanden, die Richtigfeit der Vermuthungen zu beweifen und das Jahr der Entftehung der Compoſition genau fejtzuitellen.

Chriftian Friedrich Hunold, in der Schriftitellerwelt unter dem Namen Menantes befannt, hatte von 1700 bis 1706 in Hamburg gelebt, ji) den Ruf eines gewandten, wenn aud) jchlüpfrigen Litteraten erworben und als Verfaſſer theatralijcher Dichtungen an dem Hamburger Opernmwejen thätig theilgenommen. Wegen eines zügellojen Romans mußte er Hamburg verlafjen, begab jih in jeine Heimath Thüringen zurüd und lebte von 1708 an in Halle, wo er Vorlefungen über Poeſie, jpäter auch über Rechtswiſſenſchaft hielt, dabei aber feine litterarifchen Be- jhäftigungen fortjegte. ALS gewandter Berjemacher verjorgte er Halle und Umgegend, im Bejonderen auch die mitteldeutichen Fürftenhöfe mit Gelegenheitsgedichten. Unter dieſen hat er feinen jo reichlich bedacht, wie den cötheniſchen. Es find nicht weniger als fieben Gedichte vorhanden, weldhe auf ihn Bezug nehmen ?). Bejondere, jett nicht mehr ficher zu beftinmende Verhältniffe müflen ihn bewogen haben, jeine leichte Feder jo häufig zur Ehre diefes Hofes in Bewegung zu jegen. Das frühefte it eine Gantate au dem Jahre 1713, als Bach noch in Weimar weilte, und dem 10. December, dem Geburtätage des damals noch nicht regierenden Prinzen Leopold gewidmet ?). Die übrigen ſechs fallen in die Jahre 1718 bis 1720. Eines

),% ©. Bad“ II, ©. 450 f. und 822 ff. Die Cantate ift alsdann in der Ausgabe der Bach-Geſellſchaft, Band XXIX, S. 209 ff., veröffentlicht.

2) Sie finden ſich gedrudt in „Auserleiene und theils noch nie ge— drucdte Gedichte unterfchiedener Berühmten und geſchickten Männer zuſammen getragen und nebjt jeinen eigenen an das Yicht geitellet von Menantes“. Halle 1718, 1719, 1720. Drei Bände.

2) Daß der 10. December Leopolds Geburtstag war und nicht der 2. November, wie Krauje in der Fortiegung der Bertramiſchen Gejchichte des Haufe und Yürftentbumd Anhalt (Halle 1782) angibt, erhellt aus

dem bei Menantes mehtfach mwiederfehrenden Datum, und ift nachträglich auch archivaliſch feſtgeſtellt worden.

darunter trägt die Ueberſchrift: „Glückwunſch zum neuen Jahre 1719 an das Durchlauchtigſte Haus von Anhalt-Cöthen. Im Namen anderer“ ').

Dies ift die Dichtung zu der oben erwähnten Bachſchen Kammercantate, die demnach zum Neujahrd-Tage 1719 compo— nirt und aufgeführt worden if. Wer die „anderen“ find, für die Hunold das Gedicht gemacht hat, läßt fich aus einem Gratu- lationscarmen feiner Feder jchließen, mit dem am 10. December 1719 dem Fürften Leopold „mwolten ihre Devotion bezeigen ber Capell-Meifter und jämtlihen Gammer-Musiei”?). Sicherlich waren auch bei der Neujahrs-Gantate Bach und feine Muſiker bie Befteller geweſen.

Sie jtellt fih als eine dDramatifche „Serenata“ dar. Redende Verjonen find „Die Zeit“ und „Göttliche Vorſehung“. Bad läßt erjtere Tenor, legtere Alt fingen. Zeit beginnt im Recitativ: „Die Zeit, die Tag und Jahre macht, Hat Anhalt manche Seegens- Stunden, Und igo gleich ein neues Heil gebradt. (Göttliche Vorjehung:) D edle Zeit! mit GOttes Huld verbunden. (Zeit. „Aria“:) Auf Sterblide, lajjet ein Jauchzen erthönen : Euch ſtrahlet von neuem ein göttliches Licht. Mit Gnaden be- frönet der Himmel die Zeiten; Auf Seelen, ihr müflet ein Opfer bereiten, Bezahlet dem Höchſten mit Danden die Pflicht. Auf Sterbliche, lafjet ein Jauchzen erthönen: Euch jtrahlet von neuem ein göttliches Licht.“ Am NRecitativ fährt jodann Die Zeit alfo fort: „So bald, als Dir die Sternen hold O höchſt geprieines Fürften-Thum! Bracht ich den theuren Xeopold. Zu deinem Heil, zu jeinem Ruhm, Hab ich ihn manches Jahr ge- pfleget, Und ihm ein neues beygeleget. Noch jchmüd ich diejes Götter Haus, Noch zier ich Anhalts Fürften Himmel Mit neuem Licht und Gnaden Strahlen aus; Nod weicht die Noth von diejen Grängen weit; Noch fliehet alles Mord-Getümmel;

1) A. a. O. Band II (1719, S. 2386 ff. 2) A. a. D. Band II, &. 576 ff.

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Noch blüht allhier die güldne Zeit: So preiſe denn des Höchſten Gütigkeit.“ Die Göttliche Vernunft ergreift das Wort: „Des Höchſten Lob iſt den Magneten gleich Von oben her mehr Heil an fich zu ziehen. So müfjen weife Fürften blühen; So wird ein Land vom Seegen reih. Dich hat, o Zeit, zu mehrem Wohl— ergehn Für diefes Haus der Zeiten Herr erjehn.“

Hier darf ich einhalten, denn mit der legten Zeile find wir an die Stelle gelangt, von welcher aus die Compofition ohne Unterbrehung weitergeht. Bach hat die Serenata fpäter zu einer Kirchencantate umgeftaltet („Ein Herz, das feinen Jeſum lebend weiß“)). Die Vergleihung der beiden Dichtungen er: gibt, daß der verloren gegangene Anfang der Compofition der Serenata ungefähr von demfelben Umfange gewejen fein muß, wie der des Kirchenftüds. Darnach wären außer dem Eingangs: Recitativ 144 Takte der erjten Arie in Berluft gerathen. Un- gefähr 12 Takte auf das Syſtem gerechnet, ergibt ſich, daß im Ganzen 12 Syſteme für die Arie vorhanden geweſen fein müffen. Drei Syfteme fanden bei Bachs Schreibart bequem auf einer Folioſeite Platz. Es hat aljo das verloren gegangene Stüd der Arie auf nur einem Foliobogen geitanden. Daneben blieb noch Raum für das Eingangs-Recitativ und für einen guten Theil des der Arie folgenden Recitativs, das Bach auf zwei leer ge: bliebene Notenzeilen am Fuß der Folioſeiten notirt haben wird, wie er ſolches häufig zu thun pflegte.

Am 1. Januar 1719 war das Gedicht noch ungedrudt, denn der zweite Band der Sammlung, in dem es fich befindet, erjchien erft im Laufe diefes Jahres. Bach hat alfo nah Hunolds Manufceript componirt. In diefem muß der Tert bier und da eine andere Faflung gehabt haben, als im Drud. Einige Verſchieden— beiten, welche zwifchen dem gedrudten Gedicht und dem Tert der vor etwa 10 Sahren veröffentlihten Compoſition bejtehen, find

!) Bach-Gefellichaft, Band XXVIII, Nr. 134.

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indejfen auf Irrthümer des Herausgebers zurüdzuführen, die freilich leicht entitehen fonnten, denn das Autograph ift manchmal ſchwer zu entziffern ').;

Für den 10. December 1718 hat Hunold zwei Gedichte ge- liefert. Das eine ijt eine geiftliche „Cantata; an des Durch— läuchtigſten Fürften Leopoldi, Fürſtens zu Anhalt Cöthen, ꝛc. ꝛc. Geburths-Feſte, den 10. Dec. 1718. bey gehaltenem GDttes- Dienjte” ?). Aus diejer Ueberfchrift ergibt fich, daß die Cantate componirt und aufgeführt worden if. Der Componiſt kann natürlihd nur Bach gewejen jein. Die Dihtung führt den Tert der Feitpredigt (Pſalm 119, v. 175) aus. An der Spite ſteht für den Chorus der Bibelſpruch „Lobet den Herrn, alle jeine Heerſcharen, feine Diener, die ihr feinen Willen thut“ (Pſalm 103, v. 21). Dann folgen drei Recitative und drei Arien®). Die Cantate gehört zu jenen zwifchen kirchlicher und weltlicher Mufif mitten inne ftehenden Gompofitionen, für welche nur die allgemeine Bezeichnung: religiöje oder erbauliche Mufif vorhanden it. Es ift mit ihr der Menge Bachſcher Vocalmufif ein Werk hinzugefügt, von deifen Beitehen man bisher nichts wußte. Die Compoſition jelbjt ijt verloren gegangen. Gemuthmaßt kann werden, daß Bach fie jpäter für firchliche Zwede wieder ver- werthete. Ob etwa Theile derjelben in eine der noch vorhandenen Kirchencantaten aufgegangen find, das zu beftimmen fehlt es einftweilen an Mitteln.

1) Der Herausgeber der Umgeftaltung zur Kirchencantate, der im An— hang des betreffenden Bandes auf das mweltlihe Original Rüdfiht nimmt, hat richtiger gelefen. Im NRecitativ „Bedenfe nur beglüdtes Land“ ift durd einen Schreibfehler Bachs eine finnlofe Conftruction entftanden. Es muß gelejen werden: „Schau an des Prinzen edlem Leben“ u. f. w.

2) Auserlefene und theilö nie gebrudte Gedichte ꝛc. Band II, S. 1%.

3) Hier die Anfänge derfelben: Recitativ „Mein Yeben fommt aus deiner Hand”, Aria „ch lebe Herr! mein Herz foll dich erheben“, Recit. „Was nutzte mir ein zeitlich Lebens-Gut“, Aria „Herr, laß meine Seele feben”, Recit. „Herr, dein Geriht, In dem die höchſte Weisheit fpricht, Aria „Herrſche Du felber mit Gnaden von oben“.

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Nicht mit gleicher Sicherheit läßt ſich behaupten, daß Bach auch das andere Gedicht für den 10. December 1718 componirt bat. Dies ift wieder eine weltliche Serenata, die der zum 1. Januar 1719 beitimmten auch injofern ähnelt, als bier wiederum zwei allegoriihe Berjonen eingeführt werden: die Glückſeligkeit Anhalts und die Fama!). Man mub jchließen, daß dabei zwei beitimmte Sänger ins Auge gefaßt waren, welche damals dem Köthener Hofe zur Berfügung ftanden. Hunold wird daher die Serenata wohl in der Erwartung ent- worfen haben, daß Bach fie componiren werde. Tb er dies aber neben der Compofition der religiöfen Gantate auf denielben Tag, und neben der Serenata auf den folgenden Neujahrätag wirflih ausgeführt bat er würde alödann etwa während eines Monats nicht weniger als drei Compofitionen äbnlicher Beitimmung gejegt haben it doch etwas zmeifelbaft.

Anders fteht es wiederum um die beiden noch übrigen Gantatendichtungen. Eine derjelben hat den Titel: „An das Hodhfüritl. Haus zu Anhalt Cöthen beym Eintritt des 1720. Jahres. Im Namen anderer“). Sie ift nicht dramatifirt, jondern ein gewöhnliches Singaediht, aus Arien und Kecita- tiven beitehend. Daß Bach bierzu die Mufif madte, ift um jo wahrſcheinlicher, als er fih bei dem drei Wochen vorber einfallenden Geburtstage des Fürften begnügt batte, ein ein» faches Gratulations - Carmen in Alerandrinern zu überreichen, von welchem oben jchon die Nede war. Die andere und legte Dichtung gilt wieder dem Geburtstage. Datum und Jahr find bier niht angegeben. Es kann aber nur der 10. December 1720 gemeint jein, denn am 6. Auguſt 1721 ftarb Hıumold®). Die

!) Auserlefene und theils nie aedrudte Gedichte ıc. Band II, S. 34 Fr. Anfang: „Der Himmel dacht auf Anhalts Ruhm und Glüd* (Recitativ ver Glüdfeligfeit).

2) A. a. ©. Band II (1720), ©. 6 fi. Anfang: „Dich loben die fieb- lichen Strablen der Sonne“ (Arie).

2) Geheime Nahrichten und Briefe von Herrn Menantes Leben und Schrifften. Cöln, 1731. S. 108,

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Form iſt dieſes Dial die eines Schäfergeſprächs, an welchen fich drei Perſonen: Sylvia, Phillis und Thyrſis betheiligen’). Man erfährt aus ihm, daß der Fürft im Frühjahr jchwer er: franft gewefen war; hiermit wird feine im Mai 1720 unter- nommene Reife nad) Carlsbad zufammenbängen, auf der Bad) ihn begleitete. Der Beifag „Im Namen anderer“, welcher fich auch über diefem Gedichte findet, deutet wie in früheren Fällen auf eine von der Mufifcapelle dargebrachte Huldigunga hin. Beide Compofitionen find verloren gegangen.

Die gewonnenen Ergebniffe dienen nun aud dazu, die Ent- ftehungszeit der Cantate „Durchlauchtger Leopold” zu beftimmen, welche lange Zeit als die einzige Gelegenheitsmuſik befannt war, die Bad während jeines Aufenthalts in Cöthen für den Hof geichrieben. Nachgewiejen find aus Hunolds Dichtungen während Bachs Cöthener Zeit: Geburtstagscantaten für 1718 und 1720, und für 1719 ein Geburtstagsgedidht ohne Muſik, außerdem Neu: jabrscantaten für 1719 und 1720. Die Cantate „Durchlauchtger Leopold“ ift Geburtstagsmufif; für fie bleiben alfo die Jahre 1717, 1721 und 1722 übrig. 1721 ift aber unmöglich, denn in dieſem Fahre fand am 10. December ?) die Bermählung des Fürjten ftatt, ein Ereigniß, auf das in der Gantate unfehlbar Bezug genommen wäre. Der Tert enthält Feinerlei Hindeutung hierauf, wohl aber darauf, dab der Fürſt noch nicht lange an der Regierung war, al& ihm dieje Huldigung gebracht wurde?). Und am An- fang heißt es: „Es finget Anhalts Welt von neuem mit Ber: gnügen.“ Der Fürft hatte die Negierung am 28. December 1715 angetreten. Seinen eriten Geburtstag als Regent feierte er aljo 1716, „von neuem”, d. b. zum zweiten Male beging er ihn als folder 1717. Auf den 10. December diejes Jahres fällt alio die Kantate; fie ift Bachs erite derartige Compofition

1) A. a. D. Band III, ©. 580 ff. Anfang: „Heut ift gewiß ein quter Tag” (Recit. der Sylvia).

2) Dver 11. December; die Angaben variiren hierüber.

2) „Daß er werde Anhalt Yande Setzen in beglüdten Stande.“

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in Cöthen und von ihm gleich nach ſeinem Amtsantritte ge— ſchaffen. Unmittelbar nach der Aufführung muß er dann nach Leipzig abgereiſt ſein, wo er am 16. December in der Univerſitäts— kirche zu thun hatte!).

Wir find noch nicht am Ende. Unter Bachs Kammercantaten führt eine den Titel „Von der Vergnügjamfeit“ ?). Sie iſt für Solofopran gejegt und jehr umfangreih, enthält nicht weniger als vier Arien mit ebenjo vielen Recitativen. Einem beitimmten Zwede dient fie nicht, ift aber dennoch mit ganz befonderer Hin- gabe gearbeitet. Hunold veröffentlichte 1713 eine Gedichtfammlung „Menantes Academische Neben - Stunden allerhand neuer Gedichte, Nebit Einer Anleitung zur vernünftigen Poefie”. In ihr begegnet man auf ©. 62 ff. dem Tert zu einer Kammer— cantate, betitelt „Von der Zufriedenheit“ und es ergibt ſich, daß dieſer in dem von Bach componirten Terte enthalten it. Letzterer beginnt mit einem längeren Recitativ, das zu Hunolds Dichtung nicht gehört, aber doch von diefem herrührt: es findet jich in derjelben Sanımlung auf S. 40: „Der vergnügte Menſch“, und bildet da ein Ganzes für fih. Dann folgt der auf ©. 62 fi. fiehende Tert, dody mit Uebergehung der zwei madrigalijchen Zeilen, die als poetifches Thema an der Spitze der Dichtung jtehen. Nachdem die Dichtung vollftändig dDurdhcomponirt worden ift (drei Arien und zwei recitativifche Zwiſchenſtücke), hat Bach troßdem nod mehr zu jagen. Es folgen num jene zwei madri— galiſchen Zeilen, und dann weitere Betrachtungen in Strophen: form, erſt recitativifch, dann zu arioſem Gefang fich feitigend. Sie finden fih in Hunolds Gedichten nicht. Ebenjomwenig die Verſe, welche den Tert der Schlußarie abgeben.

Bon Hunold jelbit kann die Compilation nicht gemacht jein. Der als Eingangsrecitativ von Bach benuste Tert bejteht aus Alerandrinern und ift vom Dichter zu mufifaliicher Behandlung

1) „I: ©. Bad“ I, S. 621. Die Cantate ift jept veröffentlicht B.:G. XXXIV, ©. 3 ff. 2) Veröffentliht B.-G. XI?, €. 105 ff.

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gar nicht bejtimmt geweſen. Dur die Verbindung, in die er mit der eigentlichen Cantatendichtung Hunolds gebradt wird, verdunfelt er die Bedeutung der legteren, melde in hübſcher Weife aus den nunmehr von ihrem Plage verdrängten zwei Zeilen „Ein edler Menſch ift Berlenmufcheln gleih, In jih am meiften reich” entwidelt worden ift. Die ftrophifchen Betradhtungen aber des legten Necitativs und Ariofos der Compofition find dermaßen ungeſchickt abgefaßt, daß fie wohl von einem Anfänger oder Dilettanten, niemal3 aber von dem gewandten und jchul- gerechten Hunold herrühren können.

Darnach ift auch fein Grund anzunehmen, daß die Compo- fition noch zu Hunolds Lebzeiten entjtanden fein müffe. Leber: dies weiſen ſchon die großen, reich entwidelten Formen der Mufif auf eine jpätere Zeit hin, und die Schriftzüge des Auto- graph desgleichen!).

Verhält fich diejes aber jo, dann liegt am Tage, daß Bad für Hunolds Gedichte ein perjönliches Interefje gehabt haben muß, und fie nicht nur bei äußerlich gebotener Gelegenheit componirte,

ı) Im dritten Recitativ ift zu lefen „Eh' ein Ergesen“ (oder „Ber- gnügen“, wie Bach componirt) und vorher mit einem Comma zu inter- pungiren. Am Schluß bed zweiten Recitativs ift eine Sinnlofigfeit ent- jtanden, an welder Bad allein Schuld jein dürfte. Die Stelle lautet bei Hunold: „Geld, Wolluft, Ehre find nicht fehr In dem Beſitzthum zu be- traten, Denn tugendhafft fie zu veradhten, it unvergleichlich mehr“.

Im erften Recitativ muß es heißen „Ein Narr rührt jeine Scellen, nicht „rühmt“. Ferner hat die drittlette Zeile in der Compofition eine ganz andere Fafjung, als in dem gedrudten Gedichte; hier lautet fie: „Die Demuth liebt mich felbft; wer es jo weit kann bringen“ u. f. w., dort: Ich fürdte feine Noth, frag nichts nach eitlen Dingen”. In diefer Aende— rung erfenne ich das Beftreben, einen Zuſammenhang mit der bei Hunold felbftändig daftehenden Gantatendichtung herauftellen. Freilich ift num ein Fehler in der Satconftruction entitanden. 2

Am dritten Recitativ find nad den Worten „gen Himmel fein Geficht gewandt“ zwei Zeilen hinzugefügt, welche diefen Gedanken weiter verfolgen. Das ift echt Bachiſch, wahricheinlich hat er alſo felbft die Zurichtung des gefammten Terted übernommen. Nachmweislih hat er dergleichen auch bei anderen Gelegenheiten gethan.

Philipp Epitta, Mufifgeihichtliche Auffäge, 7

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ſondern aus eigener Bewegung auch in ſpäteren Tagen noch in die Hand nahm. Und dies ſcheint auf den erſten Blick merkwürdig genug, denn verſchiedenere Naturen konnte es nicht leicht geben.

Wenn man nur die eine und andere von Hunolds Hamburger Schriften lieſt, ſo empfängt man ein abſtoßendes Bild des Mannes. Die Züge verändern ſich aber, wenn man zur Vor— ſtellung eines Geſammtbildes vordringt. Hunold war dennoch ein Menſch von nicht gewöhnlicher Begabung, deſſen Weſen auch des Ernſtes und einer gewiſſen ſittlichen Kraft nicht ermangelte. Nachdem er als zwanzigjähriger Jüngling tief in das liederliche Treiben der galanten Welt Hamburgs bineingerathen war, be: ſann er ſich jpäter auf jein beſſeres Ich, bereute freimüthig jeine Ausichweifungen, wurde gejegt und arbeitiam. Er ift eine von den phantaftiichen Naturen jener Zeit, die aus Rohheit und Talent, leichtfertiger Sinnlichkeit und religiöjem Ernit, Bosheit und Gutmütbigfeit bunt zufammengejegt ericheinen. Er ähnelt Günther, wenn er auch an Begabung diejem weit nachitebt. Außerdem nahm man damals mande Dinge leichter, die einem jpäteren, jtrenger denkenden Gefchlechte unerträglich jcheinen. Der ernithafte, bürgerlich jolide Burchardt Menke fonnte an Günthers Bearbeitung eines ſchamloſen Gedichtes des Johannes Secundus MWohlgefallen finden und dieſes jogar öffentlich ausiprechen. Es iit fein Grund vorhanden, Bad) in diejer Beziehung einen empfind- liheren Gefhmad zuzutrauen. Unter ſolchen Umftänden war das Entjcheidende folgendes. Hunold hat zuweilen artige Einfälle ; aber aud) da, wo ihn jeine Bhantafie gänzlich im Stich läßt, wo jeine Gedanken in der platten Proſa fortkriechen, bleibt jeine Ausdrucks— weije immer muſikaliſch. Weniger in dem Sinne, daß fie ſchon jelbft Melodie enthalte, jondern jo, daß fie fich jofort in Muſik auflöfte, jowie diefe mit ihr in Berührung fam. Hunold war jelbft jehr mufifaliich, und befonders im Spiel der Violine und der Gambe wohl geübt). Als Verfaſſer von Operndichtungen, im Verkehr mit Reinhard Keijer und den Hamburgifchen Sängern hatte er Ge

1) Geheime Nachrichten ©. 3.

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legenheit genug gehabt, die Erforderniſſe eines guten Muſiktertes praftiich zu erlernen. In theoretiichen Schriften hat er dieſe fih und anderen klar zu machen gefuht. Es it nicht ander®: die Poeſie befand fi damals im Schlepptau der Muſik. Nicht nur in größeren formen, ſondern jelbit in der Eleinjten, im Liede, beftand dieje Abhängigkeit. Und jo jehr ift fie Charafter- merkmal der Zeit, daß die deutiche Dichtung am Ausgang des 17. und Anfang des 18. Jahrhundert3 nur vom Grunde der Mufitgeichichte aus völlig begriffen werden kann. Um die Poefie endlich aus den Banden der Muſik zu befreien, beburfte es einer gründlich unmuſikaliſchen Perſon, deren Obren taub auch gegen die ſüßeſten Sirenentöne waren. Gottſched war eine jolche, und unter jeinen Berdieniten um das Gedeihen einer jelbitändigen deutjchen Poeſie iſt dieſe negative Eigenjchaft keins der geringiten, daß er gegen den in der Verbindung von Tonkunft und Dicht— funjt liegenden Reiz ganz unempfindlich war.

Bachs und Hunolds Bekanntſchaft kann jehr früh ftattge- funden haben. Vielleicht traten fie einander jchon in Hamburg perjönlic) nahe, wohin Bad zwiſchen 1700 und 1703 von Lüne- burg aus zuweilen fam. Hunold war in Wandersleben bei Arnftadt geboren, fie waren alſo Yandsleute, die damals in der Fremde noch eifriger tradhteten, ſich zu finden, als jest. 1707 hielt er jih eine Weile in Arnſtadt auf!) umd fünnte auch an diefem Orte Bach noch getroffen haben, der im Sommer des Jahres von hier nah Mühlhauſen zog. Der Verkehr konnte dann in Halle fortgejegt werden, das Bad) von Weimar aus mehrere Male befuhte. Doc) das find nur Möglichkeiten. Sicher ift, daß während der Cöthener Zeit ein lebhafter Verkehr zwiſchen ihnen beftand. Dieje Thatſache ift geeignet, noch zwei Ereignifle aus Bachs Leben jchärfer zu beleuchten. Bach war im Herbſt 1719 in Halle. Er joll Händel dort haben aufjuchen wollen, der aber an dem Tage vor Bachs Ankunft abgereift, und fo gewiflermaßen feinem großen Zeitgenofjen ausgewichen jei. Ich habe ſchon an anderer

1) Geheime Nachrichten S. 108. *

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Stelle gejagt, daß Bach die Gewohnheit hatte, im Herbſt Kunit- reijen zu unternehmen, und daß er bei Gelegenheit einer jolchen 1719 dur Halle gefommen jein wird. Wenn er nur Händels Bekanntſchaft dort machen wollte, jo fonnte dies auch zu einer anderen Zeit gejchehen, denn Händel hielt fih im Sommer 1719 monatelang in Halle auf!). Jet wiſſen wir, daß Bach damals etwas Bejonderes in Halle zu thun hatte: er wollte das Gratu- lations:Carmen der Cöthener Mufifcapelle für den 10. Dezember und den Cantatentert für den 1. Sanuar bei Hunold beitellen. Das zweite Ereigniß ift die Hamburger Reife von 1720. Sie hätte beinahe zur Folge gehabt, daß Bach als Organift der Jacobi⸗Kirche in Hamburg geblieben wäre, doc) ließ der Kirchen- vorstand es zu, daß ein unbebeutendes Subject, Namens Heit: mann, ſich die Stelle für 4000 Marf erfaufte. Neumeijter, da: mals Hauptpajtor an St. Jacobi, war über den jfandalöfen Borgang in heller Entrüftung und rügte ihn öffentlih von der Kanzel’). Bon perfönlichen Beziehungen desjelben zu Bad war bisher nichts befannt. Neumeifter war aber ein Freund Hunolds, jein Lehrer in der Poetik und Vorbild im madrigalifchen Singgediht?). ES kann nun feinem Zweifel mehr unterliegen, daß Bad in Hamburg mit Neumeifter in perfönlichen Berfehr trat, und gerade diejer des Künſtlers Berufung aufs eifrigite wünſchte und betrieb. Beide Männer gehören in der Kunſt— gejhichte eng zufammen, für Die auch Neumeifters Bedeutung eine große ift, denn er erfand die madrigalifche Kirchencantate. Bon feinen Dichtungen dieſer Art hatte Bach ſchon einige in Muſik gejegt, bevor fie in Hamburg zufammenfamen.

1) ,J. S. Bad“ I, ©. 621.

2) A. a. O. ©. 630 ff.

2) Geheime Nachrichten S. 100. Menantes, Galante, Berliebte und

Satyriſche Gedichte. Hamburg, 1704. Borrede. Derfelbe, Die Aller: neuefte Art, zur Neinen und Galanten Poesie zu gelangen. Hamburg.

1707. Borrede.

2. Die Arie „Ad, mein Sinn‘ aus der Iohannes-Paffion.

«

Elf Arien find es, welche Bad im gefammten für die Johannes-Paſſion componirt bat, wenn man nämlich an zwei Stellen ein Arioſo mit der nachfolgenden Arie als Eins zufammen- faßt. Als er dem Werf die erjte Geftalt gab, was wahrjcheinlich nod in Cöthen, in den eriten Monaten des Jahres 1723, ge- ſchehen ift, jtattete er eg mit neun Arien aus; ich lafje fie bier in der Ordnung aufziehen. wie fie in der Paſſion nach einander ericheinen.

1. Bon den Striden meiner Sünden (Alt).

2. Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten

(Sopran).

. Himmel reiße, Welt erbebe (Bab mit Sopran-Ehoral).

. Zerjchmettert mich, ihr Felien und ihr Hügel (Tenor).

. Ad windet euch nicht jo, geplagte Seelen (Tenor).

. Eilt, ihr angefochtnen Seelen (Baß mit Chor).

. E8 iſt vollbracht (Alt).

. Mein theurer Heiland, lab dich fragen (Baß mit Chor— Choral).

. Mein Herz! indem die ganze Welt (Tenor:Ariofo) und: Berfließe, mein Herze (Sopran-Arie).

Da Bah fih nicht im Befige einer Paffionsdichtung be— fand, die feinen Abfichten ganz entſprach, auch feine Zeit mehr gehabt zu haben jcheint, fich eine ſolche zu verfchaffen, entlehnte

mn SD Ti

co

er zu vier der obigen Arien die Texte aus der Paſſionsdichtung von Brockes (Hamburg 1712). Er that damit nichts, was nicht in feiner Zeit auch andere thaten; übrigens ſcheint er die Terte eigenhändig umgeändert zu haben. Sie gehören zu 1,6, 8 und 9. Wie er zu den übrigen fünfen gekommen ift, bat fich bis jegt nicht ermitteln laffen. ch habe an anderm Orte!) die Ber: muthung zu begründen verfuht, daß er fie jelbit zufammen- geitellt habe. ; Nun unterwarf er aber nah einigen Jahren die Johannes: Paſſion einer durdhgreifenden Umarbeitung, die auch den Be- ftand der Arien antaftete. 3, 4 und 5 des vorftehenden Ver: zeichnifjes wurden einfach entfernt. Der Plag, wo 3 geitanden batte (hinter dem Choral S. 31 der Ausgabe der B.G.) blieb un- ausgefüllt. An die Stelle von 5 trat ein Baß-Arioſo „Betradhte, meine Seel“ und eine Tenor:Arie „Erwäge“; zu beiden Stüden entnahm Bach die Worte wieder aus Brodes’ Gedicht. 4 end- fih wurde durch die Arie „Ah, mein Sinn“ erfegt. Als ich den zweiten Band des „J. ©. Bach“ fchrieb, war ich noch nicht im Stande, den Verfaffer des Tertes nachzuweisen, deilen fich Bad) zu diefer Arie bedient hat. Inzwiſchen ift e8 mir gelungen, ihn zu finden. Zunächft aber möge der Tert jelbft bier ftehen.

Ad, mein Sinn, wo mwillt du endlich hin, Wo ſoll ich mich erquiden?

Bleib ich bier? Oder wünſch ich mir Berg und Hügel auf den Rüden?

Bei der Welt ift gar fein Rath,

Und im Herzen stehn die Schmerzen Meiner Miffethat,

Weil der Knecht den Herrn verleugnet hat.

Chriftian Weife (1642—1708), der bekannte Zittauer Scdulreftor, ließ im Jahre 1675 zu Leipzig erjcheinen „Der Grünen Jugend Nothwendige Gedanken... . - Zu gebührender Nachfolge, jo wol in gebundenen als ungebundenen Reden, allen euriöfen Gemüthern recommendirt“; eine Anleitung zur

1),3 S. Bad“ II, S. 3W f.

193

Dicht: und Rede-Kunſt mit Beifpielen. S. 350 ff. handelt er von den Madrigalen und von den madrigaliichen Oden; mit diefem legteren Namen bezeichnet er ſtrophiſche Gedichte, im denen aber die Strophe madrigaliiden Bau hat. Solche Dden, jagt er, jeien vorzugsmeife der Muſik wegen in Aufnahme gefommen. Namentlih wenn es fih darum handle, einer „Arie [d. b. einem nftrumentaljtüd in Lied- oder Tanzform], Alemande, Courante u. d. g.“ einen Tert unterzulegen, könne man jene Art nicht wohl entbehren, denn die Tertzeilen müßten fich nad) der Länge der muſikaliſchen Perioden richten, die bald groß, bald Hein jeien. Der ungezwungene Wechſel zwijchen längeren und fürzeren Zeilen war eben ein Merkmal des Madrigals. „Sch will ein Erempel geben“, fährt Weife fort, „auff die be: wegliche Intrade Herrn Sebastian Knüpfers, meines ſonder— baren und hochgehaltenen Freundes:

er

Nun folgt ein Gedicht, das ich, obgleich ung zunächſt nur deſſen erfte Strophe angeht, dennoch ganz hier mittheilen muß, um jeinen Gejammtinhalt Elar zu maden.

„Der weinende Petrus.

L.

Ad mein Sinn, wo denkſtu weiter hin? Wo fol ih mich erguiden ? Bleib ich hier? oder wünſch ich mir Berg und Hügel auf den Rüden? Außen find ich feinen Rath, Und im Hertzen find die Schmerken Meiner Miffethat, Daß der Knecht den Herren gank verleugnet hat.

2.

Ah wie find wir Menfchen ſchwach und blind! Wir trogen im Gelüde:

104

Doch ſo bald ein Gewitter knallt,

Weicht der Helden-Muth zurücke.

Geſtern war ich unverzagt,

Und ich hätte bei der Kette

Leib und Blut gewagt:

Aber nun erſchreckt mich eine ſchwache Magd.

3.

Iſt er nicht der Völker Zuverſicht, Der Weg, das Heil, das Leben? Und ih wil nicht einmahl jo viel Ihm zur Dienftbarkeit ergeben ? Seine Madt ift ewig groß, Und fein Leiden hilft zu Freuden An des Batern Schoß: Und ich gebe mich von feinem Dienfte lo.

4.

Aber doch mein Jeſus lebet noch, Der fan mich nicht erdrüden, Und er wird als ein frommer Hirt Auf fein armes Schäfgen bliden: Wird mir gleih der Sünden-Hahn Im Gewiſſen frehen müflen, Ah fo ſieht mid an, Der mit einem Blide wieder helffen Fan.

5.

Ad mein Hort, ad tritt an meinen Ort Und bilff mir treulich kämpfen, Oder laß diefes Thränen:Mak Dein erhigtes Feuer dämpfen, Nim das ſchwache Löfe-Geld Und erfreue meine Reue, Eh die ganke Welt Über mir und meiner Schuld zufammen fält.*

Sebaitian Knüpfer, einer der würdigften Vorgänger Bachs im Xeipziger Thomascantorat, bekleidete diejes Amt von 1657 bis zu feinem Tode 1676. Weiſe jagt, er habe die Form vor: ftehender madrigaliiher Ode zum zweiten Male angewendet für

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eine Nachtmuſik am 7. Juli 1673; alſo muß fie jelbit vor diefem Datum gedbichtet jein. Sie wird wohl in die Zeit vor 1668 fallen, da er in diefem Jahre Leipzig verließ, um bald darauf (1670) eine Zehrerftelle am Augufteum in Weißenfels anzutreten. Jedenfalls ſtammt die Freundſchaft mit Anüpfer aus der Zeit jeiner Leipziger Studenten: und Magifter-Jahre. Sein Sim für Mufit hat ihn auch jpäter noch mehreren hervorragenden Mufifern nahe gebracht. Johann Krieger, gleichzeitig mit ihm in Zittau wirfend, ſetzte auf Dichtungen von Weiſe feine „Muſikaliſchen Ergeglichkeiten" und ließ ſich auch als Kirchen— componift von jeiner Verskunſt unterftügen; mit dem älteren Bruder, Johann Philipp Krieger in Weißenfeß, war Reife gleichfalls befannt!). Die Antrade nun von Knüpfers Com- pofition, der Weife jeine madrigalifche Ode unterlegte, und deren Anfang er in Noten mittheilt?), muß ein tanzartige® Stück ge- weſen fein. Weil fie „beweglich“ genannt und mit einem geiſt— lihen Terte verbunden wird, dächte mander vielleicht lieber an eine Inſtrumental-Einleitung zu einer Kirchenmufil. Aber eine folhe heißt in jener Zeit allgemein Sonate oder Sinfonie, und außerdem ſpricht Weife vorher ausdrüdlich von Allemanden und Couranten. Tänze für Gejang einrichten, war durd) das ganze 17. Jahrhundert in Deutfchland beliebt; freilich war dies immer noch etwas anderes, als das von 1700 an in Frankreich graffirende Parodiren von nitrumentalftüden, das denn auch in Deutſchland jeinen Widerhall fand. Wie gewandt Weife jolche Aufgaben zu löjen wußte, hat er auch in andern Fällen bewiejen®). Knüpfers Intrade denft man fi am fchidlichiten als Einleitungsftüd einer Folge von Tänzen.

1) Chriſtian Weiſens Curiöfe Gedanden von Deutichen Verfen. Leipzig, 1702. &. 449 und 332.

2) Ich bemerke, daß in der Auflage von 1690 dies mufifaliihe Eitat fortgelafjen ift.

°) Man ſehe Curiöfe Gedanken von Deutichen Verſen. &. 122 und 123.

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Daß die erite Strophe von Weiſe's Gedicht der Tert zu der Arie der Johannes Paſſion ift, hat der Leer geiehen. Die Abweihungen des letzteren, welche die Bergleihung ergibt, machen die Annahme unmöglich, dab Bach unmittelbar aus dem Buche Weiſe's geichöpft haben könne. Faſt ausnahınslos find diefe Abweichungen Berjchlechterungen, und wir haben feinen Grund zu dem Berdadte, daß Bad) jeine Vorlage behufs muſikaliſcher Benutzung muthwillig entitellt haben ſollte. Knüpfer war einer jeiner Amtsvorgänger. Wenn wir erwägen, wie pietätvoll fih Bad geaenüber Kuhnau verhielt, wie er mander- lei aus feinen Werfen für fih entnahm, in Aeußerlichkeiten ihn jogar nachahmte, jo liegt der Gedanfe nicht fern, daß Knüpfers Intrade mit Weiſe's Tert, die er vielleicht im Notenſchatz der Thomasichule fand, feine Theilnahme anlodte, und ihn veran- laßte, wenigitens ein Stüd der Dichtung für feine Zwede ge legentlich neu zu verwenden. Der verderbte Tert müßte dann jchen in dieſer Vorlage geitanden haben; vielleicht war fie durch mehr: fache Abjchriften verfälicht, oder auch theilweiſe ſchwer leſerlich.

Ein Meiſterſtück des Stils ift die Strophe jelbft in ihrer Driginalgeftalt nit. In Zeile 2 und 3 jpielt der Dichter auf das Bibelmort an „Dann werden fie anfangen zu jagen zu den Bergen: Fallet über uns! und zu den Hügeln: Dedet uns“ (Zucas 23, 30). Zu dem Gedanken bildet die Frage: Bleib ich hier? nicht den richtigen, oder doch nicht den richlig ausge— prägten Gegenjag. Im übrigen iſt jedoch alles forreft und klar. Der erite Gewinn, den wir aus der Vergleichung des Originals mit der Bachſchen Tertform ziehen, ilt der, daß wir angeleitet werden, den Wortfinn der legteren zu verfiehen. Dieje An- leitung ift jehr erwünjcht; ich befenne, daß ich vordem den Tert nahezu als Galimathias angejehen habe.

Weife überichreibt das Gediht „Der mweinende Petrus“, legt es alfo einer beitimmten Perſon in einer beftimmten Yage in den Mund. Hat fich Bach des Dichters Auffaffung ange eignet? ES jpricht einiges dagegen. Zunächſt die Beichaffenheit

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der älteren Arie, die anfänglich an diefer Stelle ftand, infofern wir in ihr eine erbauliche Betrachtung des frommen Chriften vor uns haben, die an die Verleugnung des Petrus angefnüpft wird; daß fie diejes ift, geht klar aus der ermahnenden Schluf- zeile hervor. Die biblifhe Handlung mit all ihren hervor- tretenden Momenten zu dem Empfinden der chriftlichen Gemeinde jofort in unmittelbare Beziehung zu ſetzen, ift ja überhaupt eine Stileigenthümlichteit der Paſſion; an demjelben Punkte der Handlung tritt befanntlich in der Matthäus-Paſſion der herrliche Bußgefang „Erbarme dih* ein. Auch fallen einige Tert- änderungen auf. Die Wendung: „Bei der Welt ift gar fein Rath“, ftatt „Außen find ich feinen Rath“, ſcheint die pietiftifche Anſchauung des Gegenjages wieberzuipiegeln, der zwijchen der „Welt“ und dem allein Friede bringenden Leben in Chriſto be- fteht, eine Anſchauung, welde Petrus in jener Situation nicht haben konnte. „Weil“ ftatt „daß“ am Anfang der legten Zeile fönnte andeuten follen, daß bei der Boritellung von dem Fehl— tritt des Petrus das Bewußtfein der eigenen Sündhaftigfeit im Ehriften ſich jtärfer geltend macht. Aber dieſe Deutungäverjuche find doch nur möglich, jo lange man jede der Stellen für fid) und außer dem Zuſammenhange betradtet. Zu dem Sinn des Ganzen ftehen fie in Widerſpruch. Grade daraus entitand zu- meift die Unverftändlichfeit des Tertes, daß man, wie die madri- galiſchen Stüde in den Baflionen nun einmal eingefügt und wie fie ftilifirt zu werden pflegten, zunächſt von der Auffaffung ausgehen mußte, man habe es auch hier mit einer allgemeinen erbaulichen Betrahtung zu thun. Nimmt man dagegen die Arie als eine Aeußerung des reuigen ‘Petrus, jo bejeitigt man dadurch freilih nicht einzelne unklare und ungeſchickte Ausdrüde: das Ganze aber wird nunmehr voll verjtändlich und gewinnt einen erhöhten charakteriftiichen Reiz.

Es verdient Beachtung, daß der Choral, welcher der Arie folgt und den eriten Theil der Johannes-Paſſion abſchließt, auf die Perſon des Petrus, jeine Verleugnung und feine Reue

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directen Bezug nimmt, und erit mit der fünften Zeile die Nutz— anwendung auf den Ehriften madt. In der Johannes: wie in der Matthäus: Baffion pflegen die Choräle nur auf Bibelwort zu folgen, nicht auf mabdrigalifhe Dichtung. Daß am Schluß der Johannes: PBafjion dem madrigaliichen Chore noch ein Choral- or angefügt it, kann nicht in Betracht fommen; e3 beruht auf einem alten Brauche, von dem Bad nicht abweichen wollte (%. ©. Bad II, ©. 359). In der Matthäus-Pajlion folgt nur einmal ein Choral auf ein madrigaliſches Stüd, merfwürdiger: weife an derjelben Stelle, wo e8 auch in der Johannes-Paſſion geichieht: nach Petri Verleugnung. Dort löſt fi das zerfnirjchte leben der Altarie Schön in die milde, trojtvolle Fafjung des Choral auf. Daß Bah, wenn er fchon einmal von feinem Grundſatze betreffs Einfügung der Choräle abwich, einen folchen inneren Zuſammenhang und Fortgang für unerläßlid) hielt, darf man als ficher annehmen. Davon war nun zwifchen der älteren Arie „Zerjchmettert mi, ihr Felfen und ihr Hügel“ und dem Chorale „Petrus, der nicht denkt zurüd” feine Spur vorhanden, und dieje innere Zufammenhangslofigfeit war unzweifelhaft der Grund, warum Bach die Arie entfernte. Nicht einen Ausbrud der Verzweiflung erwartet man hier zu hören, als Petrus bitterlich weinend hinausgegangen ift, fondern den Ausdrud eines tiefen, aber in Reue ſchon gelöften und gelinderten Schmerzes. Dieje Empfindung, welche auch das ganze Gedicht Weiſe's zur Darftellung zu bringen ſucht, hat Bach mit der Kraft jeines Genius der neuen Arie eingehaudt. Um aber bei ver ausnahmsmeilen Verbindung von Madrigal und Choral den pſychologiſchen Zufammenhang möglichſt eng zu maden, Fonnte er gar fein willflommeneres Mittel finden, als dasjenige, welches das Gedicht ſchon darbot : die Berfonification. Von der Schwäde und Neue des Petrus hat der Evangelift eben erzählt; jo an- gekündigt tritt gleihfam Petrus jelber vor uns bin; ſchließlich faßt der Choral jein Thun noch einmal zufammen und jchließt mit einer erbaulihen Wendung und Gebet.

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Die muſikaliſche Form der Arie „Ach, mein Sinn“ ift eine ganz bejondere. Im Grunde finden wir die typifche Dreitheilig: feit. Aber dieſe ift durch eine andre Formidee überfleidet, die fih am ftärfften bemerkbar macht an derjenigen Stelle, wo der dritte Theil fich dem zweiten anfügt. Man fönnte jagen, daß die Idee der Ciacona-Form mit der dee der dreitheiligen Arienform bier einen Bund eingegangen ift, nur dab das Ciacona-Thema font ſich auf vier bis acht Takte zu befchränfen pflegt, und auch lieber in die Unter: oder Mittelftimmen gelegt wird. In unferer Arie wird es durd das jechzehntaftige Nitornell dargejtellt: ihr Verlauf befteht eigentlid nur darin, daß diejer Abjchnitt fich immer von neuem wiederholt: von Takt 17 in Fis-moll, Taft 32 in Cis-moll, Takt 52 in E-dur, Taft 63 in H-moll, Takt 74 in Fis-moll. Die Wiederholungen find zwar nicht immer ganz vollftändig und kontinuirlich, da die gleichzeitige Rückſicht auf die dreitheilige Arienform dies verbot. Aber fie fallen doch Elar genug ins mufifalifche Bewußtfein, um hier die Vorjtellung einer Empfindung hervorzurufen, die an einen einzigen Gegenitand wie fejtgebannt iſt. Man darf wohl fragen, ob Bad auf ein ſolches Tonbild gekommen wäre, wenn ihm nicht die Perſon des Petrus vorgejchwebt hätte, in deſſen Seele zur Stunde nichts andres Raum hat, als der eine jchmerz- lihe Gedanke an feine Verleugnung Chrifti.

Nah all diefem werden wir über die Abſicht des Com- ponijten nicht im Zweifel fein. Freilich wird nun auch die Er- wägung unabweisbar, ob das, was er beabfichtigte, mit dem Stile einer Baffionsmufif vereinbar ift. Aber von einer wirklichen Dramatifirung die allerdings in einer Kirchencompofition uns ftatthaft wäre hält fih Bad) doch weit genug entfernt. Ein äußeres Merkmal dafür ift fchon der Umstand, daß Petrus, wenn er in der biblifhen Erzählung redend eingeführt wird, Baß fingt, während unfere Arie für eine Tenorftimme gejegt if. Gewiſſe dramatiihe Manieren, die den deutjch-proteflantifchen Componiften durch das italienifche Oratorium vermittelt worden

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waren, haben auch anderweitig in der Johannes-Paſſion, ja jelbit in der Matthäus-Paſſion ihre Spuren zurüd gelaſſen, ohne die Einheitlichfeit des Stild empfindlich zu jchädigen. Im innerften Grunde bleibt man darüber doch nicht im Unklaren, daß in der Arie „Ah, mein Sinn“ hinter der Empfindungs- äußerung des Petrus das Empfinden der evangelifchen Gemeinde jteht. Nur daß diejes in den andern madrigaliichen Stüden un- mittelbar, bier aber durch eine Zwiſchenperſon vermittelt zum Ausdrud fommt, ift nicht unbedenklich. Der Standpunkt, den der Hörer jonft einnimmt, muß diejer Arie gegenüber verfchoben, fo zu jagen weiter zurüd verlegt werden. Dadurch tritt die Arie, es iſt nicht zu leugnen, um ein weniges aus dem Kreiſe der andern madrigaliichen Stüde heraus. Aber um den Preis einer Compofition von jo eigenartiger Schönheit werden wir uns die Kleine Störung jchon gefallen lafjen.

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KukkkkrkkkkN:!

3. Umarbeitungen fremder Originale.

Es ift jeit längerer Zeit befannt, daß Bad feine Sonaten für Solo-Bioline theilweije für Clavier umgearbeitet hat. Außer dieſen Umarbeitungen eigner Originale finden fi unter jeinen Glaviercompofitionen auch drei Sonaten, deren eine (D-dur) ih auffällig an Kuhnau's Stil anlehnt und deshalb von mir unter Bachs frühelte Jugendwerke verjegt worden ift. Die andern beiden (A-moll und C-dur) habe ih den Compojttionen der Göthener Periode eingereibt, theild aus Gründen der Gruppirung, theils weil die hohe Meifterfchaft der Technik die Entſtehung in diejem Zeitraume wahricheinlid machte, obgleih ein Theil der C-dur-Sonate noch Züge der weimariſchen Schreibweije zu ver: rathen jchien'). Autographe liegen nicht vor. Wir find auf zwei Handſchriften Johann Peter Kellner, ein GClavierbud aus dem Nachlajje von Johann Ludwig Krebs und eine Handjchrift unbefannten Urjprungs angewiefen, nach denen F. A. Roitzſch die Sonaten zuerit herausgegeben hat?). Wer mit Bachs Clavier: compofitionen vertraut ift, weiß, daß fie zu feinen jchönften ge- hören und durchweg das Gepräge des gereiften Genius tragen. Meine Entdedung, daß fie feine Driginalwerfe find, erwedt daher vielleicht einige Bedauern.

Der Originalcomponift ift Johann Adam Reinken. Die Sonaten find auch nicht urfprüngliche Claviermufif, ſondern Violintrios nach italienischer Art. Bachs Arbeit gibt alſo einen

1) „5. S. Bad“ I, S. 339 ff.; 691 ff.

2) Bei Peters in Yeipzig, Serie I, Band 3, Nr. 1 und 2,

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neuen Beleg für feine Neigung und Methode, Biolincompofi- tionen aufs Clavier zu übertragen, fremde und eigne.

Reinkens Trios find gedrudt in feinem Hortus musicus. Obgleih von einem der in Deutſchland berühmteiten Meifter des 17. Jahrhunderts herrührend, jcheint diefer 1688 im Selbft: verlage de3 damals fünfundjechzigjährigen Verfaſſers erfchienene Hortus dod nur in wenigen Eremplaren verbreitet gewejen zu fein. Heute gibt es, ſoweit unjere Wiffenfchaft reiht, nur nod ein einziges Eremplar, das Herr Profeſſor G. R. Wagener in Mar: burg beſitzt. Als ich den erſten Band des „Bach“ jchrieb, war es mir nicht zugänglid, ich lernte es erft im Sommer 1880 fennen. Der Titel ift: HORTVS MVSICVS | recentibus aliguot flosculis | SONATEN, | ALLEMANDEN, | COV- RANTEN, | SARABANDEN, | et ! GIQVEN, | Cum 2. Violin. Viola, et Basso | continuo, consitus | a | JOHANNE ADAMO REINCKEN | Daventriense Transisalano, | Organi Hamburgensis ad | D. Cathar. celebratissimi | Directore. Ich ſetze den Titel vollitändig ber, um Reinfen von einem Vor- wurfe zu befreien, der ihm jeit Matthefons Zeiten angebaftet hat. Zum Bemweije von Reinfens Eitelkeit führt nämlich Matthefon, der ihm immer etwas am Zeuge zu fliden wußte, an, er habe fih bier Organi Hamburgensis Directorem celebratissimum genannt („Ehrenpforte”, ©. 293). Wie man fieht, ift dies eine böswillig in die Welt gefhidte Unwahrheit.

Das Werk ilt dem holfteiniihen Baron Johann Adolf von Kielmannsegge mit einer lateinifhen Zueianung gewidmet. Schon jeit Jahren, jagt Reinten, hätten ihn jeine Gönner und ‚Freunde getrieben, einige Jnitrumentalcompofitionen als Beweiſe feiner Kunitfertigfeit zu veröffentlichen. Sie hätten dies um jo eifriger gethan, als fie bejorgt geweien wären, man werde ihn der Unfähigkeit oder Trägbeit befchuldigen. Er habe ſich daher endlich entichloffen, allen feindfeligen und unbilligen Kritifern den Mund zu ftopfen, und wolle erwarten, was fie feinem Werfe an eignen Leiftungen entgegen zu ſetzen haben würden.

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Der Baron Kielmanndegge aber möge diefe Compoſitionen als ein Zeichen der Dankbarkeit für die vielen ihm unverdient cr: wiejenen Wobhlthaten aufnehmen und als Kenner ihn gegen anderer Schmähungen fügen. In einer längeren, ebenfalls lateinifchen Anrede wendet ſich Reinken an das Publicum. Auch bier ift wieder viel von böjen und unmifjenden Kritikern die Rede, dann aber auch von den jchlechten Componiften, die ihre Stüde aus geitohlenen Lappen zufammenflidten: für fie fei angemejjener die Beijhäftigung mit Pflug und Karit, und man folle fie mit Schimpf aus dem lieblichen Garten der Kunft binausjagen. Er verjpriht, wenn dieſe Erftlinge feiner Arbeit beifällig aufge: nommen würden, noch eine größere Anzahl folgen zu laſſen.

Den inhalt des Hortus bilden ſechs Folgen von Ton-Stüden. Der Componiſt bat ihnen einen zujfammenfaffenden Namen nicht gegeben und numerirt jie mit fortlaufenden Zahlen ohne Rüdfiht auf die verfchiedenartigen Bezeichnungen der Stüde; das legte heißt hiernady Gigue tricesima, d. i. „Gique, im Ganzen das dreißigite Stüd“. Neinten hat auch nicht ver- langt, daß alle Stüde einer Folge hintereinander gejpielt würden. Laut Zueignungsjchrift ift das Werk ſowohl für die Kirche als die Kammer bejtimmt, Wie man aus Gorelli fieht, wurden eigentlihe Tänze in der Kirche nicht gefpielt. Reinken kann alfo nur die drei frei erfundenen Stüde im Sinn haben, die an der Spige einer jeden Folge ftehen. Diefe allein find es auch, die er zufammenfaflend Sonaten nennt. Der Charakter des dritten Stüdes ift eigenthümlih. Die erfte Violine trägt einen cantabeln Adagio-Satz vor, an den fich ein laufendes homophones Allegro anjchließt; dann wird die gefammte Partie der Violine von der Viola da gamba wiederholt. Man Tann aljo jagen, daß das dritte Stüd eigentlich aus zwei Sätzen beiteht, einem Adagio und einem Allegro, die durch Wiederholung zu nad): drüdlicherer Wirkung gebracht werden. Nur die vierte Folge macht in diefer Beziehung eine Ausnahme und begnügt fich mit dem bloßen Adagio.

Philipp Spitta, Mufitgefhihtlide Auffäge. 8

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Andererſeits fieht man leiht, daß die nachfolgenden vier Tänze, obwohl jie diejelbe Tonart haben, doch der Sonate gegenüber als enger zufammengebörig gedacht find. Sie folgen fih durchweg in der üblichen Reihenfolge der Clavierſuite, näm- lih: Alemande, Eourante, Sarabande und Gigue. Für den italienifhen Sonatencomponiften iſt dieſe Reihenfolge fein Form— geſetz, obſchon aud er fie wohl kennt und gelegentlih an- wendet. Auch an einer andern Erjcheinung läßt es fich erfennen, daß dem Componijten die Einheit der deutjchen Suitenform vor: ſchwebte. Johann Gottfried Walther jagt, „in einer mufifalifchen Bartie jei die Allemande gleihjam die Propofition, woraus die übrigen Suiten, als die Courante, Sarabande und Gigue als partes fließen.“ In der That war den deutfchen, zumal den norbdeutichen Suitencomponijten bis auf Bach diefe Anſchauung nicht fremd. Eine Nachwirkung des Verhältniſſes zwifchen Tanz und Nachtanz, wie wir es im 16. Jahrhundert beobachten, tritt bier zu Tage. Die Componijten entwideln häufig die der Alle: mande folgenden Tänze aus bemjelben Stoff, oder lajjen doch ihren Anfang an den Anfang der Allemande anklingen. So tritt die Suite in eine verwandtihaftlide Beziehung zur VBariationenform, jo wie denn auch beide häufig durch denſelben Namen bezeichnet werden (Partien); es fommt auch vor, daß eine Variationen-Reihe geradezu in der Form von Allemande, Gourante, Sarabande und Gigue auftritt. Die Erjcheinung iſt zum vollen Verjtändniß der deutjchen Claviermufif im 17. Jahr— hundert von erheblicher Bedeutung.

Bei Reinken nun iſt jedesmal wenigſtens die Courante durchaus eine Variation der Allemande. Dies tritt nur in der dritten Folge nicht ganz deutlich hervor, in den übrigen fünf aber dejto augenjcheinliher. Ich ſtehe nicht an, die Umbildungs- funit, die Reinken bier bezeigt, eine meijterhafte zu nennen. In den Sarabanden begnügt er fih mit Anklängen, höchitens gibt er im erjten Theil eine Variation in zufammengedrängter Form. Die Gigues erfindet er frei, verräth aber durch die überall an:

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gewendete Fugenform und namentlich durch die Umkehrung des Themas im zweiten Theil den Zuſammenhang mit ber Clavier- ſuite. Um es zufammenzufajfen: jede der ſechs Folgen des Hortus musicus erſcheint als eine Verfoppelung einer Sonata da chiesa mit einer Sonata da camera, oder vielmehr einer Sonata da chiesa und einer auf Streihinftrumente übertragenen Glavierfuite.

Bachs Bearbeitungen beziehen fi auf die erite und dritte Folge. Die erite (A-moll) liegt in ihrer Umgeſtaltung für Glavier vollftändig vor. Bon der zweiten (C-dur) befigen wir nur Adagio, Fuge, Adagio und Allemande. Es ift mir wahr: fcheinliher, daß der Reit verloren gegangen ift, als daß Bad) mit der Allemande abgebrocden hat. Unten werde ich zeigen, daß auch aus der zweiten folge (B-dur) ein Stüd in Bachs Glavierbearbeitung vorhanden iſt. Die Wiederholung im zweiten Adagio, von Reinken jedesmal der Viola da gamba zugetheilt, bat fich Bach geſchenkt. Er bat jo das Stüd um die Hälfte verfürzt und bat auch den bei Reinken jehr beftimmt bervor- tretenden Gegenjag zwiſchen Adagio und Allegro mehr oder weniger verwiſcht. Indem nunmehr das Stüd unmöglich als eine Zufammenziehung des dritten und vierten Sonatenfates gelten kann und jeinen abjchließenden Character verloren hat, jcheint Bad) die ganze Folge zu einer Einheit haben zufammen- drängen und den Namen „Sonate“ nicht mehr nur auf die erften drei Säge, jondern auf das Ganze anwenden zu wollen.

Was nun Bah aus den Reinkenſchen Vorlagen gemacht hat, begreift fih am leichteften bei der Betrachtung der drei Fugen, unter denen ich die A-moll-Gique mit verftehe. Die frei erfundene A-moll-Fuge zählt bei Reinken 50 Takte, bei Bad 85; die fugirte Gigue bei Reinken 38, bei Bad) 60 Takte; die C-dur-Fuge bei Reinken 47, bei Bach 97 Takte. Diefe Er- weiterungen auf durchichnittlich faft das Doppelte der urfprüng: lihen Taktzahl find weniger durch eine größere Zahl von Thema- durhführungen, als durch Einjchiebung von Zwiſchenſätzen be-

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wirft. Reinken enthält ji der Zwifchenfäge gänzlid. In der A-moll-Fuge folgt Bach dem Bau des Driginals bis Taft 16, dann fommt eine Epifode von 32 Taften, darauf 4 Takte Durdhführung mit Anlehnung an das Original, welder Durch— führung fich eine zweite Epifode von 6'/2 Takten anſchließt. Im weiteren Verlaufe erjcheint feine Durhführung mehr ohne an- gehängten Zwiſchenſatz, feine Länge nimmt vielmehr gegen Ende immer mehr zu und fteigt bis auf 13". Takte. Reinkens legte Durhführung unterdrüdt Bach völlig und führt von Takt 78 aus die Sache mit Benugung eines Thema: Motives frei zum Schluſſe. Gar nicht mit dem Original zu vergleichen ift der melodiſche und rhythmiſche Reichthum, den Bad in den Gontrapunften entfaltet; bier iſt Reinkens ſtizzenhafte Vor: zeihnung überhaupt kaum mehr erfennbar geblieben. Dagegen bat Bach wieder an der urjprünglichen modulatoriſchen Ordnung der Themabeantwortungen feitgehalten, nur daß er häufig andere Lagen wählt, gelegentlich fich auf zweiſtimmigen Sat bejchränft, wo Reinken mit allen drei Stimmen arbeitet, dann wieder in den Harmonienfolgen weiter und energifcher ausgreift. Einzig in Taft 71 ermöglicht er fih durch Eintaufhung des ‚Führers gegen den Gefährten eine Nenderung der Modulation und fommt mit ſehr jchöner, auf den Schluß vorbereitender Wirkung in die Unterdominante. Die Schlußpartie jelbit geitaltet er durd Ein: führung der Vierftinmigfeit breiter und prächtiger jtrömend. Außerdem treten im Gegenjat zu Reinken überall große Gruppen der Entmwidelung Ear hervor und iſt Licht und Schatten mit bewunderungswürdiger Geftaltungsfraft in dem ganzen Gemälde vertheilt. Vergleicht man Original und Umgeftaltung im Ganzen, jo iſt jenes die Knoſpe, dieſe die herrlich entfaltete Blüthe. Dasjelbe gilt von der fugirten Gigue, und auch deren Thema it durch eine ganz kleine Menderung wejentlich verbefjert. Anderes ift von der C-dur-Fuge zu jagen; bier bat fih Bad von Reinken noch viel entjchiedener befreit, jeiner Bearbeitung it faum mehr mit dem Original gemeinfam geblieben, als das

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Thema. Ach habe aus Albinoni’3 PViolin-Sonaten Op. 1 zwei Fugenfäge ans Licht gezogen, die Bach für Clavier umgearbeitet bat. Sie fünnen als Seitenjtüde zu den Reinkenſchen dienen. Die H-moll-Fuge fteht in einem ähnlichen Verhältniß zum Original, wie hier die Fuge aus A-moll, während die A-dur- Fuge dort bier der aus C-dur entfpriht. Auch eine Corelliſche Violin-Fuge hat Bach mit gleicher Freiheit zu einer Orgel-Fuge benugt'). Alles, was von der Meiſterſchaft der Umarbeitungen Albinonifher und Corelliſcher Originale Rühmendes gejagt worden ift, gilt auch für die Bearbeitungen der Reinkenſchen Fugen. Sie ftehen mit jenen mindeitens auf gleicher Höhe.

Was die frei erfundenen Adagios und die Tänze der beiden Reinkenſchen Folgen betrifft, jo bat fih bier Bad mehr mur darauf beichränft, die Mittelftimmen und Bäſſe reiher und lebendiger zu machen, und in den Adagios die einfache Reinkenſche Oberftimme phantaftifch in einer Weiſe zu umjpielen, die an das Gekräuſel italienischer Adagios für Solo-Violine erinnert. Es find aber auch auf diefe Weife ganz neue Stüde entitanden. Da der Hortus musicus jegt durch J. C. M. van Riemsdijk in Utrecht neu herausgegeben ift, fo glaube ich den Leſer einladen zu follen, die genußreiche Vergleihung zmwifchen Urbild und Um— bildung ſelbſt anzuftellen.

Ich jagte oben, daß Bad) auch aus der zweiten Folge des Hortus musicus ein Stüd für Clavier umgejchaffen habe. Hier: mit verhält es fich jo. F. A. Roitzſch in Leipzig befaß in einer Handſchrift Ktellners eine Fuge:

die zwar feinen NAutornamen trägt, aber nicht nur mir allein immer in hohem Grade badijch erjchienen ift. Dörffel hat fie

1) „Bach“ I, ©. 424 ff. und Notenbeilage 2, S. 422 f.

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im Thematiſchen VBerzeihniß der Inſtrumentalwerke Bachs (Xeipzig, Peters 1867) unter den zweifelhaften Werfen im An: bang I aufgeführt, Roigich im Supplementbande der Clavier- werte Bahs unter Nr. XIV im Jahre 1880 herausgegeben. Das Original diefer Fuge nun findet fich als zweiter Sat in der zweiten Reinkenſchen Folge. Es zählt dort 50 Takte, während die Bearbeitung deren 95 hat. Bergleiht man dieje mit den erwiejen bachiſchen Bearbeitungen Reinkenſcher Stüde, jo fann fein Zweifel bleiben, daß auch fie von Bach herrührt. Sie itt eben jo frei gehalten, wie die der O-dur-Fuge, ja noch freier, da Bad aud den dritten und vierten Takt des Themas clavier- mäßig umgeändert bat. An Schönheit fteht fie ihr ebenfalls nit nad) ').

Wann bat Bach dieje Umgejtaltungen vorgenommen? Er fannte und verehrte Reinken feit jeiner frühen Jugend. Jugend— werfe find nun freilich dieſe bewundernswerthen Arbeiten jicher nicht ; der Gedanke, jie könnten noch in Arnitadt gefchrieben jein, muß ganz ausgejchloffen bleiben. In der mittleren weimarijchen Zeit wäre ihre Entitehbung denkbar, um jo mehr, als Bad ſich bier viel mit italienifcher Kammermufif befchäftigte und Reinken im Hortus ja zum Theil wenigitens eine italienifhe Miene auf: jet. Auch die Bearbeitungen Albinonifher und Corelliſcher Fugen mußten in die weimarifche Zeit verwiejen werden. Jedoch die reifite derjelben, die Albinoni-Fuge in H-moll, der die Reinken- Fugen in dieſer Beziehung ganz ebenbürtig find, ver: dankt ihre befannte Gejtalt einer fpäteren Ueberarbeitung. In der eriten Geftalt ift fie um vieles mangelhafter; in derjelben Zeit mit diejer erften Bearbeitung des Albinonifchen Originals fönnen die Neinfen- Fugen nicht wohl entitanden fein. Man

!) Mebrigens enthält der erwähnte Zupplementband gewiß viele Stüde, die nicht von Bad ftammen. Bon einem fann ich es fofort nachweiſen: Wr. XII „Fantasia* ift eine Gompofition Heinichens und ſteht in defien großer Generalbaßlehre &. 885 ff. ch habe auch im „‚Bach“ I, S. 654, Anmerk. 26 darauf bingewielen, daß das Stück fälihlih unter Bachs Namen vorfomme.

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fommt alfo Doch wieder auf die Göthener Periode. 1720 hatte Bad) die berühmte Begegnung mit Reinken in Hamburg. Es find unverfennbare Anzeichen vorhanden, daß er es bei biejer Gelegenheit darauf anlegte, gerade auf demjenigen Gebiete der Orgeltunft jeine Stärfe zu zeigen, auf dem die norbdeutichen Meifter vor anderen groß waren, und was damit zufammen- hängt ich bejonders das Wohlgefallen Reinkens zu erwerben. Wie man weiß, ift ihm dies vollftändig gelungen: der alte Meifter war voller Anerkennung und ließ ſich ſogar in einen intimeren perfönlichen Verkehr mit Bach ein. Daß namentlich das be- rühmte G-moll-Präludium nebſt Fuge der Hamburger Reife jein Dajein verdankt, habe ich zu beweifen geſucht!). Reinkens Hortus musicus bietet für diefe Annahme nod eine erwünjchte Stüße. Das Thema der Bahjhen Fuge lautet:

In der fünften Folge des Hortus findet ji eine Fuge über folgendes Thema:

1) Ausgabe der Bach-Geſellſchaft XV, S. 177 und „Bad“ I, S. 635 f.

2) Mattheion, der die Belanntichaft mit der Fuge in Hamburger Kreifen vorausfegt, citirt daS Thema etwas anders. ES bleibt dahin geftellt, ob er fih nicht genau erinnerte, oder ob Bach uriprünglich wirklich anders geſpielt hat.

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Die Aehnlichkeit it unverkennbar und wenn man die andern Beziehungen Bachs zum Hortus musicus fennt, kann man an einer Beeinflufjung des jüngeren Themas durch das ältere wohl nicht zweifeln. ch glaube daher, daß die Glavierbearbeitungen Reinkenſcher Originale mit der Hamburger Reife 1720 zu- fammenbängen und ungefähr in diefer Zeit entitanden find.

4. Der Tractat über den Generalbaß und $. Niedts „Aufikalifhe Bandleitung“.

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Aus dem Nachlaſſe Johann Peter Kellners ijt ein von Sebaltian Bach verfaßter Tractat über den Generalbaß vom Jahre 1738 auf uns gefommen, den ih „Ba“ IL, S. 913—950 vollitändig habe abdruden laffen. Es find eigentlich zwei Tractate: eine jehr geihidt in wenige Regeln zufammengedrängte Anleitung für Anfänger und eine weitläufigere Abhandlung für den „gründ- lihen Unterricht”. Wie ich bald nad) dem Drud bemerkte, ift ein Theil der letteren (S. 915—924) nit ganz; Original. Bad) hat für ihn die erften neun Gapitel von Friedrih Erhardt Niedts „Mufikalifcher Handleitung. Eriter Theil. Hamburg, 1700" zur Grundlage genommen. Der Werth der Abhandlung für die Beurtheilung Bachs wird hierdurch nicht vermindert, ausgenommen, daß einige ftiliftifche Wendungen den Reiz der Ur- jprünglichkeit verlieren. Dagegen erregt fie nun nad) zwei Seiten bin ein neues Intereſſe. Zunächſt wird offenbar, daß Bach dem Niedtihen Lehrbuh einen bejonderen Werty beigelegt haben muß, wenn er es 38 Jahre nach feinem erjten Erfcheinen noch in folder Weiſe berüdfichtigte. Vielleicht ift bier eine auf Yugendeindrüden beruhende Vorliebe mit im Spiel gemejen. Im Jahre 1700 kam Bady nad Lüneburg; von dort aus lernte er Hamburg und deffen Mufifwejen fennen. Da Niedts Buch 1700 in Hamburg erjchienen ift und als das erfte populäre Werk derart ein gewiſſes Auffehen machte (eine zweite Ausgabe erichien 1710), jo könnte Bach während feiner Lüneburger Zeit

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(1700— 1703) darauf geitoßen fein und es für die eigene Aus- bildung verwerthet haben. Merkwürdiger noch ift die Art, wie Bad) den Niedt für feine Lehrzwede benußt hat. Er hat ab- geändert, gekürzt, zugefegt, zum Theil auch den Lehrſtoff anders gruppirt. Er hat hierdurch zugleih eine Kritik an jeinem Bor: gänger geübt. Man muß alfo jchließen, daß alles, was er aus Niedt entlehnt hat, feiner vollen Ueberzeugung entiprad), und daß andererjeits die Stellen, an denen er von ihm abweicht, Dinge berühren, die ihm von einer gewiſſen Wichtigkeit erjchienen. Am Allgemeinen bemerkt man, daß Bad) gegenüber der Niedtſchen Redſeligkeit überall eine fnappe Faſſung angeitrebt bat. Gleich die Ueberſchriften der erſten beiden Gapitel zeigen dies. Sachliche Nenderungen find in Ddiejen Capiteln wenige. Am Schluß des eriten jagt Niedt: „Dod heutiges Tages paufiret auch diejer Baß öfters, jonderlih in Opern und in fünftlich geſetzten weltlihden Saden, und möchte auch ein jed- weder Violon:Baß die Benennung eines Bassi continui haben, jcheint alfo der Nahme, General-Baß, allhie bequemer zu ſeyn.“ Bah gibt den Grundgedanfen aud, aber in jo zujammen- gedrängter Form, daß er fait undeutlich wird; daß ihm die Hervor: bebung der Opern und Fünftlihen „weltlichen“ Sachen nicht zweckdienlich erſchien, iſt bezeichnend. Er lehrt einfah: „in fünftlich gejegten Sachen“. Das zweite Capitel erfordert bei Niedt drittehalb Seiten in Kleinqguerquart; bei Bach befteht es nur aus wenigen Zeilen. Bon einer Erklärung der Confonanzen und Diffonanzen hat er ganz abgejehen, wahrjcheinlich, weil er in dem „kurzen Unterricht“ vom General-Baß jchon das Nöthige gejagt zu haben glaubte. Als jachlicher Kern bleibt nun nicht viel mehr, als die in ihrer handwerfsmäßigen Einfachheit be- zeichnende Erklärung: die linfe Hand fpielt die vorgejchriebenen Roten, die rechte greift Con: und Diffonanzen dazu. Was folgt, hat an zwei verjchiedenen Stellen des Niedt jeine Anlehnungs— Punkte. Immer bleibt es merfwürdig, daß Bach, der faft den ganzen ſachlichen Anhalt des Capitels überging, auf dieſes

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Raifonnement nicht verzichten wollte. Die breite Salbaderei Niedts fonnte ihm aber nicht palfen. Er hat, was bier ge: jagt werden jollte, mit einer jo grimmigen Kürze gejagt, daß das Ganze doch das Gepräge ſeines Geiſtes trägt.

Im dritten Capitel hat Bad den E:Schlüffel auf der zweiten, den F-Schlüſſel auf der dritten und fünften Linie un- berüdfichtigt gelaſſen. |

Nun werden die Abweichungen bedeutjamer. Im Capitel vom Takt hält fih Bach mit der Erklärung der Taftarten nit auf und meint in Uebereinſtimmung mit Niedt, wer den Generalbaß lernen wolle, müſſe die Taftunterjchiede ſchon fennen. Dann jeßt er aus eigener Bewegung hinzu: „Denn niemand wird einem jogleich den Takt wiſſen beizubringen.“ In diejen Worten glaube ich einen Widerjchein perfönlicher Erlebniſſe zu erfennen. Zur Erläuterung der Sade tragen fie nichts bei. Aber in die Jahre 1736 1738 fiel Bachs Streit mit dem Rector Erneſti. In ihm handelte es fih um die Fähigkeit oder Unfäbigfeit des Schülers Krauje zum Dirigenten. Bad) be- hauptete, Kraufe könne, obgleih er ſich in den unteren Präfeeturen jchon eine Zeit lang geübt hatte, noch nicht Vier: viertel- und Dreiviertel-Taft auseinanderhalten. Weiter wird die Bezeihnung 2 für den Allabreve-Takt von Niedt und Bad) gemeinjfam als eine franzöſiſche hingeſtellt Bach fügt aber nod) binzu, daß in der Anwendung jener Bezeichnung die Deutjchen es den Franzoſen nachthäten. Mit dieſem Zufage zielt ev auf fich jelbft. In der Rathswahlmuſik vom 27. Auguft 1731 („Wir danken Dir, Gott” B.:G. V.! Nr. 29) hat er die Bezeichnung an- gewandt, alfo, wie man aus Obigem fieht, in bewußter Nach— ahmung der Franzojen.

Die beiden eriten Sätze des fünften Gapitel3 (Vom Drei: fang) sehen fich bei Niedt und Bad) äußerlich ziemlich gleich. Im Sinne find fie wejentlich verſchieden. Niedt jagt im zweiten Sate: „Ich bin verfihert, wann ein Xehrbegieriger jich dieſes woll einbildet, er ſchon ein groß Theil der gangen Kunft be-

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griffen habe.” Das Wort „diefes“ kann fih nur auf Die folgenden Auseinanderjegungen über den Dreiflang beziehen. Die „Kunft“ ift ihm die Kunſt des Generalbaß:Spielend. Bad jagt „ſolchen“ ftatt „diejes“. Er meint aljo den Generalbaß, und unter der „Kunſt“ veriteht er die Compofition. Daß „ſolchen“ nicht ein Schreibfehler ift für „ſolches“, geht auch aus der Form des ganzen Sates hervor, welcher in der ihm von Bach widerfahrenen Umgeitaltung einen beiläufig eingeführten allgemeinen Gedanken deutlich genug anzeigt. Das Notenbeifpiel mit Dur- und Moll-Dreiflängen ift vom Schreiber des Bachſchen Tractats fehlerhaft aufgezeichnet, wie ih aud im Drude an- gemerkt habe. Niedts Beijpiel fieht jo aus:

„Und jo weiter durd alle Thoöne.“ Man fieht, er folgt bei Aufzählung der Dreiflänge der C-dur-Scala, und läßt hinter dem Dreiklang einer jeden Stufe durch Anwendung von Ber: fegungszeichen den entjprechenden Dur- oder Moll-Dreiflang der nämliden Stufe entjtehen. Hiernach läßt ih das Bachſche Bei: jpiel leicht corrigiren;

Der Schreiber hatte einmal ein $ vergeflen, und die Stellung der legten Dreiflänge vertaufht. Nur, was foll der Es-dur- Dreiflang an fünfter Stelle? ch babe ihn im Drud für un- gehörig erflärt, und nad Maßgabe der diatonifchen Xeiter ift er das auch. Trogdem ift es unmwahrfcheinlidh, daß er in Folge eines bloßen Schreibfehlers entjtanden fein könnte. Sein Er- jcheinen läßt fich wohl noch anders erklären. Heutzutage ift es das Nädhitliegende, die Grunddreiflänge der verſchiedenen Ton- arten nad der Norm des Quinteneirkels aufzuzählen. Die von

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Niedt und Bach befolgte Methode zeigt, wie am Anfang des 15. Jahrhunderts jelbft der Lehre derjenigen, die ſich übrigens von den Anſchauungen des 16. Jahrhunderts freigemacht hatten, zum Theil immer noch die Octavengattungen zu Grunde lagen. Kun waren die Töne b und es auch den alten Diatonifern als Fa tietum etwas Geläufiges. Wenn man in die Neihe der über den Stufen der C-dur-Scala conftruirten Dur-Dreiflänge noch Diejenigen über b und es einjchob, jo hatte man alle Dur-Drei- länge demonftrirt mit Ausnahme derjenigen über eis, fis und gis und der enharmonijchen Verwechjelungen derjelben. Dieje legten drei hatten aber damals für den Schüler geringe Be- deutung, weil die entiprechenden Tonarten nur jelten angewendet wurden. 9. ©. Walther verfährt in der That jo. Er madt im Jahre 1708 dem weimariſchen Prinzen Johann Ernit die Dur-Dreiflänge durch diefe Tabelle anſchaulich,

und fügt dann außer der Neihe noch die Dreiklänge über cis, fis und gis hinzu. Der eingejchaltete Es-dur- Dreiflang in, Bachs Notenbeijpiel jcheint mir zu verrathen, daß er eben jo zu Werke gegangen if. Er hätte freilich folgerichtigerweiie dann auch den Es-moll-Dreiflang hinzufügen müfjen. Indeſſen, wenn er dies nicht that, konnte er denfen, daß der Schüler doch einftweilen nit in die Lage kommen werde, ihn practifch zu verwerthen. Den Reit des Niedtichen Capiteld bat Bach ehr verfürzt. Mit der Erörterung über die metaphyliiche Bedeutung des Dreiklanges hat er jeine Schüler ganz verjchont, und die unterjchiedenen drei Arten von Dreiflängen (Trias simplex, aucta und diffusa) auf zwei eingefchränft. Die Confufion Niedts, der zur Trias diffusa Dinge vorbringt, die zur Trias aucta gehören, war er jedenfalls nicht gefonnen mitzumachen. Warum er aber über die zerjtreute Lage des Dreiklangs ganz

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ſchweigt, iſt nicht veritändlih, da gerade für das Generalbap- Spiel diejer Gegenitand doch von Wichtigkeit war.

Folgt Gapitel 6: „Etliche allgemeine Regeln beym Spielen des Generalbajles zu objerviren.“ So Niedt.

Bah jchreibt: „Etliche Negeln wie man den Generalbak durchgehende mit 4 Stimmen jpielen jol.” Die Betonung der Vierftimmigfeit ift um jo auffallender, als die nachfolgenden Negeln noch gar nichts enthalten, was dem Schüler die Frage der Stimmenzahl nahe legte. Man fieht aber daraus, ein wie großes Gewicht Bad) gerade diefem Punkte beimaß. E3 war eine natürliche Folge feiner Methode des Compoſitions-Unter— riht3, den er eben mit den Generalbaß begann. Die Erlaub- niß, mit der Stimmenzahl zu wechjeln, würden die Schüler da- bin ausgebeutet haben, daß fie fich über ſchwierige Stellen, bei denen fie mit der Vierftimmigfeit nicht fort fonnten, durch An- wendung der Dreiftimmigfeit hinweg geholfen hätten. Gerbers Tonſatz zu der Albinonifhen Sonate bemweijt, wie jtreng Bad an der Bieritimmigfeit feithielt. Auch Kirnberger bezeugt durd That und Wort, daß dem jo war. Von den neun Regeln des Niedt hat Bah nur die 1. 4. 5. 6. und 9. beibehalten und zwar . ohne wejentliche Aenderungen. Die anderen hat er unterdrüdt, weil fie zu feiner Forderung, allzeit vierftimmig zu jpielen, nicht paßten. Bei Regel 3, 7 und 8 wenigſtens ift dies ohne Weiteres far. Regel 2 enthält das Verbot, mit der rechten Hand höher als bis e“, höchjtens f* zu gehen, und tiefer ald a und g. Daß Bach diejen allgemein gültigen Grundſatz auch jeinerfeits ungefähr anerkannte, fieht man aus Gerbers Generalbaßitimme zur Albinonifchen Sonate, die g“ nicht überfteigt. Er bat aber vielleicht für zwecdienlich gehalten, feinen Schülern anfänglid nit auch noch diefen Zwang aufzuerlegen.

Am Anfang des achten Capitels ijt die von Niedt in Er- innerung gerufene Regel abermald ausgemerzt. Nachdem von den verjchiedenen Yagen eines Nccords über unveränderten Baßton gehandelt ift, bringt Niedt eine Auseinanderjegung über

a MT

die VBariirung einer accordmäßigen Generalbaß-Begleitung durch gebrochene Harmonien. Weil dies gar nicht zur Sache gehört, hat Bach es übergangen.

Die gründlichite Umgeftaltung haben Capitel 8 und 9 er- litten, in denen vom bezifferten Generalbaß im Bejonderen ge: handelt wird. Hier iſt faft Fein Stein auf dem andern geblieben. Niedt hat die gegebenen Regeln im zweiten Theil feiner „Hand: leitung“ wiederholt. Indem Mattbefon 1720 davon eine neue Auflage veranftaltete und fie mit eigenen Anmerkungen verjah, find wir in den Stand gejeßt, die von Bah und Matthefon über diefe Regeln gebegten Anfichten mit einander vergleichen zu können.

Niedt Stellt als erfte Regel auf: „Wo ein $ vor einer Noten jtehet, jo wird alle Zeit die Serta und Tertia zur jelbigen Noten geichlagen, warn auch gleich die Serta nicht ausdrüdlich darüber gejeget wäre.“ Mattheſon bemerkt: „Diejes Gebot haben auch ſchon andere gegeben, und ift jo einfältig als falſch. Es gehöret auch gang und gar nicht zu den Reguln eines be- zieferten Baſſes; jondern vielmehr zu den Praeceptis von unbe- jieferten Bäflen (dafern einige davon zu geben). Denn wenn die Bäſſe beziefert find, fiehet ein jeder wo die Serta jein joll, find fie aber nicht beziefert, will es diefe Regul nit thun.” Bad hat die Regel einfach geftrichen, da er ficherlich Matthejong Ansicht theilte. Gleiche Bewandtniß hat es mit der fünften Regel, die Bad) ausläßt und Matthejon mit Motivirung ver- wirft. Ferner ift die jechite Regel unterdrüdt: „daß man aud) Stüde in Moll ſtets mit der Dur-Terz ſchießen folle; jo lange fein föniglicher Befehl da iſt,“ jagt Matthefon, „will zu unjeren Beiten niemand weiter davon etwas wijlen, als daß es auf den Orgeln jo Herfommens ift, und in etlichen Kirchenftüden noch beobachtet wird.“ Den übrigen Stoff hat Bach jo geordnet:

Bad) Niedt Regel 1 Regel 3 „2 „4

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Bad) Niedt Regel 3 Regel 2 . 11 (gmeite Hälfte) 5 11 (erite Hälfte) 6 9 und 7 . # „10

8 „1232,7 und 8.

Dazu hat er eigene Notenbeiſpiele gebildet und im Text manches geändert. Beim Sextaccord verbietet Niedt die Octav und ge— jtattet nur die Terz (Regel 2; „Sexta“, wie dort zu lejen, ift Schreib: oder Drudfehler für „Tertia‘), Bach jagt: Zur Sexta „wird entweder die Terg oder Sert verdoppelt, bisweilen die Octav darzugenommen, zumahl wenn immediate eine Note folgt und mit 8 bezeichnet iſt.“ Meatthefon übereinftimmend, nur etwas allgemeiner (S. 60, Anmerkung 1): „Es ift nicht ohne, daß mit den Octaven behutfam umzugehen ſei; allein, daß man fie deswegen bey der Serta gar auslafjen foll, iſt zu viel ge redet.” Niedt jelbit hat übrigens eingejehen, daß jeine Regel zu jtreng jei (ſ. ©. 75). Mit der Forderung durchgängiger Bier: jtimmigfeit ift fie unvereinbar. Bach hat demgemäß aud) jeine vierte Regel ganz anders gefaßt, wo er überdies die Verdoppelung der Serte erlaubt. In der fiebenten Regel ift Bach bejtimmter und vollitändiger, als jein Vorgänger, und Niebts achte Regel ihränft er ein; er wünſchte offenbar, daß jeine Schüler es fi bei Durchgangsnoten im Bafje nicht allzuleiht machen jollten.

Im neunten Gapitel bat Bad) Niedt3 dritte und vierte Hegel geitrichen, da fie ihm theils Faljches, theils nichts Neues enthalten mußten. Auch bier ift Matthefon einer Anficht mit ihm (©. 65 f., Anmerkung p). Die erſte und zweite Regel hat er zu Gunjten der Vierſtimmigkeit vervollitändigt.

rs

Rinaldo von Capua und feine Oper „Die Bigennerin‘“,

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Philipo Spitta, Mufitgefhichtlihe Auffäge. 9

[83 Burney jih im September und October 1770 in Rom

aufbielt, lernte er Rinaldo von Capua fennen und ver: kehrte häufiger mit ihm. Was man big jegt über diefen Meifter aus der neapolitanifhen Schule Näheres gewußt hat, wird faſt allein den Mittheilungen Burney’s verdankt. Jedenfalls müfjen diefe als die zuverläſſigſten gelten, da fie ſich auf perjönliche Erfahrungen und Erlebniſſe gründen. Ich faſſe fie mit Ein- beziehung deſſen, was La Borde!) und Fetis berichten, hier kurz zufammen; was wegen der Nichtigkeit Bedenken erregt, bleibe vorläufig bei Seite.

Rinaldo war der natürliche Sohn eines vornehmen Stalieners, deſſen Namen man nicht kennt. Er jelbit nannte fich nach jeiner Baterjtadt, wie ſolches viele italienijhe Componiften vor ihm gethan haben. Sehr begabt für die Mufik, trieb er fie anfäng- lih nur zum Vergnügen, und erjt nachdem das väterlihe Erbe verzehrt war, als Beruf. Gewiſſe Mängel des Sapes, die man ihm vorwarf, mögen in jeiner Erziehung als Dilettant begründet liegen. Seine Compofitionen waren zeitweilig das Entzüden Europas; als Burney ihn kennen lernte, jab er ſich durd jüngere Talente in den Hintergrund gedrängt. Doch hatte er, obſchon in höherem Alter jtehend, im Winter 176970 noch ein

») Essai sur la musique ancienne et moderne. Tome troisiöme.

Paris. 1780. p. 177. 9*

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Intermezzo in Rom mit Beifall zur Aufführung gebradt. Her: nad hat man ihn ganz vergeflen und weiß auch nicht, wann er geftorben ift. Sein Leben iſt lang gewejen und reich an Wechiel zwifchen Glüd und Unglüd. Dur die jchwantende Gunft des Publikums gewigigt, hatte er Bedacht genommen, jeine beften Werke zu jammeln, um fie zur Hand zu haben, wenn ſich Ge- legenheit böte, fie zu verwerthen. Als diefe Gelegenheit fam, mußte er gewahr werden, daß ein ungerathener Sohn ſich die Schätze heimlih angeeignet und als Mafulatur verkauft hatte. Verbittert und jfeptifch jah er in alten Tagen dem Mufiktreiben jüngerer Geſchlechter zu ').

Dem KLeichtiinn des Sohnes werden wir es großentheils zuzuschreiben haben, daß die Compofitionen Rinaldo’s faft aus der Welt verfhwunden zu fein jcheinen. In Italien felbit dürfte jo gut wie gar nichts mehr von ihnen zu finden fein: Nach— forfchungen, die auf mein Erſuchen in allen bedeutenden Biblio: thefen Mittel: und Nord-Italiens von jüngeren deutſchen Ge- lehrten angejtellt worden find, haben nicht das geringite Ergeb- niß gehabt; nur daß das Liceo musicale zu Bologna einige Tertbüdher aufbewahrt. Drei Bartituren, welche der Padre Martini befaß, find ebenfalls verloren gegangen. Francesco Florimo, der emſige Geichichtichreiber der neapolitanifchen Ton: ichule, zu Deren glänzenden Talenten Rinaldo gerechnet werden muß, fennt ihn nicht einmal dem Namen nah?) Was id außerhalb Italiens gefunden habe, find mit einer einzigen Aus: nahme Bruchſtücke. E3 fann daher meine Abfiht nicht fein, ein volftändiges Bild des Künftlers zu entwerfen. Hierzu fehlen die nothmwendigiten Vorausfegungen. Ich habe es vorzugsweife auf eine einzelne Oper Rinaldo's abgejehen, vermag indeſſen

’) Burney, The present State of Music in France and Italy. London 171. ©. 283 ff. Burney, A general History of Music. Vol. IV. London 1789. ©. 558 f.

2) Florimo, Cenno storico sulla Scuola musicale di Napoli, 1869. 1871. 2 Bde. La Scuola musicale di Napoli e i suoi Conservatorii. Napoli 1880-1882. 4. Bbe.

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doh auch über jein Schaffen im allgemeinen manches Neue zu jagen.

J.

Fétis gibt 1715 als das Geburtsjahr Rinaldo's an; Rud— hart!) jegt es „um 1706”; beide ohne Angabe der Quelle. Nah Fetis war er 15 Jahre alt, als er, in Venedig, feine erite Dper aufführte. Nah Burney jchrieb er feine erite Oper in Wien und war 17 Jahre alt. Die Angabe des erfteren, der fih überhaupt über Rinaldo ſchlecht unterrichtet zeigt, mag hier auf fich beruhen. Aber auch Burney muß fi geirrt haben. Wir befigen ein allem Anfcheine nach lückenloſes Verzeihnif der am Ffaiferlichen Hofe zu Wien zwiſchen den Jahren 1631 und 1740 gegebenen Opern?). Unter ihnen findet fich feine von Rinaldo, aud wird auf der Wiener Hofbibliothef feines feiner Werfe aufbewahrt. Hinter das Jahr 1740 kann die Aufführung des Erftlingäwerfes nicht fallen, denn mindejtens feit 1737 war er in Stalien jchon ein berühmter Mann. Eben diejes Jahr führt auch Burney an als Markſtein für den Beginn von Rinaldo's ruhmvoller Laufbahn. Welches Werk an diefen Markftein ge- hört, hat er unterlaffen zu jagen. Es ift aber der von Burney gleihwohl erwähnte Ciro riconoseiuto, eine Opera feria des Metaftafio, die diefer in Wien zum 28. Auguft 1736, dem Geburts- tage der Kaiferin, gedichtet und Caldara in Muſik gejegt hatte. Rinaldo brachte die Dihtung mit feiner neuen Muſik 1737 im Teatro Tordinona zu Rom zur Aufführung; Domenico Ricci fang die Partie des Ciro. Dies ergibt fih aus einem um 1739 in Stalien entftandenen Sammelbande handſchriftlicher Opern: arien, der in meinem Belig ift. Won den zwei Arien Rinaldo’3, die er enthält, gehört eine in den Ciro riconoseiuto. Name der

1) Gedichte der Dper am Hofe zu Münden. Freifing, Datterer 1865. S. 133, 2) v. Köchel, Johann Joſef ur. Wien, Hölder. 1372, &. 485 ff.

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Dper und des Dichters jtehen zwar nicht dabei, ließen ſich aber ohne Schwierigkeit feititellen. In der zehnten Scene des zweiten Aftes hält die leidenjchaftliche Mandane den ihr arglos und voll Kindesliebe entgegenfommenden Giro für einen Betrüger und für den Mörder ihres vermeintlihen Sohnes, jucht fich aber zu verjtellen, um ihn deſto ficherer ind Verderben zu bringen. Ciro folgt ihrer Aufforderung, ſich zu entfernen: Parto; non ti sdegnar, Si, madre mia, da te Gli affetti a moderar Quest’ alma impara!). Berwunderung, Unruhe und eine gewille jugendliche Hingabe find gut in dieſem Stüd ausgedrüdt und verrathen eine entichiedene Begabung für muſikaliſch-dramatiſche Charafterzeihnung. Die Arie ift aber auch das Einzige, was, foviel ich weiß, von der Muſik Rinaldo's erhalten blieb, einit- weilen aljo feine ältefte Compofition überhaupt. In den ſech— iger Jahren des vorigen Yahrhundert® war in Deutjchland noch eine andere Arie aus derjelben Oper begehrt. Die Ber: traute der Mandane ijt Arpalice. Sie wird in der 2. Scene des 1. Aktes von jener dem erjehnten Sohne entgegen geichidt, um ihm alles zu jagen, was das Mutterherz erfüllt. „Basta cosi; t’intendo: Giä ti spiegasti appieno;* beginnt Arpalice ihre Arie, indem fie jih anheifhig macht zu gehen. Die Arie it jeßt verloren gegangen ?).

Ih darf eine VBermuthung wagen. Burney läßt den Rinaldo jeine erite Oper in Wien jchreiben. Hat er ſich hierin geirrt, jo jcheinen doch nahe Beziehungen Rinaldo's zu Wien beitanden zu haben. Wenn er feinen Ciro ſchon zum Garne val 1737 in Rom zur Aufführung gebracht, die erjte Aufführung

!) Metaftafio, Opere. In Napoli, presso i Fratelli de Bonis. 1781, T. V, p. 138.

2) In Breitkopfs Verzeihnig bandichriftliher Muſikalien von Neujahr 1764, &. 23 wird diefe Arie zum Preiſe von 8 Groſchen zum Verkauf an- geboten. Ebenda fteht noch die Arie „Pallido e mesto involto“, und ©. 26 ein Duett für zwei Soprane: „Non pensar, idolo mio“ verzeichnet. In welche Opern Rinaldo's diefe beiden letzteren Stüde gehören, weit ich nicht.

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in Wien mit Caldara's Muſik aber erſt am 28. Auguſt 1736 ftattgefunden hat, jo muß Rinaldo wohl unmittelbar naher in den Belit des Libretto gefommen fein, und dies war ohne perjön- liche Verbindungen faum möglih. Burney hat aljo vielleicht die mündliche Erzählung Rinaldo’3 mißverftanden, der gejagt haben mag, zu der erjten Oper,. mit der er in Rom großen Erfolg errungen habe, jei von ihm ein Tert aus Wien benugt worden. Wenn Rinaldo 1745 in Rom zur Feier der Erwählung Franz I. zum deutſchen Kaifer und zugleich als Huldigung für Maria Therefia ein Componimento drammatico verfaßte, jo deutet diefes ebenfalld auf ein näheres Verhältniß Rinaldos zu dem Miener Hofe hin !).

Feti3 weiß im Ganzen nur jechs Opern Rinaldo’3 anzu: führen; Ciro riconoseiuto befindet fich nicht unter ihnen. Ich fann deren 21 nachweifen. Zwei von ihnen fallen in das Jahr 1739: Vologeso und Farnace. Seit Apojtolo Zeno im Jahre 1700 die Oper Lucio Vero gedichtet hatte, war der ihr zu Grunde gelegte Stoff zu einem Yieblingsgegenjtande der Opera jeria geworden. Nicht nur Zeno’3 Driginaldihtung wurde viele Male componirt?), jondern auch Ueberarbeitungen derjelben, die ſich als ſolche äußerlich dadurch kennzeichnen, daß fie nicht den Namen Lucio Vero, jondern Vologeso tragen. Jommelli's berühmter Vologeso, der 1766 zum Geburtstage des Herzogs Karl von Württemberg in Stuttgart zum erjten Male auf- geführt wurde, und den Heinje in „Hildegard von Hohenthal” begeiftert fritifirt, beruht auf einer folchen Weberarbeitung. Diefe aber geht wieder auf eine andere Ueberarbeitung zurüd,

!) Das Libretto ift im Liceo musicale zu Bologna (Componimento Drammatico da cantarsi per l’elezione dell’ Augustissimo Francesco I. Imperator de’ Romani e per solennizare il glorioso nome della Sacra Cesarea Maestä della Regina d’Ungheria e Boemia. D’ordine dell’ Eminentissimo e Reverendissimo Principe il Signor Cardinale Aless, Albani. Roma, 1745).

®) Poesie drammatiche di Apostolo Zeno. Tomo secondo. In Orleans (Couret de Villeneuve) 1785. p. 59.

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die Rinaldo benugte!). Rinaldo's Oper wurde im Garne: val 1739 zu Rom im Teatro a Torre Argentina aufgeführt. Eine Arie daraus findet fich in meinem jchon erwähnten Sammel- bande; fie trägt die Beifchrift: Argentina 1739. Berenice, und beginnt mit den Worten: Dal sen del caro sposo

| Richiamerö il mio core.

Da mir das vollftändige Textbuch nicht vorliegt es befindet fih im Liceo musicale zu Bologna und ift nebſt anderen von Herrn Emil Vogel in Leipzig 1885 dajelbit für mich biblio- graphiſch aufgenommen worden fo kann ich nicht ganz ficher jagen, an welcher Stelle der Handlung Berenice die Arie fingt. Das Jommelli'ſche Tertbuch weicht, wenn nicht in den Situa- tionen, jo dod in den Worten der Arien nicht jelten ab, und fo auch bier. Wahrſcheinlich aber ift e8, daß die Arie in der vierten Scene des zweiten Aftes ihre Stätte hat. Lucio Vero droht der Berenice, den Vologejo fofort tödten zu laffen, wenn fie ihm ihre Liebe verweigere. Zwiſchen dem Wunſche, den Gatten zu retten, und dem Abfcheu vor einem Treubruch ſchwankt fie qualvoll hin und her. Diejer Zujtand ift ſowohl durch den Charakter der Melodien, ald durch einen originellen Bau der Arie vortrefflih ausgedrüdt?). Eine Handichrift mit zwei andern Stüden aus Vologejo wird in Dresden aufbewahrt?). Beide tragen die Beifchrift In Argentina 1739, und find für Sopran. Die eine derjelben, Finche lento il fiumicello Riposar fra le sue sponde (B-dur, °'s), ift von jehr lieblihem Grundcharafter, bat aber einen zu allgemein gehaltenen Tert, um baraus die Stelle des Dramas erkennen zu laffen, an die fie gehört. Die

!) La Musica & nuovamente composta dal Signor Nicold Jommelli, beißt ed im Stuttgarter Textbuch des Vologeso. Das Wort nuoramente mag auf Rinaldo’3 Compoſition zurüdweifen.

2) Eine andere Handichrift der Arie befindet fi in der Privat-WRufi- falienfammlung des Königs von Sadien. Sie ift aber in Deutihland angefertigt und ohne jeden näher beftimmenden Beifag.

2) In der Privat-Mufifalienfammlung des Königs von Sadfen.

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andere iſt die große Scene der Berenice aus dem dritten Akt: Berenice ove sei?, die auch in der Compoſition Jommelli's ſo lebhaft bewundert wurde, und vom Dichter ſehr glücklich für die muſikaliſche Behandlung erſonnen iſt. Burney hat Recht, wenn er jagt, dieſe Scene Rinaldo's könne als Beiſpiel dienen, zu welder Vollendung es die dramatifhe Muſik der Staliener ihon um 1739 gebracht habe. Die ‚Freiheit der Geitaltung, Eigenthümlichkeit der Erfindung, Mannigfaltigfeit und Wahrheit des Gefühlsausdrudes macht diefes Stüd in der That zu einer hervorragenden Erjcheinung in der Gejchichte der Oper'). Für den großen Eindrud, den Rinaldo’3 Vologejo in der muſi— falifchen Welt bewirkte, zeugt nicht nur der Umftand, daß aus diefem Werke mehrere Arien erhalten find. In demjelben Jahre ihres erſten Erfcheinens in Rom ſoll fie auch ſchon in Straßburg gegeben worden jein?), im folgenden Jahrzehnt erregte Monti- celi mit der Arie „Nell’ orror di notte oscura* in London Aufjehen?), und noch im Jahre 1764 wurde die Partitur der gefammten Oper in Leipzig feil gehalten *).

on Farnace, der zweiten Oper des Jahres 1739, weiß ich wenig zu jagen. Foͤtis hat die Jahreszahl wohl aus La Borde, welcher als den Dichter [Antonio Maria] Luchini angibt. Da- durch werden wir auf Alacci zurüdgeführt, der allerdings jagt?),

ı) In Dresden a. a. O. befindet fih nod eine Arie von Rinaldo's Gompofition: Pensa, mio ben, chi sei, Pensa, che fido io t’amo (F-dur, EC, Larghetto), bei der nicht bemerkt ift, wohin fie gehört. Sie dürfte ebenfalld aus dem Bologejo ftammen und paßt für Aft II, Scene 2, wo Berenice durch Bitten und Schmeidheln den Lucio Vero zur Gnade gegen Bologefo bewegen will, diefer aber es ihr verwehrt, als ihrer beider nicht würdig. Die Mufit ift ſchön und ausdrudsvoll.

2) Serber, Xericon II, Sp. 293.

®) YQurney, A general History. Vol. IV p. 559 und 448. Sie fteht in den von Walfh herausgegebenen Favourite songs of the Opera of Gianguir, einem Pafticcio, zu dem außer Rinaldo noch Haffe, Zampugnani und Brivio beigefteuert haben.

4) Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 28: „Rinaldo, di Capua, Opera. Il Vologese. rappr. in Argentina 1739, 15 Thaler.”

°) Drammaturgia. In Venezia, 1755. Col. 328.

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daß Lucchini's Farnace 1739 in Venedig mit Mufif von „Leonardo da Capua, Napolitano“ gegeben jei. Sit num „xeonardo“ nur ein Verſehen Allacci's jtatt „Rinaldo” was allerdings anzunehmen, jo haben La Borde und Fetis Recht '). Die Erijtenz einer Oper Farnace von Rinaldo’s Compofition ift aber auch ohnedies erwielen. Padre Martini bejaß feiner Zeit die Partitur.

Außer diejen drei Opere serie und dem jchon genannten Componimento drammatico jind nod ferner drei Opern erniten Charakters nachweisbar. Im GCarneval 1743 führte Rinaldo in Rom einen Turno Herdonio Arieino auf, und zwar nella Sala degl’ Illustrissimi Signori Capranica. Gioachino Conti, genannt Gizziello, derjelbe ausgezeichnete Sopranift, welcher 1736 und 1737 unter Händel in London gewirkt hatte, fang eine Hauptpartie darin. Weiteres ift über diejes Werk nicht befannt geworden. Mit Mario in Numidia, der ſechs Jahre jpäter, aljo zum Garneval 1749 in Rom erſchien, jteht es bejler. In diejer Oper, die von Giampietro Tagliazuchi gedidhtet war, und im Teatro delle Dame aufgeführt wurde, jang fein Geringerer als Gaffarelli die Hauptpartie; eine andere Rolle führte der treffliche Santarelli aus, der in demjelben Jahre zum päpftlichen Capelljänger ernannt wurde. An der Berühmtheit der Eänger mag man ermejjen, in wie hohem Anſehen damals Rinaldo felber jtand. Aus dem Mario find fünf Arien und ein Duett erhalten ?), ſämmtlich von Bedeutung, theilweije ausgezeichnet Schön. Drei von ihnen find

1) Ihre Angaben werden beftätigt durch Taddeo Wiel, Catalogo delle Öpere in Musica rappresentate nel secolo XVIII in Venezia (1701— 1750). Benedig, 1892. S. 129 f. Den Bompeo jang der damals 2djährige Anton Raaf, der 1781 noch als Idomeneo in Mozarts Oper auftrat.

?) In einer Abjchrift von italieniiher Hand, befindlich in der Muſi— kalienſammlung des Königs von Sachſen. Ueber jedem Stüde fteht: Alle Dame 1749. Del Signor Rinaldo di Capua. Alle Stüde find aud nod in anderen, zum Theil mehrfachen Handichriften dort vorhanden. Zwei derfelben (Fui lieto allor und Deh se pietä) auch auf der königl. Hof- und Staatöbibliothef zu München.

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Bravourarien im großartigen Stil und mit einer reihen Orcheiter- begleitung ausgeftattet, die Flöten, Dboen, Hörner, ja jelbit Trompeten in Verwendung bringt. Der bloße Augenjchein würde lehren, daß fie für einen Geſangsmeiſter erjten Ranges bejtimmt geweſen jein müſſen, wüßten wir auch nicht, daß Caffarelli diejer Meifter war!). Die Arie Deh se pietü pur senti (A-dur, C, Largo) bewegt fi dagegen durchaus in einfachen, getragenen Melodien von überzeugender Schönheit; von großer Wirkung ind namentlich einige im breiten Crescendo und mit lang aus- gehaltenen Tönen über den Achteln der Begleitung auffteigende Tongänge. Einen mehr lieblichen, jchmeichleriichen Charakter trägt die Arie Al caro amato oggetto Dite che partirò (A- dur, ®s, Graziofo.) Von gejangreichiter Melodieerfindung ift das Duett Vanne, addio! (A-dur, ®s, Larghetto); eine ſüdlich— ſüße Fülle quillt aus diefen Tönen, bie von weiten auf gewiſſe Stüde aus Mozarts Cosi fan tutte hindeuten.

E3 muß auch eine Olimpiade von Rinaldo’3 Compofition gegeben haben. Der Zufall hat zwei Arien auf unjere Zeit gelangen laflen, die einem am 25. November 1750 aufgeführten Werfe entnommen find?). Sie gehören in die berühmte Dichtung diefes Namens, die Metaftafio 1733 verfaßt hatte, und zählen unter die reizendften, die id von Ninaldo fenne. Mit der einen: No, la speranza più non m’alletta, Voglio vendetta, non chiedo amor (G-dur, *4) jingt Argene den treulofen Licida an (Akt II, Scene 12); der Ausdrud it heftig, troßig, doch wird weislich jedes tragifche Pathos vermieden. Die andere: Caro, son tua cosi, Che per virtü d’amore I moti del tuo core Risento anch’ io (At IIL, Scene 2), gehört der edlen NAriften,

!) Die Anfänge der Arien find: Fui lieto allor che intorno Splendea sereno il giorno (F-dur, 4, Allegro ma non molto); Saggio nocchier s’ammira (D-dur, (X, Allegro); Al mio cor parlar non sento Che furor, vendetta ed ira (G-dur, (X, Allegro).

?) Auch fie werden in der Muſikalienſammlung des Königs von aufbewahrt. Die Handſchrift iſt die eines Italieners.

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die den Geliebten vor dem Zorne ihres Vaters ſchützen und diefen zugleihd milde gegen den verbrecheriſchen Freund des Geliebten ftimmen will. Es ift ein Andantino graziofo (D-dur, 3/4) voll bingebender Zärtlichkeit; Flöten und Hörner neben dem Saitenquartett dienen, ein blühendes Colorit herzuitellen, und find oftmals zu feinen Klangwirkfungen verwendet.

Noch liegen drei einzelne Sopran-Arien vor, Die ich zur Zeit nicht unterzubringen weiß, die aber den Stil der Opera jeria zeigen. Sie alle verrathen die hervorragende fünftleriiche Begabung und den Gejchmad ihres Schöpfers, unbedeutend iſt feine von ihnen, doch zeichnet ſich durch ihre frühlingsartige Lieblichkeit aus Quell’ amor che il petto accende Alimenta un cor gentile (F-dur, ®s, Andantino), die, mit Flöten und Hörnern aus: gejtattet, au) ganz feine Züge der Inftrumentation aufweilt. Die anderen beiden mögen wenigftens genannt fein: Priva del padre, oh Dio, Che da sperar mi resta (F-dur, ?;s, Allegro), und: Non sa trovar conforto Il povero mio core (G-moll, C), Andante.

Sehr thätig ift Rinaldo in der Opera buffa und den ihr verwandten Gattungen gemwejen; dies können wir troß der Karg— beit und Zujammenhangslofigfeit der über ihn vorhandenen Nahrihten dennoch deutlich erfennen. Wielleicht wird es nur die Opera buffa fein, in deren Geichichte er fortlebt, ſchon um deswillen, weil jein einziges ganz erhaltenes Werk eine ſolche Dper ift; daß ihm dieje wirflih einen dauernden Nahruhm fihert, dürfte außer Zweifel ftehen. Bevor id) mich ihr zu- wende, möge über die andern Werfe diejer Gattung kurz geſprochen werden. Die chronologiiche Syolge eröffnet La liberta nociva, ein Dramma giocoso per Musica im Garneval 1740 auf dem Teatro alla Valle in Rom zum erften Male aufgeführt. Die Beliebtheit dieſes Werkes bezeugen jpätere Aufführungen in Florenz (1742), Bologna (1743), Venedig (1744). Wenn be- richtet wird, Rinaldo und Galuppi hätten dieje Oper zujammen componirt, fo ift das jicherlih nur auf die Aufführung in

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Venedig : zu beziehen. Bei dieſer werden in Rinaldo’3 Mufit Einlagen von Galuppi gemacht worden jein‘). Ein andres Werk Rinaldo's, das erit 1744 entitand und im Teatro San Cassiano zu Venedig im Garneval desjelben Jahres aufgeführt wurde, mag er dann wirflihd in Gemeinfamkeit mit Galuppi gearbeitet haben. Es ift L’ambizione delusa, ebenfalls ein Dramma giocoso per Musica. Das Tertbuh in Bologna erwähnt freilihd nur Ninaldo ald Componiften, Allacci aber neben ihm in zweiter Reihe auch Galuppi. Es ift eine natür- lihe Annahme, daß über der neuen Inſcenirung eines älteren Werkes Rinaldo’8 die beiden Tonmeifter ſich gefunden, und als- dann noch für denjelben Garneval an einem neuen Werke ihre Kräfte gemeinjam verjucht haben. Die Ambizione delusa wurde im Frühjahr 1745 aud in Mailand gegeben. Von der Libertä nociva bejaß jeiner Zeit Padre Martini die Partitur ?). Schwach beglaubigt ift die Eriftenz einer Oper La donna vendicativa, welche jhon um 1740 in Italien gegeben jein joll®). Sie für ibentifh zu halten mit La donna superba, die am 19. December 1752 von italienifchen Buffoniften den Barifern vorgeführt wurde*), verbietet der uns befannte Tert der legteren. Sicher willen wir von einer Oper jenes Namens nur aus dem Jahre 1771; märe fie damals erſt componirt worden, jo fiele fie in Rinaldo's jpätefte Zeit. Der vollftändige

!) Allacci, Drammaturgia, col. 483. Bei Ya Borde, Essai sur la Musique, ®d. II, &. 191 fteht unter den Opern Galuppi's von 1744. allerdings auch La liberta nociva.

2) &, über die beiden Opern aus Wiel, a. a. D. ©. 147 f.

3) Clement et Larousse, Dictionnaire des operas. Paris [1881]. p. 234. Auf Goldoni's gleichnamiger Komödie könnte fie nicht beruhen, da diefe erft 1751 gedichtet wurde; s. Memorie di Carlo Goldoni, Tomo II, p. 100 (ver Ausgabe von 1822).

+) Albert Janfen, Jean: Jacques Rouffeau ald Mufiter. Berlin, Georg Reimer 1884. S. 160. Daß 13. Dec. ein Drudfehler fei ftatt 19., weiß ih aus brieflicher Mittheilung des Herrn Verfaffers. Dagegen gibt nad) gefälligem Bericht des Herrn Mathis Lufſy in Paris der gedrudte Katalog deö Repertoire de l’Opera den 29. Dec. an.

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Titel it La Donna vendicativa e l’Erudito spropositato. Sie wird als Intermezzo für vier Sänger bezeichnet, und wurde im Garneval im Teatro della Pace zu Rom gegeben. Ein Fragment ber Mufif befindet ſich handjchriftlih im Britiſh Mujeum zu London).

Es folge Le Nozze di Don Trifone, ein Intermezzo für vier Sänger im Carneval 1743 in der Argentina zu Rom ge- fpielt. Sodann: La Commedia in Commedia, Dramma giocoso nah dem gleihnamigen Luſtſpiel des Cofimo Antonio Bell; die Aufführung fand 1749 zu San Cassiano in Venedig ftatt. Eine italienifhe Operntruppe führte das Werf in demjelben Jahre auch in Münden auf?). Won der Muſik ift fein Neft dort übrig geblieben, auch die Partitur, welche Martini beſaß, ift verſchwunden. Doch hat %. Walſh in London feiner Zeit eine Auswahl der Arien im Drud herausgegeben; die Oper muß aljo aud in London gefpielt worden fein®). Ferner: Il Ripiego in Amore, eine Farsetta per Musica, erſchien im GCarneval 1751 auf dem Theater alla VaHe zu Rom und wurde 1757 aud in Bologna gegeben. La Forza della Pace, ein Intermezzo für drei Sänger, fam im Garneval 1752 heraus und zwar wieder in Rom, aber im Theater della Pace, wo von nun ab alle noch befannt gewordenen Opern Rinaldo’3 ihre Erſcheinungsſtätte finden. Ausgenommen ift nur die Serva sposa, ebenfalls ein Intermezzo für drei Sänger, deffen Titel ſchon verräth, daß es einer von Pergoleſe's Serva padrona bherrührenden Anregung feine Entitehung verdankt, und das im Carneval 1753 wiederum auf dem Theater alla Valle gegeben wurde. La Chiavarina, Intermezzo für drei Sänger, 1754;

1) Additional Manuscripts Rr. 16. 116.

2) Allacci, a. a. D., col. 860. Biel, a. a. D. ©. 174. Rudhart, a. aD. ©. 138.

%) The favourite Songs in the Opera call'd La Comedia in Comedia. Partitur. 21 Seiten in Fol. Ein Erempfar im Britifb Mufeum.

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Il Caffe di campagna, Farſetta für vier Sänger, 1764; Li Finti pazzi per amore besgleichen, 1770; endlich die ſchon genannte Donna vendicativa von 1771 find die legten römischen Opern. Wenn Burney erzählt, Rinaldo habe noh im Winter 1769--70 ein Werk in Rom mit Beifall aufgeführt, jo wird man in Li finti pazzi eben diejes Werk zu erkennen haben, Die Angabe, daß es im Capranica-Theater aufgeführt jei, bildet Fein Hinder; niß; Gapranica, oder vielleicht die ſchon oben genannten Illu- strissimi Signori Capranica werden die Befiger des Theaters della Pace gemwejen fein. Nur durch eine im Garneval 1758 zu Florenz ftattgehabte Aufführung ift La Smorfiosa bekannt, ein Intermezzo für drei Sänger. Auf dem erhaltenen Libretto wird Ninaldo als Maestro di Cappella Napoletano bezeichnet ; der Beiname Napoletano ijt ihm aud auf den Tertbüchern zu La Forza della Pace (1752) und La Serva sposa (1753) gegeben. Ich vermag nicht bejtimmt zu jagen, welcher Art die Beziehungen zu Neapel gewejen jein mögen, die hier angedeutet werden. Daß NRinaldo eine länger dauernde Anitellung in Neapel gehabt habe, halte ich für unwäahrſcheinlich. Möglicher: weiſe zielt das einzelne Wort Napoletano nur darauf bin, daß er in Neapel jeine muſikaliſche Erziehung erhielt; jchon bei der Oper Farnace wird er jo genannt!). Als jein Hauptwohnfig wird jedenfalls immer Rom angejehen werden müfjen. Denn von Sabre 1737 bis 1771 find bei weitem die meiften feiner Dpern in Rom aufgeführt; auf den Theatern Neapels, von deren Repertoiren wir dur Florimo jehr forgfältige und voll- ftändige Verzeichniſſe haben, erfcheint nicht eine einzige ?).

1) Allacci a. a. O. col. 328.

2) Florimo, La Scuola musicale di Napoli e i suoi Conservatorii. Band IV. In der Bibliothef des Conservatoire in Brüffel wird unter Rinaldo's Namen geführt die Partitur eined Dramma giocoso: La Statua per puntiglio und die Duverture zur Oper: Furberia in puntiglio. ber diefe Gompofitionen ftammen von Marcello di Capua, der mit Familien- namen Bernardini hieß.

II.

Im Jahre 1752 kam eine kleine Truppe italieniſcher Opern— ſänger nah Paris. Sie hatte Deutſchland durchzogen und dar: nad in Rouen auftreten wollen, wurde aber bewogen, zuvor in der Acad&mie Royale de Musique einige Borftellungen zu geben. Die Specialität der Signora Tonelli und der Signori Manelli und Coſimi jo lauteten die Namen der Hauptfänger war die Opera buffa, oder wie man damals noch allgemein fagte: das Intermezzo). Am 1. Augult 1752 führten fie fih vor dem Pariſer Publikum mit Pergolefe’s Serva padrona ein, und jpielten fodann ununterbrohen und mit unerhörtem Beifall bis in den Frühling 1754. Dies ift befannt. Ebenjo die That: ſache, dab das Auftreten der Sänger in Paris eine Umwälzung des franzöfiihen Geihmads hervorrief und die Umbildung der Tpera comique zu einer höheren Kunftgattung bewirkte. Was hier hervorgehoben werden joll, ift, daß Rinaldo an den glänzenden Erfolgen jeiner Landsleute einen Hauptantheil gehabt hat. Neben Pergoleſe's Werfen und namentlih der Serva padrona, die freilih den Haupttreffer abgab, waren es ganz befonders die— jenigen Rinaldo’3, die dem unjcheinbaren italienifchen Inter— mezzo zu einem jo unerwarteten und vollftändigen Siege über die jchwergerüftete franzöfiihe Oper verhalfen. Die Donna superba ift ſchon genannt. Durchſchlagender noch wirkte ein zweites Intermezzo. Diejes hieß La Zingara?).

!) „(Juand tu auras courus les provinces d’Allemagne pour avoir ton pain à manger et ton eau ä boire, je t’envoirai la louange t’attend et tu feras ma volonte*, läßt Grimm in Le petit Prophete de Boehmischbroda (1753) die geheimnikvolle Stimme zu Manelli fagen.

2) Albert Janien hat (a. a. D. ©. 159 f.) in dankenswerther Weiſe die in Paris gefpielten Opern jener Buffoniften zufammenzuftellen geſucht. Der Name „Altella* (S. 159, 3. 33—34) ijt ein Drudfehler für „Latilla‘. „U Tracollo“ und „Il medico ignorante“ find ein und basfelbe Stüd. Db das PVerzeihnib ganz vollitändig ift? Jener Anonymus, welder unter dem 21. Februar 1753 auf Grimms Petit prophete de Boehmischbroda

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Nifa, ein Zigeunermädchen, und ihr Bruder, Tagliaborfe betrügen, beitehlen, hänjeln und ängitigen einen alten Geizhals Galcante, und zwingen ihn endlich, die Nifa zu heirathen. Die Handlung joll auf einem Creigniß fußen, das fi in einer italienifhen Stadt wirfli zugetragen habe. So meldet ein bemerfenswerthe3s Schriftitüf von der Hand Sean Jacques Roufjeau’s, das aus der Bibliothek zu Neuchätel ang Licht ge- zogen zu haben ein Berdienit Albert Janjens it. Ach nehme an, daß die Autorſchaft Rouffeau’s feititeht und nicht etwa nur eine von ihm gefertigte Copie vorliegt; der Anhalt ließe auch die legtere Annahme zu, und ein anderes Zeugniß für den Autor als jeine Handjchrift it, joviel ich jehe, nicht vorhanden. In— deſſen irrt Janſen wohl jicherlih, wenn er das Schriftitüd an- jieht als ein Vorwort zu einer Ausgabe der Zingara!). Rouſſeau hatte im Herbit 1752 Pergoleje'$ Serva padrona herausgegeben, und bei jeiner leidenfchaftliden Bewunderung der beiteren italienischen Oper wäre es an fi durchaus glaublich, daß er die Abjicht gehabt hätte, eine Ausgabe der Zingara folgen zu lafjen. Aber der Anhalt des Schriftitüdes ift nicht die An- fündigung einer jolchen, jondern vielmehr die einer Aufführung. Das Theaterpublifum ift es, das vorbereitet, günftig und nad): jihtig geftimmt werden ſoll. Man hatte den Buffo-Sängern einen Vorwurf daraus gemacht, einen Apotheker auf die Bühne der Academie Royale gebracht zu haben. Das war aber nicht durch die Zingara gejchehen, wie Janſen annimmt, denn in diefer fommt fein Apothefer vor, jondern durch den Medico ignorante, der den 1. Mai 1753 zum erften Male aufgeführt worden war. Sieben Wochen jpäter (den 19. Juni) brachten die Italiener mit der Zingara wieder eine Novität, in der nun ſo—

replicirte, nennt S. 7 Zatilla, Borpora, Rinaldo, Leo, Buranelli [Galuppi] Vinci und Pergolefe. Woher fannte er dieje, wenn nit aus den Parifer Aufführungen? Borpora und Galuppi find aber bei Janſen überhaupt nicht vertreten, und Leo wenigſtens nicht vor dem 21. Februar 1753.

1) A. a. O. S. 18 f.

Bhilipp Spitta, Muſikgeſchichtliche Auffatze. 10

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gar ein Menſch auftrat, der fich in einen Bären verkleidet hatte. Da galt es, den darob entjtandenen Unmillen vor der eriten Wiederholung im voraus zu befhmwichtigen und der Mißgunſt der „Königd:Ede“ einen Damm vorzubauen. Hatte die Oper nur dieſen Stein des Anſtoßes glüdlich überwunden, dann darauf fonnte man rechnen that der Zauber der Muſik und des italieniichen Gejanges das Uebrige.

Nah diefen Bemerkungen darf ich wohl das interejjante Schriftſtück hier einfügen; es wird auch jpäter noch auf dasſelbe zurüdzufommen jein.

Avertissement.

Nous offrons au publie un Intermede du celebre Rinaldo auquel on a été oblige de faire de grands changements pour se conformer le plus qu'il &tait possible au goüt de la nation. Il serait impossible de dire que le sujet en est tir& d’une aventure arrivde dans une ville d’ Italie, car nous n’ignorons pas que la vérité qu’on demande au theätre, n’est pas une verit& de moeurs et de caracteres. Il ne le serait pas moins de vouloir excuser la scene de l’ours, si le public la des- approuve. On lui representerait en vain qu’il refuse de tol&rer dans une bouffonnerie un spectacle moins choquant que les monstres qu’il souffre paisiblement dans plusieurs opera serieux, et que le deguisement d’un homme en ours sous les yeux des spectateurs, et pour ainsi dire, de concert avec eux, est une chose moins pu6rile que de chercher & les epouvanter par des veritables bötes feroces mal re- presentees. (es raisons, que tout spectateur raisonnable et impartial saura bien se dire lui-möme, ne nous concilieront point les bonnes gräces de ceux aupr&s desquels nos eflorts memes pour leur agreer nous servent d’obstacles pour y reussir, de ceux qui nous font un crime d’avoir deshonore par un simple nom d’apothicaire ce m&me theätre qui ne l’a point été par les seringues de Pourceaugnac, comme si la gloire d’un theätre pouvait dependre du rang des

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personnages qu’on y represente, et qu’il fallut plus de talent pour jouer le röle d’un prince que celui d’un bourgeois ou d’un artisan. Iln’y a que la mauvaise musique qui puisse deshonorer une Acaddmie de musique, et nous ne craignons pas qu’on nous reproche d’avilir a cet égard le theätre sur lequel nous avons l’honneur de representer. Ü’est A nous A souffrir avec respect la sévérité qu’il plait au public d’exercer envers nous, en faisant tous nos eflorts pour n’avoir besoin que de la justice. Nous sentons avec douleur combien nous sommes loin de meriter ses suffrages, mais si notre plus grand crime est de chercher & lui plaire, nous n’&pargnerons rien pour nous rendre encore plus coupables !).

Eine Ausgabe der Zingara ift aber in diejer Zeit in Paris vwirflih erichienen. Ob Rouſſeau an ihrer Beranftaltung ſich betheiligt hat, weiß ich nicht; Sicher iſt, daß nicht er der Heraus- geber war, jondern der Sänger Cofimi, der den Tagliaborfe darftellte, und daß obiges Avertissement ſich in ihr nicht findet. Die ſplendid ausgeitattete Partitur von 106 Seiten in Quer- folio Hat franzöfiichen Titel und Dedifation. Der Titel lautet: La Bohemienne | Intermede | en deux actes | del Signor Rinaldo da Capua, | Repr&sente par L’Academie Royale de Musique | en Juin 1753. | Dedie | A Son Altesse Serenissime Monseigneur Le Comte de Clermont | Prince du Sang. Se vend a Paris | Aux adresses ordinaires. | Aus Coſimi's Dedifation genügt die Mittheilung folgender Säge: Encouragd par Les bontes dont Votre Altesse Serenissime m’honore, j'ose Lui presenter cet ouvrage,. L’Illustre Musicien qui en est L’auteur, jouit dans son pays möme et de son vivant de La plus grande reputation. Dann folgt die Muſik mit italienischen Tert; über dem erjten Stüde ſteht das Perſonen— verzeichniß, nach dem alfo Coſimi den Tagliaborje, Manelli den Galcante und die Signora Tonelli die Nifa fangen ?).

1) Janien, ©. 464 f. 2) Ein Eremplar diefer Partitur auf der Königlichen Bibliothek in Berlin. 10 *

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Hier wären wir nun endlid im Belige einer volljtändigen Oper Rinaldo’3. Xeider ift die Freude nicht ungetrübt. In dem Avertissement fteht zu lejen, daß man verpflichtet geweſen fei, große Veränderungen vorzunehmen, um fi dem Geſchmack der Franzoſen möglichit anzupaffen. Da nun Coſimi die Oper zweifellos in der Gejtalt hat jtechen laffen, in der er und die Seinigen mit ihr beim franzöfiihden Publikum Glück gemadt hatten, jo folgt, dab feine Ausgabe der Zingara nicht die Driginalgeftalt derjelben bietet. Es frägt fih nun, ob «8 möglih ilt, zu erfennen, worin die Veränderungen bejtanden haben.

Die Verhältniſſe ſcheinen injofern günftig zu liegen, als wir nicht allein auf Coſimi's Ausgabe angewiefen find. Nachdem die italienischen Sänger 1754 ihre Vorftellungen in Paris ge- endigt hatten, begaben fie ſich in ihr Vaterland zurüd und traten im Garneval 1755 in Peſaro auf. Hier fpielten fie alsbald auch die Zingara Ninaldo’s. Das zu diefem Zwede gedrudte Tertbuch it erhalten; die Bibliothef des Liceo muſicale zu Bologna befigt ein Eremplar. Der Titel ift dieſes Mal jo ge- faßt: Il vecchio Amante e la Zingara. Drammi giocosi per Musica'!),. Der Erwähnung werth ift noch der Zufag: Dopo essere stati fatti nel 1754 in Parigi. Man erjieht hieraus, daß die Oper auch noch 1754, aljo von ihrem erſten Erjcheinen am 19. Juni 1753 wohl bis zum Ende der italienischen Vor: jtellungen in Paris ununterbrochen geipielt fein wird. Zugleich jollte diefer Zujag unzweifelhaft als Empfehlung dienen. Daß in Rejaro dasjelbe Arrangement der Oper vorgeführt worden wäre, das für den Geichmad der Parijer hergerichtet war, darf aus jenen Worten nicht abgeleitet werden. Die Gründe, welde

!) Der Plural Drammi ift aus dem Gebrauche jener Zeit beibehalten, da die beiden Afte noch zwei felbftändige, mit einander nicht zufammen- hängende Stüde mwaren. In demielben Sinne findet man in diejer Zeit auch noch Intermezzi gejagt, wo es ſich doch ſchon um ein einheitliches zweiaftiges Stück handelt.

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die grands changements veranlaßt hatten, fielen ja in Stalien fort. Wirklich zeigt denn auch das Peſareſer Libretto nicht un- erhebliche Abweichungen von Coſimi's Ausgabe. Nur will es wieder das Unglück, daß nicht alle Abweichungen als Reſtitutionen des Driginal® angejehen werden fönnen. Es find nämlich den drei oder, wenn man eine ſtumme Perſon mitzählen will, vier Berfonen des Stüds, auf die fih das Original offen- bar bejchränft gehabt bat, noch zwei Perjonen hinzugefügt: Livio, amante di Ginevra und Ginevra, nipote di Calcante. Dieſe ſtehen als erufthaftes Liebespaar zu den Uebrigen im Contraſt, und Nifa muß außer allem, was fie jonit mit Calcante aufitellt, ihn auch noch zwingen, die Heiratb feiner Nichte mit dem ihm verhaßten Livio zuzugeben. Daß diejes Paar ein nad: trägliches Einſchiebſel ift, ergibt fich für den Kenner jchon dar— aus mit völliger Sicherheit, daß Livio und Ginevra, objchon auf der Bühne anmejend, doch nicht an dem Schlußgelange theilnehmen; fie gehen vor demfelben ab, und er erfolgt, wie ausdrücklich vorgeichrieben it, nur a tre. Es ergibt fich aber auch aus der inneren Zufammenbangslofigfeit, die zwischen ihren Scenen und dem Fortgange des Ganzen zu bemerken iſt. Solche jentimentale Xiebesjcenen find überhaupt gegen den Stil der damaligen Opera buffa. Auch läßt fich wenigſtens zum Theil für die Geſangsſtücke der beiden eine fremde Quelle nachmweijen. An der jechiten Scene des zweiten Aftes jingt Livio eine Arie; Fui lieto allor, che intorno Splendea sereno il giorno. Dieje fennen wir jchon: fie ftammt aus Mario in Numidia, Die Uritätte der übrigen Arien kann ich freilich nicht aufzeigen. Aber es ift um fo weniger daran zu zweifeln, dab auch fie aus anderen Opern Rinaldo's bier eingelegt worden find, als am Anfang des Tertbuches unter dem PVerfonenverzeichniß ganz ein- fah und allgemein jteht: La musica & del sig. Rinaldo di Capua. Offenbar hatten ſich in Peſaro zu der Eleinen Barifer Truppe noch zwei andere Geſangskräfte gefellt, die den Wunſch hatten, auch in der Zingara Verwendung zu finden. Dieſem

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Wunſche wurde denn mit echt italienischer Naivetät entiprochen. Die beiden Gefangskräfte waren Damen; es mußte alfo auch der Yivio von einer Sängerin vorgeftellt werden. Da paßte die Arie des Mario ganz gut; denn dieſer war eine Sopranrolle. SH darf das geſammte Perjonenverzeihniß hier mittheilen, auch um der drei Pariſer Sänger willen, die nur in dem Pejarejer Textbuch jämmtlih mit ihrem vollen Namen erjcheinen, und die doch in der Geichichte der U per epochemachende Perjönlichkeiten geworden find: Niſa, Zingara. La signor’ Anna Tonelli. Yivio, amante di Ginevra. La signora Francesca Mucci. Ginevra, nipote di Galcante. La signor’ Anna Farelli. Calcante, vechio avaro. Il Sig. Petronio Manelli. Tagliaborje, fratello di Nija. Il Sig. Giuseppe Cosimi. Taddeo, fjervo di Galcante. Livio und Ginevra zu Liebe mußten nun aber in der Partitur gewiffe Veränderungen und Auslaffungen vorgenommen werden. Wir können alſo auch mitteljt des Peſareſer Libretto nicht ohne Meiteres auf die volle Driginalgeitalt der Oper fommen.

Nicht lange nachdem die Bouffoniiten aus Paris gejchieden waren, hatte jih Favart der Zingara bemächtigt, fie ins Franzöfifche überjegt, den Dialog bier und da erweitert und unterhaltender gemacht, und jodann das Werf am 28. Juli 1755 auf dem Theätre Italien aufgeführt. Favarts berühmte Gattin jpielte die Nifa, Rochard den Calcante, Chanville den Tagliaborje, der bier unter dem Namen Brigani erfcheint. Auch in diefer GSeitalt erwarb fih das Stüd großen und dauernden Beifall, am 1. December 1755 und am 11. Februar 1756 mußte e8 vor den Majeftäten geipielt werden; es wurde jogar von einem

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gewiffen Mouftou parodirt und ald Parodie am 14. Juli 1756 mit wenig Erfolg gegeben!). Unter dem Titel La Bohemienne, Comedie en deux actes en vers, meslée d’Ariettes, traduite de la Zingara, intermede italien, par M. Favart ift die Partitur in Paris geitochen worden nebit dem vollitändigen Dialog, der nad) franzöſiſcher Sitte an die Stelle des italienischen Secco-Necitativs getreten war. Exremplare der Partitur find noch ziemlich häufig und beweifen die weite Verbreitung diejer Be- arbeitung. Wenn auch das Jahr der Publication nicht angegeben it, fo darf man doch annehmen, daß fie nod im Jahre 1756 erfolgte; gewiß nicht viel fpäter. Das Stüd ift in die gefammelten Theaterwerfe Favarts und feiner Gattin aufgenommen ?), und zwar mit der Mufif, die auch jeparat zu faufen war; indeſſen ber ichränft fich die Mufikbeilage, wie damals in ſolchen franzöftichen Rublicationen häufig, nur auf die Mittheilung der Singitimmen. Eine andere Ausgabe der Bohemienne erſchien in Lüttich; hier find die Mufifjtüde in den Tert gedrudt und mit einem Inſtru— mentalbaß verjehen?).

Es iſt Schon an und für fih nicht wahricheinlih, daß Favarts Ausgabe dem Originale näher fommen jollte, als die- jenige Coſimi's. Wenn die Italiener ſelbſt dem franzöfiichen Ge- Ihmade zu Liebe Nenderungen mit der Partitur vorgenommen hatten, jo war für Favart fein Grund vorhanden, fich dieſe Conceſſionen nicht anzueignen, falls fie auch ihm die Wirkſam— feit des Stüces zu fördern fchienen. Sein Streben mußte fein, ein recht interejjantes Stüd herzuftellen, in dem namentlich jeine Frau ihr Talent glänzen laſſen konnte, nicht aber, dem Originale

!) Histoire du theatre del ’Opera comique. Tome second. A Paris, 1769; p. 218. De Leéris, Dictionnaire portatif historique et litteraire des theatres. Paris, 1763; p. 84 und 649.

2) Theatre de M. Favart. Tome second. A Paris. 1763. 8. Sechſtes Stüd.

2) La Boh@mienne. Comedie en deux actes en vers. A Liöge, chez F. J. Desoer. &. Ohne Jahr.

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möglichſt treu zu folgen, vorausgejeßt, dab er von deſſen Be- Ichaftenheit überhaupt Kenntniß hatte. Ein Vergleich) der beiden Partituren Ichrt, daß die Cofimifche in der That von Favart gefannt und benutzt worden iſt. Beide laſſen eine correcte Redaction vermiſſen, die Favartſche iſt in einigen aus Coſimi entnommenen Stücken geradezu liederlich zu nennen. Aber nicht überall bat die italienische Partitur Vorlage der franzöſiſchen fein fönnen. Es finden fi in leßterer mehrere Stüde, die in jener fehlen.

Hier jcheint nun ein Avertissement in Favarts Partitur von Wichtigkeit zu fein, das jagt, die Mufif fei von Signor Ninaldo da Capua, aber binzufügt, das Duo am Schluß des eriten Altes jei aus Bergoleje's Serva padrona und die Ariette Laissez mon coeur fei „de Lasci des 3, Cigibees.“ In der That findet fi das Duett Per te io ho nel core, das den Schluß von Pergoleſe's berühmter Oper bildet, hier an der be zeichneten Stelle mit einem parodirten Terte anjtatt des Original— duetts Amore, oh che diletto eingejegt. Opern des Titels I tre Cieisbei ridieoli gab es von Natale Reſta und Legrenzio Vincenzo Ciampi. Lasci dürfte überhaupt fein Componiftenname jein; vielleiht joll e8 Laschi heißen, diefer Name kommt wenigitens in der damaligen italienischen Künftlerwelt vor"). Doch wäre ich geneigter, an die Oper Ciampi's zu denken, da diejer Componijt durch jeinen Bertoldo in corte, den Favart jelbjt jpäter parodirte, in Paris beliebt geworden war. Wielleicht liegt alfo ein Verſehen vor; Gewiſſeres würde man nur jagen können, wenn Ciampi's Oper wieder aufgefunden wäre. Immer— bin jchiene, nachdem die der Zingara einverleibten Stüde fremder

I) In einer Oper „Orazio“ fang in den vierziger Jahren des 18. Jahr- hundert? zu Yondon ein Signor Laschi eine Arie von Alefjandro Macchari und in derielben Oper eine Signora Laschi eine Arte von Paradied. Cs geht aus einer Sammlung von Nrien hervor, die Walih in Yondon aus diefer Oper berausgal. Beide Laschi traten auch 1744 in Rinaldos La Libertä nociva und L’ambizione delusa auf.

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Komponiften dergeftalt gewiſſenhaft angeführt worden find, der Schluß geitattet, daß alle übrigen Stüde der Partitur, auch die: jenigen, welche fich nicht in Coſimi's Ausgabe finden, von Rinaldo bherrühren. In Bezug auf die Angabe der Autoren wird in den franzöfifchen Partituren jener Zeit, und namentlic in den Parti— turen von Favartichen Stücen jonft immer ganz accurat verfahren. ‘ch führe nur deifen Annette et Lubin an; auf dem Titel fteht: Melée d’ Ariettes et Vaudevilles dont les aceompagnements sont de Mr. Blaise. Damit nicht genug; es jteht in der Rartitur außerdem bei jedem Stüd, das Blaiſe vollftändig componirt hat, diejes noch bejonders angemerft. Mit der Partitur der Bohemienne verhält es jich dennoch anders. Ahr find außer den genannten noch drei fremde Opern-Arien ein- gefügt, deren eine der „Scaltra Governatrice* des Cocchi, deren andere wahrjcheinlih dem von Garlo Sodi componirten „Giocatore* („Serpilla et Baceocco“), deren dritte enblich Ciampi's Bertoldo in Corte entlehnt ift. Aber bei feiner von ihnen ift die Entlehnung angemerkt; fie jegeln forglos unter Ninaldo’s Flagge. Wird hierdurch das Vertrauen auf die Zu— verläfligkeit der Favartichen Partitur noch um ein gutes Theil tiefer herabgedrüdt, jo fommt hinzu wie um die Verwirrung voll: ftändig zu machen —, daß die Zingara anfänglich von den Bouffo- nijten in Paris in etwas anderer Form gejpielt jein muß, als bei fpäteren Wiederholungen. Die Terte pflegten mit gegenüber- ftehender franzöfifcher Proſa-Ueberſetzung gedrudt zu werden’). Bei Vergleihung des vor der eriten Aufführung der Zingara gebrudten Tertbuchs mit Cofimi’3 Partitur ftellt fich heraus, daß fie nicht überall ftimmen. |

Das iſt das Material, mit dem wir uns behelfen müſſen. Unter Zuhülfenahme jämmtlicher inneren kritiſchen Mittel will

!) Eine reihhaltige, wenn auch nicht ſämmtliche damals geipielte Opere buffe umfafiende Sammlung folder Tertbücher befigt Herr D. F. Scheurlcer in 'S-Gravenhage und hat fie mir freundlichit zur Verfügung gejtellt.

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ih nunmehr verfuchen, ob es gelingt, die Driginalgeitalt der Zingara bis zu einem gewiflen Grade wiederherzujtellen. Zu diefem Zwede empfiehlt es fi, die einzelnen Nummern der Partitur nad der Reihe durchzugehen. Sch lege hierbei die Coſimiſche Ausgabe zu Grunde und erkläre ihre Abweichungen von dem Pariſer Libretto damit, daß fie erit nad) der, gewilje Un- möglichkeiten offenbarenden, erjten Aufführung redigirt worden iſt.

Eriter Akt. l. Eine Canzonette, von Nifa und Tagliaborje zweiltimmig vorgetragen, vom Baß und zwei höheren Inſtrumenten (Biolinen)

begleitet, dient als Einleitung. Der Tert lautet:

Con la speme del goder Pace attenda e rida il cor. Vada lunge ogni pensier Di tristezza e di dolor.

Die Tonart ift E-dur, nur in der in Favarts Werfen enthaltenen Mufikbeilage ift D-dur gewählt. Auf eine Kritif des ziemlich fehlerhaften Stichs laſſe ich mich hier nicht ein; doch ift zu be— merfen, daß Tagliaborje’s Stimme in Coſimi's Ausgabe im Alt: jchlüffel notirt ift, während alle andern Ausgaben ihn eine Dftave tiefer im Baßſchlüſſel fingen laffen. Auch bei Cofimt ift natürlich die Baßlage gemeint, ebenjo wie in der gleichfalls im Altichlüffel notirten Arie Voce che flebile. Die Schlüffelver- wendung war damals in der Opernmuſik eine jehr willfürliche und hing oft von Zufälligfeiten ab, die fich unjerer Kenntniß entzogen haben. Bon Tagliaborje's Partie find in Eofimi’s Aus: gabe die Necitative im Bapjchlüffel, die eben erwähnten Stüde im Altichlüffel, die Arie Tu non pensi und der Schlußgeiang aber im Tenorfhlüffel notirt. In Favarts Partiturausgabe findet jih nur Baß- und Tenorſchlüſſel angewendet, legterer in Uebereinjtimmung mit Gojimi. Die Muſikbeilage in Favarts Werfen weiit bis auf den im Schlußgefang verwendeten Tenor: ſchlüſſel überall Bapichlüffel auf, hat aber die Arie Tu non pensi von D-dur nad) B-dur transponirt. In der Lütticher

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Ausgabe endlich ift der Baßſchlüſſel, und wo bei Cofimi Tenor=, der Violinſchlüſſel gejegt. Es ergibt jih, dab die Stimme des Vertreters dieſer Role, alſo des Coſimi jelbit, ein nad der Höhe hin bejonders ausgiebiger Tenor-Bariton geweſen fein muß, und die VBermuthung liegt nahe, daß Rinaldo die Zingara eigens für jene Eleine Truppe componirt haben dürfte.

Was nun aber die Canzonette an fich betrifft, jo it es ihon bei dieſem erjten Stüde zweifelhaft, ob es urfprünglich für die Oper componirt worden iſt. Daß es in dem Bejarejer Libretto nicht fteht, will freilich nicht8 bedeuten. Denn bier bilden zwei binzugedichtete Scenen von Ginevra und Livio den Anfang. Aber Buffo-Opern pflegen ſchon im allgemeinen nicht mit jolchen liedartigen Gejängen eingeleitet zu werden. Was wichtiger ilt: der Tert paßt nicht zu der Situation. Denn jo jehr er ſich auch in allgemeinen Wendungen bewegt, grade diefe Situation wird durd fie nicht gededt. Die Gemüthslage diejes ſpitzbübiſchen Gejchwifterpaares, das im Begriffe ift, einen alten, geizigen Tropf zu dupiren, und fich darauf freut, Fann nimmer in jolhen Worten Ausdrud finden. ch glaube daher, dab der Componiſt jein Werf jogleih mit dem Recitativ der Nifa begonnen hatte.

2. Arie des Tagliaborfe Tu non pensi (D-dur). In dem Peſareſer Libretto tritt Tagliaborje gleih als Bär verkleidet auf. Die Arie Tu non pensi findet ſich hier aber in der erſten Scene des zweiten Aftes. Auch im Pariſer Textbuch erjcheint er von Anfang an in Bären-VBermummung und fingt feine Arie unter diejen erſchwerenden Umständen. Bei Coſimi verkleidet er fih erit während Galcante’3 Arie Ho ragione. Man bedente nun, daß die Italiener grade mit dem Bären Anjtoß bei den Pariſern erregt hatten. Sie mußten deshalb juchen, die Zus jchauer auf dieje Ericheinung möglichft vorzubereiten. In dem Avertissement betonen fie das Stattfinden des deguisement d’un homme en ours sous les yeux des spectateurs. Hier liegt aljo offenbar eine der von ihnen eingeitandenen Ber:

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änderungen vor. Was aber die Arie betrifft, jo gehört fie ur- fprünglid gewiß in die erite Scene des zweiten Altes. Der Schnitt, der behufs der Umſtellung in das vorangehende Recitativ gemacht werden mußte, ift nämlich noch deutlich zu erkennen. Er fällt hinter den Ausruf A meraviglia. Die folgenden Worte: Tutto va ben, ma l’orso vuol mangiare gehören ſchon in den zweiten Akt, und pafien, überlegt man es fi ge— nau, auch nicht an den Anfang des erjten. Die Worte Nifa’s, die den Bruder in feiner Verkleidung prüfend und lachend be: trachtet: Desta alle risa Il vederti vestito in questa guisa, Pure lo sai per prova Che ad ingannar la gente molto giova mußten natürlich für die endgültige Pariſer Bearbeitung ganz fort bleiben, da bier Tagliaborfe in der eriten Scene noch nicht ver: fleidet auftrat. So ift an diefer und auch an anderen Stellen manches vom Secco-Recitativ in Wegfall gefommen ; nicht weniger haben oftmals Fleine Nenderungen in der Singftimme und den Harmonienfolgen eintreten müfjen, um das Zerftüdelte wieder zufammenzufügen. In diefen Dingen auf die Originallesarten zurüd zu gelangen, iſt aljo unmöglich. Weber die Arie aber jei noch bemerft, daß Noufjeau fie als Beiſpiel anführt, wie in der italienischen Oper fi Gejang und Inſtrumente zu einer jolchen Beſtimmtheit des Ausdruds vereinigten, daß der Sänger dadurch zu gewiſſen entiprechenden Seiten gleihjam gezwungen würde).

3. Arie des Galcante Ho ragione, si Signore (G-dur). An dem Orte, wo ihm die Zigeuner-Geſchwiſter auflauern nad Peſareſer Vorjchrift ein Gehölz außerhalb der Stadt, nad Pariſer eine einfame Straße innerhalb der Stadtmauer —, er: Scheint der Alte zanfend mit jeinem Diener Taddeo. Seine Arie wäre aljo die erfte der Dper, der vorausgehende Dialog der Geſchwiſter hätte nur im Secco-Necitativ zu verlaufen. Wer:

’) In der Lettre sur la musique frangaise, die überhaupt ein be

wunderungswürdiges Verſtändniß der damaligen italieniihen Muſik offen- bart.

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gleiht man mit dieſen Ergebniffen Favarts Bearbeitung, fo ftellt fich heraus, daß er hier ausjchließlich der Ausgabe Coſimi's gefolgt jein muß. Damit jol indeſſen noch nicht behauptet jein, dab ihm die Originalpartitur in der Geſtalt, wie fie die Staliener mit nad Paris gebracht hatten, ganz unbekannt geweſen fein müſſe.

Dem Calcante nähern ſich Niſa und der inzwiſchen zu einem Bären umkoſtümirte Tagliaborſe. Ihn reizt ihre Schönheit, ſchreckt die Anweſenheit und Zudringlichkeit des Bären. Doch läßt er ſich von ihr aus der Hand weisjagen.

4. Vierſtrophiges Lied der Nifa Ella può eredermi (D-moll), in welchen fie dem Galcante ihren Spruch jagt. Am Schluß einer jeden Strophe macht Galcante jeine Bemerkung dazu. Ein in jeiner Einfachheit genial zu nennendes Stüd.

Im Recitativ bittet ihn Nifa dann, ihren Bären vor ihm tanzen lafjen zu dürfen.

5. Tanz des Bären. Cine reizende G-moll-Dielodie, von Nija nur geträllert. Sie beitebt aus zwei zu wiederholenden Theilen, deren eriter vier, deren leßter acht *4-Tafte zählt.

Galcante ift entzüdt und will ihr den Bären abfaufen, mit dem er glaubt ein gutes Gejchäft machen zu können. Sie ver: langt 30 Dufaten. Bis bier fließen unſere Quellen denfelben Weg; jet aber trennen fie fi wieder. An den Libretti macht Galcante ein Gegengebot von 10 Dukaten; Niſa meint, er würdige doch die Künjte de3 Bären zu wenig und läßt ihn noch einmal tanzen. Darauf verfteht ſich Calcante zu 20 Dufaten, und Niſa erklärt jich einverjtanden. In der nachträglichen Um— arbeitung für die Acad&mie Royale tritt das Beftreben hervor, über dieſe Scene möglichit rasch hinweg zu fommen: der Bär tanzt nur einmal, Calcante bietet 20 Dufaten, und der Handel wird abgeichlojien. Daß die Scene, wie fie in Peſaro gejpielt wurde, eine Wiederberitellung des Urfprünglichen it, fieht man leiht. Das zum zweiten Tanz gejungene Larä, larà, larà des Tertbuches jcheint anzudeuten, es jei hier die Melodie vor vor-

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ber wiederholt worden. Favart hat unzweifelhaft die Original- geitalt dieſer Stelle gefannt. Da feine Bohemienne auf dem Theätre Italien erſchien, braudte er Tadel wegen Ent- würdigung der Bühne dur derlei Poſſen nicht zu befürchten. Er fonnte die Scene wieder in ihrem vollen Umfange jpielen lafien, und that es um fo lieber, als feine Frau in der Rolle der Niſa gerade bier eine qute Gelegenheit erhielt, ihre eigen- thümlichen jchaufpieleriichen Gaben zu entfalten. Wir finden in feiner Partitur aber feine Wiederholung der vorigen Tanzınelodie. Niſa fingt ein neues Liedchen, zu deffen Rhythmen der Bär Tagliaborfe Tanzjchritte und Complimente mahen muß. ch theile e8 auf den folgenden Seiten vollftändig mit, denn es iſt ein Stüd, durch welches fih das Intereſſe für Ninaldo von Capua mit der Mufifübung unferer Tage verfnüpfen läßt. Die Melodie iſt befannt: fie gehört zu der Canzonette

Tre giorni son, che Nina

In letto se ne stä.

Piffari, timpani, eimbali

Svegliate la mia Nina,

Acciö non dorma pi.

In der Musgabe der Bohämienne, die ſich in Favarts ge- jammelten Werfen findet, jtehen faft überall über den franzöfifchen Gejangsterten die Anfänge der italienischen Originale. Weber den Examinez sa grace jteht Tre giorni. Hieraus geht ber- vor, daß obiger Tert der zu der Melodie urjprünglich gehörige tt. Wenn aber dies, jo kann das Liedchen nicht für die Oper componirt gewejen fein, denn der Inhalt des Tertes jteht außer aller Beziehung zu ihr. Es ift ebenfo wie die oben bejprodene Ganzonette Con la speme del goder als eine Einlage anzujehen. Ganzonetten pflegte man in der Regel nur mit Generalbaß- begleitung zu componiren. Die Violinen werden daher behufs Einfügung in die Oper von fremder Hand hinzugethan fein. Sie find ungejhicdt genug componirt und gar nicht in Rinaldo's Manier.

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Ariette').

E - xa- mi-nez sa gra-ce, sa gra- ce, c'est —— ERBE Be,

1) Ich gebe das Stüd genau jo wieder, wie es in Favarts Partitur fteht; nur ift am Anfange über der nftrumentalftimme noch zu lefen: Pe. Violon und unter derjelben: s.° molto. s.“ ſoll jedenfalls staccato bedeuten. Einige Stichfehler habe ich verbeflert.

Brunet, sau-tez pour Ja -vo-te, tour - nez pourChar-

et fai-tes ser-vi - teur comme un jo - li Mon-

Thilivp Spitta, Muſitgeſchichtliche Autiäge, 11

fai -tes ser - vi - teur.

—— ——

ee

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Als Componift der Canzonette gilt feit langem und bis auf den heutigen Tag Pergoleje. Allein dieje Annahme ſtützt fih auf feinerlei verläßliche Weberlieferung. Sie fcheint auf eine engliſche Verlegerjpeculation zurüd zu gehen. Denn als Fliegendes Blatt iſt die Ganzonette unter Pergoleſe's Namen „etwa in dem ſechſten Jahrzehnt des vorigen Säculums“ in England gedrudt worden, und diefer Drud bildet meines Wiſſens die ältefte Duelle für Pergoleſe's Autorichaft. Die in Anführungszeihen gejegten Worte find von Bernhard Gugler, der dem Tre giorni son feiner Zeit einen kleinen Aufſatz ge widmet hat, ohne Pergolefe als Gomponijten in Zweifel zu ziehen !). Aber mag man Favarts Partitur auch mißtrauen fo lange fein andrer in zuverläfliger Weife als Verfaſſer nad: gewiejen iſt, bleibt es doch immer das Nächitliegende, die Ganzonette dem Rinaldo jelbit zuzufchreiben. Wäre Pergoleſe der Componift, jo ließe ſich ſchwer begreifen, warum Favart deſſen Namen grade hier verjchwiegen hätte, da er ihn doch bei einer andern Einlage der Oper nennt und ihn als zugfräftig jchäßen mußte. Wie die Canzonette nach Paris gekommen ift? Nun, vielleicht eben durch die italienifhen Buffoniſten. Aber ich hätte noch eine andere und wahrjcheinlich zutreffendere Antwort auf die Frage. Der Mufifmeiiter der Madame Favart war Carlo Sodi, ein berühmter Mandolinenfpieler aus Rom. Er weilte in Rom bis 1749, erlebte alfo dort die Zeit, da Rinaldo der gefeierteite Componijt der Römer war. Dann fam er nad) Paris. Rinaldo's Oper La Donna superba parodirte er unter dem Titel La femme orgueilleuse ins Franzöſiſche und beweiſt hier- durch, daß er wenigitens zu dem Componijten Rinaldo in inner- lih nahen Beziehungen ſtand. Wahrſcheinlich Fannte er ihn auch perjönlih. Lieder zur Mandoline waren natürlid feine Spezialität. Ich glaube, fein Schluß liegt näher, als daß Sodi die Canzonette Tre giorni von Rom, wo fie furz vor jeinem

!) Allgemeine Muſikaliſche Zeitung von Jahre 1875, Sp. 520 ff. 11*

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Weggange entitanden jein mag, mit nach Paris gebracht hat. Favart nahm fie 1755 in die Zingara auf, und in der Form, bie fie hier erhielt, zum Theil auch mit dem von ihm unterge- legten Terte, blieb fie lange ein Lieblingsitüd der Parijer. In jeiner Parodie Petrine, die er am 13. Januar 1759 zuerft auf: führte, hat Favart die Melodie mit neuem Tert zu einem Duett verarbeitet). Dubreuil stellte noh neun Jahre jpäter das Examinez sa grace unter die Auswahl des plus jolies Ariettes°). An der Originalgeitalt aber fam Rinaldo’s Ganzonette von Paris nah England. Daß man fie hier für eine Compo- fition Pergoleſe's ausgab, oder vielleiht auch von Anfang an wirklich hielt, iſt erflärlid. Zur Zeit der italieniſchen Buffoniften war fie in Paris befannt geworden, und unter den Componiiten, deren Werfe zur Aufführung gefommen waren, hatte Pergoleſe den berühmteften Namen. Erfahrungsmäßig hat jih zu allen Zeiten an ſolche Namen auch vieles gehängt, was mit ihnen thatfächlich feinen Zuſammenhang hatte.

6. Arie der Nifa Si, caro ben, sarete (B-dur). Nija bat gegen Empfang des Geldes den Bären ausgeliefert, den Calcante an der Kette hält. Sie verfihert den Alten ihrer zärtlichiten Zuneigung und höhnt ihn, gegen die Zuſchauer gewendet, heim ih aus. Dann geht fie. Während der Arie aber hat Taglia- borje dem Calcante die Börſe entwendet, fi unbemerkt das Halsband abgezogen und sich ebenfalls davon gemadt. Die Arie iſt nur bei Cofimi und im Parifer Tertbuh vollitändig. In Peſaro wurde der Mitteltheil fortgelafien, er iſt auch in Favart3 Bearbeitung unterdrüdt. Die Compoſition ift ein föftliches Gemisch von infinuanteften Schmeichellauten und den Ausbrüchen muthmwilligen Spottes; dadurd, daß die Geigen bald mit Sordinen, bald ohne diejelben begleiten, werden die Gegen- ſätze noch gehoben. Bei Favart jteht die Arie bequemer in

1} Theätre de M. Favart. Tome quatriöme. Drittes Stüd, ©. 31 f. 2) Dubreuil, Dietionnaire Iyrique portatif. Tome premier. A Paris. 1768. p. 146,

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G-dur. Wäre B-dur die Originaltonart, jo würde das auf ein jehr hohes Organ der Signora Tonelli binweijen.

Als Niſa gegangen, bemerkt Galcante, daß auch der Bär verſchwunden ift, und er nur die Kette in der Hand hält.

7. Uccompagnirtes Recitativ E dove, dove l’orso n’andö, und Arie Che orror, che spavento (F-dur) des Calcante, in denen dieſer zuerjt feinen Schreden Fundgibt, dann feine Wuth und Verzweiflung austobt. Bei Favart fehlt dad Necitativ und fteht eine ganz andere Arie in A-dur; dagegen bringt er die F-dur-Nrie in der dritten Scene des zweiten Altes. Daß die A-dur-Arie (Ah, mon ours a pris la fuite) auch eine ur- fprünglich italienische ift, lehrt ſchon der von Favart überlieferte Tertanfang Maledetti quanti siete. Eben diejer Anfang aber zeigt, daß fie an diejer Stelle nicht das Urjprüngliche jein Fann. Da Galcante die Gegenwart des Tagliaborje nicht ahnt, jondern mit Niſa allein zu fein glaubt, iſt jene Anrede Schon grammatisch unmöglid. Auch pſychologiſch it e8 undenkbar, daß Galcante mit einem Ausdrud beginnt, der eine ganz beitimmte und ab- geflärte Empfindung bezeichnet. Die Situation fordert, daß diefe Empfindung vorbereitet werde durch einen Zuftand des Schredens, des Schwanfens und der Nathlofigfeit. Dies hat Favart als gewiegter Bühnenpraftifer auch wohl gefühlt und deshalb den Tert der Arie in dem angedeuteten Sinne geftaltet. Sollten die Bemweije für die Originalität der Coſimi'ſchen Lesart noch nicht genügen, jo jei folgendes hinzugefügt. Rinaldo war ein Meifter des accompagnirten Recitativg. Es wurde ihm jogar das von ihm jelbit zurücdgewiejene Verdienſt angedichtet, es erfunden zu haben. Wäre die A-dur-Arie das Urjprüngliche, jo müßte man annehmen, Cofimi und Gonjorten hätten die F-dur-Arie will: fürlid und ohne erkennbare Veranlaſſung von Seiten des Pariſer Geſchmacks aus dem 2. in den 1. Akt verjegt, und hätten ſich dad vortreffliche und Rinaldo's ganz würdige accompagnirte Recitativ in Paris binzucomponiren lajjen. Die MWiderfinnigfeit einer jolchen Annahme leuchtet ein.

308:

Woher die A-dur-Nrie entlehnt ift, läßt ſich nachweiſen. Eie jteht urjprünglid in Ciampi's Bertoldo in Corte (ct I, Scene VIII) und wird von Bertoldino gefungen, als feine Gattin Betta mit Emilio davon geht und er von den Wachen zurück— gehalten wird, ihnen nachzueilen. Favart hat die Oper in feine Ninette A la cour parodirt, und hier finden wir auch dieſe Arie wieder, doch in Bertheilung auf zwei Berjonen, Colas und Fabrice?). Außerdem hat er aber für feinen Zweck auch noch andre von den Bouffoniften in Paris geipielte Opern geplündert: die Ariette Ce coeur qu’il possede ift einer Mufif aus dem Maestro di Musica angepaßt, und die Ariette Oui, je l’aime pour jamais gehört ihrer Mufif nach in den Cinesa rimpatriato von Selletti. In dieſer Beziehung bietet Ninette eine Art Seitenjtüd zur Bohemienne. Bertoldo in Corte war im November 1753 zum eriten Male aufgeführt worden.

Auf das Gejchrei des Alten eilt Nifa herbei und fucht ihn zu beruhigen. Gelingt ihr dies zwar nicht, jo bezaubert fie ihn doch ſofort wieder durch ihre Schönheit.

8. Duett zwifhen Nifa und Galcante Amore, oh che diletto! (G-dur.) Die Aufführung in Pejaro hat fich mit Coſimi's Partitur in genauer Uebereinitimmung gehalten. Bei Favart jtehen bier jene zwei Stüde, welche ausdrüdlid als Einlagen aus fremden Opern bezeichnet werden. Die Frage nad) der Originalgeftalt braucht alfo gar nicht geitellt zu werden. In der Arie Laissez done mon coeur der Tertanfang des italienifchen Originals lautet Madam’ lasciatemi in liberta jucht ſich Calcante vergeblich des Reizes der Niſa zu erwehren. Auffällig ift die Notirung in A-dur und für Sopran, als ob

lifa die Arie zu fingen hätte, während fie nah Tert und Zu: ſammenhang einzig in den Mund Calcante’s paßt. In der Muſik— beilage zur Tertausgabe in Favarts Werfen jteht in der That

1) Theätre de M. Favart. Tome troisitme. Ariettes Je Ninette ä la cour p. 41 ff.

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Nise über diefem Stüde, während die Lüttiher Ausgabe «8 rihtig dem Calcante beläßt. Aber um für Calcante ausführbar zu fein, müßte es etwa in E-dur oder D-dur jtehen. Die Ur- fache diejer Verwirrung aufzuklären wird wenigſtens jolange un- möglich jein, bis einmal die Originalquelle der Arie wieder auf: gefunden worden iſt.

Warum Favart daS Duett aus der Serva padrona bier eingejegt bat, läßt fich vielleicht aus der hohen Sopranlage des Driginalduetts erklären, der die Madame Favart nicht gewachſen jein modte. Wielleiht aber lag der Grund auch nur in dem Wunſche, das beliebte Stüd irgendwie zu verwenden. Die Servante Maitresse wurde nämlich jeit dem 14. Auguft 1754 auch auf dem Theätre Italien von Rochard und der Favart geipielt, aber mit einem andern Sclußduett (Me seras tu fidelle; A-dur ®s), jo daß das urjprüngliche zu anderweiten Gebrauch freigeworden war!). Ninaldo’3 Compofition fteht an muſikaliſchem Werth derjenigen Pergoleſe's wenigftens gleich ; eine höhere Vornehmheit des Ausdruds zeichnet fie zweifellos vor jener aus. Die Hindeutungen auf Mozart find bier wie an jo manchen Stellen feiner Werfe wieder einmal merk— würdig ſtark.

Zweiter Akt.

Galcante bat den Verluſt auch feiner Börje bemerkt, Nija ihm veriprodhen, fie durch Zauberfünfte, deren fie mächtig jei, wieder herbeizuichaften. Sie hat ihn an einen abgelegenen Ort beitellt, um vereint mit Tagliaborje ihm durch allerhand Blend— werk jein bißchen Verftand zu verwirren und mit Hülfe anderer

Zigeuner ihn jolange zu ängitigen, bis er, um aus jeiner Lage

i) Schletterer in feiner Ausgabe der Serva padrona (Leipzig, J. Rieter— Biedermann. 1883) erwähnt das neue Duett auch, geht aber auf die fritiihen Fragen nah der Quelle desfelben und der Urſache feiner Ein- fügung nicht ein. Auch ift der Anfang des Duetts unrichtig citirt.

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befreit zu werden und wieder in den Befig der Börſe zu fommen, veripricht, fie zu heirathen.

Wie oben vermutbet worden ift, gehört an den Anfang des zweiten Aftes die Arie Tagliaborſe's Tu non pensi. Favart läßt den Akt mit einer Arie Niſa's beginnen. Sie findet ſich mit anderem Tert jchon in Favarts Parodie Raton et Rosette; diefe aber wurde bereits am 28. März 1753 zum erften Male aufgeführt. Indem nun die erjte Aufführung der Zingara erit am 19. Juni desjelben Jahres ftattgefunden hat, ift es unmöglich, daß jene Arie originalgemäß in die Zingara hineingehört. Favart verfuhr bei Raton et Rosette ähnlich wie bei Ninette A la cour. Ich babe jeititellen fönnen, daß von den Gejängen diejer Parodie einer dem Maestro di Musica des Pergoleje angehört (Se giam- mai da speco l’eco); dieſe Oper war von den Buffoniften am 19. September 1752 vorgeführt worden. Ein anderer ſtammt aus Latilla's Finta cameriera (Cola sul praticello), welche jeit dem 30. November 1752 auf dem Repertoire war. Die Ur- quelle aber der für die Boh@mienne verwendeten Arie wird der Giocatore jein, der nicht, wie ich mehrfach angegeben finde, von Drlandini, jondern von Carlo Sodi componirt und am 22. Auguft 1752 von Manelli und der Anna Tonelli in Paris zum erjten Male zur Darjtellung gebracht worden ift. Aus Raton et Rosette erfahren wir den Tertanfang des italienifchen Originals: Si ravviva, und Si ravviva nel mio core Quella cara e dolce speme ijt eine Arie der Serpilla aus dem 1. Akt des Giocatore. Auch dieſe Oper ift übrigens der Parodie-Wuth des Favartſchen Ehepaares zum Opfer gefallen, was wir injofern nicht beflagen, als wir aus dem Drud der Parodie erfahren, daß eben Sodi der Componift des Giocatore gewejen war!). Die liebenswürdige Arie Si ravviva, die mit ihrer jonnigen DHeiterfeit das Talent - Sodi’s im günftigiten Lichte zeigt, findet fich merfwürdiger Weiſe in der Barodie nicht.

1) Theätre de M. Favart. Tome second. Zweites Stüd. Paris 1760.

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Auch das Geſpräch der Geichwifter, das bei Coſimi im GSecco-Recitativ den zweiten Akt einleitet, gehört wie ſchon ge: jagt nur zum Theil hierher. Zum andern Theil müßte es gegen ein Stüd des eriten Aktes ausgetaufcht werden. Dann würde folgen:

1. Arie der Nifa E specie di tormento (B-dur). Ihres Erfolges gewiß kann Niſa fich vor Freude nicht faſſen und bricht in den ausgelafjenften Jubelgefang aus. Melodiſch und rhythmiſch ift die Arie hocheigenthümlich und gehört zu dem Bedeutenditen, was die Oper enthält. Burney jagt, Rinaldo habe mit Ga- luppi und Terradellas die Manier aufgebradt, den Gejang in Terzen (und Serten) zu begleiten‘). Dafür böte diefe Arie einen Beleg. Sie wird ſowohl von Eofimi wie von Favart über: liefert und von beiden an derjelben Stelle, fehlt aber im Peſareſer Libretto, weil an ihrer Statt eine Scene zwiſchen Livio und Ginevra eingefügt ift, in der die legtere eine Arie zu fingen hat.

Calcante kommt. Niſa verſpricht ihm jet die Götter der Unterwelt zu beſchwören.

2. Accompagnirtes Recitativ O voi, possenti Numi. Mit fomifcher Feierlichkeit ruft Nifa die graufen Bewohner des Avernus zu Hülfe, um die Börje des Calcante wiederzufinden. Das GStüd iſt von allen Quellen gleihmäßig überliefert. Ebenjo

3. die Arie Voce, che flebile (D-dur), in der Tagliaborfe, der al3 Zauberer Ismeno fchauerlich verkleidet im Hintergrunde auftaucht, fragt, was das Begehr der Rufenden jei. Es ilt dies wiederum ein ganz vortreffliches Stüd.

Dem Galcante wird die Rüdgabe feiner Börſe verſprochen unter der Bedingung, Nifa zur Gattin zu nehmen. Da er fich weigert, dringen von allen Seiten Higeuner in Teufelslarven herein und machen ihn fürdten.

1) So iſt der Ausdruf „in terzini“ wohl zu veritehen. Burney, A general History of Music. Vol. IV, p. 447.

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4. Arie des Calcante Pertidi, che volete (C-dur). Sie fehlt im Peſareſer Libretto. Hier beichränft fih Nija darauf, dem obitinaten Galcante zu drohen: Vado a cercare Tutti i compagni miei; Vedremo allora poi, Se pensier cangerai, E se niuna che me in isposa avrai, und geht ab. Calcante, allein gelafjen mit feiner Sehnſucht nach der Geldbörfe und nad) Niſa, ift agitato, confuso, vaneggiante e disperato, fingt eine Arie Jo non so dove mi sto Il cervel va in su e in giü und geht ebenfalls ab. Folgt Scenenwecjel und eingeichobene Ecene des ernithaften Liebespaares. Dann wieder Scenenwedjel: eine Gartendecoration, und auf der Bühne, ganz wie zuvor: Nifa, Calcante und der als Zauberer verkleidete Tagliaborje. Niſa beginnt genau mit denjelben Worten, mit denen fie in Coſimi's Partitur nach Calcante's Arie Perfidi, che volete das Recitativ anhebt: Non tante smanie, no; presto, alle curte: Mi vuoi per moglie? „Smanie* ? fragen wir. Wer bat fie denn geäußert? Schon dies eine Wort genügt zur Aufdedung der ungeſchickten Interpolation. Es paßt nad) dem Angftgefchrei von Galcante’s Arie; bier it es Unfinn. Die ganze Veränderung, welche die Handlung, als fie ihrem Gipfelpunft zutreibt, plötzlich erlahmen und uninterejlant werden, die Perſonen grundlos von der Bühne verfhwinden und ebenfo grundlos wieder auftreten läßt, während in der Form der Coſimi'ſchen Ausgabe alles ein: heitlih und energiſch voranjchreitet dieſes alles iſt jedenfalls durch den Zwang veranlaßt, Yivio und Ginevra zur Schlußjcene auf eine jchidlihe Art mit auf die Bühne zu bringen. Dazu war Scenenwechſel nöthig; die Handlung mußte alfo unterbrochen werden, jo war die Scene mit den verteufelten Zigeunern un: möglich, da fie mit Energie zur Entjcheidung drängt. Die Arte Jo non so dove mi sto ilt übrigens dem 1. Afte von Rinaldo's Donna superba entnommen, dod fehlt ihr hier, wenigſtens nad) dem Pariſer Tertbuch, der zweite Theil (Sono appunto un venticello).

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Die Arie Perfidi, che volete muß alſo nebft der Art, wie jie herbeigeführt wird, bejtimmt als das Original angefehen werden. Galcante iſt nun mürbe gemacht und willigt ein, Nija zu heirathen. Dieje verabjchiedet die hülfreihen Zigeuner: la mercede ricevete da me di vostra fede, und gibt ihnen Held.

Chor der Zigeuner O dell’ Egitto Nume custode (Es-dur). Diejes Stück jet uns unvermittelt aus dem Dunftkreis des Intermezzo hinüber in den der Opera jeria. Daß es bei der Aufführung in Pejaro fortbleiben mußte, ijt zwar nach den obigen Auseinanderjegungen erflärlih. Es fehlt aber auch in Favarts Ausgabe. Die Anrufung der ägyptiichen Gottheit, die morali- jirenden Betradhtungen über den Geiz, die ſtarke Inſtrumen— tirung Streichquartett, Flöten, Oboen und Hörner; bis dahin hatten zwei Violinen und Baß genügt —, der ganze unmotivirt hereinbrechende, für die Opera buffa entjchieden jtilloje Ernit der Geſinnung alles das macht die Echtheit des Chors hödhit verdächtig. Die Muſik fommt verkürzt und als Terzett auch in Favarts Ninette à la cour vor. Das beweilt für unfern Fall natürlich nicht das Geringite. Favart kann fie mit Cofimi aus einer gemeinfamen Quelle, aber ebenjfogut auch aus Coſimi's Bartitur der Zingara entnommen haben. Daß das Stüd uon Rinaldo jei, ſoll hier nit in Frage geitellt werden; aber ic) glaube nicht, daß er e8 für dieſe Oper componirt hat. Mir Scheint, als hätten die Buffoniften für nöthig gefunden, Durch Zujammenwirfen der gefammten Truppe an diejer Stelle der Dper einen befonderen zu Reiz verleihen. Es ift bei einem folchen Opernchore in jener Zeit natürlicd nur an einfache Bejegung zu denken. Da an einer Stelle des Stüds der Sopran getheilt wird, jo war zur Ausführung wohl auf 5 Perjonen gerechnet, 3 Damen und 2 Herren. Genau jo viele Sänger aber waren außer Manelli, Cofimi und der Anna Tonelli in der Truppe vorhanden, nämlih: Signora Roſſi, Signora Lazzari, Signora

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Caterina Tonelli (Schweiter der Anna Tonelli) und die Signori Lazzari und Guerrieri ?).

Da Calcante die Nifa mit dem Zigeunergelindel jo familiär verfehren fieht, wird er neuerdings bedenklich. Auch erwägt er fein Alter und das ihrige.

6. Arie der Nifa (G-dur).

Viverd, se tu lo vuoi, Cara parte del mio cor; Ma se amor negar mi puoi Come, oh Dio! vorrai ch’io viva, Se mi fai morir cosı? Deh. mio ben, sgombra gall’ alma Quel timor, che troppo ingiusto, Troppo fiero t' assali. Viverd etc.

Ich jege den Tert vollftändig her, weil ſchon aus ihm allein hervorgeht, daß auch dieſe Arie ji in den Fyormen der Opera jeria bewegt. Und wie der Tert jo die Mufif mit ihrer weit- ausgeiponnenen Goloratur und ihrer dur Flöten und Hörner bereicherten Begleitung. Die Art, wie in Coſimi's Ausgabe die Arie recitativifch vorbereitet wird, verräth, wie mir jcheint, die unorganiſche Einlage ganz deutlih. Galcante nennt fich, den alten häßlichen Mann, „indegno del tuo amor“. Nija: Che diei: Indegno? Galcante, für fih: Strada non v’ & d’useir da questo impegno. Dann jtimmt Niſa obige Arie an. Auffällig ift, daß fie in den Tertbüchern von Paris und Pejaro die Arie durch folgendes Recitativ einleitet: Tu sol 1’ arbitro sei della mia sorte, E da te solo attendo o vita, o morte, und daß dieſes bei Coſimi geſtrichen ift.

In Favarts Partitur gebt es an diefer Stelle auch anders ber. Als Galcante fi) mit dem Heirathsgedanfen immer nod

') Gaftil-Blage, L’Academie imperiale de musique. Band I. Paris, 1855. S. 189. Der Director der Truppe war Bambini, und fein Feiner Sohn fungirte ald Cembalift, was bier beiläufig bemerkt fein mag.

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nicht befreunden kann, gibt ihm Nija die Börje ohne weiteres zurüd und rührt ihn durch ſolchen Edelmuth jo jehr, daß er nun jeine Bedenfen überwindet. Die Arie, welche fie hier zu fingen hat (Pauvre Nise! tu cheris qui te méprise) paßt ihrem Stile nad) beſſer. Schade nur, daß fie nicht von Rinaldo ift, ſondern von Cocchi. Im 1. Akt (Scene IV) feiner Scaltra Governa- trice fingt fie Drufilla zu den Worten: Vedovella Poverella Son due anni ch’io vivo in tormento. lmnverfälicht lernt man aber Cochi’3 hübſche Compofition aus Favarts Gemenajel nicht fenmen. Sie ericheint hier vom vierten Takte an unter Beibehaltung einiger Hauptmotive dergeitalt umgearbeitet, daß fie fich durchweg in einer mittleren Stimmlage bewegt, was für dad Organ der Madame Favart bequemer geweſen fein wird. Da font die Umarbeitung gejhmadvoll ift und den gewiegten Muſiker verräth, dürfen wir fie wohl dem Sodi zujchreiben ?).

Calcante kann endlich nicht mehr widerftehen und erhält feine Börje und die Zigeunerin. Als er nach dem entlaufenen Bären fragt, offenbart Tagliaborje den ganzen Betrug. Cal» cante fieht ſich überliftet und ermahnt, da ihm nichts übrig bleibt, als fich zu fügen, die liebe Gattin und den würdigen Schwager, fih inskfünftige wenigitens einigermaßen ftandesgemäß zu betragen.

7. #inalterzett Ogni tromba, ogni tamburo (D-dur). Ein Stüd voll ausgelafjenfter Luftigkeit, das zum Schluß, ohne je ins Gemeine zu fallen, doch in einen förmlichen Kirmeßjubel mit Dudeljäden und Bauernleiern übergeht und ein Meijter- werf der Opera buffa angemejjen abjchließt.

Das Gefammtergebnig der Unterfuhungen ift unſchwer zu ziehen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß ſich an vielen Punkten die Driginalgeftalt der Oper mit ziemlicher Sicherheit erfennen

1) Die geftochene Partitur der Scaltra Governatrice befindet ſich auf der Bibliothef der Conservatoire de Musique zu Paris. Eine Abichrift der betreffenden Arie verdante ich der Sefälliateit des Herrn I. B. Weckerlin.

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läßt. Daneben fällt freilich die Löjung mancher Frage der Ver- muthung anheim. Mit Bezug auf gewiſſe Stellen mußte das Ergebniß ein negatives werden: daß die Heritellung der urjprüng: lihen 2esarten unmöglich jei. Rinaldo’3 Bemühen, feine beiten Werke zu jammeln und in der von ihm anerkannten Faſſung bei fih zu binterlegen, erjcheint nah Obigem nod in einem neuen Lichte. Er war jedenfalls durch die Erfahrung belehrt worden, daß gejchriebene Opernpartituren bei den Theatern, und vor allem in den Händen umberziehender Truppen den merk: würbdigften Schidjalen unterliegen können. Er fannte den Werth feiner Werfe und wollte fie der Nachwelt erbalten willen. Es follte anders fommen; wir jtehen vor einem Häufchen von Trümmern, und aus meinen Zeilen wird, glaub’ ih, Har geworden jein, daß wir einen jchweren Berluft erlitten haben.

Zuglei aber mag man ermeſſen, wie jchwierig es it, für die Kenntniß der Operngefchichte jener Zeit eine jichere Grund- lage zu jchaffen. Für Rinaldo's Zingara befteht eine verhält- nigmäßig gute Ueberlieferung, und doch bleibt auch in Bezug auf fie noch vieles zu wünſchen übrig. Um die Mehrzahl der ita- lienifhen Opern aus den erjten zwei Dritteln des 18. Jahr— hunderts fteht es weit jchlimmer. Es ift erftaunlich, wie trübe bier mandhmal die Quellen fließen und wie oft fie gänzlid ver: fiegen. Die forgfältigiten und mühſamſten Unterfuchungen werden von nöthen jein, wollen wir dahin gelangen, um die Thatjachen zuverläjligen Beweis zu willen. Daß aber dies ermöglicht werde, ift nicht nur um unjerer großen Meijter, um Gluds, um Mo: zarts willen zu wünjchen, deren Werfe ohne Kenntniß der ita- lieniſchen Muſik nach gewiſſen Seiten hin unverftändlich bleiben. Die italienifhe Oper des 18. Jahrhunderts ift auch an ſich eine jo große und gehaltreihe Erjcheinung, daß fie das eingehendite Studium ſchon um ihrer jelbjt willen vollauf verdient.

NERIT

Speronfes’

„Dingende Mufe an der Pfeiße.“

Zur Geſchichte des deutihen Hausgeſanges im achtzehnten Jahrhundert.

>

U: ein bisher unbekanntes Gebiet für die Wiſſenſchaft zu ss Öffnen, wird es immer das zweckmäßige jein, zunächſt die Klarlegung eines bejtimmten einzelnen Punktes innerhalb diejes Gebietes anzuftreben. Man gewinnt eine Operationsbajis, von der dann nach verfchievenen Richtungen ohne Gefährdung vor- gegangen werden kann. Vor allem in diefem Sinne möchte ich die nachfolgende Abhandlung über das Liederwerf des Sperontes aufgefaßt wifjen. |

Als ein unbekanntes Gebiet darf ich den weltlichen Haus: gefang am Beginn des 18. Jahrhunderts und um diejen wird es fih handeln wohl ohne Bedenken bezeichnen. Die Zeit liegt noch nicht jehr weit zurüd, aber wir wifjen in ihr viel weniger Beſcheid, als 3. B. über den Haus- und Gefell- Ihaftsgefang des 16. Jahrhunderts. Von der Geringihägung, mit der vielfach die deutſche Dichtung jener Epoche betrachtet wird, jcheint etwas auf das gleichzeitige gefungene Gedicht über- gegangen zu fein. Eine Blüthe des Liedgejanges wird man allerdings nicht antreffen. Wohl aber einen Zuftand, der durch eine Anzahl merkwürdiger geichichtlicher Erjcheinungen aus: gezeichnet ijt.

Sperontes’ Liederbücher fordern aber auch an und für ſich die Aufmerkſamkeit des Forfchers heraus. Sie bieten eine Menge

wifjenschaftlicher Probleme dar, und zum Theil recht verwidelter Philipp Spitta, Mufifgefhichtliche Auffäge. 12

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Art. Ich habe mich nach Kräften bemüht, fie zu löſen, muß aber doch geftehen, daß noch manches zu thun übrig bleibt. Vorarbeiten hatte ich feine zu benugen. Ernſt Otto Lindner widmet dem Sperontes allerdings einige Seiten feiner „Geſchichte des deutjchen Liedes im 18. Jahrhundert”. Er jagt aber fait nichts, was fih nicht ein jeder felbft jagen fann, der die „Singende Muſe“ in die Hand nimmt. Wie in andern Fällen, fo ift er auch in diefem an den eigentlihen Schwierigkeiten des Gegenftandes vorübergegangen.

EL

Zur Michaelis-Meſſe 1736 erichien zu Leipzig im Bud) handel

„SPERONTES | Singende Müje | an der | Pleiße | in 2. mahl 50 Oben, | Der neueften und beiten musicalifchen Stüde | mit den darzu gehörigen Melodien | zu beliebter | Clavier- Übung ünd Gemüths Ergögung | Nebit einem Anhange | aus %. €. Günthers Gedichten. | Leipzig. | af Koſten der lüſtigen Geſellſchafft 1736. Das von Busch aufs fauberfte in Kupfer gejtochene Titelblatt ift mit Blumengewinden und Jnitrumenten, mit Mufengeftalten, die in Initialen verflocdhten find, mit Amoretten, Shwänen, Tauben reihlich, aber geihmadvoll aus- geitattet. Auf der unteren Hälfte halten zwei Amoretten ein Segel, auf das der Anfang des eriten Liedes gravirt ift. Dar: unter eine weiblihe Gejtalt auf einem Delphin; fie läßt ein Band flattern mit dem Namen „Yeipzig“. Vor dem Titelblatte it ein von Nichter eniworfener, von E. F. Boetius radirter Kupferstich eingeheftet, ein Stüd der äußeren Stadt daritellend: im Hintergrund ericheinen Pleißenburg, Thomasfhule und Thomaskirche, nach dem Vordergrunde zu zieht ſich neben dem Stadtgraben die Promenade hin, rechts davon die beliebten Ber: gnügungsgärten von Apel und Boje, im Vordergrunde ein Parquet, auf welchem fich feingefleidete Danıen und Herren an Muſik, Karten: und Billardipiel ergögen. Links, jenjeits des

Stadtgrabens, iſt in einer Reihe von Häuſern Schellhafers Haus beſonders kenntlich gemacht.

Hinter dem Titel findet ſich zunächſt ein Blatt mit einem Widmungsgedichte in Alexandrinern. Das Buch ſelbſt beſteht aus 12%4 Bogen in Hochquart, hundert Gedichte und achtund— ſechzig Mufifftücde enthaltend. Die Muſik ift in Kupfer geſtochen und fteht in zwei Syitemen, theilweife mit beziffertem Baß, jelten mit ausgefchriebenen Harmonien, jedesmal auf dem obern Theile der Seite, ohne untergedrudten Tert; das Gedicht findet man als ein jelbitändiges Ganze darunter. Mit Nr. 68 hören die Mufilitüde auf, und es ftehen über den nun folgenden Liedern nur die Hinmweife auf frühere Melodien, nach welchen fie zu fingen find. Mit Nr. 84 fchon beginnt der „Anhang aus Johann Chriftian Günthers Gedichten“. Auch beim Drud der Dihtungen läßt ſich das Beitreben erkennen, etwas Unge— wöhnliches und bejfonders Zierliches herzuftellen. Der Holzfchnitt it nicht geipart: vor dem Anfang eines jeden Liedes ijt ein menschliches oder halbmenſchliches Figürchen angebradt, unter der legten Strophe Rabdleiern, Schnabelflöten, Hörner, Spinette oder andere Zierrathen.

„Geſellſchaften“ gab es damals in Xeipzig zu den ver: fchiedenften Zweden: eine deutiche Gejellichaft, eine Vertraute deutihe Rednergeſellſchaft, eine Scherzhafte Gefellihaft dieſe legtere, unter Gottjcheds Aegide jtehend, war jchon mehr nur litterarifhe Eoterie!). Die „luſtige Gejellihaft“, welche die „Singende Muſe“ herftellen ließ, beitand unzweifelhaft aus Studenten; der Inhalt des Buches beweiſt es klar. Daß Schell: hafers Haus auf dem bejchriebenen Kupferftich zu ſehen ift, wird fein Zufall fein: bier hatte die Geſellſchaft jedenfalls ihre Zu—

1) „Auf Koſten der ſcherzhaften Geſellſchaft“ erſchienen zu Leipzig zwiſchen 1733 und 1736 die „Neufränfifhen Zeitungen von Gelehrten

Sachen“ (Königliche öffentlihe Bibliothek zu Dresden). 12*

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fammenfünfte‘). Sie mu Mitglieder gehabt haben, die etwas draufgehen laſſen konnten.

Den buchhändlerifchen Vertrieb der „Singenden Muſe“ übernahm Friedrih Matthias Friefe in Leipzig?). Bald nad dem Ericheinen wurde indeffen aus den noch nicht verfauften Exemplaren das legte Blatt herausgenommen, auf dem die Lieder „Ihr Schönen höret an“ und „Beförbert, ihr gelinden Saiten“ fih befinden. Statt deiien wurde ein halber Bogen eingefügt, auf defien eriter Hälfte die Lieder „Schwarger Augen Gluth und Kohlen“ und „Sagen verbleibet das jchönjte Vergnügen“ Platz fanden, während die andre für ein eigens zu dieſer neuen Ausgabe angefertigte Regiſter verwandt wurde. Der erjten Ausgabe jeheint überhaupt fein Regifter beigegeben gewejen zu jein: in dem einzigen Eremplar derfelben, das mir befannt ilt?), findet fih wenigjtens feins. Cremplare der zweiten Ausgabe fommen noch verhältnißmäßig häufig vor.

1740 war eine neue Auflage nöthig geworden, die au zu Michaelis erfchienen ift. Den Verlag übernahm jegt der Buch: händler Johann Jakob Korn in Breslau, der in Leipzig eine Verlags: Niederlage gehabt haben wird. ch habe nie ein Eremplar diefer Auflage gejehen. An ihrer Eriftenz darf aber nicht ge: zweifelt werden, denn nicht nur der Leipziger Meßkatalog von Michaelis 1740 fündigt fie an, jondern fie wird aud) citirt von F. MW. Marpurg in den Kritiichen Briefen über die Tonkunit, Band I (Berlin, 1760), ©. 162. Wären diefe beiden Zeugen nicht, jo würde man freilich geneigt fein, fie mit der nächſt— folgenden Auflage für identifch zu halten, die 1741, wahrſcheinlich ihon zu Ditern, ausgegeben wurde. Auch fie verlegte Korn, die

1) Schellhaferö Saal, damals der größte und glänzendfte der Stabt, wurde gern für feftlihe Berfammlungen benußt. Man ſehe die Schilderung F. W. Zachariä's im 2. Gefang des „Renommift“. Der unter Görners Leitung ftehende Studenten-Mufikverein hatte bei Schellhafer feine Uebungen.

2) Leipziger Meb-Hatalog von Michaelis 1736.

3) In meinem Beſitz befindlid.

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Heritellung übernahm Johann Gottlob Jmmanuel Breitfopf in Leipzig und vollendete fie zwifchen dem 18. Februar und 2. April 1741°). Die Koften betrugen 89 Thaler; das Werf war 13 Bogen jtarf, und zur Auflage wurden 3 Rieß und 17 Buch Papier verwandt. Hieraus läßt ji) berechnen, daß die Auflage aus ungefähr 130 Eremplaren beitanden haben wird. Zum Titel und zu den Mufikftüden wurden die alten Kupferplatten wieder benugt. Doch baben die Muſikſtücke manche und vom Kupferſtecher oft recht ungeſchickt hergeitellte Aenderungen erfahren: bei 40 Stüden iſt Bezifferung zugefegt, bei 34 hier und da der Baß verbejlert, Melodieänderungen habe ih nur bei 10 Stüden bemerkt und auch diefe find wenig be- deutend. Auf dem Titel fteht auch wieder „auf Koſten der Iuftigen Gejelljchaft” ; nur die Jahreszahl darunter ift geändert. Ob nun dieje Gejellfhaft damals noch beitand, und Korn nur in deren Auftrage handelte, oder ob jener Vermerk etwa aus Nachläſſigkeit auf der Kupferplatte ſtehen geblieben ift, läßt ſich niht mehr entjcheiden. Die Liederorduung der veränderten eriten Auflage ijt beibehalten, die beiden ausgemerzten Lieder find aber wieder hinzugenommen, jo zwar, daß „Befördert, ihr gelinden Saiten” Nr. 101, „Ihr Schönen höret an“ Wr. 102 geworden ijt. Hierdurch geräth allerdings ber Inhalt des Buches mit dem Titel in Widerfpruch, weldder nur „2. mahl 50 Oden“ anfündigt. Möglichenfalls ift auch hier noch eine nachträgliche Henderung eingetreten. Doch kann die Sache aud einen andern Grund haben, den ich fpäter angeben werde.

Der Beifall, den jein Liederbuch fand, veranlaßte den Ver— fafjer zur Herausgabe eines zweiten Theils. Er trägt den Titel „SPERONTES | Singender Müfe | an der | Pleite | Erite Fortjegung, | in | 2. mahl 25 Oden | Derer neueften beften und leichteften | wusicaliihen Stüde, | mit denen dazu gehörigen

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1) Handlungsbud der Berlagsbuhhandlung Breitlopf & Härtel in Zeivzig, Fol. 288.

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Melodien verjehen | und zu beliebter | Clavier-Uebung und Ge: müth3:Ergögung | ans Licht geftellet: | [folgt ein Doppel: Mono: gramm] in Leipzig | 1742." Die Einrihtung ift diejelbe wie beim eriten Theil, der Titel in ähnlicher Weiſe, doch mit iparjfamerer Ausftattung in Kupfer geftohen. Der Berfafler ließ einige Prachteremplare auf jehr jtarfem Papier abziehen, und bei ihnen den Titel und jämmtlihe Mufikftüde in Roth: drud herſtellen; außerdem ließ er dieſen eine Debdication vor: fügen, in der er fih feinen „Gönnern und Freunden zu fernerem hochgeneigteſtem Wohlwollen und bejonderer Freundſchaft ganz ergebenjt” empfiehlt. Offenbar bat er alio die „Erite Fortſetzung“ auf eigene Koſten druden laffen und die Prachteremplare einigen einflußreichen Perſonen geſchenkweiſe überreiht!). Die Auflage kann nur eine Eleine geweſen fein, denn nod in demjelben Jahre erfolgte durch Breitfopf ein Neudrud. Man erkennt ihn an der Druder-Angabe am Fuß des NRegilters, aber auch ohne dies ift er aus der abweichenden Form erfichtlich: aus der Vertheilung der Strophen auf den verfügbaren Raum, aus den Druder- jtöden und aus den Holzjchnitt-VBerzierungen unter den Gedichten. Ferner ift die Orthographie modernifirt, die typographiſche Anordnung auch im Einzelnen gejchidter, das Papier befjer, die Lettern reinliher. Sachliche Abweihungen enthält der Neudrud nicht, die Mebereinftimmung ijt vielmehr jo vollitändig, daß aud) die Fehler des Negifters ftehen geblieben find?). Die Ausgabe der „Erften Fortjegung“ erfolgte aber erſt Diftern 1743. Ob Korn bei derjelben betheiligt war, habe ich nicht ermittelt. In Leipzig war das Buch bei Friedrich Lankiſchens Erben zu kaufen ®).

1) Das einzige diefer Prachtexemplare, das ich gefunden habe, befitt die Univerfitäts-Bibliothef zu Leipzig. Die Jahreszahl ift heraus geichnitten.

2) Die Fehler beftehen darin, daß ſechs Liederanfänge falfche Zahlen hinter fih haben; ftatt 11 muß 15, ftatt 14: 11, ftatt 10: 14, ftatt 25: 10 ftehen. Aus den falfhen Zahlen geht wohl hervor, daß die Anordnung der Lieder urfprünglid eine andre war.

3) Leipziger Meß-Katalog von Dftern 1743.

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Die zweite Fortjegung erſchien noch zu Michaelis desjelben Jahres. Sie enthält ebenfalld 50 Oden, doch nur mit 49 Melodien, da Nr. 25 und 26 auf diejelbe Melodie zu fingen find. Der Titel hat infofern eine Veränderung erlitten, al® an Stelle des Doppel-Monogramms ein fruchtbeladener Baum zu jehen ift, durch den fich ein Band fchlingt; auf dem Bande fteht der Herameter: Uberior fructus crescit crescente labore. Wer den Drud bejorgt hat, weiß ich nicht. Commiſſions-Ver— fäufer waren Friedrich Lankifchens Erben‘). Der Verfafler hatte aljo auch diefen Theil auf feine Koften herausgegeben.

Zwei Jahre fpäter, 1745, fam die dritte Fotjegung ans Licht; fie ſtimmt in der@inrichtung mit der eritern und zweiten überein und enthält wiederum zweimal 25 Oden. Ueber der Jahreszahl und dem Ortsvermerk des Titels findet ſich als Vignette ein Flügelroß. Oberhalb des Gedihtes Nr. 14 („Geh! geh nur immerhin“) war anfänglid aus Verjehen die Kupfer: platte mit der Muſik zu Nr. 41 eingefügt, und einige Eremplare waren bereit3 gebrudt, ehe das Verſehen bemerkt und verbejjert wurde. Man findet daher Eremplare, in denen an dieſer Stelle ein Blättchen mit der richtigen Mufif übergeklebt ift. Die Spar: jamfeit, die aus diefem Verfahren hervorgeht, läßt jchliehen, daß auch die dritte Fortjegung auf Koften des Verfaſſers gedrudt worden iſt. Genaueres ijt nicht anzugeben, da die Yeipziger Meßkataloge vom Jahre 1745 nicht mehr vorhanden find. Für alle drei Fortſetzungen ift zu bemerfen, daß fich in der Nedaction der Mufikjtüde eine geübtere Hand verräth, als bei denen des eriten Theile. Die Stücde der zweiten und dritten Fortjegung haben feine Bezifferung mehr, dafür aber häufig einen mehr als zweiltimmigen Saß.

Die lebhafteite Theilnahme des Publicums blieb immer dem eriten Theile der „Singenden Mufe” zugewandt. Von ihm

!) Leipziger Meß-Katalog von Michaelis 1743. In Berbindung mit der zweiten Fortfegung wird hier die erfte zum zweitenmale angezeigt.

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wurde Oftern 1747 eine vierte Auflage veranftaltet. Diefe drudte wieder Breitfopf, und Korn in Breslau verlegte fie. Auf dem Titel jteht „anjeßo viel verändert und verbeſſert auch vermehrter ans Licht gejtellet”. Der Berfaffer ift zwar zu der ursprünglichen Zahl von 100 Stüden zurüdgefehtt. Die Ge- dichte Günthers find aber fortgelaffen und durch andre erfegt, und an Melodien enthält die neue Auflage 8 mehr als die früheren. Dieje hatten im Ganzen 68 Melodien. 44 von ihnen haben fie nebjt den Gedichten mit der Ausgabe von 1747 ge meinfam. Bon 18 Stüden ftehen zwar die Gedichte auch in der neuen Ausgabe, find aber hier mit andern Melodien aus: geftattet, oder ſolchen angepaßt (jiehe Nr. 91 und 71). Bon 6 Stücken der älteren Ausgaben jind in der neuen weder Tert noch Muſik berücfichtigt (Nr. 24, 35, 43, 51, 57, 66). Außerdem fehlt das Lied „Ihr Schönen höret an“ (Nr. 102 in der Aus— gabe von 1741). Die Ausgabe von 1747 enthält 17 neue Melo- dien zu 18 in den älteren Ausgaben befindlichen Gedichten (fiehe Nr. 91) und 14 neue Melodien zu neuen Gedichten. Die Neihen- folge der Stüde ift eine ganz andre geworden. Bor allem aber haben die älteren Mufifftüde durch jorgfältige Ausfeilung der Melodien, durch fließendere Bälle und gejchidtere Sarmonifirung eine vollendetere Form erhalten. Sie fünnen in ihrer jegigen Ge- ftalt auch ftrengeren Kunftforderungen wohl genügen, während fie fich früher zum Theil jehr dilettantenmäßig ausnahmen. Auch die neuen Mufikitüde jind von gewandter Künjtlerhand redigirt. Auf der legten Seite des Buches fteht folgendes „Avertissement. Denen respective Liebhabern dieſes dienet hiermit zur gewiſſen Nad)- riht: daß, außer denen Dreyen hierauf folgenden und bereits herausgegebenen Fortjegungen, feine fernere mehr zu er- warten jeyn wird. Leipzig an der Zubilate-Mefje 1747”. Was es hiermit für eine Bewandtniß haben dürfte, wird jpäter dar- gelegt werden.

Die „Singende Muſe“ hatte fomit ihren Abſchluß erhalten, nicht aber ihre Verbreitung in der Funftliebenden Welt. Denn

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Michaelis 1751 erfchienen von neuem alle vier Theile zufammen auf dem Büchermarkt, und zwar im Verlag von Korn in Breslau (Leipzig, Lankiſchens Erben). Wahrſcheinlich hatte Breitfopf den Drud bejorgt‘). Ob alle Theile neu gebrudt find, kann ih nicht enticheiden, da ich ein Eremplar diefer Ausgabe ver- geblich gefuht habe. Wahrſcheinlich ift es nicht, denn Oſtern 1754 wird im Leipziger Mehfataloge eine zweite Auflage der zweiten Fortfegung angekündigt. Weitere Auflagen find nicht nachzuweiſen. Die ausgedehnte Verbreitung des Liederbuchs mag aber nod der Umftand anzeigen, dab um 1753 neben Leipzig auch Danzig als Rublicationsort ſämmtlicher vier Theile der „Singenden Muſe“ angeführt wird. Um eine bejondere Auflage kann es fich bier nicht handeln, da als Erjcheinungs- jahre 1741—1745 angegeben werden ?).

II.

Es gilt feftzuftellen, welcher Art die Thätigfeit des Sperontes bei der Herausgabe der vier Liederbücher gemejen iſt. Hat er die Mufifitüde und die Gedichte gejammelt, oder hat er jene wie dieſe jelbit gemacht? Und wenn weder das eine noch das andere, war er dann der Componijt oder der Dichter? Man fönnte die Fragen auch combiniren: er kann alles das theilmweife gethan haben. Dann entitände ein wahrer Knäuel von Problemen.

Die Titel der verjchiedenen Theile und Auflagen geben auf dieje Fragen feine Antwort. Sie find gerade in dem Punfte, auf den es ankommt, mehrbeutig. Auch das MWidmungs- gediht vor dem eriten Theile läßt ung noch im Umflaren. Es lautet:

!) Nachzuweiſen ift nur, daß Korns Zahlungen an die Kupferdruder Rodhlig und Camann, in Summa 131 Thaler 18 gar., durch Breitkopfs Hände gingen.

2) Catalogus universalis dererjenigen Büder, melde um beygeſetzte Preife zu haben find bey Ambrofius Haude und Joh. Carl Spener. Berlin. S. 654. Der Preis für das gefammte Werk ift bier 3 Thaler 4 gar.

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„Ihr Freunde meiner Kunft von beyderley Geichlechte, Euch wiebmet fi hiermit mein ſchlechtes Sayten-Spiel! Und wenn aud) dann und wann der ftreng gebundne Kiel Nicht eben jedem recht und wohl geiallen möchte;

So überfeht das Blat mit Eurer Gütigfeit,

Und beflert, aber auch nur mit Befcheidenheit.

Ihr werdet wenigitens hierinne etwas Iefen,

Was offt zwar jchöner jchon, doch nie jo, da gemeien.

Bon diefer Abficht nun gereizt und überwunden, Trit meine Mufe hier vor aller Angeficht, Und bat ihr heifchres Rohr, dadurch fie fingt und ſpricht, Der Sayten hellen Thon mit allem Fleiß verbunden, In Hofnung: ihr Bemühn, wird, wo nicht allgemein, Dennoch der jungen Welt beliebt und dienlich Teyn. Nichts bleibt vom Tadel frey; der Menſch hat feine Hafler; Doch daran fehret fi) gar wenig

der Verfaſſer.“

Mit vollftändiger Deutlichfeit aber gibt die Buchhändler: Anzeige im Meß-Kataloge von 1736 den Sachverhalt an: „Sperontes fingende Muſe an der Pleifje, mit hundert Oden auf die neueiten, beiten und befannteiten Muficalifchen Stüde mit denen dazu gehörigen Melodien, zu beliebter Clavier-Ubung nebit einem Anbange aus J. E. Günthers Gedichten“. Die hundert Oden find aljo Gedichte, die zu bereit3 vorhandenen Mufititücden gemacht, oder ſolchen angepaßt find, Die Muſik— jtüde waren nicht nur die „neueiten umd beiten“, jondern, wie die Anzeige binzufügt, aud die „befanntejten“ damaliger Zeit. Die Worte „mit den dazu gehörigen Melodien” jollen anzeigen, daß in dem Buche die Tonftüde zugleich mit den betreffenden Gedichten zu finden find, denn man dichtete damals auch Terte zu befannten Melodien und ließ fie ohne dieje druden. Daß der Sag „Nebit einem Anhange aus J. C. Günthers Gedichten“ eine Ungenauigfeit enthält, wird man jchon bemerkt haben: wörtlic” genommen müßte der Anhang eine Zugabe zu den hundert Oden bilden, während er doc jchon mit Nr. 84 beginnt, aljo in das Hundert eingeichloflen iſt.

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Nunmehr wird auch das Widnumgs: Gedicht verſtändlich. Die Muſe des Berfaffers hat das, was fie fingt und fpricht, mit dem Ton der Saiten verbunden, d. h. die Dichtungen des Sperontes, welche gejungen werden jollen, find Clavierjtüden an- gepaßt. Da dies Verfahren ihm mandmal einen gewiſſen Zwang auferlegte, jo war jein „Kiel“ ein „jtreng gebundener”.

Sperontes war aljo nicht ein Mufiker, fondern ein Dichter. Wir find genöthigt zu jchließen, daß außer den Güntherjchen alle Gedichte des erſten Theiles von ihm jelbit gemacht find, ein Schluß, der durd die Verficherung des Widmungs-Gedichtes befräftigt wird, daß es dasjenige, was in dem Buche zu „leſen“ jei, in dieſer Form vorher noch nicht gegeben habe. Und was von dem eriten Theile gelten muß, haben wir ein Recht auf die übrigen drei und auf die neuhinzugefügten Gedichte des erſten Theiles in der Ausgabe von 1747 zu übertragen. In der That hat fi von jämmtlichen 250 Gedichten der Singenden Muſe vor ihrem Erjcheinen in diefer Sammlung nicht ein einziges bei gleichzeitigen oder älteren Dichtern auffinden lafjen.

Bon Zeitgenoffen, die den Sperontes ala Dichter erwähnen, fann ich Friedrih Wilhelm Zachariä anführen. In feinem Ge- dicht „Der Befriedigte” („Itzt, da die Erde ſich verjüngt”) lautet die dritte Strophe:

Speront reimt, doch er reimt für fid. Was thut das? Ihr ſeyd wunderlich; Das kann ihm ja fein Menſch verwehren. Daß ihr euch, ihn zu leſen, fcheut,

Daß ihr nicht feine Freunde feyd,

Das läßt fi hören!

Zachariä verfaßte diejes Gedicht jedenfalls, ala er ſeit 1743 in Leipzig ftudirte. Ob es in jener Zeit ſchon irgendwo ge- drudt worden iſt, weiß ich nicht; in den „Belujtigungen des Ver- itandes und Witzes“ und in den „Bremer Beiträgen“ hat es feine Aufnahme gefunden. Es erfchien aber 1754 in jeinen gefammelten

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Dden und Liedern !), und zwei Jahre fpäter wurde e8 aud componirt ?).

Gottſched beſaß auch zwei Schäferipiele des Sperontes?), die aus feinem Nadhlafje an die Großherzogliche Bibliothek zu Weimar gefommen find. Die Titel find: „Das Kätzgen, ein Schäferipiel in einem Aufzuge, von SPERONTES. 1746. geipzig, Gedrudt bey Gottfried Auguft Stopffel.” 4., und „Das Strumpfband, ein Schäferfpiel, in einem Aufzuge, ent- worfen: von SPERONTES. 1748. Leipziq, drudts Gott- fried Auguſt Stopffel.“ 4. Dazu kommt noch ein drittes, das Gottſched nicht erwähnt: „Die Kirms, ein Schäferfpiel in einem Aufzuge, von SPERONTES 1746. Leipzig, Gedrudt mit Stopffeliichen Schriften.” 4*). Kürzlich ift auch ein „Singfpiel“- Tert von ihm befannt geworden: „Der Frühling, ein Singfpiel: von SPERONTES. Die Compofition ift von Herm J. ©. X. Frigichen. 1749, Leipzig, Gedrudt mit Stopffelifchen Schriften“. 4°). Man fieht, daß der Berfafjer diefe Stüde im Gelbftverlage erjcheinen ließ; den Commiffions: Verlag des „Kätzgen“ hatten wieder Friedrich Lankifhens Erben übernommen‘). Am vierten Auftritt des „Strumpfbands“ fingt Bellinde ein fünf: ftrophiges Lied „Ih ſchäkre nur“, oberhalb deſſen nad der Methode der Singenden Mufe die zugehörige Mufif als Clavier: ſtück gedrudt worden ift, und zwar wie dort als Kupferftih, auch fcheint derſelbe Kupferiteher thätig geweſen zu fein, der die Mufitftüde der Auflage von 1747 anfertigte. Man hat aljo bier gewilfermaßen den legten Nachklang der Singenden Muſe.

1) Scherzhafte Epifche Poefien, nebit einigen Oden und Liedern. Braun- ſchweig und Hildesheim (1754). S. 433.

2) Fr. ©. Fleiſcher, Oden und Lieder; 1756 Nr. 10.

3) Nöthiger Vorrath zur Gefchichte der deutichen Dramatiſchen Dicht- tunft. Leipzig, 1757. ©. 323 und 330.

+) In meinem Befig.

5) Auf der Königl. Öffentlichen Bibliothef zu Dresden aufgefunden von Robert Eitner (ſ. Monatshefte für Mufifgefhichte, Jahrg. 13%. S. 225)

6) Leipziger Meß-Katalog von Michaelis 1746,

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Ohne über den Werth der Iyrifchen Dichtungen des Sperontes jhon ein Urtheil abgeben zu wollen, jei doch hier gleich gejagt, daß feine Schäferfpiele poetifch mwerthlos find. Sie gewähren nur zur Feititellung gewifjer Stileigenthümlichfeiten des Dichters einige Ausbeute. Auch das zierlich ausgeitattete „Singſpiel“ ge- hört inhaltlih in die Gattung der Schäferfpiele und unterliegt demjelben Urtheil. Der Form nad ift es eine madrigalifche Cantate, wie man fie aus Bachs weltlihen Compofitionen Eennt. Es jcheint auf Beitellung eines vornehmen Leipzigers gedichtet zu fein, der vor den Thoren der Stadt ein Landgut befaß und jchließt mit einem Tutti auf das „glüdjelige Leipzig“.

II.

Daß „Sperontes” ein Pfeudonym it, liegt auf der Hand. Wer verbarg fih nun unter diefem ?

Sämmtliche Schriftiteller, die von ihm Notiz nehmen, nennen ihn nur mit jenem Pſeudonym. Es ſcheint faft, als hätten fie jelbft nicht gewußt, wer dahinter ftede. Mit dem Ablauf des 18. Jahrhunderts wurden feine Liederbücher vergeffen, e8 hatte aljo auch Niemand Veranlafjung mehr, fih um den Verfaſſer zu fümmern. Ob fi in neuer Zeit jemand bemüht hat, ihm auf die Spur zu kommen, weiß ih nit; Weller bleibt jedenfalla die Auskunft Shuldig"). Unter dem Namen „Sperantes“ fchrieb gelegentlih Johann Zacharias Gleihmann, aber „Sperantes“ und „Sperontes“ ift nicht dasfelbe, und daß Gleihmann der Verfaffer der Singenden Muje unmöglich gewejen fein fann, läßt fich ficher beweifen, wie man aus dem fpäter Folgenden ent: nehmen wird.

Nur in Zeblers Univerjal-Lerifon, Band 38 (erfchienen 1743) fteht zu lejen: „Sperontes, ein verdedter Nahme, unter welchen M. Lorenz Mizler verborgen ſeyn wollen. Es iſt unter felbigen Nahmen: Die fingende Muje an der Pleiſſe, herausgefommen.

!) Index pseudonymorum. Leipzig, 1856. Nebft Nachträgen.

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Leipzig 1736 in 4.* Aber Schon die Form diejer Notiz bekundet ihre zweifelhafte Glaubwürdigkeit, und daß ihr Verfaſſer nicht für fie einftehbt. Mizler hat geäußert oder joll geäußert haben, er jei Sperontes; das ift der Einn. Wenn Mizler das wirklich gethan hat, jo hat er die Unwahrheit gefagt. Sperontes war ein Dichter. Mizler war ein Gelehrter, verfuchte fich gelegentlich auch in ber Compofition, aber von jeinen Gedichten hat man außer einigen Gelegenheitsreimen nie etwas vernommen. Und daraus kann man ficher fchließen, daß er fich ernftlicher mit der Poeſie niemals befaßt hat, denn fonft hätte er es in feiner für Mattheſons Ehrenpforte gefchriebenen Selbitbiographbie ohne Frage erwähnt. Er würde auch von der Singenden Muſe in diefer Biographie nicht gejchwiegen haben. Ferner: der erite Theil der Singenden Muſe erſchien Michaelis 1736 in Leipzig auf Koiten der Luftigen Geſellſchaft daſelbſt, vielleicht auf deren Anregung, jedenfalld in irgend einem engeren Zujammenhange mit ihr ſtehend. Mizler aber befand fich bis zum Zeitpuntte des Erjcheinens garnicht in Leipzig, ſondern fehrte erft Michaelis 1736 von Wittenberg dahin zurück!). Endlih: von 1742 bis 1748 gab Sperontes in Xeipzig die drei SFortjegungen der Singenden Muje, drei Schäferjpiele und die verbefjerte Auflage des eriten Theil der Singenden Muſe heraus, in weld letzterem er (1747) einmal ausdrüdlih jagt, dab er in Leipzig lebe (fiehe Nr. 64). Mizler aber war jhon Anfang 1743 in Dresden, teilte den 22. April von dort mit dem Grafen Malachowski nad Koͤnskie in Polen, und befand fich hier noch am 23. December 1748 ?), Wenn num die Notiz bei Zebler nit von jemandem gejchrieben itt, der das Publicum abfichtli irre führen wollte, jo wäre wohl nur anzunehmen, daß Mizler von 1731 bis 1734, da er in Leipzig ftudirte, allenfalls auch noch 1735 bei einem vorübergehenden

1) Selbitbiographie in Mattheions Ehrenpforte. Hamburg 1740. S. 2330. 2) Briefe an Gottiched, handichriftlich auf der Univerfitäts-Bibliothel zu Yeipzig.

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Aufenthalte daſelbſt!) dem Sperontes allerhand Clavierjtüde zu- getragen hätte, daß dieſer dann dazu Gedichte gemacht und Mizler jpäter gelegentlich gejagt hätte, er habe an dem Zu: ftandefommen des eriten Theiles der Singenden Muſe einen ge- wiſſen Antheil.

Johann Friedrich Gräfe gab 1737 in Halle den eriten Theil feiner „Samlung verschiedener und augerlefener Oden“ heraus; der zweite Theil folgte 1739, der dritte 1741, der vierte 1743. Daß ihn zu feinem Werfe das Liederbuch des Sperontes angeregt hatte, befundet jchon die Vorrede des eriten Theiles. Vergleicht man die beiderjeitigen Liederfammlungen, jo ergibt ſich noch mehr. Gräfe hat aus dem erften Theile der Singenden Muſe drei Gedichte hinübergenommen. Das erite it Nr. 6 „Alles, alles hör ich an“, es fteht bei Gräfe als 34. Ode des vierten Theiles und hat ſich einige Aufputzungen gefallen laſſen müſſen; namentlich ift die fünfte, allerdings ſehr craffe Strophe ſorglich parfümirt worden. Das zweite ift Nr. 25 „Alles ift mir einerley“ und tritt uns bei Gräfe al3 erites Stüd des zweiten Theiles in umgerührter Gejtalt entgegen. Umgeformt oder umgedichtet, kann man nicht jagen, denn der Inhalt ift völlig derfelbe geblieben, auch die Worte und Sätze großentheils, aber fie find durcheinander gequirlt und jo in andere zufällige Verbindungen gerathen. Das legte Gedicht ilt Nr. 75 „Nichts Fan fchöner als die Liebe Und ihr himmliſch Wejen jeyn“. Diefes hat Gräfe unter Nr. 21 des eriten Theiles wörtlich aufgenommen. Nun hat er dem vierten Theile feines Liederwerf3 ein Generalregijter beigefügt, in dem hinter jedem Liede der Name ſowohl des Dichters als des Gomponijten steht. Schlägt man aber die drei dem Sperontes entlehnten Gedichte nad, in der Hoffnung, auf diefe Weife den wirklihen Namen des Verfaſſers zu erfahren, jo fieht man ſich getäufcht. Hinter dem eriten jteht „K.“, hinter dem zweiten „L.“ und binter dem dritten ftehen gar nur drei Sternchen. Doc hat

’) Mattheion, Ehrenpforte. ©. 228 f.

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diefe Mannigfaltigfeit in der Art des Verſchweigens wenigitens das Gute, daß man erfennt, der wirkliche Name des Sperontes fönne weder mit KR noch mit & begonnen haben. Denn wäre dies der Fall, jo müßte ſich hinter dem letten jener drei Ge— dichte, das ganz unverändert aufgenommen ift, jedenfall einer der beiden Buchitaben finden. K. und 2. die Chiffern find auch noch hinter andern Gedichten der Gräfe'ſchen Sammlung zu leſen find unzweifelhaft Andeutungen der Namen derjenigen Perſonen, welche die Reinigung und Umſchüttelung der Gedichte des Sperontes bejorgten, und die wir in ihrer jelbftgewählten Verborgenheit nicht ftören wollen. Denfbar, wenn aud jehr unwahrjcheinlih, wäre, daß Gräfe die Quelle diejer beiden Dichtungen nicht bemerft hätte, deren eine Giovannini, deren andere Hurlebufh in Muſik feste. Aber angeficht3 des dritten Liedes, zu welchem er jelbjt die Tonweije erfand, muß die Frage aufgeworfen werden: wußte er nicht, wer Eperontes war? oder wollte er ihn nur nicht nennen? Er verfehrte viel in den literariſchen Kreiſen Leipzigs, widmete den erjten Theil jeiner Sammlung der Frau von Ziegler, den zweiten der Frau Gott- jched und jtand mit diefer wie mit Gottiched jelbit Jahre lang in Briefwechſel. Er war aud im Frühjahr 1737 in der Ab- fiht nad Leipzig gefommen, einen Verleger für fein Liederbuch) zu finden, was ihm aber nicht gelang’). Er trat mit diejem Werk in ziemlich offene Oppofition zu Sperontes; die gefammte Vorrede wird von diejer Tendenz getragen, wenn er auch feinen Namen nennt. - Vielleiht paßte es ihm nicht, die Welt wiſſen zu laſſen, daß er trogdem gleich im eriten Theile ein Gedicht des Berfaffers der Singenden Muſe wörtlich wiedergab. Doc wie dem immer jei, für uns mag die Thatſache genügen, daß wir den wahren Namen des Sperontes durch Gräfe nicht erfahren.

Aus der Form des Pſeudonyms auf den wirklichen Namen gelangen zu wollen, wäre gleichfall® vergebenes Bemühen. Die

I) Brief an Gottiched vom 29. Mai 1737 (Leipziger Univerfitätsbibliothef).

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Veranlaffungen ſolcher Pjeudonymen waren meift ganz zufällige und perjönlide. Wer würde errathen, daß fich unter Amaranthes Corvinus, unter Menantes Hunold, unter Talander Bohfe ver: birgt? Möglih, daß Sperontes wie Sperantes von sperare abgeleitet ift; die Endung -ontes, welche fi an vielen Pſeudo— nymen jener Zeit findet, wird wohl am einfachiten als Latinifirung einer beliebten franzöfifchen Endung erflärt.

Wir müfjen fuchen, auf anderen Wegen zum Ziele zu fommen. Auf dem Titelblatt des zweiten Theil der Singenden Muſe befindet ih ein aus den Buchftaben 3 S S gebildetes Doppel:Monogramm. Sole Monogramme waren damals be- liebt und pflegen den Verleger des Buches anzudeuten. Man findet dergleichen, um ein paar beliebige Beispiele herauszugreifen, auf dem Titel von Corvinus „Neiferen Früchte der Poeſie“, Xeipzig 1720 (IF G— Johann Friedrich Gleditjch) und von Hunolds „Akademischen Nebenſtunden“, 2. Aufl. Halle und Leipzig 1726 (3 5 3 = Johann Friedrich Zeitler). Die Buchſtaben JSS fönnen nit den Druder andeuten, denn diejer war Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, aud nicht etwa den Kupferftecher, denn diejer hieß Brühl. Sie müfjen alfo auf den Verleger geben, welcher, wie oben jchon gejagt, diefes Mal der Verfaffer jelber war. Schlagen wir nun das in Rothdruck her— geitellte Prachteremplar des zweiten Theils der Singenden Mufe auf, jo finden wir die volle Beitätigung diefes Schluffes. Die vorgedrudte Widmung lautet vollitändig und wörtlih: „Seinen | respect. | Hoch» und Werthgeichägten | Gönnern | und | Freunden | wiebmet | dieje geringfhägige Bogen, | mit | gang er- gebenfter Empfehlung | zu fernerem | hochgeneigteitem Wohl: wollen | und | befonderer Freundichafft: | der Autor | J. S. ©.“ Es iſt alfo außer Zweifel, daß dies die Anfangsbuchitaben der Namen des BVerfaffers der Singenden Mufe find. Damit ift von neuem handgreiflih bemwiejen, daß er weder Johann Zacharias Gleihmann noch Lorenz Chriftoph Mizler geheißen haben kann.

Philipp Spitta, Wufilgefhichtlihe Auffäge. 13

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Verſuchen wir nun weiter, ob nicht aus den Werfen jelbjt An- haltepunfte zur Beſtimmung der Berfönlichkeit zu gewinnen find.

Seiner Herkunft nah muß er ein Schlefier geweien fein. Sch schließe dies vor allen aus dem Gedidht I, 66'). Das Gedicht ift ſprachwiſſenſchaftlich intereffant, und da ich auch jpäter noch darauf zurüczufommen habe, mag e3 bier vollftändig ab- gedrudt werden.

1. Hoah iechs nich lang geſoat:

Doa fee Menſche noach mier froat.

Wahm jooll iechs od immer Eloan ?

Dlles, olleö friegt ann Moan,

Unn ieh muß Miet Verdruß

Doas bey junga Taga fahn unn dorba. 2. Harker Harr Sand Andres,

Soah mirrs, doß iechs aba weeß:

Jes dann goar fee Karl firr mich,

Wann ha noadh ſu liederliech,

Dahn ieh foan ann Moan

Dabens hiſch miet mier zu Bette nahma ? 3. es mierd dooch aba viel,

Wann mieh ehner hoaba wiel;

Ha fey pudlich oder krumm,

Kruppfich oder toob unn ſtumm:

Nurr an Moan Muuß tech hoan,

Nanders muuß iech miech noach goar derleeba.

4. Nu de wirft dooch amoahl Miech befreya voh daar Quoal! Lieber Andrees, loaß miech jahn, Wand mirr wilft zum Moanne gahn? Mar ah ſey; Bleibts derbey! Dannk und Merten, Nidel oder Girge.

Der fchlefifhe Dialect in diefem Gedicht iſt faſt durchaus rein, wie nach den Arbeiten Karl Weinholds?) auch der Nicht:

1) Ich bezeichne fortan den zuerft 1736 erfchienenen Theil der Singenden Muſe mit I, die erfte bis dritte Fortfegung mit II, III, IV, die 1747 er- ſchienene Auflage des erften Theiles mit I.

2) Weinhold, Ueber deutſche Dialectforfhung. Die Laut: und Wort— bildung und bie Formen der jchlefiihen Mundart. Wien, Gerold 1853. Derfelbe, Beiträge zu einem fchlefiihen Wörterbuhe. Aus den Sigungs- berichten der Kaiferlihen Akademie der Wiſſenſchaften. Wien, 1855.

19%

Schleſier erkennen fann. Man bemerkt zudem ein erfolgreiches Beitreben, die fremmdartigen Dialectlaute durch Schriftzeichen wiederzugeben. Ganz conjequent verfährt Sperontes allerdings nicht: wir lefen „muuß“ und „muß“, „wiel“ und „wilft”, wir lefen jogar neben der Form „mirr“ auch einige Male das un- rihtige „mier“, neben „unn“ einmal „und“. Aber dies Fönnen Schreib- oder Drudfehler fein, beide bei einer jo ungewohnten Sache nur natürlid. Bedenken dürfte eher noch das Wort „eruppfich” erregen, wofür „Eruppig” oder „Eroppig” hätte ge- fchrieben fein jollen. Für „und“ hat der Schlefier die Formen „ond“, „and“, „on”, „an“; ich kann aber aus dem Anfang des 18." Jahrhunderts auch die Form „unn“ nachweijen, deren fi) Sperontes bedient!). Ebenjo verhält es fich mit „goar“ für das gebräuchlichere „guar“. Sperontes jchreibt „doach“ und „noadh“ für „doa” und „noa“; doc) find, nad) perjönlich von mir ein- gezogener Erfundigung, legtere Formen nicht die ausschließlich ge- bräuchlichen. „Derleeba“ iſt Dialectform für „erleben“, „hartzer“ für „berzer“ = „lieber“, und „Harr“ für „Herr”. Man fönnte freilich, da es eben der heilige Andreas ijt, der angeredet wird, und eine andere mitteldeutfche Faſſung des Gedichts die be- treffende Zeile mit „Härtzner Herre Sankt Andrees” wieder: gibt?), alſo offenbar das erite Wort auf das Harzjgebirge be: zieht, einen Augenblid vermuthen, die Mundart des Gedichts fei die im Oberharz berrichende. Die Volksgebräuche und Lieder, mit denen dort am 30. November der harziihe Schußpatron von den Jungfrauen bis heute gefeiert wird ?), könnten die Ver: muthung ſtützen, daß grade diejes Wort nicht fchlefifchen Dialects jei. Allein die Wahrjcheinlichfeit ift doch dagegen, da fonft faft

1) In einem Gediht im Dialect der ſchleſiſchen Bauern, welches fi) findet in „Des Poetiichen Brief-Wechjels Fünffte Copie. Anno MDECKXIV.* S. 72 ff. (Königl. öffentl. Bibl. zu Dresden. Litt. Germ. rec. B. 201, 29 s.).

2) Büfhing und von der Hagen, Sammlung Deutſcher Volkslieder. Berlin, 1807. Nr. 66.

°) ©. auch v. Loeper, Goethes Fauſt. Erfter Theil (1. Aufl. 1870)

©. 32, Anmert. 13*

1%

alles für Schleſien zeugt’); aucd Kleinigkeiten, wie „od“ und „hiſch“ = „hübſch“, tragen ſchleſiſchen Stempel.

Auch in vielen der andern Gedichte erfennt man an ge- wiſſen Eigenthümlichfeiten den Schlefier. Ich hebe nur einige be- fonders auffallende Dinge heraus. Das Wort „kürmeln“ (I, 74); man erflärt es im allgemeinen mit „lallen, als Ausdrud ange- nehmer Empfindungen bei Eleinen Kindern“ ?), hier tritt es in erweiterter Bedeutung auf als „jchönthun, fojen mit einander”. Die Formen: der Monden (II, 20, 4: Kirms ©. 5), die Gärte, plur. (II, 44, 7; 50, 2), die Bunterey, d. h. eine Menge bunter Gegenſtände (I*, 61, 4)°), Gepüfche (I, 53, 3), ider—jeder und auch jo geichrieben, aber durch den Neim fich verrathend (jeden : beijchieden; I, 5, 3)*), die dur Abwerfung der lerion ver: fürzten: verpflicht (I, 3, 2), veradht (1,48, 3), gepfändt (Kätzgen, S. 15), bericht und hingericht (ebend. S. 9 und 10), ausge: riht (Kirms S. 3). Die durch den Neim offenbar werdenden Abwandlungen: küſſen: genüſſen (I, 4, 1), fprißt: bift (I, 4, 2), Schlüſſe: biffe (Kirms ©. 6), willen: ſchlüſſen (Kätzgen S. 10), beihügt: beihmigt beihmugt (I, 58, 6)°).

Noch jeien zwei Stellen erwähnt, in denen ganz unerwarteter- weile der Rübezahl und die Sudeten herbeigezogen werden (IIL, 49, 4 und IV, 40, 2). Man wird wohl nicht widersprechen, wenn ich meine, daß dieſe jemandem, der nicht in Schlefien ge- boren und aufgewachjen war, gerade an den betreffenden Stellen ſehr fern liegen mußten.

Alles das würde, glaub’ ich, ſchon volljtändig genügen, die

!) Ueber diefen BunftPhat fih Wilhelm Tappert im Muſikaliſchen Mocenblatt (Leipzig, Frikich), Jahrg. 1885, Nr. 13 in feiner Weife geäußert.

2) (Johann George Berndt), Verſuch zu einem fchlefiichen Idiotikon. Stendal, 1787. ©. 75. Val. Weinhold, Ueber deutiche Dialectforfhung, S. 95, und Beiträge zu einem fchlefiichen Wörterbude unter „kirmeln“.

3) Meinhold, Dialectforfhung S. 94.

+, Meinhold a. a. D. ©. 40 führt aus Lohenfteind Ibrahim Bafla 1, 269 an: lieder: ieder.

5) Ob „Hüte? Hütte (IV, 40, 2; Kätgen S. 5 und 12: Strumpfband S. 16) auch ein ſchleſiſcher Idiotismus ift, weiß ich nicht zu jagen.

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chlefiiche Herkunft ded Sperontes zu beweifen. Es kommt noch binzu das Eintreten des Buchhändlers Korn aus Breslau, der von 1740 an den eriten Theil der Singenden Muje in Verlag nahm. Offenbar waren bier landsmännifche Rückſichten wirkſam.

Bei der Verwendung der Gedichte zur Feititellung der per: fönlichen Verhältniije des Sperontes bedarf es der Behutjamfeit, will man anders nicht Gefahr laufen, Fehlſchlüſſe zu machen, Jeder Dichter hat das Necht, Begebenheiten und Zuſtände gänz— lic) zu erfinden, und auch bei der Benugung von Erlebtem im Einzelnen von der Wirklichkeit abzuweichen. Sperontes war außerdem nod dur den Umſtand gebunden, daß er tradıten mußte, den Inhalt feines Gedichtes wenigitend ungefähr dem Charakter des Mufikftüdes anzupafjen, zu dem es gehören jollte. Wiffenichaftlihe Unterfuhung darf alfo nicht von dem Gegen: ftande des Gedicht auf das Leben des Dichters ohne weiteres zurüdichließen. Wenn man I, 34 einen Marſch findet und darunter ein Gediht „Der Abichieds - Tag bricht nun heran, Daß ih nicht länger bleiben kann“, jo wird man ich einen Soldaten denken, der marſchiren muß und von jeinem Mädchen Abſchied nimmt; niemand aber wird den Einfall haben wollen, daß Sperontes ſelbſt dieſer Soldat ſei. Will der Dichter Schaffen, jo wählt er fich einen Gegenitand, der feine Geitaltungs- fraft reizt. Nun gibt es aber Gegenitände, bei denen nicht einzufehen it, welchen Reiz fie für das Kunſtvermögen des Dichters haben können, bei denen aljo die Hauptſache im Stoffe jelbft ruht, und bier ift der Rückſchluß auf die Perſon des Dichters zuläffig. 1*, 64 wird gefungen: „Wo jollt ich beſſer wohl, ihr Linden, Als wie zu euch verjeget, ſtehn? Hier fann id), was ih wünſche, finden, Hier find ich alles doppelt ſchön“ u. ſ. w. Dann, dritte Strophe: „Did, Schidjal, will ih ewig preifen, Daß du mid an den Ort geführt. Und willſt du mir die Gunft erweifen Und zeigen, dat mein Wunjc did rührt: So gönne mir, o mein Geichide, Daß ih, bis auf den legten Tag Von meinem Leben, dieſes Glüde Verhoffen und erfahren mag!“

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Es wäre abjurd, hier eine Fiction des Dichters anzunehmen und den Gegenitand nicht auf ihn jelbit zu beziehen. Daß ſich jemand in der Lindenftadt, d. 5. in Leipzig, behaglich fühlt und wünjcht, in ihr feine Tage zu beichließen, das fünftleriich dar- zuftellen konnte ihn, der nicht aus dramatischer, jondern lyriſcher Anſchauung ſchuf, nur reizen, wenn er felbit diefer Mann war. Soviel über die Kunftobjecte im Ganzen. Für die Beurtheilung der Einzelheiten gilt folgender Grundfag. Jede Kunitgeitaltung verallgemeinert. Es werden gewiſſe große Contouren gezogen, die Umrifje der einzelnen Beitandtheile müſſen ſich ihnen unter: ordnen. Dies gelingt leichter, wenn alles freies Erzeugniß der Phantafie it. Je mehr wirklich erlebte Einzelmomente im Gegen- ſtande jteden, einer deſto größeren Kraft bedarf es, fie völlig in das Ganze aufzulöjen: als Materie leiften fie zäheren Wider: ftand. Goethe war bewunderungswürdig groß in der Kunſt, felbiterlebte Dinge in eine vollendete Kunstform zu verallgemeinern, ohne ihnen von der Befonderheit des Selbiterlebten etwas zu nehmen. Sperontes, nur ein kleines dichterifches Lichtſtümpfchen, vermochte das nicht. Die wirklich erlebte Einzelheit ftört den Contour des Ganzen, oder, um ein mufifalifches Bild zu ge: brauden: er fällt aus dem Ton. In den meiſten Fällen merft man dies beim erjtmaligen Leſen. An diejen Leitfäden laſſen ih, wie ich glaube, die Dichtungen behufs Signalifirung feiner PTerfönlichkeit ungefährdet durchwandern.

Sperontes lebte aljo 1747 in Leipzig; er war dahin „ver: jeget”, d. h. aus der Fremde zugezogen. Daß jchon beim Er- Iheinen des eriten Theil der Eingenden Mufe Leipzig jein Wohnort war, ift eine ſich von felbit darbietende Vermuthung, die durch das Gedicht Nr. 53 des eriten Theils bejtätigt wird. Er ſtand mit der Studentenjchaft in Verbindung und dichtete ftudentifche Lieder nicht nur um 1736, fondern auch noch 1745 (I, 28!), 37, 60; III, 13; IV, 47). Aber ſchon 1736 ift er

!) Strophe 5: „Währt der Abend lange, Wird mir drum nicht bange; Weil mih zu der Zeit Die Gefellfhaft auh erfreut, Wo man mit den Krügen Etopffet, Und die Pfeifen ftopffet.“

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ſelbſt über die Jugend hinaus. Wenn er im Widmungs-Ge— dichte des erſten Theils die Hoffnung ausſpricht, daß ſeine Lieder, wenn nicht allen, ſo doch der jungen Welt Vergnügen und Nutzen bereiten würden, ſo ſieht man, daß er ſich ſelbſt zu dieſer jungen Welt eigentlich nicht mehr rechnet. Von 1736 bis 1748 war er eifrig thätig; von 1740 an erſcheint faſt jedes Jahr etwas von ihm in der litterariſchen Oeffentlichkeit. Ich glaube auch wahrſcheinlich machen zu können, daß nach und neben der Singen— den Muſe noch ein anderes, anonymes, Liederwerk von ihm zu Stande gebracht worden iſt, deſſen fünfter Theil Michaelis 1749 herausfam. Dann verftummt er für immer, und es darf alſo ge- ichloffen werden, daß er nicht lange nad) 1750 geftorben jein wird.

Er hatte jtudirt, denn er bezeichnet ſich an zwei Stellen als einen „Gelehrten“, oder dem „gelehrten Orden“ zugehörig (III, 42, 5; IV, 30, 8). In den „Beluftigungen des Verftandes und Witzes“, welche von 1741 an in Leipzig herausfamen, macht einmal jemand die Bemerkung: Ein Ungelehrter heißt bei ung, der mit den Wiffenfchaften nicht ſein Brod verdienen will!). Dana hätte Sperontes von irgend einer Wiſſenſchaft Profeſſion gemacht. Aber er hatte feine Stellung, die auf einem ange- jehenen öffentlichen Amte beruhte (II, 32, 2); er war, zeitweilig wenigiteng, ganz arm und fämpfte hart um jein Dajein. Man fieht dies aus einem Gedichte, das in feiner Art zu den beiten gehört, die er gemacht hat (I, 63). Es iſt nützlich, einige Strophen mitzutheilen.

1. Das Glüde lag in legten Zügen, Und mwolte von der Erde gehn: Ich, voller Angft und Mibvergnügen, Blieb bey dem Patienten ftehn. Drauf fam ein ganker Schwarm gegangen, Und 309 durd Stube, Hof und Haus. Kurk um: das jämtliche Verlangen Lief auf ein Teftament hinaus.

) Band ], ©. 24.

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2. Das Glüde war damit zufrieden, Und Hub mit ſchwachen Worten an: Dem Armen jey mein Schaf beſchieden, Daß er fich befier helffen fan!

Da war an allen End und Drten Kein Donner, den man nicht ausſtieß, Weil es bey fo geſprochnen Worten Auf mich zugleich mit Fingern wich.

3. Die Thorheit wagte ſich vor allen Und fprad mit vollem Wiederftand: Auf mih muß diefes Erbtheil fallen. Gedend an unfer Freundidafts-Band! Der fiel die Thumbeit in die Rede, Bezog fi) auf den Vormunds:Scein, Und weil fie von Natur nicht blöde, Sprad fie: ih muß Mit:Erbe feyn.

4. Die Schelmerey ſchlich ſich inzwiſchen Mit leifen Schritten auch darzu,

In Meynung: was dabey zu fiichen. Da dacht ich endlich: wo bleibit du? Wenn es den Narren muß gelüden, Den tummen Leuten wohl ergehn, Wenn Diebe fi den Beutel fpiden, Muft du bey Martin Blümden!) ftehn.

Dann wird erzählt, wie das Glück ftirbt und die Narren, Dummen und Diebe fi eilig in die Hinterlaffenfchaft theilen. Für Sperontes bleibt nichts als der legte Stuhl. Ueber diejen fängt ein alter Geizhals einen Proceß mit ihm an und jhidt ihm fieben Advocaten auf den Hals. „Ich ſprach zu ihm: mein lieber Herre, Laßt doch die guten Leute weg! Ihr ſeht ja, daß ih mich nicht fperre, Greifft zu! Hier ift der ganze —.“ Als einen Pechvogel, der ſtets leer ausgeht, während andre ſich gütlih thun, ſchildert er fih häufig. Er wünſcht vergeblich, dab nur einmal, wenn auch für furze Zeit, dad Glüd ihm lade (Il, 14). Er arbeitet und müht fi immer mit nur ge: ringem Erfolg (III, 3. „Ich Flags dem Himmel und der Erden, Mas wird doch endlich aus mir werden” (III, 6). In feiner

1) Wahrſcheinlich ein Leipziger Pfandleiher oder Wucherer.

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Noth muß er fich jede Schlechte Behandlung gefallen laſſen (II, 15). Er ift verſchmäht, vergefjen und immer einfam (IV, 32). Am Schluß eines Gedichtes, dem als Parodie allerdings eine gewiſſe bejondere Haltung vorgefchrieben war, deſſen Inhalt aber in Verbindung mit manchen ähnlichen Gedichten doch eine perjönliche Beziehung verräth, wünjcht er, man folle auf feinen Leichenftein fegen: „Der bier die Erde faut Hat Noth darauf gebaut” (I, 18). Dann aber jegt ihn ein leiter Sinn wieder über alle Sorgen hinweg (III, 11). Ein häufig wiederfehrender Gedanke ift, fich philofophifh mit wenigem zu befcheiden. In den jpäteren Ge: dichten wird er im allgemeinen beiterer, zufriedener und be- rubigter. Das reife Alter macht jich geltend, vielleiht auch ver- beſſerte äußere Verhältnifje. Er ilt vergnügt „in feinem Mittel: Stande“ und geht „in feinem fchlechten Kleide“ (IV, 45). Eine friedlihe Natur, mag er von „Feldzügen, Pulver, Stahl und Bley“ nichts hören, und wünſcht fih nur „Ein fröhlich Hertz, ein gut Gemwißen, Gejunden Leib, mein täglich Brodt, Und einen Trund aus reinen Flüffen“ (IV, 46).

Einmal ſpricht Sperontes die Hoffnung aus, daß vielleicht feine Erben befommen würden, was ihm das Glück vorenthalte (II, 43, 4). Es ift das eines der Gedichte, in die ein perfönlicher Zug unerwartet hineinfpielt. Mit den Erben können doch nur Kinder oder Gattin gemeint fein. In einem wüjten „Studenten: Lied“ von 1736 (I, 60, 3) räth der Dichter, weil man bis zum Eintreffen des neuen Wechſels geborgt erhalte, nur immer wader drauf los zu zehen: „Auf, auf, ihr Brüder, auf! Auf! es lebe, der3 am beften fan, Unjer Schwieger-Mutter Tochter-Mann!“

Ser e3 recht überlegt, wird finden, daß ein foldher Wit einem unverheiratheten Studenten wohl kaum einfallen konnte. In jpäteren Gedichten jagt er dann, er habe fein eigen Weib (II, 2) und preift cynifch genug jogar die freie Liebe (IV, 20). Die Gattin könnte inzwijchen geftorben fein; doch möchte ich auch nicht beftimmt behaupten, daß hier perſönliche Züge zu erfennen wären.

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Sperontes hat (I, 57) Günthers Lied „Brüder, laßt ung luftig fein“ parodirt im Sinne eines bemoojten Hauptes, das Anwandlungen von Solidität empfindet und aus eigner bitterer Erfahrung die jüngeren Commilitonen ermahnt, frühzeitig fleißig zu jein. Wenn er (I, 53) den Ruhm von Pleiß-Athen fingt, fühlt er ſich fchließlich doc veranlaßt, die Jugend vor gewiſſen Verführungen zu warnen: „Traut feinen Apffel-Bäumen! Sie haben manchen jchon berüdt, Und jeines Glüdes Keimen Im beften Wuchs erſtickt. Dan würde das Perfönliche aus diejen Zeilen kaum berausfühlen, wenn nicht andere Neußerungen die Gedanken jchon nach diefer Richtung geleitet hätten. Aber wir lefen (I, 58) von dem Treiben der böjen Zungen, wie ihre Ge— Ichäftigfeit oft den „Redlichſten“ ins Unglüd bringt und dann wörtlih: „Da heißt ein übereilt Verjehen Das gröfte Lafter von der Welt: Wenn jo ein ftrauchelndes Geichehen Dem Richter in das Auge fällt, Der recht mit allen Vorbedacht Die Müden zu Gameelen macht. Kaum muß dem jchärffiten Mord-Gewehre Sein Richt-Schwerdt zu vergleihen jeyn: Denn dieß durch— jchneidet Ruhm und Ehre, Und jenes trifft nur Hals und Bein.” Ganz deutlih geht er erſt in einem jpäteren Gedichte (IL, 12) heraus, in welchem er der Liebe den Abjchied gibt: „Jh hab es verjehen, Und, eh es geichehen, Nicht beifer gewußt“, und in der dritten Strophe: „Ih hab es probiret, Mit Schaden ge- jpüret; Nun thu ichs nicht mehr.“ Der Ehluß ift leicht zu ziehen, dab ihm in Liebesjachen etwas begegnet war, das für jein jpäteres Leben die übeljten Folgen hatte.

Ich habe alle Ergebniffe zufammengebradt, die fih für meinen Zweck aus den Gedichten gewinnen laffen, und denfe, mit diefem Signalement in der Hand könnte es wohl gelingen, den Unbekannten zu finden, Er ift auch gefunden, wenn man die Vorausjegung annimmt, daß er in Leipzig geſtorben ift. Ich muß zugeben, daß ich die abjolute Gewißheit hierüber nicht ſchaffen kann. Möglich iſt e8 ja, daß Sperontes, objchon er ung gejagt hat, wie jehr er an Leipzig hängt und daß er hier jeine

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Tage zu beichließen hoffe, dennoch nah 1748 noch an einen andern Ort gezogen und dort gejtorben iſt. Aber es iſt äußerft unwahricheinlih. Ich habe die Forſchungen über volle zwanzig Jahre nah dem Erjcheinen jeines legten Schäferſpiels ausge: dehnt. Innerhalb der Zeit von 1736 bis 1768 gibt es in Leipzig nur eine Perjönlichkeit, auf weldhe das Signalement paßt. Auf fie paßt es aber genau.

Der Dann Heißt Johann Sigismund Scholze, ge bürtig aus Lobendau bei Liegnig, geboren dafelbft 1705. Er befuchte in den Jahren 1720 und 1721 die Schule zu Liegnig und befand ſich auf diefer wahrjcheinlich bis zu feinem Abgange zur Univerfität. Daß er in Leipzig ſtudirte, iſt anzunehmen, wennſchon nicht urkundlich zu belegen. Auch ob er außerdem noch eine andere Univerjität bejucht hat, habe ich nicht ermitteln fönnen '). Anfang 1729 ift er in Leipzig, immer noch als Studiosus,. In der Folge figurirt er auch als Candidatus juris, oder juris Practieus, endlid wieder nur als Studiosus. Viel— leicht hatte er in untergeordneter Stellung bei einem Rechts— anwalt zeitweilig fein Brod zu verdienen geſucht. Er hatte ſich mit der Wittwe eines Traiteurs in Halle eingelafjen, und wurde auf Befehl des Conſiſtoriums, dem das Berhältniß fund ge- worden war, am 3, Januar 1729 in Leipzig zwangsweife ge— traut. Die Kinder diefer Ehe ſtarben größtentheils im früheiten Alter, die Frau jelbft den 12. Februar 1738. Er blieb für den übrigen Theil feines Lebens allein. Als er 1750 ftarb, war noch eins der Kinder um ihn. Am 30. September erhielt er jein ärmliches Leichenbegängniß ?).

’) Weder die Matrifel der Leipziger Univerfität noch die der Univerfi» täten Halle, Wittenberg, Jena und Frankfurt weifen feinen Nanten auf.

?) In der amtlichen Notiz über feine Trauung heiht er „studiosus aus Zobenthau bei Liegnitz“. In der Sterbeurkunde wird gefagt, er ſei 52 Jahre alt geworden. Die beiden Angaben lafien fich nicht vereinigen. Nach den forgfältigen Durdforihungen des Kirchenarchivs zu Lobendau, welche Herr Paſtor Peters daſelbſt in dankenswerther Weiſe angeftellt hat, kommt der Name „Scholze* oder ein ähnlicher in den Jahren 1697 und 1698 über-

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Das fünfzigfte Lied des vierten Theil der Singenden Mufe fcheint ein Freimaurerlied zu fein. Der Dichter ſpricht in ihm gradeweg von „unſerm“ Orden, auch unter der Mufif find frei- maurerifche Embleme, Winfelmaß, Loth und Zirkel angebradt. Scheinbar enthielte alfo diefes Lied einen wichtigen Beitrag zum Signalement des Sperontes: er müßte Freimaurer geweſen jein. Aber weder die Loge zu Leipzig (gegründet 1741) noch die be- nachbarten zu Halle (gegründet im Dezember 1743) und Altenburg weijen den Johann Sigismund Scholze in ihren Liften auf. Die Hallenfer Protokolle find allerdings aus den erften Jahren nicht vollftändig mehr vorhanden, das Fehlen des Namens in ihnen kann alſo noch nichts ficheres beweifen. Wäre Scholze aber aud) in Halle nicht Mitglied geweſen, jo müßte er einer entfernter gelegenen Loge zugehört oder überhaupt gar fein Freimaurer geweien fein. Seit mir von ſachkundiger Seite mitgetheilt worden iſt!), daß eine zwingende Nothwendigfeit nicht beftebe, aus dem Inhalte des Liedes auf die SFreimaurerfchaft des Sperontes zu fchließen, erjcheint mir für jene legtere Annahme manches zu ſprechen. In den vierziger Jahren des 18. Jahr: hundert wurden in Mitteldeutichland die Freimaurer Gegen: ftand allgemeiner gejellfchaftlicher Neugier. Bejonderes Intereſſe

haupt dort nicht vor. Der Vater des Johann Sigismund S. war Amts: fchreiber in Zobendau und verheirathete fih 1703; er war noch nicht ver- mählt geweien. Johann Sigiämund (geb. 20. März 1705) war das erfte Kind der Ehe. Der Vater wurde 1722 Amtmann in Lobendau und zog 1723 von da nad) Jauer. Die Berfonalnotiz von 1729 erjcheint durchaus glaubwürdig, da fie auf Johann Sigismund Scholzes eigenen Ausſagen beruhen muß. Man fann alio nicht annehmen, der Ort der Herkunft fei falich angegeben. Biel weniger verläßlich ericheint die Angabe der Sterbe urfunde. Scholjes Haus war bei feinem Tode bis auf eine halberwadhiene Tochter ganz verödet. Daß unter biefen Umftänden über die Zahl der Lebensjahre des vielleicht früh gealterten Mannes ein Irrthum eintreten fonnte, tft leicht zu begreifen.

1) Durch Herrn Brof. Dr. Victor Carus zu Leipzig; diefer bat mir überhaupt mit unermüdlicher Gefälligfeit alle diejenigen Thatſachen beichafft, deren ich zur Aufbellung obigen Punktes bedurfte, und die ich perſönlich und direct niemald würde haben zufammenbringen können.

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erregten auch ihre aus Frankreich importirten Lieder, die man theils im Original, theil® in mehr oder weniger gelungenen Nahbildungen fich aneignete. Mir liegt aus eben diefer Zeit der Beweis vor, daß franzöfifche Freimaurerlieder fogar in ein Liederbuch einer jungen thüringiſchen Edeldame eingetragen worden find, die doch jelbitverftändlich in ihnen mur eine interefjante Euriofität erbliden fonnte und wollte Die älteiten mir be- fannten deutjchen Nachbildungen find um 1743 gedrudt, die auf jte folgenden Freymäurer:Lieder von Ludwig Friedrich Lenz find 1745 vollendet worden. 1745 erſchien auch der vierte Theil der Singenden Muſe. Nun liebte es Sperontes überhaupt, ſich in allen möglichen Stilgattungen berumgutreiben und bald jo, bald jo zu verſuchen. Recht wohl fonnte er daher auf den Ge: danfen fommen, e8 auch einmal mit einem Freimaurerliede zu probiren, um jo mehr, da er wifjen mußte, daß für das Rublicum ein jolches ſtets ein Fräftiges Neizmittel fei. Es erinnert jein Lied bezüglid) des Gedankeninhalts auch ganz entichieden an gewiſſe Franzöfiiche Vorbilder. Der Kupferitecher Krügner bat neben die erwähnten maureriichen Embleme forglich feinen Namen gravirt, obwohl derjelbe am Anfange des Theils ſchon groß und breit zu lejen fteht. Wollte er von der Neugier für die Frei— maurerei bei dieſer Gelegenheit etwas auf jeine Perjönlichkeit berableiten? Denn Mitglied der Yeipziger Loge iſt auch er nicht gewejen. Endlich ſei noch folgendes bemerkt. Was von dem wirklichen Namen des Sperontes abfolut feitfteht, find die drei Anfangsbuchftaben 3. S. ©. Findet fih nun in den Liſten der Logen von Xeipzig, Halle und Altenburg der Name Johann Sigismund Scholze nicht, jo doch auch fein anderer, für den die Buchftaben 3. ©. ©. zuträfen!). Endergebniß ift alfo, daß aus dem ;Freimaurerliede weder für noch gegen die Identität von Scholze und Sperontes etwas gefolgert werden kann.

1) Ausgenommen ein Johann Siegfried von Schönfeld aus Holftein. Aber diefer war 1744 erft 22 Jahre alt, kann alio unmöglich fchon 1736 den erften Theil der Singenden Muſe herausgegeben haben.

——

Vielleicht iſt aber in dem 50. Lied des vierten Theils die Beziehung auf den Freimaurer-Orden nur ein trügender Schein. Es war um jene Zeit, daß auf den Univerſitäten im Gegenſatz zu den Landsmannſchaften die Studentenorden ent— ſtanden, und dieſe ahmten freimaureriſche Gebräuche nach. Die Gründung des wichtigſten von ihnen, des Amiciſten-Ordens, wird in das Jahr 1746 verſetzt, und ungefähr in dieſe Zeit ge— hört auch das in Rede ſtehende Gedicht, das 1745 zuerſt ge— druckt worden iſt. Möglich alſo, daß Sperontes einem ſolchen Orden angehörte, deren Zweck es ja auch war, hülfsbedürftigen Brüdern beizuſtehen. Das 43. Lied des vierten Theils ſcheint dies zu beſtätigen. Es gab unter den Studenten einen geheimen „Mopsorden“; 1747 wurde er in Göttingen entdeckt und unter dem 8. Februar 1748 verboten!). Der Anfang des Gedichts lautet:

Nun fommt mein Mops, das treue Tier, Mir täglich angenehmer für,

Da fih die Menſchen nicht mehr ſchämen,

Den Hundenahmen anzunehmen.

Und der Schluß:

Daß dod die Menihen insgefammt Nah ihrem Stand, Beruf und Amt

Inionderheit die lieben Frauen

Mein Möpsgen nit zum Beiipiel ichauen! Und nicht, zur Zeit, Schon meit und breit,

In den getreuen Orden

Sind aufgenommen worden!

Das Elingt doh wie eine Satire auf den Mopsorden der Studenten, dem gegenüber jich der Orden, dem Sperontes an- gehörte, vielleicht bejonders vornehm und vernünftig dünfte. Der Magilter Johann Gottlieb Jahmann gab 1759 in Hirſchberg heraus Centifolium Scholtzianum, sive commentatio de doctis Scultetis, Schultziis, Scholtziis, Silesiis. In dieſer Schrift wird Johann Sigismund Scholje nicht ermähnt. Jachmann verzeichnet größtentheil® Prediger, auch einige Aerzte

') Zaut den Prorectorats-Acten der Univerfität Göttingen.

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und Suriften, die in Schlefien geboren und zumeift auch Später dort anſäſſig waren; immer aber nur folde, die es zu Amt und Würden bradten. Da hatte er freilich feine Veranlafjung, den in der Fremde figen gebliebenen und geitorbenen armen Studenten zu berüdfichtigen, von deſſen muthmaßlicher littera- riſcher Thätigkeit, wenn fie unter Pſeudonym erfolgte, er viel- leicht nicht einmal Kunde hatte.

Als den Johann Sigismund Scolze der zweite Sohn geboren wurde, bat er zum Taufzeugen den Commerzienrath Johann Heinrich Zebler, den Verleger ebendesjenigen Univerjal- Lexikons, in dem die oben beleuchtete falſche Notiz über den Verfaſſer der Singenden Mufe jteht. Dies könnte einen Augen: blid ftugig machen. Jedoch wurden angejehene und wohlhabende Leute von bedürftigen oft in diefer Weiſe angegangen; es brauchen aljo engere Beziehungen zwiichen beiden nicht voraus- gejegt zu werden. Beltanden ſie aber wirflih 1731, fo konnten fie 1743 längſt gelöft fein. Und waren fie nicht gelöft Zedler, als bloßer Verleger des Lerifons, las fiher nicht alle Artikel desjelben durch. Man fönnte aber aud) auf einen andern Ge- danfen fommen, daß nämlih Scolze jelbit der Urheber des Artikels über Sperontes gewejen wäre. Der Erfolg, mit dem er fein Incognito der Mit: und Nachwelt gegenüber bewahrt haben würde, ließe jchließen, daß er ſich ſehr bemüht hätte, un- erkannt zu bleiben. So fönnte er durch jene Notiz das Publicum haben auf eine falſche Spur leiten wollen. Ein Mann von Be: gabung, der vielleiht mit ftolzen Hoffnungen ins Leben hinaus- gefegelt war, dann jämmerlich Schiffbruch gelitten hatte, ber, mit der gemeinften Lebensnoth im Kampfe, fich vielleicht zu den unmwürdigiten Arbeiten bequemen mußte, der einen Namen trug, welcher durch viele ausgezeichnete Männer zu hohem Anfehen in feinem WBaterlande gebraht worden war das Gefühl der Scham und Scheu, die öffentliche Aufmerkſamkeit auf ſich zu lenten, würde bei einem ſolchen Manne begreiflich fein und ihm nicht zur Unehre gereichen.

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Es jcheint, als ob die Verpflichtungen der deutjchen Litteratur gegen die Species der verbummelten Studenten und verfommenen Studirten im Wachen wären. Hoffmann von Fallersleben hat in Chriſtian Wilhelm Kindleben den Berfaffer des neueren Gaudeamus igitur entdedt, Friedrich Zarnde Chriftian Reuter als den Verfaffer des Schelmuffsfy herausgeftellt. Zu ihnen fäme Johann Sigismund Scholze als dritter’).

IV.

Die funftgefchichtliche Bedeutung der Singenden Muſe liegt vor allem darin, daß fie uns nicht weniger als 248 Heine Muſik— jtüde aufgezeichnet erhalten hat, die in der erjten Hälfte des 18. Jahrhunderts für Leipzig und Mitteldeutjchland, auch wohl noch für einen weiteren Kreis dasjenige waren, was man vor fünfzig und mehr Jahren bei uns Favorit-Stücke zu nennen pflegte. Es ift Mufif wie fie damals zur häuslichen Unterhaltung diente, großentheils Mittelgut, auch das Geringwerthige fehlt nit, wird aber durch manches Ausgezeichnete mehr als auf- gewogen. In gleich günftiger Yage, wie die ift, welche ung die Liederbücher des Sperontes gewähren, befinden wir uns feiner anderen Periode der deutſchen Mufifgefhichte gegenüber. Es liegt im Weſen ſolcher Tonftüde, daß fie unverjehens auftauchen,

1) Herr Regierungdrath Meißner in Altenburg befigt, wie vor einigen Jahren durh Reinhard Hade befannt geworden ift, eine von E. F. Loos aus Nürnberg 1767 in Zinn geprägte Medaille mit der Umfchrift: „Sigis- mundus Scholz Aet. 50.“ Sie trägt auf der Borberfeite das Bruftbild eined Mannes mit Allongeperrüde, geftidtem Rod und gefticter Mefte. In dem Wappen, das die Nüdfeite einnimmt und die Umfchrift trägt: „Pars mea deus in aeternum“, treten zwei gefreuzte Schnabelflöten hervor, bie auf eine Beziehung des Mannes zur Mufif Schließen laffen. Es hat einen Magifter Sigismundus Schulzius aus Breslau gegeben, der Geiftliher war und 1730 geftorben ift. Aber ein Geiftlicher würde ſchwerlich in dem be Ichriebenen Coftüm dargeitellt worden fein. Möglich ift es immerhin, dab hier Sperontes’ Bildniß vorliegt, und dab einige Verehrer, vielleicht in Erinnerung an frohe Jugendzeiten, die fie in feinem Umgange verlebt hatten, 17 Jahre nad jeinem Tode diefe Medaille bei irgend einer unbelannten TVeranlaffung prägen ließen. Daß die Altersangabe falih wäre, braudte im Binblid auf das S. 204, Anmerk. Gefagte nit Wunder zu nehmen.

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fih schnell verbreiten und ebenjo jchnell wieder verjchwinden. Schon jest würde es jchwer halten, aud nur das auf einen Saufen zu bringen, was im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts den Durchſchnitt der mufikliebenden Welt in dieſer vorüber- gehenden Weiſe ergögt hat. Für jene Zeit, da wenigſtens in Deutichland fol kleine Unterhaltungsitüde nur ausnahmsweiſe gedruckt worden, fih günftigen Falls abjchriftlih und in jehr vielen Fällen gewiß nur mittelit des Gedächtniſſes fortpflanzten, müßte man den Verfuh, ein halbwegs vollitändiges Material zufammen zu bringen, von vorn herein als ausſichtslos bezeichnen. Gewiß it in bandichriftlichen Clavier- und Liederbüchern noch manches erhalten, was in dieſe Zeit gehört; ich jelbit habe Gelegenheit gehabt, eine Anzahl jolder Bücher zu jammeln und hoffe, dab fich noch mehreres herzufinden wird. Das aber läßt ſich ſchon jet jagen und klar machen, daß die Singende Mufe, wenn auch nicht den einzigen, jo doch einen Haupt-Mittelpunft bilden wird, um den ſich meu binzufonmendes Material zu gruppiren bat. Leber die kunſtgeſchichtliche Nichtigkeit ſolcher Muſik brauche ich fein Wort zu verlieren.

Indeſſen auch der poetiiche Theil: die von Sperontes zu den Muſikſtücken erfundenen Dichtungen, verdient eine aufmerf- fame Betradtung. Wer von der Höhe einer jpäteren Zeit geringichägig auf fie herabjehen will, dem muß gejagt werden, daß im 18. Jahrhundert wenigstens eine große Maſſe des deutfchen Volkes dieje Geringfhägung nicht getheilt hat. Manches Ge- dicht des Sperontes hat eine außergewöhnliche Verbreitung er: fahren und im Munde gewiſſer Kreife bis gegen Ende des Jahr: hunderts fortgelebt. Das bietet allerdings noch feinen aus— reihenden Maßitab für feinen fünftleriihen Werth, ift aber doch immer ein Zeugniß für eine gewiſſe innere Kraft, und die kleinen KRunftgebilde, die dieje Kraft bejeffen haben, find fomit ein unverächtlicher Gegenftand der gejchichtlichen Forſchung.

Ein großer Theil der Lieder befingt die Liebe. Auch einige

Naturlieder fommen vor, Schäfer: und Hirtenlieder, Lieder zum Philipp Spitta, Mufitgeihichtlihe Auffäge. 14

210

Lobe des Landlebens, des Frühlings, Herbites und Winters. Die Schönheit der Gärten wird gepriefen, Roſen, Beilchen, Nelken werden zum Gegenftande befonderer Gedichte gemacht. E3 findet fih ein Sagdlied, ein Kriegslied'), ein Soldaten- abſchied. Der Stubentenlieder find mehrere, leichter Sinn und unbefümmertes Genießen der Jugendzeit wird aud in andern Gedichten empfohlen. Im Gegenfag dazu: Klagen eines Un- glüdlihen, Betrachtungen über die Vergänglichkeit aller Dinge, Lob der Geduld im Unglüd, der fteten Gelafjenheit, der Zu— friedenheit. Bei den philofophirenden und moralifirenden Liedern fällt es auf, daß mit Vorliebe von der Hoffnung gejprochen wird; eine Anzahl von Liedern ift ausjchließlich ihr geweiht. Der Dichter hatte wohl Nöthigung genug, die Fähigkeit des Hoffens in ſich Tebendig zu erhalten; unmillfürlich drängt fich der Gedanke an eine Beziehung zu dem von ihm gewählten Pjeudonym auf. Außerdem werden noch befungen: die Tugend, die Verſchwiegen— beit, die Freundfchaft, die fünf Sinne, die Mufif, das Clavier, Leipzig, Geld, Rauchtabak, Schnupftabat, Caffee, Aheinwein, Burgunder, Kegelichieben, Billard, Kartenfpiel, Sclittenfahren, endlich auch der Mops des Dichters. Der in feiner Zeit be fonders beliebten ſatiriſchen Dichtung jcheint Sperontes inner- lih fern geftanden zu haben, nur einige wenige Berfuche in dieſer Gattung find vorhanden. Das einzige erzählende Gedicht, das vorkommt (I, 63), ift größeren Theils oben abgedrudt worden. Die Rihtung feiner Phantafie ging ganz vorzugsweiſe auf dad Lyriſche und Subjective, jo jehr, daß auch die Fälle jelten find, in denen er einmal ein Lied einer Perfon weiblichen Geichlechts in den Mund legt.

Sperontes ijt jehr gewandt im Verſemachen, Keimen und Strophenbauen, aber fein erfindungsfräftiger Dichter. Er war belejen und von gutem Gedächtniß. Daher finden fich überall bei ihm Anflänge an beliebte Dichter der Zeit, oftmals geradezu

'), IL, 70; vermuthlid auf das Jahr 1734 zu beziehen.

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Wiederholungen aus ihnen. Sein Intereſſe für Günther geht ſchon aus dem Anhang Güntherſcher Gedichte hervor, der den erſten Theil der Singenden Muſe beſchließt, verräth ſich aber auch in den eigenen Gedichten genugſam. Beſſers berühmte Lieder über die blauen und jchwarzen Augen dürften ihm den Anftoß zu zwei Liedern gleichen Inhalts (I*, 89 und 90) ge- geben haben’). Hunold findet fih nachgeahmt in dem Liebe „Ey! jo fahre denn dahin, Stolge Schöne, leichter Sinn!“ (IV, 16)?). Beſonders eifrig hat er die Poetif von Neumeifter- Menantes ftudirt?) und die darin enthaltenen weltlichen Gedichte Neumeifterd. Gleih das zweite Lied des erften Theils der Singenden Muſe it dem Anfange einer weltlichen Gantate Neu: meifterd nadhgedichtet *). Ebenjo IE, 4, III, 15 und zum Theil auch IV, 16°). Ein jehr beliebtes Lied Neumeiſters war „Er: barme dih, du Schönheit diefer Welt“). Sperontes muß e8 fih tief eingeprägt haben, denn er geräth einmal, ſicherlich un- bewußt, ganz in einen Gang desjelben hinein (I, 23, 1). An Pitfchels Gaffee-Lied erinnert er in IL, 47, an eine Cantate Picanders II, 327). Bon den Parodien, in denen Sperontes fih abfihtlih an gewiſſe Vorbilder anjchloß, wird fpäter noch zu reden fein.

1) Des Herrn von Beller Schrifften, Beyded In gebundener und un— gebundener Rede. Leipzig, 1732. S. 735—737. Daß Diele beiden Beflerihen Lieder damals in den Leipziger Kreifen beliebt waren, gebt auch hervor aus den Beluftigungen des Verſtandes und Witzes. Band I (1741), ©. 517.

2) Menantes, Die Edle Bemühung müffiger Stunden. Hamburg, 1702,

?

>.

) Die Allerneuefte Art, Zur Reinen und Galanten Poeſie zu gelangen. Hamburg, 1707.

) A. a. O. S. 292.

6) A. a. O. ©. 321, 380 und 383.

89, A. a. O. ©. 119 ff.

?) Pitſchels Lied, 1739 verfaßt, fteht in den Beluftigungen des Ver» ftandes und Witzes I, S. 243 ff.; Picanders Cantate in deſſen „Ernjt- Scerzhaften und Satyrifhen Gedichten“. 4. Aufl. Leipzig, 1748. ©. 238 f. Eine Umarbeitung diefer Cantate componirte J. S. Bad.

14*

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Der Gedanke, die fünf Sinne zum Gegenftande eines Gedichts zu machen (I, 6; vgl. I, 29), ftammt wahrjcheinlich aus dem Franzöliichen.. Ich bin allerdings im Augenblid nur im Stande, aus etwas fpäterer Zeit ein ſolches Gedicht nachzumeiien '). Mittelbar mit einem franzöfiihen Gedicht dürfte auch das Lied „Sp lang’ ich meine Tabadspfeiffe” (I*, 99) zufammenhängen. Nämlich injofern es ficherlich entitanden ift in Folge des Liedes „So oft ih meine Tobads - Pfeife”, welches man aus dem größeren Clavierbuche der Anna Magdalena Bad (1725) Eennt. Sperontes jchlägt von der zweiten Strophe an eine ganz andere Richtung ein; aber wer ihn beobachtet hat, weiß, daß es über: haupt feine Art war, in diefer Weife an ein Vorhandenes an— zufnüpfen. Dem Lied in Anna Magdalena Bachs Clavierbuch liegt folgendes Gedicht des Pfarrers Lombard aus Middelburg

zu Grunde: Doux charme de ma solitude Ardente Pipe brulant fourneau, Qui purge d’humeurs mon Cerveau De mon Esprit V’Inquietude. Tabac dont mon ame est ravie Quand je te vois passer en l’air, Si tot que du Ciel un Esclair Je vois l’image de ma vie, Car en regardant la fumee Incontinent je m’appergois N’etant qu’une cendre anime, Je passerai bien comme toi?)

In der deutichen Dichtung ift der fnapp gefaßte Gedanke des Driginald nad) der Gewohnheit unjerer damaligen Poeten

!) Tribut de la Toillette (eine Sammlung von Chanfons und Parodien). 2. Band. Paris, um 1740. ©. 477 f. (Air posthume de Mr. Mouret, geftorben 1738.)

2) In diejer Falfung bei Menantes, Auserlefene und theild noch nie gedrudte Gedichte. Band III, Halle 1720. S. 671. Eine Ueberjegung von Barlieb Sillem bei Weihmann, Poeſie der Niederfachfen. Band II, S. 334. Als Sonett, in correcterer Sprache, alſo vermuthlih das wahre Driginal darftellend, und mit einer Ueberfegung bed Freiherrn von Ganik in deſſen Gedichten herausgegeben von I. U. König. 1734. S. 300 und 301.

ins Breite zerlaffen. Schon in einem älteren Liede zum Lobe des Tabaks findet jich eine Spur feiner Einwirkung, die aber im Ganzen ziemlich fremdartig berührt). Die Geitalt, in der fih das Lied in dem Bachſchen Buche findet, ift nicht die Original» geitalt, jondern eine auf ſechs Strophen verkürzte. Urſprüng— lih jcheint e3 nicht weniger als zehn Strophen gehabt zu haben und fommt jo nod auf einem gegen 1800 gedrudten liegenden Blatte vor?). Auf einem fcheinbar etwas älteren liegenden Blatte fteht es fiebenftrophig?). Sechsſtrophig jteht es ala Nr. 56 in der um 1770 gedrudten „Ganz neu zufammen getragenen Liebes-Roſe“. Aber die Strophen ftimmen mit den Bachſchen nicht überein; jene wie dieje erjcheinen nur als eine Auswahl. Um 1800 lieferte J. Weſſely eine neue Compofition für eine Bak-Stimme mit Clavier und ließ fie im Celbjtverlage er- ſcheinen“). Die jehs Strophen jtimmen bis auf eine ziemlich genau mit dem Bachjchen Terte überein. Dan jieht, daß das Lied eine lange Gejchichte hat; jie verläuft fi ins 19. Jahr: hundert hinein?). Unter I, 12 lieft man bei Sperontes folgendes Lied:

1. Liebe mich redlid, und bleibe verichwiegen, Lende dein Hertze mit Vorfiht dahin, Unter die Auffiht der Neider zu fchmiegen! Schweigen bringt öffterd beym Lieben Gemwinn. Was lieget dir daran, Obgleich nicht jederman Was und geheim vergnügt, Zu wiſſen friegt?

mn

1) Fünfte Strophe des Liedes „Wer will, der mag ſich fo ergögen An Tuberojen und Jasmin“; aus „Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutichen auserlejener und bißher ungedrudter Gedichte dritter Theil.“ Frandfurt und Leipzig, 1725. ©. 348 f. Die erfte Ausgabe dieſes Theils erſchien 1703.

2) Meufebahihe Sammlung der Königl. Bibliothef au Berlin. Y d. 7906. 3, Befindlih auf der Großherzoglihen Bibliothek zu Weimar. +) Ein Eremplar ift in meinem Beſitz.

GB. Fint, Muſikaliſcher Hausihag der Deutihen. Leipzig, 1843 Nr. 52,

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2. Liebe mid reblid, und bleibe verfchwiegen! Lieben ift ärger als irgend ein Spiel: Wilſt du mit Vortheil die Leute betrügen, Traue den Wänden aud nimmer zu viel. Wer feinem Nachbar traut, Der in die Karte ſchaut, Wird, eh er bedacht, Labeth gemadt!).

3. Xiebe mich redlich, und bleibe verſchwiegen! Vorfiht und Glüde, Berhängnik und Beit Werden es endlih ſchon wiſſen zu fügen, Daß dich dein Lieben und Schweigen nicht reut. Ih bin dir ewig treu, Und ſchwör ohn Heucheley: Du follft mein nur allein, Sein andrer ſeyn!

Ein Lied ganz ähnlihen Inhalts: „Mein Engel, laß uns heimlich lieben“ fteht unter III, 22. Die Uebereinftimmung der Gedanken und jogar einzelner Ausdrüde aus dem Liede: „Willſt du bein Herz mir fchenten“, das aus Anna Magdalena Bachs Glavierbuh mit der Compofition Giovannini’3 befannt geworden ift, wird man jofort bemerken. Ob diefes oder jene älter find, läßt ſich einftweilen noch nicht feitftellen. Sch muthmaßte früher in dem Liede „Willft du dein Herz mir ſchenken“ eine Ueber: jegung aus dem talienifchen, weil ich jeine Entitehung in der Zeit nad 1750 ſuchte?). Es muß aber viel älter jein. Sn dem Liederbuche der Frau von Holleben, auf das noch häufiger zurüd zu fommen jein wird, findet es ſich an einer Stelle eingejchrieben, die auf die Zeit zwiſchen 1730 und 1748 fchließen läßt. Da- mal3 muß e8 jchon weit verbreitet gewejen fein. Zurüdzuführen iſt es aufein Gediht Chriltian Weifes in deſſen Schaufpiel „Des Jephtah Tochter-Mord“, welches „Den 13. Fehr. MDCLXXIX. Auf der Zittauifhen Schaubühne vorgeftellet" worden ift®). Sm fiebenten Aufzuge des zweiten Actes fommt ein Lied vor, welches der Prinz Dodo an Thamar, die Tochter Jephtahs,

1) Labeth (= la böte) madıen: fein Spiel verlieren.

2) „J. S. Bad“ I, ©. 835.

2) Jh verdanfe den Hinweis darauf Deren Profefior Erich Schmidt in Berlin.

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gejandt, und dieſe von dem Gapellmeifter Thubal hat in Mufif jegen lafjen. Es lautet:

1. Ih Hab ein Wort geredt, mein Kind, id) liebe did): Doch biftu mir geneigt, fo dende nicht!) an mid: Ja, wenn du denden wilft, jo fang es heimlich an, Daß Niemand außer uns die Lift verftehen Tan.

2. Die Liebe wil annod) bey uns verſchwiegen feyn, Drum fchleuß die gange Luft in deinem Herken ein, Und ift es dir ein Ernſt, daß ich dir dienen fol, So braucht es ſchlechte Müh, nur lieb und ſchweige wol.

3. Die Welt ift gar zu ſchlau, ich traue keiner Wand: Derhalben bleibe mir von außen unbefand: Begehre keinen Blid, und feinen Liebes-Gruß,

So lang id in geheim der Leute fpotten muß.

4. Die Wachen find beftellt, fie wollen etwas ſehn; Do ihnen zum Verdruß foll nicht ein Tritt gefchehn: Genung dab du, mein Kind, alfo verfichert bift, Dab die Zufammenkunfft nicht groß von nöthen ift.

5. Vielleicht erfcheinet bald der angenehme Tag, Daß mein verborgner Sinn fich recht erklären mag: Da fol die ſchöne Luft, als wie der Sonnen-Scein Der auff den Regen folgt, gedoppelt lieblich jeyn.

6. Anjego lab mich noch in meiner Einfamteit, Und halte neben mir die Furke Falten: Zeit. Denn fol ich jego nicht in deinen Armen ruhn: So wil ich meine Pflicht doch in Gedancken thun.

Zunächſt find nad diefem Mufter zwei Gedichte Neumeifters gefertigt: „Wohl dem, welcher feine Bruft Mit Verſchwiegen⸗ heit verjchließet" und „Ich hab ein Wort geredt: Mein Kind, du bleibejt mein“). Es ift natürlich, daß „Willft du dein Herz mir ſchenken“ auch an dieſe erinnert. Daß es aber direct von der Dichtung Chriftian Weiſe's abftammt, wird aus der 3. und

') So in ber 1680 bei Joh. Chriftoph Mieths in Dresden erfchienenen Ausgabe. Der Sinn verlangt „auch“ oder „ſtets“.

2) Die Allerneufte Art, Zur Reinen und Galanten Poeſie zu gelangen. ©. 210 f. und 166 f.

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4. Strophe Kar. Die Vermuthung mag daftehen, dat es recht wohl von Sperontes jelbjt herrühren könnte, deſſen dichterifche Thätigkeit ja großentheils eine parodirende war. Bon dem Com: poniften Giovannini willen wir allerdings nicht, daß er ſich je in Leipzig aufgehalten habe; aber da der Tert ichon in den vierziger Jahren durch handichriftliche Heberlieferung weit ver- breitet war, jo konnte er auch nad Berlin oder Halle fommen?).

Es blieb durch das ganze Jahrhundert beliebt, wie fein häufigeres Erjcheinen auch in Fliegenden Blättern beweilt ?). Es findet fi wohl noch eine fünfte Strophe zugefügt:

Wenn du mir treu thuit bleiben, Und liebeit mid) allein,

So will idy mich verfchreiben, Daß ich will deine ſeyn,

Bis daß der Tod mein Yeben Wird ſchließen in das Grab, Bleib ich dir ftetö ergeben.

Ah laß nit von mir ab!

Deutlicher noch tritt der Zufammenhang mit Weiſe hervor in einer andern Verſion, die auch im 18. Jahrhundert durch Fliegende Blätter verbreitet wurde:

Ich hab ein Wort geredt: Mein Kind ich liebe dich, Und biſt bu mir getreu, So denke ftetö an mid), s Sa, wenn du lieben millft, So fang es heimlich an, Daß niemand, außer mir, Die Lieb verftehen kann?) !) Der erften Auflage des Weiſeſchen Stüdes (Dresden 1630) find bei- gegeben „etlihe Melodeyen auff die unterfhiedenen Tert. Meiſtens geſetzet von M. E.* Unter den Anfangsbuchftaben verbirgt fich jedenfalls Morig Edelmann, welder von 1676 bis zu feinem Tode 1680 Drganift und Muſik— director in Zittau war. Prinz Dodos Xiebeslied wird nad derielben Melodie gelungen, wie das Lied, mit welchem Thamars Gefpielinnen deren frühen Tod beweinen. 2) Meufebahiche Sammlung, Y d, 7909. Ferner Y d, 7901. 3) Meufebahihe Sammlung, Y d, 7907. Gedrudt in Berlin.

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Diefe Verſion wurde auh in Süd- und MWeftdeutjchland gefungen, und jogar noch im 19, Jahrhundert. Bald erjcheint fie vier-, bald zweiltrophig; ich jege von erjterer Form zwei Strophen zur Vergleihung ber:

1. Id hab zu dir gejagt, mein Kind, ich liebe dich, Und bift du mir geneigt, jo denfe oft an mid). Und fo du denfen mwillit, fo ftell es alfo an, Daß Niemand außer uns die Liebe merken kann.

2. Die Liebe muß bei uns anjeßt verschwiegen feyn, Drum fchlieh die ganze Luft in deinem Herzen ein, Und ift es dir ein Ernft, dab ich dich lieben fol, So bleibe mir getreu, liebe und ſchweige wohl!).

Auch das Lied bei Sperontes (I, 12) verbreitete ſich?), ge langte, wie wir fpäter jehen werden, ſogar nah Wien, und jenem K., welchen wir wegen Umarbeitung eines Gedichts des Sperontes ſchon zu nennen hatten, mag es die Anregung für die 29. Dde des 3. Theil der Gräfejhen Sammlung gegeben haben. Das andere; „Mein Engel, laß uns heimlich Lieben“ (III, 22) jchließt fi, von allen übrigen Zujammenhängen ab- gejehen, noch an ein anonymes Lied in Hoffmannswaldau's Ge- dichten an, doch nur mit der erjten Strophe?).

1) Mit Melodie bei Kregichmer, Deutihe Volkslieder. 1. Theil. Berlin, 1840. Nr. 271. Zmweiftrophig, mit derielben Melodie, bei A. Reiffer- fcheid, Weftfälifche Volkslieder. Heilbronn, Gebr. Henninger. 1879. Nr. 35 und Anmerkung. Nach diejer Melodie fann auch „Willft du dein Herz mir fchenfen“ gejungen werden, ohne daß eine Note verändert zu werden braudt. Den Verdacht gegen die andern beiden Strophen wird Reiffer- fheid nun wohl aufgeben. Der Abgeſang feiner Strophe 2 ift der Auf- geſang der 2. Strophe bei Kretzſchmer.

2) Im Liederbuch der Frau von Holleben Steht es alö Nr. 116,

8) Herrn von Hofimannswaldau und anderer Teutichen auserlejener und bißher ungedrudter Gedichte Anderer Theil, S. 281: „Mein Kind, Taf uns fein heimlich lieben, Nicht wie ed ſonſt pflegt zu geihehn; Wir müſſen unsre Luft verfchieben, So offt ed andre Leute jehn; Wir 'müffen uns ein wenig drüden Und lernen in die Yeute fchiden.”

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Es gab im 17. Jahrhundert ein Lied „Schweiget mir vom Weibernehmen”. Die Melodie fommt jchon 1649 als eine befannte vor, doch jang man fie zu einem andern Terte. Sie durchzog ganz Deutichland von Wien bis Hamburg. Zum legten Male finde ich fie 1767 in einer Berlinifchen Liederfammlung, hier mit dem angeführten, von Ramler redigirten Texte"). Mit Anlehnung an dieſen Tert Ddichtete Sperontes 1745 ein dreiftrophiges Lied „Nimmer fann ich mich begvehmen, Mir ein Weib an Hals zu nehmen“ (IV, 20). Diejes wiederum fand als Nr. 42 Aufnahme in die „Ganz neu zufammen getragene Liebes-Roſe“, die gegen 1770 in Sachſen gedrudt wurde, und drang fo auch in Kreife, denen die Singende Muſe fremd blieb.

Auch das Lied im ſchleſiſchen Dialeft, das ih Cap. III mitgetheilt babe, ift nur eine neue Faſſung eines längit populären Inhalts. In dieſer Verfaffung verräth fich der Ein: fluß Neumeifters?). Der Stoff aber findet ſich jchon 1668 in Chriſtian Weiſe's Liede „Ach heiliger Andres, erbarme dich“ ver: arbeitet?), dann von Koh. Fr. Rothmann 1711, ferner von Picander 1732 („Andreas, du geprießner Mann“ *) und von Innocent Wilhelm von Beuft 1765. Dies legte wurde dann

1) Lieder der Deutichen mit Melodien. 1. Bud. Berlin, 1767. Nr. 27. Der vollftändige achtſtrophige Tert in einer Handſchrift von 1669 (fiehe Anmerkung 3), S. 38 ff., jedoch auf die Melodie „Komm, mein Schag und laß uns eilen“.

2) Die allerneuefte Art u. f.w. ©. 371.

3) Der grünenden Jugend Ueberflüßige Gedanden, ©. 173 der Aus: gabe von 1701. Steht darnah aud in Hymnorum Studiosorum pars prima. Xeipzig 1669. Manuſeript auf der Königl. Bibliothek zu Berlin, aus der Meufebahihen Sammlung ftammend. S. 74. Vergl. Hoffmann von Fallersleben, Unfere volksthümlichen Lieder. 3. Auflage. Leipzig, Engefmann. 1869. Nr. 49 und Wilhelm Nieffen, Das Xiederbud des Leipziger Studenten Clodius (Bierteljahrsihr. für Muſikwiſſenſchaft, Jahrg. 1891, S. 583, Anmert. 3).

*) Gedichte, Band III, Leipzig 1732. S. 507.

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durch Fliegende Blätter weiter getragen und ging mit mehrfachen Varianten auch in neuere Sammlungen über!).

Die Abhängigkeit von andern Dichtungen, "in der wir Sperontes liegen jahen, hat nun aber auch ihr Gutes gehabt, infofern er ſich Volkslieder zu Vorbildern nahm. Das deutſche Volkslied zwijchen 1650 und 1750 ift ein Gegenftand, der der Forſchung noch zu thun geben wird. Keine Frage, daß es nur fümmerlich gedieh. Aber dab es jo jchwer hält zu erfahren, was das Volk denn damals jang, ift zu einem guten Theile aud) durh die Gleichgültigfeit und Geringſchätzung herbeigeführt worden, womit die Gebildeten der Sache gegenüberjtanden. Ber: achtete man doch jelbit den Namen „Lied“ und gebraudte jtatt jeiner das Fremdwort „Ode“. Genau jo erging e8 dem Volks— lied, wie den „albernen” Volksſagen und Märchen, von denen Schwabe noch 1742 jehr von oben herab meint, wenn ‚die Deutihen überhaupt Luſt hätten, dergleichen zu jchreiben, fo würde es auch nicht an Köpfen fehlen, die ihren Wit darnach einrichten fönnten?). Da ilt es erfreulih, auf jemanden zu jtoßen, der unverbildet genug war, fein Eleines Dichtertalent bei dem Volkslied in die Schule zu jchiden. Der Lieder des Sperontes find nicht eben wenige, aus denen uns bie Friſche und ungejchminkte Innigkeit des Volksliedes voll entgegenklingt. In einem Liebe eines Mädchens an den Abſchied nehmenden Geliebten heißt e8 unter anderem: „Geh mit jo viel Glüd von binnen, Als aus meinem Augen-Bach Thränen bey dem Abſchied rinnen! Alles Leid und Ungemach Duld ich deinet- wegen gerne, Nehm ich willig auf und an: Weil ich weiß, daß auch die Ferne Mi von dir nicht trennen fann ..... Unjre Liebe fol nit wanden. Und wenn du nicht bey mir bift,

1) Des Knaben Wunderhorn. Erſter Theil. 2. Auflage. Heidelberg, 1819. ©. 351 ff. Kregichmer a. a. D. Nr. 146. Erf, Neue Sammlung deuticher Volkslieder. Viertes und fünfted Heft. Berlin, 1844. Nr. 65. Bernhardi, Allgemeines deutiches Lieder-Lericon. Leipzig 1847. Nr. 7.

2) Beluftigungen des Verſtandes und Witzes, 3. Band, Vorrede.

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Wirt du täglih in Gedanden Taufendmahl von mir gefüßt“ (IV, 6). Darin ift gewiß etwas vom echten Bolfston. Und fo fann es denn auch nicht überrajchen, daß jelbit in den Liedern, ‚welche fih auf des Dichters perjönlies Wohl und Wehe be- ziehen, manchmal die ungefünftelte Empfindung fih in einer Weiſe fund thut, der man Theilnahme nicht verfagen kann. Die rührende Klage eines Liedes, das hier zum Schluß nod mitgetheilt werden joll (IV, 32), wird den Dichter dem Lejer perjönlih nahe bringen:

1. ‘a, zetichert nur, ihr luftgen Sänger, Ihr Spötter meiner Traurigteit! Hier geh id armer Grillenfänger Und trage mein geheimes Yeyd, Vielleicht zeitlebens, Mit mir vergebens, Durch Feld und Wald, Ch meinem Klagen Und bangen Zagen Ein freudig Troitwort wiederfgallt.

2. Ihr hüpft und fpringet auf und nieder, Flügt über Thal und Berg und Hayn: Kein Häglih Ad ftimmt eure Lieder In traurige Lamenten ein.

Man fieht Schon gerne Nur in der ferne Und hört eu au;

Dod ich, ich Sehe In Fern und Nähe, Und höre nichts zu meiner Ruh.

3. Wenn unter dem belaubten Schatten, Ein jedes fo, nad) feiner Art, Mit feinem ausermählten Gatten Sid, unter euch, zufammenpaart; Mit was vor Freuden Streit unter Beyden Die Zeit dahin! Da ich indeſſen Verſchmäht, vergehen Und immer gant verlafien bin.

4. Beglüdte Schaar in denen Wäldern, Beglüdt ift euer Flug und Heerd! Beglüdt auf Wieſen, Gärten, Feldern, Worauf er fommt, wohin er fährt. Wenn wird, o Glüde, Doch mein Gejchide Nur bald jo gut? Der Seufzer Menge, Der Plagen Länge Benimmt mir Hofnung, Hers und Muth.

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Wenn ich früher jagte,. die Mufif der Singenden Muſe beitehe aus lavieritüden, denen Gedichte angepaßt jeien, fo follte das nicht heißen, es jeien lauter fürs Glavier componirte oder von andern Inſtrumenten auf das Clavier übertragene Stüde, urfprünglide Gejangmelodien aber fänden fi nicht darunter. Ach wollte nur andeuten, daß fie ſämmtlich in die Form jelbitändiger Clavieritüde gebracht jeien. Geſang und Claviermuſik floß auf einem gewiſſen Gebiete der damaligen Hausmufif in eins zufammen. Man jpielte das Stüd und fang, wenn man wollte, zugleich die Oberftimme mit; das war das einfache und wohl am meijten verbreitete Verfahren. Eine höhere Stufe der Kunit ftellte e8 dar, wenn man beim Gejang die Oberftimme nicht mitjpielte, ſondern Generalbaßaccorde an- jchlug. Eine Stelle aus einem Schaujpiele Picanders jet diefen Brauch in helles Licht. Ein junges Mädchen jagt: „Von 9. bik 10. lerne ich das Clavier jpielen, und heute habe eine recht Schöne Arie gelernet, fie fängt fih jo an: [folgt die erite Strophe des Tertes]. Wenn mir das Mr. Solie fürgefungen, jo hätte ich ihm ein Küßgen unmöglich können abjchlagen. Es iſt eine ganz neue Arie. Mein Lehrmeijter will fie mir in mein Liederbuch einjchreiben“ '). Hier wird etwas auf dem Glavier gefpielt, was auch gefungen werden fann, und foll etwas in ein „Lieder“-Buch eingetragen werden, was den Gegenitand des Glavier-Unterrichts bildet. Das Uebergewicht des injtrumen- talen Elements bei diejem Verhältniß ift Far. Das Clavier: ſtück iſt nicht nur das Vollitändigere, fondern auch etwas in ſich Selbitändiges, zu dem der Singſtimme nur geitattet ift hinzu— zutreten. Es nimmt nicht Wunder, daß denn auch im Haus- gefange bald die Tanzformen eine jehr große Rolle jpielen. Bei Sperontes befteht die Mehrzahl der Stüde des eriten Theils aus Menuetten und PBolonaifen. Daß dieſe nicht ſämmtlich

1) Picanderd Teutihe Schaufpiele ıc. Berlin, Frandfurth und Hamburg. 1726. ©. 36.

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urſprüngliche Clavierftüde waren, daß vielmehr einige fogleich für Geſang gedacht gewejen find, läßt fich beweifen. Bevor auf das Einzelne eingegangen wird, möge bier zunädjt nur bemerkt werden, daß Sperontes die urfprüngliche Beftimmung jelbft anzudeuten jcheint. Einerſeits bezeichnet er ſchlankweg mit Menuet und Polonoise, andererjeit3 mit Air en Menuet und en Polonoise. Wo letzteres fteht, dürfen wir annehmen, daß ein Driginal-Gejangftüd vorliegt; es jtimmt dazu, daß alsdann in der erjten Auflage des erjten Theil® auch immer Bezifferung zugefügt it, dem Spieler alſo bedeutet wird, er fönne den Vortrag der Melodie dem Sänger allein überlafien. Wir werden aud wohl nicht fehlgehen mit der Vermuthung, daß die meijten nicht bezifferten Stüde dieſer eriten Auflage Driginal-Clavierftüde find, die Sperontes aufnahm, wie er fie jelbit gefunden oder zugetragen erhalten hatte. Das jchließt nicht aus, daß zu.einigen von ihnen jchon früher Terte gedichtet und gejungen worden waren. In der Ausgabe von 1741 wurde dann alles beziffert und jomit das ganze Werk befjer für die Benugung zum Gejange eingerihtet. An einigen Stellen ift nun bejtimmt darauf gerechnet, dab nur die Harmonien gegriffen und nicht auch zugleich die Melodie mitgejpielt wird, jo bei den Unifono:Stellen in Nr. 50. Sonſt mag die Meinung gewejen fein, jeden nach feinem Gejhmad handeln zu laſſen. Wenn endlich Sperontes im eriten Theil häufiger die Form Air jtatt Aria ſetzt, jo beweift dies in Verbindung mit der durchgängigen Anwendung franzöfifcher Wortformen !) bei den übrigen Stüden, ) Ich darf bierher aud wohl das Wort Murki rechnen, defien ur- fprünglide Schreibweiie Mourqui geweſen fein dürfte. Marpurgs Er» zäblung über die Entftehung des Wortes ift befannt (Kritiiche Briefe I, ©. 256). Johann Foltmar ließ zu Nürnberg in Kupfer ftechen: VI. Mourguien, ganz neu und auserleien; J. E. Heinede aus Dortmund ebenda Six Mourqui pour le Clavessin; der Breslauer Drganift J. ®. Hoffmann ebenda Six Mourqui pour le Clavessin. Auch Breitkopf drudt die Form „Mourquien* (fiehe Verzeichniß Mufikalifher Bücher u. f. w. Leipzig, Neujahrämefie 1760. ©. 17). Zur Geſchichte der Erfindung paßt auch befler eine Form die fih ans Franzöſiſche anſchließt.

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daß die Muſik der Singenden Muſe mit der franzöſiſchen Muſik innerlich enger zuſammenhängt, als mit der italieniſchen. Es beweiſt aber nicht, daß dort, wo Aria ſteht, nun die italieniſche Geſangmelodie vorbildlich geweſen ſei. Dies mag bei manchen Stücken der Fall geweſen ſein; aber gleich Nr. 37 iſt Aria bezeichnet, und doch eine Sarabande.. Das nämliche gilt vom dritten und vierten Theil. Im zweiten dagegen überwiegt ſtark die Be- zeihnung Aria, und man erfennt in ihm auch viele Melodien, die italienifch gefangsmäßig find. Doc dürfte auch hier manches im Zufall feinen Grund haben. | Stellt man die Muſik der Singenden Mufe unter den eben umjchriebenen Gelihtspunft, jo erflärt ſich manches befremdliche. Zunähft die unbequem hohe Lage mancher Melodien, die fich mit Vorliebe an der Grenze der dreigeftrichenen Octave hin— bewegen. In I, 15, Takt 1 des zmweiten Theils müßte die Grenze jogar überjchritten werden, jollte der Takt dem Anfangs- taft des erjten Theils völlig entjprechen. Bei [, 40, einem der reiz- vollften Stücde, erihien für die Ausgabe von 1747 eine Trans- pofition um einen ganzen Ton abwärts dem Herausgeber jelbit geboten. III, 6 und III, 50 find fo ganz und gar Clavier— ftüde, daß dort die Singnoten meiftentheils befonders hinein- gezeichnet, hier ſogar aus den Figurationen des Claviers erit gleihfam hervorgelodt und über diefelben auf ein befonderes Syſtem gebradht werden mußten. In I, 53 muß man, um den Tert der Muſik anzupafjen, manchmal zwei und mehr Noten verbinden, dann bleibt immer noch für jeden Theil ein Takt als Nachſpiel übrig, jener fanfarenartige Takt, mit welchem Märſche jener Zeit häufig jchließen. Bei I, 25 muß geradezu errathen werden, wie der Tert mit den legten ſechs Taften in Einklang gebradht werden joll: ohne ganze oder theilmeije Wiederholung der Schlußzeile ift es nicht zu machen. Wahr— jcheinlih aus diefen Grunde wurde in I* diefe Melodie mit einer andern vertauscht. Es läßt fih auch nicht behaupten, daß die Gedichte als ganze fi) immer gut zu der Gefammtitimmung

der Muſik jchiden. Oft müffen bier Fünfe gerade fein. In einigen Fällen aber liegen auch bejondere Verhältniſſe vor, die den Dichter entichuldigen oder rechtfertigen.

ser aljo wollte und will, fonnte und kann an der Singenden Mufe vieles tadeln. Es ift nur nöthig zu ignoriren, was jie jein jollte und wie Muſik und Poeſie zufammen gekommen waren. Das haben denn damalige Kritiker, wie Gräfe !), Sceibe?), Marpurg?) aud vedlich gethan. Gräfe jagt von feinen eigenen Oden mit bemerfbarem Seitenblid auf Sperontes: „Die Mufic, welche über den Oden ftehet, iſt gantz neu, und eigentlich zu der Poefie verfertiget. Die Harmonie, jo zwijchen den Gedanden und der Compofition nothwendig fein muß, it durchgehends glüdlich beobachtet, und die Melodien find daneben jo gefeßet, daß fie leicht von jedem Sänger können gefungen werden“. Das alles fann man freilid” von der Singenden Muſe nit, oder nur theilweife rühmen. Ach behaupte aud) nicht, dab die Weiſe wie Sperontes verfuhr für die Compofition eines guten Liedes als Mufter dienen ſolle. Nur daß fie ſich ein Flein wenig auf die Abficht des Verfaffers eingelaffen hätten, fönnte man von jenen Herren wohl verlangen. Statt deſſen reiten fie großartig ihr PBaradepferd von der Harmonie zwischen Dichtung und Compofition, wiffen jehr weije zu jagen, wie man es eigentlich machen müfje, haben aber jelbjt niemals aud nur eine jo gute Melodie erfunden, wie fie die Singende Mufe zu Dugenden enthält. Wenn aljo Gräfe das Lied „Ihr Sternen hört“, welches fich mit parodirtem Terte bei Sperontes findet, „elendes Zeug” nennt, und Marpurg noch derber ſich ausdrüdt, fo wird ein folches Urtheil nicht ohne” weitered maßgebend zu jein brauchen.

1) Vorrede zum erften Theil der „Sammlung verichiebener und aus- erlefener Oden.“ Halle, 1737.

2) Critiſcher Muſikus. Neue Auflage. Leipzig, 1745. ©. 591 f. Anmerkung.

3) Kritifche Briefe. Band I. Berlin 1760, S. 162,

25

Auch Johann Adam Hiller äußert fih 1766 geringichäßig über die Singende Muſe?). Hieran ift vor allem intereffant zu jehen, daß damals dieſe Liederfammlung noch ein beliebtes Buch gewejen jein muß, was bei der Unmaſſe von Dben- compofitionen, welche zwijchen 1736 und 1766 erjchienen waren, doch vielleicht hätte zu denfen geben können. Aber natürlich fonnte in einer Sammlung, deren ausgejprochener Zmwed es war, die in ihrer Zeit beliebteiten und leichteften Hausmuſikſtücke zufammen zu faffen, nicht alles vortrefflich jein. Der Gefhmad der häuslichen Welt iſt manchmal wunderlich und wendet fi nicht jelten auch dem Geringen und künſtleriſch Werthlojen zu. So enthält denn ficherlih die Singende Mufe viel Banales und Unbedeutendes, aber es ſei wiederholt auch nicht wenig des Vorzüglichen, und trägt troß allem, was man aus- jegen mag, im Gejammten den Zug des VBolksthümlichen und Lebensfräftigen. Es ift, was bei joldh Fleinen und einfachen Formen befremdend flingen mag, nicht ganz leicht, ſich in bie Sammlung hineinzuleben. Werden viele hinter einander gelejen oder gejpielt, jo tödtet ein Stüd den Eindrud des andern, und die Kleinheit der Form bewirkt rafche Ermüdung. Man muß fih die Zeit nehmen, auf jedes einzelne ruhig einzugehen, und fol fih auch, beſonders bei der eriten Auflage des eriten Theils, nicht durch ftümperhafte Bäffe und fteife Harmonien- folgen ſtören lafjen, jondern immer die Melodien als Hauptſache im Auge behalten.

V;

Um in der gefchichtlihen Würdigung der Singenden Muſe weiter, als bis jet gejchehen ift, vorzufchreiten, müfjen zwei Fragen zur Beantwortung geftellt werden. Die erite lautet: Fit das Verfahren des Sperontes ein neues, einer Menge von ge- jammelten Nufifftüden Terte unterzulegen oder deren bereit3 vor-

1) Möchentliche Nachrichten, 3. Stück. 15. Juli 1766. ©. 18. Philipo Spitta, Mufitgeihictlihe Auffäge. 15

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handene Terte zu parodiren? Die zweite: Woher ſtammen die Mufikitücde, und wenn fie Schon früher gefungen wurden, welches waren ihre urjprünglidhen Terte ?

Chriftian Gottfried Kraufe jagt 1752: „Nachdem aljo unfere Dichter von den Staliänern die Verfertigung der Cantaten er- lernet, jo jind von diefen Singgedichten die Oden fait ganz ver: drungen worden. Eine benachbarte Nation aber macht noch jehr viel vom Liederfingen, und wenn es rechter Art it, jo fan man ihr mit Recht darinn nachfolgen. Es find auch Schon bey uns einige VBerfuche davon zum Vorjchein gefommen, ob wohl über: haupt zu reden, der Liedergefchmad in Deutichland noch nicht allgemein gut, und jonderlich in Anjehung der Muſik, da man meiltentheils nur opernmäßige Melodien verlangt, nicht beitimmt genug iſt. Man muß darinn den Wein jelbft jchmeden, die Süßigfeit der Liebe empfinden, eine wahre Zufriedenheit und Genügjamkeit fühlen, von allen Sorgen befreyet und jelbit ein Schäfer zu jeyn überredet werden“ ?).

Die „benachbarte Nation” find die Franzoſen. Bei dem maßgebenden Einfluffe, den damals die franzöſiſche Cultur auf Deutichland ausübte, iſt die jtete Berücfichtigung ihrer Muſik für jeden jelbftverftändlich, der fich von der deutichen Mufif im 18. Jahrhundert ein richtiges Bild machen will. Glücklicherweiſe wurden in Frankreich faſt alle Tonwerfe gedrudt, die es im öffentlichen und gejellichaftlichen Leben zu einiger Bedeutung bradten. Die Mafje der weltlichen Yiedmelodien zufanımen zu bringen, die in der eriten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Frankreich beliebt waren, iſt daher nicht jo ſchwer, wie in Deutich: land oder in alien. Nachzumweifen wäre nur, ob fie ſich bis zu einem gewiſſen Grade in Deutichland einbürgerten.

Daß man franzöfiiche Lieder damals gern in Deutſchland ſang, willen wir nicht nur aus den gleichzeitigen Schriftitellern ?).

) Bon der Muftfaliihen Poeſie. Berlin, 1752. ©. 113 f.

2) 3.8. Menantes, Satyrifcher Roman. Hamburg, 1705, S. 50: „In—

zwiſchen . . . giengen welche in der Stuben auf und nieder, und fangen theils ein franzöfiiches Yiedgen, theils eine verliebte Arie aus der Opera.“

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Das Liederbuh der Frau von Holleben enthält nicht weniger als 78 Chanjon-Terte und liefert dadurch für deren Beliebtheit in vornehmen Kreiſen einen urkundlichen Beweis. Aber fie drangen auch in andere Schichten der Bevölkerung. Ich ipreche von jolchen Liedern, von denen Tert und Muſik zugleich in Deutichland Eingang fanden. Bei den Gedichten allein würde man wieder zwiichen ſolchen zu unterjcheiden haben, die ſich in der Originaliprade, und jolden, die fich in Ueberſetzung oder Ueberarbeitung verbreiteten, wie das Gedicht des Pfarrers von Middelburg. Bei Liedern in der Originaliprade ift es wohl manchmal geichehen, daß die Melodie fich loslöite und als felb- ftändiges Tonftüd in Deutichland umging. Ueberſetzungen da— gegen wurden vielfah nur aus literariihem Intereſſe gemacht, woher es denn kam, daß die Melodie unbeachtet und in Deutjch: land unbekannt blieb. Hagedorns „Der erjte Tag im Monat Mai” ift hierfür ein Beifpiel. Die Originalmelodie it, ſoviel ich weiß, in Deutichland nicht befannt geworden, obſchon ſie fich mit Eleinen rhythmiſchen Nenderungen jehr wohl zu der Leber: tragung Hagedorns fingen läßt und viel bübjcher iſt als die Görneriche ').

Bon einem franzöftichen Jagd-Lirde, das in deutſcher Nach— dihtung zuerit 1724 auf den Gütern des Grafen Spord in Böhmen gejungen wurde, dann aber jo jchnell in die untern Volksihichten eindrang, dab Bach es als Bauernweiſe ſchon 1742 in feiner Bauerncantate verwenden fonnte, und deſſen Melodie noch heute im deutichen Volke lebt, babe ich an andrer Stelle geiprohen ?). Aucd das Trinflied derjelben Cantate „Und

1) Man findet fie in Nouvelles Parodies Bachiques x. Paris, Ballard. Tome I, S. 239 (nad der Ausgabe von 1714); auch bei De Y’Attaignant, Poesies. Tome troisitme. London und Paris. 1757. S. 218 f. Görners Compofition in „Sammlung Neuer Oden und Lieder.” Erjter Theil. 4. Auflage. Hamburg, 1756. S. 16.

2) „J. S. Bah“, II, 659. Der Erfinder der Melodie ſcheint Dampierre geheißen zu haben; fiehe Les Parodies nourvelles et les Vaudevilles inconnus. Livre second. Paris, Ballard. 1731. ©. 24. Mit unmelentlihen Ber:

15 *

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daß ihrs alle wißt“ wird nad einem franzöfifhen gebildet jein; eine ganz übereinftimmende franzöfifche Melodie fenne ich zwar nicht, wohl aber mehrere jehr ähnliche). Die Sporckſchen Befigungen bildeten auch für andere franzöfifche Weijen den Ausgangspunkt ihrer Verbreitung in Böhmen und Sadjen. Eine franzöfiiche Melodie, die unter dem Namen der Bon Repos- Arie auftritt und mit der oben angeführten Hubertus-Arie eine gewiſſe Aehnlichkeit hat, ferner eine Menuett-Melodie franzöftichen Urfprungs wurden 1728 von Leipzig aus mit deutſchen Terten verbreitet. Es gejchah dies in Folge eines Conflict, den der Graf Spord mit den Sejuiten gehabt hatte und der eine Anzahl polemifcher Lieder und andrer Schriften gegen dieje hervorrief. Ich weiß nit, ob außer dem in meinem Befig befindlichen noch ein andres Eremplar diefer Schriftenfammlung erhalten it und laffe daher die Melodien in der Form bier folgen, die fie in der Sammlung haben. Die Bon Repos-Xrie lautet:

änderungen und einem parodirten Tert (L’exercice de la chasse Ne fera plus mes &bats) ebenda Livre VII. Paris, Ballard. 1737. S. 125. Das Original war alö Cantique de S. Hubert nod 1764 in Frankreich all- befannt. Die Aehnlichkeit der Melodie mit der des niederländifchen Liedes „Wilhelmus von Naſſauen“ ift mehrfach bemerkt worden; ſ. LZomann, DudsMNederlandiche Liederen von Adrianus Balerius. Utreht, Roothan. 1871. S. 38 ff.

!) Vergl. Brunetes ou Petits Airs Tendres. Tome premier. Paris, 1705. S. 1f; S. 265. Nouveau Recueil de Chansons. A La Haye, 1723. ©. 86,

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Den franzöfifchen Driginaltert kenne ich nicht. Der deutſchen Lieder zu diefer Melodie liegen fieben vor, polemiſch-moraliſchen, auch religiöfen Inhalts. Nur ein Gedicht, im Bänkelfängerton, ift zu dem Menuett vorhanden, und auch diejes accommodirt fich nicht völlig. Die Melodie ift folgende:

355 Se

Sie gehört zu einer ſiebenſtrophigen Chanſon, L'Horoscope benannt, deren erſte Strophe beginnt: D'un jeune plumet vif et tendre Phillis voulant combler les voeux, und jteht eigent- ih im Dreiadhtel-Takt, zeigt in der Driginalgeftalt auch jonft noch ein paar Kleine Abweihungen!). Bon dem Liede Charmante Gabrielle, perc& de mille dards, mit dem Heinrih IV. im Jahre 1598 feine Geliebte Gabrielle d’ Estrees angefungen hat, fagt Karl Spazier noch im Jahre 1800, daß es in Deutichland allgemein befannt jei?). Es wird nicht erit in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu uns gekommen fein, da es ſchon um 1730 weit verbreitet war. ine deutfche Uebertragung des Gedichts ift mir nicht aufgeftoßen, war aber gewiß vorhanden).

1) Nouveau Recueil de Chansons choisies. Tome cinquieme. A La Haye. 1732. ©. 320 ff. Auch noch bei De L’Attaignant, Poesies. Tome troisieme. 1757. ©. 9 ff.: vergl. S. 72 und Chansons choisies. Londres, 1784. Band 3, ©. 227.

2) Allgemeine Muſikaliſche Zeitung 1800, Nr. 5 (29. Oftober).

3) Nouveau Recueil de Chansons. Tome quatrieme. A La Haye, 1732 (2. Aufl). S. 3. Etwas modernifirt in La Cl& du Caveau; 3. Aufl. Baris, um 1826. Nr. 95.

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Eine große Beliebtheit in Deutjchland erlangte die Chanſon: Dedans mont petit réduit Je vis à mon aise, die jpäteftens um 1720 entitanden jein fann, vielleiht auch viel älter ift!). In deuticher Uebertragung wurde daraus das noch heute befannte Lied „Iſt mein Stübchen eng und nett, Iſt mir nichts bejchieden”. Am 18. Jahrhundert wurde e8 nicht nur ſelbſt viel gejungen, jondern man dichtete auch neue Terte zu der Melodie; 3. B. „Laßt des kurzen Yebens Zeit, Brüder, uns genießen” ?), oder „Wenn ich aufgeitanden bin, Seh die Echöpfung : wieder“ ®), immer aber mit deutlich erfennbarer Beziehung auf das Original. Diejes hat im Franzöfiichen fieben Strophen, eine deutſche Verfion aus dem Anfange des 19. Jahrhunderts zählt deren dreizehn *), ein Trud von 1843 bat fie wieder auf fieben ein- geſchränkt“). ch stelle hier die franzöfifche Chanjon und das deutfche Lied in feiner neuejten Gejtalt einander gegenüber. Es iſt zugleich ein lehrreiches Beifpiel für die Veränderungen, die jolhe Melodien im Laufe der Zeit erleiden können.

ee ee

De-dans mon pe - tit r&-duit Je vis ä mon ai- en Je n’ai

un SSEFEHFESS

qu’-une table, un = Un ver - re, une chai - se; "Mais je

!) Nouveau Recneil de Chansons. S. 17. Chansons choisies II, Nr. 35; IV, Nr. 18

*) Ganz neu zufammen getragene Liebes-Roje [um 1770). Nr. 68.

3) Fliegendes Blatt aus dem 18. Jahrhundert auf der Großberzoglichen Bibliothek zu Weimar.

) Ganz neue Luſt-Roſe, worinn die allerneueften und fchönften Arien und Lieder enthalten find. Gedrudt 1801. Nr. 23.

5) Fink, Muſikaliſcher Hausihag der Deutihen. Nr. 114. Nah den oben kurz aufammengeftellten Thatſachen wolle man Hoffmann von Fallersieben, Unſere vollsthümlichen Lieder. 3. Aufl. Nr. 576 berichtigen.

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Refrain.

m’en sers cha-que jour, Pour ca - res-ser tour à tour Ma pinte

rer

et ma mie, ö gue, Ma pinte ee ma mi - e.

_—— ar re ===

PL 28 Iſt mein Stübchen eng und nett, iſt mir nichts be» ſchie⸗den,

ee en En nee

als ein Stuhl, ein Tiſch, ein Bett, bin ich ſchon zu = frie=den,

Zu —— ee I}: San

denn was brauch ich mehr zur Luſt, = mir la=bet nn und Brult,

es =

os ———— ———— ——— EI ——

rn >

bald mein Mädchen, bald mein Glas, bald mein Glas, mein Mäd-chen.

In dem Anfang der deutichen Melodie ift die franzöfiiche eben noc erkennbar, der Fortgang iſt ganz abweichend, und doch bat jene fich continuirlih aus dieſer entwidelt. Man findet e3 häufiger, dab im Laufe der Zeit der Abgefang eine ganz oder theilmeife neue Gejtalt erhält, entweder weil das Gedächt— niß des Nachfingenden oder Nachipielenden fich nur den eindring: liheren Aufgejfang genau merfte, oder auch weil im Abgejange der eigene Productionsdrang ſich eher glaubte etwas erlauben zu dürfen. Aber auch die Fälle find nicht felten, wo wie im vorliegenden am Schluffe des Aufgefanges fich eine andere Cadenz berausbildet. Um die Gejeße herauszuerfennen, denen die Um: bildner unbewußt folgten, muß man Mengen ſolcher Melodien zufammen tragen, die in ihrem Entwidlungsprozeß beobachtet

3

werden können. Das ift bier nicht möglich und aud nicht be» abfihtigt. Doc darf ich mir die Abjchweifung geitatten, wenig- ſtens noch eine Melodie in ihrem Laufe durd etwa 120 Jahre als Seitenftüd zu der obigen darzuftellen. Sie gehört dem oben erwähnten Liede „Schweiget mir vom Weibernehmen“ zu, findet fi zuerft 1649 in Frobergers Glavierftüden !), dann in einer Glaviercompofition Joh. Adam Neinfens, welche jedenfalls in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Hamburg entitand ?), endlich gedrudt in den „Liedern der Deutichen“, Berlin 1767.

» Im Autograph auf der k. k. Hofbibliothef zu Wien. !) Clavierbud des Andreas Bad, handichriftlich auf der Stadtbibliothet au Leipzig.

Froberger und Reinken haben PBartiten über diefe Melodie gefegt, die Froberger die „Mayerin“ nennt, während Reinken fchreibt: „Sopra l’Aria: Schweiget mir vom Weibernehmen, altrimenti chiamata La Meyerin*. Froberger fannte aljo einen andern Tert, den ich nicht aufzumweifen vermag. Weber die Bedeutung von „Mayerin“ hat Ambros eine Vermuthung auf- geftelt'). Ich möchte dazu bemerfen, daß es nicht nöthig iſt, an einen Eigennamen zu denken. „Mayerin“ kann auch bie Mähderin jein?).

Zu den franzöfifchen Erzeugniffen darf ich aud) wohl La folie d’Espagne rechnen, obgleich fie eigentlih nicht franzöſiſchen, fondern wie die verwandte Sarabande ſpaniſchen Urjprungs ift. Aber fie gelangte doch über Franfreih zu uns. Zu den befannteften über dieſe Tanzmelodie componirten Inſtrumental— ſtücken Corelli's und Vivaldi's könnte ich noch Claviervariationen von 1698 und Flötenvariationen aus ungefähr derjelben Zeit fügen?). Indeſſen als Tanz interejfirt uns La folie hier nicht, fondern al3 Gejangsmelodie. Franzöſiſche Terte zu ihr fenne ih nahe an zwei Dutzend, und doc) ijt das gewiß nur ein Fleiner

1) Gefhichte der Mufit. Band IV. S. 477.

2) „Wie das Gras auf grüner Amen Wird vom Mäyer abgehawen*; Heinrich Alberts Arien, 8. Theil, Nr. 8. Ein Seitenftüd wären Fresco— baldi'3 Partiten Sopra l’Aria La Monicha Toccate d’Intavolatura di Cembalo et Organo etc. Lihro primo).

°) In E. Grimms Tabulaturbud von 1698 auf der Hofbibliothet zu Wien, und in J. H. Brombergs „Fleuten Buch“, in meinem Befit. Das

legtere enthält franzöfifche, italienifche und deutiche Tänze und Melodien für löte und Baß und ift um 1700 geichrieben.

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Theil von denen, die überhaupt vorhanden waren, La folie d’Espagne nahm in der Gunft der jpielenden und fingenden Welt während der eriten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Stelle ein, welche in der zweiten Hälfte der Menuett von Eraudet inne hatte. Von einem jener franzöliichen Terte läßt ſich nad): weijen, daß er in Veutjchland Aufnahme fand:

Je possedois une heureuse innocence, Jamais Famour n’avoit su m’allarmes, Vous seul, Tireis, malgre votre inconstance M’avez fait voir ce que c’est que d'aimer. Vous me juriez une ardeur eternelle,

Je vous croyoit plus de sincerite.

Vous en contiez autant à chaque belle, C’en etait trop, pour dire verite.

Je sais fort bien, qu’une autre vous engage, Le changement a pour vous mille appas; Suivez Tircis, votre penchant volage, D’autres que vous ne m’i tromperont pas.

Zu Eperontes Zeit wurde dieſer Tert in Mitteldeutjchland gejungen). Aber neben ihm eriftirte längit ein deutiches Gedicht zu derjelben Melodie. ES beginnt „Du jtrenge Flavia, Zit fein Erbarmen da“, iſt um 1695 von Neumeifter gedichtet?) und ge- hörte zu den verbreitetiten und abgedrojcheniten Hausgefängen zur Zeit des Sperontes. Gräfe verfehlt daher auch nicht, es unter das „elende Zeug” zu rechnen, worin fi der Ichledhte Geſchmack der Deutihen verrathe, und gegen das er mit feinen Open anfämpfen will.”). Hat er damit auch die Melodie ge—

!) Liederbuch der Frau von Holleben. Nr. 53. Einige offenbare Ber- derbtheiten habe ich verbeſſert.

2) Die Allerneuefte Art Zur Reinen und Galanten Poeſie zu gelangen. S. 171 ff.

2) In Gottiheds „VBernünfftigen Tadlerinnen“, 1. Theil (1725), S. 336 wird über Neumeifters Dichtung gelagt: „Das bejte ift, daß fie auf die Melodey der Folie d’Espagne gemacht iſt, welches foviel als die Spa— niſche Thorh eit heißet: denn fo füllt einem doc ſogleich bey dem erften Anblide diefer verliebten Stoßgebete, der rechte Name derielben in die Augen.“

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meint, wie man doc annehmen muß, jo ijt Sebaftian Bad anderer Meinung geweſen. Bach hat diefe mit Behagen in jeiner Bauern-Cantate (1742) verarbeitet und geiftreicdy mit einer jelbftändigen Gejangsmelodie combinirt!). Ein Zeichen, daß fie damals auch ins Volk gedrungen war; denn es ftellt jich immer mehr heraus, daß Bad in der Bauerncantate, außer den Sägen aus eignen frühern Werfen, größtentheils volfsthümliche Melo— dien benugt hat ?).

Das Gejagte wird genügen, um die von Frankreich aus erfolgte Beeinfluffung des deutfchen Liedaefanges im Allgemeinen feftzuftellen. Mehr follte hier nicht geichehen, da wir den Sperontes nicht zu lange aus dem Auge verlieren dürfen. Eine befondere Erjcheinung innerhalb der franzöfiichen Geſangsmuſik wird ung auf geradem Wege zu ihm zurüdführen.

Schon am Ende des 17. Jahrhunderts famen in Frankreich die parodiftiichen Gejänge auf. Man hat darunter nicht nur Muſikſtücke zu verftehen, deren urſprünglicher Tert durch einen neuen der Art erjegt wird, daß mit Beibehaltung feiner mar: cantejten Wendungen doch ein ganz neuer Inhalt zur Darjtellung fommt, auch nicht nur joldhe, denen ein ganz beliebiger neuer Tert gegeben wird. Die Parodirung bezeichnet auch, und in jehbr ausgedehntem Maße, ein Verfahren, nach dem beliebten Inftrumentaljtüden Worte zum Singen untergelegt werden. Der erste Verſuch wurde 1695 an Opern von Zully, Colaſſe, Des: maret3, Gharpentier umd einigen andern gemacht, aus denen man bejonders beliebte Stüde zu Trinfgefängen herrichtete?). Er fand jo großen Beifall, daß nicht lange darnach noch drei

1) H-moll-Arie „Unfer treffliher lieber Kammerherr”, B.-G. XXIX. S. 183 ff.

2) Dies zur Ergänzung von „J. ©. Bad“ II, S. 658. Ueber die Folie d'Espagne ſ. auch Chryſander, „Dändel* I, S. 357. ;

3) Parodies bachiques, sur les Airs et Symphonies des Opera. Re- cueillies et mises en ordre par Monsieur Ribon. Paris, Ballard. 1695.

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Bände foldher Parodien folgten, deren dritter 1702 erjdhien '). Damit war eine neue Gattung von Geſangsmuſik geſchaffen, die immer weitere Kreije zog, auch außerhalb der Oper ftehende Inſtrumentaltänze in ihren Bereich einſchloß und fich jelbft auf Claviermuſik erjtredte. Eine beträchtliche Anzahl Couperinjcher Clavierſtücke hat man nicht nur gejpielt, jondern auch geſungen.

Die Publikation, die über dieſe merfwürdige Art von Kunt- übung den alljeitigiten Aufſchluß gibt, führt den Titel: Les Parodies nouvelles et les Vaudevilles inconnus, und erſchien von 1730 bis 1737 in fieben Bänden bei Ballard in Paris. Hier findet man 3. B. die Caracteres de la danse von X. F. Rebel, eine Suite von zwölf Sägen, für Gejang arrangirt, des: gleihen die Duverture zu Thetis und Peleus (wahrſcheinlich der Dper von Colafje); man findet eine vierfägige Sonate von Genaille, drei Clavierftüde von Rameau, nicht weniger als zwölf Clavierftüde von Couperin. Dieje find meijtentbeils Rondos, und oft von beträchtlichem Umfang. Es läßt fich nicht leugnen, daß die Terte oft anmuthig erfunden und geidhidt an- gepaßt find. Die Aufzeichnung beſchränkt ſich auf die Geſang— ftimme, und die Abfiht war wohl durchgängig diefe, daß die Stüde ohne Begleitung vorgetragen werden jollten. Doch kann man fie aud in ihrer vollftändigen Geftalt gejpielt denfen und den Gejang nur mitgehend ?).

Daß auch Melodien Händels in diefer großen Sammlung vorfommen, ift für uns Deutiche befonders intereſſant und für die Verbreitung Händelſcher Muſik in Franfreih ein nicht un- wichtiger Fingerzeig. Der Eröffnungs-Marih aus Scipione?) ericheint hier als Trinf- und Liebeslied t); zum Liebeslied it

!) Nouvelles Parodies bachiques, mélées de Vaudevilles ou Rondes de table. Paris, Ballard.

2) In Nouveau Recueil de Chansons choisies, Bd. 3, S. 108 ff. finden fih Couperind Les Pelerines in fämmtlichen drei Abfchnitten als Sing- ftüde. Die Parodies nouvelles haben dieje Stüde nicht.

3) Ausgabe der Deutichen Händelgefelihaft LXXI, ©. 5 f.

*) Livre quatricme, ©. 56. (A toi Catin, Il faut que je t’en verse.)

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auch eine Zanzmelodie umgeitempelt, die fich in den vorliegenden Werfen Hänbels nicht findet und alſo wohl auf eine verloren gegangene Compofition hinweiſt!). Neben diefen Inſtrumental— ftüden enthält die Sammlung eine parodirte Arie aus Flori- Dante: jtatt Se risolvi abbandonarmi wird geſungen Daphnis, profitons du temps, Je vois deja l’Aurore und das Ganze als Menuett bezeichnet. Es kann für die Berjchiedenheit der italieniihen und franzöfifchen Geſangsweiſe nichts Lehrreicheres geben als dieje Vergleihung?). Nicht zwar in den Parodies nouvelles, aber als Ariette in einer Opera comique fommt der aus Händels Glavieritüden von 1720 befannte „barmonifche Grobſchmidt“ vor. Die Dichtung beginnt: Lorsque deux coeurs d’un tendre feu Cherchent tous deux à faire l’aveu, und das jo zu Stande gefommene Lieb erfreute fich längerer Beliebt- heit. Noch in einer Sammlung des 19. Jahrhunderts begegnet uns die Melodie wieder, jedoch mit anderm Tert?). Auch die Parodie der Arie Verdi prati aus Händel Alcina: Le badi- nage, Les ris et les jeux Sont faits pour votre age Et vous pour eux mag bier erwähnt werden t).

Der Leſer wird fchon gemerkt haben, weshalb ich von franzöſiſchen Parodien an dieſer Stelle ſpreche. Beſteht doch die Singende Muſe des Sperontes ebenfalls nur aus Stücken, die unter jenen von den Franzoſen feſtgeſtellten Begriff fallen.

Zu einer Liedmelodie einen neuen Text dichten, oder zu einem Gedicht ſich eine bekannte Melodie heranholen, dies brauch⸗

!) Livre septieme, &. 77. (Par les charmes d’un doux mensonge.)

2) Händelgefellihaft LXV, &. 87 ff. Parodies nouvelles, Livre Pre- mier, ©. 68,

%) Les Amans trompes, Piece en un acte melde d’ariettes par Mr. Anseaume et de Marcouville. A la Haye 1758. Dubreuil, Dietionnaire lyrique portatif. Paris 1768, Bd. I, ©. 267. Cl& du Caveau, Nr. 1006. Die Melodie ift vielleiht gar eine urfprünglich franzöfiiche, j. Chansons choisies, Londres 1784, Band I, &. 2.

*) Händelgejellihaft XXVII, S. 94 ff. Dubreuil, a. a. O. I, 8.235. Auch in „Les Ensorceles* der Madame Favart (Band V, S. 37: „Etant jeunette*).

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ten die Deutjchen nicht von den Franzoſen zu lernen. Sie haben es jelbit zu allen Zeiten auf geiftlichem und weltlichen Gebiete gethban. Wenn fie ſich aber damit abgeben, auch In— ftrumentalftüde zu fingen, jo haben fie diejes, wenigitens in ber Zeit, die uns bier angeht, offenbar den Franzoſen nachgemacht. Dan darf jagen, fie haben wie in anderen Saden jo auch in diejer das Nachbarvolk einigermaßen umüberlegt nachgeahmt. Denn in der unprojodiichen franzöfiichen Sprade find ſolche Parodien natürlich viel leichter fertig zu bringen, als in der dem Be: tonungsgejeg unterworfenen deutichen. Neumeifter jagt in der Poetik (S. 66): „Zwar wenn man einen Tert unter eine Cou- rante oder Menuet, ja wohl unter eine gange Sonata legen muß, fo muß man auch wohl aus der Noth eine Tugend machen, und fich mit den Pedibus nad) den Noten richten.” Dieje Stelle it außer durch die Forderung, es jei bei ſolchen Erperimenten darauf zu jehen, daß der Sprade feine Gewalt angethan werde, aud) dadurch bemerfenswerth, daß fie das Vorkommen der Paro— dien in Deutjchland ſchon am Ende des 17. Jahrhunderts be- weilt. Denn Neumeiſters Poetik ift um 1695 entworfen. Viel— leicht hatte er von Nibons Parodies bachiques nicht einmal Kenntniß, und ed müßte daraus weiter gefolgert werden, dab das parodirende Verfahren ſchon vor deren Erfcheinen in Frank— reich geübt worden und von da nad) Deutſchland gedrungen jei. Diefe Vermuthung wird durch Chriftian Weije bekräftigt, der ſchon 20 Fahre früher vom Unterlegen eines Tertes unter ein Inſtru— mentaljtüd ſpricht). Daß der franzöfiiche Keim bei uns einen fruchtbaren Boden fand, weiß jeder, der fih um Bachs Cantaten gefümmert hat. Man wird freilicd nicht behaupten können, es fei alleiniger franzöfiiher Einfluß, wenn ihm der Gedanke, auch der ausgeführteiten Cantate einen volljtändig neuen Tert unter: zulegen, ein ganz geläufiger erjcheint. Wenn man aber zugleich) beachtet, wie er eine nftrumental-Duverture franzöfiihen Stils

1) Der grünen Jugend nothwendige Gedanten. Xeipzia, 1675. ©. 351 (f. Bachiana II, S. 103).

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durch Tertunterlage zu einem Chorſatze umformt, dann wieder Chöre in Duverturenform , jelbjt eine ganze Gantate in franzö- fiiher Suitenform componirt, fo muß eine jehr erhebliche Ein- wirfung der franzöfiihen Parodie auf feine Kirchenmuſik doch unbedingt zugeitanden werden.

Cine Sammlung von Kleinen Tänzen, Märjchen und der: gleichen zu parodiren, hatte in Deutichland vor Sperontes noch Niemand verſucht, wennſchon das Verfahren an fich bereits all: befannt war. Die Singende Mufe erfcheint auch unter diefem Gelichtspunfte als ein Denkmal von biftoriicher Wichtigkeit. Die Vermuthung darf ausgefprohen werden, daß die Herausgabe der Singenden Muſe geradezu im Hinblid auf die jeit 1730 in Paris erjcheinenden Parodies nouvelles erfolgt ift. Der Import von franzöſiſcher Litteratur nach Leipzig war gerade damals ein jehr bedeutender und die Liebe zur franzöfiihen Gefangsmufif namentlich in den höheren Ständen vorhanden. Die jehr elegante Ausstattung, in welcher die „Luftige Geſellſchaft“ den erſten Theil der Singenden Mufe beritellen ließ, deutet darauf bin, daß diefe wohlhabende Leute zu Mitgliedern hatte, die man fih am ein- fachiten dem in Leipzig ftudirenden Adel angehörig dent.

Nenn man die im Wejen der deutichen Sprade gelegenen größeren Schwierigfeiten erwägt, jo verdient Sperontes das Lob, jeinen franzöftichen Vorgängern, wenigitens in formaler Be: ziehung, mit Erfolg nachgeitrebt zu haben. Sit ihm aud) manches mißglüdt, jo bekundet es doch immer eine ungewöhn- liche Geichidlichkeit, daß er in der Mehrzahl der Fälle etwas zu Stande gebracht hat, was jih ausmimmt, als wäre es aus einem Guſſe. Bei dem unbedingten und. eigenartigen Dienft- verhältniß, in das bier die Dichtkunſt zur Mufif tritt, und in dem ſie gezwungen wird, oft die Conitruction längerer und mannigfach gegliederter Tonjtüde widerzuipiegeln, kommen manchmal jehr merkwürdig gebildete Strophen zu Tage. Bei den franzöfifchen Parodien iſt es ebenjo. Obwohl jie als rein poetische Bildungen meiſt unbrauchbar find, weil fie als jolche

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der Einheit und Ueberſichtlichkeit ermangeln, ſo fehlt es doch nicht an Zeichen, daß einzelne von ihnen Nachahmung fanden. Ich werde auf zwei merkwürdige Beiſpiele hierfür ihres Orts aufmerkſam machen.

VI.

Von den am Beginn des vorigen Abſchnittes geſtellten Fragen glaube ich die erſtere genügend beantwortet zu haben. Eine völlige Erledigung der anderen Frage, alſo den Nachweis der Quellen für ſämmtliche Muſikſtücke der Singenden Muſe zu erbringen und bie älteren zugehörigen Terte, ſoweit ſolche über- haupt vorhanden waren, aufzufinden, wird ſich heute kaum noch ermöglichen laſſen. Jh muß mich mit einer verhältnigmäßig feinen Anzahl von Fällen begnügen. Es wird aber auch bei ihnen jo manches Intereſſante zu Tage fommen, daß der Lejer ji einigermaßen entfchädigt fühlen dürfte.

Gräfe jagt in der Vorrede zum erften Theil der Oden: daß in den bisherigen Liedern ſich ber ſchlechte Geſchmack der Deutſchen verrathen habe, werde jeder erkennen, der fich erinnern wolle, „wie oftermahl3 er in feinem Leben die fo elende ala befannte Arien: Du ftrenge Flavia, Ihr Sternen hört, und dergleichen elendes Zeug hat rühmen, mit Vergnügen abfingen und jpielen gehöret”. Marpurg ftellt feft, daß „die ausgeftäupte Murky: Ihr Sternen hört” in der Singenden Mufe mit einem andern Tert vorfomme'). Hiermit ift Nr. 18 des eriten Theils gemeint. Das angeführte Gedicht ift mir gebrudt nicht vorge fommen. Eine bandjchriftliche Aufzeichnung aus der Zeit vor 1740 läßt fih nachweiſen, und vermittelft diefer Aufzeihnung hat das Gedicht fih auch erhalten?). Aus Gräfe's Vorrebe muß

i) Kritifche Briefe I, S. 162.

2) In dem mehrfach erwähnten Liederbuche der Frau von Holleben ald Nr. 5. Das Bud führt den Titel „Sammlung | verihiedener Melodifcher Lieder | die von den Händen hoher Gönner und | Gönnerinen | aud) Freunde

und Freundinnen | in dieſes Buch eingetragen worben | und mir als befien Befigerin | zum Zeugniß Dero respect: Gnade | und Freundichaft dienen |

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entnommen werden, daß diefes Lied und ähnliche ſchon mindeftens zwei Generationen hindurch beliebt gewejen waren. Dazu ftimmt es, daß er „Ihr Sternen hört“ neben der „Strengen Flavia“ anführt, und legteres Lied ift, wie ich oben gezeigt habe, um 1695 entitanden. Dan irrt alfo gewiß nicht, wenn man die Entjtehungszeit von „hr Sternen hört” ſpäteſtens auf 1700 feftfegt. Aber urjprüngli war die Melodie unzweifelhaft ein Inſtrumentalſtück. Auf einen jo verzwidten Strophenbau fommt niemand, der ein jelbitändiges Gedicht machen will; er läßt fich nur aus der Rüdjicht auf ein vorhandenes Spielftüd erklären. Und der Name Murki beweiſt, daß es als jolches auch fpäter noch weiter gelebt hat. Indem es fich hier nun um ein Lied handelt, das länger als ein halbes Jahrhundert ein Liebling im deutjchen Hausgejange war, wird feine vollitändige Mittheilung gerechtfertigt erjcheinen.

1. Ihr Sternen hört, Mie man mit mir verfährt! Ich liebe, was mich tödtlich haft, Ich küſſe, was mir eine Laſt, Ich bete etwas an, Eo mir Gemalt gethan.

die ich febenslang mit unterthänigiten | und gehorfamen Dank verehren werde. B

Sophie Margarethe von Holleben | gebohrne von Normann.“ Das Buch ift angelegt worden, als die Befikerin noch unvermählt war denn unter Nr. 32 fteht das Datum „den 1. Februar 1740“. Den Herrn von Holleben heirathete fie 1747. Die Familie war im Schwarzburg- Audolftädtiichen begütert und ift ed nodh. Sophie Margarethe von Holleben ftarb erft 1803; das fpätejte Datum des Buches ift der 8. October 1792, der Inhalt wurde alfo in länger als 50 Jahren allmählih zuſammenge— tragen. Der Großherzog Carl Friedrih von Sachſen-Weimar lieh eine Ab- fchrift anfertigen, welche auf der Bibliothek zu Weimar aufbewahrt wird. Das Driginal ift verihollen. Im „Weimarifhen Jahrbuch für Deutiche Sprache, Litteratur und Kunſt“, II. Band. Hannover, Carl Rümpler. 1855. ©. 187 ff. hat Hoffmann von Fallersleben ein paar flühtig ge ichriebene, die Wichtigkeit des Gegenstandes nur anrührende Blätter über diefes Liederbuch druden laffen.

Philipp Spitta, Muſikgeſchichtliche Auffäge. 16

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Ich ehre dich, man höhnet mich, Man vlagt mich ängftigli : |: Ein Demant fpringt,

Ein’ Fels durchdringt

Ein Donnerkeil, der auf ihn ſinkt. Du aber wilt noch härter ſein, Als Diamant und Felſen-Stein, Nichs dringet bei dir ein.

Aus deinen Augen bricht

Mir nur Cometen-Lidht.

Wo foll ih Armfter Hin,

Da ich verlaffen bin?

2. Charmantes Kind, Wie bift du doch gefinnt? Weil gar fein angenehmer Blid Auf meine Sehnſucht ftrahlt zurüd. Sieh doch wie unvergnügt Mein Herz in Ketten liegt, Und mid den nichts als du ergötzt!) In Sclavenftand gefegt : ||: Für Luft und Scherz Beichwert mein Herz Verhaßtes Leid und bittrer Schmerz. Ein winfelnd Ad, ein feufzend Web Macht, dab ich fo betrübt hier fteh, Ah Himmel, ich vergeh! Nichts endet meine Noth, Als nur der blaffe Tod; Komm doc, wo bleibeit du? Drüd mir die Augen zul

3. Zeigt mir die Gruft Zu meiner Todtenkfluft! Grauſame, giebft du diefen Lohn, So höre den gebrocdhnen Ton Von deiner Grauſamkeit Nur eine kurze Zeit Mit vielen Ah und Winfeln an, Was du an mir gethan : ||: Du haſſeſt mid),

1) Hier fehlten in der Handſchrift ſechs Silben; die mit Antiquafchrift gelegten Worte habe ich vermuthungsweile eingefügt.

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Ich liebe dich,

Das plaget mid,

Drum fterbe id),

Mit Turteltauben girr ih Ach,

Mit Schwanen feufz ich ſterbend ſchwach Bei diefem Ungemad.

Doch arabt noch diefes ein

Auf meinen Leichenftein,

Daß deine Graujamleit

Mir ſolches Grab bereit).

Auh aus dem Inhalt der Worte, der ohne Gedankenent— widlung fi ftet3 um denjelben Punkt im Kreiſe herumdreht, iſt erfichtlih, daß bier fein freies Gedicht, jondern ein dem Snitrumentalftüd untergelegter Tert vorliegt. Das Stüd Flingt gejungen allerdings leierig, an ſich aber ift die Melodie, von der man fi nur den einfältigen Murki-Baß mwegdenten muß, nicht ohne Charakter und von einer gewillen Keckheit, die ihr Ein- dringen und ihre weite Verbreitung erflärlih madt. „hr Sternen hört“ wäre nad franzöfiihem Spracdhgebraud eine Parodie; das Lied des Sperontes, in dem er bei feiner Strophe das Original aus dem Auge verlor, aljo eine Parodie der Parodie. Es beginnt: „Verhängniß, ah! Wenn foll mein Un- gemach Einmahl das Ende wieder ſehn?“ Eine Bergleihung beider ift lehrreich, denn fie erſchließt anſchaulichſt die Methode, nah der Sperontes in ſolchen Fällen verfuhr.

Es gibt noch mehrere Dichtungen auf die Melodie. Eine jolhe beginnt „hr Sternen hört, Wie man mit mir verfährt! Ich joll ein blutig Opfer fein, Ach ſtrenger Schluß, ad Seelen: pein“ u. f. w., und hat nur zwei Strophen?). Hier handelt es fih um eine bejtinunte Situation; man kann ſich Jephtas Tochter oder Fphigenie als fingende denken. Sehr merkens—

1) Da ich auf die nicht ſehr correcte Weimarifhe Abſchrift angewieſen war, jchien es zwedlos, die Orthographie derielben beizubehalten. Auch einige offenbare Schreibfehler habe ich ſtillſchweigend verbeiiert.

2) Liederbuch der Frau von Holleben, Wr. 41.

16*

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werth aber iſt, daß in der 1750 erſchienenen Liederſammlung von Doles unter Nr. 14 ein Gedicht ſich findet, deſſen Strophen— bau genau mit „Ihr Sternen hört“ übereinſtimmt y. Nur am Schluß iſt bei Doles zweimal eine Senfung und Hebung weniger, was aber feine Bedeutung hat, da fich die Melodie von „hr Sternen hört” ganz leicht demagemäß abändern läßt. Es ift demnach wohl möglid, daß das Gedicht („Ein harter Streit Hat mih mit mir entzweit“) auch für die beliebte Melodie beitimmt gewejen ift, aber man kann auch annehmen, daß die durch die Melodie bedingte poetiiche Structur allgemad jo be- fannt geworden war, daß fie zum direften Vorbild genommen wurde. Und jedenfalls hat das betreffende Gedicht in Doles Augen einen jelbftändigen Werth gehabt, denn er hat eine ganz neue Muſik dazu erfunden. Dies ift einer der ‚Fälle, auf die am Ende des vorigen Abjchnittes hingewieſen wurde.

Als Zeugniß für die außergewöhnliche Popularität von „Ihr Sternen hört“ jei endlich noch ein Clavierconcert in A-moll von Johann Gottlieb Görner angeführt, dem Leipziger Orga: niften und Zeitgenofjien Sebaftian Bachs. An ihm wird ein Stüd der Melodie concertmäßig durchgearbeitet ?).

Dasjelbe Verhältniß, das bei Nr. 18 des eriten Theilö der Eingenden Muſe nachzuweiſen ift, findet bei Nr. 68 ftatt. Auch bier ein urjprüngliches Injtrumentalftüd, und zwar eine Polo: naije. Hernach it ihr ein Tert zum Singen untergelegt worden. Anstatt diejes dichtete dann Sperontes einen neuen. Die Muſik mit dem älteren Terte theile ich hier quellengetreu mit: es fehlen allerdings drei Takte umd die entiprechende Menge der Worte.

mn oem

1) Neue Lieder nebft ihren Melodien componirt von J. ſohann] F.[riedric] D.[oles] 3 [u] Ffreibera]. Leipzig. 1750. Daß Doles der Componiſt ift, verräth Marpurg, Kritiiche Briefe I, S. 253, und beftätigt Chriftian Heinrich Schmid, Anthologie der Deutihen. Band I (1770), ©. 339 ff.

2) Handidrift aus der erften Hälfte des 18. Jahrhunderts, auf der Großherzoglichen Bibliothet zu Darmitadt: Suites des Pieces pour le Clavessin composee par Mons. J. G. Goerner et Mons. J. S. Bach.

| 1. Alles lebt u. liebt u. ift vergnügt, nur ich muß des Unglüds

en ——

Schauſpiel bleiben, doch die Zeit, die Glück und Un-glüd fügt,

wie ed will, gut Ding mußja Meile Ha = ben,

“| if I I il) I} | :

—— [U ——

Die $ bedeuten, daß an dieſer Stelle der zweite Theil in den erſten zurücklenkt; es fehlt aljo genau genommen nur ein Takt der Muſik. Täufcht nicht alles, jo haben wir hier auch

246

das Muſikſtück noch in feiner urfprünglihen Form. Nicht mur die fir ein Gejangftüd ungewöhnliche Art der Notirung deutet darauf bin, jondern auch der Schlußtaft des erften Theils, in dem, damit Worte und Töne fi deden fünnen, die halbe Note in zwei Viertelnoten zerlegt werden muß. Als Ueberſchrift ſteht Aria ex Polonoise, Will man nicht einen Schreibfehler für en annehmen, jo fann der Sinn nur fein, daß bier ein Lied vor- liege, das aus einer Polonaije hervorgegangen ſei). Die Form, in der Sperontes die Polonaiſe gibt, zeigt diejelbe etwas ent: ſtellt. Bon anderen Abweichungen zu fchmeigen, jo fällt befonders die jteife Bewequng des eriten Tafts und der diefem entjprechenden Takte auf, während in der mitgetheilten Form der Rhythmus Tora durch das ganze Stüd durchgeführt iſt. Dies ift jeden- falls das Beſſere und auch Urſprüngliche. Vergleiht man des Eperontes Dihtung, jo wird wiederum offenbar, wie er an die Gedichte, die er durch eigne erjegen wollte, äußerlich anzufnüpfen pflegte. Seine eriten Zeilen lauten: „Alles fan doch manchmahl noch erfreut Und mit andern luftig jeyn und leben.”

Etwas länger wird uns Wr. 33 des eriten Theils der Singenden Muſe befhäftigen: „Ich bin nun wie ich bin, Und bleib bey meiner Mode Wie Hanf in feinem Sode.“ Die Melodie des Liedes wird noch öfter verwendet. ch habe gejagt, daß von Nr. 69 an den Liedern des eriten Theils feine Melodien mehr beigedrudt find, jondern auf frühere Melodien verwiejen wird. So foll zu Melodie Nr. 33 gelungen werden Lied Ar. 71, Nr. 74, Nr. 77 und Nr. 99 der erften Ausgabe der eriten Auf: lage des erſten Theils (j. Cap. I). Die Melodie muß alfo dem Sperontes bejonders gefallen haben.

Wie man fi erinnern wird, ift in der zweiten Ausgabe der eriten Auflage das legte Blatt entfernt und durch einen

!) Die Quelle des Stüds ift eine aus dem 18. Jahrhundert ftammende Handſchrift der Königlichen Bibliothef zu Berlin. Titel: „Kurke Musi- calische Etüde auf dem Elaviere. ©. 5. Schulge.* Format: Klein Duer- quart. Übiges Stüd fteht auf Blatt 10.

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halben Bogen erjegt, auf deſſen erftem Blatte zwei andere Lieber ftehen, während das zmweite Blatt für ein Regiſter benugt ift. Es muß aljo an den beiden Liedern Nr. 99 und 100, welche in der erften Ausgabe das legte Blatt beveden, oder an einem der beiden irgend etwas anftößig befunden worden fein. Nr. 100 „Beförbdert, ihr gelinden Saiten, Den fanfften Schlummer füfjer Ruh“ ift ein Nachtgefang, an dem für den Gefchmad jener Zeit etwas Berfängliches durchaus nicht zu entdeden ift. Der Stein des Anftoßes muß daher in Nr. 99 enthalten geweſen jein. Der erite Theil der Singenden Muſe ift, wie ich anfangs erwähnt habe, mit einem „Anhang aus Johann Chriftian Günthers Gedichten“ ausgeitattet, der mit Nr. 84 beginnt. Alle diefe Ge- dichte laſſen fih in der That in Günthers gedrudten Poeſien nachweiſen, nur Nr. 99 nicht. Auch in Günthers handjchrift- lihem Nachlaſſe auf der Stadt-Bibliothef zu Breslau fehlt es), und ift überhaupt in Stil und Strophenbau von Günther Weiſe gänzlich abweichend. Nun erfreuten fich gerade damals Günthers Gedichte allgemeiner Beliebtheit und wiederholter Drudlegung; die Verleger brannten darauf, Unbekanntes von ihm zu veröffentlichen und verfuchten es jogar mit Schriften von zweifelhafter Echtheit. Wenn trogdem und troß der weiten Verbreitung, welche die Singende Mufe fand, unjer Lied Nr. 99 unter Günther Namen nirgends ſonſt gedrudt erjcheint, jo ift dies ein ficherer Beweis, daß man allgemein wußte, es fei nicht von ihm, fjondern nur unter feiner Flagge in die Singende Muſe eingefhmuggelt, um ficherer durchſchlüpfen zu können. Die zwei Lieder, die in der zweiten Ausgabe der eriten Auf- lage die Nummern 99 und 100 ausmachen („Schwarter Augen Gluth und Kohlen“ und „Sagen verbleibet das jchönfte Ver— gnügen“), find an der Stelle der ausgefchiedenen beiden in ben

1) Man vergleihe Berthold Ligmann, Zur Tertkritif und Biographie Johann Ehriftian Günthers. Frankfurt a. M., Literarifche Anftalt, Rütten und 2oening. 1880.

SEE? .: pen

„Anhang aus Günther3 Gedichten“ eingetreten. In der Auflage von 1741 find fie an ihrer Stelle belafjen, dann aber ift ala Nr. 101 Günthers „Befördert, ihr gelinden Saiten“ hinzugefügt und als Nr. 102 wiederum jene bedenkliche Nr. 99 der eriten Ausgabe der eriten Auflage. Nach dem Titel des Buches und nad der über Nr. 84 befindlichen Weberfchrift müßten nun dieje Lieder alle von Günther fein. Aber aud) für die Lieder „Schwartzer Augen Gluth und Kohlen“ und „Jagen verbleibet das ſchönſte Vergnügen“ trifft dies nicht zu. Nicht nur, daß aud fie unter Günthers gedrudten und ungedrudten Gedichten fehlen, jo hat fie Sperontes aud) in die vierte Auflage des eriten Theils (1747), in welcher er den Anhang Güntherfcher Gedichte gänzlich be- feitigt hat, einfah mit aufgenommen und dadurch geitanden, daf fie von ihm felbit verfaßt find. War er aber der Autor diejer Gedichte, jo muß man es als äußerſt wahrfcheinlich bezeichnen, dab auch die anftößige Nr. 99 aus der erften Ausgabe des erften Theils von Niemandem anders als ihm jelbft verfertigt ift?). Indem er in ber Auflage von 174) neben dieſer noch zmei andere Nummern für Gedichte Güntherd ausgab, mag er bie Meinung haben hervorrufen wollen, e8 ftänden ihm, dem Schlefier, noch unbefannte Quellen Güntherſcher Poeſie zu Gebote, aus denen er neben andern auch jene Nr. 99 ans Licht gefördert habe. Wir müfjen nun zunächſt das Gedicht mittbeilen. 1. Ihr Schönen höret an,

Ermwehlet das studiren,

Kommt her, ich will euch führen,

Zu der Gelehrten Bahn,

Ihr Schönen höret an:

Ahr Universitaeten,

Ihr werdet zwar erröthen,

Wenn Doris disputirt, Und Amor praesidirt,

1) Man beachte auch hier die fchlefiihen Idiotismen: „hat“ für „habt“ und „befliefien: müſſen“. In der Auflage von 1741 find fie au gemerzt.

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Wenn artge Professores, Charmante Auditores, Berdundeln euren Schein, Gebt euch gedultig drein.

. Geht zum Pro-Rector hin, Laßt euch examiniren,

Und immatriculiren,

Küft ihn vor den Geminn, Geht zum Pro-Rector hin. Ihr feyd nun in den Orden Der ſchönſten Mufen worden, Wie wohl hat ihr gethan, Stedt eure Degen an,

Doch meidet alle Händel, Weil Adam dem Getendel Mit feinen Geiftern feind Und der Pedell erfcheint.

3. Kommt mit ans fhwarge Bret,

Da ihr die Lectiones,

Und Disputationes

Fein angeichlagen feht,

Kommt mit ans ſchwartze Bret.

Statt der genehten Tücher,

Xiebt nunmehr eure Bücher,

Kaufft den Catalogum,

Seht ins Collegium,

Da könt ihr etwas hören,

Bon ſchönen Liebed-Lehren,

Dort von Galanterie,

Und Amors Courtesie.

. Theilt hübſch die Stunden ein, Um neun Uhr feid beflieffen,

Wie artge Kinder müſſen,

Galant und häuslich jeyn,

Theilt hübſch die Stunden ein.

Um zehn Uhr lernt mit Bliden,

Ein freyes Herg beftriden,

Um ein Uhr musicirt,

Um zwey poetisirt,

Um drey Uhr lernt in Briefen,

Ein wenig euch vertieffen,

Denn böret von der Ch,

Hernach jo trinkt Coffee.

350

5. Continiuirt drey Jahr, Denn könnt ihr promoviren Unb andere doeiren, O fhöne Mufen-Schaar, Continuirt drey Jahr. Ich fterbe vor Vergnügen, Wenn ihr an ftatt der Wiegen, Euch den Catheder mwehlt, Statt Kinder Bücher zehlt, Ich küſt euch Rod und Hände, Wenn man euch Doctor nennte, Drum Scönjte fangt doch an, Kommt zur Gelehrten Bahn.

Nie man fieht, iſt dies eine Satire auf die Frauen, Die nad gelehrter Bildung ftreben. Es gab 1736 in Leipzig zwei Frauen in hervorragender gefellfchaftliher Stellung, die dies thaten, Frau Gottjched und Frau von Ziegler. Frau Gottſched war am 14. Mai 1735 nad Leipzig gefommen. Sie nahm an allen Vorlefungen ihres Gatten ungejehen Theil, indem fie fich an die Thür ihres Zimmers jegte, welches an jeinen Hörjaal ftieß. Sie lernte unter Schwabes Anleitung Lateiniſch und fing jchon jegt an, mit eignen Arbeiten hervorzutreten. Sie nahm bei Krebs Unterriht in der Mufif und lernte Suiten und Gantaten componiren. Daß dies unter der Studentenſchaft Aufjehen erregte, ift ebenjo begreiflich, wie daß es der Spottluft und dem Neide Nahrung gab. Zu ihrem Geburtstage am 11. April 1737 überreihte Schwabe der Frau Gottſched einen Aufjag, in dem er unter der Maske eines wohlmeinenden Rath: gebers, der fie bittet um der allgemeinen Glücdfeligfeit der Geſellſchaft willen nicht Elüger werden zu wollen al3 die andern, diejenigen verfpottet, die fich über ihre Lernbegierde aufhielten. „Denken jie nur ja nicht“, jagt er darin, „daß man aufgehöret babe, diejenigen zu verfolgen, deren Miffenfchaft vor andern her- vorleudhtet. Haben fie es noch nicht jelbft erfahren, welches mir faum glaublih vorfömmt: fo fehen fie nur einmal um fih. Wie löblich rafet nicht aller Orten der Geift der Ver-

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folgung, vom Neide angetrieben, wieder diejenigen, deren Erfennt- niß fih von den gemeinen Meynungen erhebet. Denken Sie nicht, daß man jo höflich jeyn, und einige Hochachtung für ein Frauenzimmer haben werde"). Die Worte, die ich geiperrt habe jegen lafien, fünnen jehr wohl darauf hindeuten, daß in der That Schon Angriffe auf Frau Gottjched erfolgt waren, die man aber jofort bei ihrem Erfcheinen wieder zu unterdrücken be- müht gewejen war. Der erite Theil der Singenden Muſe war ein halbes Jahr vorher ausgegeben worden. Gottiched galt damals in Leipzig noch jehr viel, und eg war ihm ohne Zweifel ein Leichtes, bei der Genfur den Befehl zu erwirfen, daß das Spott- gedicht aus der Liederfammlung entfernt wurde. Uebrigens ift eine Andeutung da, daß es jchon vor dem Erfcheinen der Singenden Mufe, vermuthlich als Einzeldrud, verbreitet, dann verboten und in die Sammlung des Sperontes heimlihd von neuem einge: Ihmwärzt worden war. In dem Gedicht ift vom Prorector die Rede. Einen ſolchen gab es in Leipzig nicht, jondern nur einen Rector. Wohl aber in Jena, wo Herzog Ernit Auguſt von 1728— 1748 Rector magnificentijiimus war, und in Halle ?). Einen falfchen Entitehungsort zu fingiren, um die Bermuthungen auf eine verkehrte Spur zu leiten, war in jener Zeit der anonymen und pjeudongmen Polemik etwas Gebräuchliches. Wäre das Gedicht von Anfang an für die von einem Leipziger Verfaſſer in Leipzig herausgegebene Singende Mufe beitimmt gemefen, jo hätte dies Verfahren feinen Sinn. In der urjprünglichen Faflung war vielleiht auch der Anhalt der vierten Strophe ein anderer, möglicherweife derberer und anzüglicherer gewejen. So wie er jegt ift, paßt er, ausgenommen bie legten beiden Zeilen, nicht recht zum Grundgedanfen.

1) Der Auffag ift abgebrudt in „Der Frau Luife Adelgunde Victoria Gottfchedinn, geb. Kulmus fämmtliche Heinere Gedichte u. f. w. Leipzig, 1768. S. 286 ff.

2) Hoffbauer, Geichichte der Univerfität Halle bis zum Jahre 1805. Halle 1805. &. 126 f.

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Indeſſen ift es nicht nothwendig anzunehmen, dab das Ge- dicht durch Frau Gottiched allein veranlaßt war. Im ganzen paßt es allerdings mehr auf eine junge Frau, und die Gottiched zählte damals 23 Jahre. Aber bei einigen Wendungen bat doch vielleicht Frau von Ziegler vorgejchwebt, die von ihren Ver: ehrern als die zehnte Mufe gepriejen, von ihren Verleumdern als gefährlich für die junge Männerwelt gejchildert worden war. Bald nachdem fie von Wittenberg aus die Laurea poetica em: pfangen und Gottjched darauf ein Gedicht gemacht hatte, wurden in Leipzig, Dresden und Umgegend zwei anonyme Parodien auf ihre Krönung verbreitet, in denen mit den unfauberften Verdädtigungen gegen die alleinjtehende Frau vorgegangen wurde. Vier Studenten: von Einjiedel, von Burgsdorff, Hoffmann und Hübner wurden vom Univerfitätsgericht zu Leipzig deshalb zur Verantwortung gezogen. Burgsdorff, der Urheberfchaft am ftärfiten verbähtig, juchte fih damit herauszureden, er babe beide Parodien aus Halle befonmen. ALS die Sadhe eine ernite Wendung für fie zu nehmen drohte, appellirten fie an den König, der, um die Reputation der Univerfität zu jchonen, die Sadıe mit einem ernftlichen Verweis und Tragung der Unfoften dur die Angeklagten zu endigen befahl ').

Dies geſchah im Frühjahr und Sommer 1734. Daß „hr Schönen höret an” eines jener beiden Lieder ift, daran fann freilih nah dem, was wir über ihren Inhalt wiſſen, nicht gedacht werden. Daß aber nad) dem Verlauf diejes Handels die akademiſche Jugend zu ſolchen Ercefjen geneigt blieb und fie ge: legentlich wiederholte, daß aljo das Lied „Ihr Schönen höret an” einen Nachklang der Affaire von 1734 in fi hält, darf man aud wohl mit Beftimmtheit annehmen. Täuſche ich mid nicht, fo hat Frau von Ziegler die Sadhe auch jo verftanben.

3) S. meine Abhandlung „Mariane von Ziegler und Joh. Sebaftian Bach“, in „Zur Mufil. Sechzehn Auffäge.“ Berlin, Gebr. Paetel. 1892. ©. 98 fi.

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Sie war heitern und elaftijchen Gemüths und wußte unangenehmen Dingen mit ihrer Art zu begegnen. In ihren „VBermifcheten Schriften in gebundener und ungebundener Rede (S. 71) hat fie ein Gedicht veröffentliht: „Das männliche Gejchlechte im Namen einiger Frauenzimmer bejungen“ ; eine muntere Satire auf die Schwächen der Männer, die wir als ihre Quittung für „Ihr Schönen höret an” betrachten dürfen). Sie hat auch eine luftige, etwas franzöſiſch Elingende Melodie beifegen lafien, die einzige im ganzen Buche, wohl um mittelft der Mufif ihrem Liede eine ähnliche Verbreitung zu ermöglichen, wie fie das Lied „Ihr Schönen höret an“ erfuhr ?).

Das iſt ihr nicht gelungen, denn diefes wurde bald ganz außerordentlich beliebt. Noch dreißig Jahre jpäter jang man e8, al3 die Urſache jeiner Entitehung ſicherlich längſt ver: geſſen war, und jo jehr fih mancher bemühte, ihm jeden Kunit- werth abzufprehen. Marpurg in Berlin bezeichnet es 1761 als einen Gaffenhauer?), Uz fchreibt 1766 von Anspad an Grögner: „Es wird ihnen fein geringes Vergnügen jeyn, wenn Ihr Töchterchen an der Seite ihrer Mutter itatt der elenden: „Ahr Schönen höret an u. j. w.“ ein wißiges und unjchuldiges Lied- gen vorlinget” *). Dadurch, daß man das Lied überall nur mit diejem Terte fannte und nannte, wird die Annahme beftätigt, dab nicht Wr. 33 des erjten Theils der Singenden Muſe („Sch bin nun, wie ich bin“) das früher verfertigte Stück war, nad

!) Die erfte Ausgabe der „Bermifcheten Schriften“ fcheint ſchon 1736 erfolgt zu fein; j. a. a. ©. ©. 102, Anm. 5.

2) Spottlieder zu machen und vor dem Haufe des Verfpotteten ab- zufingen bereitete damals den Studenten augenſcheinlich beionderes Ver— gnügen. Bon einem folhen Fall, weicher 1744 der Braut des Licentiaten Wolle paffirte, berichtet Schwabe an Gottſched (Gotticheds Briefwechfel auf der Leipziger Univerfitäts-Bibliothel, d. d. 2. Juni 1744).

3) Kritifche Briefe Il, S. 174.

+) Briefe von Johann Peter Uz an einen Freund. Herausgegeben von Auguft Henneberger. Xeipzig, Brodhaus. 1866. S. 120.

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dejien Melodie alddann „Ihr Schönen, höret an“ gedichtet worden wäre; umgekehrt verhielt es fih, und nur um das verpönte Lied leichter über die Genjurgrenze ipediren zu fönnen, wurde es in der Reihe der Muſikſtücke mit einem andern Tert verſehen, und der Originaltert unter einem Haufen Güntherſcher Gedichte veritedt.

Aelter aber noch als diejer Driginaltert iſt die Melodie. Eine für Gejang erfundene Weiſe kann fie jchon ihres Umfanges wegen nicht ſein. Man jehe jelbit:

Das Fehlen der Bezifferung in der eriten Auflage deutet an, daß Sperontes fie in der That als Clavierftüd vorfand, umd der Murki-Baß nicht weniger.

Ueber den Componiften hat Friedrich von Raumer eine be fremdende Auskunft hinterlaſſen. Er machte feiner Zeit der

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Königlichen Bibliothek zu Berlin eine Anzahl von Original— briefen zum Geſchenk. Unter ihnen und ohne Bezug auf einen derfelben befand jich ein Blättchen ’) mit obiger Melodie. Sie ift im Violinſchlüſſel und in G-dur notirt; im zweiten Theil hat der Schreiber zwei Takte ausgelaffen, hier und da ift fie noch claviermäßiger geführt, als bei Sperontes. Der Tert fehlt, doch ftehbt oben linfs: „Ihr Schönen böret an 2c.” Darunter hat Raumer bemerkt: „Forkels Handſchrifft. Das Lied iſt com- ponirt von J. Seb. Bad.“

Mit Forkeld Handſchrift hat es feine Nichtigkeit. Daß er jelbft die Compofition als eine Bachſche bezeichnet habe, jagt KRaumer freilich nicht. Jedoch ift jehr zu bezweifeln, daß Forfel fie aufgezeichnet haben würde, hätte er nicht an ihren erlauchten Ursprung geglaubt. Mittelbar oder unmittelbar von ihm wird Raumer die Nahriht empfangen haben. Forkels Wifjen aber gründet fi, wie befannt, großentheils auf die Mittheilungen von Bachs Söhnen.

Handelte es fih um eine zu dem Terte eigens erfundene Melodie, jo müßten wir fider, woran wir wären. Bei dem Verhältniß, in dem Bach zu den Gottjcheds und namentlich auch zu Frau von Ziegler land, könnte er fie unmöglich gemacht haben. Allein wie wir ſahen, liegt die Sache nicht jo. Die Vielodie war vorher da und der Tert wurde nur untergelegt. Ein Zug derber Luftigkeit und eine volf3mäßige Friſche waren Bad) eigen und mit der Studentenwelt verkehrte er auch. Rund» weg verneinen wird man e3 aljo nicht dürfen, daß er einmal in luſtiger Geſellſchaft dieſe Melodie improvifirt haben fönne. Dafür ließe fih jogar anführen, daß in dem größeren Glavier- buche feiner Frau fi ein Clavierftüd findet, deifen Anfang mit dem Anfang der fraglichen Melodie genau übereinflimmt ?). Aber jehr unwahrscheinlich ift jeine Urheberichaft dennod. Auch

') Jetzt in der Mufilabtheilung der Königl. Bibliothef aufbewahrt. 2) Es ift gedrudt worden in dem Supplement der bei Peterö heraus: gegebenen Clavierwerke Bas, S. 20 f.

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den einfadhjiten und populäriten Melodien Bachs haftet doch immer jene Vornehmheit an, die den Genius fennzeichnet, von der bier aber gar nichts zu bemerken ift. Man braucht die Melodie des— halb noch nicht zu fchelten, und fie beifpielsweife nur einmal als Jagdlied aufzufaflen, um fie jogar ganz angemefjen und hübſch zu finden. Naumers Meberlieferung fann immer doch ein Körndhen Wahrheit enthalten. Bekanntlich dirigirte Bach in diefer Zeit einen Studenten-Muſikverein. Wenn er einige Jahre ipäter in der Bauerncantate allerhand Volks- und volfsthüm- fiche Lieder anbrachte und verarbeitete, wenn er in der leßten der Goldbergichen Variationen über die Volkslieder „Kraut und Rüben” und „Sch bin jo lang nicht bei dir g’weit” ein Funit- volles Stüd componirte, jo lag es ihm gewiß nicht allaufern, im fröhlichen Kreife junger Leute an einer damal3 populären, vielleicht in den Studentenfreifen jelbft entftandenen Melodie auch einmal jeine Improviſationskunſt zu zeigen. Die Erinnerung an diefes Ereigniß mag ſich erhalten, Emanuel Bach gelegentlich Forkel darüber etwas mitgetheilt haben, und Forkel meinte jpäter vielleiht veritanden zu haben, Bach fei auch Componift der Melodie. Man weiß, wie fich dergleichen Traditionen bilden. Marpurg aber wußte ficherlich nichts davon, denn fonjt würde ihn jein Reſpect vor Bach wohl gehindert haben, von einem Gaſſenhauer zu reden).

Als das Yied mit dem Terte des Sperontes überall befannt geworden war, fing man der Abwechslung halber an, neue Worte zu der Melodie zu dichten und zu fingen. Ein Philiſter fam auf den Einfall, die Eatire des Sperontes in Ernit zu verkehren, und richtet an die Frauen die wohlgemeinte Mahnung, beſſer als bisher für ihre geiftige Bildung zu jorgen („Ihr mun— tern Schönen hört, Legt Zwirn und Nadel nieder”)?). Mehr

1) Ich habe die Frage über „Ihr Schönen höret an* jchon erwähnt im „Bad“ II, ©. 661, Anm. 117, und löfe mit diefer Unterfuhung das dort gegebene Verſprechen ein.

2) Fliegendes Blatt aus dem 18. Jahrhundert, in der Meuſebachſchen Sammlung Y. d. 7909.

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Schwung zeigt ein Jemand, der eine Parodie in Gejtalt eines Liebesliedes anfertigte („Charmantes Engelskind, Du haft mit beiner Liebe, Durch deine keuſchen Triebe Mein ganzes Herz entzündt“ '). Im Liederbuche der Frau von Holleben finden fich drei Jagdlieder zu der Melodie („Wenn ich aufs Jagen geh“, „Auf Jäger in den Wald“, „Diana bläft zur Jagd“)“). Ein viertes ihren Tönen angepaßtes Jagdlied „Wie groß iſt nicht die Luft” tritt 1753 hervor?). Die Verfaffer diefer Terte haben am beften herausgefunden, was ſich zu der Melodie jhidt.

Aber auch des Sperontes Lied: „Ihr Schönen höret an“ wurde noch auf anderem Mege, ald dur die Singende Mufe verbreitet. ch finde es wieder in einer in Sachſen gedrudten Liederſammlung des 18. Sahrhunderts*). Und felbjt dem Lied Kr. 33, von dem unjere Unterfuhung ausging, und das wir im Laufe derjelben faft aus den Augen verloren haben, wurde weitere Verbreitung durch Fliegende Blätter zu Theil’).

Dabei prägte jih dann allmählich der durch das Muſikſtück bedingte ſtrophiſche Bau der Phantafie der dichtenden Welt jo tief ein, daß nun auch Lieder in diefer Form verfaßt wurden, die nicht beitimmt waren, zu der Driginalmelodie gejungen zu werden. Ein Beijpiel liefert E. F. Weiße in feiner Oper „Lott- hen am Hofe”. Was bier am Anfange des zweiten Aufzugs gefungen wird („Es ift die Mode jo”), dazu hat Sperontes das Urbild geliefert. Der zweite Theil der Strophe ift freilich auf vier Zeilen bejchräntt, aber die Melodie läßt e8 zu, daß mit der vierten Zeile ein Schluß gemacht wird. Ob es Hiller

I) Ganz neu zufammengetragene Liebes-Roſe [um 1770] Nr. 4.

2) Nr. 137, 139, 140, eingetragen zwifchen 1740 und 1748.

3) In „Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens“. 2. Band. Frankfurt und Leipzig, 1753. ©. 392 ff. Unterzeihnet: „Ru- dolftadt 1758. N. A. H.“

+) Neu vermehrte Luft-Rofe allen luftigen Gemüthern zum Zeitvertreib zufammengetragen. S. 23. Mit geringen Abweichungen ganz in der Faflung des Sperontes.

5) Ein folches in der Meufebahihen Sammlung Y. d. 7909.

Philipp Spitta, Muſitgeſchichtliche Aufjäge. 17

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bei der Compoſition in Erinnerung gekommen ſein mag, auf welch ein Muſter das Lied zurückleitet, das Lottchen abwechſelnd mit dem Kammermädchen ſingt? Ich glaube, trotz ſeiner gering- ſchätzigen Bemerkung über die Singende Mufe wußte er do, wie viel aus manden ihrer Melodien von jemandem gelernt werden fönne, der volfsthümlich zu ſchreiben fich beitrebte. Findet ſich doch in einer Arie des „Iuftigen Schuiters” jogar ein Anklang derjenigen Melodie wieder, deren merfwürbige Bezüge und Schid- jale ih in Vorftehendem zu erzählen verjudt habe‘).

Die Vermuthung erſchien begründet, daß das Lied „Ahr Schönen höret an“ ſchon vor dem Erjcheinen der Singenden Mufe bekannt gewejen jei. Das wird überhaupt anzunehmen fein, daß Sperontes nicht alle Lieder in einem Sig hinter ein- ander gedichtet, jondern fih in der Kunjt der Parodie jchon früher verfuht und von ſolch älteren Berfuchen vieles in die Samntlung aufgenommen bat. Weitere Stügen diefer Annahme laſſen jich erbringen.

Der Leſer erinnert fich des Liedes: „Jagen verbleibet das ihönjte Vergnügen”, das als Nr. 100 in die zweite Ausgabe der eriten Auflage von 1736 eintreten mußte. Es joll gejungen werden nad der Melodie: „Liebe mich redlich und bleibe ver- fchwiegen“ (Nr. 12). Aber zu dieſem legteren Gedichte paßt die friſche Melodie jehr jchleht, während fie für ein Jagdlied vortrefflih geeignet ilt. Offenbar bejteht bier dasſelbe Ver— hältniß, wie zwiſchen „Ich bin nun, wie ih bin“ und „Ihr Schönen höret an“: das fcheinbar frühere Lied ift das jpätere. Dann folgt weiter, daß Sperontes das Sagdlied nicht erit zu diefem Zwecke gedichtet hat, um das durch die Cenſur zeritörte Hundert wieder voll zu machen, fondern daß es jchon fertig ge- wejen war, bevor er an die Zufammenftellung der hundert Lieder ging. Weshalb er es nicht von Anfang an aufnahm, läßt ſich freilich nicht jagen: vielleiht war es in feinen Kreiſen jchon zu

!) „Der Knieriem bleibet, meiner Treu“ u. ſ. w.

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fehr befannt, vielleicht jpielte auch ein Zufall mit. Es war ſchon 1719 ein Lied vorhanden, welches ein komiſches Wechjel- geipräh zwiſchen einem verliebten Städter und einer Bauers- magd zum Gegenftand hat („Als ich zur Sommerzeit Mich auf dem Land erfreut“). 1733 fommt es parodirt vor unter dem Titel „Bon dem gedultigen Job und feinem böſen Weib“ („Ach höchiter Gott und Herr, Was mill ich weiters mehr”)"). Der erite Theil der Melodie „Jagen verbleibet das ſchönſte Vergnügen“ ift von jener älteren Dielodie entlehnt; für den zweiten Theil war dieje nicht zu brauchen, er mag zu dem Gedichte neu componirt worden fein. Merkwürdiger Weiſe ftimmt noch ein anderes Jagdlied („Nun ift der feite Schluß, Dabei es bleiben muß”) in den vier Anfangstatten mit der Melodie von 1719 und 1733 überein?). Ob dasjelbe älter oder jünger ift, ald das der Sin- genden Mufe, läßt fich jedoch zur Zeit nicht ermitteln). In liegenden Blättern des 18. Jahrhunderts verbreitete ſich das Jagdlied des Sperontes*), und andere Lieder, die zu diejer Me— lodie geſungen werden fünnen, fommen ebenfalls vor?).

1) „Musicalische Rüst-Kammer, auff der Harffe aus allerhand jchönen und [uftigen Arien, Menuetten, Sarabanden, Giqven und Märschen be- ftehend, aus allen Thonen. 1719.* (Handſchrift der Leipziger Stadtbiblio- thet) S. 54 f. Obren-vergnügendes und Gemüth-ergögendes Tafel-Con- fect. Andere Tradt. Augsburg, 1733. Nr. 5. Abgedrudt bei E. D. Lind— ner, Gefhichte des deutichen Liedes im XVII. Jahrhundert. Leipzig, Breitfopf und Härtel. 1871. Notenbeilagen, S. 33.

2) Ditfurth, Deutihe Volks- und Befellfchaftslieder des 17. und 18. Jahrhunderts. Nördlingen, E- 9. Beckſche Buchhandlung. 1872. ©. 207,

8) Sperontes’ Lied ift abgedrudt bei E. F. Beder, Lieder und Weijen vergangener Jahrhunderte. 2. Aufl. Leipzig, 1853. Erſte Abtheilung, ©. 62; aber mit ftarfen eigenmäcdtigen Veränderungen.

+) „Acht ſchöne, noch ganz neue weltliche Lieder.“ Meufebahihe Samm- (ung Y. d. 7906. In diefem Eremplare ift gerade das Jagdlied heraus» geriffen, nur der Titel gibt an, daß es ſich darin befunden hat.

5) Von 3. F. Zernig in den Beluftigungen des Verftandes und Witzes. Band IV. (1743) S. 9. („Die Einſamkeit“; f. deſſen Verſuch in Mora- lichen und Schäfer- Gedichten. 1748. &. 125 f.); von J. M. Dreyer, Gedichte 1771, S. 191 („Lob der Freyheit“).

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Noh einmal dasjelbe Verhältniß zwifchen Früher und Später wird bei Nr. 46 und 76 herrichen. Bei letzterer wird auf die Melodie der eriteren zurückverwieſen. Aber augenſchein— ih wurde Nr. 76, ein Hirten-Tanzlied („Liebften Schäfer, fommt herbey“), urfprünglic zu der Melodie gedichtet, dann aber aus irgend einem Grunde in die zweite Reihe gejtellt und eine neue, viel weniger pafjende Parodie in einem Gedichte ge ichaffen, das die Sehnſucht nach der abweſenden Geliebten aus- drüdt („Ach! wenn fommt der frohe Tag“).

Mit dem Datum „1. Februar 1740" ift in das Liederbuch der Frau von Holleben Nr. 81 des erften Theils der Singenden Muſe eingetragen („Table nicht, geliebter Engel, Daß id dir gewogen bin”). Sperontes weifl wegen der Melodie auf Nr. 64 zurüd („Wenn mich Herz und Augen haffen”). Auch dies Lied fteht bei Frau von Holleben, und ift als Nr. 109 vor 1748 eingetragen. Ueberſchrieben ift es aber hier mit Polonoise, während die Melodie bei Sperontes ein Air im Viervierteltact it. Es wird alfo eine andre Mufif zu den Terten gegeben haben, oder umgekehrt: die Terte werden urfprünglich andern Melodien untergelegt gemwejen fein. Zu Lied Nr. 81 hat vielleicht noch eine „Antwort“ der angefungenen Geliebten gehört. Denn in der Liederhandjchrift der Frau von Holleben findet ſich hinter ihm nod folgendes: „Holde Strahlen jchönfter Augen Nehmet nur mein Here bin, Laßt die Flammen bey euch taugen, Weil ich euch ergeben bin. Wollt mich gleich der Himmel neiden Und mir dräuen Dual und Bein, Will ich lieber bey euch leiden, Als bei andern glücklich ſeyn.“

Ein Johann Andreas Freytag in Wernigerode legte fich 1759 ein Arien-Buch ohne Melodien an’). Auf ©. 22 ſteht Nr. 23 des eriten Theiles der Singenden Mufe („Liebfte Frey-

') Arien Bud | vor | Johann Andreas Freytag | in Curia singnatum | Wernigerod, | 1759.” 4. Befand fi vor 10 Jahren im Befig des Herrn Dr. Pröhle in Berlin.

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beit jahre hin! Weil ich jo ſchön gefangen bin“). Dazu als Ueberſchrift: Polonoise, während bei Sperontes die Mufif ein Menuett ift. Alfo aud) hier die Andeutung einer andern Melodie, zu welcher das Lied gefungen fein dürfte, ehe e3 in der Singenden Muſe Verwendung fand.

Genug der Beijpiele, die ſich noch vermehren ließen; jedes einzelne von ihnen ergibt zwar nichts Sicheres, aber fie jtügen fich gegenfeitig. Die Sade, um die es fich handelt, ijt endlich auch nicht von großer Wichtigkeit. Erheblicher dürfte fein, daß wir durd die Singende Mufe Gewißheit erhalten, daß zu Spe- rontes Zeit einige bemerfenswerthe Kompofitionen zu Gedichten Günthers eriftirten, die er jih in feiner Weife zu Nutze ge- macht hat.

Unter dem zu Mufitftüd Ar. 37 gefügten Gedichte „Brüder, ftellt das Jauchzen ein, Weil die Faften wehret“ bemerkt Speron: tes jelbit: „Diejes ift eine Parodie auf die in Günthers Ge- dichten vorfommende und befannte Ode: Brüder, laßt ung luftig jeyn.“ Nachdem wir erfahren haben, was der Begriff Parodie in diefer Periode der Muſikgeſchichte bedeutet, ergibt fi, daß Melodie 37 dem Gedichte Günthers zugehört haben muß, das Sperontes auch unter Nr. 91 hat abdruden laffen. Sie bewegt ſich im Rhythmus der Sarabande und ift mwenigjtens in ihrem erjten Theile vortrefflid zu nennen. Es iſt durch neue Forſchungen wahr: Icheinlich gemacht worden, daß das Studentenlied „Gaudeamus igitur“ dem Liede Günthers nachgebildet worden ift!). Daß man zu bdiefer Nachbildung eine neue Melodie erfunden hätte, ift unwahrjcheinlich ; die Melodie bei Sperontes wird alfo eben diejenige fein, nach welcher man das lateiniſche Studentenlied anfänglich jang. Die noch heute allgemein üblihe Melodie ift eine andere. Ludwig Erf und Hoffmann von Fallersleben hielten

1) S. 4. Kopp in den „Burfhenichaftlihen Blättern“ von 1891 und meine Notiz in der Vierteljahrsichr. f. Muſikw. Jahrg. 1891, ©. 680 f., auch War Friedländer, Commersbud. Leipzig, Peters. ©. 155.

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dieſe für „jehr alt“!), was fiher ein Irrtum. Sie fann faum früher als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts ent- ftanden fein, und der auch ihr eigene Sarabanden-Rhythmus weiſt darauf hin, daß fie mit der Melodie der Singenden Mufe nicht außer Zufammenhang fteht. Dieje lautet alfo:

Aber vielleiht gewährt die Singende Muſe auch für die neuere Melodie eine Fleine Ausbeute. Nr. 97 ift Günthers Tabaks:Lied „Nahrung edler Geifter“. Es joll nad) der Melodie von Nr. 28 gejungen werden „Weg ihr eitlen Grillen“. Aber nad) der uns nun jchon befannten Manier des Sperontes zu fchließen, wird auch hier die Melodie urjprünglich dem Liede Günthers zugebören. Dafür jpricht außerdem, daß in der vierten Auflage des eriten Theils das Lied „Weg ihr eitlen Grillen“ mit einer andern Melodie ausaeftattet ift, die den Neiz größerer Neuheit für fih haben mochte. In der Melodie Nr. 28 fommt, obwohl fie in D-dur fteht, jchon auf dem vierten Viertel des eriten Taktes ein c vor, welches am Anfang des zweiten Theiles wiederfehrt. Rührt dies c wirklich vom Erfinder der Melodie

I) Erf, Neue Sammlung deutſcher Volkslieder. Drittes Heft. Berlin, bei Bechtold und Hartje. 1842. ©. 34. Hoffmann von Frallersleben, Gaudeamus igitur. Cine Studie. Halle, Schwetichte’iher Berlag. 1872. ©. 3.

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her, ſo darf man feſt behaupten, daß es nicht geſungen worden iſt, ſobald die Melodie allgemeinere Verbreitung, namentlich als Chorgeſang, gefunden hatte. Das Volk worunter ich hier alle verſtehe, die im Geſang hauptſächlich dem Gehör folgen wird ſolche Subjectivismen des Melodieerfinders unzweifelhaft jedesmal corrigiren, und in dieſem Falle ganz ſicher das < ſo— fort durch d erſetzt haben. Nun ergibt ſich folgende Melodie:

Etwas Urwüchſiges wird diefer Melodie niemand abjprechen ; fie gehört zu denjenigen, die fich bei jeder neuen Strophe aus: giebiger zu erweiſen jcheinen. Der Anfang aber ftimmt wenn auch nicht rhythmiſch, jo doch melodifch mit dem Anfang der neueren Gaudeamus-Melodie überein. Das Lied Dedans mon petit r&duit bat ung gezeigt, wie eine Melodie von einer älteren ausgehen und fich doch zu etwas ganz anderem entwideln fann. Günthers Knafter-Lied war unter den Studenten des vorigen Jahrhunderts ebenfo beliebt, wie fein „Brüder, laßt ung luftig jein“. Wie, wenn die neuere Gaudeamus-Melodie aus einer Verſchmelzung jener beiden älteren Melodien hervorgegangen wäre?

Unter den übrigen Gedichten Günthers, die in die Singende Muje aufgenommen find, dürften fi nod drei finden, deren Driginal-Melodien Sperontes mit neuen Terten ausgeftattet hat. Im allgemeinen laſſen jih Günthers einfach gebaute Strophen zweitheiligen Tanzmelodien leicht unterlegen: es fonnte alſo dem Sperontes, wenn er Günthers Lieder gejungen

U

wiffen wollte, nicht ſchwer fallen, aus dem von ihm gefammelten muſikaliſchen Material die geeigneten Stüde herauszufinden. So ift 3. B. Melodie Nr. 2 eine folche, nach der viele Güntherfche Lieder gejungen werden fünnen. Aber in drei Fällen tritt ein fo entichiedener Widerftreit zwifchen dem Charakter der Melodie und dem Inhalt des Gedicht ein, daß an eine urfprünglide Zu- fammengebörigfeit nicht gedadht werden kann. Dieſer Wider: ftreit it bemerkbar bei Nr. 92 („Gedend an mich und jey zu- frieden“) und Wr. 100 („Befördert, ihr gelinden Saiten“), zu denen Nr. 58 und Nr. 17 jedenfalls die Driginalmelodien bieten. Dann mit größter Evidenz bei Nr. 93 („Alles eilt zum Untergange, Nur mein hart Verhängniß nicht”). Zu diefem Gedichte gehört urjprünglih die Melodie Nr. 31. Das trübe Moll, die Flagenden Wendungen des Anfangs, im zweiten Theile jogar die Nahahmung des Schluchzens (des „verzweifelnden Meinens“) alles dies verräth die urjprünglide Beitimmung allzu deutlich, während es auf die Parodie des Sperontes ganz und gar nicht paßt. Günthers „Alles eilt zum Untergange“ jpielt in der Lieblitteratur des 18. Jahrhunderts eine hervorragende Role. Es iſt vielfah nadgeahmt worden; von Sperontes jelbft unter Nr. 47 des erften Theils. Eine andere Nachahmung beginnt: „Alles fommt zu feinem Ende, Aber mein Verlangen nicht, Denn wo ih mich nur hinwende, Seh ih Schatten und fein Licht”). Und ein Studenten-Lied, beim Abjchied von der Univerfität zu fingen: „Alles eilt zu feinem Ende, So mie unfre Burfchenzeit“ ?). Eine Compofition des Urbildes, viel: leicht deſſen erfte, fenmen zu lernen, hat daher noch feinen be: fondern Werth.

Ob Sperontes® nicht auch franzöfifche Melodien parobdirt babe, ift eine nahegelegte Frage. Es findet fi davon in der

1) Fliegended Blatt auf der Bibliothef zu Weimar. Auch in der

Meufebahihen Sammlung Y. d. 7906. 2) Robert Keil und Richard Keil, Deutihe Studentenlieder des 17.

und 18. Jahrhunderts. Lahr, Schauenburg. ©. 89.

Eingenden Mufe allerdings etwas, doc weniger als man er- warten jollte, oder ich bin nicht an die Hauptquellen gelangt. Vorab darf ich ein für allemal bemerken, daß eine völlige genaue Uebereinjtimmung nicht immer erwartet werden darf. Wenn jchon bei der Fortpflanzung des Volfsliedes Veränderungen, gleichſam unmwillfürlich, ſich vollziehen, wie viel mehr kann dies bei Melodien des Haus: und Geſellſchaftsgeſanges geichehen, welcher der Kunft- mufif angehört und daher auch abſichtlichen Beränderungen und Umformungen durch mehr oder weniger berufene Künitlerhände viel unmittelbarer ausgejegt if. Den Scidjalen der Volfs- melodien waren die Eleinen Gebilde, um die es ſich bei Sperontes handelt und die jedenfalls häufig nur nad dem Gehör nad: gejpielt oder nachgeſungen und zu guter legt wohl auch noch von ungeübter Hand aufgezeichnet worden find, außerdem unter: mworfen.

Ach jege eine kleine franzöſiſche Melodie ber, dem Liede „Lu croyois en aimant Colette“ zugehörig und von den Franzojen jelbjt vielfach parodirt:

jeejee

Ich citire ſie in obiger Form, damit die Uebereinſtimmung mit dem folgenden Muſikſtücke recht anſchaulich wird, und habe die Ornamente weggelaſſen, mit denen die Quelle fie ausjtattet'). Gewöhnlih ift fie im Dreivierteltaft notirt und zeigt hier und dort Fleine Varianten ?).

!) De 2’Attaignant, Poesies. Tome troisitme. ©. 13 f. 2) So bei De L’Attaianant, Tome second. S. 223 f. Tribut de la Toillette. &. 514. La cl&e du Caveau, Nr. 574.

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In einer ſchon angeführten deutſchen Sammlung von Geſangſtücken muß im Jahre 1737 die Melodie es ſich gefallen laſſen, zu einem hausbackenen Gedicht „Von guten und falſchen Freunden“ abgeſungen zu werden ).

Die Form, welche die Melodie in der deutfchen Sammlung angenommen hat, ift recht geeignet, dasjenige zu erläutern, was ih über Umbildungen oben im allgemeinen ſagte. Was bier fteht, kann nicht auf eine gedrudte Vorlage oder correcte Ab- ſchrift zurückgehen. Denn die Anmuth des Originals dur eine jo lahme Veränderung abfichtlih zu verunzieren, wie es im dritten Takt gefchehen ift, würde doch niemandem einfallen. Die Meberlieferung wird alfo vor ſich gegangen fein durch jemanden, der die Melodie aus der Erinnerung auffchrieb und dem beim dritten Takte jein Gedächtniß verſagte. Willtürliche Nenderungen mögen binzugefommen fein, und wir erfahren auch hier wieder, wie die Abweichungen gegen das Ende der Melodie hin ftärfer zu werden pflegen. Die ſtärkſte derjelben aber befteht darin, daß vor dem viertlegten Takte vier ganz neue Tafte bineincomponirt find, die ih, um die urfprüngliche Identität der Melodien zu veranſchaulichen, in dem Notenbeifpiel einft- mweilen unterdrüdt habe. Ich trage fie nad:

ein Mufter nichtsfagender Melodiebildung und mufifalifcher Flickſchuſterei. Aber der Berfaffer braudte Mufif für adt Zeilen, darum werden auch die eriten vier Takte wiederholt.

!) Ohren -vergnügendes und Gemüth-ergögendes Tafel-Confect. Dritte Tracht. Augsburg, 1737 Nr.3. S. Lindner a. a. D., Notenbeilage. S. 72.

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Was jo zu Stande gebradt ijt, hat freilich von dem lieblichen Reiz des Originals wenig mehr an fi, beanſprucht aber doch das Recht auf allernädhite Berwandtichaft.

Mir find nun vorbereitet, die Melodie der Singenden Mufe (I, 41) zu vernehmen, die ich behufs leichterer Vergleihung aus B-dur nah G-dur transponire:

Sperontes nennt fie Menuet, und das fie ihm wirflid als Spielftüd zugelommen war, fieht man fomwohl aus der hohen Lage, als auch aus dem Fehlen der Bezifferung in der eriten Auflage. Lob verdient er wegen des Tertes („Spielt ihr Winde, Spielt gelinde Gruß und Kuß nah hin!”), eines der hübjcheften und angemeffenften, die er gemacht hat. Der erite Theil der Melodie iſt im Ganzen gut überliefert, auch Takt 5, der dem eriten Takte entfprechen fol, wird man ſich gefallen lafjen, obgleich die Bewegung etwas ind Stoden geräth; die figurirtere Haltung paßt für das Glavier und zum Terte. Dagegen hat den Ueber— lieferer beim zweiten Theile fein Gedächtniß ganz im Stich gelaſſen. Die Hägliche Berlegenheitsphraje der legten vier Takte ift zwar in der vierten Auflage etwas herausgepugt, dem ganzen Theile aber damit doch nicht aufgeholfen.

Eine franzöfifhe Menuett: Melodie ift jedenfalls auch Nr. 13 be3 erjten Theils („Hoffe nur, hoffe befümmertes Herke”). Ich fann ihre Duelle nicht aufweifen. Aber die Manier, den Anfangston einer Periode mehrere Male in Vierteln zu wieder- holen und dann mit Adhteln in andere Töne weiter zu gehen, ift ein Typus der franzöfifchen Menuett-Compofition jener Zeit.

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E3 müßte ſich ein Deutfcher ſchon jehr gut auf die franzöftiche Manier verjtanden haben, um die Melodie Nr. 13 maden zu können. Auch ſonſt fommen noch einige Stüde vor, die fran- zöſiſchen Charakter tragen. Ich bezeichne als ſolche I, 54, IV, 15 und I, 29, welch legteres eine Mehnlichkeit hat mit ber als „befannt“ bezeichneten Melodie zum Liede der Frau von Ziegler „Du weltgepriefenes Geſchlechte“ .

Am zweiten Theile der Singenden Muſe find drei Stüde enthalten, welche Sperontes Note für Note aus dem eriten Theile der Gräfefhen Oden (1737) berübergenommen bat. Gräfe's abfällige Kritik feines Werkes hat ihn alfo nicht gegen diefen eingenommen, er hat ſich jogar lauter eigne Compofitionen Gräfe's ausgefucht, und zwar jolche, die zu den bejten gehören. Ueberall aber hat er natürlich neue Terte zu der Muſik gemacht. Nr. 5 „Ermuntre dich, betrübter Geift” ift in der Gräfeichen Sammlung Nr. 9, Nr. 32 „Ib bin vergnügt mit meinem Stande“ ift dort Nr. 27, und Nr. 46 „Ahr Grillen, laßt mid ungebrüht“ jteht bei Gräfe als Nr. 14. Außerdem kommen noch einzelne Reminifcenzen an Melodien der Gräfeſchen Samm- lung vor, die aber auch zufällig fein können.

Uebereinftimmungen zwifchen den Anfangsperioden gemiljer Melodien der Singenden Muſe und denjenigen anderwärts vor: kommender Stüde ließen fi noch mehrere nachweiſen. In jo glüdliher Lage aber, wie bei der oben mitgetheilten franzöſiſchen Melodie Tu croyois en aimant Colette, bei der die deutſchen Umbildungen einleuchtend vorgelegt werden fonnten, befinde id) mid nicht zum zweiten Male, und kann einen genetischen Zufammenhang nur muthmaßen. Da Sperontes aus Schlejien

1) Die Melodie I, 63 ftimmt in ihrem Anfang überein mit dem fünften der Freymäurer-Lieder, welche Ludwig Friedrich Lenz in Altenburg 1745 vollendete und 1746 druden ließ. Da dies fünfte Lieb nur eine Nach— dichtung des franzöliichen „Fröres et Compagnons de la Magonnerie“ bar- ftellt, jo könnte angenommen werden, auch die Melodie dazu ſei franzöſiſch. Indeſſen ein in meinem Beſitz befindliches, um 1743 gedrudtes Heft fran- zöfifher und deuticher Freimaurerlieder mit Melodien beweift, dab die jenem Liede zugehörige Weife eine ganz andre war.

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ſtammte, jo kannte er jedenfalls viele der dort gefungenen beliebten Melodien. Es mag aljo fein Zufall fein, daß jein Lied „Nimm die Mufhe Bon der Guſche“ (I, 52) anfänglid” mit einer Rolonaifen- Melodie übereinfommt, die noch jet in Schlefien volfsthümlih ift!). Er fonnte fie in feiner Jugend gehört und ipäter theilweife vergeffen haben, hat fich dann vielleiht den ab- weichenden zweiten Theil, der dilettantifch genug ausfieht, nad) eigenem Gutdünfen hinzugefügt. Die Dialectform „Guſche“ fönnte andeuten, daß feine Phantaſie fich bei Abfaffung des Stüds in beimathlichen volfsmäßigen Anſchauungen und Stimmungen bemegte. IV, 25 bat gleihen Anfang mit der Mazurfa aus Bachs Bauerncantate „Funfzig Thaler baares Geld“, die auch dort feine Driginalmelodie jein wird. Ein unbezweifelbarer innerer Zuſammenhang beiteht zwiſchen I*, 46 „Kommft du mir aus meinen Augen, Kommſt du mir auch aus dem Sinn“ und dem neueren Liede „Wenn die Bettelleute tanzen, Wack'lt der Kober und der Ranzen?), denn die fehr charafteriftifche Melodie der eriten beiden Zeilen ift bier und dort ganz diejelbe. E3 hat aber mehr den Anjchein, als fei le&tere aus erfterer ent- ftanden, als daß beide auf eine ältere dritte zurüdzuführen wären.

Daß ein Inftrumentalftüd zur Benugung vorlag, verräth bei II, 17 der Zujag „Trio“. Nahe verwandt ijt der Melodie diefes „Trio“ die Weife, welche Bellinde in dem Schäferjpiel „Das Strumpfband“ anjtimmt. Eine feine Claviercompofition des vorigen Jahrhunderts hat in ihrem erſten Theil Folgende Oberftimme:

1) Hoffmann von Fallerdleben und Ernft Richter, Schleſiſche Volkslieder mit Melodien. Leipzig, Breitlopf und Härtel. 1842. Nr. 200.

2) Fink, Mufikalifcher Hausfhag Nr. 158.

2) „Rurge Musicalische Stüde auf dem Claviere“. Clavierbud von @. 9. Schulge auf der Königl. Bibliothek zu Berlin. Blatt 9 f.

270

Abgefehen von einigen zwijchengefchobenen Phraſen, die wenig bedeuten, beiteht das erſte Mufifftüd des zweiten Theil der GSingenden Mufe nur aus diefem Material. Wäre von einem Volkslied die Rede, fo würde man dennod) jeden Zufammenhang leugnen. Aber wenn jener Augsburger fih aus der franzöfiichen Chanſon fein Lied „Von guten und falfchen Freunden“ zurecht machen fonnte, jo war e3 für jemanden, der das Clavierftüdchen liebte, nicht viel fchwieriger, aus deſſen Hauptgedanken ſich eine Form zu fneten, die zur Aufnahme einer achtzeiligen Strophe geräumig war. Sch ftelle diefen Fall ans Ende des Abſchnitts, um abjchließend noch einmal darauf hinzuweiſen, auf welchem Wege mande Mufitftüde der Singenden Mufe entitanden fein werden, und die Behauptung des Eingangs zu rechtfertigen, da wir nad der Driginalgeftalt von vielen unter ihnen wohl immer vergeblich fuchen werben.

vu.

Wo es die Gelegenheit mit fi brachte, bin ich dem Gange nachgefolgt, den einige Lieder ded Sperontes durch das 18. Jahr: hundert genommen haben. Es wird aber nöthig jein, ihrer Aus- breitung nod) einen befonderen Abjchnitt zu widmen. Die Be deutung, die fie für den Hausgefang, zum Theil auch für den Vollsgejang und jchließlich felbit für den Gefang auf der Bühne gewannen, erfordert diejes durchaus. Bereits Gejagtes werde id) nicht wiederholen.

Zeugen der Verbreitung find theils Fliegende Blätter, die immer nur die Terte allein enthalten, theil8 handjchriftliche Arienfammlungen mit und ohne Mufif, theils endlich fpätere, bis in unjere Zeit hineinreichende, gebrudte Sammlungen, welche die Lieder des Sperontes aufgenommen haben, ohne zu wifjen, daß fie von ihm ftammen. Manche der Lieder haben wieder Umdichtungen erfahren, oder es haben fih Xieder ähnlichen Charakters an fie angefnüpft Erjcheinungen, die der Ver: breitung beliebter Lieder jtet$ zu folgen pflegen.

ei

So bat I, 8 ein Da capo: „Ihr Grillen weicht! ihr Sorgen flieht! Wer weiß, wo noch mein Glüde blüht”. Hieran ſchließt fih ein anderes Gedicht, das die Zeilen „Ihr aber, ftrenge Sorgen, flieht, Wer weiß, wo noch mein Glüde blüht“ als Refrain zeigt. Handichriftlih fommt es 1759 vor, dreimal finde ich e8 in Fliegenden Blättern, einmal in einer jener Lieder- fammlungen, wie fie hauptſächlich Wanderverfäufer dem niederen Volke zu verhandeln pflegten!). Sperontes’ Lieder „Angenehmer Bund“ (I, 24), „Mein Dösgen ift mein Hauptvergnügen“ (II, 24), „Angenehmer grüner Wald“ (Il, 44) finden ſich in denjelben Quellen. Das Lievderbuh der Frau von Holleben enthält außer den früher jchon angeführten aus der Singenden Muſe noch das Lied: „Falſche Seele, wilft du mid Nun länger nicht mehr um dich jehn und leiden“ (I, 32; dort Nr. 72 „autre chanson en Polonoise*). I, 39: „Liebite Wälder, Holde Felder, Edler Sinnen Luft-Revier“ fanden Büſching und von der Hagen auf einem liegenden Blatte; nun jteht es als „Volkslied' in ihrer Sammlung und jogar als „Sägerlied“, was es doch gar nicht ijt?).

Ein Liebhaber von Dden mit Clavier, der in den Beſitz des eriten Theil® der Singenden Muje gefommen war, legte fih dazu einen jauberen handichriftlihen Anhang an. In ihn trug er zufammen, was er von beliebten Liedern erhaſcht haben mag: einige Compofitionen zu Neumeijterjchen Oden, Lieder aus der Gräfefjhen Sammlung, Lieder von Telemann, Thielo und Anderen (alles anonym), dazwijchen aud) drei Lieder von Sperontes

1) Freytag, Bandichriftliches Arien- Bud. S. 140 ff. Fliegende Blätter auf den Bibliothelen zu Weimar und Berlin, darunter eins aus dem Anfange des 19. Jahrhunderts. Ganz neu zufammengetragene Liebes⸗Roſe, Nr. 55.

2) Büfhing und von der Hagen, Sammlung deutfcher Volfälieder mit einem Anhange Flammländifcher und Franzöfiicher, nebft Melodien. Berlin 1807. Nr. 62. Darnach, mit der pafienderen Ueberſchrift „Waldluft” auch bei Mittler, Deutiche Volkslieder. Frankfurt a. M., 8. Th. Bölder 1865. Nr. 1470.

272

(III, 10; 22; 29)?.) Im Jahre 1778 jtellte fih ein Muſik freund mit möglichitem Fleiße eine „Auserlefene Sammlung Geiſtlicher und Moralifcher leichter Oden und Arien fürs Elavier“ zufammen?). Die „moralifche” Abtheilung enthält fünfzehn Lieder der Singenden Muſe?). Manchmal find die Bäffe verändert, einmal auch die Melodie. Bei III, 50 „Vergnüget euch an eitlen Dingen“, eigentlih einem felbftändigen Clavierftüd, in dem die rechte Hand häufig über die linke jchlagen muß, ift die Clavierpartie ganz bedeutend vereinfacht und nun erft zur wirf- lihen Begleitung geworden. Alles das find Anzeichen, daß die Stüde ſchon durch manche Hand gegangen fein werden, ehe fie in dieſe Sammlung famen. Ein anderes der Lieder: „Ahr janfften Winde“ (1, 15) bat einen neuen Tert erhalten („hr beiten Stunden Ihr jeyd gefunden”). Ein dritter Mufiffreund hat fih die Mühe gegeben, jämmtliche Muſikſtücke der vierten Auflage des eriten Theils auf die Laute zu übertragen und bie Uebertragung auf feinem durchſchoſſenen Eremplar in forgfältigiter Ausführung neben die gejtochenen Mufikjtüde zu fchreiben ®.

In einigen wenigen Fällen bat fich der Webergang ins Volkslied wirklich vollzogen, und diefen Proceß beobachten zu fönnen ift jehr lehrreih. Sehen wir das erjte Lied des eriten Theil® an:

Ein ed - les Hertz ift ftets ver -gnügt Und fieht in ſtil⸗ler

Ruh, So wie es nur das Scid-fal fünt, Ge-Taf-fen im - mer

1) Befindlich auf der Königl. Bibliothek zu Berlin.

2) Handſchrift in Mein Querquart, in meinem Befit.

s) II, 4; I, 50; II, 2; III, 9; III, 50; II, 34: 1, 15; III, 34; III, 36; III, 39; III, 46; III, 37; III, 88; III, 14; II, 38.

+) Ebenfall® in meinem Beſitz.

273

1 zu. Nichts min-dert ſei ⸗/ nen Muth: So wohl bey Gluth als

messe

Fluth, Bey Re-gen wie bey Sonnenidein Kan es vergnüget feyn.

Meder in Tert noch Melodie hat es etwas Bollsmäßiges. Aber da Sperontes in Studentenfreijen lebte, wird e8 in dieſen beliebt geworden fein. Studentenlieder muß man zu den Volks— liedern rechnen. Denn die muſikaliſch Gebildeten find und waren unter der afademifchen Jugend ftet3 in der Minderzahl, Luft und Gelegenheit zum Singen aber allen gemeinfam. Natur: gemäß gehen daher mit den Studentenliedern, jobald jie in allgemeine Aufnahme kommen, diejelben Veränderungen vor, wie mit anderen Bolfsliedern : die individuellen Bejonderheiten werden abgeichliffen, und alles wird auf den einfadhiten und allgemeingültigiten Ausdrud gebradt. Dies iſt denn auch mit unjerem Xiede geſchehen. Es hat jich in zwei jpäteren Formen erhalten. In der einen iſt der Tert noch der des Speronteg, die Melodie aber hat ihren Ummwandlungsproceß ſchon durch— gemacht. Der Septimenfprung ift überall durd den Duinten- ſprung erjegt, der Aufgefang cabenzirt nicht auf der Domi— nante, jondern der Tonic. Im Abgejange find wie ge meiniglic die Veränderungen am bedeutendften: mit glüdlichem Inſtinct find die Melodieglieder ftufenweije bis zur Octave hinaufgeſteigert). In der zweiten Form ift num auch der moralifirende Tert einer echten, friichen Studentenpoejie ge— wichen ?):

1) Ditfurth, Einhundertundzehn Volks- und Gefelliaftslieder des 16., 17. und 18. Jahrhunderts mit und ohne Singweifen. Stuttgart, Göſchenſche Berlagshandlung. 1875. Nr. 92. Im Tert ein paar falihe Lesarten. Das Gedicht allein auch in „Banz neu zufammengetragene Liebes-Roſe.“ Nr. 6. 2) Ditfurth, Deutiche Volks- und Gefellichaftälieder des 17. und 18. Jahrhunderts. Nördlingen, Bedihe Buchhandlung. 1872. Nr. 188. Philipp Spitta, Muſilgeſchichtliche Auffäge, 18

dd ring. Sie blei-ben fröh-lich reht, Als wie aus Göt-ter G'ſchlecht.

Ei —— | v A-pollos Kunſt, Mirner-vä Wig In ib- nen bat ein Sig. (4 Strophen.)

==

Das Lied darf vortrefflid genannt werden und in jeinem gemüthlichen Schlendergange befonders charakteriſtiſch. Auch die Wiederholung der legten beiden Zeilen ift echt ftudentifh. Damit fein Zweifel bejtehen bleibe, daß der hiſtoriſche Entwidelungs- gang richtig von mir bejchrieben ift, fei noch bemerkt, daß über dem Studentenliede fteht: „Im Ton: Ein edles Herz ijt ſtets vergnügt ꝛc.“ ').

Bei Buſching und von der Hagen?) begegnet man einem Liede, das „Jungfern-Sorge“ überjchrieben ift und jo beginnt: „gabe ech's neh lang geſat, Daß Menſche nah mir frat“. Die Herausgeber entnahmen dieſes Lied nebit Melodie der handſchriftlichen Sammlung Friedrich Nicolai’$, der in dem „feynen kleynen Almanach“ keinen paffenden Pla dafür gefunden zu haben jcheint. Sie vermuthen, es fei ein hennebergifches Volfs- lied, was ich, jomweit fih die Vermuthung auf den Dialect jtügt,

1) Ich geftatte mir die Bemerkung, daß ich bemüht gewefen bin, in die Quellen des verftorbenen Freiherrn von Ditfurth jelbft Einficht zu er- halten. Die Hinterbliebenen wußten aber feine Austunft zu geben, wohin die Handſchriften gerathen jeien, aus welchen er geihöpft hat.

2) A. a. O. Nr. 66.

nicht beurtheilen fann. Wohl aber weiß ich, daß das Gedicht nichts it als eine aus dem ſchleſiſchen Dialect in irgend eine verwandte mitteldeutiche Mundart vorgenommene Webertragung von Sperontes’ Lied I, 66 („Hoah iechs nich lang geſoat“), das im dritten Abſchnitt vollftändig mitgetheilt worden ift. Verräth ſchon diefer Umſtand, daß das Volk von dem Liebe Beſitz ergriffen hatte, jo geht ſolches auch aus der Geftalt der zweiten und dritten Strophe hervor. Hier haben ſich die Gefäge verfchoben: der Schluß der zweiten Strophe muß eigentlih Schluß der dritten fein, und ungefähr auch umgefehrt. Solche Verfchiebungen pflegen nicht ftattzufinden, wenn das Lied fi nach einer ge- drudten oder gejchriebenen Vorlage wiederum durch Drud oder Schrift fortpflanzt. Aber jeder Kenner der Geſchichte des Volksliedes weiß, daß fie jehr häufig ftattfinden, wenn das Gediht auf den Flügeln der Melodie lebendig von Mund zu Mund flattert: über die entitandenen Unebenheiten und Riffe im Gebanfengang hebt ihr Schwung den Sänger und den Hörer unmerklich hinweg. Daß aber unjer Lied ſchon manchen Gau durchſchwebt haben muß, ehe e8 bei Nicolai wieder ein- gefangen wurde, beweilt am Elarften ein Vergleich der Melodien. Sperontes hat fein Gedicht einer Polonaife angepaßt. Um mit den Silben zu reichen, muß der legte Ton, eine halbe Note, in zwei Viertel zerlegt werden, und bei dem ganzen Stüd verliert jih nicht völlig das Gefühl, als trüge jemand einen Rod, der nicht für ihn gemadt ift. ch lege der Melodie den Tert der eriten Strophe unter und jeße fie jo ber:

> _ a 5 Fein. EEE

Hoah iechs nich lang ge » foat: doaß fee Men-fche

noach mier froat. Wahm fooll ichs od im-mer Hoan? Dfeles, ol:

18 *

276

*

= 4 Fe ——

les kriegt ann Moan, Unn iech muß Miet Verdruß Doas bey jun—

ga Targa ſahn unn dor » ba.

In Nicolai’3 Fafjung bemerft man an dem Liede nichts Widerborftigeg mehr, Gediht und Muſik haben ji gut mit einander eingelebt. Die Mufif hat im allgemeinen einen walzer- artigen Charakter angenommen, in den letten vier Takten ſteckt auch etwas franzöfifcher Menuettitil, der Polonaijen-Rhythmus aber iſt fait ganz verſchwunden. Webereinjtimmung der Ton- folge findet nur in den erſten zwei Takten jtatt, von da ab nimmt die jüngere Faſſung einen ganz anderen Berlauf. So wie fie jegt dafteht, ift fie natürlich nicht auf einmal geworden : einer, dem die Polonaijen-Melodie des Sperontes unerträglich unbequem erjchien, wird fie mit feder Hand gründlich verändert haben, andre mögen dann befliffen gewejen jein, die Einzelheiten noch weiter zu biegen und zu glätten, andre mehr unbewußt nah Manier des Bollsgejanges geändert haben. Die einzelnen Phaſen des Vorganges darzujtellen, vermag ich indeſſen nicht und muß mich begnügen, das Endergebniß mitzutheilen.

Ha⸗-be ech's neh lang ge + fat, Daß Men«iche

nad mir frat? Wam ſoll ech's dann em-mer Han? Aieles, al »les

——

freit än Mann, On ech muß, Met Ber-druß, Das Bei gu⸗

U

ten Ta⸗-gen ſiehn on darben.

Im erſten Theile der Singenden Muſe erfreut uns unter Nr. 67 folgende ſchöne Melodie:

—— PER,

Der italieniſche Typus der Melodie iſt unverkennbar. Ich würde ſie als Siciliano bezeichnen, wäre nicht ausdrücklich ein Vivace beigeſchrieben und dadurch mehr der Charakter der Giga angedeutet. Aehnlihe Tongeftalten kommen wohl in Vivaldi's Biolinconcerten vor, und daß vorliegende Melodie urfprünglich als Inſtrumentalſtück gedacht geweſen ift, läßt fih auch aus dem Fehlen der Bezifferung in der eriten Auflage vermuthen. Die erite Strophe des von Speronted untergelegten Gedichtes lautet: „Schöne Kinder lieben, Iſt uns von Natur Schon in das Her gefchrieben, Und die Schöne Spur Erleichtert Müh und Wege; Zeigt die rechten Stege Zum erwünjchten Port Uns immer, immer fort.“ Ein Gegenftüd hierzu („Sagt mir nichts vom Lieben*), nach derjelben Melodie zu fingen, enthält die vierte Auflage des eriten Theild als neue Zugabe unter Nr. 9.

2798

Sch Habe Friedrih Nicolai's „Volkslieder: Sammlung er: mwähnt!). Im eriten, 1777 erichienenen Theile derjelben ftebt als Nr. 13 „Eyn Schwebiſch Lyebes-Lyd“:

_ Dnnyglyd.

Vnndt al i'n-mahl war ge» fom-ma, myt may-n'm flayn Da kam d'r Cupydo ge=-ron=na, ver⸗byn-⸗d'l ver-

RR “—— —— rY —— = Zu = —— ee HL

Bu-berl z' ſchertz, Da dacht ij, waſch fol j nu

band’! mayn Hertz.

——— = Ss:

mache, dy Flam⸗ma Hort ij ſcho krache, Bnndt wann i'n mai Hains

v Bu» berl g’dend, ſchyr al»-le Mienus-ten 'm jhend.

Daß dies die Melodie Wr. 67 aus dem erften Theil ver Singenden Mufe iit, fieht ein Jeder. Nur bat jih, wie jo häufig, am Schluß des Aufgejanges eine andere Cadenz geltend gemadt. In Nicolai’8 Form ericheint das Lied dann wieder bei Büſching und von der Hagen (1807) al3 Nr. 110, endlich (1840) in Kregichmers Deutichen Volfsliedern ala Nr. 303. Ein wirk— liches Volkslied ijt es natürlid) nie gewejen und geworden. Nicolai jelbit bezeichnet die Melodie nur als eine „alte“, nicht als eine Volfsmelodie?); Büſching und von der Hagen find

ı) „Eyn feyner kleyner Almanach Bol fchönerr echterr liblicherr Boldslieder, Iuftigerr Reyen vnndt Megliherr Mordgeichichte” u. |. w. Zwei Jahrgänge, 1777 und 1778. „Berlynn vnndt Stettynn, verlegts Friedrich Nicolai.” kl. 8.

2) Laut der nad Nicolai’3 eigenhändigem Berzeichnifie angefertigten Notiz, welche v. d. Hagen an L. Erf übermittelte; ſ. Erf, Neue Sammlung deuticher Volkslieder. 3. Heft. Berlin, Bechtold und Hartje. 1842. ©. 14 f.

279

weniger vorſichtig“). Gar naiv aber ift es, diefe Melodie für eine ſchwäbiſche auszugeben. Was es mit dem Gebichte auf ſich hat, von deſſen beiden Strophen oben nur die erfte mitgetheilt worden ift, weiß ich nit. So wie es bafteht, ift es nicht voll verftändlich, jcheint vielmehr eine beftimmte Situation zur Vor— ausjegung zu haben. Ich möchte glauben, es jei in einer Volks— fomödie gejungen worden, und der Lejer wird diefe Bermuthung nicht ablehnen, wenn er erfahren wird, wie reichlich die Beitand- theile der Singenden Mufe gerade in das ſüddeutſche Volks— fchaufpiel eingegangen find. Recht wohl möglich aber wäre es, daß fi aus diefer Melodie eine andere, noch heute viel ge: fungene herausgebildet hätte, welche man wohl ala Volksmelodie bezeichnen kann. Nicolai jelbit bietet fie ung dar (I, Nr. 11):

5 SE

Die vier mittleren Takte wären überfprungen und die eriten vier Takte unmieberholt geblieben Erjcheinungen, die bei ſolchen Ummwandlungsprocefjen nicht ſeltener find, als das Einjhieben neuer Melodiegliever und das Wiederholen bereits vorhandener. Daß zum mindeften der Anfang eine bedeutende Hehnlichkeit zeigt troß des ausgemerzten Oftavenjchrittes, wirb man wohl zugeben. Nicolai bezeichnet die Melodie als „alt“, wie er bei dem „Schwebiſch Lyebes-Lyd“ ebenfalls thut. Eine beftimmte Periode der Mufifgefchichte deutet er damit nicht an, und daß beide Melodien aus dem achtzehnten Jahrhundert ftammen, fieht man fo wie fo. Die fleinere dürfte ſich immerhin jchon vor 1750 aus der größeren entwidelt haben. Daß das Jäger— lied, welches Nicolai ihren Tönen unterlegt, nicht urfprünglich

1) A. a. D. ©. 417 (unter Rr. 110).

230

zu ihr gehört haben fann, iſt jchon von anderer Seite bemerft worden!). Doch glaube ih, daß die Bewegung der Melodie urfprünglic eine lebhaftere war, als fie uns jet gewohnt ge- worden iſt. Seit 1810 fang man zu ihr das wehmüthige Lied „Zu Coblenz auf der Brüden, Da lag ein tiefer Schnee“ ?). Und jeit 1820 bis heute jogar das noch trüber geftimmte „ch hab’ die Nacht geträumet Wohl einen fchweren Traum?). Natur- gemäß verlangjamte fi” damit das Tempo der Melodie, auch bildeten fih dem melancholiſchen Charakter entſprechend noch einige Nenderungen der Melodie jelber heraus.

Für die dramatifhe Muſik ift die Singende Muje des Sperontes dadurch bedeutungsvoll geworden, daß nicht wenige Lieder derjelben in dem deutjchen Volks-Luſtſpiel des 18. Jahr— hundert Verwendung gefunden haben, wie ich dies oben jchon andeutete. Inwieweit die Volkspoſſe mit Geſang eine Vorftufe zu der deutjchen, etwa jeit 1750 erblühenden Oper gewejen iſt, inwieweit fie auch neben diefer als ein lebensfräftiger Seiten- Ihößling gedieh und gelegentlih dem Singfpiel höherer Gattung jtügend und fördernd ſich genaht hat, das find gejchichtliche BVerhältniffe, die ihrer Klarlegung noch harren. Hier genüge es, zu betonen, daß die Volkskomödie mit Gefang jene Beziehungen zur deutjchen Oper überhaupt gehabt hat. Es ift mir allerdings nicht möglich, auch nur annähernd den Umfang der Verbreitung darzulegen, die auf diefem Wege die Lieder der Singenden Muſe erfubren. Ich glaube auch faum, daß dies Ziel überhaupt noch erreicht werden fann, denn die Mehrzahl der Volksſtücke it verloren gegangen, oder, weil ex tempore gejpielt, niemals volljtändig aufgefchrieben worden. Wenn jedodh die Aufmerf:

——

1) Erk, Deutſcher Liederhort. Berlin, Enslin. 1856. S. 377 ff.

2) Vier und zwanzig Alte deutſche Lieder aus dem Wunderhorn. Heidelberg 1810, bey Mohr und Zimmer. Nr. 2.

3) Erf, Neue Sammlung deutſcher Volkslieder. 1. Heft. Berlin, Bed- told und Hartje. 1841. Nr. 5.

jamfeit einmal auf den Gegenftand gerichtet worden iſt, fo werden mit der Zeit wohl noch reichlichere Nachweife zu er- bringen fein. Ih muß mich hier auf eine Stätte befchränfen, auf die Wiener Volksbühne. Die Stätte ift freilich hervor- jpringend genug. Wenn jene Leipziger Lieder ſogar in Wien, das auch in jener Zeit feinen ganz eigenen Kunftcharafter bejaß, dermaßen beliebt waren, daß fie mit bejonderem Effect ala Vaudevilles von der Bühne herab gefungen werden fonnten, fo darf man wohl jchließen, daß fie Schon Damals nur noch wenigen Gegenden Deutjchlands fremd geblieben waren. Und andrer- feit8 darf man jchließen, daß, wenn erſt einmal die Komödianten fih ihrer bemächtigt hatten, dieſe fie auf ihren Wanderungen durch Deutſchland auch überall dorthin trugen, wo man die Eingende Mufe bisher noch nicht gekannt hatte.

Der Wiener Komiker Joſeph Kurz (1717 1784), der unter dem Namen Bernardon eine befondere Spielart des wieneriichen Hanswurſt für ſich geichaffen hatte, war ſehr ergiebtg im Erfinden von luftigen Volksftüden, in denen er die Hauptperjon zu jpielen pflegte. Won den in einem Theil diejer Komödien und Burlesken gefungenen Liedern, Duetten, Terzetten, Chören und Recitativen legte er eine handſchriftliche Sammlung an, die fich erhalten hat’). Unter den Gejängen ſtammen gegen zwanzig aus der Singenden Mufe. Sie find zum Theil mit jener Willfür verändert, die man ſich dem poetifch:mufikalifchen Gemeingut gegenüber zu gejtatten pflegt, theilweije aber jtimmen fie fajt genau mit dem Driginal überein. In der „Bourlesque,

!) Teutsche Arien Welche auf dem Kayjerlich-privilegirt Wiennerichen Theatro in unterfchiedlich producirten Comödien, deren Titul hier jedesmahl beygerudet, gefungen worden”. Auf der k. k. Hofbibliothel zu Wien. Eine Iplendid gefertigte Abichrift in vier Quartbänden befigt die Großherzogliche Bibliothet zu Weimar. Ich kenne nur die letztere. Daß Kurz Bernardon das Driginal felbft angelegt habe, jagt Erih Schmidt in der Zeitfchrift für Deutfches Altertfum und Deutfhe Xitteratur. Neue Folge. Bd. 183. Berlin, Weidmannſche Buchhandlung. 1881. S. 238.

232

genannt Der Sieben Gebrübere Hanns-Wurſt“ fingt Colombine die erften beiden Strophen des hübjchen, mit einer franzöfifchen Melodie verjehenen Liedes „Spielt, ihr Winde, Spielt gelinde“ (Sing. Muſe I, 41) ohne jede wefentlihe Abweichung von der Urform; das gleiche thut die Sungfer Roferl in der Komödie „Hanns Wurft der lächerliche Inftructor und Bernardon, das närriſche Studentel“ mit der erſten und dritten Strophe des Liedes „Ach! wenn fommt der frohe Tag“ (S. M. I, 46); das gleihe endlih Kolombine in der Burlesfe „Die Politische Kammer-Jungfrau” mit dem Liede „Liebe mich redlich und bleibe verſchwiegen“ (S. M. I, 12). Juliette in „Hanns Wurft der lächerlihe Snitructor und Bernardon das närrifhe Stubentel“ fingt Sperontes’ „Edle Freyheit, mein Vergnügen“ (I, 22), dod jo, daß fie jogleich mit der zweiten Strophe „Zieht nur, zieht am Liebes⸗-Joche“ anfängt; dann wird dag Original ziemlich gewifjfenhaft rejpectirt bis auf den Schluß der legten Strophe, der Schon deshalb eine Umänderung erleiden mußte, weil in der Komödie das Lied einer Sie in den Mund gelegt wurde. Die Umänderungen, welche die Xeipziger Lieder in den Wiener Komödien zeigen, find übrigens durchaus nit als Verſchlechte— rungen zu bezeichnen. Ein gefunder, volksfriſcher Geift hat fie in die Mache genommen, das Steife und Froſtige belebt, das Lebendige blühender und farbiger gemadt. Daß von Kurz jelbit alle die Nenderungen herſtammen follten, ift nicht anzunehmen; wahrſcheinlich hatten viele von ihnen fich jchon vorher im Munde des Volkes gebildet. Zu den gelungenften Erfindungen bes Sperontes gehört das Lied „Ihr janfften Winde“ (I, 15). Er läßt es den Liebenden fingen; in der „Politiihen Kammer: Jungfrau“ dient es der Colombine zum Ausdrud ihrer Em- pfindungen. Außer den hierdurch nöthig gewordenen Aenderungen bat es aber deren noch andere erfahren, in denen man die um— bildende Kraft der Bolfsphantafie jpüren wird. Die Links ftehende Fafjung ift die des Originals.

1. Ihr fanfften Winde, Weht meinem Kinbe Die Seuffzer meiner Bruft Zum Dendmahl jener Luft Gemädhlich zu! Entdedt der Schönen Mein Häglih Sehnen, Und alles, was ich hier Aus Lieb und Treu zu ihr Tagtäglich thu.

2. Bringt ihrem Herten Ein Theil der Schmergen, Doch nicht zu ihrer Oivaal; Nein: daß fie nur mandmahl An mich gedendt! Ih will mit Freuden Alleine leiden; Nur daß aud fie dafür Das Here nit von mir Auf andre lendt.

3. Bann denn die Stunden Einmahl verihwunden Die unfern Bund vermeilt; So fommt nidt, fondern eilt Auf mich zurüd; Denn mein Verlangen Sie zu umfangen, Zehlt fo ſchon Tag für Tag, So jeden Stunden-Schlag Als Augenblid.

Wenn id fagte, daß mande Aenderungen erfolgt geweſen fein dürften, ehe Kurz die Lieder für jeine Zwecke verwendete, fo liefert die erfte Strophe obenftehenden Liedes hierfür jchon einen Beleg. Die Variante der vierten Zeile: „Zu mein und jeiner Luft“ ift mwahrfcheinlich bereit3 in Sachſen entftanden. Mariane von Ziegler aus Leipzig hatte in der legten Samm— lung ihrer Gedichte ein Lied veröffentliht: „Zu dein und meiner Luft”, das feiner Zierlichkeit wegen berechtigten Beifall fand’).

I) Vermifchete Schriften in gebundener und ungebunbener Rebe.

Söttingen, 1739. &. 173.

283

1. Ihr fanfften Winde Tragt meinem Kinde Die Seuffzer diefer Bruſt Zu mein und feiner Luft Gemächlich Hin; Sagt, daß mein Beben Nur ihm ergeben, Sagt, daß fo nah alö weit Ich ihm zu jeder Zeit Gang eigen bin.

2. Bringt feinem Herten Ein Theil der Schmergen, Ein Theil von meiner Dual, Damit er auch mandmal An mich gedentt: Ih will mit Freuden Sein Wegieyn leyden, Nur daß aud er dafür Sein Herke nicht von mir Auf andre lenkt.

3. Wenn dann die Stunden Dereinft verſchwunden Da ih ihn meiden foll, So bringt ihn freudenvoll Zu mir zurüd, Denn mein Verlangen, Den zu empfangen, Den ih Mann heißen mag, Zehlt jeden Stundenfchlag Und Augenblid.

234

Die Beliebtheit äußerte fih jogar in einer Umdichtung, melde im vorigen Jahrhundert vermittelft Fliegender Blätter in Sachen verbreitet wurde). Daß der Ziegler Lied in jener vierten Zeile der eriten Strophe anklingt, jcheint mir unzweifelhaft; daß die Beeinflufung des Gedicht des Sperontes durch das ihrige nicht erft in der Fremde, fondern noch in der gemeinfamen Heimath ftattfand, höchſt wahrscheinlich.

In derjelben Politiſchen Kammer-Jungfrau“ ift Nr. 56 des eriten Theil der Singenden Mufe verwendet und gleichfalls der Colombine in den Mund gelegt. Auch hier jene auffrifchenden Abweihungen, die bei dem vorigen Liede zu bemerfen waren. Ich begnüge mich, die erite Strophe in doppelter Faſſung mit- zutheilen. Sperontes dichtet:

Lieben und zweifeln vergröffert die Schmergen: Lieben und hoffen vermehret die Luft.

Diefes ermwedet beftändige Hertzen;

Jenes verändert die treuefte Bruft.

Glückliches Fügen!

Süffes Vergnügen!

Wo fo beliebt geihmwind

Flammen mit Flammen vereiniget find.

Colombine fingt:

Gleichheit im Lieben bringt Lachen und Scergen, Ungleichheit aber verbittert die Luft

Jenes ermedet beftändige Herten,

Dieſes verändert die treuefte Bruft.

Süffed Vergnügen,

Glückliches Fügen,

Wenn fi ein Schönes Kind

An was Charmantes und Liebes verbindt.

Die Empfindung, die das ganze Gedicht durchdringt, ift das Glück und die Luft, nicht die Zweifel und Schmerzen der Liebe.

!) „Zu dein und meiner Ruh Schwör ich Dir Beilig zu, Bon unfrer treuen Liebe Weiß die geheimen Triebe Kein Menih alö ich und du.” 11 Strophen. Meuſebachſche Sammlung. Y d. 7901. Um 1786 in Sadjen gedrudt.

285

Nur einer ſolchen Empfindung ift auch die Melodie angemeffen. Es ift daher ein Zeichen natürlichen fünftlerifchen Gefühls, wenn in der Wiener Faffung die Grundempfindung jofort in der erften Zeile klar und beherrſchend hervortritt. Ebenfo iſt es echt mufifalifch empfunden, wenn die Zeilen „Glüdliches Fügen“ und „Sübes Vergnügen” einfach umgeftellt worden find, fo daß nun mit legterer der betreffende Melodieabjchnitt beginnt.

Bei manchen Liedern find die Umbildungen durchgreifenderer Art. So fingt Colombine in der Komödie „Der zur Braut gewordene Kammerdiener” ein zweiltrophiges Lied, defien erite Strophe („Meine Freyheit iſt dahin, Weil ich jchon längft ge bunden bin“) jih in dem erjten Theile der Singenden Mufe als erite Strophe von Ar. 23 findet, allerdings viel weniger friſch und anſchaulich im Ausdruck („Liebfte Freyheit fahre hin! Weil ich jo ſchön gefangen bin”). Die zweite Strophe ift aber ganz neu hinzugedichtet, und jo troß der Anlehnung an Sperontes etwas Selbftändiges entitanden, das ſich auch befjer noch mit der Melodie vermählt. Dieſe Melodie ift ganz ungewöhnlich hübſch; wenn fie, wie wir nunmehr doc annehmen dürfen, in Wien und Defterreich überhaupt populär wurde, jo ijt es vielleicht Fein Zufall, daß eines der früheften Lieder Mozart3 mit dem Anfange derjelben ziemlich genau übereinitimmt!). In der „Braut von ohngefähr“ wird die erite Strophe des Liedes „Alte Liebe rojtet nicht“ (I, 3) ziemlich originalgetreu gejungen, als zweite aber die fünfte des Originals benußt, und die dritte jegt ganz frei ein. Was Colombine in der Komödie „Der durch den Korb gefallene Wandelmuth“ als jechite Nummer zu hören gibt, ift die erjte Strophe von Nr. 24 des eriten Theild der Singenden Mufe („Angenehmer Bund! Wo man Mund auf Mund” ꝛc.), in mäßiger Veränderung, was den Wortlaut betrifft. Irgend— wer muß aber bemerft haben, daß man die Strophe in zwei

1) „Was ih in Gedanken küffe* von J. Chr. Günther. In der Ge- fammtausgabe von Mozarts Werfen (Leipzig, Breitfopf und Härtel) Serie 7, Nr. 6.

286

gleiche Hälften zerſchlagen und demnach mit der erſten Hälfte der Melodie ausreichen könne. So ſind aus einer Strophe zwei gemacht worden. Bunter noch iſt es in Nr. 5 derſelben Komödie hergegangen. Hanswurſt ſingt „Allen Mädeln zu gefallen, Geht mein Treu unmöglich an“; d. i. Nr. 36 aus dem erſten Theil der Singenden Muſe („Allen Schönen zu gefallen Das geht beynah unmöglich an“). Die Derbheit, welche dem Hanswurſt zukommt, macht ſich ſchon in der zweiten Strophe mit Behagen geltend. Leipzigiſch wohlanſtändig heißt es bei Sperontes:

Viele finden ihr Vergnügen

Blos an dem euſerlichen Schein;

Wenn von innen

Gleich die Sinnen Mit eitler Dunſt geblendet ſeyn.

Hanswurſt dagegen:

Manche frißt an' ſchönen Gſichtel Einen Narrn in Folio;

Hat die Stirne

Gleich ein Gehirne

Bon Gehäck und Haber⸗Stroh.

Die dritte Strophe, in der etwas über Kunſt und Wiſſenſchaft geſagt wird, hat ſich Hanswurſt gänzlich geſchenkt, die vierte und fünfte in eins zuſammengezogen, ſo daß von der vierten die erſte, von der fünften die zweite Hälfte benutzt wird. Die letzte Strophe iſt dann wieder ſo ziemlich beibehalten, nur durch einige derbe Trümpfe dem großen Haufen wohlgefälliger gemacht worden.

Ganz ähnlicher Weiſe wird in der mehrfach genannten Komödie „Hanns Wurft der Tächerliche Inftructor und Bernardon das närriſche Studentel“ durch Bernardon das Lied „Nimm die Muſche Bon der Guſche“ (I, 52) für den wienerifchen Volks: geihmad zugerihtet. Auch hier muß man fagen, daß es ber Wiener trog aller Derbheit mit jeiner gemüthvollen Naivetät über den Leipziger davon trägt. Amina in „Hanns-Wurft ein

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fubftituirter Bräutigam“ beginnt als Nr. 2 das Lied „Mein Kind, ich liebe dich“ (I, 71), kommt aber nur big zur vierten Zeile. Sei es, daß e3 dem Dichter zu langweilig wurde, die Entlehnung fortzufegen, oder mag es wegen der Melodie ge: wejen fein: es folgen plöglic vier gebanfenleere Zeilen voll Liebesbetheuerungen, und die Strophe, deren Bau hierdurch ganz verändert wird, ift aus. Die beiden folgenden Strophen haben vollends mit dem Driginal nicht mehr zu thun. In demfelben Stüde fingt Amina als Nr. 5 ein Lied, das nur mit freier Benugung von I, 4 der Singenden Muje neu gedichtet worden ilt; die Melodie mag, ohne Repetition des eriten Theiles, beibehalten, kann aber auch wie bei dem vorigen Beijpiele durch eine neue erjegt worden jein.

Befonders beliebte Melodien haben zuweilen Veranlafjung gegeben, neue an das Original vernehmlich anflingende Gedichte zu ihnen zu erfinden. Zu den beliebten Melodien gehörte offen- bar „hr fanfften Winde”. In der „Haupt:Action betitult: Der goldene Zand:Apfel oder Der vergötterte Hanns-Wurſt“ wird zu diefer Melodie zwijchen Venus und Hanswurft ein Zwiegefang ausgeführt: erſt Venus eine Strophe allein („Ahr Amouretten, Kommt, weiht die Ketten“), dann Hanswurſt des- gleichen („Au weh, wie reißet, au weh, wie beißet“), dann beide mit gewiß jehr erheiternder Wirkung zufammen. Ein anderes Lied nach derjelben Dielodie enthält die Komödie „Hanns: Wurft Der ſeltſame Theater-Meifter in der Barbarey“ („Ahr ftillen Winde Zeigt meinem Kinde Die Schmergen im Hergen, Die Seufzer der Bruft“); ein paar Kleine Abwandlungen muß fich bier die Melodie gefallen lafjen. Aber auch das berufene „Ihr Schönen höret an“ muß in Süddeutjchland ein gern gejehener Bekannter geweſen fein. Nach diefer Melodie fcheint Hanswurſt in der Komödie „Der Spieler“ jein Lied „Ihr Grillen weichet bin“ gejungen zu haben, allerdings war dazu nöthig, die legten acht Takte der Melodie wegzulaffen, was aber ihr Bau aud ganz wohl verträgt. Möglicherweije bat bei Abfaſſung des

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Gedicht das wüſte Studentenlied I, 60 der Singenden Muſe vorgejchwebt. Des Sperontes Lied „ES fürmelt, was da lebt“ (1, 74), das früher jchon wegen der fchlefiihen Dialectform erwähnt wurde, muß ebenfalls nad) der Melodie „Ihr Schönen höret an“ gejungen werden. In der Komödie „Der weibliche Jäger“ fommt es vor. Doch iſt au hier die Structur der Strophe gegen den Schluß hin verändert und damit zugleich eine Abänderung der Melodie bedingt. Den Ausdrudf „kürmelt“ bat fi der Wiener, dem ungefähren Sinn folgend, einfach in „liebet” umgefegt. Daß das Lied „Liebe mid redlich und bleibe verſchwiegen“ (I, 12) in diefen Wiener Komödien vorfomme, babe ich jchon gejagt. Nach feiner eingänglihen Melodie wird Colombine in dem Stüd „Der zur Braut gemordene Kammer: Diener” auch ihr Lied „Falſcher! jo willſt du das Herte verlafien“ gefungen haben.

Ich habe noch nicht alle Gejänge der Kurz-Bernardonjchen Volksfomödien berührt, die mit der Singenden Muje in Zu— jammenhang jtehen. Das Gejagte genügt aber, um die Be- liebtheit nachzuweiſen, die fich gewiſſe Lieder der Singenden Mufe in den weitejten Kreijen der damaligen Wiener Bevölkerung erworben haben müſſen. Zugleich wird klar geworden fein, daß es fih mit dem gejanglihen Theil der deutihen Volkspoſſe nicht anders verhalten hat, als bei der älteren Opera comique der Franzoſen und der Balladen-Oper der Engländer: er be ftand aus Volks: oder Favoritgefängen, deren Hauptwirkfung eben in ihrer allgemeinen Bekanntheit lag. Indem bald zu einer befannten Melodie ein neuer Tert vorgetragen, gelegentlich aber auch wohl ein befannter Tert mit einer neuen Melodie ausgeitattet wurde, waren Möglichkeiten der Abwechslung genug gegeben, ohne doch den Kreis des Allgeläufigen zu verlaffen. Ausgejchlofien war dabei nicht, daß für ein Stüd auch einzelne neue Compofitionen er- funden, oder wohl gar einmal eine ganz neue Mufif eigens gemacht wurde. War e8 doc) derjelbe Sojeph Kurz, der Joſeph Haydn ver: anlaßte, zu feiner „Opera comique“: „Der neue frumme Teufel“

1389

eine vollftändige Mufik zu fegen. Aber wenn #3 als etwas Merk: würdiges hervorgehoben worden ift, daß außer bei diefem bei feinem andern der Kurzſchen Stüde, jomweit fie ſich erhalten haben, der Componift namhaft gemacht fei, jo hatte das feinen jehr einfachen Grund: er war eben nicht zu nennen, denn die Mufif war von überallher zufammengelefen. Daß bei den deutfchen Volksſtücken fo verfahren worden fei, ließ fich vermuthen, ift aber durch die hier mitgetheilten Thatfachen meines Wiſſens zum eriten Male wirk— lich nachgewieſen. Uebrigens jteden in den Kurzichen Komödien jedenfallg manche noch viel ältere Vaudevilles, als es die Lieber des Sperontes von 1736 find. Eines wenigftens fann ich nad)- meijen. In der Komödie „Colombina der Zwilling” fingt Dlivette: „Freyen ift fein Pferbefauf! Wer fich erft nicht will bedenden, Wird fi dann vergeblich fränden Durch den gangen Lebens-Lauf, Freyen iſt fein Pferdekauf.“ (Folgt noch eine zweite Strophe.) Diejes geihmadvolle Machmwerf war ſchon 1720 be- fannt und findet fich mit drei Strophen und Melodie in einem bandichriftlichen Sammelbande von Arien, den ein gewiſſer Johann Lorenz Hoffmann in diefem Jahre fich anlegte').

VII.

Zum Schluß fol der Verſuch gemacht werden, eine biblio- graphiſche Frage zu löfen, die ich im erften und dritten Gapitel zwar geftreift, aber bisher nicht präcifirt habe.

Zur Dftermeffe 1746 erjchien „Nele Sammlüng | ver: Ihiedener und auserlefener | DDEN, | von denen beften Dichtern

1) In meinem Beſitz befindlid. Adıtftrophig nad einem fliegenden Blatte ohne Drt und Jahr, und ohne Melodie, auch bei Ditfurth, Deutſche Volks- und Gefellichaftslieder des 17. und 18. Jahrhunderts. Nördlingen, Bedihe Buchhandlung 1872. Nr. 64. Was Erih Schmidt im Goethe- Jahrbuch, Bd. 3, 1882, ©. 321 ff. in Betreff der Arien des Kurz-Ber- nardon vermuthet hat, wird durch Dbiges beftätigt; auch die Schlüffe, welche er auf Goethe’fche Gedichte zieht, erhalten hierdurch einen feiten An— nüpfungspunft.

Philipp Spitta, Mufitgefhichtlihe Auffäge. 19

20

igiger Zeit | verfertiget | umdb | zu | beliebter Clavier Uebüng ind Gemüths | Ergögüng mit eigenen Mtelodien ver- | jehen und herausgegeben | in | Leipzig | 1746. [Bildchen in Kupferitid, von Bernigeroth verfertigt) I. Theil. | Krügner Jun: sculpsit.‘ Sn Querquart. Der zweite Theil wurde jhon zur Michaelis: meſſe desjelben Jahres ausgegeben, der dritte Michaelis 1747, der vierte Michaelis 1748, endlich der fünfte und letzte Michaelis 1749.

Der Herausgeber hat fich nicht genannt. In den Borbe richten zum zweiten, dritten und vierten Theil!) unterzeichnet er fih „Der Sammler“. Dem erjten Theile jhidt er Folgende Widmung voraus:

Der ſchönſten Schäferinnen Zierde An jenem Dorf der Ehrlichkeit, Dir, Phyllis, hat aus Dankbegierde, Zum Denkmahl, diefes Buch geweyht L

Meiner Anſicht nach ift der Herausgeber fein andrer als unfer Sperontes. „2.“ könnte Lobendaviensis bedeuten (ob. Sigmund Scholze ftammte aus Lobendau) und das Widmung? gedicht fich auf eine Gönnerin und Wohlthäterin des bebürftigen Mannes beziehen. Wichtiger jedoch find folgende Umftände. Der Titel ftimmt zum Theil genau mit dem der Singenden Muſe überein, und zwar gerade in der dharakteriftiichen Stelle „zu be liebter Clavier-Uebung und Gemüths-Ergötzung“. Der Anfang des Titels dagegen ift offenbar dem der Gräfe’jchen Oden nad gebildet, aljo derjenigen Sammlung, die neben der Singenden Mufe damals das größte Aufjehen machte und auch von Sperontes jelbft in ihrem Werthe gewürdigt wurde, indem er mehrere Stüde aus ihr entnahm. Der Kupferftecher Krügner, welcher Titel

1) Der fünfte Theil ift mir bis jetzt unbefannt geblieben. Daß er aber wirklich eriftirt hat, gebt aus dem Leipziger Meß-Katalog von Michaelis 1749 hervor, ſowie aus Breitkopfs zu Dftern 1768 ausgegebenem Berzeihnii S. 68. Auch Marpurg, Kritifhe Briefe I, 161 führt fünf Theile an.

291

und Mufikjtüde der „Neuen Sammlung” mit anerfennenswerther Sauberkeit bergeitellt hat, bejorgte auch den Notenftich des vierten Theil3 der Singenden Muſe (1745) und der vierten Auflage des eriten Theils (1747)!). Die Anordnung von Mufit und Dichtung ift in der „Neuen Sammlung“ dieſelbe wie die in der Eingenden Mufe: oben das Mufifftüd für fi, darunter die Didtung ebenfalls für fih. Bei Gräfe it jedesmal der Tert der eriten Strophe der Mufif untergedrudt und dies war auch fonit das übliche. Die „Neue Sammlung“ aber jollte zunächft „zu beliebter Clavier-Uebung“ dienen.

Der Herausgeber bezeichnet ſich als Sammler. Forjcht man den Dichtungen nah jeder Theil enthält deren 18 nebft ebenfoviel Mufikitüden?) —, fo jtammen fie in den drei erjten Theilen fait alle aus den „Beluftigungen des Verftandes und Wiges“ und den „Bremer Beiträgen”. Nun läßt ſich nachweijen, daß Sperontes wenigſtens die erjtere diefer beiden Zeitjchriften eifrig gelejen und in ſich verarbeitet hat. Sein Lied „Mein Wunſch ift niemahls nicht auf Erden“ (IV, 46) ftimmt zum Theil in den Gedanken, ja in einzelnen Wendungen und Aus» drüden aufs Auffälligite überein mit dem, ©. €. unterzeichneten Gediht: „Der kleine Wunſch“ (Beluftigungen, Band VII. ©. 195 fi. 1745 im Märzmonat). Pitſchel in feinen „Coffee: gedanken” (Bel. I, S. 243, gedichtet 1739) jagt: „Die jchwarze Stunde jhlägt, drum, Ködinn, ſäume nicht.“ Sperontes hat fi den Ausdruck gemerkt und fingt (IL, 47): „Liebjte Schweitern, fommt berbey! to fchlägt die ſchwarze Stunde.” Bon einem Liede „Die Liebe“ (Bel. V, ©. 315; 1743) bat Sperontes

1) ©. dafelbft die Notiz unter Nr. 17.

2) Bezüglich des fünften Thril® muß ich mich bier auf Marpurgs An- gabe verlaffen. Derfelbe Mann behauptet, der vierte Theil enthalte nur 16 Stüde, weil er nit die Compofitionen und Gedichte felbft gezählt, fondern nur das Regifter angejehen hat, in welchem die lekte Nummer aus 18 in 16 verbrudt ijt (Reihenfolge der vier legten Nummern: 15, 16, 17, 16). Ein Beifpiel, mit melder Flüchtigkeit Marpurg feine Recenfionen der Dvenfammlungen binwari.

19 *

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wenigftens den Anfang genau nachgebildet, zeigt jih aber auch durch das Ganze merklich beeinflußt (1*, 74). Und zu der Ge- ſchmackloſigkeit, ven Schnupftabad zu befingen (II, 24), ſcheint den Sperontes auch nur ein Mitarbeiter der „Beluftigungen“ (I, ©. 450. 1741) verleitet zu haben. Alle hier angeführten Lieber der „Beluftigungen“ find auch in die „Neue Sammlung“ aufgenonmen worden !).

Entjcheidend jcheint mir folgendes zu jein. Der vierte Theil der Singenden Mufe erichien 1745, der erfte Theil der „Neuen Sammlung”, die nicht nur in ihrem Titel, jondern aud im Inhalt die Eigenthümlichkeiten und Vorzüge der Singenden Mufe und der Gräfe'ichen Oben vereinigen follte, Oftern 1746. Er jcheint viele Käufer gefunden zu haben; dadurd wird ber Herausgeber angefpornt worden fein, weitere Theile rajch folgen zu laffen. Nicht nur, daß zu Michaelis 1746 jchon der zweite Theil herausfam, e8 waren zu derfelben Zeit jogar vom dritten Theil wenigftens die erften zwölf Muſikſtücke geftochen. Dies ergibt fih aus dem Umftande, dab durch ein Verſehen ober- halb der zwölf erften Dichtungen de3 zweiten Theil die Muſik— ftüde des dritten Theils gedrudt worden jind. Als man dann das Verſehen bemerkte, wurden die richtigen Muſikſtücke, auf be: jondere Blättchen abgezogen, nachträglich übergeflebt. Man war alfo Shon Michaelis 1746 gerüftet, den dritten Theil jpäteitens Dftern 1747 ericheinen zu laffen. Aber er erfchien erft ein halbes Jahr jpäter; „eine unumgänglich nothwendige Verrichtung, fo meldet der Herausgeber, „war e8, die mich binderte . . . den dritten Theil . . . an vergangener Oſtermeſſe zu liefern.” Das Hinderniß kann nicht darin beftanden haben, daß der dritte Theil nicht rechtzeitig fertig gewejen wäre; er ijt unzweifelhaft ihon viel früher vollftändig fertig geweien, und man könnte feinen unvollendeten Zuftand auch feine „Verrichtung“ nennen. Es muß ein anderes Unternehmen des Herausgebers gemwefen

25 1, 3: I, 7; II, 9; 29

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ſein, das ſich der Publication des Theils entgegen ſtellte. Nun wolle man ſich erinnern, daß zu Oſtern 1747 der erſte Theil der Singenden Muſe in gänzlich umgearbeiteter und vermehrter vierter Auflage erſchien. Das Buch war vergriffen, wurde noch immer viel begehrt, es ſchien alſo eine vortheilhafte Speculation, es möglichſt bald von neuem ausgehen zu laſſen. Dann aber durfte ihm nicht durch eine andere gleichzeitige Publication ähnlicher Gattung der Weg verſperrt werden. Um jedoch auch zu verhüten, daß die vierte Auflage der Singenden Muſe dem Unternehmen der „Neuen Sammlung“ Abbruch thue, ließ Sperontes auf die legte Seite jenes, im eriten Gapitel ſchon mitgetheilte „Avertissement“ jegen: „Denen respective Liebhabern diejes dienet hiermit zur gewiſſen Nachricht: daß, außer denen Dreyen bierauf folgenden und bereit3 herausgegebenen Fortjegungen feine fernere mehr zu erwarten jeyn wird.“ Sch glaube der allgemeinen Zujtimmung gewiß zu fein, wenn ich behaupte, daß es feinem vernünftigen Autor einfallen wird, das PBublicum in diefer Form über jeine zukünftigen negativen Abfichten zu be- lehren, wenn er dabei nicht einen ganz feiten pofitiven Zweck verfolgt. Hier aber war der Zwed, den Liebhabern der Lied- mufif zu fagen, daß fie ihr Geld nit etwa für einen fünften oder jechiten Theil der Singenden Muje aufiparen möchten. Diefe Mufe habe ausgejungen. Wer daher nach Neuem verlange, möge von nun an unbejorgt jein Intereſſe der jchon begon- nenen anderen Unternehmung zuwenden, der „Neuen Sammlung”, von der denn auch ein Halbjahr jpäter jchon wieder ein neuer Theil erjchien.

At man über diefe Sache im Keinen, dann wird man aud beobachten dürfen, in wie manden Zügen die Mufif der „Neuen Sammlung“ übereinjtimmt mit den Muſikſtücken des vierten Theils der Singenden Muſe und den neu binzugefügten ber vierten Auflage des eriten Theils. Diefe Mufikitüde haben eine von derjenigen der älteren Theile wejentlich verjchiedene, unter fib aber ähnlihe Haltung. Es joll damit nicht behauptet

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werben, fie feien von einer und derjelben Perſon componirt, nur die Redaction jcheint in einer Hand gelegen zu haben, und dieie Hand eine weit funftgeübtere geweien zu fein, als diejenigen waren, die in dem älteren Theilen ihr Weſen und Unweſen trieben. Und ebenjo fallen in den Mufifitüden der „Neuen Sammlung“ die reicheren, manchmal raſch figurirenden Bärle auf, die Vorliebe für Baß-mitationen, das gänzliche Fehlen des Generalbafjes, der häufig vorfommende mehr als zwei: ftimmige Sat, die auffällige Bevorzugung des Dreiachtel-Taftes. Die Frage drängt fih auf, ob und in wie weit fih Sperontes jelber an der Nebaction der von ihm gefammelten Mufikftüde betheiligt hat. Denkbar wäre wohl, daß er aus einem unge: ihidten PDilettanten fih almählih dod jo weit empor ge arbeitet hätte, um kleine Murikftüde fehlerlos und mit Gejchmad zu ſetzen, gelegentlih wohl gar jelbit zu erfinden. Eben jo möglich freilih ift e8 auch, daß er fpäter nur beſſere Be: rather und Helfer gefunden, und jelber an den muſikaliſchen Theil jeiner Unternehmungen niemals die Hand gelegt hat. Woher die Mufif der „Neuen Sammlung“ ftammt, wird auf dem Titel nicht gefagt. Der Ausdrud „mit eigenen Melo- dien verſehen“ braucht nicht zu bedeuten, es feien die Melodien alle zu den Gedichten eigens neu componirt worden. Er kam auch nur fagen jollen, es befinde fich in diefer Sammlung neben jedem Gedichte eine zu demfelben gehörige Melodie. So viel iſt fiher: ein jehr großer Theil befteht aus urfprünglichen Elavier: ftüden, und alle ohne Ausnahme können in der vorliegenden Form als jelbitändige Clavierſtücke gejpielt werden. In dieſer Beziehung iſt alfo das in der Singenden Mufe herrjchende Princip auch hier gewahrt worden. Die Gräfe'ſche Sammlung hat nur injofern zum Borbilde gedient, als nit mehr ſämmt— liche Gedichte von einer und derjelben Perſon verfaßt find, jondern der Sammler von den angejeheniten Dichtern der Zeit das vermeintlich Beite zufammengetragen hat. Daß mit manden Melodien der Tert nur äußerlih und nicht ohne Gewaltſamkeit

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verfoppelt jei, daß die Stücke verfchiedenartig an Werth feien und nicht einerlei Verfafler zu haben fcheinen, will auh Mar: purg bemerkt haben, der übrigens diefe Sammlung etwas wohl- mwollender beurtheilt als die Singende Muſe!). Meine Abficht ift es indefjen nicht, in eine Unterfuhung des Inhalts der Sammlung bier noch einzutreten. Sie verdient eine ſolche wohl, denn fie gehört zu den bebeutendften der vierziger Jahre. An diefer Stelle aber jollte fie nur infofern berüdfichtigt werben, als fie mit der Singenden Mufe im Zufammenhang zu ftehen jcheint und fomit das Bild der poetifchmufifalifchen Thätig- feit de3 Sperontes zu vervollftändigen geeignet iſt.

1) Kritifche Briefe I, ©. 161.

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Der deutfche Männergelang.

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Jer deutſche Männergejang hat in unferm Jahrhundert eine x jo jtarf hervortretende Rolle gejpielt, daß es eine eben jo naheliegende wie lohnende Aufgabe ift, jeine Gejchichte zu ſchreiben. Ich nenne die Aufgabe lohnend und fürdte dabei nicht den Widerjpruch derjenigen, welche den Männergejang als Kunſt— gattung überhaupt gering achten. Was in fih die Kraft ge- tragen hat, dergejtalt in die Höhe und Breite zu wachen, das muß in der inneren Natur des deutjchen Volkes tief gewurzelt jein und ein Stüd jeines Weſens offenbaren. Den Bedingungen einer ſolchen charakteriftiihen Erjcheinung nachzugehen, ijt aber’ dann befonders anziehend und erfolgverheißend, wenn ſich zwar ein gewiſſer Abjchluß der Entwidlung erfennbar madt, ihre Wirkſamkeit aber noch jo weit fortbefteht, daß man jich des lebendigen Zufammenhanges mit ihr bewußt ift. Für niemanden möchte dieſes in höherem Grade gelten, al3 für Otto Elben in Stuttgart, der ung vor einigen Jahren mit einer ausführlichen Arbeit über dieſen Gegenitand befchenft hat!). Er hat überall in Deutjchland und über deſſen Grenzen hinaus das deutjche Sängerleben fennen gelernt, er hat vierzig Jahre hindurch dem

!) Der vollsthümliche deutſche Männergefang. Geſchichte und Stellung im Leben der Nation; der deutfche Sängerbund und feine Glieder. Zweite Auflage. Tübingen, 1887. Berlag der 5. Lauppſchen Buchhandlung.

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Stuttgarter Liederkranze angehört und hat eben jo lange bei dem Ausbau des Vereinswefens der deutfchen Sänger an leitender Stelle mitgewirkt. Viele bedeutende Einrichtungen desfelben find auf ihn als Urheber zurückzuführen, mit gewiffen Phaſen feiner Entwidlung ift-er fo eng verwachſen, daß ihm bei ihrer Schilderung zu Muthe geweſen fein mag, als ob er feine Memoiren niederfchriebe. Die beiden einfchneidenditen Ereignifje der jüngeren Zeit: die Gründung des deutjchen Sängerbundes (1862) und den großen Krieg nebit der aus ihm entjpringenden vollen Einigung Deutjchlands hat er mit: erlebt und ift Zeuge der Wirkungen gewejen, die fih hieraus für das Männergefangswefen ergaben. Dagegen fteht er ber eriten, grundlegenden und innerlich gehaltvolliten Periode des Männergefangs, feiner Haffifchen Zeit fo zu jagen, perſönlich fern. In Hinfiht auf diefe war er jedenfalls in der Lage, zwei zur Löſung der Aufgabe nothwendige Dinge: innige Theilnahme an der Sache und Objektivität in fich zu vereinigen. Sein Buch täufcht die Erwartungen nicht, die man auf ihn zu ſetzen berechtigt war. Es lehrt aber zur Freude des Leſers noch mehr, nämlich daß er auch da, wo er perjönlich betheiligt und maßgebend geweſen ift, fich die Fähigkeit bewahrt hat, rubig und unparteiiſch zu urtheilen.

Der deutſche Männergefang hat eine äußere und eine innere Geſchichte. Die erftere ift größtentheils Gefchichte feines Vereins— « wejens, die leßtere Gefchichte feiner Kunitformen. Wenn matt die Raumverhältniffe betrachtet, in welchen Elben jene und dieje dargeftellt hat, fo fieht man jogleich, daß die äußere Geſchichte den hervorragenderen Platz einnimmt. Diejes braucht nicht von der Willkür des Verfaffers herzurühren. In der That ift die Pflege des Männergefangs eine viel ausgebreitetere, als bei der Be- Ichränftheit der Kunftmittel und dem Weſen der durch fie be- dingten Kunftformen berechtigt fcheinen könnte. Auch eine nod eingehendere und mit freierem Umblick verfaßte Darftellung des rein mufifalifchen Theil der Aufgabe würde ihrem Umfange

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nach immer noch beträchtlich hinter der äußeren Gefchichte zurüd- ftehen. Was dieſe betrifft, jo verdient Elben wegen des Fleißes feiner Forſchung, der Gefundheit feines Urtheil3 und der Wärme feiner Daritelung volle Anerkennung. Zwar hatte er mas bei der erften Auflage noch vermißt wurde in den Special: geihichten von Häfeler, Rofenthal, Hach, Schmidt und andern, in Mittheilungen der Mufikzeitungen, in SJahresberichten und Feſtſchriften, Programmen und Statuten Shägbare Vorarbeiten zur Verfügung. Aber abgejehen davon, daß es nicht immer leicht ſein mochte, dieje für jeinen Zweck angemefjen zu ver- werthen, waren doch auch noch weite Streden übrig, vor welchen er fih auf die eigene Forſchung angewiejen ſah. Mag nun felbft jegt noch manche Lücke offen geblieben fein, ficher ift dieſes, daß man durch Elbens Arbeit zum eriten Male ein wahrheitsgetreues Bild von der erftaunlichen Ausdehnung erhält, welche der deutjche Männergejang nit nur im Vaterlande gewonnen hat, fondern überall auf der Erde, wo Deutfche in größerer Anzahl zufammen: wohnen.

Die Anfänge einer folchen merfwürdigen Erjcheinung im Kunft- und Kulturleben unferes Volkes find natürlich ber be- jonderen Aufmerffamfeit des Hiltorifers werth. Elben behandelt fie im zweiten Buche feines Werkes, während er im eriten nad) Anknüpfungspunkten jucht, vermittelit deren fih der Männer: gefang unferes Jahrhunderts mit der Vergangenheit verbinden laffe. Gegen diefen Abſchnitt Bedenken zu erheben, wird fich der gewiffenhafte Beurtheiler nicht eriparen dürfen. Wenn Elben in der Reihenfolge der deutichen Barden, der Minne- und Meijter- fänger die jegt überall ausgebreiteten Liederfränze das „jüngfte Glied” nennen zu können glaubt und diejes damit begründet, daß ihnen allen der volfsthümliche deutfche Zug gemeinfam fei, jo macht er e3 fich mit dem Nachweiſe deilen, was die Wiſſenſchaft einen biltorifhen Zufanmenhang nennt, etwas zu leicht. Auf volksthümlich nationaler Grundlage it vieles in der deutjchen Kunft und im gejelligen Leben unſeres Volkes entjtanden, was

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fi) mit dem Männergefang durchaus in feine Verbindung bringen läßt. Was aber die Minne: und Meifterfänger betrifft von den Barden jehen wir ab, denn wir wijfen über fie nichts, was bier zu brauchen wäre —, jo herrſcht in allen wejentlihen Dingen zwijchen ihnen und den heutigen Lieberfränzen die größte Ver: jchiedenheit. Man würde es jchwer begreifen, wie Elben zu einer ſolchen Zufammenitellung fommen fonnte, wenn nicht auf ©. 7 und 72 die Erflärung zu finden wäre. Reſte der Meiiter: jängerzunft haben ſich in Südweſt Deutfchland bis in unjer Jahr— hundert erhalten. Die Ulmer Meifterfänger löjten ſich am 21. October 1839 auf und jegten den Ulmer Liederfranz zu ihrem Nachfolger ein, die Liedertafel Memmingen erwarb den Schild mit dem Bilde König Davids, der einjt den Meiiter- jängern diefer Stabt als Wahrzeichen gedient hat, und die 1840 gegründete Bürgerjängerzunft in Münden bat für ihre Ein- richtung mancherlei Gebräuche der Organifation der alten Meifter: fänger humorvoll entlehnt. Eine Art von äußerlihem Zuſammen— bang hat ſich bier in der That hergeftellt, aber damit nimmer: mehr auch jchon ein innerer. Sm eigentliden Verftande wird aud wohl Elben an einen folden nicht glauben; durd das Spiel des Zufalld angeregt, hat er einem Gedanken Raum ge geben, der allenfalls als wirkjames Apergu zu brauchen wäre (ſ. ©. 59 die Feitrede Karl Pfaffs), nicht aber als gejchichtliche Wahrheit. Ich glaube dies ausfprechen zu dürfen, weil er jelbit wiederholt betont, der Männergejang ſei eine neue, eine unjerer Zeit eigenthümliche Erſcheinung. Wohlan! jo ſuche man ihn aus den Bedingungen unferer Zeit zu begreifen. Es begleitet den Leſer durch das ganze erfte Buch jenes ftille Unbehagen, das man empfindet, wenn nicht zur Sache gejproden wird. Dazu fommt ein anderes. Elben ift offenbar mit der älteren Mufif- geihichte wenig vertraut. Niemand verargt ihm, daß ihm ge wife Kenntnifjfe fehlen, deren er zur Löſung jeiner Aufgabe gar nicht benöthigt. Auch denkt er nicht daran, fich folche an- zutäufchen. Er bat für alles jeine Gewährsmänner an der Hand:

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Burney, Forkel, Kiefewetter und andere. Aber er hat nicht be- rüdfichtigt, daß die Forſchung über diefe Männer längjt hinaus- geichritten if. So maden feine Auseinanderfegungen obendrein einen wunberlich veralteten Eindrud.

Können wir diefe Dinge einfah auf fich beruhen lajjen, jo fordert die Schilderung einiger Mufilvereine des 17. Jahr: hundert3 ein etwas tieferes Eingehen. Sie follen Vorläufer der heutigen Männergejangvereine jein. Zwei von ihnen, der Adjuvantenverein zu Coswig in Anhalt und die Singgefellichaft zu St. Gallen in der Schweiz, beftehen in veränderter Form noch heute. Aber daß jelbit diefe dem modernen Männergefang die Bahn gewiejen hätten, kann man doch nur behaupten, wenn man die Formen, welde das gejellige Muficiren im 17. und 18. Jahrhundert angenommen hatte, ganz außer Acht läßt. Vor allem find Vereine, wie die genannten und wie der Verein zu Greiffenberg in Pommern, feine vereinzelten Erfcheinungen. Die Liebe zur Mufif konnte in unferm Volke jelbjt durch die Nöthe des dreißigjährigen Krieges nicht erftidt werden; nit nur im 18., auch im 17. Jahrhundert blühten in Deutſchland die Collegia musica und muſikaliſchen Societäten. Es ift auffallend, daß fie bis jegt nur unter ber evangelifchen Bevölkerung nachge— wieſen find; indefjen die Gejhichte der deutjchen Gefangvereine im 17. und 18. Jahrhundert ift noch zu jchreiben, und die Forihungen über diefen Gegenitand find bis jegt ſehr unvoll- ftändig. Nur fo viel fieht man klar, daß die Pflege, welche die Mufif innerhalb der protejtantifchen Kirche fand, fi von dort aus nah außen hin fortjegte. Die muſikaliſche Societät des thüringifhen Mühlhaufen ift auf dieſe Weife entitanden. Adjuvanten nannte man Gemeindemitglieder, welche freiwillig und unentgeltlich bei der Kirchenmufif mitwirften. Um fie bei guter Laune zu erhalten, zahlte die Kirchenkaſſe einen Beitrag, wenn fie ſich jährlih einmal zu einem Feitmahle mit Mufif verfammelten. So wurde in Mühlhauſen das convivium musicale beftritten, und diefe Sitte war im 17. Jahrhundert ficher:

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lih durch ganz Mittel: und Norddeutichland verbreitet. Selbit im ebitländifchen Neval, einem äußerften Borpoften deutfcher Kultur, war fie heimifch, wie aus einem Protofoll hervorgeht, das ich im dortigen Rathsardiv fand. „Anno 1661 d. 18 Juny referirete dominus praeses, daß der Cantor Georg Christo- phorus Fortfhius bey feiner Magnificenz geweſen, und zu ver- jtehen gegeben, welcher geftalt, bißhero die Music bey dießer Stadt in Kundbarliches Abnehmen wegen der wenigen Adjuvanten gefommen, diefelbe aber in etwaß wieder aufzurichten vnd in den vorigen ftandt zu bringen, folte nicht vndienlich jeyn, dem alten nach jährlich einmahl von denen zum musicalifchen convivio verordneten beyder Pfarkirhen Gelder ein flein musicalifc convivium anzuftellen ..... worauff einhelligli decretiret worden, mweiln von alters jo geweßen und gehalten worden, dann auch folcher geftalt die Adjuvanten in etwaß willig ge— machet werben fönten, al& joll denen beyden Vorſtehern anbefohlen werden. jothane bifhero auffgeloffene gelder wie auch inf fünfftig jährlich die zu ſolchem convivio deputirte gelder, alß 5 Reichs- thaler von jedweder Kirchen allemahl richtig und unweigerlich außzufehren.” Bei dem Feitmahl wurde nicht nur gefpielt, jondern auch gefungen, und nicht nur geiftlihe, jondern auch weltlihe Mufit. Es ift jehr wohl denkbar, daß ein ſolches convi- vium den Anftoß gab, fich häufiger zu gefelligem Muficiren zu verfammeln, woraus denn dasjenige wurde, was man in Mühl- haufen die mufifaliihe Societät oder auch das muſikaliſche Kränzchen nannte. Der Adjuvantenverein in Coswig aber hat es nah Elbens Mittheilungen zur Pflege weltlicher Muſik während der vergangenen Jahrhunderte gar nicht einmal gebradt; er war eben ein einfacher Kirchenchor, wie ſolche im evangelifchen Deutjchland überall beftanden, und das einzig Merfwürdige an ihm ſcheint gemwejen zu fein, daß er fih in größerer Selb- ftändigfeit, al® es an andern Orten geſchah, dem Schülerdor gegenüber gehalten hat. Dagegen zeigt die Singgejellichaft „zum Antlig“ in St. Gallen wieder den aufs Kirchliche ge-

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gründeten, aber ins Weltliche hinübergreifenden Charakter; auch das „Mufifmahl“ (convivium musicale) wird erwähnt. Wenn im Jahr 1620 einige Bürgerföhne der Stadt ſich zufammen thaten, um zunächft zu ihrer eignen Uebung und Erbauung den Goudimelſchen mehritimmigen Pſalter in Lobwaſſers Leber: jegung zu fingen (fpäter wurden dieſe Tonjäte von ihnen auch in der Kirche angeftimmt), jo jcheint dies auf eine weiter ver- breitete Sitte zu deuten. Im Dorfe Wilfum in der Grafichaft Bentheim beftand, wie dur Mittheilungen des Paſtor Langen zu Nordhorn befannt geworden ift, bis in die neuefte Zeit der Braud), daß die Bauernjöhne fich regelmäßig verfammelten, um die Pjalmen nad) Goudimels Sat vierftimmig in holländifcher Sprache zu fingen. Hehnliches wird auch an andern Orten der Fall gewejen jein, und nicht diejes iſt es, was die St. Gallener Singgejellichaft merfwürdig macht, auch nicht die Muſik, auf welche fie fpäter ihre Uebungen ausdehnte!), jondern ihre zähe, bis auf unfere Zeit dauernde Lebenskraft. So viel vom 17. Jahrhundert. Setzt man gar den Fuß über die Schwelle des folgenden, jo findet man die Collegia musica auf Schritt und Tritt. Namentlich waren fie unter den Studenten häufig. Eins der berühmteiten ift 1704 von Telemann in Leipzig gegründet worden. Auch dieje afa- demijchen Mufifvereine traten gern mit der Kirche in Verbindung und führten zu den Sonn: oder Feittagen Kirhenmufifen auf, jo jtarf jonft natürlich das weltliche Wefen in ihnen vorherrſchte. Faft ausschließlich mweltlich dagegen mochten die Collegia musica der Berufsmufifer fein. Obſchon fie „Spielleute” hießen, wurde doh von ihnen auch der Gejang gepflegt. Wie es in einem ſolchen Collegium zuzugehen pflegte, davon geben die Nachrichten

1) Sie benugte, wie Elben berichtet (S. 15), „Mufitbücher von Sagittarius, Hammerfhmidt und Profius.” Iſt e& nicht befjer, unfern Heinrich Schütz bei feinem deutfhen Namen zu nennen? „Proſius“ joll Ambrofius Profe (Profius) fein, welcher 1641, 1643 und 1646 eine Sammlung von „Geift- lihen Concerten“ in vier Theilen herausgab.

Philipp Epitta, Mufitgelhichtlibe Auffäge. 20

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ein Bild, die wir über das Muſiktreiben auf den Bachſchen Familientagen befigen.

Ale diefe und ähnliche Vereinigungen zu gemeinjamem Muficiren beftanden bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts nur aus Männern. Frauen waren ausgejchloffen; höchſtens wurden dann und wann Singfnaben zugelaflen zur Ausführung des Discants. Nothwendig waren fie nit in einer Zeit, da bie Kunit des Faljettirens eifrig geübt wurde, und vor allem die Studenten mochten ihrer gern entrathen. Alfo lauter Männer- gejangvereine. Aber mit dem, was wir heute jo nennen, haben fie nicht das Geringſte zu jchaffen. Denn fie trieben gänzlich andere Dinge. Immer nahm bei ihnen das Inſtrumentenſpiel einen vornehmen Plak ein, und wurde es nicht jelbitändig ge: übt, jo diente es doch als Begleitung. Die Gejangscompofitionen hatten im 17. Jahrhundert die Form des Concert3 und der ein: oder mehrjtimmigen Arie. Im 18. Jahrhundert pflegte man die großen und mannigfachen Formen, die ſich hieraus und aus der Opernmuſik entwidelt hatten. Sie waren jämmtlich italienijchen Urfprungs. Die Voefie aber, welche gejungen wurde, befaß nur bei kirchlichen Werfen noch einigen Gehalt und Charakter, in: fofern hier das Fortwirken des evangeliichen Volks- und Ge- meindelied3 noch nicht ganz erjtorben war. Sonit herrſchte auch in ihnen, und in weltlichen Werfen berrichte ganz und gar ein jhales, fremdländiſches Weſen. Gerade dasjenige, was beim modernen Männergefang im Mittelpunkt der Pflege fteht: das Lied, befand ſich in jenen Zeiten völlig in Verachtung. Un— begleiteten Gejang, der hier die Grundlage der Entwidlung ab: gegeben bat, fannte man in jenen Wereinigungen gar nicht. Keinen ihrer Poetafter ift e8 eingefallen, Vaterland und Freiheit zu befingen. Man nehme aber unferen Männergefängen dieſe Begriffe und ſehe, was bleibt.

Es wird aljo nicht mehr die Rede davon fein fönnen, daß die Diufikgefellichaften zu .Greiffenberg, Coswig und St. Gallen Vorläufer der heutigen Männergejangvereine find. Ganz und

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gar haben dieje ihre Wurzeln in dem neuen Aufſchwunge, welchen gegen die Neige des vorigen Jahrhunderts Wiſſenſchaft, Kunft und Nationalbewußtjein in Deutihland nahmen. Daß der Deutjche wieder feine Gejchichte fennen lernte, daß er an Herders Hand feine eigne Art ımd das Echte und Ewige jeiner Volks— poejie begriff, daß große Dichter eine neue Blüthe herrlicher Lyrik berbeiführten und Componiſten wieder fähig wurden, volksthümliche Melodien zu erfinden, daß wir endlich einmal mit Stolz auf unfer Vaterland bliden durften und gezwungen waren, in einem Kampf auf Xeben und Tod um unſere freiheit zu ringen das war es, wodurd die Kräfte gewedt wurden, denen der Männer: gejang unferes Jahrhunderts fein Dafein verdankt. Der Gefchichts- jchreiber muß aljo zunächit auf die deutjche Liedpoefie am Ende des vorigen Jahrhunderts fein Auge richten, dann auf die deutſche Liedcompojition, d. h. vor allem auf J. A. P. Schulz und deſſen Lieder im Volkston, ferner auf Neichardt, Zelter u. a., und er muß die Stellung andeuten, welche diefe Art des deutichen Liedes im gejelligen Leben einnahm. Hiermit ift der Weg bejchritten, der dann ohne Hindernifje zur Berliner Liedertafel einerſeits und zu Nägeli andrerjeit3 binführt. Ich fage nun nit, daß ſich Elben diefer Einficht ganz verjchloffen hätte. Aber er beweiſt es nur an zerjtreuten Stellen des Buches und gelegentlich, nicht mit concentrirtem Nahdrud, in der Einleitung des Buches, wo es geichehen mußte. Hier hat er ſich durd die beiden Abjchnitte „Aus alten Zeiten” jelbit den Pla dafür verbaut. ch meine, diefe Abjchnitte hätten ganz gejtrichen werden jollen. Aur des alten Volksliedes mochte er Erwähnung thun, dann aber in anderem Zufanmenhange. Wie es jegt gejchieht, begreift der Leſer nicht, warum es überhaupt nöthig ift, von ihm zu ſprechen.

Haben wir uns dem eriten Buche gegenüber ablehnend ver: halten müflen, jo fönnen wir mit Inhalt und Gang des zweiten recht wohl einverftanden jein. Nur macht fi jchon bier ein Vebelftand fühlbar, der daraus entiteht, daß Elben die Geſchichte des Vereinsweſens von der Geſchichte der Kunftformen überall

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zu trennen jucht. Für die fpätere Periode, wo der Männer: gejang mehr in die Breite als in die Höhe wählt, war dieje Trennung wohl geboten. Aber in der älteren Zeit hängt, wie bei allen Entwidelungen, das Gedeihen in höherem Grade von dem Wirken einzelner Kraftnaturen ab, und man gelangt zu feinem eindringlichen Bilde, wenn man diejes nicht in einem Zuge Har legt. Während der Leſer am Anfang des zweiten Buches zu der Zelterichen Liedertafel ald Ausgangspunft ge- führt wird und demnadh annehmen muß, in ihrem Kreife ſeien die erjten mehritimmigen Männergefänge entitanden, erfährt er im achten Buche auf ©. 396 f., daß ſchon vorher jolde in Süddeutſchland componirt und jehr beliebt geworden waren. Hätte Elben dies am Anfang des zweiten Buches gejagt, und die Art der Männergefänge M. Haydns, Gall und Eijen- hofers genau charafterifirt, jo wäre Flar geworden, warum fie in den Bewegungen des 19. Jahrhunderts ein lebensunfähiges Genre bleiben mußten; das national-volfsthümliche Weſen des modernen Männerchores wäre dadurch zu Tage getreten, und die Zelterfche Liedertafel hätte einen hiftorifchen Hintergrund er— halten, der ihr in der vorliegenden Daritellung fehlt. Wie das Buch jegt disponirt ift, muß man Zelter® Würdigung an zwei verfchiedenen Stellen ſuchen, ebenjo diejenige Nägeli's und Silchers. Aber die großen Entwidlungszüge in der Ent: jtehungsgefhichte de3 Männergefangs find ohne Zweifel richtig erfannt. Zwei ungefähr zu gleicher Zeit in Norddeutſchland und in der Schweiz bemerkbar werdende Bewegungen ftreben einander entgegen. Der Begründer des Schweizer Männer: gefangs iſt Nägeli. Bedingt durch den Charakter des Gemein- weſens, in welchem er entjtand, mußte diefer Geſang ein durch— aus volfsthümliches, gemeinverftändliches Gepräge tragen. Durch die Schweizer wurden die Schwaben angeregt. Auch ihr Ge jang hat den volksthümlichen Grundton: vermöge ihrer herrlichen Dichter und eines melodiſchen Talents, wie dasjenige Silchers war, thaten fie e8 den Schweizern bald zuvor. Aber von Anfang

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nährten fie fih auch an norddeutſchem Geijte,; ja, man fann fagen, daß die am Morgen des 1. Mai 1824 im Walde ge- fungenen Körner-Weberfhen Vaterlandglieder der Funke waren, welcher die Flammen der Begeifterung entzündete und die Grün- dung des Stuttgarter Yiederfranzes bewirkte. Die norddeutiche Bewegung aber hebt mit der Berliner, 1808 unter Zelters Direction gebildeten Liedertafel an. Sie jegte zwar als ihren Stiftungstag den 24. Januar 1809 feſt. Ihre eigentliche Gründung aber fand jchon im vorhergehenden Monat ftatt und zwar nicht am 28., jondern am 21. December. Für das faljche Datum it Elben nicht verantwortlich zu machen, fondern jein Gewährsmann Wilhelm Bornemann. Diejer veröffentlichte feine Schrift: „Die Zelterjche Liedertafel in Berlin. Berlin 1851“ in hohem Greifenalter und jcheint ſich dabei nicht mehr des Protokolls erinnert zu haben, das er 43 Jahre früher jelbft auf: genommen hatte, als am 21. December 1808 „auf freundliche Einladung des Herrn Profeſſor ZJelter mehrere Mitglieder der Singafademie in der Wohnung der Madame Woitus fich ver- jammelten, um den Entwurf zur Stiftung einer monatlichen Tafelgejellichaft zu hören“ '). An der Charafterifirung der Berliner Liedertafel läßt fih Elben durd den Gegenfaß des jchweizerifchen und ſüddeutſchen Gejanges zu einer gewiſſen Einfeitigfeit ver- leiten. Wenn er meint, der Schöpfer des eigentlichen Männer: chors jei Nägeli geweſen, die Yiedertafel mit ihren 24 Mit: gliedern habe wohl mehritimmige Lieder gehabt, aber feinen Chor, jo ift dem zu entgegnen, dab e3 zur Feititellung des chor-

1) Bornemann berichtet überhaupt mehreres, was durch die noch vor— bandenen Alten der Liedertafel nicht beftätigt wird. So follte nad) den Statuten das Aufnahmegeld nicht zehn, fondern einen Thaler betragen, außerdem hatte jedes Mitglied einen Monatöbeitrag von 12 ggr. zu zahlen. Daß die Gründung der Liedertafel Nahahmung einer ruffischen Einrichtung fei eine Unterftellung, gegen die fi Elben begreiflicherweife aufs ent- Ichiedenfte wehrt ift natürlich vollftändig unridtig. Was Bornemann hierauf bezügliches erzählt, hat mit der Gründung der Liedertafel ebenjo wenig zu thun, wie die Erzählung von den Militärhören in Potsdam und Neu-Ruppin.

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mäßigen Charafter3 weniger auf die Mafle der Ausführenden, als auf die Haltung des Gedichts und der Compoſition an- fommt, und unter den nöthigen VBorausfegungen 24 Eänger eben fo gut hormäßig wirken fönnen, wie jene 400, die Nägeli fih wünſchte. Die Sänger der Xiedertafel follten Männer höherer Bildung und Begabung fein: jeder von ihnen jollte ent- weder dichten oder componiren fönnen. Zog dieje Beitimmung den Kreis enger, jo daß in ihm die Andividualitäten mehr bhervortreten konnten, jo vermehrte fie doch nicht im mindeiten die Hingabe der Mitglieder an die großen Ideen der Zeit und vor allem an die Pflege der Vaterlandsliebe. Unfer Verfaſſer meint, der Gedanke des nationalen Aufſchwungs jei der Lieder: tafel nicht zu Grunde gelegt worden; allein hierin irrt er. Der achte Paragraph der Statuten jagt ausdrüdlih: „Die Segenftände des Vaterlandes und allgemeinen MWohles find in ihrem ganzen Umfange Dichtern und Componiften empfohlen.“ Um die Tragweite diefer Beitimmung zu ermeſſen, bedenfe man, daß fie in der Zeit des napolconifchen Drucdes getroffen wurde. An einem jpäteren Paragraphen der Statuten heißt es: „Die Liedertafel ſieht fih als eine Stiftung an, die die erjehnte Zurüdtunft des Königlichen Haufes feiert, wie überhaupt das Lob ihres Königs zu den eriten Gejchäften der Tafel gehört.“ Und als die Rüdfehr des Königs ſich verzögert, jchreibt Borne- mann am 26. April 1809: „Aber dringender wird mit jedem Tage der Zwed unjeres Vereins zur Liedertafel. Sie joll fingen dent Könige, dem PVaterlande, dem allgemeinen Wohle, dem teutijchen Sinn, der teutfchen Treue.” Denkt man ſich die Schweizer und Schwaben als Gegenfag, jo mag man immerhin die Anfänge des Liedertafelmejens ariftofratiih nennen. Aber in Berlin jelbft nahm ſich die Sache anders aus, und hierauf kommt es doch zunächſt an. Die mufifaliiche Bewegung, welche in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der Gründung der Singafademie ihren Anfang nahm und fich in der Lieder: tafel fortjegte, war eine Oppofition gegen die Art, wie eine ver:

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welſchte und geiſtig wie ſittlich herabgekommene Hofgeſellſchaft die Muſik trieb und protegirte. Bisher hatte, auch unter Friedrich dem Großen, in der Muſikpflege allein der Hof den Ton angegeben. Jetzt unternahm es der innerlich tüchtig und geſund gebliebene Bürger- und Beamtenſtand, ſich ſeine eigene Muſik zu machen, Muſik, wie ſie ſeiner kräftigen und ernſten Natur angemeſſen war. Es iſt dies eine Bethätigung freien, unverdorbenen Sinnes, zu der man in keiner Reſidenzſtadt des damaligen Deutſchland ein Seitenſtück finden wird. Der typiſche Repräſentant der jo in Thätigkeit tretenden Geſellſchaftskreiſe iſt Zelter mit ſeiner rauhen Tüchtigkeit, ſeinem Freimuth und derben Humor. Hierin liegt ſeine Bedeutung und die Erklärung der herrſchenden Stellung, welche er einnahm, nicht in ſeinem Muſikerthum, in welchem er, wenn man einige Männerchöre und andere Lieder abzieht, nicht über die Mittelmäßigkeit hinaus kam. Man ſieht aber, daß unter ſolchen Verhältniſſen von dem angeblich ariſtokratiſchen Charakter der Liedertafel wenig übrig bleibt, am allerwenigſten war Zelter eine ariſtokratiſche Natur. In den gebildeten Männern der Liedertafel war das Bewußt— jein von Werthe der deutſchen Nation, die Liebe zum Vater: lande, das Streben, die nationalen Tugenden zu pflegen, furz, waren alle die Ideen, welche dem Männergefang feinen haupt: jählihen Inhalt, feinen Schwung und jeine nationale Be- deutung gaben, in gleihem Maße lebendig, wie in den ſüd— lichen Bolfsgefangvereinen und Liederfränzgen. Nur äußerten fie fih bier naiver, dort bemußter. Wäre es anders gemeien, jo würde man jchwer begreifen, wie der Impuls, durch welchen die Männergejangsfrage plöglich unter die hohen Intereſſen des gejammten deutſchen Volkes erhoben wurde, von Berlin und mittelbar von der Liedertafel ausgehen konnte. Dies aber iſt unbeftreitbar gejchehen, und mas den Impuls gab, waren Webers ſechs Lieder aus Körners „Leyer und Schwert“. Weber war, troß Zelters bornirter Oppofition, jchon feit mehreren‘ Jahren gerade in denjenigen Kreiſen Berlins jehr beliebt, die

fih in der Singafademie und der Liedertafel ihre mufifalijchen Drgane gejchaffen hatten. Die Anregung, Männerhöre zu fchreiben, konnte ihm damals, als dies Genre noch etwas Seltenes war, nur von der Berliner Liedertafel fommen. Schon hatte er am 11. uni 1812 für diefe mit dem „Turnierbankett“ ein Werk hingeftellt, das, als e8 am 23. Juni 1812 an einem großen Gajtabend der Liedertafel im Sommerlofale bei Kämpfer im Thiergarten vor mehr als 160 Perſonen zum erften Male ge- fungen wurde, Sänger und Hörer überzeugen mochte, daß ein berufener Genius jfich der neuen Gattung bemächtigt hatte. Zur Compofition der Körnerfhen Lieder wurde er abermals in Berlin begeiftert, wo er ſich befand, als 1814 der König fieg- reich aus Frankreich zurückkehrte. Daß er den Männerhor als Organ wählte, daran ift wiederum die Liedertafel ſchuld. Die genialen, in der Gluth der Begeifterung gleichſam bingebligten Schöpfungen trugen einen Brand hinaus in alles deutjche Land, der am norddeutichen Herde entzündet war. Diejes geſchah in den eriten Jahren des Beitands der Yiebertafel. Bon der jpäteren Entwidelung des Männergefangswejens freilich hat fie fih abjeits gehalten. Aber mir liegt daran, feitzuitellen, daß fie urjprünglid den volfsthümlich-patriotifhen Zug in ihrer Art ebenjo jtarf beſaß, mie die Vereine des Südens, und folglich aud im Stande war, ihn anderen Vereinen mitzutheilen, die fih nad ihrem Muſter bildeten.

Indeſſen darf man fi, wie ich glaube, die Verbreitung des Männergefangs in den erften Jahrzehnten nicht ausſchließ— lih an die Vereine geknüpft denken. Wie man, aus den ein- leitenden Sägen zu den Statuten der Liedertafel zu jchließen, ſchon vor ihrer Gründung in den fingafademifchen Kreiſen Berlins gelegentlih mehrftimmigen Männergefang geübt hatte, wird joldes auch anderswo gejchehen fein, ohne daß ein Verein den Rahmen bildete. Namentlihd nachdem Webers Lieder er: Ichienen waren. Dieſe wollten allerorten gejungen und gehört jein, und wo die Organe dafür nicht beftanden, trat eben eine

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Schar von Sängern eigen? zu dem Zwecke zufammen. So geſchah es unter anderm in Hamburg vor Methfeſſels Zeit. Daß die deutſche Jugend, an der Spite die Studenten, allen vorauf war, lag in der Natur der Sade. Als Weber 1820 eine große Kunftreife machte, befuchte er nach einander die Uni- verfitäten Leipzig, Halle, Göttingen, Kiel. Er wußte, wo die begeiftertejten Anhänger jeiner Muſe zu finden waren, und wenn die Studenten ihn feierten, jangen fie ihm feine Lieder aus „xeyer und Schwert“. In Halle und Göttingen beftanden damals jchon Studentengejangvereine, an andern Univerfitäten bildeten fie fih bald. ch hatte gehofft, über dieje ergiebigen Auffhluß in Elbens Buche zu finden und bedaure, in meiner Hoffnung getäufht zu fein. Nur von den „Baulinern“ in Leipzig erfährt man Genaueres, nebenher werden die Vereine von Jena, Halle, Kiel und die akademiſche Liedertafel in Tübingen erwähnt (S. 30, 218, 220 f., 85, 56, 63, 138). Der afa- demifche Gejangverein in Straßburg (S. 287) und die afa- demiſche Liedertafel in Berlin (S. 238) fommen bier nicht in Betracht, da fie in neuerer Zeit gegründet find. Dies ift aber alles, was in Elbens reichhaltigen und verdienftvollem Werk über die Studentengejangvereine zu finden iſt. Ich darf den Mangel nicht verfchweigen. Wie die Studenten fih anfangs durch die Begeilterung ausgezeichnet haben, mit der fie vom Männergejang Belig ergriffen, jo haben fie ihrem Sang bis heute einen bejonderen Charakter von Frifche und Urfprünglid)- feit bewahrt. Daß die in ihrem gejelligen Verkehr herrichende Ungezwungenheit vielfahb auh für die Umgangsformen in den Liedertafeln vorbildlich geworden ift und eine wohlthätige Friſche und Augendlichkeit des Tons daſelbſt hervorgerufen hat, it eine Wahrheit, zu der fih auch unfer Verfaſſer befennt. Das Männergefangsweien ift feit 1871 in eine be- denkliche Periode getreten. Da jein überrafchendes Aufblühen nicht nur rein fünftlerifche, fondern auch politifche Gründe hatte, fo mußte es eine jtarfe Stüße verlieren, als dieſe zu einem

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großen Theile hinfällig wurden. Zwar wer gemeint hatte, Die Männergeiangvereine hätten jegt ihre politifche Rolle ausgejpielt, der fonnte durch den toſenden Jubel, mit welchem die Vorträge des Wiener Männergefangvereins am 16. Auguſt 1885 in Berlin aufgenommen wurden, eines andern belehrt werden. Dennoch it faum anzunehmen, daß fich ihre Sache auf der früheren Höhe halten werde, und man thut gut, die Möglichkeit einer rüd- läufigen Bewegung zeitig ind Auge zu fallen. Da jcheint es mir nun unzweifelhaft, daß die deutjchen Studenten die Feitung bilden werden, in welder der Männergejang den ftärfiten und dauerndften Schutz findet. Eine reiche Literatur ift geichaffen. Augenblidlich freilich gleicht fie einem ausgetretenen Strome, defien trübe Gewäſſer die Gelände überjchwenmen. Aber sie werden zurüdtreten oder auftrodnen, und der Männergejang wird wieder als ein heller, erquicklicher Bach erjcheinen, an dejien Ufern auch jpätere Generationen mit Behagen ruhen. Als der Männergejang entitand, war ganz Deutichland jung. Dieje Jugend konnte nicht dauern. Aber jie kehrt wieder in jedem heranwachſenden Geſchlechte, das in feiner Art immer von neuem erlebt, was damals die Seelen aller erfüllte und begeifterte. Und jo wird, was Weber, Marfchner, Kreuger, Silcher von Pater: land und Freiheit, von Kampf und Sieg, von Andacht, Liebe und Jugendluft gejungen haben, im Munde der deutihen Studenten immer friſch und durch feine Philifterhaftigfeit getrübt fort- leben. Dann wird man fich einft auch nad einer Gejchichte des Studentengefang® umfjchauen; e8 wäre jchade, wenn fie dann, jhuld unjerer Verfäumniß, nicht mehr gejchrieben werben fönnte.

Die ergiebige Pflege des Männergefangs außerhalb der Liedertafeln und Liederfränge möchte ich bier noch an einem glänzenden Beifpiele darthun, das in die zwanziger jahre des Jahrhunderts fällt und von Elben nicht gefannt zu fein fcheint. Eine damals an mehreren Orten Deutichlands auftauchende, wie ih glaube, mit den Caveaux der Franzoſen zujammenhängende

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Erſcheinung find die „ZTunnelgejelfhaften“. Ich wende den Namen auf alle an, obgleich eine berühmte, die „Ludlamshöhle“ in Wien, ihn nicht führte. Der Berliner „Tunnel über der Spree“ (auh „der Berliner Sonntagsgefellfchaft” genannt) ift 1827 durch M. ©. Saphir gegründet. Er hatte vorwiegend eine literarifch-journaliftifche Tendenz. Die Statuten befagen freilich auch: „Der Gejellichaft hat eine Kapelle, aus den mufifalifchen Mitgliedern des Tunnel beftehend“ ; ich weiß aber nicht, zu welcher Bedeutung es die Leiftungen dieſer Kapelle aebracht haben. Später verwandelte fih der Tunnel unter dem Namen „Berliner Sonntagsverein” in eine Dihtergejellihaft mit würdigen und erniten Beftrebungen. Saphirs Perfönlichfeit verbürgt, daß von ſolchen in den eriten Jahren nicht die Rede fein fonnte, und wenn der in den Statuten angefchlagene Ton für den Verkehr der Mitglieder maßgebend geworden ift, jo begreift man überhaupt nicht, daß vernünftige Männer am ſolch läppijchem Treiben Ge- fallen fanden. Dennocd wurde der Berliner Tunnel in Leipzig, freilih in einer mehr jympathiichen Form, nachgeahmt. Im Januar 1828 gründeten fieben junge Männer „ven Sonntags» gejellichaft des Peter” oder „Tunnel über der Pleiße“). Mehrere Sleichgefinnte fanden fich bald herzu. Allfonnabendlid um 6 Uhr verfammelte fich die unter dem Schußpatronat des Till Eulen- jpiegel ſtehende Gefellichaft, um Humoriftiichen Blödſinn zu treiben. Begonnen wurde damit, daß der Vorligende feierlich einen Stiefelfneht emporhob; dann fangen fie es jcheint nach der Melodie de3 God save the king das Meihelied: „Seht doch, wie feierlih Hebt fich der Stiefelfneht, Nur ftille, ſtille; Stört den Gefellichaft nit, Sonit ftraft den fühnen Wit Declination.” Gegen das Ende ſenkte fih der Stiefelfneht. Nun mußte der Schriftführer eine Er- öffnungsgrede halten, das Protokoll der vorigen Sigung verlefen,

ı) Nah den Acten der Tunnel-Gefellihaft, die mir feiner Zeit freund« fihft zur Verfügung geftellt wurden.

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eingelaufene Correjpondenzen und dergleichen mittheilen. Es folgten die fogenannten Späne: Vorträge der einzelnen Mitglieder, die niedergejchrieben jein mußten und in der nächften Sigung einer rüdjichtslofen Diskuffion unterworfen wurden. Dabei galt als Grundjag, das Schlechte gut, das Gute jchlecht zu nennen, und nad) diejer Norm die ganze Terminologie der Beurtheilung ein- zurihten. Den Beihluß machte der „muſikaliſche Tunnel“. Daß nun diefer bald das Bedeutfamfte in den Sigungen wurde, geſchah, weil die bei weitem hervorragendite Perjönlichfeit unter den Tunnelbrüdern ein Mufifer, und fein geringerer als Heinrich Marjchner war. Der Tunnelname einen jolden mußte er wie alle andern Mitglieder führen lautete „Orpheus der VBampyr“ : er hatte nämlich gerade die Oper „Der Vampyr“ beendigt, die amı 29. März 1828 in Leipzig zum eriten Male aufgeführt wurde. Die andern waren: Dr. Gleich Peter der Ameijenbär; Mufitalienhändler Hofmeifter Plinius cum notis variorum; v. Alvensleben Hebel der Xiberator; Dr. Bird Fichte der Vierfüßige; Buchhändler Fock Antinous Torſo der Groß: Hadſchi; Dr. Herlosfohn Fauſt der Auerbadhsböfling ; denen einige Wochen jpäter binzutraten: Dr. Meißner Yucinus Zangenberger; ©. W. Fink (NRedacteur der Allgemeinen Muſi— falifchen Zeitung) Baleftrina der Bejenbinder und Schau: jpieler Köfert Lablache der Gründling. Mit der Zeit ver: größerte fich die Geſellſchaft noch durch den Eintritt von W. N. MWohlbrüd Fleck der Kindesmörder; Heinrih Dorn Glud der Stachlige; Hammermeilter Saſſaroli Vellatti der gläubige Bod und andere. Aber ſchon am 9. Februar 1828 fonnte die Geſellſchaft aus fi ein Männerquartett bilden ; Marjchner leitete e3, fang jelbit mit und was das Wichtigite war entwickelte für die Tunnelabende eine rege Thätigfeit als Componift. Aus diefem Kreije find jeine „Tunnellieder“ Op. 46 (aud Op. 52) hervorgegangen, mit denen er fogleih in die erite Reihe der Männerhorcomponiften trat. Es ijt natürlich, daß die Stimmung der luftigen Brüder in vielen diefer Lieder widerflingt, die einen

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Ton anſchlagen, der bisher nicht gehört worden war. Der Humor und die Zechlaune der Berliner Liedertafel kam nicht auf gegen die Urjprünglichkeit von Marfchners temperamentvollem, burſchikoſem Weſen. Es ift derjelbe Ton, in welchem das be- rühmte Lied aus dem „Vampyr“ gehalten ift: „Im Herbſt da muß man trinken“, ein Lied, das aud im Tunnel häufig an- geftimmt wurde. Manches, was er für ihn componirt hat, ift nicht weiter befannt geworden. So ein von MWohlbrüd ge- dichtetes Duett „Die betrunfenen Handwerfsburfchen“, das er jelbft am 31. Januar 1829 mit dem Magifter Fifcher zufammen vortrug. Ein Gedicht, das Herlosfohn auf 14 von der Gejell- ihaft aufgegebene Reimworte machen mußte, und das, mit Marſchners Muſik am 22. November 1828 vorgetragen, „außer: ordentlich fchlecht befunden und allgemein da capo begehrt wurde”, ift wohl die in Op. 52 befindliche „Liebeserklärung eines Schneidergejellen“. Schon aus diefen Andeutungen jieht man, daß ein feder Lebensübermuth den Genius der Gefellichaft bildete. Als Marjchner Leipzig verlaffen hatte, blieb der Tunnel nit, was er geweſen war. Er erfuhr eine vollftändige Um— geitaltung in eine gewöhnliche Vergnügungs-Gejellichaft und be- fteht als folche heute nod. Kunftwerfe wie die „Tunnellieder“ find nicht mehr aus ihm hervorgegangen. Dieje aber haben ihren Weg zu den Liedertafeln bald gefunden und, mit Marjchners jpäteren Chören vereint, wejentlich geholfen, den deutichen Männer: gejang zu jeiner vollen Eigenartigfeit auszuprägen.

Ich habe bei den eriten Hauptabjchnitten des Buches länger verweilt, in dem Wunjche, zu Elbens tüchtiger Arbeit meiner: jeit3 etwas beizutragen. Hierzu boten fie mehr Gelegenheit, als die meiften folgenden. Im dritten Buche wird nun das Wachsthum des Vereinsweſens bis in die fünfziger Jahre an— ihauli und vollftändig dargelegt, worauf im vierten Buche eine Rüd- und Umſchau gehalten wird, die von dem Flaren Blid des Verfaſſers ein höchſt vortheilhaftes Zeugnik gibt. Bei der Würdigung der Stellung, welche der Männergefang um

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jene Zeit im Leben der Nation einnahm, überfieht er nichts, was zu feinen Gunften angeführt werben fann, verſchweigt aber auch nicht die mit Recht getadelten Unzulänglichfeiten und Ent- artungen. Bon dem Aufblühen der Liederfejte, die in den zwanziger Jahren im Süden ihren Anfang nahmen, im folgenden Jahrzehnt auch in Norddeutichland auffamen, Gründung von Sängerbünden zur Folge hatten, bis ſich in den vierziger Jahren zuerit große allgemeine Sängerfeite (Würzburg 1845, Köln 1846) ins Werk jegen ließen —, von diejen Feſten ſchweift der Blid unmwilltürlih auf die großen Mufikfeite hinüber, die jeit 1810 bei ung in Gang gekommen waren. In Berlin hatte fi Die Liedertafel aus und an der Singakademie gebildet. Aehnliches geichah in Magdeburg (1818), und wie e8 ſcheint auch in Breslau. Aber man wird nicht im Allgemeinen jagen fönnen, daß die Singafademien den Boden für die Liedertafeln geebnet hätten, denn ihre Ziele waren zu verfchieden, und fie haben ſich oft hemmend im Wege geitanden. So glaube id denn aud), daß der Anftoß zu den Männergefangsfeften von den großen Muſik— feiten nicht einmal theilweife ausgegangen it, und wenn jene am Rhein lange Zeit nicht haben gedeihen können, jo iit eg, weil fie durch dieſe niedergehalten wurden. Wir brauchen auch dieſe Erklärung nicht, denn alles Nöthige ergibt fich aus dem Einfluß der Appenzeller Volksgeſangsfeſte auf Süd: und Mitteldeutichland. Vor der rein künſtleriſchen Beurtheilung fönnen die Männer: Maffengefänge nicht beftehen. Zur Aufführung Händeljcher Oratorien mag man Hunderte von Sängern und Spielern zufammenrufen. Hier jteht das Kunftwerf an Form und Inhalt im VBerhältniß zu der Menge der ausführenden Dr: gane. Beim Lied, der Grundform des Männergeſangsweſens, it es anderd. Es bleibt immer ein Unding, für den Vortrag foldy Eleiner Kunftgebilde jenen großartigen Apparat aufzuftellen. Es bliebe ein Unding, will ich jagen, wenn nicht andere außer: künſtleriſche Ideen hinzuträten, die auf den Männergejangsfeiten verwirklicht werden follten. Der volfsbildende, vor allem aber

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der verbrüdernde politiiche Zweck diejer FFeite liegt nun aber von Anfang an Far zu Tage. Bejonders greifbar tritt er in und an Schleswig-Holitein hervor. „Die Sängervereine und Sänger: fefte in Deutichland entwidelten fich nach und nach zum Volks— thümlichen, zu Volfsfeiten. In Schleswig : Holitein gehen das öffentliche Leben und die Volksfefte voran, und aus denjelben heraus bilden fi die Vereine und bejonderen Sängerfeite” (S. 86). Indem nun diefe Vereine ins Neich hineinzogen, an den großen Feſten ſich betheiligten, brachten fie die Kunde ihrer Gefhichte und Bedrängniß in weite reife, und die leidenfchaft- lihe Theilnahme, welche das deutſche Volk für die Elbherzog- thümer an den Tag legte, wäre ohne das Sängerweſen jchwer: ih gewedt worden. Der Einfluß, den die Singvercine auf die politifche Entwidlung der Schweiz ausgeübt haben, ift eben- falls ein jehr ftarfer und merfwürdiger geweſen. Aber ich ent- balte mich, weiter ins Einzelne zu gehen. Nicht nur die Männer: gejangsfefte, auch die für diefe gejchaffenen Compofitionen, ja man darf jagen, die Mehrzahl jämmtlicher Männerchöre überhaupt folte man nie beurtheilen, ohne fich lebendig vorzuftellen, daß fie gleihfam ein Ausruf waren, durch welchen ein Volk jeinem Empfinden Luft madte, dem die theueriten Wünſche und gol- denjten Hoffnungen immer aufs neue verfagt und unerfüllt blieben. Wer es nicht mitfühlen fann, welch eine Schallfraft jelbft das einfachite Lied dadurch erhalten konnte, daß ihm jold ein Re- jonanzboden untergelegt war, der wird freilich dem Männer: gejange des 19. Jahrhunderts niemals gerecht werden. Es darf nicht auffallen, daß feine Verächter fid) größtentheils unter den Mufikern jelbjt gefunden haben, und zwar unter denen, welchen man Mangel an Ernit und hohem Streben am wenigiten vorwerfen Fann. Seit Jahrhunderten haben wir uns gewöhnen müſſen, die meiften Gattungen unjerer Tonkunit wie losgelöft vom Volksleben und in einer Welt für fich bejtehend anzufehen. So ausſchließlich pflegte man ein Tonwerk auf jeinen „rein muſikaliſchen“ Werth bin zu prüfen, dab es jogar der Poeſie ſchwer wurde, in der

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Gejangsmufik die ihr zufommenden Rechte zurüdzugewinnen. Dat e3 vollends zuläffig jein fol, die Wirkung eines Liedes zum Theil auch an andere, außerkünftlerifche Bedingungen zu knüpfen, mag noch immer vielen als eine Erniedrigung der reinen Kunft erjcheinen. Diejer Anficht darf fi aber wohl mit gleicher Be rechtigung eine andere entgegenftellen, deren Ideal eine harmoniſche Entwidlung aller Kräfte einer Nation ift, dergeitalt, daß eine jede dieſer Kräfte in ihren Bereiche dahin wirke, den Charafter eines Volkes vollendet auszuprägen. Das ift nun durch den Männergejang verſucht worden, auf einem Eleinen, unfcheinbaren Kunftgebiete zwar, unter Mißgriffen, Uebertreibungen, Geſchmack— lofigfeiten mander Art, und trogdem mit einem dauernden und echten Erfolg, der die höchitfliegenden Erwartungen übertroffen hat. Nachdem unjere nationale Gejangsmufif in der zmeiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bis auf die legten Reſte ver- fümmert war, haben wir im Männergefang eine ganz neue Form für den Ausbrud des Volksempfindens gefunden, melde fih zu einer Blüthe entfaltet hat, der fein Bolf der Erde etwas Aehnliches an die Seite jegen fann. Darum loben wir e8, daß Elben den nationalen Charakter des Männergefangsweien überall ftarf betont. Sollten wir betreff3 des dritten und vierten Buches noch einen unbefriedigten Wunſch äußern, jo wäre es der nad) vollftändigerer Mittheilung der Programme der Gelangäfeite. Eine hierdurch gebildete Statiftif, die etwa einen Anhang des Merfes hätte ausmachen fönnen, würde für die Kunftgejchichte von erhebliher Wichtigkeit geweſen fein, und Elben hatte, mie fein anderer, das Material dazu in Händen.

Das fünfte, jechfte und fiebente Buch behandelt die Neuzeit. Ihr glänzendites und folgenreichites Ereigniß, das Nürnberger Sängerfeft von 1861, die dadurch veranlaßte Gründung des deutfchen Sängerbundes 1862, das Wirken des Bundes, die drei Feſte in Dresden (1865), München (1874) und Hamburg (1882) alles die wird im fünften Buche erzählt. Von der ge mwonnenen Höhe wird dann wiederum ein Umblid gehalten über die

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Einzelbünde und »Bereine in ganz Deutichland, einſchließlich Deutſch— öfterreih8 und Böhmens (jechites Buch) und über den deutſchen Männergefang in Ungarn und Siebenbürgen, in der Schweiz, in England, Franfreih, Nordamerika, Jtalien, Griechenland, Türkei, Rumänien, Rußland, Auftralien (fiebentes Buch). Hier will ih nur eine fleine Bemerkung anſchließen. Der vorlekte Ab- jchnitt des Buches hat die Ueberſchrift: „Vorbringen des Männer: geſangs zu den Franzoſen und Engländern“ und joll nicht vom deutfchen Gejang in den genannten Ländern handeln, jondern von franzöfifchen und engliſchen Singvereinen, die in Nahahmung der deutjchen dort entitanden, und von Compofitionen, welche für fie gefchaffen find. Abgefehen davon, daß mit diefem Inhalt der Abfchnitt nicht an rechter Stelle jteht, ift das Thema aud) ein ſolches, daß es, einmal berührt, eine längere Ausführung verdient hätte. Vor allem durfte der jo eigenthümlich entwidelte ſtandinaviſche Männergefang nicht unbeadhtet bleiben. England ift auf einer halben Seite abgehandelt und aud über Frank: reich ließe fi mehr jagen. Der wadere G. Kajtner fommt bei Elben jchleht weg. Allerdings ift Kajtner ein Mann, den man als Ganzes nehmen muß, um für feine einzelnen Zeiftungen, auch die jhmwächeren, den Standpunft billiger Beurtheilung zu finden.

Ueber den im engeren Sinne mufifalifchen Theil des Buches babe ich im Verlauf der Beiprehung nur erft einige gelegentliche Bemerkungen fallen laffen. An der Bearbeitung, die er für die zweite Auflage erfahren mußte, hat ſich Capellmeifter Schletterer in Augsburg betheiligt. Elben jpricht fih im Vorwort darüber aus, wie weit Schletterer® Mitwirkung geht: fie betrifft zumeift die neuere Zeit. Ich habe ſchon gejagt, daß eine jo vollftändige Trennung der rein mufifalifhen Würdigung des Männergefanges von feiner gejelligen, politifchen und nationalen mir nicht un- bedenklich erjcheint. Nehmen wir aber die Sache hin jo wie fie

nun einmal ift, jo findet fih auch in diefem an manches Philipp Spitta, Nufitgeihichtliche Auffäge.

treffende Wort und über die Charafteriftifen von Nägeli, Zelter, Kreuger, Silder fann man als mwohlgelungene erfreut fein. Andere Meifter: Schubert, Mendelssohn, aud) Friedrih Schneider, wollen in ihrer Individualität nicht recht Elar werden, und bei Weber fehlt vor allem der Hinweis auf die enorme tonbildliche Kraft, die er felbit im Fleinften feiner Männerchöre an den Tag legen kann’). Der Berfaffer hält fich leicht zu jehr im AU- gemeinen; eingehendere technifche Unterfuchungen, 3. B. über die Behandlung und Erweiterung der Liedform bei den verjchiedenen Meiftern und über ihre Art, mehrſtimmig zu fegen, wären bier jehr erwünjcht und zur gänzliden Erfüllung der Aufgabe auch unerläßlihd. Zur Belebung der Charafteriftif hätte e8 gedient, wenn von den Dichtungen häufiger und eingehender die Rede gewejen wäre, denen die Meifter ihre Töne gefellt haben. Auch die Veranlafjungen, auf welche, die Zeit und die Verhältnifie, in welchen gewiſſe befonders bedeutfame Gejänge entitanden find, lernte man gern genauer fennen. Bei den bervorragenditen Meiftern vermißt man eine annähernd vollzählige Angabe ihrer Werke, jo weit irgend möglich mit Entitehungs= oder doch Erfcheinungsjahr ; bei Marfchner z. B. finde ih nur einen Eleinen Theil der Lieder, die unbeftritten erſten Ranges find, verzeichnet, und bei feinem die Opuszahl, zu der es gehört. Meine Haupteinwendungen gegen den ganzen Abjchnitt möchte ih in zwei Punkte zufammenfaffen. Der eine: Der innere Zufammenhang zwijchen den einzelnen Componijten und jomit

1) Elben fagt S. 402: „Lühoms Jagd ift zum Volkslied geworden mit feinem hinreißenden, alle Hörer zum Mitfingen einladenden Schluß.” Die legten Worte lafjen muthmaßen, dab aud er das Lied nur in jener Verunftaltung kennt, welche den viertaftigen Refrain wiederholt. Dann fällt er allerdings hinreichend in die Ohren. Aber der Zauber des un« vergleihlihen Tonbildes die von fern heranbraufenden und wie im Sturmwind mit Hörnergeichmetter vorüberfegenden Reiter ift völlig zer— ftört. Es ift Zeit, gegen diefe Mißhandlung eines Meiſterſtückes einmal nahdrüdlid Verwahrung einzulegen.

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das eigentlih Muſikgeſchichtliche wird nicht deutlih. Unſer Verfaſſer theilt allerdings den Stoff in mehrere Paragraphen, und was in einem Paragraphen zujammen abgehandelt wird, ſoll offenbar auch in einer engeren Beziehung ftehen. Aber id} ver- mag diefe Beziehung in jehr vielen Fällen nicht zu finden und vermiſſe ſowohl Princip als Methode der Darſtellung. Warum wird in 8 61 der Schwabe Kreutzer (S. 413) von den andern ſchwäbiſchen Tonjegern (S. 417) abgetrennt, und warum dieſe wieder von dem Volksliedermanne Silder (S. 423)? Zwijchen diefem und jenem beſteht doch eine augenfällige künſtleriſche Verwandtihaft. Wie verfchieden find beide von Marfchner, wie verſchieden alle drei wieder von Loewe! Und doch werden uns mittelbar nad Kreuger erſt dieſe legteren und dazu noch Meth- fejfel und Neißiger abgehandelt. Schneider dagegen, der un- zweifelhaft mit ihnen zufammengehört, ift im vorhergehenden Paragraphen befprochen und befindet ſich hier zwischen den Berlinern einerjeit8 und Spohr und Schubert andrerjeits. In S 62 wird für einen neuen Zeitabſchnitt Mendelsjohn als beherrfchende Berfönlichkeit aufgeftellt. Unter jeinen „Zeitgenoffen und Nach: folgern” finden wir auch die Brüder Lachner. Man wundert ſich darüber um fo mehr, als Franz Lachner vom Verfaffer ſelbſt „ver legte Vertreter der klaſſiſchen Zeit“ genannt wird. In der That gehört er zur Wiener Schule, ift Süddeutjcher vom Wirbel bis zur Sohle, war alfo mit feinem Freunde Schubert, auch mit Kreuger zuſammen und ſammt diejen möglichit in die Nähe Webers zu bringen. Aber zwijchen ihm und Mendels— fohn find feine Gemeinjamfeiten. Unter den Nachzüglern Mendels— ſohns, die in recht bunter Reihe vorbeidefiliren, bemerken wir zu unferer Ueberrafhung F. Küden, der freilih in Saden des Geſchmacks jehr viel von Viendelsjohn hätte lernen können, es aber leider nicht gethban bat und im übrigen außer jedem inneren Gontaft mit ihm ſteht. Nach dem Ende des Zuges hin

wird es dann immer tumultuarijcher, auf den letzten Geiten 21*

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drängen fih nur noch Namen vorüber, darunter mand) einer, der, wenn aud in Mendelsjohns Gefolgichaft, doch einen aparten Platz verdient hätte, wie der liebenswürdige, feingebildete Wilhelm Taubert. Eold ein Verfahren ifi auch dem Nachſichtigſten zu bunt. Und erwägt man es genau, jo wird ſich finden, dab Mendelsjohn die Rolle eines Führers in der Geichichte des Männergefangs überhaupt nicht beanjpruden fann. Seine Männerhöre find ausgezeichnet durch Friſche, Gemwähltheit und geiftvolle Arbeit. Sie ragen dur ihre künſtleriſche Vornehm— heit hoch hinaus über das Meilte, was um 1840 erſchien. Dennod ift von der Grundempfindung, die jeit Anfang des Jahrhunderts im Männergefang Ausdrud ſuchte, fein ſtarkes Maß in ihnen zu entdeden. Mit dem ihm eignen wunderbaren Stilgefühl hat er fih auch bier dem Charakter der Form an- geihmiegt. Aber er ericheint mehr von der Zeitwoge getragen, als daß er jie fich zu Dienft gezwungen hätte. Eher ließe ſich noch behaupten, daß er mit feinen großen, begleiteten Werfen, dem Feſtgeſang an die Künftler und den beiden Sophofleiichen Tragödien neue Wege geöffnet hätte.

Der andere Punkt iſt diejer, daß zwijchen den verjchiedenen Formen, in weldhen Männergejang möglih und im Verlauf der Geſchichte auch thatjähli geworden iſt, nicht in gebührender Weife unterjchieden wird. Wer nur einigermaßen in der Muſik des 15. und 16. Jahrhunderts bewandert ift, der weiß, daß bier Tonfäte, weldde nur von Männerjtimmen angeführt werden jollen, etwas ganz Gewöhnliches find. Hätte nun der Verfaſſer vom mebrjtimmigen weltlichen Liede Senfl3 oder Haßlers geiprocen, jo wäre zwar feitzuftellen gewejen, daß diejes in Tonalität, Art der Mehrſtimmigkeit, großentheils auch Bejegung vom Männer: horliede wejentlich verfchieden ift. Aber man hätte wenigitens einige Aehnlichkeiten zugeben können. Wo aber dieje bei den polyphonen Meſſen und Motetten zu finden jein follen, wenn man jih nicht eben damit begnügen will, daß manche Stüde ohne Mit:

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wirfung der Sängerfnaben von den männlichen Sängern allein ausgeführt wurden, ift gar nicht einzufehen. Mit gleihem Rechte hätten auch alle die Compofitionen, die in den „Männergejang- vereinen“ des 17. und 18. Sahrhundert3 ausgeführt wurden, genannt werden fönnen. Welchen Zwed hat es ferner, in den Werten Händels und Haydns nad Stellen zu fuchen, wo ein- mal nicht der volle Chor, jondern nur die Männeritimmen als Theil des Chor verwendet werden? Bollends in den Overn Glucks, Mozart3 und anderer, da bier der Männerchor oft durd) rein dramatiihe Gründe bedingt ift? Alle diefe Bemühungen führen eher von der Sache ab, als zu ihr bin, und find daher eben jo wenig am Plate, wie das gefammte erite Buch des MWerfes, über das ich mich oben weiter verbreitet habe.

Der Grund und Boden des modernen Männergejangs ift das Lied, und zwar das unbegleitete mehritimmige Lied. Die Vereinigung diefer drei Merkmale ließ eine Kunftform entitehen, welche am Anfange unferes Jahrhunderts etwas durchaus Neues war. Es gab feinen umbegleiteten Kunftgefang im 18. Jahr: hundert, wenn man nicht etwa die Gejänge der Currende aus: nehmen will. Wer die Berliner Singafademie als Pflegerin eines ſolchen anführt, verwechjelt daS Später mit dem Früher. Unter Faſch und Zelter, aljfo bis zum Jahre 1832, it bier niemal3 ohne Begleitung gejungen worden; wenigitend war immer ein accompagnirender Flügel da. Selbit die erften Männer: höre, die aus diefem Kreife hervorgingen, jollten accompagnirt werden: in zufälliger Ermangelung eines Clavierd nahm man eine Guitarre, aber das ärmliche Gellimper verfhwand in den Mafien der kräftigen, friſchen Männerftimmen, die auch ohne Stüge im Ton blieben, und nun erit ging man wenigitens beim Männergefange und in der bald darauf gegründeten Liedertafel dauernd zum unbegleiteten Gejange über!). Welche Folgen die Befreiung des auf fich ſelbſt geitellten Gejanges für die Stimmen:

1) Bornemann a. a. O. S. X.

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führung und für die Behandlung der Harmonie haben mußte, fieht ein jeder. Sie bildet aber auch die nothwendige Voraus: fegung für eine volfsthümliche Entwidelung des Männergejanges. Das accompagnirende Clavier feifelt den Gejang ans Zimmer: er bleibt Haus» oder Kammermufif. Erit wenn er gelernt hat, fih nur durch die eignen Schwingen tragen zu laſſen, fann er ausfliegen ins Freie, wie der Vogel aus dem Käfig. Nun fönnen die Sänger ihr Lied ertönen laffen im Wandern und in der Maldesrube, auf der MWogenbahn, unter dem Fenſter, im Lager: leben des Krieges, wo fie gehen und ftehen. Das unbegleitete Geſangſtück mußte von mäßigem Umfang und einfach gegliedertem Wuchs fein, um nicht zu große Schwierigfeiten für die Aus: führung bervorzurufen. Diejen Anforderungen entjprad die Liedform aufs vollfommenfte, und durch eines jener glüclichen Zufammentreffen, die immer eintreten, wo etwas Bedeutendes entitehen joll, ereignete es jih, daß die Poeſie das Verlangen der Mufif in ausgiebigiter Weife befriedigen fonnte dur einen Reichthum jchönfter Lyrik, wie er in Deutſchland niemals größer dagemwejen war. Wer nun die mufifalifche Gefchichte des Männer: geſangs darftellen will, der muß vom unbegleiteten mebhritimmigen Liede nicht nur ausgehen, fondern es auch in feiner Pflege und in jeinen Wandlungen bis auf die neuejte Zeit beftändig als Richtſchnur nehmen. Dadurd würden gleich anfangs die meiiten und bedentenditen Compofitionen Franz Schuberts als nicht zur Sache gehörig abgetrennt. Gegen ihre rein mufifaliihe Schön- heit joll nichts aejagt und ebenfomwenig joll es unjeren Männer: gejangvereinen verwehrt werden, fich gründlich mit ihnen zu be- ichäftigen. Aber fie gehören in einen ganz andern geihichtlichen Zufammenhang. Mebritimmige Gejänge mit Clavierbegleitung, aljo fürs Haus oder den Privatfalon bejtimmt, waren furz vor: ber in Wien aufgefommen, und zwar durch Joſeph Haydn. Die ausgezeichnet ſchönen geiftlihen und weltlichen Gejangjtüde, welche man in Band VII und IX der alten Breitkopf und

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Härtelichen Ausgabe vereinigt findet, begründeten eine neue Gattung feiner Geſellſchaftsmuſik. In ihren Kreis gehört zumeiit, was Schubert für Frauen- oder Männerftimmen mit Begleitung componirt bat, oder es tft doch, wie der „Nachtaefang im Walde“ und der „Geſang der Geilter über den Waflern“ von diefem Aus: gangspunfte entwidelt, freilich mit Schubertiher Kühnheit. Es handelt fih auch bier nicht eigentlih um Chorgejang, wennjchon manche Gejänge eine ſtärkere Belegung vertragen. Aus diefer Darlegung ergibt ſich aber der innere Grund, warum Schuberts Männergefänge im weiten Bereich der Liedertafeln und Liederfränze jo lange unbeacdhtet blieben. Nicht einzig aus Sleichgültigfeit diefer Kreife gegen ihre oft bezaubernde Schön: heit geſchah es, fondern weil fie eben eine ganz andre Wurzel hatten, als das volfsthümliche Männerlied, und deshalb fremd- artig anmuthen mußten. Aus dem Wege zu jchaffen für ben geichichtlihen Entwidelungsgang, wie ich ihn mir denke, wären ferner die meijten großen Compofitionen für Männerchor und Orcheſter oder Orgel ſeit Mendelsjohns Zeit. Deſſen „Felt gefang an die Künstler”, Schumann Piotette „Verzweifle nicht“, Lachners „Sturmesmythe”, Brahms’ „Rinaldo*, Bruchs „Frith— jof“, „Römifher Triumphgejang”, „Salamis“, „Normannen- zug” alle diefe und viele andere Werke erjcheinen in Formen, die mit der Grundform des Männergefangs nichts zu thun haben. Wenn die ganze Entwidlung des Männergefangs während der erften vierzig Jahre diefes Jahrhundert? nicht vorhanden gewejen wäre, jo fünnten fie, auf ihren muſikaliſchen Bau hin betrachtet, dennoch eben jo wohl componirt worden fein, wie das D-moll-Reguiem des Ausländers Cherubini. Natürlid muß in ſolchen Stüden auch der mehrftimmige Vocaljag ein ganz andrer werden, vor allem wird die Vierftimmigfeit unhaltbar, die nur im unbegleiteten Geſange ihre Berehtigung, wir fönnten aud jagen: ihre Entichuldigung findet. Die Sache liegt doch jo, daß nachdem einmal die großen Männerchöre überall in Deutſch—

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land entſtanden waren, die Componiſten ſich dieſe ſchönen Or— gane nicht entgehen laſſen wollten und ſie nun nach ihrem Er— meſſen verwendeten, nicht aber ſo, daß ihre großen Compoſitionen eine genetiſche Fortentwicklung der Formen darſtellten, auf die der Männergefang ſich allein gründete und gründen konnte. Hält man diefe Dinge nicht jtreng auseinander, dann ift es nicht möglich, Gefchichte zu jchreiben, das Berfahren fann nur in einer Zufammenfhüttung von Einzelheiten beftehen, mobei e3 möglid wird, ſogar die „Rhapfodie” von Brahms unter die Männerhor-Compofitionen zu rechnen.

Ich brauche mich wohl nicht dagenen zu verwahren, daß ich die künſtleriſche Berechtigung der vielen vortrefflichen Compo- fitionen für Männerchor und Ordefter an fi nicht angreife. E3 handelt fih nur darum, für eine geordnete willenjchaftliche Darftellung die Bahn frei zu machen. Die Einförmigfeit jeines Klangmaterial3 wird es dem Männerchor immer vermehren, die Größe feiner Formen über eine gewiſſe eng geftedte Grenze hinaus auszudehnen, wogegen der Zutritt des vielgliebrigen und und vielfarbigen Orcheſters fogleich große Dimenfionen ermög: liht. Daß es indefien auch dem unbegleiteten Männerchore nicht unbedingt verfagt ift, fich über die enge Liedform hinaus zu verbreiten, können die beiden Vokal-Oratorien Loewe's be- weiſen, und es ift bedauerlich, daß Niemand in biefer Richtung weiter gearbeitet hat. Auch die geiltlihen Motetten, Pſalmen, Hymnen u. ſ. w., wenn jchon jie mehr nur einen praftijchen Nothbehelf darstellen und von der Entwidlungsbahn des Männer: gefangs wie der Kirchenmuſik gleichermaßen abfeits liegen, haben doch in manch einem Falle bewiejen, daß das Material dehnbar genug ift, um auch für größere Gebilde auszureichen. Indeſſen gewährte ſchon die Liedform allein Abmwechslungsmöglichkeiten genug, welche ſchöpferiſche Geifter immer wieder von neuem be- ſchäftigen konnten und die nachzumweifen eine vornehmfte Pflicht der Gefhichtöforihung wäre. Darüber hinaus hat das Männer:

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chorlied die Entjtehung andrer Kunftgattungen bewirkt, und er- fcheint in diefer Eigenfchaft in einem neuen, bedeutjamen Lichte. Daß mit der Zeit auch der Frauenchor jelbjtändige Pflege er- fuhr, ergab fih jchon aus dem Gegenjage, doch fonnten bier die Refultate aus manchen Gründen feine erheblichen werben. Aber das mehrftimmige Lied für gemifchten Chor ift dur das Männerhorlied ins Leben gerufen. Es bat einen befonderen Reiz, diefem Hergange nachzuſpüren, nicht zum wenigjten des— halb, weil man dabei wieder auf die Berliner Liedertafel ala ersten Entwidlungsanfagpunft zurüdgeführt wird. Bei befonders feitlichen Gelegenheiten, 3. B. dem Geburtstage de3 Königs und der Königin, pflegte die Liedertafel Damen des fingafademifchen Kreifes einzuladen, welche fih dann am Gejange betheiligten. So entitand eine neue Art von Geſellſchaftsgeſang für vier, fünf, ſechs und mehr gemischte Stimmen. Aus den Büchern der Liedertafel kann man ſich darüber unterrichten, ich ziehe es vor, auf Webers gedrudte Lieder für gemifchten Chor hinzu- weifen. Im Sommer 1812, zu derjelben Zeit alfo, da er für die Liedertafel das „Turnierbanfett“ jchrieb, componirte Weber vier mehrftimmige Lieder theils für Friederike Koch, theils für Frau Jordan-Friedel und deren Kreis, d. b. den Singafademie- Kreis, denn beide Damen gehörten ihr al3 Hauptitügen an, zu- dem waren Flemming, der Verlobte der Koch (r 1813, Componift des Integer vitae), und der Gatte der ordan » Friedel eifrige Liedertäfler. Die Lieder find: „Lenz erwacht und Nachtigallen“ (3. Suni 1812) für 2 Soprane, 2 Tenöre, 2 Bälle, „Zur Freude ward geboren“ (17. Juni 1812) für 1 Sopran, 2 Tenöre und Baß, „Geiger und Pfeifer, hier habt ihr Geld darauf“ (6. Aug. 1812) für diefelben Stimmen, „Heiße, ftille Liebe jchwebet“ (8. Aug. 1812) für diefelben Stimmen. Schon ein Blid auf die Bejegung zeigt, auf melden Weg fih die Phantaſie des Componijten hatte leiten lafjen. Den Stamm des mehrftimmigen Körpers bildet der Männerchor, ihm ift durch Hinzufügung

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einer Sopranftimme, oder zweier, gleihjam noch ein Stodwerf aufgejegt. Dur die natürliche Beſchaffenheit der menjchlichen Stimmen und ihr Berhältniß zu einander kann eine ſolche Be- fegung nicht hervorgerufen fein, fie muß ihren äußeren Grund haben, der hier eben die Anfnüpfung an den Männerchor der Liedertafel war. Chorlieder diefer Art entftanden dann fort und fort. Auch Marfchners drei jechsjtimmige Gefänge Op. 55, welche gegen Ende der zwanziger Jahre in der Zeit jeiner „Zunnellieder” componirt find, gehören dazu. Sie find für 2 Soprane, 2 Tenöre, 2 Bälle geſetzt und „der Singafademie zu Berlin ſowie deren würdigen Direktor Herrn Profefjor Zelter“ gewidmet. Es verfteht fih ſchon nah den Terten von jelbit, daß nicht die eigentliche Singafademie gemeint ift, jondern die Liedertafel in ſolchen Fällen, wo Damen eingeladen wurden. Das erite Lied ſcheint fogar auf die „obligaten Elingenden Gläſer“ eingerichtet zu fein, womit die Liedertafel manche ihrer Tafelgefänge zu accompagniren pflegte. Mendelsjohns Lieder für gemifchten Chor kommen, mit einer früheren Ausnahme, erſt 1839 zum Borjchein, da aljo das Männerchorlied ſchon jeit Sahrzehnten in jchöniter Blüthe ftand, und Mendelsfohn jelbit bat fich diefem früher zugemwendet, als jener Gattung. Ob aud bei ihm Berliner Anregungen mitwirkten, bleibe bier dahin— geitellt. Da mittlerweile überall in Deutichland fich Vereine für gemischten Chor gebildet hatten, mußte e8 in der Luft liegen, da3 Beijpiel der Männerchöre mit anderem Material nachzuahmen. So gewiß nun das Lied für gemiichten Chor die höhere Kunit- gattung von beiden ift, jo ficher ift anderjeit3, daß es in dem MWettftreit mit dem Männerchorlieve den kürzeren gezogen hat. Es läßt fih daraus wieder einmal erkennen, wie viel in der Geihichte darauf anfommt, daß etwas zu rechter Zeit erjcheint. Weil dies beim Männergefang der Fall war, ift er zu einer neuen Kunftgattung erwachlen, die nach jeder Seite bin, auch der technifchen, eine vollitändige Ausbildung aller ihrer Kräfte

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zeigt. Wenn es bei ihm nicht an einzelnen Fällen fehlt, in denen nach einer falfchen Richtung erperimentirt ift, jo kommt dergleihen in der Entwidlung jeder Kunftgattung vor. Im allgemeinen muß gejagt werben, daß fich in der Art für Männer- gejang zu ſchreiben eine feſte Technik hergeſtellt hat, die für alle Zeit als Mufter gelten fann. Anders im Lieb für ge mijchten Chor. Es ift nad Mendelsfohns Vorgang viel ge: pflegt worden. Aber wollen wir ehrlich urtheilen, jo ift feiner über das hinausgefommen, was jener beim eriten Anlauf jo glüdlich erreicht hat. Die meiften find weiter hinter ihm zurück— geblieben. Die reicheren Mittel des gemifchten Chorlieds find nicht entfernt jo volftändig und ſachgemäß ausgenugt worden, und wenn man die Blüthe des mehritimmigen A cappella- Sejanges im 16. Jahrhundert vergleicht, jo darf man, ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, doch wohl jagen, daß unfere Zeit im Belang der Technik fich zu jenem verhält, wie der Stümper zum Meifter. Der Grund mag mit darin liegen, daß jene alten Mufter erft in neuefter Zeit anfangen, den Mufifern befannter zu werden, die meilten alio auf Erperimentiren an- gewiejen waren, in dem fie ihr Stilgefühl nicht immer fo ficher leitete, wie Mendelsjohn. Aber der Hauptgrund war doch wohl ein anderer. Das Madrigal der Italiener, das Lied der Deutjchen wäre im 16. Jahrhundert nicht zu jener außerordentlichen Aus- bildung gelangt, wenn nit namentlid in Stalien die gejellichaftlichen Verhältniſſe fie im höchſten Maße begünitigt hätten. Im Deutfchland unferes Jahrhunderts fehlte dieſe Gunft der Verhältniſſe. Die Stätten, wo allein das Lied für gemiſchten Ehor eine wirklich fördernde Pflege bilden konnte, waren die großen Chorvereine. Sie aber hatten wichtigere Auf: gaben und konnten das Lied mur als Mitläufer behandeln. Da- gegen traf beim Männergefang alles zufammen, was zur Pflege des Liedes nur irgend gewünſcht werden konnte. Nicht an legter Stelle ift dahin zu rechnen, daß die Männerchorlyrik fich

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auf einem unbegrenzten Gebiete bewegen konnte, während für den gemijchten Chor die Wahl der poetiſchen Gegenftände, eben weil Frauen fich betheiligten, eine beſchränkte jein mußte.

Doch genug von diefen Dingen, die über das Gebiet hinaus: führen, das zu bearbeiten unfer Berfafier ſich vorgefegt hatte. Was ih angedeutet habe, jollte nur die Anficht weiter begründen, daß nicht allein in jozialer und politifcher, jondern aud in rein fünftlerifcher Hinficht die Hauptbedeutung des Männergeſangs ganz und gar auf dem Liede beruht. Jetzt, da er ſich dem Ab- ſchluß einer großen Periode zu nähern jcheint, ift e8 gut, auf diefe Wurzel jeiner Kraft mit Nahdrud hinzuweiſen, damit Die Kraft nicht in falſcher Züchtung vergeudet wird.

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Iohann Georg Kaſtner.

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K aftner, Johann Georg, wurde den 9ten März 1810 in Strasburg gebohren. Früh jchon verrieth er eine vorzüg- liche Neigung zur Muſik. Im ſechſten Jahre erhielt er Unterricht im Clavier und im Gejange. Neben jeinen Mufitbejchäftigungen frequentirte er das Strasburger Gymnafium, wo er alle Bor: jtudien machte, die zur fünftigen Laufbahn, der theologifchen nehbmlih, der man ihn beftimmte, [verlangt wurden]. Sein Fleiß und jein Augenmert war jedoch im bejonderen Maaße auf die Erlernung der Mufif gerichtet. Auch waren feine Fort- ſchritte im Klavier, nad) kurzer Zeit, von erheblihem Erfolge, und als Knabe noch wagte er jchon einige Eleine Kompofitions- verfuhe. Zudem lernte er die hauptjächlichiten Inſtrumente fennen und behalf fich hiebei jelten fremden Rathes. Im Jahre 1826 fam ihm ein altes Manujcript zu Gefichte, das von Harmonie handelte; durch diefe Schrift angeregt, ſah fich K. nad) größeren Werfen um, und ftudierte zu diefem Behufe die vor- züglichiten deutjchen Lehrbücher der Tonkunft. 1827 wurde er in die Matrifel des theoloygifchen Seminariums aufgenommen. Sn den Serien defjelben Jahres jchrieb er eine Duverture, Chöre, Märſche, Zwifchenacte zc. zu einem Drama: „die Erftürmung Mifjolonghis”, mit Succeß auf der Strasburger Bühne vor- gejtellt; wie auch die Ouverture, Entr’ actes, Marches ıc. des Dramas: „der Schredenftein“.

Nah vorhergegangenem, glücklich beitandenem Staats- eramen überjandte ihm, 1829, die Parifer Academie das Diplöm eine® Bacchelier-es-lettres. Um dieſelbe Zeit aud erhielt R. vom SKapellmeijter Maurer Unterricht in der Ipnftrumentation und practijhen Compofition, und 1830 machte ihn der Muſik— director Roener mit der Xehre des doppelten Contrapunctes und der Fuge befannt. Im folgenden Jahre fam Kaftner in den Beliß der Werfe Reicha’s, die er ftudirte. Nebenbei componirte er mehrere Serenaden für Männerftimmen mit Begleitung von Bledinjtrumenten. 1832 verfaßte er eine große Oper in fünf Acten „Gustav Wasa* (im nehmlichen Jahre aufgeführt). Hier— mit war aber auch über jein fünftiges Leben entſchieden, er trat freiwillig von der Theologie ab, um ſich mit ungetheiltem In— terefje der Tonfunft hinzugeben. 1833 verfafjte er eine zweite fünfactige Oper: „die Königin der Sarmaten“, 1835 vorgeftellt. Sodann „der Tod Oscar's“, Oper in 4 Ncten, und „der Sara- jene”, eine komiſche Oper in 2 Acten.

1835 begab ji) Kastner nad) Paris, wo er fid gleich anfangs mit Reicha verband, der, in freundſchaftlichem Verkehr, belehrend auf den jungen Künſtler einwirfte.

Hierauf veröffentlihte K. nad einander folgende Werfe, die ſämmtlich die Approbation der Academie royale des Beaux- arts de l’Institut de France erhielten”... .

Der Lefer, dem nicht unbefannt jein wird, daß Johann Georg Kajtner unlängjt einen Biographen gefunden bat, irrt, wenn er etwa meinen jollte, daß diefe Notizen aus dem Werke Hermann Ludwigs ausgezogen feien, oder fonft in irgend einem Zufanmenhang mit ihm jtänden. Kaſtner wurde 1843 auf Meyerbeers Vorjchlag zum auswärtigen Mitglied der könig— lihen Afademie der Künfte zu Berlin erwählt. Es iſt üblich, bei diejer Gelegenheit eine kurze Autobiographie einzureichen, welhe im Archiv der Afademie niedergelegt wird. Mit jener Skizze hat Kaſtner diejer Sitte entſprochen. Es folgt dem legten Sate noch die Aufzählung feiner theoretifhen und praktifchen

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Werke; dann erwähnt er jeiner 1840 erfolgten Promotion zum Ehrendoctor der Univerjität Tübingen und nennt die deutjchen und franzöfifchen Zeitfchriften, an denen er mitarbeitet. Dem Verfaſſer der Biographie ift diefe Duelle unbekannt geblieben. Es lohnt ſich, fie nachträglich ans Licht zu bringen, weil fie in einigen Einzelheiten jeiner Darjtellung widerſpricht. Ich maße mir nicht an, zu entjcheiden, auf welcher Seite das Recht ift. Sicherlich verdienen Kaftner3 eigene Angaben volles Vertrauen. Aber auch der Biograph hat gewilfenhaft gearbeitet, und es ift nicht unerhört, dab fich jemand über eigne Erlebniffe nach Jahren im Irrthum befindet. Warten wir aljo ab, ob der Verfaſſer fih veranlaßt fieht, in der Sache jelbit das Wort zu nehmen.

Die Anregung zu dem biographifchen Denkmal, melches Kajtner 19 Jahre nach jeinem Tode erhalten hat, ift von deſſen Wittwe ausgegangen’). Ihrer Pietät ift die prachtvolle Aus: jtattung des Buches zu verdanken; fie iſt es jedenfalls auch zunächit gemweien, die dem Biographen das Material geliefert hat. Durch dag vereinigte Bemühen beider ift ein werthuolles Werk zu Stande gebracht worden. Mit ihm betritt Hermann Ludwig (von Jan), der als Schriftiteller in Straßburg lebt, meines Wifjens zum erjten Male das Gebiet der Muſikwiſſenſchaft. Er hat mehr zu geben getradhtet, al3 eine einfache Lebensdarftellung. Er hat gefucht, die Biographie zum Gefhichtsbilde zu ermeitern. Hier- zu war er, jowohl wegen der reihen Begabung und Wirkjam- feit, als auch wegen der Eigenart Kajtners wohl berechtigt. Diefe Eigenart aber beruht auf einer Verquidung germanijchen Weſens mit franzöfifcher Kultur, wie fie eben nur an dem Elfäffer, oder richtiger: Straßburger unferes Jahrhunderts zu

1) Hermann Ludwig, Johann Georg Kaftner. Ein elfälfifcher Tondichter, Theoretifer und Mufifforfher. Sein Werden und Wirken. Zwei Theile in drei Bänden. Mit einer Bortraitradirung Kaftners, Licht- drud-Abbildungen, Facfimiles und Muſikbeilage. Leipzig, Breitlopf und Härtel. 1886.

Philipp Spitta, Mufikgeihichtlihe Aufjäge. 22

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Tage treten fonnte. Wenn alfo der Biograph in weit aus- greifender Einleitung die politiiche und geiftige Entwidelung des Eljaffes von alter Zeit her dargelegt, jo hat er fich dadurd nicht nur den Dank aller derjenigen Deutjchen verdient, welchen nicht geitattet ijt, durch eigne Studien und Erfahrungen ich von diefen Dingen ein Bild zu machen, denen aber Belehrung bier: über ſchon aus vaterländifchen Gründen hocherwünſcht jein muß. Er hat durch jeine Schilderung zugleich die unentbehrliche Grund- lage zum Berftändniß und zur richtigen Würdigung der Perjön- lichfeit Kaftnerd gegeben. Ein echter Sohn des alemannijchen Elfaß, aber durch Schidfal und eigne Neigung beitimmt, in der galifhen Hauptitadt zu leben und zu wirken, gehörte er zu den Talenten, „weldje in friſchem und lebendigem geiltigen Stoff: wechjel ihrer Nationalit& morale und Nationalite politique im Boden des Ndoptivvaterlandes Früchte trugen, in denen Die durchaus vorwiegende urheimathliche Natur jener zur Ehre, dieſer zu Nug und Frommen gereihte”. Solche Talente jind „jelten genug, um in ihrer Eigenart erhöhtes Intereſſe für ihren Ent: wicklungs- und Schaffensgang zu erweden“ (IL, 54). Darum it e3 auch jehr wohlgethan, wenn der Berfajler bei der Erzählung von Kaftners Jugend eingehend verweilt und die ihn umgebenden Zuftände zu breiter Anjchaulichkeit gelangen läßt.

Schade nur, daß das Beitreben, den Hintergrund allent: halben recht reich auszufüllen, manchmal zu einer Verwiſchung der Grenzen geführt hat, die zwischen Biographie und allgemeiner Geſchichte beitehen. Wie viel von dieſer einem Lebenäbilde zugejeßt werden darf, dafür gibt es einen ficheren Maßitab. Zuftände oder Bewegungen der Allgemeinheit dürfen fich nur dann vor dem Leſer entfalten, wenn das Individuum, deſſen Leben bejchrieben wird, eine Spige derfelben bildet, in ihnen eine Führerrolle jpielt. Die Spige kann hoch oder niedrig, die Fübrerrolle groß oder Elein gemwejen fein. Se nad diejen Er: wägungen wird der Schriftiteller das Geſchichtsbild ausführlicher geitalten oder mehr nur andeuten. Fit eine beitimmende Be

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theiligung des Individuums gar nicht nachweisbar, jo muß der tiefe Hinterarund überhaupt verfhwinden. Denn er würde die Theilnahme des Leſers von der Hauptjache abziehen, und eine einheitliche Form des Lebensbildes wäre unmöglich gemadıt. Bon diefem Standpunkte aus beurtheilt, it die Schilderung der Auli-Revolution (1, 225>—243) viel zu breit gehalten: man ver: liert Kaſtner zeitweilig ganz aus den Augen. Was gejagt werden mußte, um Elar zu machen, wie fi Kaſtners Entwidelung in diefe Ereigniffe verſchlang, ließ fi auf wenigen Seiten thun. Das Gleiche gilt von dem „Blid auf Paris im Fahre 1835“ (II, 3—69). Gewann Kajtner für die Pariſer Geſellſchaft unter dem Bürgerfönigthum auch nur annähernd eine ähnliche Bedeutung, wie Alfred de Muffet, George Sand, Heinrich Heine, wie Auber, Dieyerbeer, Lifzt, Chopin? Ich glaube: nein, fo hoch auch jeine hiervon ganz unabhängigen Verdienſte anzufchlagen find. Oder wäre es doch der Fall geweien, jo träte e8 in des Biographen Darftellung nicht hervor, und dann läge der Fehler in ihr. Außerdem aber: von dem Lejerfreis, welchen ſich der Verfaſſer vorgeitellt haben wird, ift wohl anzunehmen, daß er mit jenen Zuitänden mehr oder weniger vertraut if. Auch mit Rückſicht hierauf hätte er fich fürzer fallen fünnen.

Selbft in der ftrengiten wiffenichaftlichen Arbeit jol man niemals die Rüdficht auf die Formgebung gänzlich hintan jegen. Für die Biographie gilt das noch viel mehr. Denn die Biographie iſt feine ausſchließlich wiſſenſchaftliche Form, die Kunft hat an ihr einen jehr erheblichen Antheil. Ich meine natürlich nicht, daß die Strenge der Forichung ſich auch bier nur das Aller: geringite erlaflen dürfte. Aber nothwendig iſt auch, daß endlich ein Ganzes entjteht, das als ſolches einen proportionirten, wohl: gefälligen Eindrud macht. Auch die Schreibart muß auf einen ſolchen Eindrud zielen. Ich berühre bier eine ſchwache Seite unferes Buches. Dem Stil fehlt die Schlichtheit und Natür- (ichfeit, welche bei einem vorwiegend erzählenden Werke den Srundton abgeben jollte. Die Sagbildung ijt ſchwerfällig,

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manchmal labyrinthifch verworren. Man fehe IL, 3, von Zeile 14, II, 381, oben; oder I, 179, von Zeile 6; II, 126, von Zeile 5. Man verfuche einmal, diefe Säge vorzulefen, und beobachte, wie viele der Zuhörer fie verftehen. Ich jchreibe fie nicht ab, weil durch das Citiren von Einzelheiten dieſe leicht unverhältnit- mäßig bhervortreten. Aber wer nachlieſt, wird mir beiftimmen, und ih glaube der Verfaſſer felbft dürfte mir nicht Unrecht geben. Ein gejuchtes, ſchwülſtiges Weſen verftärkt die uner— freulihde Wirkung. Es fehlt dem Schriftiteller gar nicht an Anjhauungen und Bildern; aber was er häufig vermiffen läßt, it Maß und Gefhmad. Die beiden legten der angeführten Stellen bieten Belege: bier will er dur bildlihe Anwendung muſikaliſch⸗techniſcher Ausdrüde eine gewiſſe Stimmung bervor- bringen, die den Inhalt der Sätze heben fol. Ich kann aber nur finden, daß er fich in den Mitteln ganz vergriffen hat. Wie weit fteht er mit diefem Theile feiner Leiftung hinter der Stil: funft der Franzojen zurüd! Und es lag doch jo nahe, ſich ihrer gerade bei diefer Arbeit zu erinnern.

Eine andere Ausjtellung, die ic) den Bemerkungen über den Stil des Buches anjchließe, betrifft die Art, wie der Verfafler die Quellen franzöfiiher Sprade benußt hat. Daß er fie ſehr häufig unverarbeitet in feine Darjtellung einfließen läßt, ſoll ihm nicht vorgeworfen werden, objchon ich glaube, er hätte fih auch hierin mehr bejchränfen fünnen. Unzuläffig aber müjjen die vielen und langen, oft Seiten langen, Anführungen in der Originalſprache erjcheinen. An anderen Stellen freilich gibt er Verdeutihungen, aber ein Grundja des Verfahrens iſt nicht erfennbar, und dadurch wird die Sache noch bedenklicher. Die ſprachliche Einheit in einem Buche feitzuhalten, müßte für jeden Schriftiteller ein Gejeg jein, dem er nur in den dringendften Fällen und dann nie ohne gute Begründung zumider handelte. Der Verfafjer wird nicht einmwenden, daß er bei jedem jeiner Leſer die Kenntniß der franzöfifchen Sprade habe vorausfegen dürfen. Er weiß jo gut wie wir, daß der Uebergang von einer Sprache

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zur andern jedesmal auch einen Umjprung der Stimmung mit fih führt. Selbſt der geduldigite Lefer wird bei ſolch zwedlofer Turnerei endlich müde, zeritreut, verdroſſen. Fremdſprachliches fol man, wenn die Anführung des Originals wiljenichaftlich nothwendig it, als Anmerkung oder Anhang geben. Es ilt beionders der dritte Band, in dem der gerügte Uebelſtand ftörend entgegentritt. Und überhaupt will e8 mir jcheinen, als ob die gründliche Durcharbeitung des Stoffes, melde dem Lejer von Anfang ber ein wohlthuendes Gefühl der Sicherheit gibt, ſich verringere, je mehr es dem Ende zugeht.

Von -dem neunten Abfchnitte des dritten Bandes, der im Küdblid ein Gejammtbild des ganzen Menſchen Kaftner vor uns aufiteigen läßt, gilt dies Urtheil aber nicht. Hermann Ludwig befigt eine Eigenjchaft, welche jchwer genug wiegt, die berührten Mängel auszugleihen, er befigt Gejtaltungsfraft. Dieje zeigt fih nicht nur in dem erwähnten Rüdblid, ſondern auch in der Einleitung des erjten Bandes, in Kaſtners Jugendgeſchichte, in der Erzählung des Lebens Bourjaults und feiner Tochter, kurz überall da, wo es gilt, aus gegenjtändlichem Stoff zu geitalten. Da entitehen unter jeiner Feder anschauliche, lebensvolle Bilder, welche fich der Phantafie des Leſers einprägen, und ich wieder: hole es das hier fich offenbarende Talent ift ſtark genug, um die von jeiner Schreibart ausgehenden weniger günitigen Eindrüde einigermaßen zurüdzudrängen. Seinen Beruf zu biographiſcher Darftellung bat er ermwiejen; möchte es ihm in fpäteren Arbeiten gelingen, auch feinen Stil zu der Anmuth und Klarheit durchzubilden, welche man von feinem Talente erwarten darf.

Nun wird es vielleicht zu hören befremden, muß aber dod) gejagt fein, daß man troß alledem eine erjchöpfende Voritellung von dem, was Kajtner war und wirkte, nicht gewinnt. Wir machen die Belanntichaft eines Charakters von feltener Tüchtig- feit und widmen ihm gern unfere volle Hohadtung und Sym- patbie. Für denjenigen, welcher den Mann aus feinen Werfen

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ſchon kennt, ift das Buch anregend und belehrend. Wer aber von feiner Bedeutung noch nichtS oder wenig gewußt hat und ih fürdte, die Mehrzahl der Leſer ift in diefer Lage —, der wird auch nach Leſung des Buches in der Hauptſache nicht viel beſſer daran jein. Der Verfafler, fo löblich beftrebt, ung Kaftner überall in lebendiger Verbindung mit feiner Mitwelt zu zeigen, bat auf eine kritiſche Prüfung feiner Werke faſt ganz verzichtet. Wir erfahren nichts über Stil und Gehalt jeiner Jugendcom: pofitionen, nicht8 über die Vorbilder, welche fih in ihnen er- fennen lafjen. An einer Stelle werden Weber und Beethoven al3 Diejenigen Meifter genannt, zu denen er fih am meiften bingezogen fühlte, doch fei fein eigenes Schaffen frei geblieben von eigentlichen Anklängen (III, 273). Sind hiermit nur die Werfe Kaftner® aus der Zeit feiner Reife gemeint, oder aud jeine Jugendwerke? Und wenn auch in diefen feine Anlehnung fihtbar wird, worauf jtüßt fi die Behauptung innerer Ver: wandtihaft? Welche Stellung nimmt er in Paris als Opern— componift zu jeinen Zeitgenofjen ein? Wie verhalten ſich feine Männerchöre zu den gleichzeitigen deutihen? Welcher Art ift der Stil feiner Sympbonie-Gantaten? Bei den muſikwiſſen— Ichaftlihen Werken Kaftners fragt man nad) der Art der Forfhung, nad) der Bedeutung und Sicherheit der Rejultate, nah der Stellung, welde Sajtner unter den Muſikgelehrten unferes® Jahrhunderts einnimmt. Aber auf alle dieje ragen erhält man feine, oder nur eine unzureichende Antwort, und doch lag bier eine bedeutende und lohnende Aufgabe vor. Der Verfaſſer beſchränkt ſich meift darauf, die Urtheile der Zeit- genofien über Kaftners Werke anzuführen. Wenn er einmal zur eigenen Analyfe eines „Livre-Partition* anjeßt, jo entlehnt er die Mittel zu ihr aus den Echriften Richard Wagners und bringt dadurch unmifjentlich die ganze Kunft und Wiffenjchaft Kaftners in ein faljches Licht. Wagners Abhandlungen find reih an urjprünglichen und bedeutenden Gedanken, aber ftrena genommen laſſen fich diefe nur auf jeine eigenen Kunſtwerke be

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ziehen. Auf andere Compoſitionen paſſen ſie nicht, auf diejenigen Kaſtners wohl am allerwenigſten. Schlimmer freilich iſt es noch, wenn von Schopenhauer die Werkzeuge geborgt werden, um in das Innerſte der Muſik einzudringen.

Die Frage, ob Kaſtners Muſik vorzugsweiſe deutſches oder franzöſiſches Gepräge zeige, ſcheint der Verfaſſer in erſterem Sinne zu beantworten. Er ſagt, daß die Muſik im Elſaß immer einen vorherrſchend deutſchen Charakter getragen habe (1, 52 f.), und weiß dies auch bi zu einem gewiſſen Grade glaubwürdig zu machen. Daraus fönnte denn mit einigem Rechte gejchloffen werden, daß aud Kaſtner der Mufiker in deutſchem Weſen wurzle, wozu feine Vorliebe für Beethoven und Weber ftimmen würde. Die Wirklichkeit aber widerjpriht dem. Zwar jeine ungedrudten Augendwerfe jind mir unbefannt; fie find auch nad dem im dritten Bande befindlichen VBerzeihniß zum größten Theil nicht mehr erhalten; vielleicht würden vor allem die Sinfonien und Duverturen interejjante Einblide in jeine Entwidelung gewähren. Aber wenn das Kind des Mannes Vater ilt, fo läßt ſich doc von den reifen Werfen ein leidlich ſicherer Rückſchluß wagen. Diefe nun verrathen kaum irgend welche deutſche Einwirkung. Einiges, worin man Webers Geiſt ahnen mödte, wie der Cheur des Songes in der Symphonie humoristique: Les Cris de Paris, läßt ſich eher noch auf Boieldien zurüdführen. Don Beethoven vollends nirgends eine Spur; wer die Duverture zur Symphonie - Cantate La Saint-Julien des Menetriers ge— jchrieben hat, der ftand ficherlih dem deutſchen Sinfonifer oänzlih fern. Ich ſuche nicht nach Anflängen, jondern nad) jener tieferen Verwandtſchaft, wie fie 3. B. fait alle jpäteren deutſchen Muſiker mit Weber zeigen. Daß fie bei Kaftner fehlt, itt um jo bemerfenswerther, als die von ihm für Gejang und Orcheſter componirten größeren Werfe fich meiitentheils in jenem romantischen Kreife bewegen, der von Weber beherricht wurde. Aber man vergleihe nur einmal den Gefang der Sirenen in Le rôve d’Oswald mit dem Meermädchengefang im „Oberon“ ;

es iſt ſofort einleuchtend, daß ſich hier franzöſiſche und deutſche Muſik gegenüber ſtehen. Auch die mehrſtimmigen Männergeſänge, welche Kaſtner unter dem Titel Les chants de la vie heraus- gegeben hat, und bei denen er ſich deutfche Männerchöre direkt als Mufter vorftellte, find etwas gänzlich anderes, als Dieje. Wie fonnte aus dem Elfaß, wenn es deutſch empfand, jang und jpielte, ein folder Mufifer hervorgehen, zumal da der Mann in allen anderen Dingen die germanifhe Stammesart thatfählich nirgends verleugnet ?

Hier muß man fich erinnern, was denn zu der Zeit, da Kaſtner heranwuchs, von wirklich deutscher Mufif in weiteren Kreiſen herrſchte. Mit der Anjtrumentalmufif der Wiener Meifter und den Dratorien Haydns und Händels wird man es genannt haben. Nun war die Pflege der Mufif in den verjchiedenen Gauen und Städten deutichen Weſens eine fehr ungleihe, in Straßburg befand fie fih damals in offenbarem Verfall. Weder die Anftitute für Chormufif noch die für Orchejteraufführungen wollten gedeihen. In diefer Beziehung konnte Kaftner nachhaltige Eindrüde faum empfangen. Deutjcher Männergefang bat erit nach feiner Zeit in Straßburg tiefere Wurzeln geichlagen. In der Dper aber gelangte die deutjche Art jo gut wie gar nit zur Geltung. Mozart war eine vereinzelte Erfcheinung geblieben und ftand für das große Publifum zu hoch. Beethoven und Spohr fonnten in des Mortes voller Bedeutung überhaupt nit al3 Operncomponiiten gelten und verfchwanden in dem Strome glänzender Talente, der nad wie vor von Italien, in zweiter Reihe auch von Franfreih ausging. Weber wäre der Mann gewejen, die Ausländerei in ihre Schranfen zu weijen, hätte ihn nicht ein früher Tod vom Kampfplat abgerufen, und Marfchners Kraft war nit nachhaltig genug, um Webers Werk ſiegreich zu vollenden. Cherubini, Spontini, Roffini und Bellini, Mebul, Iſouard, Boieldieu und Auber —- fie find es geweſen, die der damaligen Oper auch in Deutjchland die Wege wiejen. Unver: gleihlich viel größer als jetzt war aber damals noch der Ein-

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fluß, den die Oper auf das gefammte Mufikleben ausübte. Das- jenige, was man die mittlere Tonſprache jener Zeit nennen fann eine jede Periode befitt ein ſolches auf muſikaliſchem Semeingut beruhendes Idiom , war vorzugsweije durch die Dpernmufit gebildet worden. Da es an bedeutenden Künjtlern in Straßburg gänzlich fehlte, Kaftner auf Muſiker geringen Ranges oder auf fich jelbit angewieſen war, auch mit 25 Jahren zum eriten Male aus dieſen Verhältniffen herausgelangte, jo mußte die Luft mufifalifcher Mittelmäßigfeit, die er in ben Lebensjahren der größten Bildfamkeit und Empfänglichkeit unausgejegt einathmete, die Entwidelung feines Gejchmades und jeiner Produktionskraft natürlich jtarf beeinfluffen. Sie würde dies nach der Richtung des Opernhaften auch dann gethan haben, wenn nicht die Aufführungen der Straßburger Operngeſellſchaften verhältnigmäßig noch das Beſte gewejen wären, woran er feinen aufitrebenden Geiſt nähren fonnte. Daß er mit befonderer Be: gierde fich auf die Operncompofition warf, iſt demnach begreif: (ih; offenbar aber fühlte er ſich auch für dramatiſche Muſik von Natur aus am meiiten veranlagt. ch denke nicht. zu irren, wenn ich vermuthe, daß er in feinen dramatijchen Jugendwerfen die italienisch - Franzöfifche Durchſchnittsſprache feiner Zeit ge: redet hat. In Paris tritt dann allgemac eine gewähltere Art und der franzöfiiche Accent ftärfer hervor; auch dem blendenden Eindrud der Opern Meyerbeer8 hat er ſich wohl nicht ent- zogen.

In gleihem Jahre mit Kaftner ift Nobert Schumann ge- boren. Die Jugendentwidelung beider bietet Aehnlichkeiten. Hier wie dort Eltern, die der Tonkunft fern ftehen, bier wie dort die Beitimmung für einen wifjenschaftlichen Beruf, und der ungern gemachte Verjuch, fich auf ihn vorzubereiten. Die Un- gunft der Umgebung, unter der Kaftner zu leiden hatte, mußte Schumann in ähnlich ftarfem Maße in feiner ſächſiſchen Provinzial- ftabt erfahren. Freilich bot ihm das Elternhaus ſelbſt viel reihere Quellen der Bildung, früher als Kaftner gelangte er in

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die Welt hinaus und an eine Stätte althergebrachter Kunſt— pflege, Nahrungsjorgen blieben ihm erjpart, er konnte jich un- gehindert ausleben. Aber bei der Vergleihung der Werte beider zeigt fih ein Qualitätsunterfhied, zu deſſen Erflärung diefe Dinge nicht ausreihen. Bei Schumann bridt eine Welt neuer und urdeuticher Kunftideen mit elementarer Gewalt hervor; bier offenbart fich ein großes jchöpferifches Talent. Kaftner kann man als ein jolches nicht bezeichnen; ihm fehlt zwar nicht die Produftiongluft, wohl aber die fcharf ausgeprägte Eigenart. Es ift ein Fehler der Biographie, daß dieſe Thatſache nirgends be- ftimmt ausgefprochen wird. Der Lefer, welcher nichts von Kajtner fennt, ſchwebt in unbehaglicher Unficherheit darüber, welch eine fünjtlerifche Potenz er fich gegenüber hat. Dieje war nicht erften Ranges. Wäre fie es geweſen, jo würde fie fi durch die be- jchränfenden Verhältniffe hindurch ihre Bahn gebrochen haben. Dann hätte auch mwahrjcheinlih nicht der Oper das Haupt: jtreben Kaſtners gegolten, jondern der deutjchen Inſtrumental— muſik in Beethovens Sinne.

Aber damit joll nicht im entfernteften die Bedeutung des Mannes verkleinert werden, die auf jeinen Compofitionen nur zu einem geringeren Theile beruht. Ya, wäre er jelbit nichts weiter gewejen, als Componift, jo würde er immer einen ehren- vollen Plag unter jeinen Zeitgenoffen behaupten. Einen Höbe- punkt feiner Zeitungen jcheint die biblifche Oper Le dernier roi de Juda zu bedeuten, welche 1844 componirt und einmal bruchſtückweiſe im Eoncertfaal aufgeführt worden, aber weder als Ganzes auf der Bühne erfchienen noch auch durd den Drud veröffentlicht worden iſt. Ein Sertett daraus theilt der Biograph als Beilage zum zweiten Bande mit; ich weiß nicht, ob dies eine glüdlihe Wahl war. Wer Kaſtner als dramatiihen Compo— niſten fennen lernen will, dem bieten die Werke dazu Gelegen- beit, welche er jeinen großen wiſſenſchaftlichen Bublicationen beigegeben hat: La danse macabre 1852 (in Les danses des morts), Stephen ou Ja harpe d’Eole 1855 (in La harpe

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d’Eole et la musique cosmique), Les cris de Paris 1857 (in Les voix de Paris), Le réêve d’Oswald ou les Sirenes 1858 (in Les Sire@nes), La Saint-Julien des Menetriers 1866 (in der Par&miologie musicale de la langue frangaise). Weil Kaftner für die dritte und vierte diefer Gompofitionen die Be» jeihnung Symphonie vocale et instrumentale, für die fünfte den Titel Symphonie-Cantate gewählt hat, ſcheint bier und da das Vorurtheil zu beitehen, man babe es bei ihnen mit jener Miſchgattung zu thun, von der Berlioz in Romeo et ‚Juliette ein befremdendes Beijpiel geliefert hat. Die Bezeichnungen jolen aber nur auf den reichen Antheil hindeuten, welchen das Orcheſter an der Darftellung des Ganzen nimmt. Die Werfe find frei von allen Berliozſchen Formlofigkeiten und Gemwaltiam- feiten; freilich fehlen auch die genialen Blige, welche dort über dem chaotiſchen Weſen aufleuchten. Kaſtner verläßt nirgends die bewährten Formen, überall leitet ihn ein gejunder Sinn für das Natürliche und Angemeſſene. Hätte jemals in Frankreich da3 Oratorium Pflege gefunden, jo würden dieje Werke zum Theil wohl iu eine ähnliche Form gebradt worden fein, wie fie Mendelsjfohn und Schumann gewiſſen romantischen Stoffen ge- geben haben: die „erite Walpurgisnaht”, „Paradies und Peri”, die Balladen vom Pagen und der Königstochter find ihrem Wejen nah dem Oratorium verwandt. Da diefe Kunftgattung den Franzoſen fremd geblieben iſt, bat Kaftner fich überall der dramatiichen Form bedient. Es find ausgeprägte Operncenen, die fih vor dem Hörer abfpielen; die „Sirenen“ fann man fogar eine vollftändige Oper nennen. Der Chor fpielt in allen, mit Ausnahme der Danse macabre, welde nur für Solojtimmen und Orcheſter gejegt ift, eine hervortretendere Rolle, ald man es in der italienifchen und franzöfifchen Oper ſonſt gewohnt ift. Dadurch bekommen fie ein gemwichtigeres Wejen; aber der Stil bleibt auch hier ein durchaus opernhafter.

Liebenswürdige Mufif mit diefem Ausdrud wird man den Inhalt der Werke wohl am treffenditen bezeichnen. An der

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Cantate La Saint-Julien des Ménétriers für Männerſtimmen und Orcheſter intereffirt vorzugsweife die Duverture, auf die oben ſchon hingedeutet wurde. Ein fließendes, glänzendes Muſik— ftüd über Melodien der nachfolgenden Gefangfcenen. Aber die Verwendung derjelben ift nicht die, welche man von Weber ber fennt, noch weniger die Cherubinifche (Anacreon). Mögen dieſe Meifter ih immerhin vorhandenen Materiales bedienen, jo willen fie e8 doch organisch zu verweben und dergeftalt in den Dienft einer Grundidee zu ftellen, daß Folgerichtigfeit und Ein- heit herrſchen. Soldye höhere Gelihtspunfte Fünftlerifcher Ge- italtung kommen bei Kaſtners Duverture gar nicht in Frage: ungezwungen reiht fih Melodie an Melodie, wie man es etwa bei Roffini findet; vielleicht hat deſſen Tell-Duverture geradezu als Muiter vorgejchwebt, zum wenigiten für das Allegro. Fehlt ihm im Ganzen eine tiefere Urjprünglichkeit, fo begegnen doc im einzelnen viele charakteriftiihe Züge. Gegen die liebliche und gewählte Naivetät der Romanze der Eva in den „Sirenen“ („Le chant de la jeune fille“), die fo wirkungsreich gegen den Lockruf der Sirenen fontraftirt, wird nicht leicht jemand un: enpfindlih fein. Der Mittelfaß des Uuartett3, al® man Oswald im Walde jucht und fich der verrufenen Stelle näbert („Au plus &pais de ces bruyeres“), trifft einen gewiſſen um: heimlihen Ton jehr aut. Sn der Danse macabre iſt der eigentliche Rondoſatz mit feiner eintönigen Melodie, feiner jchwer laftenden Begleitung und dunkeln Farbe von bedeutender Ein- drudsfähigfeit, auch die Reden der Alten, des Soldaten, des Kindes zeigen ein bemerfenswerthes Talent zur Charafterifirung. Das Hübjcheite, was Kaſtner gemacht bat, als Ganzes wie im Einzelnen, ift nach meinem Gefchmade die Symphonie humo- ristique: Les cris de Paris. Hier herrſcht jo viel fröhliche Laune, Geilt, ficheres Können, Mannigfaltigfeit, die Idee des Ganzen ift, wenigftens in diefer Geftalt, jo originell, die Dichtung fo geihidt und anmuthig, daß ich ftetS mit Vergnügen an den Tag zurüd denke, an dem ich dies Werk zum eriten Male ae

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leſen habe. Die Orcheſterfuge, zu welcher die Voix confuses der Straßenhändler ihre Waaren ausſchreien, iſt des beſten Meiſters würdig, und die luſtigſte Muſik, die man ſich denken kann. Faſt durch die ganze „Symphonie“ hält ſich die Erfindung auf gleicher Höhe; nur die Militär: und Tanzmufif könnte weniger banal jein. Beſonders fein entwidelt find die Organe des Componiften für das inftrumentale Klangmwejen; es ift dies der einzige Punkt, in welchem er fich mit Berlioz berührt. In jedem Werke ſtößt man auf neue ſchöne Effekte; erführe man es auch nicht ausdrüdlih durd die Biographie, daß Kaftner ziemlich alle Inſtrumente jelbjt gejpielt habe, feine Werke allein würden offenbaren, daß er die eindringendſte Spezialfenntniß ihres Weſens beſaß. Wie erfinderifch ift in „Stephen ou la harpe d’Eole“ das bebende Getön der Heoliharfe nachgeahmt; wie zauberhaft Lifpeln die beiden Harfen im Schlußchor der „Cris de Paris“! Fremdartig reizend wirft das PBianiffimo-Tremolo des PBianoforte in der Einleitung zum Chor der Sirenen (Nr. 6); fo viel ich mich entjinne, ift Kaftner nah N. W. Gade der erite, welcher dies Inſtrument als ein Organ des modernen Orcheſters hat auftreten laſſen. Auch die Sarhörner und das Sarophon finden bei ihm ausgiebige, und namentlich das legtere jchöne und eigenthümliche Berwendung, wie er denn auch zu den erjten und gewichtigiten Autoritäten gehörte, die die Erfindungen von Adolph Sar zu würdigen verjtanden und dies durch Fräftiges Eingreifen zu feinen Gunſten bethätigten. Die originelle An- wendung der Pansflöte im Sirenendor verdankt man Kaftners perjönlichem Verkehr mit Sar, der über eine Verbeſſerung diejes uralten Inftrumentes nachſann. Ich weiß nicht, ob er feine Ideen verwirklicht Hat (Kaftner jpricht von ihnen in „Les Sirenes“ ©. 95); auf einer gewöhnliden Pansflöte läßt fich das nicht ausführen, was ihr in dem genannten Chore zugemuthet wird.

Dpernhaft ift Kajtner manchmal aud in jeinen Männer: hören. In Deutjchland, dem Lande des Männergejanges, haben fie fih nicht verbreitet; die Chants de la vie hat Otto Elben in

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jeinem Werk über den volfsthümlichen deutſchen Männergefang fogar mit unverhohlener Mißbilligung zurüdgewiefen. Daß fie nicht von deutfcher Art find, habe ich ſchon gefagt. Aber es ift Unredt, nun zu thun, als wären fie überhaupt nichts. Aus: drüdlich beſtimmt der Componiit fie auserlejenen, geübten Sängern; e3 find mehrſtimmige Gefänge für eine gewählte Gejellichaft, auf das Volksthümliche wird von vornherein verzichtet. So angeſehen bieten fie doch des Erfreulichen nicht wenig. Sebr gut gelingt dem Componijten aucd im Männergefang das An- mutbig=Heitere, wie die Tyrolienne Primavera (Nr. 11 der Chants de la vie) beweif. Der Chant de Victoire (ebenda Nr. 16), welder nah einer Andantino » Einleitung zu vier Stimmen als großer doppeldhöriger Marjch einherjchreitet, zeigt wie Kaftner auch im fräftigen Genre jeinen Mann ftell. Der Geſang Sur la mort d’un guerrier (ebenda Nr. 18) ift recht Ihön im Charakter des Trauermarjches gehalten und klingt ftimmungsvoll aus. Verführt durch die Luft an Klangeffeften, wennjchon äußerlich angeregt durch eine in Deutjchland auf- gefommene Sitte, läßt Kaſtner nicht nur fehr viel A bouche fermee fingen, fondern au en imitant les instruments de cuivre; ja vollitändige Clavier- oder Orchefterbegleitungen müfjen feine Sänger nachmachen, und die legten Stüde der genannten Sammlung find fogar durchaus Chants sans paroles. Daß häufig nur vofalifirt werden joll (Kaftner beruft ſich etwas ge: ſucht auf die Jubili des mittelalterlihen Kirchengejanges), mag noch eher angehen. Die Rückſicht allein auf den Klang beftimmt ihn auch, oftmals mehr als vier Stimmen anzumenden, ohne fie doch jtreng felbjtändig zu führen. So joll der Geſang der Studenten in den „Sirenen“ doppelchörig fein; allein der zweite Chor geht meiftens mit dem erjten zufammen, oder ahmt eine Snftrumentalbegleitung nad. Kleine Läfligkeiten und Freiheiten des Saßes, die unferem wieder ftrenger gewordenen Geſchmacke nicht behagen, lagen damals im Zuge der Zeit und gaben feinen Anſtoß. Es darf freilich nicht verfchwiegen werden, daß über

in a

dieje Kleinigkeiten hinaus fich bei Kajtner, und nicht nur in den Männergefängen, jondern auch in feinen großen Werfen mand)- mal unlogifche Harmonienfolgen, Stodungen in der harmonifchen Entfaltung und Mangel an freier und fiherer Bewegung bemerf- lih machen. Nicht immer verfügte er in diefem Betracht über die vollfte Meifterfchaft. Aber er bejaß eine leichte Hand als Componift; diefe führte ihn gewöhnlich über Schwierigkeiten hinweg, in welde ein tiefer eingreifender Arbeiter fich ficher verwidelt haben würde.

Die eriten Erfolge in der Parifer Muſikwelt verdanfte Kaftner feiner Lehrthätigfeit. Der Biograph hebt hervor, daß fie jein Emporfommen als Componiſt gehindert hätten, man habe in ihm immerfort nur den Theoretifer gejehen. Das ift jehr glaublih. Der erite ſtarke Eindrud pflegt in der Deffentlichkeit auf lange zu entjcheiden. Man mag nahber leiten, was man will, das frühere dreifach übertreffen, ganz andere Wege ein- Ihlagen dem lieben Publikum bleibt man, was man ihm anfangs zu jein jchien. Aber richtig ift nun doch au, daß Kaſtners Lehrbegabung eine große und jeine Luft zu lehren von frühefter Jugend auf eine außerordentliche war. Ueber Kaftners zahlreihe Lehrbücher, über das Eigenthümliche jeiner Methode und die Verdienite, welche er fich durch fie für das Muſikleben sranfreich8 erwarb, hat Hermann Ludwig Genügendes, wenn auch nicht Erfchöpfendes gejagt. Er vollzieht einen Akt hiſtoriſcher Gerechtigkeit, wenn er Kaſtners Traite general d’instrumen- tation (Paris, 1836) und Cours d’instrumentation (Paris, 1837) dem befannten Werke Berlioz’ gegenüber fräftig hervorhebt. Diefes iſt genialifcher, blendender; aber ohne Kaitners Vor— arbeit würde es faum vorhanden jein, und e8 erreicht fie nicht entfernt in Bezug auf ſachgemäße, Iehrhafte Methode. Kajtners Snjtrumentationslehre ijt bis auf den heutigen Tag eine höchſt brauchbare Arbeit geblieben. An Werth übertroffen wird fie aber noch durch jein Manuel general de musique militaire (Paris, 1848). Es fann freilich nur in feinem legten Theile

ein wirkliches Lehrbuch genannt werden, und jo bedeutend diejer ift, tritt er doch zurüd gegen den erften Theil, einen Abriß einer allgemeinen Geſchichte der Militärmufif, der das Beſte it, was wir bis jet auf diefem noch jo wenig durdforjchten Gebiete befigen. Hier fommen wir auf Kaftner den Diufifgelehrten. Außer der im Manuel general enthaltenen Abhandlung und einer den Chants de la vie vorausgefdhidten Unterfuchung über die Gejhichte des Männergejanges, dazu etwa noch dem verdienftlihen Verſuch einer Gefhichte der franzöfifchen Kriegs: gefänge, der den 23 Chants de l’armee frangaise vorhergebt, find es vor allem jene großen Werfe: Les danses des morts, La harpe d’Eole et la musique cosmique, Les voix de Paris, Les Sirenes und die Pardmiologie musicale de la langue frangaise, worauf Kaftner den Anſpruch gründen kann, unter den Muſikforſchern einen hervorragenden Pla einzunehmen. Ein Kritifer der Revue contemporaine behauptete, er fei der einzige franzöſiſche Schriftiteller, der fich auf die von Deutjchland eröffneten Pfade gewagt habe. Das ift nun, wie jeder Hiſtoriker weiß, nicht der Fall. Aber in der Art feiner Wiſſenſchaft ftebt Kaftner allerdings allein da. Die erjten und vornehmiten Quellen der Kunftforfhung find die Kunſtwerke felbit. Wer Wejen und Entwidelung der Muſik erkennen will, muß ſich demnach zunädit an die Tonfchöpfungen vergangener Zeiten wenden und Dieje zu verjtehen juchen. Diejer Forderung entſpricht Kajtner nidt. Er unterfuht die Darftellungen der Todtentänze in Wort und Bild, die Schall- und Tonerjcheinungen des Naturlebens in Luft und Wafler, die im Schrei und im Lärm des großſtädtiſchen Verkehrs enthaltenen mufikalifchen Elemente, die Zauberfraft der Muſik im Spiegel der Sage, die Kmyitallifation muſikaliſcher Vorftellungen im Sprichwort. Alles Gegenitände, aus deren Durchforſchung ſich zwar fider ein Gewinn für die Erfenntnik des Weſens der Tonkunſt ergibt, die aber vom Hauptwege ab- jeits liegen. In diejer Beziehung trägt Kaſtners Mufifforfchung den Charakter der Liebhaberei. Daß feine Kenntniß von ber

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Muſik vergangener Perioden, ihrer Stilart und Stellung im Völkerleben, vom Leben und Schaffen älterer Meifter feine um: fajjende und eindringende war, geht aus feinen Schriften Elar hervor: es fehlt in ihnen nicht an allerhand Unrichtigfeiten, bie bei etwas gründlicherem hiftorifchen Studium leicht zu vermeiden waren. Auffällig ift, mie wenig er fi überhaupt für das zu interejliren jcheint, was als Kunftwerf im Laufe der Zeiten ent- ftanden ift. Sn den Voix de Paris ©. 44 ff. behandelt er eine Chanson nouvelle de tous les cris de Paris aus dem 16. Jahr— hundert, qui se chante sur la Volte de Provence. Worauf jeder andere Muſikgelehrte zuerit losgehen würde, wäre, die Melodie diefer Volte de Provence ausfindig zu machen Kaftner macht dazu nicht die geringiten Anitalten, bejchäftigt jich dagegen mit der literariichen, philologiſchen und jocialen Seite der Quelle ausführlid. S. 59 iſt von Lieblingsmelodien gewiſſer Parijer Straßenfänger am Anfang unferes Jahrhunderts die Rede, von dem Nondeau Enfant cheri des dames, der Chanfon Gusman ne connait plus d’obstacle u. a.; die Melodien jelbit lehrt der Verfafler uns nicht fennen. An dem Menuet von Eraudet geht er vorüber, ohne nur anzudeuten, welche Rolle dies Stückchen in der Unterhaltungsmufit Frankreichs im 18. Jahrhundert ge— jpielt hat; daß der ©. 67 angeführte Nachtwächterruf Je viens vous avertir der Melodie des alten Jagdliedes Pour aller à la chasse entnommen ift, fcheint er nicht bemerkt zu haben. Melodien fremder, unfultivirter Völker faßt er nicht fowohl als biftorifche Dokumente auf, jondern vielmehr unter dem modern- fünftlerifchen Gefichtspunft größerer oder geringerer Wohlgefällig- feit (S. 81 f.). Auf die Inſtrumente, deren fich die tanzenden Gerippe mittelalterlicher Daritellungen bedienen, gebt er ein, aber nirgends feheint ihm nur der Gedanke zu fommen, daß auch die Frage, was denn mit den Inſtrumenten muficirt jein könne, ihre Berechtigung habe. Ich ſage nicht, daß es ihm hätte

gelingen fünnen, fie ausreichend zu beantworten; daß er fie gar Philipp Spitta, Muſitgeſchichtliche Auffäge, 23

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nicht aufwirft, ift das bezeichnende. Die antiten Abbildungen der Sirenen würde ein anderer auf ihre Entftehungszeit unter- jucht und alsdann die auf ihnen dargeftellten, jelbftändig wirkenden oder begleitenden Inſtrumente mit den Nachrichten zu combiniren getrachtet haben, welche wir fonft von der Muſikübung der alten Griehen und Römer befigen. Auf diefem Wege wäre es mög- lih gewejen, wenigſtens zu einer Ahnung davon zu gelangen, wie jedesmal der betreffende Bildner fih die Mufik feiner Sirenen vorgeitellt haben dürfte, und dadurch wären unjere Vorftellungen nah Seite der Kunft bin fräftiger belebt worden, als durd Anhäufung anderen archäologifchen Stoffes. Kaſtner unterläßt es, die Quellen in diefem Sinne auszunugen. Man wird es nun auch begreiflich finden, warum feine Arbeit über die Ge- Ihichte des Männergefanges jo wenig genügend ausgefallen ift. Hier handelte es fih um eine Gefchichte von Kunftformen, die an Kunſtdenkmälern jtudirt werden mußten, und dahin zog ihn jeine Neigung nicht.

Alle diefe Bemerkungen haben nicht den Zwed, Kaſtners Foricherthätigfeit herabzufegen, fondern fie zu cdarafterifiren. Man muß dem Biographen dankbar fein für den Nachweis, daß der Drang, „das geheime Band aufzudeden, welches Natur und Kunft in mehr als einem Punkte vereinigt“ (Les voix de Paris ©. 81), von früh auf in Kaſtner lebte und ſich mit unaus- löjchlichen Jugenderinnerungen verwebte (I, 143 ff.). Auch jein Intereſſe für die Militärmufif geht auf die Jugendjahre zurüd, da er die Mufifcapelle einer Abtheilung der Straßburger Bürger: wehr Dirigirte und Märfche für fie componirte. Für die Par&miologie iſt ebenfalls jchon in Straßburg der Grund ger legt (III, 161), ganz beſonders aber mußte ihm der Gegenitand der angehängten Symphonie Cantate von dem elſäſſiſchen „PBreiffertage” her ein vertrauter fein. Das Werf über die Todtentänze verdankt einer Anregung aus dem Jahre 1824 feine Entjtehung, als in der Neukirche zu Straßburg eine Reihe von Todtentanz-Fresfen aus dem 15. Jahrhundert entdedt wurde

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(1, 128 f.). In diefen Thatfachen liegt die tiefere Begründung der „mufifwifienichaftlichen Liebhabereien” Kaſtners, wie ich fie vorher nannte. Dieje Eindrüde der Jugend hegte der treue Mann im Innerſten feines Weſens und jeßte die befte Kraft daran, fie endlich in einer Weiſe zu geitalten, die der Eigen- thümlichkeit jeiner Anlage am volllommenjten entſprach. Nicht zunächit durch den Trieb nach Erforfhung der Wahrheit ift er zur Muſikwiſſenſchaft geführt worden; poefievolle Anſchauungen waren es, die ihn dahin lodten, und ihm zugleich fein feit be- grenztes Gebiet anwiejen. Es wäre thöricht zu bemängeln, daß diefes nur einen Eleinen Theil desjenigen einfchließt, was zu er: fennen dem Kunftgelehrten das wichtigfte jein muß. Man bat einzig und allein zu fragen, wie Kaftner die wifjenfchaftlichen Aufgaben gelöft hat, für melde jeine Natur ihn beftimmte. Und bier braucht mit dem wärmjten Lobe nicht geipart zu werden. Er bejaß den unermüblichen Fleiß und die weite Umficht, welche nöthig waren, für dergleichen Arbeiten das Material zufammen zu bringen. Seine Gemwilienhaftigfeit im Sammeln trieb ihn bis in die entlegeniten Winkel und manchmal weiter als nöthig war, jo daß es alsdann jchwer wurde, ein gefchloffenes Ganze zu erzielen: in den „Sirenen“ macht fich dies hier und da in einem gewiffen Mangel an Ordnung und in unflarer Gruppirung von Hauptfahen und Nebenwerf bemerkbar. Er befaß aber außerdem gediegene gelehrte Bildung, Eritiihen Scarffinn, die Gabe glüdliher Kombination und lebhafter, feilelnder Dar: jtellung. Auf die Bedeutſamkeit der Nefultate bin angejehen, verdient das Werf Les danses des morts den Preis. Es ift eine Leiftung eriten Ranges: inhaltreih, neu, durchleuchtet von heller Kritik, in Bezug auf das, was man wifjen kann, von un— beitechlicher Ehrlichkeit, und ganz vorzüglich ftilifirt. Sind es nicht durchaus muſikaliſche Gegenſtände, welche zur Unterfuchung fommen, jo wird doh auch der Mufifgelehrte und gelehrte Muſiker wegen der Fülle von fünftlerifchen Anſchauungen, die jih bier aufthun, mit Theilnahbme das Ganze jtudiren. Der

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Spezialwifjenichaft gehört der zweite Theil; die mit dem fünften Capitel beginnende Unterfuhung Les Instruments de musique des Danses des Morts gejtaltet ſich zu einer Bejchreibung und Daritellung der mittelalterlichen Mufifinftrumente, welche das Beite genannt werden darf, was über diejen jchwierigen Gegen- ſtand gejchrieben worden if. Der in der Par&miologie ver- wirflichte Gedanke, das Sprichwort als eine Duelle der Mufif- geichichte zu erfchließen, ift geiftvoll, neu und ergiebig. Aber auch die übrigen Werke bieten einen gewaltigen Schag von Beobachtungen und öffnen eine reihe Welt der Anjchauungen. Unjer Biograph jagt, Kajtner habe in La harpe d’Eole dar: geftellt, wie fih die inftrumentale Tonkunſt aus den Schall: ericheinungen der Natur entwidelte, und in Les voix de Paris jei er dem Urjprung des Gejanges im Schrei nadhgegangen (III, 141). Aber bier jagt er zu viel. Das Problem von der Entitehung der Muſik zu löſen, hat wohl Kaftner ganz fern gelegen. Er will nur aufzeigen, daß zwiſchen Naturſtimmen und Schrei einerjeits, und der Muſik andrerjeits ein Zujammen- hang bejtehe. Auf welchem Wege aber der Zuſammenhang ſich bergeftellt habe, dieje Frage läßt er vorfichtig unerörtert. Auch zu Greétrys Prinzip, daß der Gejang von der Deflamation aus: gehe, nimmt er feine entjchiedene Stellung.

Man begreift aber jene großen wifjenjchaftlichen Arbeiten nicht volljtändig, wenn man die Compofitionen außer Acht läßt, die fi ihnen anſchließen. Es liegt bier eine zuvor nicht da— gewejene Verbindung von wiſſenſchaftlichem Werk und Kunit- wert vor, welche ein franzöfiicher Kritifer nicht uneben mit dem Namen Livre-Partition belegt hat. Die Chants de la vie und die Chants de l’armee frangaise dürfen dahin nicht gerechnet werden, bei ihnen ift der wiljenjchaftliche Theil nur Einleitung und der Hauptaccent liegt auf der Muſik. Indem auch diefe einen ſchwachen doftrinären Beigeijhmad hat, würde gejagt werden fünnen, daß die beiden Werfe ein Mittelding zwiſchen Lehrbuch und freiem Kunſtwerk darftellten. Livres-Partitions

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bleiben demnach fünf, ein fechftes, La fille d’Odin, ift uns vollendet hinterlaffen; ob das vollendete, aber nicht verüffent- lichte Werf Les Romnitschels, „Drame-Symphonie* in zwei Theilen mit einer Abhandlung über die Mufif der Zigeuner, auch hierher zu rechnen fein würde, weiß ich nicht. In welchem Merbältniß in den Livres-Partitions die Arbeit des Künſtlers zu der Arbeit des Gelehrten fteht, darüber ſchaffen die Bes merfungen des Biographen Feine vollftändige Klarheit. Ihm erfcheint au in ihnen das Kunſtwerk als Veranlaffung zu der wiſſenſchaftlichen Abhandlung, und demnach als Kern des Ganzen gelten zu müſſen (IIL, 26; III, 151), jo daß der von ihm citirte Ed. Monnais Recht gebabt hätte, der die Abhandlung nur eine Vorrede der Partitur nennt. ch glaube aber, die Sache ver- hält jih anders, und berufe mich deshalb auf Kaſtner jelbit. Er erzählt in der Vorrede zu Les danses des morts (S. XV), während er fi mehrere Jahre hindurch mit der Erforichung der Todtentänze bejchäftigt habe, jei er von dem Gegenftande fo ergriffen worden, daß der Wunſch in ihm rege geworben fei, ihn auch mufifalifch darzuitellen. In der Vorrede zu Les Sirenes (S. VID nennt er die Compofition „eine natürliche Ergänzung“ zu den gelehrten Unterfuhungen, und an einer andern Stelle (€. 94—95) desjelben Werkes bemerft er, der Gegenftand der Unterfuhung habe ihn zu einem ähnlichen mufifalifchen Ber- fuche veranlaßt, wie er von Mendelsjohn in der Duverture „Hebriden“ angeftellt worden fei. Das ftimmt gewiß nicht mit dem zufammen, was Hermann Ludwig jagt. Wollte man nun aber den Autor dahin interpretiren, daß die Compofitionen nur als eine nebenjähliche Zugabe der Unterfuchhung anzufehen wären, jo würde man dod auch etwas Unrichtiges thun. Beide find vielmehr Erfcheinungen derjelben Idee auf verfchiedenen Gebieten. Ob die Fünftlerifche oder die wiſſenſchaftliche äußerlich früher zur abſchließenden Gejtaltung kam, bleibt unweſentlich; nur der wird den Verfajjer vollitändig begreifen, der fie al$ im Grunde Eins zu erfaijen vermag. Dieſe Grundidee fann man wohl mit

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unferem Biographen eine mufifalifche nennen, aber dod nur in dem Einne, in welchem jedes Geiſteswerk höherer Gattung, auch ein wiſſenſchaftliches, aus einer gewiflen allgemeinen Stimmung fih zu bilden pflegt, in der es ald Ganzes dunfel vorgeahnt wird, in der man vorerit noch feine Geitalten, jondern nur Be- wegung wahrnimmt, und die infofern dem Urmwejen der Muſik ähnelt. In der Grundidee it Kaſtners Doppelbegabung, Die fünftlerifche wie die gelehrte, latent. Aeußert fie fi im Fort: gang der Entwidelung nad zwei Richtungen bin, jo bleibt doch die Meinung immer dieje, daß bei dem Studium der Abhandlung das Muſikſtück ftill in dem Lejer weiterklingt, und bei dem Ge- nuffe des Mufikjtüdes gleichſam der Niederjchlag der willen: ihaftlichen Unterfuchungen als eine Fülle von Borjtellungen und Bildern in der Phantafie fortlebt. Es ift ein Aneinandertönen und Ineinanderranken gejchwiiterlicher Geftalten, das man als eine ganz neue Erjcheinung auf dem Gebiete geiitigen Schaffens bezeichnen muß. Freilich ift nicht daran zu denfen, daß dieſe Form, ein Innerliches darzuftellen, weitere Pflege erfahre. Sie fann immer nur al3 Ausnahme-Erjcheinung gelten. Denn wann findet jich jemand, der die Begabung bejäße, fie anzuwenden? Und mas mehr bedeutet wo iſt denn das Bublicum, dem damit beizufommen wäre?

Damit berühren wir einen Umftand, der bezeichnend genug ift, um eine jtärfere Hervorhebung zu verdienen. Keine der Compofitionen der Livres-Partitions ift aufgeführt worden. Kaftner jelbit hat nie die Hand gerührt, eine Aufführung zu veranlafjen. Bei der angejehenen Stellung, die er in der Parijer Muſikwelt und Gejellichaft einnahm, bei den bedeutenden materiellen Mitteln, über die er verfügte, wäre ihm jolches leicht geweien. Er bat es verfjchmäht, auf anderen Wegen al$ dem einer ein- fachen Beröffentlihung jeiner Arbeiten, Erfolge zu juchen. Andere Menjchen, die aus eigener Bewegung für ihn eingetreten wären, haben jich weder in Frankreich noch in Deutjchland ge: funden. Wir verjtehen es, wenn man dies beflagt. Aber die

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Wahrheit gebietet e3 auszusprechen, daß fie in der That unauf- führbar find. Unaufführbar infofern, al3 eine Aufführung den Hörern alle die Wege zum Verſtändniß des Werkes öffnen fol, auf die der Schöpfer gerechnet hat. Kaftner jegt ein Publicum voraus, das feine gelehrten Arbeiten gelejen, verjtanden und jich zu eigen gemadt hat. Dies Publicum eriftirt nicht. Als er lebte, gab es in Paris, hoch gegriffen, einige Dugend Menjchen, die mit feinen Büchern einigermaßen vertraut waren; jegt gibt es deren vielleicht in der ganzen Welt noch nicht viel mehr. Solh eine Hand voll Menſchen muficirt man nit mit Solo: fängern, Chor und Orcheſter an. Während um die wijlenjchaft- lihen Arbeiten Kaſtners aufzunehmen ein einzelner Leſer ſich jelbit genug ift, bedarf dieſer, um jich den organijch zuge— hörigen mufifalifhen Theil vermitteln zu laffen, einer Schar von mehr als hundert Perſonen. Nein! er bedarf ihrer nicht. Derjenige, für den die Livres-Partitions gedacht find, lieft eben auch die Partitur wie ein Buch und durchlebt in jeiner jtillen Klauje mit dem PVerfaffer, was dieſer gewollt und erreicht hat. E3 liegt mir fern, von der edlen und hohen künſtleriſchen Ge- finnung Kaſtners, die fi) dem Biographen in jeiner Zurüd: haltung gegenüber der Deffentlichkeit offenbart, das allergeringite abzudisputiren. Aber ich glaube, dab Kaftner die unüberfteig- lihe Schranke zwifchen feinen Werken und einem großen Publieum ebenjo genau erkannte, wie wir. Das Verehrungswürdige liegt darin, daß er trogdem nicht abließ, fich in derjenigen Form zu äußern, welche er als die jeinem Weſen gemäßefte erfunden hatte. Darin handelt er unpraftifh, idealiftiih, deutih. Aber er handelte gewillenhaft gegen ſich jelbft und pflichtgetreu in der Ausnugung der ihm verliehenen Gaben.

Diefer pflihtbewußte Ernit, diefe beicheidene, allem Scheine abgewendete Tüchtigkeit find Eigenjchaften, die fein Handeln in allen Lebenslagen bejtimmten. Der Sohn eines unbemittelten Straßburger Bäckers arbeitet fih unter jchwierigen Berhältniffen und fait nur aus eigner Kraft zu einem rejpectabeln Mufifer

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durh, fommt 25 Jahre alt nah Paris, verdient fih durch Muftkunterriht fein bejcheidene® Brod. Durch Verheirathung mit einer reichen, hochgebildeten Erbin gelangt er plöglich in die glänzenditen Verhältniffe und die feiniten Kreife der Pariſer Gejelichaft. Aber der Glückswechſel beraufcht ihn nicht, macht ihn auch die alte Heimath nicht vergeſſen; er veranlagt ihn nur, feinen Fleiß zu verdoppeln, feine Ziele ſich höher zu fteden, der allgemeinen Kunftpflege durch Yehre und Rath zu dienen, feinen Kunftgenofjen förderlich zu fein, den Nothleidenden beizuftehen. Ein ſolches für ideale Zwede in raftlojer Arbeit hingebrachtes Leben, ſchon an fich warmer Theilnahme werth, empfängt nun aber jeinen fchönften Inhalt erſt durch den Reichthum geiftiger Gaben, mit denen die Natur den Mann ausgeftattet hatte. Im Mittelpunkt diefer Gaben fteht die muſikaliſche, mit ihr muß alles andere Berührung finden, was zu fruchtbringender Ent: widelung in feinem Innern gelangen foll. Aud für das Schaffen eigener Kunſtwerke zeigt fich fein Talent ergiebig, doch die höhere Kraft entfaltet es in der Durchforſchung der Kunjtmittel, im der Mufiklehre, in der wiſſenſchaftlichen Unterfuhung von Er: fcheinungen, die mit der Muſik zufammenhängen und ihm im Leben nahe getreten wären. Das eigentlihe Compofitionstalent reichte, jo jcheint e3 mir, mit feinen Wurzeln nicht bis in den tiefften Grund von SKaftners Wefen: nur mittelbar und ver: dünnt durch den Beifag fremder, von außen herein getragener Elemente kommt fein Ich hier zur Erfcheinung. Aber doch ge- hört es zum Ganzen; von diefem Ganzen wird man mit Fug und Recht jagen fünnen, daß es von bejter deutjcher Art war. Und jo erjchiene auch Kaftners Verehrung für Beethoven und Weber, dieſe ausgeprägt deutjchen Künftler, wohl veritändlid, wenn er gleich in jeiner eignen Mufif feinen Zuſammenhang mit ihnen zeigt.

Daß man zunächft von Deutjchland eine gerechte, umfajjende und ſympathiſche Würdigung Kaftners erwartete, bezeugt in der Art ihrer Erjcheinung die Biographie felbit. Sie iſt von einem

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Deutſchen in deutſcher Sprache verfaßt, während doch Kaſtner hauptſächlich in Paris gewirkt und, obſchon vom Elternhauſe her des Deutſchen mächtig, doch alle ſeine Hauptwerke in franzö— ſiſcher Sprache und in erſter Linie für Franzoſen geſchrieben hat. Auch daß die Wittwe Frankreich verließ und in Straßburg MWohnfig nahm, ſcheint anzudeuten, daß fie dort mehr Verjtänd- niß für die Bedeutung ihres Gatten zu finden hoffte, deſſen An- denken der Reſt ihres Lebens gewidmet war. Im Januar 1888 ift die edle Frau geftorben. Ein Sohn, Georg Friedrich Eugen, in dem der Geilt feines Vaters weiter wirkte, war ihr im Sabre 1882 vorangegangen; ihm ift in der Biographie des Vaters finnigerweife ein legter Abjchnitt gewidmet. Kaftner hat eine große Bibliothek hinterlaffen, und der Kenner feiner Schriften weiß, daß fie jehr werthvolle Sachen enthalten muß. Was mit ihr und dem bedeutenden eigenen handjchriftlichen Nachlafie ge- ſchehen joll, oder vielleicht ſchon gejchehen iſt, darüber bin ich nicht unterrichtet. Sollten aber diefe Zeilen denen unter Die Augen kommen, welden die Beftimmung hierüber zufteht, To wünjchte ich wohl, daß fie dazu beitrügen, die allgemeine Nußbar- machung der Hinterlaffenfchaft herbeizuführen. Kaſtners Lebens: werf wird fruchtbringend weiter wirken, das iſt fiher, wenn auch zunächſt wohl nur im Kreife der Mufifgelehrten. Diefer Kreis ift Hein zur Zeit; vielleicht wird er ſich bald vergrößern. Mie dem immer fei, wir werden den wadern Mann in dankbarer, ehrender Erinnerung treu bewahren.

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Xaver Schnydet von Warfenfee

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Tor Schnyder von Wartenjee, geb. den 16. April 1786 in Luzern, geft. den 27. Auguft 1868 in Frankfurt a. M., hatte ihon im Sahre 1847 fein Vermögen der Stadt Züri zu Stiftungszweden vermadt. Nachdem am 15. Februar 1884 auch deſſen Wittwe geftorben war, der teftamentsmäßig die Nuß- nießung des Vermögens zuftand, ift die Stiftung ins Leben getreten und damit die Reihe gemeinnügiger Einrihtungen, an welchen die jchmweizerifchen Gemeinweſen fo reich find, um eine wichtige vermehrt worden. '

Die Stiftung bezwedt Förderung aller Wiſſenſchaften und Künfte mit Ausfchluß der dogmatifhen Theologie und mit befonderer Bevorzugung der Naturwifjenichaften. Demgemäß hat die Verwaltung der Stiftung alljährlih eine Preisaufgabe zu veranlaffen. Sie kann aber auch bedeutende mwifjenjchaftliche oder fünftleriihe Werke, zu deren Bekanntmachung es den Ber: faffern an Mitteln fehlt, zum Zweck der Veröffentlihung an fih faufen. An die Spite ihrer Publicationen hat fie die Lebenserinnerungen geftellt, welche der Stifter in feinen legten Lebensjahren der Gattin in die Feder diktirte. Indem fie taft- voll Hierdurch das Andenken des Landsmannes ehrte, hat fie zugleich der Muſikwiſſenſchaft einen Dienit erwiejen').

!) Zebenderinnerungen von Xaver Schnyder von Wartenfee nebft

mufifalifcher Beilagen und einem Gefammtverzeichniß feiner Werke. Heraus- gegeben von der Stiftung Schnyder von Wartenfee. Zürich, Gebrüder Hug. 1888.

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Zwar wer in den Erinnerungen eine ergiebige Duelle zu finden hofft für die Kenntniß von Mufifern und Mufilzuftänden unferes Jahrhunderts, wird feine Hoffnungen nicht ganz erfüllt jehen. Abgejehen davon, daß die Erzählung nur bis zum Jahre 1817 reicht, fo ift auch für diefen Abfchnitt die Ausbeute nidt groß, wenn man vergleiht, wie mit vielen hervorragenden Männern Schnyder währenddem in perjönliche Berührung ge fommen ift. Wir lefen von feiner Aufnahme bei Beethoven 1811 und lernen den Wortlaut eines Briefe fennen, den diejer am 19. Auguft 1817 an Schnyder gefchrieben. Die erite, 1811 auf dem Mufikfeit in Schaffhaufen ftattfindende Begegnung mit EM. von Weber, der fih anjchließende Verkehr beider in Luzern wird erzählt, ebenfo ihr jpäteres Wiederjehen in München. Aud das Zufammentreffen mit Gonradin Kreuger und Spohr, mit Kayier, Thibaut, Meyerbeer wird ung nicht vorenthalten, um von andern zu jchweigen. Aber etwas Bedeutjames fommt Dabei nicht zu Tage. In allem, was unfere großen Meiſter angebt, deren Charafterföpfe ſich heute der Phantafie eines jeden Ge— bildeten lebendig eingeprägt haben, find wir freilich jchwer zu befriedigen. Wir verlangen bezeichnende Einzelheiten ihres Thuns und Seins, Mittheilungen aus ihren Geſprächen, Aufſchlüſſe über die befondere Art ihrer Kunft. Hiervon geben die Lebens— erinnerungen wenig. Schnyder, jo gern er immer den all gemeinen Gejegen der Muſik nacdhgrübelte, war im übrigen nicht der Mann, der Menſchen und Dinge jharf zu beobadıten liebte. Seine Aufzeichnungen wenigitens laffen dies jchließen. Er erzählt anjhaulid, was ihm Thatjächliches entgegentritt, nad) diefer Rihtung erfahren wir manches Wiffenswerthe, zumal über halb oder ganz vergeffene Künftler, wie die Bioliniiten Franz Clement und Paul Thieriot oder %. H. Stung, den jpäteren Gapellmeijter in Münden. Uber in das, was ihn umgab und berührte, veflectirend einzudringen, war wohl faum Schnyders Sade. Eine gejunde, derbe und humorvolle Natur tritt uns entgegen; in ihrer Totalität wirft fie durchaus jym:

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pathiſch. Es fpielen Züge in ihr, die an Zelterd Perfönlichkeit erinnern können; aber noch weniger, als bei Zelter, hat man bei Schnyder den Eindrud, daß die Muſik der Ton ift, auf welchen fein ganzes Weſen geftimmt war. Spohrs Selbitbiographie fonnte nur ein Mann jchreiben, der alles durch das Medium jeiner Kunft ſah. In Schnyders Lebenserinnerungen verlieren wir die Muſik oft auf bogenlange Streden ganz aus den Augen. Er wird darum nicht unintereffant. Die Schilderungen der politiihen und focialen Zuftände der Schweiz in ber Periode der großen franzöfifchen Revolution und der napoleonifchen Kriege, die Einblide, welche man in das Innere von Peſtalozzi's Erziehungsanftalt zu Mferten thut, find nicht nur für ſchweizeriſche Lejer anziehend, und unter der Umjtändlichkeit, mit welcher auch die Einzelheiten befchrieben werden, geht etwas von jenem Behagen auf den Leſer über, das der Erzähler empfand, indem er alte Zeiten wieder vor ſich auffteigen ließ.

Schnyders Entwidelung zeugt in ihrer bloßen Thatſächlich— feit beredter von den Mufikzuftänden der damaligen Schweiz, al3 ausführlide Schilderungen vermödten. Sie war eine höchit fonderbare in jedem Betradt. Man müht fich ab zu begreifen, wie es dem Manne unter ſolchen Umftänden überhaupt möglich war, zu jener rejpectabeln Künſtlerſchaft zu gelangen, die ſich ihm nicht wohl abftreiten läßt. Vor allem merft man nichts oder wenig von folider, anhaltender Arbeit. Als etwa zwölf: jähriger Knabe erhielt er den erſten Mufitunterricht, der in Unterweifungen auf der Bioline beftand und „überaus elend“ war. Einige Jahre jpäter fing er an, unter Anleitung des gejchictejten Lehrers der Stadt das Clavierſpiel zu betreiben. Pleyel und Gyrowetz gaben den erften Unterrichtsftoff, dann wurden Sonaten von Haydn und Mozart, Clavierauszüge von Dpern und Symphonien nicht jowohl jtudirt als dilettantifch „genofien”. Er befuchte das von Geiftlichen geleitete Gymnafium, deſſen Schlendrian ihm feine Anftrengungen zumuthete, und geigte die Kirchenmufifen in der Jeſuitenkirche mit. Er compo-

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nirte Lieder und Orcheſterſtücke als reinfter Naturaliit, ein Gompofitionslehrer war in Yuzern nicht vorhanden. Auch für Dicht- und Zeichenkunſt hatte er Anlagen und las mit Uner— jättlichfeit, aber ohne Wahl und Anleitung. „Er war mehr ein Viel- als Gründlid-Wiffer. Seine Lieblingsbefhäftigung blieb immerfort die Mufif und ihr widmete er den größten Theil feiner Zeit. Bei frübzeitiger, gründlicher und beharrlicher Ausbildung zur Tonkunſt wäre er ein bedeutender Muſiker geworden. Seine langen, elajtiichen und fräftigen Finger waren für das Clavierfpiel wie geichaffen ; allein in dem Jahre, in welchen er anfing das Clavier zu lernen, hätte er auf demjelben jchon ein vollendeter Virtuos jein können und jein jollen. In Luzern hatte er fein Vorbild zur Nahahmung und ſtets wenig Gelegen- beit, Kunstwerke zu hören.“ Diejer ehrlichen Selbitkritif fügen wir hinzu, daß Schnyder auch in andern Städten feines Vater: landes nicht in befjerer Yage gewejen wäre. Die Mufikpflege in der Schweiz war damals im Zuſtande harmlojeiter Gering- fügigfeit, und wenn man mit ihr die Zuftände in Deutichland vergleicht, jpringt es einmal wieder heil in die Augen, wie viel die Kunft den deutſchen Fürſtenhöfen verdankt. Liebe zur Mufit war bei den Schweizern damals jo gut vorhanden, wie heute, aber es fehlten die Sammeljtellen und Organe, mittelit welcher fie fich in erjprießlicher Weiſe bethätigen fonnte. Das Vereinswejen, das die Grundlage bilden jollte für die bedeut- jame und eigenartige Entwidelung der ſpäteren jchweizeriichen Mufitpflege, jtand am Beginn unferes Jahrhunderts in den allereriten Anfängen. Wohl wurde 1808 die jchweizeriiche Mufifgejelichaft gegründet und damit der erſte Schritt gethan, durch allgemeine Mufiffeite in weiten Kreifen für Hebung des Geſchmacks und der Leiftungsfäbigfeit zu wirken. Da das erſte Frankenhauſener Mufikfeit 1810 jtattfand, jo find die Schweizer in dieſem Betradht den Deutjchen im Reich gar um ein paar Jahre zuvorgetommen. - Allein bei ihren früheſten Werjuchen war offenbar der gute Wille das Beite, zum Gelingen fehlten

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fait alle Borbedingungen. Namentlid unzureichend waren die großentheild aus Dilettanten bejtehenden Orcheſter. Spohrs Schilderungen eines Freiburger Mufikfeftes, dem er 1816 bei- wohnte, dürften nicht übertrieben fein, und er als Dirigent der drei erften deutjchen Feite war hier mehr als ein andrer urtheils- befähigt. Aber auch die Chorleiftungen, die nach Nägeli's Grund- jfage auf dem Bolfsgefange aufgebaut werden follten, konnten fich nur allmählich zu höherer fünftlerifcher Vollendung erheben; wir werben C. M. v. Weber ſchon glauben dürfen, der am 15. Sept. 1811 in feiner poffirliden Art an Gottfried Weber über einen Abend in Nägeli’3 Singanftalt berichtet und meint, das fei ein höchſt wunderliches Weſen. Dieſe durch eine gewiſſe Stelle in Schnyders Lebenserinnerungen (©. 83) veranlaßten Bemerkungen werden nicht gemacht, um jene Beſtrebungen herabzuſetzen. Wie tüchtig und geſund ſie waren, beweiſt am beſten die Höhe der Leiſtungen, zu welcher ſie im Laufe des Jahrhunderts geführt haben. Aber daß ſie damals einem begabten Jünglinge nicht helfen konnten, auch nur aus dem gröbſten Dilettantismus heraus zu fommen, iſt unzweifelhaft.

Als Schnyder die Schule verlafien hatte, wußte er nicht, wohin mit ſich jelber. Auf einer Univerfität Deutjchlands zu ftudiren erlaubte ihm der Vater nicht, in den Luzerner Staats— dienjt zu treten hatte wieder der Sohn feine Luft. Da er einem angejehenen, nicht unvermögenden Batriziergejchledhte an— gehörte und fich in unabhängigen Verhältniffen bewegte, jun- ferirte er einige Jahre in Luzern herum und that, was ihm mohlgefiel. Er lernte Flageolet und Gontrabaß jpielen, trug im Liebhaberconcert eine Sonate von Clementi vor, wirkte als Bratſchiſt, Pauker und Arrangeur bei den Mufiffeiten mit, componirte, las, dichtete, wurde Lieutnant der Luzerner Miliz: truppen, agirte in den lebensluftigen Kreijen feiner Baterjtadt den Löwen der Gefellihaft und verliebte ſich. Allmählich be- unruhigte ihn das Bewußtſein, „bald ein Bierteljahrhundert

alt zu jein, aber noch nichts von ber —— zu ver⸗ Philipp Spitta, Muſitgeſchichtliche Aufſähe.

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ftehen“. 1810 ging er nah Zürih, um durch Unterricht bei Nägeli diefem Mangel abzuhelfen. Nägeli bedauerte, Feine Zeit zu haben und empfahl ihm Joſeph Gersbad, welcher damals in Zürich lebte. Aber auch Gersbach hatte gerade feine Zeit. So ging wieder ein Jahr mit ziel- und planlofem Mufilmadhen dahin. Endlich erklärte Gersbah, Schnyder könne jchon mehr als er, und nun führten fie 14 Tage lang mit einander Ge- ſpräche, wobei Gersbad „die Muſik mathematisch - akuftiich, äfthetifch-philojophijch begründete und eine Ueberficht aller Accorde nah Boglers Syitem gab“. Dann fehrte Schnyder nad Luzern zurüd, und das frühere Leben nahm feinen Fortgang. Er erbte Schloß und Gut Wartenjee. Auf dem Scaffhaufener Muſik— fejte 1811 wurde ein VBocalquartett feiner Compofition aufgeführt („Das Grab“ von Salis), über das E. M. von Weber fid freundlich anerfennend äußerte und das Publicum entzüdt war. Der Erfolg veranlaßte ihn, endlich Ernft zu machen und fi auswärts wirklich zum Künftler auszubilden.

Wien war der Ort, welchen er wählte, weil bier Beethoven lebte. Daß Beethoven feinen Compofitionsunterricht gab, mußte er doch willen. Er nahm fich Kienlen, einen Schüler Cherubini’s, zum Lehrer, der den Unterricht „ziemlich regelmäßig“ ertheilte und häufig in Geldverlegenheiten war, Mozart ver: götterte und von Beethoven nicht3 willen wollte. Dennoch ſcheint Schnyder hier in jeiner Art wirklich fleißig geweſen zu fein. 1812 Efehrte er beim, „und war nunmehr ein talentvoller, geichidter, gründlich gebildeter Mufikvilettant“. Der Name, den fih Schnyder jelbit gibt, joll nur bezeichnen, daß er feine Kunft nicht um des Broderwerbs willen auszuüben beabfichtigte. In Luzern lebte er wieder, „allzufehr Herr feiner Zeit, ohne vor: gejchriebene Beſchäftigung“. Er heiratete und zog ſich nad) Schloß Wartenjee zurüd. 1815 ließ er feine erfte Lieder: jammlung auf Subjeription erjcheinen. Die Idylle des Land» lebens nahm 1816 ein Ende. Durd Schuld des Vaters gerieth Schnyder in ſchwere finanzielle Bedrängniß. „Das Scidjal

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hatte im dieſer ſchönen Sinecura die beiden erſten Sylben ge⸗ ſtrichen und nur die beiden letzten ſtehen laſſen“. Dreißig Jahre alt entſchloß er ſich, als Muſiker ſein Glück in der Welt zu verſuchen. Er wurde Muſiklehrer an den Erziehungsinſtituten von Peſtalozzi und Niederer in Yferten, legte aber dieſes Amt Schon nad Sahresfrift nieder und wandte ſich nad ‘Frank: furt a M. „In Dferten ward Schnyder Schulmeilter, in Frankfurt wurde er ein Künftler“. Mit diefen Worten jchließt die Autobiographie.

Die Herausgeber derjelben haben richtig gejehen, daß, um der Deffentlichfeit dargeboten zu werden, das Bild der Ergänzung bedürfe. Herr Pfarrer Heinrih Weber in Höngg übernahm es, in einem legten Abſchnitte Schnyders Wirken in Frankfurt und feine Bedeutung als Künstler zu ffizziren. Wir nehmen danf- bar das Gebotene an und bedauern nur, dab es nicht mehr ift. Sollten fich die Lebenserinnerungen aus ihrer mehr privaten zu allgemeiner Bedeutung erheben, jo war es doch nothwendig, wenigitens die nächitfolgenden dreißig Lebensjahre jo eingehend zu zeichnen, daß ihr Inhalt als die organisch gewachſene Frucht des ausführlich gejchilderten Jugendlebens greifbar hervortrat. Por allem alfo mußten wir Genaueres über Schnyders Compo— fitionen erfahren, und wie er jich mit ihnen zu feiner Zeit ver- hält; im Anſchluß daran mußte er als Theoretifer und Kritiker gewürdigt werden. Mochte der Verfaſſer der Skizze fich dieſer Aufgabe nicht unterziehen, jo hätte vielleicht Benedict Widmann oder ein anderer Frankfurter. Freund und Schüler Schnyders fie zu löfen verſucht. Sie war interefjant genug und, nachdem Schnyder mit eigener Hand den feiten Grund gelegt, auch in hervorragenden Maße lohnend. Es iſt jchade, daß die günjtige Gelegenheit verpaßt iſt, dem originellen Manne alljeitig gerecht zu werden; fie wird jich nicht leicht zum zweiten Male bieten.

Ueber die Art der Herausgabe des Manufcriptes hätte ich einiges auf dem Herzen, was freilich der vollendeten Thatfache gegenüber zu äußern nuglos iſt, aber doch vielleicht für künftige

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ähnliche Fälle Beachtung findet. Muſikdirektor Guſtav Weber in Zürich hatte ſich erboten, den Text der Lebenserinnerungen mit den nöthigen Bemerkungen zu verſehen. Ein früher Tod hinderte ihn, ſein von der Commiſſion der Stiftung dankbar angenommenes Anerbieten zu verwirklichen, und die Beifügung von Anmerkungen (ebenſo die Anfertigung eines Namen- und Sach-Regiſters) iſt nun überhaupt unterblieben. Den Grund der Unterlaffung fenne ih nicht, die Thatſache an fih iſt zu bedauern. Memoiren find immer doppelgefihtig. Das eine Gefiht zeigt die Züge des Verfafjers, jein ungemwolltes Selbit: porträt. Das andere zeigt die Thatſachen, welche er erzählt. Das erfte läßt man wie ein Naturerzeugniß auf ſich wirken, bei dem andern fragt man nad) der objectiven Richtigkeit. So erit gelangt der volle Gehalt der Aufzeihnungen zur Erjcheinung. Ein Commentar, der aber jebe ftörende Breite zu vermeiden bat, ilt deshalb unerläßlid. Viele Mittheilungen wird man in gutem Glauben hinnehmen müffen. Andre aber lafjen fich controliren, und auf diejem Wege gelangt man zu einem Urtheil über die allgemeine Zuverläjfigfeit der Aufzeichnungen. Ich habe mehr- fache Proben angeitellt und gefunden, daß der Verfaſſer ſich im Ganzen ala jehr glaubwürdig bewährt. Dies ift um jo mehr anzuerkennen, als er mit achtzig Jahren und wejentlih nur auf jein Gedächtniß geftügt die Zebenserinnerungen diktirte. Niemand wird ihm vormwerfen, daß er unter diefen Umſtänden doch zuweilen irrte. Aber wenn es gejchehen tft, muß man e8 an- merfen, oder wenn eine abweichende Weberlieferung desjelben Ereignifjes vorliegt, diefe zur PVergleihung oder Ergänzung heranziehen. Eo jtimmt der humorvolle Beriht über Spohr beim Freiburger Mufikfefte niht ganz mit dem, was Spohr jelbft erzählt. Daß Weber in Luzern eine von Schnyber componirte Serenade erhielt, erwähnt diejer nicht, wohl aber Meber jelbit (Lebensbild I, S. 292). Schnyder nennt als Componilten des „Eremiten auf Formentera” Conradin Kreuger, während es Peter Ritter ift (S. 62); Biihoff war Gantor in

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Frankenhauſen und noch nicht Mufikdireftor in Hildesheim, als er das erfte Mufiffeit zu Stande brachte (S. 83); Albrechts- berger ftarb nicht 1789, jondern 1809 (S. 149). Die „Ge- fhichte der Oper Freiſchütz“ ift das 1843 erjchienene „Frei— ſchützbuch‘“ und deſſen Verfaſſer fein Appellationsrath Kind, jondern der Dichter Friedrih Kind jelber (S. 127; ſ. „Frei ſchützbuch‘“ S. 103). Wenn Schnyder fi von Nägeli zu feiner Beruhigung jagen läßt: „Joſeph Hadyn hat vor jeinem 30. Jahre nichts Bedeutendes componirt, und Johann Sebaftian Bad), der größte Meijter aller Zeiten und aller Völker, deſſen Werke nicht zu zählen find, vernichtete, als feiner unwürdig, Alles, was er vor feinem 30. Jahre gejchrieben hatte”, jo fol Nägeli nicht verargt fein, daß er es nicht beſſer wußte. Aber heutigen Tages fann man fjolches doch nicht unangemerft in die Welt gehen laſſen. Ich führe die Beilpiele an, weniger deshalb, weil ich gerade auf diefe Einzelheiten großes Gewicht legte, als um die Aufgabe des Commentators anſchaulich zu maden.

Der größere Theil der Gompofitionen Schnyders von Vartenſee iſt ungedrucdt geblieben. Sucht man die veröffent- lihten zu überjchauen und folgt dabei den Hinweifen, welche die Autobiographie enthält, jo gelingt es wohl, ein gemeinfames Gepräge zu finden. Aber diefes ift mehr ein Ergebniß des Charakters als des Talents. Eine rein mufilalifche Eigenart will fih nicht offenbaren, was Hier und da als neu frappirt, ift weniger gefunden als erworben. Dagegen zeigt Schnyder eine jehr anbildfame Natur; je nach der Richtung, welche jein Muficiren zeitweilig nahm, finden wir Einflüffe der Wiener Meifter, Clementi's, Spohrs und anderer. Ein gefunder Sinn für das Formgerechte, Correcte und Gediegene tritt dabei von Anfang an hervor. Solchen Naturen iſt es nur ausnahms- weije bejchieden, etwas zu ſchaffen, was ben Tag überdauert. Schnyder hat dies an ſich erfahren; fein angeborner Humor und der Lohn, welchen jede ehrliche Arbeit in fich jelbit trägt, bat es ihm vermwinden helfen. „Einige find Glüdspilze, denen

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alles gelingt, werden Rothſchilde u. j. w. Andere find Red: vögel, denen alles fehlſchlägt. Ein jolches Pech hatte Schnyder als Componift. Seine Werfe, von denen Eleinere und größer an verjchiedenen Orten aufgeführt wurden, gefielen mehr oder weniger immer, einige jehr, und erhielten in den öffentlichen Beurtheilungen großes Lob. Sie wurden dennoch bald ver: geſſen!“

Es iſt nun ein Gebiet vorhanden, auf welchem er dem Schickſal des Vergeſſenwerdens trotzen wird. Dieſes kleine, aber nach mehreren Richtungen wichtige Gebiet iſt das des einfach volksthümlichen Liedes. Seit man wieder gelernt hatte, das volfsthümliche Lied zu jchägen, bildete es ſich in verfchiedenen deutichen Gegenden mit mannigfaher Abtönung aus. Zu bejonders liebliher Blüthe gelangte e8 auf dem ſchwäbiſch— alemannijchen Gebiet. Hier iſt Nägeli jein Schöpfer und Silcher fein glüdlicher Vollender. Zwiſchen ihnen ſteht Joſeph Gersbach als ein Hauptvertreter. Andre reihen jih an, oft nur mit unjcheinbaren Gaben als wahre Sänger aus dem Xolf, wie Kriedrih Glück, den feine fchöne Weile zu Eichendorff? „sn einem Fühlen Grunde“ unjterblih machen wird. Neben Gonradin Kreußer darf auch noch Friedrih Ernit Fesca hierher gerechnet werden: obſchon von Geburt Norddeutſcher, wurde er doch in Garläruhe von dem Liedergeifte jener Gaue innig be rührt, feine Weifen „Glode du klingſt fröhlih“ und „Heute ſcheid' ich, heute wandr’ ih“ gehören zu den jchöniten und charaftervolliten. Die Sänger waren in der Mehrzahl Mufiker von bejchränfter Phantafie und Kunft. Weder Nägeli nod Gersbach, noch Silcher haben ſich an große Formen gewagt, fie gingen im einfachen Liede auf. Schnyder überragte jie alle an Vielfeitigfeit und fünitlerifher Bildung, Fesca natürlich aus genommen. Dafür wurde es ihm anfänglich auch viel jchmwerer, den rechten Ton zu finden. Die Schilderung der Mühe, melde Sersbah hierin mit ihm hatte, gehört zu den anziehenbditen Stellen des Buches. Die Beweglichkeit jeines Geiftes führte aber

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endlich zum Gelingen. Es entitanden die Compofitionen für eine Eingftimme mit Clavier zu Gedichten Uhlands, die jpäter auf Spohrs Verwendung bei Peters in Leipzig erfchienen. In der Allgemeinen Mufikalifchen Zeitung von 1821, Nr. 23—30 widmete ihnen Nägeli eine ausführliche Beiprehung und fpendete be: geiltertes Lob. Es war nicht unverdient. Die mwohlgebildeten, friihen und herzlichen Melodien gehören zu den beten, welche die ſchwäbiſch-alemanniſche Sängerfchule hervorgebragt hat. Was beim Vergleih mit dem erjten, 1815 erfchienenen Hefte der Geſänge auffällt, ift nicht etwa ein höherer Grad der Neife. Auch jene find von tadellojer Sauberkeit des Sabes und Run— dung der Form. Es iſt die Verfchiedenheit des Stils. In dem älteren Heft regieren die Vorbilder Haydn und YZumiteeg, in dem fpäteren wird einem ganz anderen Ideale nachgeitrebt. Ich weiß nicht, ob in Süddeutichland und der Schweiz Schnyders Uhland-Lieder dergeftalt ind Volk gedrungen find, wie die Weifen Nägeli’3, Gersbachs und Silchers; jedenfalla waren fie deffen werth. In Nord- und Mitteldeutichland fennt man fie weniger. Aber im allgemeinen jpricht doch für ihre Verbreitung der Um— ftand, daß die Auflage bis auf das legte Eremplar vergriffen it. Mit diefen Liedern wird Schnyder fortleben. Er hätte es vielleiht auch mit manchen der fpäter veröffentlichten vermocht (höchſt anmuthige und zierlich geformte Stüde enthalten die „Acht deutichen Gefänge”. Bonn, N. Simrod), wäre nicht die Maſſe ſchöner Lieder, die während der legten hundert Jahre in Deutjchland entjtanden find, jo übergroß, daß ein erheblicher Theil von ihnen faum oder gar nicht beachtet verblühen mußte.

E3 war Vogler geweſen, der die Wichtigkeit der Volksweiſe, wenn auch nicht zuerft erkannt, jo doch mit jener Vernehmlichkeit verfündigt hatte, die ihm vor andern eigen war. Kein Wunder daher, daß Nägeli und feine Schule in ihm ihren Mann jahen. Sing fein Einfluß nicht über eine bloße Anregung hinaus, fo fonnte er nicht nur ungefährlich bleiben, jondern pofitiv nügen, und man jol dem abenteuerlichen Manne die Anerkennung nicht

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verjagen, daß er in der That nad manchen Seiten Ideen aus- geitreut bat, die richtig entwidelt der Kunit zur Förderung gereihen mußten. Bedenklich war es nur, in feiner Theorie der Tonſetzkunſt den verläßlichen Wegweifer für die Praxis der Mufik finden zu wollen, oder gar feine eignen Compofitionen zum Mufter zu nehmen. Nägeli und Gersbad hatten hierzu faum Veranlafjung. Anders war es mit dem formgewandteren, vieljeitigen Schnyder, der nicht, wie Weber, in einer reichen urfprüngliden Begabung das Gegenmittel bejaß, ungeſunde mit der Lehre eingeflößte Stoffe wieder auszuftoßen. Bei Schnyder muß es eine Periode gegeben haben, wo ihm aud Vogler der Componift als ein unbezweifelter Leitſtern galt. Der Leititern war ein Irrlicht und lodte ihn in den Sumpf. Zeuge dei find feine ſechs Männerchöre zu Gedichten von Goethe (Leipzig, Hofmeifter). In der Mehrzahl diefer Chöre ift von den Eigenjchaften, die jonft Schnyders Compofitionen angenehm machen, nichts geblieben, als der gewiflenhafte Ernit der Arbeit. Für Wohllaut, Correctheit und natürlichen Fluß der Harmonien- folgen ift mehr oder weniger das Gegentheil eingetaufcht. In Bezug auf unwirkſame Stimmlagen, Xeerheiten der Harmonie und unjchöne Verdoppelungen hätten fie nur von Vogler felbit übertroffen werden können; Accord: Bildungen und Folgen fommen vor, die nad Voglers „Syitem“ erlaubt jein mögen, das natürlide menſchliche Gehör aber immerdar beleidigen müſſen. Es hätte fi gelohnt, zu unterſuchen, bis wie weit in Schnyderd Compofitionsthätigfeit fich die Einwirkung Voglers eritredt hat. Ich kann hier eine ſolche Unterfuhung nicht an: ftellen, fondern nur die Thatſache melden, daß fie in andern mir befannten Werfen nicht hervortritt. Als Theorielehrer Scheint er aber lebenslang Voglers Spuren nachgegangen zu fein. „Es gelang ihm nad) dem Syitem von Abt Vogler die Harmonielehre jo zu methodifiren und als mathematische Wiſſen— ſchaft jo vollitändig abzuſchließen, daß in derjelben fein dunkles oder zweifelhaftes Plägchen zu finden war und er einen ver:

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ftändigen zwölfjährigen Knaben leicht zum gründlichften Harmoniker beranzubilden vermochte”. Hoffentlich iſt Dies nicht allzu wörtlich zu nehmen.

Das umfangreichite Werk, das Schnyder veröffentlichte, ift Die Dper „Fortunat mit den Sädel und Wünfchhütlein”. Er ſchrieb fie um 1827, 1831 ift fie in Frankfurt einige Male aufgeführt worden. Mit den Gapellmeifteropern A la Zindpaintner und Reißiger bat fie nichts gemein. Weit entfernt, ein Werk der Routine zu fein, zeugt fie vielmehr in jeder Nummer von liebe: voller Hingabe an die Sade und forgjamfter Geftaltung. Sie verräth Talent für dramatiiche Charafteriftif, bietet von Seiten der Harmonif betrachtet viel Neizvolles und ift reich an geſchickter und was mehr iſt, an gefehmadvoller und geiftreiher Contra- punktirung.e Das Muſter ift augenjcheinlih Cherubini, und gegenüber diefer Erjcheinung wird es doppelt interefjant, aus den LZebenserinnerungen zu erfahren, daß ber einzige wirkliche Compofitionslehrer, welchen Schnyder jemals hatte, eben ein Schüler Cherubini'3 war. Auch das Wiederfehren gewifler Ton- gedanken behufs muſikaliſcher Berfinnlihung beftimmter brama- tiſcher Faktoren die vielberufenen „LZeitmotive” der Neuzeit hat er offenbar vom Componiften des „Waflerträger“ ge- lernt. Litte nicht die Dper „Fortunat” in Folge des contra= punktiſchen Weſens an einer gewiffen Schwere, welche dem Gegen: ftande der Dichtung widerſpricht, und befundete fie vor allem eine prägnantere muſikaliſche Erfindung, jo würde man fie ala deutiche Dper eine in ihrer Zeit hervorragende Erjcheinung nennen dürfen. Ein Ehrendentmal für den Componiften bleibt fie au) fo. Wie jemand, der jo andächtig auf Meifter Cherubini's Pfaden wandelt, der zeitlebens auch für Verbreitung und Ber: ſtändniß Bachſcher Muſik gearbeitet hat, daneben Boglerianer fein fonnte, das gehört in das Capitel von dem großen Wider: ſpruch, welchen Schnyder in ſich herumtrug. Immerhin darf man jagen, er zählte feiner Zeit zu den gediegenften Contra— punftijten. Mit Vorliebe verfuchte er fih auch in der Löſung

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ſchwieriger contrapunktifcher Aufgaben. Schon jeine erfte Lieder- fammlung ließ er nicht in die Welt gehen, ohne fie auf dem Umſchlag mit zwei vierjtimmigen Räthfelcanons zu ſchmücken. Ein Duett-Saß für Violine und Bioloncell entwidelt fih aus einer Stimme dergeftalt, daß dieſes die mit Violinſchlüſſel verfehene Stimme im Baßſchlüſſel von rüdwärts jpielt; fie wird zu diefem Zwede auf den Kopf geſtellt. Cine äußert fünftlihe Fuge nebſt Canon zu einem Cantus firmus ver: öffentlichte er mit erläuternden Bemerkungen in der „Caecilia” von 1825. Diefe Arbeiten wird niemand mit Bachſchem Maß— ftabe mefjen wollen; aber es find gute Schulftüde. Daß es ihm in den polyphonen Formen zuweilen auch mißglüdte, Toll deshalb nicht verfchwiegen fein. Ein Beiipiel bietet das Fugato im legten Saße der C-dur-Sonate. Es ift die äußerite Sauber: feit des Clavierfaßes, die an diefem Stüde auch heute noch interejfirt; der Inhalt ift altväteriſch, ſelbſt mit Schnyders Mapitabe gemefjen.

Ernſt, Frifche, Geift, Klarheit, Unverdroſſenheit, furz alle Eigenichaften, die den guten Lehrer machen, jcheint Schnyder bei einander gehabt zu haben. Vielleicht war die Mufiflehre fein eigentliches Gebiet. Aus der Ergänzungs : Skizze erfahren wir über diefen Punkt nichts Gründliches. Selbftverfaßte Lehr: bücher hat Schnyder nicht hinterlaffen. So gern er mit Noten: zeichen hantirte, jo widerwärtig war ihm nad eigner Ausjage das Buchitabenjchreiben. Klarer Verftand und ein ftarfes Ge- dächtniß überhoben ihn der Nothwendigfeit, ſich jelbit durch Notizen und jchriftliche Ausarbeitungen zu Hülfe zu kommen. Einen theilweifen Erfah bieten zwei Werfchen, welche Schnyders Schüler Benedict Widmann nah mündlichen Borträgen des Lehrers verfaßte und von ihm jelbft revidiren und genehmigen ließ. Das eine ift ein gedrängtes Syſtem der Rhythmif, welches einem von Schnyder im Fünfachteltaft componirten Rondo als Einleitung vorausgeht (Dffenbah, bei oh. Andre). Scharf durchdacht und Flar entmwidelt zeigt es Schnyders Lehrtalent in

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vortheilhafteftem Lichte; daß diejer über den fünftheiligen Rhyth— mus ungefähr zu derjelben Theorie fommt, welche wir bei den Griechen finden, verdient um fo mehr hervorgehoben zu werden, al Schnyder,, der griehiihen Sprade unfundig, von der an- tifen Rhythmik jchwerlich Kenntniß genommen hat. Das Rondo foll die Lehre praktiſch verſinnlichen und intereffirt durch die Menge rhythmiſcher Formen, die im Fünfer-Maß entwidelt werden; jein Werth liegt im Erperiment, nicht im inneren mufi- kaliſchen Gehalt. Den ftiebentheiligen Takt ift Schnyder geneigt, nicht mehr als unzujammengejegten gelten zu laſſen, da er als folcher zu ſchwer faßbar jei. Indeſſen ift der Chor der Gärtner und Gärtnerinnen im „Fortunat” (S. 177 des Clavierauszuges) thatfächlich doch jo rhythmifirt, daß je jieben Viertel unter einem Hauptaccent jtehen, wenngleich der Componiil, der leihtern Ausführ- barkeit halber, äußerlich Drei- und Vier-Vierteltaft wechieln läßt. Die Anwendung vom „= und „Takt in den „Acht deutichen Gejängen”, vom +44-Taft in der C-dur-Sonate zeigt, wie Schnyder auch den allgemein üblihen Rhythmengejchlechtern durch feines Nahfinnen neue Seiten abzugewinnen weiß.

Das andere Werk ijt eine „Formenlehre der Inſtrumental— muſik“ (Leipzig, Merjeburger 1862; 2. Aufl. 1879). Wenn e3 beim Lehrer mehr noch, als auf den Umfang, auf die Gründlich— feit des MWiffens und die Klarheit der Darftellung ankommt, fo darf man auch in diefem Heinen Lehrbuche einen vortrefflichen Mufitpädagogen erkennen. Was den Stoff betrifft, jo iſt er allerdings weſentlich auf die Zeit der jüngeren Claſſiker von Haydn an beſchränkt. Die älteren Formen der Sonate und des Concert3, wie die Staliener am Ausgang des 17. Jahr— hundert3 fie fertig binftellten und Seb. Bad dann in un: erihöpflicher Weife umbildete, bleiben von der Betrachtung aus- geſchloſſen. Aber das abgejtedte Gebiet beherricht der Autor vollfommen, und mufterhaft ift, wie er den Schüler von den einfachſten Elementen an Schritt vor Schritt vorwärts führt. Schnyder felbft nennt diefe feine Formenlehre „erichöpfend und

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wiſſenſchaftlich abgeſchloſſen“. Hiergegen müßten wir freilich eben ſowohl Widerfpruch erheben, wie gegen jeden Anſpruch, das un— begrenzte Wahsthum der Kunft von vornherein durch Epeculation irgendwie einzuengen. Die Luft am Syftemifiren und ein Ueber: vertrauen auf die Kraft der abfoluten Doctrin gehört vielleicht auch zu den trügerifchen Gewinnften, welche er aus Voglers Lehre 309.

Da in dem Verzeihniß der Werte Schnyders, welches den Lebenserinnerungen beigegeben ift, fih auch eine Rubrik „Schriften“ findet, fo hätte unter ihr wohl die „Formenlehre der Inftrumentalmufif” angeführt werden können, denn der Inhalt ift doch Schnyders geiftiges Eigenthum ). Ebenjo war hierin ein Nachweis der theoretifchen und fritiichen Aufläge zu geben, die er im Laufe der Jahre in verjchiedenen Mufif- Zeitichriften und vielleicht auch anderswo veröffentliht hat. Die in ihnen nieder: gelegten Kunftanfichten bilden einen weſentlichen Beitrag zur Charafterifirung des ganzen Mannes. Schnyder war voll regiten Intereſſes für alles, was in feiner Zeit an neuen Eultur- elementen hervortrat, und in diefer Beziehung ein ganz moderner Menſch. Höchit jeltiam ift, daß man davon in feinen Compo- fitionen jo wenig merkt; fein Wefen ruht auf einem ftarfen, niemal3 ganz beglichenen Widerſpruch. Er lebte und mwebte in dem Anſchauungs- und Gefühls-Kreife, den unfere großen Dichter geöffnet haben. Er beſaß jelbft eine merkenswerthe poetifche Begabung; zeigt fich diefe auch weniger originell als

1) Das Verzeichniß enthält einige Unrichtigfeiten. Die S. 377 oben an- geführten „Ein- und mehrftimmigen Gefänge mit Pianobegleitung*, welche bei Breitlopf und Härtel erfchienen fein follen, find identifch mit den „Deutichen Gefängen. I. Heft. Bonn, Simrod*. Das Männerquartett S. 379 „Woher ich fam* ift nicht ungedrudt, fondern fteht ald Ar. 4 in den Sechs Männerchören über Gedichte von Goethe. Auch das Lied „Die Belehrte* (S. 379) ift gebrudt in den „Acht deutfchen Gefängen*. Bei dem Duartett „Der Friede“ (S. 376) mußte bemerkt werden, daß es urfprünglich zu der Peſtalozzi-Cantate von 1817 gehörte. Die Duverture für großes Orchefter S. 377 fteht wohl nicht in C-moll, fondern in G-moll; vergl. S. 78 unten.

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anempfindend, ſo hat er doch mehr als ein Gedicht geſchaffen, das ſich neben die beſten anderer ſchweizeriſcher Dichter ſtellen kann“). Wenn wir leſen, wie er ſich gemeinſam mit feiner Caroline an einem beſonders ſchön gelegenen Plätzchen am Vierwaldſtätter See in Klopſtockſchen Oden berauſchte, wie das Stück Oſſianſcher Poeſie in „Werthers Leiden“ ihm von Jugend auf ans Herz gewachſen war, wie er Jean Paul über alles liebte, Rückert zeitlebens in verehrender Freundſchaft zu— gethan blieb, wie ihm Weber und Spohr perſönlich nahe ſtanden und anderes mehr, ſo erwarten wir nun auch in ſeinen Compo— ſitionen ein tüchtiges Stück Romantik zu finden. Allein dieſe iſt nicht da, die Cherubinismen ſeiner Oper und manche äußer— liche Anlehnungen an Spohr können darüber nicht wegtäuſchen. Er ſuchte den ganzen Reichthum der neuen Zeit in ſich auf— zunehmen, aber in Muſik haben ſich ihre Ideen bei ihm nicht umgeſetzt. Hält man dieſes feſt, ſo iſt von ſelbſt begreiflich, warum er als alter Herr der neueren deutſchen Romantik nicht mehr folgte. In Schumann konnte er ſich nicht finden und beurtheilte ihn ungerecht; von Wagner wollte er natürlich noch weniger wiſſen, ſein Diktum über ihn anläßlich des „Tannhäuſer“ iſt aus Hauptmanns Briefen an Hauſer (II, 179) bekannt. Wenn ihn aber Ambros Schumanns wegen verächtlich abfertigt, ?) fo verräth ſolches eine für einen Hiltorifer bedenkliche Befangen- beit. Man ſoll feinem Baume feine eigene Rinde mißgönnen. Schnyder war fein großer Componift, aber ein jehr tüchtiger Mufifer, der mit Ernſt und Aufrichtigfeit für die Förderung feiner Kunft bemüht und jelbjt noch über das Grab hinaus

1) Eine Sammlung feiner Gedichte hat 1869 Müller von der Werra herausgegeben (Leipzig, I- J. Weber). Auf Gottfried Kellers Beiprehung diefer Gedichte (Nachgelaſſene Schriften und Didtungen. Berlin, W. Hertz. 1893. ©. 23 ff.) weife ich bier um fo lieber bin, als ihr einige hübjche perfönlihe Erinnerungen an Schnyder angehängt find.

2) Gulturbiftorifhe Bilder aus dem Mufilleben der Gegenwart. 1860. S. 88.

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beforgt geweſen iſt!). Es ift richtiger, ſolche Männer aus fi verjtehen zu lernen, als fie zur Vergleihung neben größere heraufzuheben und dann geringſchätzig fallen zu laſſen. Wie jagt Schnyder doch jelbft? „Wie nicht Alles Genie ſeyn kann, jo it auch nit Alles Schwädhling, und die Mehrzahl der Künftler würde etwas Tüchtiges leiften, wenn jeder in fich die Kräfte forgfältig entwidelte, die er freigiebiger oder farger von der Natur empfing. Nicht einzelne große Sterne bilden den geitimten Himmel in feiner Herrlichkeit; das Firmament wäre öde, hätten wir nur die wenigen Sterne erjter Größe; der vereinigte Glanz der Taufend und Taujend großen und Eleinen Welten, ihre Unzählbarfeit iſt's, was jo erhaben auf uns wirft“). Und darum habe ich gern die Gelegenheit ergriffen, über den körnigen Schweizer, der jeinem Baterlande, und nicht nur diefem, Ehre gemacht hat, etwas ausführlicher zu jprechen.

1) Seiner Stiftung ift e8 zu danken, daß Emil Vogels grundlegendes Wert: „Bibliothef der gedrudten weltlichen Bocalmufif Italiens aus den Jahren 1500—1700* (Berlin, 4. Haad. 1892. Zwei Bände) hat er- feinen fünnen. Auf anderem Wege wären die Mittel dazu faum zu be- ſchaffen geweſen.

2) Caecilia, Band II, S. XXXVII.

Aeber Voberk Schumanns Hehriffen.

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D- Kunftwerfen, welche nicht im Raume, fondern in der Zeit erjcheinen, iſt es eigen, daß fie, um zu fortgejegter Wirfung zu fommen, immer gleihfam wieder neu gefchaffen werden müſſen. „Nachſchaffen“ nennen wir diefen Vorgang: der zu wandelnde Weg ilt gebahnt, die einzufchlagende Richtung genau vorgezeichnet, aber wer eigener Schöpferthat fich ganz entjchlüge, würde doc nicht ang Ziel gelangen. Es folgt dar: aus, daß man, jtreng genommen, niemals dasjelbe Muſikſtück wieder hören kann. Selbft der Componift fpielt fein eigenes Werf nie wieder genau jo wie das erite Mal, da es fertig aus feinen Geift hervorgegangen war. Bejorgen vollends Andere den Act des Nachſchaffens, jo drängt mit Nothwendig- feit „immer fremd und fremder Stoff fih an“. Wachen jün- gere Gefchlehter nah mit neuen Anſchauungen, jo tragen fie unmwillfürlih etwas von diejen in das nachzuſchaffende Werf hinein. Daß der ausübende Künftler ganz in dem inneriten Weſen des Kunftwerfs aufgehe, feines eigenen Ichs ſich mög- lichſt entäußere, gilt zwar mit Recht als die höchfte Forderung, die an ihn geftellt werden muß. Aber vollitändig zu erreichen ift dieſes deal nicht. Bewegung ift alles an einer Tonſchöpfung, Bewegung und Wandel.

Ein Jeder fieht, welche Schwierigkeiten entjtehen müſſen, wenn ſolch ein flüffiges, unfaßbares Weſen einer prüfenden Be-

Philipp Spitta, Muftfgefhichtlihe Auffäge. 25

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trachtung unterzogen werden fol. Es hält ihr nirgends ftill. Vergleichsweife noch leichter läßt fih ihm beifommen durch mündliche Erklärung, die ſich an die völlige oder ſtückweiſe Repro- duction des Tonwerfes anjchließt, voraus und rückwärts jchauend vorgeht, die Hauptzüge hervorhebt, ihrer Verflößung mit dem Nebenſächlichen nachſpürt, die Elemente zu finden ſucht, welche die Befonderheit des Kunfteindruds bedingen. Auch bier wird der betrachtende Erflärer fih auf Schritt und Tritt dadurch ge- hemmt fühlen, daß die Einzelheit im Mufifitüd nichts iſt außer- halb des continuirlichen Flufjes des Ganzen; nichts, oder Doch etwas völlig Verjchiedenes. Kann dies auch in gewiſſem Sinne von jedem Kunſtwerke gejagt werden, das den Anjpruh auf einen harmoniſch geordneten Organismus erhebt, jo gilt es doch für die Muſik im ftärkiten Maße. In ftärkerem als für die Dich- tung, und wiederum ftärfer für die gejpielte Muſik als für Die, welche geiungen oder gejungen und gejpielt wird. Denn Ele- ment, Ideal, Naturjchönes, oder wie man es nennen will, der nur gejpielten Muſik ijt eben die abjolute Bewegung, und jeder Verfuh, fie für bejondere Zwede zum Stillftehen zu bringen, trifft viel tiefer verlegend in das Innere des Ganzen, als wenn die durch Worte hervorgerufenen Vorſtellungen wie vom ewigen Strom der Töne umjpülte Injeln der Beobadhtung feite Stüg- und Ruhepunkte gewähren.

Wie nun aber, wenn die Aufgabe gejtellt ift, durd ge: jchriebenes oder gedrudtes Wort ein Mufifftüd zu ſchildern? Man kann, wie beim mündlichen Vortrag die lebendige Repro- duction, jo bier das durch Tonzeichen firirte Werk zur Grundlage nehmen. Wie die aufgezeichnete Wortiprade, kann man auch die aufgezeichnete Tonſprache leſen lernen, es läßt ſich daber auf der Verbindung beider eine literarifche Leiſtung aufbauen. Aber das Muſikleſen ift ein ſehr viel abitracterer und verwidelterer Vorgang. Abjtracter, weil das Gelejene größtentheils nur inner: lich vorgeitellt werden fann, während es dem Wortlejer jeden Augenblid frei jteht, aus der innerlich gehörten in die laut ge

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ſprochene Rede überzugehen. Verwickelter iſt der Vorgang, inſofern es ſich bei der Muſik nicht um die Vorſtellung eines einzelnen Tones und ſeiner Einordnung in die Tonfolge handelt, ſondern um das gleichzeitige Erfaſſen verſchiedener Tonfolgen in ver— ſchiedenen Bewegungen und Tonhöhen, auch in verſchiedenen, un— aufhörlich wechſelnden Klangfarben. Es iſt hierzu eine weit leb— haftere Klangphantaſie erforderlich, als ſie der Wortleſer nöthig hat, dem außerdem die Arbeit dadurch erleichtert wird, daß in der Sprache die Worte ſich viel mehr zu Symbolen verflüchtigt haben, während für die Wirkung der Muſik der ſinnliche Klang ein überaus wichtiges Mittel iſt und bleibt. Es kann alſo nicht daran gedacht werden, daß das Muſikleſen jemals auch nur annähernd ſo allgemein werde wie das Wortleſen. Aber ſelbſt würde es dies: zu der ana— lytiſchen Beſchreibung eines Tonſtückes auch nur in ſeinen bedeut— ſamſten Eigenſchaften gehört eine ſolche Umſtändlichkeit, es beſteht ein jo ſchreiendes zeitliches Mißverhältniß zwiſchen dem Vorüber— ſchweben der luftigen Tongeſtalt ſelbſt und den durch die ſchwerfällige Maſchine vielfältiger Reflexion in Bewegung geſetzten inneren Vor— ſtellungsfolgen, daß kaum noch von einer Aehnlichkeit der auf beiden Wegen gewonnenen Eindrücke geſprochen werden könnte. Dennoch werden ſolche Analyjen immer nothwendig bleiben, wo es ausfchlieglich lehrhafte und kunſtwiſſenſchaftliche Zwecke gilt. Die Zergliederung eines Muſikwerkes bis in ſeine kleinſten Theile darf ſich Keiner erlaſſen, der praktiſch lernen will, wie man es machen ſoll, und zeigen, wie man ſolche Zergliederungen anſtellt, iſt gewiß eine wichtige Aufgabe der Compoſitionslehre. Nicht anders auch, als auf dieſem Wege wird die Erkenntniß deſſen gewonnen, was ein Kunſtwerk von dem anderen, was bei weiterer Umſchau einen Meiſter von dem andern unterſcheidet. Die geſchichtlichen Zuſammenhänge laſſen ſich, wenn man ihre feinften Faſern bloßlegen will, ohne eindringende analytiſche Arbeit nicht aufzeigen. Aber ſelbſtverſtändlich wenden ſich ſolche Arbeiten nur an den kleinen Kreis der „Eingeweihten“, da ſie beſtimmte

fachmäßige Vorkenntniſſe vorausſetzen. In alter Zeit waren 25*

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jämmtlihe Schriften über Mufif von diefer Art, oder da auch hiermit noch zu viel gejagt fein fünnte fie dienten theils der Compofitionslehre, theild wollten fie das Mejen der Töne und Tonverbindungen in ein wiffenjchaftliches Syitem bringen, wogegen e3 eine höhere geihichtlihe Betrahtung der Mufil bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts allerdings nicht gab. Den Eindrud eines Tonftüdes in jeiner Geſammtheit auf lite: rariſchem Wege dem Lefer zu vermitteln, ein joldhes Unterfangen lag ganz außerhalb des Arbeitsfreifes der Alten; ich bezweifle, daß fie darüber je ernitlich nachgedacht, und wenn doch, daß fie es für ausführbar gehalten haben.

Diefe Art des EC hriftitellertbums beginnt mit Wilhelm Heinſe's „Hildegard von Hohenthal“, und es iſt deutlich er- fennbar, daß fie mit dem Wiedererblühen der deutichen Dichtung zufammenhängt, ihre Wurzeln aljo nicht im Boden der Wiſſen— jchaft hat, jondern der Hunt. Wie Heinje waren auh Waden- roder, Tied und andere der ihm folgenden hervorragenden Muftk: Schriftiteller ihrer hauptjädhlichen Begabung und Thätigfeit nad Dichter. So eingreifend Friedrih Rochlitz als Herausgeber der „Allgemeinen Mufifalifchen Zeitung“ und durch feine eigenen Auf: ſätze über Mufif gewirkt hat, es ift doch zweifelhaft, ob dieie, an fich betrachtet, nicht geringwerthiger find als feine zahlreichen Romane, Erzählungen, Charafterbilder und Schaufpiele. Ludwig Rellitab erklärte, al8 er im December 1841 die von ihm herausgegebene Muſik-Zeitſchrift „Iris“ eingehen ließ, ganz offen, er müſſe jet wieder jeinem Hauptziele nachgehen und größere poetiſche Werfe jchaffen. Wenn die Dichtungen diejer beiden Männer einen hohen Rang nicht einnehmen, jo darf man wohl mit einiger Sicherheit vorausfagen, daß in fünftiger Zeit diejes auch bei ihren Mufikjchriften nicht der Fall fein wird, und daß die Wirkung, die fie mit ihnen machten, zumeift von der Neuheit ber ganzen Richtung ausging. Wird doch jchon heute, wie über Heinje, jo auch über Rochlitz oft abfällig genug geurtheilt, und manchmal abfälliger, als fie es verdienen; ich meine, wenn die Er:

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findungen, welche Rochlig ganz unbefangen für gefhichtliche Wahr: heit ausgab, auch vor dem Nichterjtuhl der Wiſſenſchaft den fchärfiten Tadel verdienen, jo müßte doch die Erfenntniß des ge- ſchichtlichen Zuſammenhanges, durch den fein Wirken bedingt wurde, das Urtheil mildern. Will man ihn recht begreifen, jo muß man ihn in das jchillernde Licht jegen, das aus den Schriften E. T. A. Hoffmanns, feines Zeitgenofjen und Freundes, hervor- zittert. In Hoffmann fand die neue Richtung, welche nicht bei der technifchen Bejchreibung der Muſik ftehen bleiben, fondern das ge- heimnißvolle Wejen diefer Kunft und ihre entjprechende Wirkung durch die Mittel Schriftitelleriicher Darftellung faßbar machen wollte, ihren vollbürtigiten Vertreter. In feiner Natur verband ſich mufifa- liche Begabung und Bildung mit einem ftarfen, eigenthümlichen Dichtertalent. Er war eine bahnbrechende Kraft. Will man des Unterjchiedes zwiſchen Sonft und Set voll inne werden, fo vergleihe man irgend eine Abhandlung aus ber Allgemeinen Mufifalifhen Zeitung, beifpielsweife ©. F. Michaelis’ „Ueber den Rang der Tonfunft unter den fchönen Künften“ oder Apels „Ueber Ton und Farbe“ aus dem Jahrgange 1799—1800 mit „Johannes Kreislers Lehrbrief*. Ueberhaupt ftedt in den „Kreisleriana” fie erjchienen 1814 und 1815 ein Gähr- ftoff von erftaunlicher Kraft, der die ganze Mufikfchriftitellerei unseres Jahrhundert? durchdrungen hat. Viel mehr als wir uns jet noch bewußt find, möchte der hier zuerft angefchlagene Ton auf unjere Anſchauungen von gewiſſen Kunjtwerfen und Künftlern bejtimmend eingewirft haben. Die Bilder der drei großen öfterreihijchen Inftrumentalcomponiiten, weldhe Hoffmann in Nr. 4 der „Kreisleriana” („Beethovend Anftrumentalmufif“) zeichnet und einander gegemüberftellt, find mit ſolch tiefichauen- der, mufilalifcher Intuition erfaßt und zugleich mit fo fiegreicher dichterifcher Kraft herausgeitellt, daß fie heute noch ihre volle Wirkung thun. DVieles, namentlid das, was die Kunft Haydn betrifft, ift niemals jchöner und mit eindringlicherer Bildhaftigfeit gejagt worden.

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Es mußten Künftler fein, welche diefe Art von Muſik— Tchilderungen unternahmen. Denn nur der Künſtler richtet den Blid allewege auf das Ganze und begreift in ihm das Einzelne. Und nur durch einen Act inneren Schauens geht die Umformung des mufifalifhen Gehalts in den dichterifchen vor fich, der dann, da e3 der Muſik an einem Naturvorbilde fehlt, in Bild und Gleich- niß zu Tage treten muß. In dieſer Neugeitalt geht er in Die Phantafie des Leſers über und verwandelt fich dort gleichjam zum Klange zurüd. Die Gefahr, foldherweife über Kunſtwerke nur zu phantafiren, droht natürlich aus nächfter Nähe. In der That find neben einer Legion Fleiner Geifter, die etwas getban zu haben glaubten, wenn fie ihre, ihnen unbenommenen Privat: gefühle mittheilten, auch begabte Schriftiteller, wie Adolf Bern: hard Marr, ihr nicht immer entronnen. Verwirrende Mißver— ftändniffe, als ob der Leſer in dem bildhaften Niederichlag eines Muſikſtückes nun dasjenige erfaßt habe, was der Componiit babe „ausdrüden“ wollen, als ob es Aufgabe des Mufikichrift- ftellers jei, aus einer Sinfonie die dichterifche „dee“ herauszu- bajpeln, traten hinzu. Wird aber zugegeben, daß es jih um ein Gebiet handelt, welches wiſſenſchaftliche und künſtleriſche Be— tradhtung gemeinfam beherrichen, jo ift nicht mehr nad dem Was? zu fragen, jondern nad dem Wie? und der Unfug, der mit dem poetifirenden Beichreiben von Inſtrumental-Compo— fitionen getrieben worden ift, darf nicht hindern, anzuerkennen, was in der Sache Richtiges liegt. Die umfaffendite fachmäßige Kenntniß und Beurtheilungsgabe als felbitverjtändlich voraus: gejegt, bleibt doch das Eintauchen in ein poetifches Medium das einzige Mittel, in der Phantaſie des Leſers jene Stimmung zu erweden, in der jedes lebendige Tonwerk athmet, ohne die es todt iſt, die es einheitgebend, zuſammenſchließend, jchügend umgibt, wie die Haut den Körper.

„Wir halten die für die höchſte Kritik, die durch fich jelbit einen Eindrud binterläßt, dem gleich, den das anregende Ori- ginal hervorbringt.“ Es iſt Robert Shumann, ber diejen

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fühnen Ausſpruch gethan und fich damit und Anderen ein vielleicht unerreichbares Ziel geitedt hat. „In diefem Sinne“, fährt er fort, „könnte Jean Paul zum Berftändnig einer Beethovenſchen Sym- phonie oder Phantafie durch ein poetifches Gegenftüd möglich mehr beitragen als die Dugend:Kunftrichtler, die Leitern an den Koloß legen und ihn gut nad Ellen mefjen.” Schumann als Mufil-Schriftiteller ift Hoffmanns legitimer Erbe und größerer Nachfolger. Der Glanz, der ihn als einen der größten nad)- beethovenschen Componiſten umgibt, bat jeine Schriften eine Zeit lang in den Schatten gedrängt. Man weiß, daß er als vier- undzmwanzigjähriger Jüngling die „Neue Zeitichrift für Mufif“ gründete, daß er fie zehn Jahre leitete und reichlich mit Bei— trägen verjorgte. Die Mehrzahl von ihnen hat er 1854 als „Bejanmelte Schriften über Muſik und Muſiker“ in vier Bänden herausgegeben. Doch ging deren Verbreitung anfängli nur langfam von ftatten. Erit in den legten zehn Jahren jind ſich die Ausgaben jchneller gefolgt; die beite hat im Jahre 1891 F. Guſtav Janſen bejorgt (Leipzig, Breitfopf & Härtel. Zwei Bände). In fie it Alles aufgenommen, was als von Schu: mann berrührend feitgeitellt werden fonnte; die Abänderungen, die er jelbit für die „Sammlung“ vorgenommen hatte, find gewifjenhaft vermerkt und durch fleißig und umfichtig gearbeitete Anmerkungen nach Möglichkeit alle dunfeln Punkte aufgeklärt, die in Aufjägen, welche für den Augenblid gejchrieben waren, nad) Verlauf eines halben Jahrhunderts naturgemäß hervorge- treten jein mußten. Auch einen kurzen Lebensabriß hat Janſen vorausgeihidt, in dem er hauptjählich der Entwidlung Schu: manns zum Schriftiteller von deſſen Schuljahren an nachgeht. Schumanns Vorliebe für Hoffmanns Schriften und jeine innerliche Verwandtichaft mit ihm ift, wenn es defjen überhaupt nod) bedürfen ſollte, gleihjam documentarifch bezeugt durch die Sammlung von Glavierjtüden, welche er 1838 unter dem Titel „Kreisleriana” herausgab. Nicht Hoffmann allein ift ed, an den er anfnüpft; von großem Einfluß auf die Dichternatur in ihm

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war Sean Paul. Auch diefer war für Muſik tief empfäng- lich, und viele Stellen feiner Schriften zeigen, daß er den Ein- brud, den Muſik madt, in Worte zu bannen wußte. Hoffmann jelbft jtand unter Jean Pauls Zauber, und jeine „Phantaſieſtücke in Callots Manier”, in denen fi die „Kreisleriana”, die Auf: füge „Ritter Glud” und „Don Juan“ befinden, hat Jean Paul in die Deffentlichfeit eingeführt. Im Stile hat Schumann jeine fehr ausgeprägten Eigenthümlichfeiten. Wenn er erzählt, kann man wohl an Hoffmann erinnert werden, an Sean Paul jelbit dann nicht; wo es aber die Beichreibung eines Muſikſtückes gilt, da3, was er in dem oben angeführten Ausſpruche „Kritik“ nennt, zeigt er fi) ganz anders. Kurze Säge, und in ihnen der Ge danke zu einer Anappheit zufammengedrängt, oder auch in einer Flüchtigfeit nur angedeutet, die oft an Dunkelheit ftreift. Eine Schreibungeduld, die ihn über verbindende Mittelglieder fortreißt, ein Fliegen mehr als ein Entwideln, da die Einfälle jih in ſolcher Fülle zudrängen, daß er fich darüber ſelbſt einmal, fait ärgerlih in einer PBarenthefe Luft macht: „ch kann vor Ge- danken gar nicht auf die eigentlichen fommen.” Das Gefühl von der Unzulänglichkeit des Wortes’ gegenüber der Muſik be- herrſcht ihn jtärfer als Hoffmann. Er war eben der unvergleich: lih reicher begabte Componiſt; fein Dichtertalent mag kaum viel geringer gewejen fein al3 das jeines Vorgängers; ſicher aber war e3 ſchwächer als fein eigenes mufifalifches. So ift eg denn allmählich gekommen, daß es unter diefem mehr und mehr ver: ſchwand. Aber nicht zurüdgedrängt wurde es, nicht verzehrt oder erſtickt, jondern gleihjam von Liebenden Armen gänzlid eingehüllt. Es ift die entgegengejegte Erjcheinung wie bei Richard Wagner, der fih im Gange feiner Entwidlung zum immer ftärkeren Betonen des poetifhen Factors getrieben fühlte Die Dichterphantafie bleibt bei Schumann dem Componiften immer und überall thätig, aber an der Geitaltung des Mufikftüdes ih meine bier zunächft Inſtrumentalmuſik betheiligt fie ſich immer weniger, nur durch einen von Innen berausleuchtenden Schein verräth fie, daß fie am Werke iſt.

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In Schumanns Schriften findet fih Weniges, was nur als Dihtung wirken fol: ein „Traumbild“ benanntes Gebicht über das Spiel von Clara Wied und eine Humoresfe in Proſa, „Der alte Hauptmann“ ; beide zeigen den geborenen Poeten. Mit allem Uebrigen verfolgte er einen doppelten Zwed: einen be- lehrenden und einen fünftlerifch ergreifenden. Schumann glaubte an eine Entwidlungsperiode feiner Kunft, in deren Morgenröthe er ftehe, und hielt es für feine Aufgabe, ihr den Weg frei zu machen und an ihrem Gedeihen durch Wort und That mitzu- wirken. „Sünglinge, jchafft fürs Licht!“ läßt er feinen Meifter Naro jagen. Er bejaß unleugbar einen agitatorifchen Charaf- terzug und war ſich, wenn er zur Feder griff, voll bewußt, daß er ſich damit desfelben Mittels zur Verbreitung feiner Anfichten bediente, das ſich auf politifchem Gebiete in jener Zeit als eines der wenigen wirfjamen darbot. Die Parallele mit der Politik wird von ihm offen eingeftanden. „Die Gegenwart wird durch ihre Parteien charakterifirt. Wie die politifche, kann man die mufilaliihe in Liberale, Mittelmänner und Neactionäre oder in Romantifer, Moderne und Claffifer theilen. Auf der Rechten figen die Alten, die Contrapunftler, die Antichromatifer, auf der Linken die Jünglinge, die phrygiſchen Müten, die Formen— verädhter, die Genialitätsfrechen, unter denen bie Beethovener als Claſſe hervorftehen. Im Juste-Milieu ſchwankt Jung und Alt vermifht. In ihm find die meilten Erzeugnifje des Tages begriffen, die Gefchöpfe des Augenblids, von ihm erzeugt und wieder vernichtet." In diefer agitatorifhen Thätigkeit ift er Wagner ähnlih, doch viel weniger doctrinär als diefer, und legt, als der Frühlingsfturm feiner Jugend verbrauft und er als Componiſt auf die Höhe gelangt war, die Feder nieder, um nur dem muſikaliſchen Schaffen zu leben. Welcher Art die Kunft der Zufunft fein follte, die Schumann ſich vorftellte, ift nicht leicht zu fagen. Wagner ging von Anfang darauf aus, ein mufilalifches Nationaldrama zu jchaffen, und hat dies eine Ziel fein Leben hindurch mit energiſcher Ausfchließlichkeit verfolgt.

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Schumanns Ideal war ein allgemeineres, aber auch unbeſtimm— teres. Ihm mißftel die verfladhte, ausländernde Muſikmacherei der zwanziger und dreißiger Jahre, die Beethoven und Schubert vernadhläjfigte, um Roffini und Herz zu buldigen, und er fühlte die Kraft in ſich, Neues und Großes zu leiten. Er wollte dahin wirken, „daß die Poeſie der Kunft wieder zu Ehren fomme.” Der Ausdrud ift mehrdeutig, und Schumann veritand augen- fcheinlih auch Verfchiedenes darunter. Dem Poelievollen fann das Poeſieleere entgegenftehen, das Nüchterne, Hausbadene, Phi: liftröje; wenn Schumann auf die deutjchen Capellmeifteropem fab, konnte er wohl fordern, daß mehr Poefie in diefem Sinne in fie einziehe. Aber die Poeſie fann aud auf dem Wege in der Mufif zu Ehren fommen, daß der Muſiker mit dem Schönen und Bebdeutenden, was die Dichterwelt hervorbringt, einen inni- geren Bund fchließt, fi mit den in ihr herrichenden Ideen er: füllt und von ihnen fih im eigenen Schaffen mehr oder weniger bejtimmen läßt. Diefe Richtung war nun zwar nichts Neues, hatten doch Beethoven, Weber und Schubert in ihr ſich bemweat. Aber der Zuftand der Ermattung, den das mufilaliihe Schaffen in Deutfchland nah Webers Tode vorübergehend gewahren lieh, fonnte wohl die Beforgniß auffommen laffen, als wirfe der Geift jener Meifter in ihrer Nation nicht mehr fortzeugend weiter. Daher bezeichnet e8 denn Schumann als einen Zwed jeiner Zeitjehrift, „an die alte Zeit und ihre Werke mit allem Nachdrud zu erinnern, darauf aufmerffam zu machen, wie nur an fo reinen Quellen neue Kunftichönheiten gefräftigt werden können.“ Er ihloß von feinen Betrebungen feine der beitehenden Kumit- gattungen aus, wennſchon anfängli eine Bevorzugung der Claviercompofition ftarf bemerkbar wird, da „das Floskelweſen fih am meijten in der Claviermufif zeigte”. Später wird das Lied ftärfer betont. Die Hauptſache war und blieb ihm: Schaffen überhaupt, den eigenen fünftlerifchen Drang befriedigen. Wohin ihn diefer endlich einmal führen werde, darüber hat er ſchwerlich bis ins Einzelne nachgedacht.

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Die Schriften geben Zeugniß von einer Frühreife des Ur- theils, einem Reichtum an Beobachtungen des Seelenlebens, einem Tiefblif in die Vorgänge inneren künſtleriſchen Werdens, einem Hochflug der Gedanken, die eritaunlihd jind. „Das Schöne in feiner ganzen Würde und Herrlichkeit auftreten zu fehen, welche günftigen Umftände müſſen fich dabei vereinigen! Mir fordern dazu große, tiefe Intention, Idealität eines Kunit- werfes, Enthufiasmus des Darftellenden, Birtuofität der Leiſtung, barmonijches Zujammenwirten wie aus einer Seele, inneres Verlangen und Bebürfnif des Genießenden, momentan günjtige Stimmung des Gebenden und Empfangenden, glüdliche Con— ftellation der Zeitverhältniffe und Intereſſen im Allgemeinen, fowie des fpecielleren Augenblicks, der räumlichen und anderer Nebenumjtände, Mittheilung des Eindruds, der Gefühle, An- fihten u. j. w. MWiderfpiegelung der Kunſtfreude im Auge des Anderen. Iſt ein jolches Zufammentreffen nicht ein Wurf mit ſechs Würfeln von ſechs mal ſechs?“ Das fchreibt ein kaum zweiundzwanzigjähriger Jüngling. Mit welcher Feinempfindung it bier alles berührt, was gerade die Darftellung eines Mufif- ftüdes bedingt! Wie ihön wird fein volles, ungetrübtes Erjcheinen als eine Gabe der Himmlifchen erkannt, die gerade ihrer Selten- beit wegen fo köſtlich und unſchätzbar ift, und wie hoch erhebt ſich dieſe Anfhauung über das gedankenloſe, handwerfsmäßige alltägliche Muſikmachen, das ihm jeine Zeit auf allen Gebieten zeigte! Dabei huldigt er doch feinem unklaren Idealismus, der nur fliegen kann, nicht ftehen. „Verachten der materiellen Mittel entfernt vom Kunftideal.“ „Manche Geiiter wirken erft, wenn fie fich bedingt fühlen, frei; umgefehrt würden fie im Un- endlichen zerflattern und verfhwimmen.“ Aus dem Zufammen- bange wird klar, daß er auf diefen Gedanken dur Shakeſpeare's Anlehnung an ältere Dichtungen geführt worden ift, daß er aljo gerade die großen und größten Künjtler im Auge hat. Eine wie tiefe Wahrheit hier ausgeſprochen wird, lehrt die Ge: Ihichte aller Kunjtperioden. Denn gerade die mächtigiten Genies,

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wie Bad) und Beethoven, bedurften der feiten Umfriedigung durch eine traditionell gewordene Kunft, um ihre Dämonijche innere Fülle nicht verheerend über die Gefilde des Schönen zu ergießen, fondern zu jegensreihem Wirken zufammenzufafjen. Tiefere mufif- geihichtliche Studien zu machen, lag damals noch nicht im Zuge der Zeit, und auch Schumann hat fie nicht gemadt. Aber wo er den Blid auf die gejchichtlihen Zuſammenhänge wirft, fieht er injtinctiv fat immer das Richtige. Dies gilt auch, jo weit es die Natur menſchlicher Beobachtungsgabe überhaupt zu- läßt, von feiner eigenen Zeit. Er fpridt einmal von Hummel, dem Schüler Mozarts. „Sollte diefe belle Art zu denken und zu Dichten vielleiht einmal durch eine formlofere, myſtiſche ver- drängt werden, wie es die Zeit will, die ihre Schatten auch auf die Kunft wirft, jo mögen dennoch jene fchönen Kunitalter nicht vergefjen werben, die Mozart regierte und die zuerit Beethoven jchüttelte in den Fugen, daß es bebte, vielleicht nicht ohne Zu: ftimmung feines Vorfürften Wolfgang Amadeus. Später nahmen Carl Maria von Weber und einige Ausländer den Königsthron ein. Als aber auch diefe abgetreten, verwirrten fih die Völker mehr und mehr und wenden und ftreden ſich nun in einem unbequemen claffifch »romantifchen Halbſchlaf.“ Daß er vor Anderen berufen war, biejen Halbjchlaf zu einem Schlummer voll goldener Träume zu beruhigen, hat er vielleicht geahnt. Wie zur Gefhichte, ſteht er auch zur Kunftphilojophie. Nichts liegt ihm ferner als Syftematifiren. Er betradtet den einzelnen Fall und gelangt von ihm aus zu gewiffen allgemeiner gültigen Betrachtungen, aber nicht Gefegen. Die Aefthetif von damals fannte dies Verfahren nicht, und der Hegelianer würde darauf mit mitleidiger Geringfchägung herabgefehen haben. Heute ift die Wiſſenſchaft geneigt, e8 als das einzig Fruchtbare zu betrachten. Jedenfalls ift es für das lebendige Kunftverftändniß mehr werth als die ausgebauteiten Syiteme. Einmal vergleiht Schumann den Jubelchor aus Beethovens „Ruinen von Athen“ mit Webers Jubel-Duverture, und nachdem er das Bild des Erjteren vor uns

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bat aufiteigen laffen, fommt er zu dem Ergebnig: „Während in der YJubel-Duverture ein Einziger mehrere Wünjche ausjpricht, ver- einigen fich bei Beethoven Alle zu einem und demjelben“. Wer dem Urtheil nachdenkt, wird finden, daß hierin nicht nur ein Gegenjat der beiden Compofitionen, fondern auch der Gattungen und end- (ih auch der Geftaltungsart beider Meifter angedeutet ift.

E3 gibt fein Buch, das gerade für den Mufifer jo reich an Anregungen wäre zum Meiterjpinnen der Gedanken, und feines, das ihm die Freude inniger Zuftimmung häufiger be: reitet. Und doch bezeichnen dieje Vorzüge nur die eine Seite von Schumanns Schriften. Ich ftellte oben dem lehrenden Zwed die funftmäßige Wirkung gegenüber. Ließe ſich trennen, was orga— nisch ineinander gewachſen ift, jo würde ich diefer eine noch höhere Bedeutung zumefjen. Denn das Talent, muſikaliſche Total- eindrüde hervorzurufen, tritt hier mit einer Kraft auf, die Alles weit hinter fi läßt, was vor und neben Schumann in diefer Art verfuht worden if. Er mag jchreiben, was er will: jo- fort fängt e8 im Innern des Lefers an zu Klingen, elementarifch, wie von veritedten Neolsharfen. Die Geftalten hervorragender Künftler und Künftlerinnen: der Belleville, der Clara Wied, der Henriette Voigt, Ludwig Schunke's, Henfelts, Berlioz’, Bennetg, Gade’s und vieler Anderer, ſchwimmen vorüber, wie von leifen Wogen geitaltlofer Mufif getragen. Ihre Charafteriftifen find niemals ausgeführt, es jcheint, al8 würden nur flüchtige Skizzen geboten. Aber hierin liegt das Geheimniß ihrer Wirkung. Denn man überzeugt ſich bald, dab Schumann mit dem Blid des Genies und der Liebe in die Tiefen ihres Weſens gedrungen it. Er will aber nur die Stimmung wiedergeben, die von den Verjönlichkeiten ausgeht; diefe Bilder muthen an, wie Inſtru— mentalftüde mit Ueberſchriften, wie Tonfäge in verjchieden- facher, je ihrem Charakter entjprechender Anjtrumentation.

Seine Zeitfhrift follte von Künftlern gejchrieben werden. Damit meint er aber nicht ſowohl Leute, die von der Muſik Profeſſion maden, jondern ſolche, die funftgemäß über fünft-

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leriſche Dinge zu ſchreiben wiſſen. Das Kunſtgemäße beruht für Schumann nun viel weniger darin, daß der Schriftſteller, eine tüchtige Kenntniß des muſikaliſchen Handwerks beſitzend, ſich auf die techniſche Analyſe eines Muſikſtücks verſtehe. Er ſagt vielmehr: „Iſt auch die Theorie der treue, aber lebloſe Spiegel, der die Wahrheit ſtumm zurückwirft, aber ohne be— lebendes Object todt bleibt, ſo nenn' ich die Poeſie die Seherin mit dem verbundenen Auge, der nichts verſchloſſen iſt, und die in ihren Irrthümern oft am reizendſten erſcheint.“ Demgemäß vermeidet er ſichtlich das analytiſche Verfahren. Eingehend zer— gliedernd zeigt er ſich nur ein einziges Mal: bei Berlioz' Sym— phonie „Episode de la vie d’un artiste“. Das congeniale Schauen des deals, das im Kunftwerfe körperlich werden jollte, darauf follte es bei der Beurtheilung anfommen. Und wenn dieſes war, jo verftand es ſich von felbft, daß es den Lejern nur dur eine Art von Nachdichtung verſtändlich gemacht wer» den konnte. Die Beiprehungen von Compofitionen, welche troß mancherlei gehaltvollen Beurtheilungen von Zuftänden und Zeit: fragen den größten Theil der Schriften Schumanns bilden, werden ſomit zu jelbitändigen Kunftwerfen. Es iſt nicht nöthig, die Compofitionen zu kennen; es mag die Zeit fommen, wo Dieje längft vergejjen find (fie ift zum Theil ſchon gefommen), fo werden die Schilderungen, zu denen fie den Dichter Schumann anregten, um ihrer jelbjt willen unvergänglich fein. Die Haupt: aufgabe bei ſolchem Thun fällt dem bildlichen Ausdrud zu. Aus unerſchöpflichem Duell ftrömen ihm die Mittel, das Hör- bare ins Sichtbare umzufegen. Wie Blumenfetten winden ji die Elingenden Bilder um das leichte Gerüſt, das der fach— männifche Muſiker aufrichtet, feinen Holzgeruch mit Düften über: wogend, es oft bis zum gänzlichen Verſchwinden einhüllend. Seine Formenwelt ift reich und, wennjchon dem Sean Paul zu- weilen nachgeſchaffen, doch in der mufifalifchen Schriftitellerei gänzlih neu. Kann man Aufjäge, wie über Field, oder über Dorns „Tonblumen” lyriſche Gedichte nennen, jo find daneben

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die Fälle dramatischer und novelliftiicher Behandlung nicht weniger zahlreid. Schumann hatte fih in die Vorftellung eines Geheim- bundes junger, gleichftrebender Künſtler hineinphantafirt, die er die „Davidsbündler“ nannte, weil fie „todtichlagen jollen die Bhilifter, muſikaliſche und ſonſtige, vorzüglid die längiten“. Unter ihnen führen der ftürmifche Floreſtan und der jinnige Eufebius das Wort, Charaktere, in welchen Schumann die Gegenſätze jeines eigenen Temperaments verkörperte. Daraus, daß dieſe einen und denſelben Kunftgegenftand je nach ihrer Veranlagung beurtheilen, entwidelt fich eine dramatijche Leben— digkeit von großem Reiz und eine Fülle der Gefichtspunfte, die jede einjeitige und ungerechte Beurtheilung ausschließt. Stehen fih die Anfichten zu ſchroff gegenüber, jo tritt ausgleichend und abjchließend der Meifter Raro ein. Die 1835 angeregte Frage eines Beethoven: Monuments in Bonn wird fogar von vier Seiten in überitrömender Gedanfenfülle beleuchtet. Zuweilen treten die Davidsbündler zu Situngen zufammen, einmal in einem Auffag, der ihren Namen trägt (I, 10) ihrer adt an Zahl. Da fliegen längere Erörterungen und kurze Sentenzen hin und ber. Schumann hatte eine ſtarke Vorliebe für den Aphorismus und in hohem Grade die Fähigkeit, einen Gedanken nicht nur in die Fnappite Form zufammenzudrängen, jondern diefe auch in allen Regenbogenfarben verjühnend und anmuthig jpielen zu lajien. Häufig Eleidet er das, was er zu jagen bat, in ein romanartiges® Gewand, und bier fällt es bejonders auf, wie er fih in der Wahl der Formen niemals wiederholt. Bald ijt Mufifabend bei den Davidsbündlern, bald gibt der Redakteur einer Mufilzeitung einen Ball, bald wird Faſtnacht gefeiert, und Floreſtan jteigt auf den Flügel und hält eine Rede. Ein ander- mal nehmen wir an einem Briefwechjel Theil, der zwiſchen Chiara, Eufebius und Serpentin geführt wird. Auch barode Einfälle fehlen nicht, aus denen Hoffmanns Geijt redet: ber Pſychometer des Magijters Portius regt ihn an, über eine Er: findung nachzuſinnen, die Werth und Charakter von Compo—

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ſitionen auf mechaniſchem Wege raſch und untrüglich anzeigt; da bliebe kein Mozartgenie in der Welt verborgen, und um die Nothwendigkeit, von Perſon zu Perſon unangenehme Wahrheiten zu jagen, käme man hinweg. Eine Tabelle von Fragen und Antworten wird entworfen und mit einer Reihe von neuen Compofitionen drollig erperimentirt.

Im Stil kann Niemand feine Natur verleugnen. Die Melt fennt den Menſchen Schumann, wie fie jeine Compo— fitionen fennt. Dieſe verſucht man jeßt zu verkleinern, an den Seelenadel des Menſchen, die Liebesfülle jeines Gemüths, die jungfräulihe Reinheit jeiner Empfindungen hat Niemand zu rühren gewagt. Auch die Schriften Schumanns jpiegeln diejen Charakter zurüd, und zu dem Genuß, den fie als Kunftwerfe gewähren, gejellt fich der ethifche Eindrud, der von jeiner Per- jönlichfeit ausgeht. Jeder Künftler habt die Negation: er will ſchaffen, nicht vernidhten. So ift auch Schumanns Kritit im bervorragendften Sinne eine aufbauende. Aber der Ton, in dem er feine genial überlegene Einficht vernehmen läßt, ift von einer liebevollen Anmuth, die doch einzig daftehen dürfte in der Geſchichte Literarifcher Kritif. Nicht, daß er etwas verjchwiege oder flau beſchönigte, was feinen Anfichten zumiderläuft. Gegen die „Honigpinfelei” und das altersſchwache Banaujenthum der Finkſchen Zeitung, und was ihres Gleichen, hatte er fich ja gerade erhoben. Aber die Art, wie er tadelt, darin liegt es. Menſch und Künftler arbeiten fich hier in die Hände. Er iſt unerjchöpf: lich in den feiniten Wendungen, die Wahrheit zu jagen, ohne zu fränfen. Schroff zurüdweifend ift er eigentlich nur einmal aufgetreten, in feiner Kritif über Meyerbeers „Hugenotten“, hier freilich auch verlegend bis zur Beleidigung und ungerecht. Sonit aber gilt von ihm das Wort, daß die Liebe glaubt und hofft und duldet. Schumann bejaß eine ftarfe humoriſtiſche Ader. Kenner jeiner Muſik wiſſen, wie originell fie fih in ihr äußert und wie er in diefem Betracht der unmittelbare, vielleicht einzige Nachfolger Beethovens ift. Als Schriftiteller fand er in dem

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Humor die Mittel, auch das Unzulänglicde in den Bereich bes Schönen zu erheben, ohne ihm jein Weſen zu nehmen. Mit den Waffen der Satire fämpft er nicht und unterfcheibet ſich auch dadurch ſcharf von Wagner. Ach fage dies nicht, um zu einer VBergleihung zwischen dem künſtleriſchen Werth der Schriften beider aufzufordern. Wagner will Theorien vertheidigen oder über das Weſen gewiffer Kunftwerfe belehren. Man thäte ihm Unrecht, wollte man feine literarifchen Arbeiten ſelbſt ala Kunft- werke auffafjen in dem Sinne, wie Schumann das Werk vor: gängiger Dichter fortfegt und vollendet.

Vollendet darf man jagen; denn es ift nad ihm Nie- mand gefommen, der in bdiejer Art Höheres gejchaffen hätte. Wollte ih den Wirkungen nachgehen, die er als Schriftiteller geübt hat, fo befäme ich mit der gegenwärtigen Generation zu thun, was mir fern liegen muß. Als ihr Lehrer ihn bezeichnen, wäre auch ein falfcher Ausdrud. Was feine Schriften zumeiit harafterifirt: die Wiedergabe mufifalifcher Eindrüde durch die Mittel der Sprade, ift Sache des Talents und läßt fich nicht übertragen. Dennoch wird es erlaubt jein, Folgendes zu jagen. Die Aufgabe älterer Mufikjchriftitellerei war, durch Zergliederung zu lehren. Schumann hat in vollendeter Weiſe gezeigt, wie ſich durch dichterifches Nahfchaffen ein muſikaliſcher Eindrud be- wirken läßt, den nur das fünftlerifche Ganze gewährt. Das Ziel der Zukunft wird fein, mit der Schärfe einer Analyje, die alle Beitandtheile des Kunftwerkes und deren Beziehungen auf: dedt, die poetifche Syntheje zu vereinigen, die es lebendig wan- delnd dem inneren Auge vorüberführt.

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Philipp Spitta, Muſilkgeſchichtliche Auffäge, 26

Ballade,

s

J.

er das zum Titel gewählte Wort in mufifalifchem Sinne :\9 heute ausfpricht, denkt dabei an Carl Loewe. Es ift diefem Manne merfwürdig gegangen unter feinem Volke. Bis etwa um das Jahr 1848 ein Gegenftand warmer, oft begeifterter Theilnahme, trat er alsdann tief und tiefer in den Schatten. Von feinem Tode (20. April 1869) wurde wenig Aufhebens gemadt. Al Componijt jchien er faſt verſchwunden zu fein. Männer, die darin mit Recht eine Verarmung unjeres muſika— liſchen Lebens erblidten, gründeten 1882 in Berlin einen Loewe— Verein, deſſen Zweck ift, dem größten Balladenmeijter die ihm gebührende Beachtung wieder zuzuwenden. Die von dieſem Vereine gegebene Anregung iſt nicht ohne Wirkung geblieben; die Beichäftigung mit Loewe's Muſik, die Würdigung ihres Mejens hat in den legten zehn Jahren bemerfbare Fortſchritte gemacht. Es hat fich gezeigt, daß die Liebe für ihn nicht ge- ftorben war; fie glühte ftill im beutfchen Volke weiter, wie wir es mit tief in ung gegründeten Empfindungen erleben, von denen Morte zu machen wir uns jcheuen, die aber wie ungewollt über die Lippen treten, ſowie der Reiz der Mitempfindung fie trifft.

Warum die Theilnahme für die Werfe eines Künftlers oft jo plöglich zu erlöfchen jcheint, dafür kann es die verjchieden- artigiten Gründe geben. Wenn das beginnende 17. Jahrhundert von Paleftrina nichts mehr wiffen wollte, wenn die Zeit Haydns

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Sebaſtian Bach gleihaültig auf die Seite jchob, jo wirkten hir jene großen periodifchen Bewegungen, die in der Geſchichte ein: ander wie Fluth und Ebbe ablöjen. Mit Vereinen und Aai- tationen fann man fie nicht aufhalten, man muß fie fommin und gehen laſſen, wie höhere Gefege es erheifchen. ie vol: . ziehen ſich auch immer in weiten Verhältniffen: erſt nach hundert Jahren gelangte Bach, erft nach zweihundert gar Paleitrine wieder zu Wort, und mit Schü jcheint es noch länger dauem zu follen. Aber innerhalb ſolcher großen Bewegungen gibt & eine Menge Fleinerer Schwanfungen, die von jenen nur bis zu einem gemwiffen Grade abhängen. Oft find es Zufälligfeiten, Aeußerlichfeiten, oft geradezu launenhafte Wallungen des Gr ſchmacks, die diefen und jenen Künftler plöglich entthronen. m zwanzigiten Sahrhundert wird man es jchwer veritehen können, daß die jogenannten älteren Romantifer: Spohr, Weber, Marjchner, Schubert, zu den jüngeren: Mendelsfohn, Gade, Schumann, Wagner zeitweilig in einer Art von Gegenfaß geitanden haben, da doch ein und derfelbe jtarfe Grundzug durch ſie alle hin- durchgeht. Der Gegenjag wird dann auch längſt bedeutungalos geworden jein, er fängt ſchon jet an, fih mehr und mehr zu verwifchen, ohne daß darum die Gelbitändigfeit der Indivi— dualitäten weniger lebhaft empfunden würde. Vor dreißig Jahren war er recht ſtark; welch' abfällige Urtheile hörte man in Mufiterkreifen über Weber und Marfchner, welch’ fühl herab: laſſende in der Deffentlichfeit über Spohr! Neu erfcheinende Talente wirken am ſtärkſten durch das, was fie von ihren Vor— gängern am beftimmteften unterſcheidet; gewinnen fie hierdurd die Theilnahme der Welt, jo reizen fie zugleich zur Kritik der Vorgänger auf, die in der erften Hige immer ungerecht zu jein pflegt. Loewe gehört zu den älteren Romantikern. Es iſt fein Zweifel, daß es Schumanns Liedcompofition geweſen ift, die gegen Loewe flau und ungereht madte: die Gehaltfülle im Kleinen, das ahnungsvoll Andeutende, die überwältigende Innigkeit des Gefühlsausdruds, die jymphonifche Verwebung von Gejang und

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Clavier. Da man diefe Dinge bei Loewe weniger oder über- haupt nicht fand, verſchloß man ſich gegen die ihm eigenthüm- lihen Vorzüge. Er wurde zurüdgedrängt gerade in denjenigen mufiftreibenden Kreifen, für die feine Balladen beitimmt waren. Sie eignen fih nicht für den Concertvortrag, fie find Kammer- mufif und gehören vor eine auserwählte Gejellfhaft. Das große Publicum wird niemals wiffen, wofür es fich bei einem Balladen: vortrag intereffiren foll: für die lange Gejchichte, die ihm er- zählt wird, für die Bilder, welche die Mufif vor ihm entrollt, oder für den Sänger, der häufig ganz dramatifch zu werden ſcheint. Es befindet ſich im Zuftande fortwährender Zerftreuung. Sm Eleineren, gleichmäßig gebildeten Kreife fann es dahin weniger leicht fommen. Bon ihm aber nahm das Lied jeit den fünfziger Jahren immer ausschließlicher Befig und gewöhnte den Hörer mehr an die kleine, traulich anheimelnde oder geiftreich anregende Form, entwöhnte ihn der behaglich und breit ausladenden. Auch ift der deutiche, häusliche Gejang mehr und mehr in die Pflege der weiblihen Welt übergegangen, ihr Uebergewicht hierin ift ein auffällig ftarfes geworden; zur Ballade aber gehört, einige Ausnahmen zugegeben, ein männlicher Sänger. Nun war die Clavierbegleitung Loewe's manchmal jchwierig, der von ber Singitimme geforderte Umfang zu groß, bier und da ftörte eine Altmodigkeit, ein Mangel an Gemwähltheit. Ich bin aber über- zeugt, daß es nur eines etwas fräftigeren Anftoßes bedarf, um ihn wieder in die Ehren einzufegen, die ihm zufommen. Hat Weber durch Feinerlei Bemängelung dem Herzen des deutjchen Volkes entfremdet werden fünnen, fo wird es auch bei Loewe nicht gejchehen. Er hat in feiner Weije faum minder tief aus der deutfchen Empfindung heraus gejungen. Ein zeitweiliges Ausjegen der Beſchäftigung mit einem Künitler kann dem Inter— ejje für ihn jogar förderlid werden. Man geht hernach mit friiher Empfänglichkeit, mit Elarerem Blid an ihn heran, feine Eigenthümlichkeiten erjcheinen in neuem, bellerem Lichte. An den Beitrebungen aber, die Loewe zu Gute fommen follen, darf

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ih, von Kindheit auf in jeinen Balladen zu Haufe, mich viel: leicht mit einem bejcheidenen Beitrage betheiligen. Ich laſſe ihn gejondert ausgehen, weil fih wohl feine Veranlaſſung bieten wird, das, was ich zu jagen hätte, im Zufammenhange mit andern geſchichtlichen Betrachtungen vorzubringen.

II.

Ballade in der Dichtkunſt und Ballade in der Mufik find Begriffe, die fih nicht vollftändig deden. Dieſe jegt jene zwar voraus, ift aber doch über fie nach mehr als einer Richtung hinausgewachſen, wie jolches in andrer Weiſe bei der Romanze geichehen ift. Die deutſche Ballade als Dichtwerf läßt man von Bürger geichaffen fein; wer Jahreszahlen nöthig hat, hält fi an 1773, da die „Lenore“ entitanden if. Mas Anfang unferes Sahrhunderts in das Empfinden der Deutjchen als Balladen: form einwuchs, ift freilich noch etwas Anderes, vor Allem etwas viel Geflärtereg, und es wird nicht geleugnet werden können, daß die Reinigung und endgültige Feitfegung des Begriffs durch Uhland vollzogen ift. In Bürgers erzählenden Dichtungen jpielen jehr verjchiedene Elemente durcheinander. Starf hervor: tretend ilt das Romanzenhafte im Sinne Schiebelers und Löwens, die parodirend im ironifchen Bänkelfängerton unterhaltliche Aben— teuer vortragen. Stärfer no iſt ihnen der Stempel jenes wüjten, zügellofen Studentenlieds aufgeprägt, das, eine gefchmad: loſe Miſchung von Volks- und Gelehrtenpoefie, do fo noth— wendig zum Charakter des 17. und 18. Jahrhunderts gehört; Bürger hatte in Halle ftudirt, das damals auch in diefem Punfte eine Hochſchule war. Dazu fommt aber der Einfluß der echten, ftimmungsvollen Nordländer-Ballade, wie fie der Engländer Bercy in feiner berühmten Sammlung 1765 der literarifchen Welt zum Geſchenk gemacht hatte. Endlich noch ein Anklang an das Vollsmäpig- Kirchliche; er äußert fi meift nur im Bau ber Strophen und Zeilen, ift aber für das mufifalifhe Ohr un— verfennbar und von den Zeitgenofjen nachweislich auch empfunden worden. Es darf jogar behauptet werden, daß e3 nicht zum

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wenigiten diefer Klang gemwejen ift, der Bürgers Balladen bie raſche Volksthümlichkeit eintrug. Denn der wirkliche Volks— gejang beitand damals fait nur noch in den Chorälen der evan— gelifchen Kirche ; was weitgreifende Wirkung üben wollte, that wohl, wenn es irgendwie an fie fich anlehnte. So bunt und einander widerfprechend die Ingredienzen von Bürgers Dichtungen nun find, jo geihmadlos oft ihre Miſchungen ein ficherer Inſtinet für das Padende, die Gabe großer Anjchaulichkeit und ein ftarfes Temperament waren jein eigen. Er hat eine neue Bahn gebrochen; in der deutjchen Dichterwelt war man fich darüber jo- gleich ar. Nicht fo innerhalb der Kaſte der Mufiker.

Ahnen ward in der Ballade eine neue Form geboten, die fie wohl reizen fonnte, der fie aber mit ihren damaligen Kunſt— mitteln nicht gerecht zu werden wußten. Die Geſangsmuſik hatte ſich wenn man von der Motette und ihrem Spruchterte abfieht bis dahin nur am ftrophifchen Gedicht und an der Madrigal- dihtung entwidelt. Auf jenem beruht Alles, was Choral, Arie im älteren Sinne, Ode, Lied, Romanze hieß. Die madrigalifche Form war Vermittlerin der italienischen Erfindungen geworben: der Oper, des Dratoriums, des älteren Vocalconcert3, der Cantate. Nun gab fi zwar aud die Ballade ſtrophiſch, und äußerlich war fein Hinderniß, fie wie ein Lied abfingen zu laffen. Aber der lebhafte Mechjel der Empfindungen und Stimmungen, bie Mannigfaltigfeit der Vorgänge, das Streben der Dichter nad greifbarjter Bildlichfeit alles dies mußte den Mufifer mahnen, daß auch feiner Kunft dergleihen darzuftellen nicht unmöglich fei. Wir befiten Compofitionen der „Lenore”, in denen alle zwei— unddreißig Strophen nad derjelben Melodie abgefungen werden (Kirnberger), und jolche, in denen die Strophenmenge auf wenige unterfchiedliche Melodien vertheilt wird (Reichardt). Strophen- mäßige Gompofitionen anderer Balladen Bürgers, Goethe's und geringerer Dichter find gleichfalls in Fülle vorhanden. Aber fofort zeigen fih auch die Verfuche, der Ballade ein meiteres und reicheres mufifalifches Gewand zu wirken.

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Johann Andre aus Offenbach, einer der begabtejten unter jenen deutjchen Dperncomponilten, die Johann Adam Hillers Singjpiel zu Mozarts „Entführung“ und „Zauberflöte“ hinüber: leiteten, machte den erften Verſuch. Er componirte die „Lenore“ für eine Singſtimme und Clavier in der Weife, daß in der Regel jede Strophe ihre eigene Mufif erhielt; wo im Gedicht Wieder- holungen derjelben Wendungen, diejelben oder ähnliche Vor— gänge ſich finden, bediente er ſich auch der gleichen oder doc ähnlicher Tonreihen. Hierdurch und weil der Componijt die muſikaliſchen Cäfuren gern mit den Echlüffen der Gedichtitrophen zufammenfallen läßt, kommt ein Anklang an jtrophifche Con— ftruction in das Ganze, und dieſes ift im Hinblid auf Loewe's viel jpäteres Wirken wichtig feftzuftellen. Sonjt aber heftet ſich die Muſik an die Handlung des Gedichts und läßt fich von ihrem Sturmritt mit fortnehmen. Dieje „Lenore“ ift viel gelobt worden und mit Recht. Sie vereinigt Einheitlichfeit der Stimmung mit charakteriftiicher Mannigfaltigfeit: auch der bänkelſängeriſche Romanzenton, der in den erzählenden Theilen einige Male an- geſchlagen wird, erweiſt fich zur Sonderung der Hauptgruppen der Ereigniffe und zur Hebung der fchauerlichen umgebenden Vorgänge wirkſam. Er fügt einen Zug derber Volksthümlichkeit ein. Für das Volksmäßige in eblerem Sinne jorgt eine Choral: reminiscenz :

Horch Glockenklang! horch Todtenjang: „Laßt uns den Leib begraben!“

Dem Componiſten iſt nicht entgangen, daß hier der Anfang eines altevangeliſchen Sterbechorals angedeutet wird: er läßt die Melodie desſelben ſogar mit ihrem Originaltext eintreten, ob— wohl dieſer ſich in das Metrum der Bürgerſchen Strophe nicht ganz fügt. Andres „Lenore“ iſt gewiß die beſte Ballade, die vor Loewe geichrieben ift, aber auch eine ganz vereinzelte Erſcheinung in ihrer Zeit. Da feine Kunftform vom Himmel fällt, wird man bei diejer um fo jchärfer zufehen dürfen, melde Verbindungsfäden fie an ihre Umgebung knüpfen. Dieſe „Lenore“

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gehört in den Kreis der deutjchen Oper. Der damaligen, wohl: verftanden; ſchon zwanzig Jahre jpäter wäre ein ſolcher Seiten: trieb aus gleicher Wurzel nicht mehr möglich gewejen. Das ſtrophiſche Lied bedeutete für das älteſte deutiche Singipiel ſehr viel, man darf es deſſen wichtigfte mufifalifche Korm nennen; zieht man den mufifaliihen Theil aus einem ſolchen Eingipiel heraus und ſtellt ihn für fich zufammen, jo ergibt fich beinahe eine durch einen dramatifchen Vorgang verbundene Liederreihe. Liedform und Drama in Verbindung zu bringen, beider Bund durch einzelne, reicher illuftrirte pathetifche Necitative und Ge- jänge zu frönen, das war jo ziemlich das Verfahren, das Hiller bei jeinen Opern verfolgte, und das Andre hier ohne Sorge um einen engeren, rein mufifalifchen Zufammenhang auf die Ballade übertrug. Nicht anders ging er auch zu Werfe, als er Bürgers „Weiber von Weinsberg” componirte. Nachdem ein Mozart dagewejen war, hatte fich der deutſche Operntil jchon viel jtärfer ins Großdramatijche entwidelt, und wenn man von diefem neuen Stile aus zur Ballade fommen wollte, mußten fich ganz andere Gebilde ergeben. Was denn in der That gejchehen it. Wäre nicht Andre von der Oper feiner Zeit aus an die Compofition der „Lenore” herangegangen, fo bliebe auch die Ausgeftaltung unerflärlih, die er ihr jpäter hat angebeihen laſſen. Er richtete die Clavierbegleitung für volles Orchefter her, leitete das Werf mit einem düſteren Inſtrumentalſatz ein und vertheilte den Gejangspart in verjchiedene Rollen. Alles Er- zählende wird von einem Tenor vorgetragen, der gleichjam den Rhapfoden darftellt; Lenore, die Mutter, der gefpenftifche Reiter werden redend eingeführt, jene Sopran, dieje Alt, der legte Baß fingend. Ein vierftimmiger Chor der Geilter, die das Grab um: tanzen, madt den Schluß; auch jene Choralzeile „Nun laßt uns den Leib begraben” wird wirflid vom Chor gefungen. Dabei ift aber am Gedicht ſonſt nichts geändert; ſelbſt wo Rebe und Gegenrede durch Eleine erzählende Mittelglieder getrennt find, werden diefe vom Rhapjoden recitativartig ganz getreulich be-

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richtet. Merkwürdig jcheint fih hier der Etil der Paſſions— muſiken zu erneuern, der ja auch unferer Zeit durh Bachs Werke wieder vertraut geworden ift. Dennod ift die Veranlaſſung eine ganz verjchiedene; dort war fie eine praktifch-liturgiiche geweien, bei der Ballade war fie eine rein künſtleriſche. Auch binfichtlich diefer fcheinbaren Dramatifirung follten fpätere Componiiten ſich wieder auf dem Standpunkte André's finden laffen. Aber jo wenig wie zwiſchen ihm und Loewe ein directer Zuſammenhang bejtehbt, ebenjo wenig zwiſchen den Chorballadenjängern und Andre. Ein Beweis, daß ähnliche Kunftericheinungen unter ganz verjchiedenen Bedingungen wachſen fönnen, und man ſich hüten muß, von Nehnlichkeit fofort auch auf Verwandtichaft zu Ichliehen.

Aus den von Ejchenburg übertragenen und 1777 heraus: gegebenen altenglifhen und altſchottiſchen Balladen hat Ehriftian Gottlob Neefe 1784 „Lord Heinrih und Kätchen“ in Muſik ge- jeßt. Neefe gehört neben Andre zu den erfolgreichiten Talenten aus der Frühzeit des deutjchen Singfpiels, und Dieje jeine Ballade ift in ähnlicher Weife aus deſſen Geift geboren, wie Andre’3 „Lenore“. Von den acht Strophen des Gedicht haben die fünf erften je ihre eigne Muſik, die drei legten werden mit Heinen Abweichungen nad derjelben Melodie abgefungen. Auf diefe Weiſe ift e8 gelungen, der Form eine gewiſſe Feſtigkeit zu geben. Sollte man ſonſt noch Zweifel hegen, aus welcher Familie diefe Ballade ftammt, jo würden fie durch die Einmifchung von zwei kleinen KRecitativen in die liedhaften Gebilde bejeitigt werden.

In den fiebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die deutſche Ballade begründet wurde, gab es in der Theatermufif eine monodramatiiche Richtung, die nicht überjehen werden darf. Da war eine „Rolyrena”, welde F. 3. Bertuh in Weimar ge dichtet und Anton Echweiter 1774 componirt hatte. Die Ber: mäblung der Polyrena mit Adhilleus hatte den Frieden zwijchen Trojanern und Hellenen bejiegeln ſollen; aber bei den Hochzeits- feierlichfeiten war Adilleus von Paris heimtückiſch getödtet worden. hm errichteten die Griechen ein Grabmal am Helles:

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pont. Das Monodrama führt uns die Polyrena vor, wie fie, aus Troja entflohen, am nächtlichen Strande die Grabjtätte des geliebten Todten juht und, nachdem fie fie endlich gefunden, fich jelbit auf ihr den Tod gibt. Ein Werk, ausgezeichnet durch die Feinheit, mit der die Ausdrudsmittel dramatiicher Mufik ineinander gewoben find, durch die Sorgfalt, mit der die Muſik den ſceniſchen Vorgängen folgt. Stärfer noch wirkten auf bie Zeit die Melodramen Georg Benda’s: „Ariadne auf Naros“ und „Medea“. Auch fie beruhen weſentlich auf dem dramatischen Monolog, vor Allem „Medea“; in dem anderen Stüde löjen Thejeus und Ariadne fi ab ald Träger der Handlung.

Nur wenn man diefe Erfcheinungen im Auge behält, wird Friedrich Ludwig Aemilius Kunzens „Lenore. Ein mufifalifches Gemählde“ ftiliftifch verftändlih. Das jonderbare Werf des be- gabten Mannes, der, ein Lübecker von Geburt, doch als ein Hauptbegründer national-dänifcher Tonkunft dafteht, erichien um 1788 in Kopenhagen. In ihm werden nur die Worte der redend eingeführten Perſonen gejungen, diefe aber nicht wie in André's ausgeführter Bearbeitung von verjchiedenen Stimmen, jondern von einer und derjelben, der freilich ein großer Umfang zugetraut wird. Die erzählenden Partien werden gejproden, bald zur Claviermufif, bald auch ohne fie. Einige Male gehen die ge- jprochenen Worte fogar zum Gefange weiter. Aljo theils eine Art von Duodram, theils Melodram, theils beides zujammen, theild noch etwas Anderes. Tas Abmwechjeln zwijchen Gejang und gejprochener verbindender Erzählung war Braudy der Volks— romanze; man fann ihn in feiner Entartung noch heute als Yahrmarktsbeluftigung hören. In Johann Friedrich Löwens Romanzen, die 1771 in „neuer verbefferter Auflage“ erjchienen, ift die Gefchichte von Gilbert, Kunigunde und Landri in dieſer Form dargeftellt. Kunzen ftand dem nordmweitdeutichen Dichter- freife, der das Panier der Volfsdichtung zuerft entrollte, näher als Andre. Alle die Ideen diefer Männer fanden bei ihm An- Hang und durchkreuzten ſich wunderlid mit denen, die jein

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Muſikerthum ihm zuführte. „Lenore fuhr ums Morgemoth Empor aus jchweren Träumen,“ hören wir Jemanden ſprechen Nun eine beflommene, ſich angftvoll dehnende Claviermufif, ein jähes Aufichnellen, ein wimmerndes Sichwinden. „Bift untreu, Wilhelm, oder todt? Wie lange willft du ſäumen?“ läßt ſich der Gefang einer Sopranftimme vernehmen. Dann wieder ge jprochene Worte von König Friedrich und der Prager Schlacht zu den aufjudenden und winfelnden Tongängen des Claviers, Unbegleitet erzählt der Rhapſode von dem Frieden zwischen König und Kaiferin und der Heimkehr der Krieger. Ein fröhlicher Mariä verbreitert und vertieft die von ihm gemwedten Vorſtellungen. Wieder tritt der Rhapfode allein vor und fchildert Scenen be glüdten Wiederjehens, der Glavierjpieler führt fie auf fein Ge biet hinüber. Bon dem Augenblide an aber, wo der Erzähler fi zu der vergebens harrenden Lenore wendet, jet die Muſil das ganze Stüd hindurch nicht mehr aus, bis auf eine Stele am Schluß; beim Wittern der Morgenluft jpornt der Reiter den Rappen zu immer größerer Eile, tumultuarifch, wild drängt die Mufit vorwärts, wird ftärfer und jtärfer „Wir find zur Stelle!” Elingt es dumpf, und bier auf dem höchſten Gipfel der Steigerung bricht die Muſik mit einem Halbſchluß plöglid ab und überläßt das Letzte, Schaurigfte dem Erzähler allein. Mad: voll noch einmal einfallend, fi aufbäumend, dann abiterben?, verflingt fie im eintönigen Gejang der Geifter. Der Affect in jeiner Maßlofigfeit fprengt die Bande der Mufif und bricht in die geſprochene Nede hinüber; biejes ift der Eindrud. Was in einer Compofition, die nur Gejangswerk ift, als naturaliftifche Ueber: treibung zu tadeln wäre, hat Berechtigung, wenn das Ganze von Anfang an auf das Zufammenmwirken von Gejang und Rede ge: gründet ift. Die Stelle befundet einen genialen Inftinct für die Ausnugung erlaubter Mittel.

Ueberhaupt zeugt Kunzens „mufifalifches Gemählde“ von einem ungewöhnlichen Phantafiereihtbum und einer groben harakterfchildernden Kraft. An muſikaliſch-poetiſchem Werth

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ift es André's „Lenore“ unfraglich überlegen. Allerdings gehört in der auffteigenden Linie einer neuen Entwidlung Kunzen auch ſchon der zweiten Generation an, Die charakterijirende Be— nugung des Chorals theilt er mit Andre, geht aber weiter als diefer. Während er die Sterbemelodie nicht fingen, jondern aus der Mitte der Glavierbegleitung ſchauerlich herausklingen läßt, ift er den Anjpielungen ang Kirhenlied nachgegangen, mit denen Bürger die Reden der Mutter ausgeitattet hat. Einfache Leute, die nicht gelernt haben, ihren Empfindungen den eignen Aus» drud zu geben, greifen, um fich zu helfen, gern zum autoritativen Sprud oder Ber. Bürger wußte, was ihnen zu diefem Zwecke das Geſangbuch bedeutete. Aber Kunzen wußte e8 auch, und daß zum Bolfsgediht die Volksmelodie gehört. Dur An- wendung einer Choralweife erzielt er für den tröftend-mahnenden Zuſpruch der Mutter einen einfältig rührenden, höchſt bezeichnenden Ton. Auch die nordiich-unheimliche Stimmung weiß er, der im „Holger Danske” die Ballade vom Ritter Oller fingen konnte, intenfiver herauszubringen, al8® Andre. Sein Werk zeigt am deutlichiten, welch’ ein SFerment durch die neue Dichtungs-Gattung in die Mufifwelt geworfen war, aber auch die Rathlofigkeit, wie die neu aufiteigenden Ideen zu geitalten jeien. Daß es auf diefe Weije endlich doch nicht gelingen fonnte, wird Kunzen wohl jelbft eingefehen haben.

Ill.

Wir gelangen in die zweite Periode der Gejchichte der muſikaliſchen Ballade. Ihren Mittelpunkt bildet Zumfteeg, ein Süddeutſcher, und in Süddeutſchland verläuft diefe Periode auch. Die einfach ftrophiiche Ballade bleibt neben der durch— componirten beitehen und ijt überhaupt niemals ganz auf: gegeben worden. Zumeilen erjcheinen in einem und demjelben Stüde beide Behandlungsarten gemischt, und bier jtößt man bei Zumjteeg nod häufig auf den alten, ins Gaſſenhaueriſche jchielenden Romanzenton. Webrigens ijt dies die Zeit, da im

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Weſen der Romanze fih ein jtarfer Umſchwung vollzog. Es verlohnt fich, dabei einen Augenblid ſtehen zu bleiben.

Der Umſchwung iſt nicht von der poetiichen Seite aus- gegangen, jondern von der mufifalifchen, und auf Mozart zurüd: zuführen. Schon in einigen Sinfonien Haydns fommen Romanzen vor (3. B. in La Reine), aber hier find e8 eben franzöfiiche Lieder, die variirt werden, und daher der Name. Mozart bat in einigen feiner Goncerte und Nachtmuſiken die langjamen Mittelſätze Romanzen genannt. Nicht daß er dadurch eine be- jondere Formconftruction hätte bezeichnen wollen. Dieje Sätze unterjcheiden fich allerdings von andern Sinjtrumental-Adagios durch eine rondoartige Geftalt; aber eine jolche iſt doch der gejungenen Romanze niemals eigenthümlich gewejen, Fann alio auch nicht dienen, die Mahl der Bezeihnung zu erklären. Das einfah Gejanglihe der Melodien und ihr liedartiger Zus Ihnitt werden Mozart zunädhft auf das Wort gebradht haben. Aber der übereinftimmende Charakter aller diefer Stüde deutet an, daß er darüber hinaus nod etwas Bejonderes im Sinne hatte. Die Melodien find von einer Süßigfeit und jugendlid holden Schwärmerei, wie jie jelbit bei Mozart nicht zu häufig gefunden werden, das Klangcolorit bejticht durch weiche, ſchwellende Schönheit, Düfte Hejperiens glaubt man zu athmen, und viel leicht ift e8 nicht Zufall, daß Mozart mehrere Diale die italienijche Form Romanza beifchreibt. Wenn auch nur fünf jolcher Stüde von ihm vorhanden find, jo haben fie als Werke des Genies doch genügt zu bewirken, daß die Romanze durch die Muſik— welt fortan mit einem neuen Signalement wanderte. Sogleid Beethoven hat fich diejes für jeine berühmten beiden Violin- Romanzen zu Nutze gemadt. In Webers frühejten vierhändigen Clavieritüden, in feiner Flöten-Romanze vom Sahre 1805, jeinem zweiten Clarinetten-Concert und anderswo jehen wir Mozarts Anregung des Weiteren wirkjam, und bis auf Schumann und Henſelt läßt fie fich verfolgen. Sie ift auch da bemerkbar, wo der Name fehlt; eine ganze Neihe von Schubertjchen

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Adagios ließe fih aufzählen, die den neu gefchaffenen Romanzen- Charakter tragen.

Es fonnte nicht ausbleiben, daß er auch auf die geſungene Romanze einwirkte. Bejonders wo fie in größeren Kunſtwerken auf: trat, wie in den Opern. Schon im „Peter Schmoll“, einer Jugend⸗ oper Webers von 1801, zeigt die jchmermüthig - zarte Romanze „Im Rheinland eine Dirne war“, ein ganz anderes Gefidht, ala noch in Mozart3 zwanzig Jahre älterer „Entführung aus dem Serail“ die Romanze Pedrillos. Hier noch der alte Typus, wenn ſchon in höchſter Veredlung, dort der ſich entwidelnde neue, der nun feinen Weg durch die romantifche Oper nimmt. Etwas weiblich Schwärmerifches ift ihm eigen; auf die Schön- beit und Gejanglichkeit der Melodie wird befondere Aufmerkſam— feit verwendet. Spohrs Rojen-Romanze aus „Zemire und Azor”, die dem Tert nah den Namen eigentlich nicht einmal führen dürfte, ift Beweis, wie der Typus anfängt, aud in der Geſangsmuſik jelbitändig mufifalifcher zu werden. Zu feinen ihönften Exemplaren gehören bei Weber „Unter blühnden Mandelbäumen” (Euryanthe), „Arabien, mein Heimathland“ (Oberon), bei Schubert „Der Vollmond ftrahlt auf Bergeshöhn“ (Rofamunde), bei Marſchner „Wie fang jo ſüß die Nachtigall“ (Bäbu). Nun pflegt e8 aber in der Entwidlung der Mufif- formen meijtens zu gejchehen, daß die eine nicht mit militärifcher Präcifion von der anderen abgelöft wird. Die ältere treibt oft neben der jüngeren noch ein Weilchen ihr Wefen weiter, und zu- weilen gelingt e3 ihr, durch die Laune eines Genies vorübergehend noch einmal zu Bedeutung zu kommen. Freiſchütz-Aennchens be- rühmte Romanze von dem Traum der „jeligen Baſe“ nimmt jich grade als ſolche im Jahre 1821 recht jonderbar aus, ift aber ihrem poetifchen Charakter nad) nur ein Wiedererftehen des alten Typus, und daß auch Andere noch nicht ganz auf ihn verzichteten, zeigt Ali’3 komische Romanze aus Spohrs „Zemire“ (1818). Nahdem man aber einmal angefangen hatte, die Romanze vor-

wiegend ernjthaft zu nehmen, war es bei dem erzählenden Charafter Philipp Spitta, Mufitgefhichtlihe Aufläge. 27

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beider unausbleiblih, daß fie auch von der Ballade beeinflußt wurde. Dies geichieht ſchon bei Zumfteeg. Friedrich Leopold Stolbergs Ballade „In der Väter Hallen ruhte“ nennter „Romanze“, obgleich ſie fi ganz in jener düſter-nordländiſchen Stimmung bewegt, als deren Vermittler die Ballade bei ung aufgetreten it. Das ſchaurige Nadtitüd, das Emmy in Marſchners, Vampyt“ vorträgt, führt ebenfall3 den Namen. Diejer dur die Ballade gezeugte Sprößling der Romanze bleibt aber fat immer auf die ftrophifche Form beſchränkt und hält jomit das Liedmäßige jtrenge feit, einen Fall bei Schubert und einige wenige bei Loewe ausgenommen gibt es Feine durchcomponirten Romanzen von irgend einem maßgebenden Meiiter.

Offenbar haben diefe muſikaliſchen Vorgänge auch wieder auf das Treiben der Dichter Einfluß gewonnen. Platens jchwer: mütbiger „Fiſcherknabe“ ift eine Romanze, jein finfterer „Letztet Gaſt“ ebenfalld. Eichendorff bietet ung nur Romanzen ; „Ballade“ nennt er feines der zahlreichen Gedichte, die diefen Namen nidt mit Unreht tragen würden, ſähe man nur auf die poetijchen Merkmale. Aber jenes Wort umklingen andere Accorde; jein geheimnißvoller Reiz hat manden Dichter bejtimmt, ihn zu wählen. Es wird au für die Literaturforfcher förderlich ſein, dies in Acht zu nehmen, wenn fie die beiden Gattungen gegen einander abzugrenzen juchen. Der Mufifer ftellt fich unter ihnen etwas Anderes vor, als fie, und es iſt doch für beide Theile wünjchenswerth, daß jie ſich verftehen.

Sn Stuttgart, wo Zumfteeg lebte, refidirte ein anſpruchs— voller Fürftenhof, und an ihm bildete natürlich die Oper die vornehmſte muſikaliſche Ergögung. Zumſteeg ſelbſt hat mehrere Opern geſchrieben, die bemerkenswerth bleiben, wenn ihnen auch kein großer Erfolg blühte. In ſeinen ausgeführten Balladen arbeitet er mit dem Apparat, welchen ein entwickeltes Opern— ſtück ihm bot. Er weiß ihn geſchickt zu verwenden, kommt aber auf dieſe Weiſe in eine Richtung hinein, die der Abſicht des Balladendichters widerſtreitet. Im muſikaliſchen Drama ſollen

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Geſtalten jelbitfühlend und jelbithandelnd vor uns hintreten. In der erzählenden Dichtung fönnen zwar auch Perfönlichkeiten redend eingeführt werden, und es kann den Schein gewinnen, als würden ihre Reden und Entjchlüffe durch den eignen Charakter beftimmt. In Wahrheit aber bleibt hinter ihnen die Perſon des Erzählers ftehen, und fein Wille ift der endlich entjcheipende. Es ift in der Dichtung möglich, diefen allwaltenden Willen bis zum Unmerfbaren zu verjchleiern, jo daß es das Anjehen ge- winnt, als berrichte in den Bewegungen der Menfchen und der Entwidlung der Ereignifje völlige Unbedingtheit. Sowie die Mufif binzutritt, hört Diefe Täufchung auf. Eine Grundftimmung muß fühlbar werden, die alle befonderen Empfindungen aus ſich gebiert und in fich gebunden hält, und die Bedingung diefer Grund: ftimmung fann nur die Berjönlichkeit des Erzählers jein. Hieraus ergibt jih, daß alle Schilderungen von Zuftänden und alle Aifecte nicht mit jener vollen Energie ausgeführt werden dürfen, zu der die Vorſtellung abjoluter Lebenswahrheit treibt. Sie dürfen nur wie in Abſchattungen fichtbar werden; die volle Wirkung wird eine Ballade nie anders erreidhen, als dadurch, daß die Erregung des Erzähler® und feine perjfönlide Theilnahme für das Er- zählte bis in alle Veräftelungen derjelben fühlbar bleibt. Hierin hat Zumſteeg den richtigen künſtleriſchen Taft nicht bewiejen. Unzweifelhaft brachte er für feine Aufgabe werthvolle Eigenfhaften mit. Er weiß jeine Muſik dem Charakter der Begebenheiten geichidt anzupaſſen, und erlahmt nicht leicht beim raſchen Wechſel derjelben. Für jchildernde Zwecke hat er immer ausreichende Mittel zur Hand. Er ift ein intereffanter Erfinder und verdient gewiß viel von dem Lobe, mit weldem ihn Franz Schubert und namentlich aud Loewe bedacht haben. Auch ge— bührt ihm das Verdienft, den Gejhmad an der ausgeführten Ballade in der deutjchen mufikliebenden Gejellihaft zu einem all: gemeineren gemacht zu haben. Aber in einigen Hauptpunkten verfieht er es. Einer von ihnen ift die Anwendung des Re— citativs. Dieſe Singart ift für die Oper erfunden; fie ſoll ent- 27*

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weber über affectlofere, aber für die Entwidlung und das Ver ftändniß der Handlung nothwendige Mittelglieder leicht hinweg: führen, oder den Affect im getrübten abklärungsbebürftigen Zu: ftande zeigen und auf jeine geläuterte Erfcheinung vorbereiten. Seinem Weſen und feiner geichichtlihen Entwidlung nach bleibt das Recitativ immer ein Ausdrudsmittel zweiten Ranges, und da es die natürliche, geſprochene Rede nahahmen joll, bedarf es aud einer lofer gefnüpften Tertunterlage. Schon aus diefem Grunde ſchickt es fich ſchlecht zu ftrophifcher Dichtung. Soll e8 in der Ballade nun jo verwendet werden, daß ihm die erzählenden Theile zufallen, während die redend eingeführten Perſonen in abgerundeten Melodien fingen, fo treten dieje zu ftarf hervor, und das für die Ballade wichtigſte, das epiiche Element, geht in dem untergeordneten, recitativichen Gejange feiner maßgebenden Bedeutung verluftig. Soll er aber bei den perſönlichen Neußerungen eintreten, jo beraubt fih der Com— ponijt in den meiften Fällen der affectvollften Höhepunkte der Empfindung. Zumfteeg hat weder das Eine noch das Andere ausjchlieglih gethan, jondern wahlweije beides. Ein Princip ift nicht zu erfennen; er verfährt, wie es jcheint, ganz nad) Laune. Was er hiermit ficher erzielt, ift einzig und allein eine theatra- liſche Ausdrudsweife, ein grelleres Hervortreten gewiſſer Partien der Dihtung und der ftörende Schein, als handle es fih um wirklich dramatifhe Vorgänge. Eine andre Schwäche feiner Balladen hängt mit diefer zufammen. Sie find mehr bunt als reih und ermangeln fühlbar jenes einigenden lyriſchen Grundtons. Was für Formen werden uns in der „Entführung“ nicht vorgefegt? Recitative mit arienartiger Nachfolge, Strophen- lieder, liedartig gebaute Erzählungen und Schilderungen, und eine immer anders muficirt als die andere. Hier ift nicht ein- mal der Verſuch gemacht, durch Gruppirung in größeren Maſſen eine gewiſſe Ueberfichtlichfeit zu erzielen. Andere Balladen find weniger zerfahren; namentlich ift „Des Pfarrer Tochter von Taubenhayn“ wenigitens in der eriten Hälfte fehr einfach gegliedert

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und läuft. am Schluſſe fogar freisförmig in den Anfang zurüd. An diefem Stüde werden bie Hörer auch nicht durch Recitativ geftört, und nur wenig in der „Lenore“, die übrigens durch Viel- geftaltigfeit und Unruhe ihres Verlaufs wieder ſehr hervorfticht.

Der bedeutende Fortichritt, den die Technik der Ballaben- compofition dur Zumfteeg erfuhr, liegt in der Situations- malerei. Die Grenze zwifchen dem nur Charafteriftifchen und dem ftreng Dramatiſchen ift im Ganzen richtig innegehalten, wenngleih das Dpernhafte mehr als einmal geftreift wird. Zumfteeg war viel weniger ausſchließlich Balladenfänger, als diefes der jpätere Loewe gemwejen it. Schon von feinen Ge- fängen für eine Stimme mit Clavier bilden die Balladen faum die Hälfte, au wenn man die bedeutende Ausdehnung der meiften in Anjchlag bringt. Für die ſchwankende Stellung, die er zu den Stilgattungen einnimmt, iſt e8 bezeichnend, daß er jeine Thätigfeit faſt mehr noch der Iyrifhen Solofcene zu— gewandt hat. Unjere Dichter ergingen fi damals in biefer Form nicht ungern. Daß fie fie von der Oper entlehnt haben, fann nicht zweifelhaft fein, doch ift hiermit nicht gejagt, fie hätten fie nicht poetifch felbjtändig zu machen gewußt. Hat doch fein Geringerer als Schiller eine Reihe von Prachtſtücken in ihr ge- liefert. Was ihn daran reizte, war hauptſächlich der dramatische Zug, das Empfinden eines beftimmten Charakters aus einer ge- gebenen Situation heraus. Er hat dabei feinen Worten eine ſolche Fülle raufchenden Wohlklangs gegeben, daß man faſt eine elementariihe Mufif zu hören glaubt. Neben Gedichten, wie „Der Flüchtling“, „Die Erwartung“ und andern gehört hierher aber auch eine große Anzahl von Monologen aus feinen Dramen. Schiller, obſchon wenig muſikaliſch, jchägte doch die Oper um desmwillen, weil die mitwirfende Muſik die Jlufion einer Ideal— welt erleichtere. Mit den Monologen arbeitete er in feinem Kreife auf ein Ziel zu, das ben Dperncomponiften längit be- fannt war und freilih auch durch das Weſen der Muſik ge— bieterifcher gefordert: das breite Ausftrömen des Gefühls und

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die Offenbarung des innerſten Charakters auf den Höhe- um Wendepunften der Handlung. Kein Wunder alfo, daß die Mufifer ſich diefer Beute bald bemächtigten. Reichardt com- ponirte die „Erwartung“ und „Hektors Abſchied“, zwei Mono: loge der Thefla aus dem „Wallenjtein“ und den zweiten Mono: log der „Jungfrau von Orleans“ („Die Waffen ruhn“), Zum: jteeg den „Flüchtling” (er betitelt ihn „Morgenfantafie”), die „Entzüdung an Laura“, die „Erwartung“, Maria Stuart: Monolog und Theklas balladenanklingendes Solo „Der Eid- wald braujet“. Ueberall werden die breiten, wechjelreichen Formen der Opernmufif angewendet, jelbit Thefla’s Gejang it nicht als Lied componirt. Aber hiermit ift die Menge der lyriſchen Monodien no längit nicht erſchöpft. Damals war Dfftan auf der Tagesordnung. Zumſteeg bietet „Oſſians Sonnengejang”, „Oſſian auf Slimora”, und, nad) der Uebertragung, die Goethe in „Werthers Leiden“ eingefügt hat, ganz vollftändig „Colma“. Wir haben von ihm eine „Klage Hagars in der Müfte Berjaba‘, einen „Klagegefang Iglous der Mohrin”, die gefangen und ae fefjelt in die Slcaverei geführt werden fol, das „Lied eines Mohren”, der in abendlicher Tropenwildniß vergeblich feines Mädchens harrt und fich die Gefahren ausmalt, denen fie viel- leicht zur Beute gefallen iſt. Ich weiß nicht recht, ob dieſe fcenenartigen Gefänge feine Balladen an Werth nicht gar über: ragen; daß fie ihnen gleich ftehen, ift gewiß. Seine Stärke, die Situationsmalerei, konnte er hier gleich gut erproben, wie dert, und da er fih auf dramatifchem Boden befand, fiel er nicht aus dem Stil, wenn er opernhaft wurde. Die Mittel für jchildernde

Mufit hatten fich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erheblid

vermehrt dur die Verfeinerung der Inftrumentalmufif, durd

die Entwidlung, Verbeſſerung und Vermehrung ihrer Organe

Es mußte alfo im Zuge der Zeit liegen, die Mittel für jenen

Zwed auszunugen. In glänzenditer Weiſe geſchah dies durch Haydn

in der „Schöpfung“ und den „Jahreszeiten“. Dann wurde eint

Zeit lang nachgeahmt; Andreas Rombergs Compofition von Schillers

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„Slode”, C. M. von Webers Melodram „Der erfte Ton“ find Beifpiele. Zumfteeg hat nicht nachgeahmt; er ftarb 1802, als Haydns Dratorien eben in die Welt gingen, und hat feine Haupt- werfe vor ihnen gefchrieben. Was er in diefer Art, im befcheidenen Reiche der Elavierilluftration geleiftet hat, iſt jein eignes Verdienſt.

Ich rührte oben Zumſteegs ſüddeutſches Weſen an. In dieſem lag etwas, das ſich dem vollen Nachempfinden der nordiſch geſtimmten Balladen widerſetzte. Soweit die von ihm componirten nun dieſes Charakters waren und es iſt bei der Mehrzahl der Fall fehlt ſeiner Muſik etwas vom Beſten. Lyrifche Scenen wie „Colma“ können nicht für das Gegentheil zeugen, denn die decorativen Naturjchilderungen Oſſians waren von einem gebildeten Mufifer kaum zu verfehlen. Es ift auf: fällig, wie weit er im Düftern, Unheimlichen, Wild: Phantaftifchen binter Kunzen, ja jelbit hinter Andre zurüditeht. Anfang und Schluß der Taubenhayner Pfarrerdtochter haben mehr einen Hagenden ala jchauerlihen Ton, und alles Uebrige ift ſonder— bar hell und in den tragischen Partien grell und ftechend, jo daß man in die rechte Balladenjtimmung jchon aus diefen Gründen nicht fommt. Ich geitehe, daß ich diefen Mangel auch bei feiner „Lenore” empfinde, trogdem A. W. Ambros vor zwanzig Jahren mit großer Beltimmtheit behauptet bat, daß Zumfteeg den Ton des Gejpenitigen und Nächtigen in einer Weiſe getroffen habe, wie faum ein zweiter Tonjeger. Mehr noch als an andern Werken des Mannes ift an diefem die Beweglichkeit der Ton: ſprache zu rühmen, die Schlagfertigfeit, mit der er für jede neue Situation fofort die paffenden Ausdrudsmittel bereit hat, der Zug und Fluß, der freilich durch das ftürmende Tempo des unvergleihlihen Gedichts mächtig unterftüßgt durch das Ganze gebt. Vom Beginn des gejpenftifchen Rittes an ift auch die muſikaliſche Einheitlichfeit durch Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Gruppen in höherem Maße als anderswo newahrt. Trog alledem muß man auf des Reiters wiederholte Frage: „Braut Liebhen auch?“ mit Lenore „Ah nein!“ antworten.

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Melodien, Tonarten, Gadenzen haben zu viel Gemüthlichfeit umd taghelle Unanfechtbarkeit. Wenn anı Hochgericht das „Luftige Geſindel“ im Mondenjchein eine veritable Anglaife tanzt, fo flieht alle nächtige Romantif. In diefen geifterhaften Regionen war der Componift nicht heimifch, der für Liebe und Haß, für Zorn, Trauer und Wehmuth der Menfchen fo angemefjene und oft ergreifende Weiſen fand. UWeberhaupt ift jener den Tiefen des Volksgemüths entquellende Ton, den die Dichter zu loden veritanden, in ihm nicht wiedergeflungen. Die Lieder der Vor- zeit, von denen 1807 der Schwabe Uhland begeiftert jang, haben feinem Landesgenofjen ihr Weſen noch nicht offenbart gehabt. Noch weniger freilih jo manchen Andern, die in feinen Bahnen weiter gehen wollten. Wenzel Johann Tomafchek in Prag ließ 1808 eine Compofition der „Lenore” für eine Sing- jtimme und Pianoforte erjcheinen, melde einundfünfzig eng» geftochene Querfoliofeiten füllt. Sie ift lehrreih, da fie deut: liher, al3 durch andere Beweiſe gejchehen Fönnte, die faljche Richtung der Zumfteegihen Balladencompofition enthüllt. To- maſchek ift ihr bis zu Ende nachgegangen und bei der aus: geiprochenften Opernmufif angelangt. Daß er fich deſſen be- mußt war, zeigt ſchon die erfte Seite des Heftd. Andre hatte feiner orcheftrirten „Lenore” doch nur eine Furze Einleitung vorausgefhidt. Tomafchef, obwohl auf das Clavier ſich be- ſchränkend, thut es nicht unter einer vollftändigen Duverture. Die Gejangscompofition ift nicht nur in den Formen und Manieren der damaligen Theatermufif verfaßt (an die italieniihe Opera buffa wird man erinnert, zuweilen aud an Mozarts Schreib: weiſe), jondern die Empfindungsart ift auch eine ſolche, die nur in Zampenbeleudhtung zur Wirkung fommen kann. Folglich ift auch der jchildernde Charakter der Mufif ein anderer geworden. Ob die Muſik Vorftellungen, die vermöge des Dichterworts nur in der Einbildungsfraft gewedt werben, durch ihre Mittel tiefer eindringend und weiter ausftrahlend macht, oder ob fie den Ein- druck fichtbarer Erjcheinungen der Bühne unterjtügt, find zwei

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verjchiebene Dinge, und dieſes muß an ber jevesmaligen Be- Schaffenheit der Mufif merkbar werden. Tomaſcheks „Lenore“ enthält nicht eine einzige Schilderung im wirklichen Ballaben- ftil, jo ſehr war er in opernhaften Anfchauungen befangen. Das peinigende Gefühl eines ärgſten Mißverftändnifjes verläßt den Hörer feinen Augenblid und ftumpft auch gegen einzelne nicht gewöhnliche Schönheiten der ungeheuerlichen Compofition völlig ab.

Andere Nachfolger Zumfteegs haben ſolche Verirrungen ge: ſchmackvoll gemieden. Der Salzburger Joſef Wölffl, jegt in ber Welt der Tonkunft ganz vergeffen, einft ebenbürtiger Rivale Beethovens im Clavierfpiel und freier Phantafie, fteht unter ihnen an einem hervorragenden Plage. Er hat eine oflianifch angehauchte Ballade der Weimaranerin Amalie von Imhof com: ponirt: „Die Geifter des Sees“ (1799). Sie ift in Zumfteegs Stil gehalten, infofern das Recitativ reichlich verwendet wird. Die Architektonik des Ganzen iſt aber viel ruhiger und faßlicher, und überrafchend wirft die Feinheit der mufifalifchen Schilderung, gegen die der Stuttgarter Gomponift in feinem Werke aufkommt. Hier wehen auch nordiſch-romantiſche Klänge hin und ber; wir merfen, daß wir in Beethovens Zeit getreten find, von deren Hauche Zumfteeg unberührt blieb, und es ift fein zu großer Sprung, wenn wir defjen größten Schüler im Balladenjang, Franz Schubert, unmittelbar auf Wölffl folgen laſſen.

Es ift fiher bezeugt, daß Schubert, als er eben in das Sünglingsalter trat, von Zumſteegs Compofitionen einen tiefen Ein- drud empfing. 1797 geboren, hat er in der Zeit von 1813—1816 faft alle feine Balladen componirt, neun Stüd allein im Sabre 1815. Diefe felbft bezeugen es, daß er mit feinem Vorgänger im Schmwabenlande aufs engite zufammenhängt. Eine Aehnlich— feit, wie fie zwijchen beider Compofitionen des „Ritter Toggen- burg“ befteht, kommt vielleicht in der gefammten Gejangsmufif nicht wieder vor, wern man bedenkt, daß der nahahmende Jünger bier der unvergleichlih Begabtere war. Es gehörte die ganze Naivetät und Schnellfertigkeit eines Schubert dazu, um ein ſolches

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Stück nur niederzufchreiben, das im Ganzen wie Einzelnen nichts al3 eine mit wenigen reizvolleren Zügen ausgeftattete Copie feines WVorbildes war. Von Schillers Balladen hat er außerdem in dieſer Zeit noh den „Taucher“ und die „Bürgſchaft“, von Goethe den „Sänger“, „Schaßgräber“, den „Gott und die Ba- jadere”, von J. Kenner den „Liedler” und fünf Balladen von Hölty, Körner, Mayrhofer und Bertrand in Muſik gejegt. Bei Zumfteeg bleibt, troß nicht Seltener recitativifcher Zwiſchen— bildungen, doc immer im Ganzen nody eine Behandlungsweiie beſtehen, die die ftrophifche Gliederung der Gedichte wenigitens im Auge behält und achtet. Davon ijt bei Schubert meiſt nicht mehr die Nede. Er löft das Strophen: und Zeilengefüge der Gedichte in feine Beftandtheile auf und phantafirt mit ihnen oft faft jo, als ob es Profa wäre. Obſchon er in dieſer Zeit noch lange nicht auf die Höhe feiner vollen Eigenthümlichfeit gelangt war, jo find die Balladen doch von ftarfen Talentzügen voll, aber e3 ift faum möglich, in ihnen irgend eine höhere Ordnung, irgend ein feſtes Gejeß der Geftaltung zu erfennen. Der „Taucher“ und die „Bürgſchaft“ gleichen bunten, regellofen Improvifationen. Der übermäßige Gebrauch recitativifhen Gejanges nähert fie dennoch nicht dem dramatifchen Stil, und ebenfo wenig find fie ftarf durch die Bildhaftigkeit des Ausdruds. Immer iſt es mır eine überſchwängliche Mufiffülle, die hier an Stoffen vergeubet wird, welche der inneren Natur des Componiften wenig bedeuteten. Er bat feine AJugendballaden nicht felbit herausgegeben, und würde es vermuthlich auch nicht gethan haben, hätte er länger gelebt. Nur den „Liedler“ hat er veröffentlicht, der in der That die muſikaliſch reichfte, auch die ruhigſte und gefaßteite unter ihnen ift, wenn er gleih die Zumſteegſche Factur auf feiner Seite verleugnet.

Ale lyriſche Dichtung bedarf einer gewiffen Menge von Thatjahen, um dur fie ihren Inhalt zu vermitteln. Das Gefühlsleben an fih ift dur die Begriffe, mit denen bie Sprade arbeitet, nicht darftellbar. Wir müffen Veranlaſſung und

Wirkungen der Empfindungen fennen lernen, um fie jelbft zu verftehen; Rhythmus, Reim, Sprachmelodie dienen dann dazu, fie leicht und verflärt zu machen, Bild und Vergleihung, fie harakteriftifch zu färben und vor dem Zerfließen zu bewahren. Diefes Element der Thatjahen ift das Band, das die reine Lyrif mit der Ballade verknüpft. Auch die Ballade ift Iyrifch, aber das Empfindungsmoment fol die Thatjachen nur überall durchleuchten, nicht in feiner Flamme verzehren. Daß die Grenzen beider Gebiete flüffig fein müfjen, daß beſonders durch den Zu- tritt der Muſik die Ballade leicht vom feiten Ufer der Gegen- jtändlichfeit in den Schoß der Gefühlswogen gelodt wird wie der Fiicher in die Arme der Wafjerfee, iſt klar. Wer nun, wie Schubert, vorwiegend lyriſch veranlangt war, bei dem ift nur naturgemäß, wenn ihm jolches begegnet. Unter den wenigen Compofitionen erzählender Gedichte, die wir von ihm haben, find zwei, die fi von Zumfteegs Art weit entfernen, aber in ihnen ge- rade zeigt er fich in feiner volliten Größe. Es find der „Erlkönig“ und der „Zwerg“. Noch heute jtreitet man darüber, ob Schubert oder Loewe's „Erlkönig“ den Vorzug verdienen. Die frage wird falſch geftellt; fie müßte lauten: Iſt Schuberts „Erlfönig” eine Ballade, oder ift er es nit? Die Antwort fann nur ver: neinend lauten, und damit ijt jeder Vergleihung der Boden entzogen. Was begreifen wir denn hier? Nacht und Sturm, ein perjonlojes Etwas in vajender Halt, holde Traumbilder, Grauen und Lieblichkeit phantaftifch einander jagend, fteigende Aufregung, endlich ein Abbrehen und enttäufchtes Erwachen. Aus dieſer elementaren Fluth konnte eine Ballade auftauden, aber nimmer ift ſie ſelbſt fchon eine ſolche. Hätte Schubert fie dafür gehalten, jo hätte er einfach das Gedicht nicht veritanden gehabt. Man beachte, daß diejes Stüd 1815 geſchrieben ift, während einer Zeit, da er gerade die meilten Balladen componirte. Gibt es zwiſchen ihnen und dem „Erlfönig”“ auch nur die geringfte äußere und innere Verwandtſchaft? Vollends wird man nad irgend einem an Zumfteeg anflingenden Zuge vergeblich fuchen. Den

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recitativiijhen Schluß fann man nicht dafür anjehen; recitativ- artige Perioden kommen auch ſonſt in feinen voll-Iyrifchen Ge fängen vor. In dem nur um ein Jahr jüngeren „Wanderer“ zum Beifpiel, der überhaupt ein lehrreiches Gegenbild zum „Erl: fönig“ bietet: ein ſtilles Dahinziehen im Abendlicht, ein fehnendes Aufathmen, ein wehmüthiges Neigen und Schwinden holder Er- innerungen. Im „Erlfönig” waltet eine Grundempfindung ie ftarf vor, daß fie allmächtig Alles in ihre Tiefe hinabzieht. Das darf nicht fein in einer Ballade; wozu fonft erzählt fie uns von Schmerz und Luft, von Thun und Leiden, von Einftimmung und Kampf gegenfäglicher Weſen?

Mit dem „Zwerg“ ift es derſelbe Fall. Der Zwerg der Königin muß fie aufs Meer hinausfahren, um fie zu tödten. Er liebt fie, die ihn einſt um des Königs willen verlaſſen hat. Nun kann er feine Rache Fühlen: die Leiche verſenkt er ins Meer und gibt fih dann felbit dem Tode hin. Dies das Ge: diht Matthäus von Collind. Aber was Schubert uns zeigt, ift etwas Anderes, Feine Handlung, fondern ein Stimmungsbild. Ein Bild nebelnder Weite, troftlofer Dede, hoffnungslofer Sehr: judt; in feinem tiefiten Grunde zwei verjchwimmende Geftalten, die das Gefühl unendlicher Einſamkeit nur fteigern.

Schubert hat in den Jahren feiner Reife die Ballade in Zumſteegs Stil zur Seite gelaffen, ohne fie grundjäglid gan; zu vermeiden. Wirft er noch einmal eine joldhe Hin, jo geräth fie ihm weit ſchöner als feinem Vorgänger, weil er eben Schubert war. J. Kenner, der ihm ſchon den „Liebler“ lieferte, hat die romantijche Gejchichte von der geraubten und im Thurm ge fangen gehaltenen Jungfrau, um deren Befreiung ein ritter: liher Jüngling fein Leben läßt, von Neuem leidlich gereimt und ihr einen nordifhen Hintergrund gegeben. Schubert hat daraus vielleicht das ſchönſte Stüd gemaht, das in diefer Art vor: handen iſt („Ein Fräulein Schaut vom hohen Thurm“ aus dem Sahre 1825). Ein Jahr vor feinem Tode componirte er den durch Loewe berühmt gewordenen „Edward“, dieſen indeſſen

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itrophenmäßig wie Goethes „König in Thule“ und „Filcher“, Werke, die hier außer Betracht bleiben. Im „Edwarb“ läßt er die Rolle der Mutter und des Sohnes von zwei verjchiedenen Stimmen vortragen, ein Gedanfe, den jeiner Zeit Brahms weiter ausgeführt hat.

Stüde wie „Erlfönig“ und „Zwerg“ find übrigens unter dem Halbtauſend Schuberticher Lieder und Gefänge jeltene Er: jcheinungen. Es gibt noch eine Compofition, „Kreuzzug“ betitelt; ein Mönch ſieht von jeiner Zelle aus, wie glänzende Ritter- fcharen mit frommem Gejang ans Geſtade hinabziehen, fich zur Fahrt ins heilige Land einzuſchiffen. Er bleibt in thatenlofer Stille zurüd, aber er dünkt fich nicht geringer als fie: die Enttäufhungen und Qualen, die ihm jein Leben bereitete, wiegen wohl einen Kreuzzug auf. Eine abgerundete Begebenheit wird nicht vorgeführt; wo aber das Eigenthümliche in der Tendenz beiteht, das Thatjähliche ins Geftaltlofe aufzulöjfen, kann es darauf nicht eben ankommen, und man darf den „Kreuzzug“ jenen anderen beiden Gejängen wohl als wejensähnlich anreihen, indem Alles, was geichieht, in das Gefühl frommer Faſſung untergetaucht erjcheint. Spröde fteht Schubert der Romanze gegenüber. Wenn man von denen abfieht, die dramatijchen Werfen eingefügt find, bleibt eine Eleine Anzahl von Exemplaren übrig, die unter jich nicht Gemeinfames haben. irgend ein Typus, das fieht man, war für ihn nicht vorhanden. Das Liebeslauſchen“ von Franz von Schlechta: ein Lied des Ritters unter dem Fenjter feiner Dame mit erzählendem Eingang und eben ſolchem, aber neckiſchem Schluß, zeigt den Charakter, welcher durh Mozarts Inſtrumentalromanzen feftgeitellt war. Die Süßigkeit der Melodien hat hier den gewiſſen Zug, für welchen Schumann das treffende Wort „provengaliih“ fand.

Bei Zumiteeg ſteht neben der Ballade die lyriſche Monodie als mindeftens gleih nachdrücklich gepflegte Gattung. Nicht anders iſt es bei Schubert: er geht auch hierin dem ſchwäbiſchen Meifter nah. Er componirt fogar zum Theil diefelben Gedichte,

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und dies geſchieht eben in der Zeit, da er fih aufs Balladen- jchreiben geworfen hatte. Die Monodien Schubert find jeinen Balladen an Kunftwerth von Anfang an überlegen. Merkwürdig genug, da dieſe Form eine entjchiedener dramatifche ift und jomit dem inneren Wejen Schuberts fremdartiger fein mußte. Die fchildernden Aufgaben, die bier der Muſik geitellt werden, bat er mit ganz anderer Hingabe ergriffen als Aehnliches in den Balladen, und reizendere Löſung derjelben vollbradt als jelbit in gereifteren Sahren. Ein Wort ift geeignet, zur Erklärung dieſer Erjcheinung wejentlich zu helfen: Haydn. Zumijteeg war zu früh geftorben, um von Haydns maleriſcher Virtuofität aus deſſen Oratorien zu lernen. Schubert fand diejen Quell fich feit fünfzehn Jahren erſchloſſen. Daß Haydn fein unmmittelbares Vorbild war, fieht man mit Deutlichfeit an einem Eleinen, aber tief verrätherifchen Zuge. Zwiſchen recitirendem Gejang und einer mehr als nur ftügenden Begleitung find naturgemäß die Rollen jo vertheilt, daß der gejungene Satz den Bortritt bat; die Muſik überninmt es dann, die durch Worte angeregten Empfindungen und Boritellungen nachfolgend, auch bejcheiden nebenher gehend, auszuführen. Haydn in der „Schöpfung“ und den „Jahreszeiten“ kehrt das Berhältnig um. Ein jcharf harakterijirtes Tonbildchen erjcheint, dann folgt der Sänger nah und läßt uns durch feine Worte verftehen, wie e3 gemeint war. Haydıs fröhliche Laune hat fi hier eine neue Form ge- baut: neben dem rein mufifaliichen Reiz empfinden wir einen anderen, dem eines geijtreichen Räthſelſpiels vergleihbar. Aber noch etwas Tieferes liegt zu Grunde. Durch dicjes Verfahren fällt von jelbit auf die Begleitung der Inſtrumente der größere Nahdrud, der Geſang ift nur der erflärende Diener beim Durch— jchreiten der Bildergalerie. Je ſtärker das Reinmufitalifche be: tont wird, deito weiter ſchwankt das Zünglein der Mage vom Dramatiſchen zum Lyrifchen hinüber. Zumfteeg nun, wenn er „Oſſians Sonnengejang”“ oder „Colma“ componirt, folgt der älteren Weife, die jo lange die natürliche ijt, al& der Gefang aus

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dem Munde eines dramatiihen Charakters ertönt. Schubert dagegen eignet ih Haydns Verfahren an.

Trogdem gleihen die meilten jeiner Oſſianiſchen Gejänge ungeachtet ihres Mufifreihthums, gleicht auch die köſtliche Com- pofition von Schillers „Erwartung“ immer noch mehr nur ge: nialen Bhantafien; wie im Traum werden wir von einem Bilde zum andern geführt, aber wir vermijfen eine Form, welche die Bilder zur Einheit fügt. Neben ihnen ftehen jedoch in der Ueber— zahl andersgeartete Monodien, in denen Schuberts eigenfte Natur fih mit derjelben Gewalt Bahn bricht, wie im Balladenbereiche mit dem „Erlfönig“ und dem „Zwerg“. Und während er dort fih mit wenigen Thaten begnügt, hat er hier den Segen jeiner Kraft in Fülle ausgefchüttet. Die Vorftellung eines beſonderen Charakters in einer bejtimmten Lage wird von ihm nicht drama— tijch vermwerthet, jondern nur jo weit genugt, als gewiſſe Mo— tive von dorther angeregt werden, deren ſich der Mufifer be: mädtigt, um fie nur nad mufifalifchen Bedürfniffen auszuführen. Er verallgemeinert dadurch die Empfindung und läßt ihr den- noch eine perjönlichere Färbung als beim gewöhnlichen Liebe möglich fein würde. Er gewährt dadurd auch dem vortragenden Sänger den denkbar beiten Vorſchub. Schubert als Componiſt von Liedern, einfachen und ausgeführten, ift zwar nicht über- troffen, aber doch durch ebenbürtige Leitungen Jüngerer fort: gejegt worden. Die lyriſche Monodie gehört ihm ganz allein; ihm auf dieſes Gebiet zu folgen, iſt von den Beften nicht einmal verſucht worden. Ohne Frage half ihm hier die Gunit der Zeit: die Anregung durd ein Opernwejen, das damals noch viel mehr im Mittelpunkt des Kunftlebens ftand, die Vorarbeit Schillers und feiner Nachfolger, unter denen Mayrhofer hervor- ragt. Das hindert nicht, ihm das Verdienit dieſer Neufchöpfung ganz und voll zu Gute zu fchreiben. Ein Theil feiner herr— lichiten Gejänge ift in dem entwidelten Sinne monodiſch: Die „junge Nonne“, die „zürnende Diana“, das Lied des Hippolyt, der „entfühnte Oreſt.“ Auch die Gejänge aus Scotts „Fräulein

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vom See“, „Memnon“, Berthas Lied zu Grillparzers „Ahnfrau“, die Harfner- und Mignonlieder aus Wilhelm Meifter muß man dahin rechnen, nicht zum wenigjten „Gretchen am Spinnrade”, ein Wurf des Genies, der ihm ſchon im Jahre 1814, noch vor dem „Erlfönig”, gelang. Das Net äfthetiicher Verlegenheiten, in welches Goethe alle Diejenigen jo ſorglos verftridt, die ſich um das Berftändniß des Stils feines „Fauft” ernftlihd bemühen, die daher auch diefem zwiſchen Dramatiih und Lyriſch, zwiſchen geiprochener und gefungener Poeſie unſtet Hin und ber ſchwankenden Gretchen-Liede rathlos gegenüberftehen, hat die That des fieb- zehnjährigen Jünglings zerriffen. Er bob das Lieb äußerlich aus dem dramatiihen Zufammenhang und ftellte e8 auf eigene Füße. Einen inneren Zufammenhang ließ er beftehen und be- wies, daß es möglich ift, auch unter diefen Verhältniſſen ein vollendetes Kunftwerk zu fchaffen. „Meine Ruh ift hin“ Eonnte nur jo componirt werden, wie es Schubert gethan hat. Es darf wohl auch bemerkt werden, daß überhaupt zwijchen ihm ala Monodiencomponift und Goethe als Lyrifer eine nahe geiftige Verwandtſchaft befteht; feine ſtärkſten Iyrifchen Wirkungen er- reiht ja auch diejer immer dann, wenn er von einem gegebenen oder Zuftande ausgeht.

IV.

Um 1820 bejaß man in Deutjchland componirte Balladen, aber feine Ballavencompofition. Ein halbes Jahrhundert ſchon hatte die neue Gattung unſere Dichter befchäftigt, jüngſt war nun auch Uhland hervorgetreten. Yet mußte es fich zeigen, ob die Muſik im Stande war, eine mehr als zufällige Verbindung mit der Ballade einzugehen, ſich mit ihr gegenfeitig jo zu durch— dringen, daß ein neuer Stil, eine neue Kunftform entftand.

Loewe's erjte drei Balladen erjchienen 1824, waren aber zum größeren Theile jchon 1818 componirt, da der Zweiund- zwanzigjährige als Student der Theologie in Halle weilte. Noch in demjelben Jahre folgte eine zweite Sammlung, dann vergebt

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bis 1828 feines, in dem nicht ein Heft oder mehrere an bie Deffentlichfeit fommen. Bis 1832 tritt darauf eine Pauſe ein. Aber jene vier Jahre erjter Balladenproduction hatten jchon ge= nügt, die neue Gattung feitzuftellen und ihr die Anerkennung der Welt zu gewinnen. Loewe hat fich jeine Balladenform nicht nad) und nach erarbeitet, wie etwa Haydn die Form des Streid)- quartetts. Sie ift gleich in den erften Werfen da; fie war ihm wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen.

Solde Erjcheinungen find überall jelten; wo fie beobachtet werden, darf man von vornherein annehmen, daß fie nur als Fortjegungen fchon entwidelter Formen gleichen Wefens auftreten. Dies trifft aber bei Loewe nicht zu. Wenn Loewe aud) Zumfteegs Balladen hodhfchätte, er ift fein Nachfolger desfelben geworden. Zumfteegs Verſuchen fehlte die Entwidlungsfähigfeit, ihre Fortjegungen entarteten zu Ungeheuerlichfeiten oder verliefen im Sande der Mittelmäßigfeit. Loewe rühmt eigentlih an Zumfteeg auch nur die geiftreichen Gedanfen und daß er dem Gedicht mit vollflommener Treue folge; Shäßbare Eigenfchaften, die aber noch nicht zu genügen brauchen, einen neuen Stil zu ſchaffen. Der jüngere Künftler ift von dem älteren nicht nur individuell und gradweije, fondern generell und grundfäglich ver: ſchieden; unter feinen faſt anderthalbhundert Balladen hat nur eine einzige, „MWallhaide“ von Körner, einen an Zumfteeg äußer- li erinnernden Zug, und fie ftammt aus dem Jahre 1819, da er jhon den „Edward“ und den „Erlfönig“ componirt hatte.

Das Geheimniß der Balladenform Loewe’s beruht in einer neuen Verwendung der Strophe. Das Verfahren fcheint fo einfach zu jein und jo zum Greifen nahe zu liegen, daß man verwundert fragen möchte, warum es nicht längft vor ihm ge- funden werden fonnte. Aber e3 gehörte dazu ein viel tieferes Durchdrungenſein vom Weſen der Volfspoefie und der Ballade im Befonderen, als in Zumfteeg und jelbft Schubert vorhanden war. Loewe, der Mitteldeutiche, war von Jugend auf dem Zuge der

neuen national=poetifchen Geiſtesbildung ausgeſetzt jan Er Philipp Spitta, Rußſilgeſchichtliche Auffäge.

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hatte inmitten des deutichen Stubentenlebens geftanden und ſich durch wiljenschaftliche Beftrebungen einen weiten Gefichtsfreis ae- öffnet. Er nahm außerhalb der Muſikerkaſte Pla, mie ſein Lehrer Weber, defjen begeifterndem Einfluffe er das Verftändniß für den Charakter deutfchen, volfamäßigen Gejanges verdankte. Der Volksgeſang beruht auf der jtrophiichen Form. Das wußten aucd die Andre, Neichhardt, Zelter wohl und juchten danach zu handeln. Aber fie blieben entweder bei einer Melodie für alle Strophen, oder fie machten, wie Andre in der „Lenore“, faft zu jeder Strophe eine neue Melodie; thaten einerjeits zu wenig, amdererjeits zu viel, während die beiten ſüddeutſchen Kräfte halb im Welfchthbum der Oper fteden blieben. Die eine Ballade gliedernde Strophenform iſt es zunädit, was ihr die künſtleriſche Einheit gibt, fie darf alfo jchon deshalb nicht vom Componiſten verlaffen werden. Sie zügelt ferner die jubjectiven Ausschreitungen, zwingt den VBortragenden, fich zu faſſen und feine Erregungen einem ftrengen und engen rhythmiſchen Geſetze unterzuordnen. Von Necitativ, das die Strophenform aufbebt, ift bei Loewe Feine Rede mehr; die verſchwindend wenigen Fälle, wo furze recitivende Vhrajen vorübergehend einmal aufzutauden icheinen, könnten als Ausnahmen nur für die Regel beweijen. In diefem Punkte ehrt er ſich aufs Entjchiedenfte von feinen ſüddeutſchen Borgängern ab. Durchaus erfindet er nur ſtrophiſche Melodien, ſolche nämlich, die fich nicht nur mit der jedesmaligen Länge einer Strophe deden, jondern aud in ihrer Gliederung den inneren Bau derjelben und die gegenjeitigen Beziehungen der einzelnen Zeilen widerfpiegeln. Den Melodien gebührt bei Loewe aber diefe Bezeichnung bejonders auch deshalb, weil fte dem Vortrag mehrerer Strophen dienen jollen, und der haupt: ſächliche Empfindungsgehalt diejer Strophen in ihnen zujammen: gedrängt erjcheinen muß. Bei kürzeren Balladen und einige feiner ſchönſten gehören hierher reicht der melodijche Stoff nur einer Strophe für alle aus. Bei längeren zerlegt ſich der Componiſt das Gedicht aleihjam in Acte, indem er die Haupt:

gruppen der erzählten Begebenheit von einander abjondert und möglichſt für jede Strophengruppe eine eigene Melodie bildet. Hiermit allein wäre er num freilich noch nicht weit über die alten norddeutihen Vorgänger hinausgefommen. Das ganz Neue ift der flüſſige Zujtand, in dem er die Strophenmelodie fortdauernd erhält. Diejer ermöglicht es. ihm, fie dem wechjelnden Inhalt des Gedichtes anzupafien, ohne ihr Grund- wejen zu zeritören. Oft bedarf es nur geringer Umbiegungen, um der Melodie jene bejondere Schattirung zu gewähren, die eine neue Strophe im Gegenſatz zu der vorhergehenden erbeifcht; es kann jogar genügen, jie vorübergehend der Be- gleitung al3 ein Element ein- und unterzuordnien. In anderen Fällen werden ftärfere Umbildungen für nöthig befunden. Sie beziehen ſich häufig nur auf eine oder einige Zeilen, während die übrigen unverändert bleiben. Ye nah Bedürfniß kann aber auch die ganze Melodie eine andere Haltung annehmen. Sie fann von Dur ins Moll der gleihen Tonitufe verjegt auftreten und bier wieder größere oder geringere Abweichungen in ihrer Zeichnung aufzuweiſen haben; fie kann auch bei gleichbleibender Tonlage und Führung gleihjam einer anderen Tonart zugehörig ericheinen und dadurch einen neuen Charafter erhalten. In Nüderts Legende „Dev Weichdorn“ herrſcht durch alle acht Strophen nur eine Grundmelodie, aber fie macht wie unter unjeren Augen immer neue Metamorphofen durch. Nachdem fie dur zwei Strophen fich gleichgeblieben, erhält fie, als das Weichdörnlein die Jungfrau Maria un die Gabe bittet, die es duften machen joll, ein anderes Geficht dadurch, daß fie zwar in derjelben Tonhöhe bleibt, aber wie eine Moll-Melodie begleitet wird. Als es die Gabe empfangen hat, tritt zu der Melodie eine neue belle Tonart, aber nicht die anfängliche, ein; fie ſelbſt in ihrem ganzen Laufe bleibt auch jegt noch diejelbe; doch all- mählich machen ſich allerhand Kleine Veränderungen bemerflich, die fie mit immer lieblicherem Reize jchmüden, je mehr der

Schönheiten und Kräfte gepriefen werden, die dem Strauch nun: 28*

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mehr zu Theil geworden. Ein anderes Verfahren beſteht darin, die Zeilen der Strophe zu verfegen, wieder ein anderes, einige Zeilen ganz neu zu machen, die anderen zu laſſen, wie fie find, aber, je nad Erforberniß, von ihren anfänglichen PBlägen zu verfchieben. Immer aber geht der Componift mit ficherem In— ftincte gerade nur jo weit in Umfegungen, Ein: und Aus- ſchaltungen einzelner Glieder vor, als er darf, um die Erinnerung an die Urgeftalt nicht aufzuheben. Allbefannt ift die Ballade vom Prinzen Eugen. Während die Urgeftalt jonft am Anfang jtebt, erſcheint fie hier erft am Schluß, ift aber vom erften Tacte an potentiell vorhanden, manchmal nur im Rhythmus, hin und wieder in einzelnen Melodiegliedern, durch die wechjelnden Harmonien der Begleitung unficher beleuchtet. Aber Niemand zweifelt, daß fie es ift, und Alles begrüßt freudig den alten Bekannten, wenn er endlich die Vermummung abwirft und ins volle Licht heraustritt.

Die Erfindung diefer Compoſitionsweiſe iſt Loewe's alleiniges Eigenthum. Das jechzehnte Jahrhundert hatte eine gewiſſe Art, ein Tonftüf in ein anderes umzufegen, die entfernt verwandt genannt werden bürfte, die aber mit ihm unterging. Es ift ausgeſchloſſen, daß Loewe je davon beeinflußt worden wäre. Die Form der Variation kann man auch nicht vergleichen: bei diefer fommt es darauf an, jedesmal der Melodie ald Ganzem ein neues Gewand und einen neuen Charakter zu geben, fie jo- wohl in ihren allgemeinen Umriffen, als auch in den gegen: jeitigen Beziehungen der einzelnen Beftandtheile ftreng zu vejpec- tiren, was Alles bei Loewe nicht der Fall iſt. E3 kann ihm einmal gut dünfen, die Bariationenform anzumenden ; in Goethe's „Hochzeitslied“ ift es gejchehen, aber dieſes Stüd bildet eine Ausnahme. Variationen find auf dem Felde der Änjtrumental: mufif gewachſen, und dahin gehören fie; Loewe's Balladen: methode paßt nur für den Gefang. Bezeichnend ift daher auch, daß, um dem wechjelnden Inhalt der Strophen bei weſentlich aleichbleibender Melodie Genüge zu thun, doch die inftrumentale Begleitung nur im bejchränfteiten Maße herangezogen wird.

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Kein Mittel jchiene näher zu liegen, und von Beethoven an haben unjere Lieder-Sänger fich feiner bedient, das An- und Abſchwellen des Iyriichen Affects zu unterftügen. Bei Loewe hat die Begleitung eine jehr wichtige Aufgabe, und der Com: ponift jcheut fich nicht, ihr Vieles aufzupaden; aber fie dient andern Zweden. Man könnte noch fragen, ob nicht Dasjenige mit Loewe's Methode Verwandtichaft habe, was man motivifche Entwidlung nennt. Es laffen jih aus einem Tongedanfen da— durch, daß man ihn in feine Theile zerlegt, dieje jelbitändig weiter führt, oder in neuer Art unter ſich oder auch mit andern combinirt, Mengen überrafchender Gebilde hervorloden, deren Heiz zum Theil auch darin beruht, daß fie uns den Stamm, aus dem fie gewachſen find, immer in vergleichende Erinnerung bringen. Hier fände fih zu dem, was Loewe will, eine Art Analogie. Aber ein andrer und vornehmiter Neiz folder Ent: wicklungen it der, daß fie rhythmiſch und metriſch jchranfenlos frei find, während der Balladencomponijt in dem engen Gehäuſe des ſtrophiſchen Baus fit, und aucd durch das Metrum ber geilen beſchränkt ift. Wohl können Anklänge an motivifche Ent- widlungen bier und da bei ihm vorkommen, aber nie können fie zu einer Grundlage feines Stil werden. Wenn Loewe jelbit einmal jeinen Gegenſatz zu Zumfteeg dahin feititellt, daß er die Balladen „unter breiter ausgearbeiteten Motiven geftaltet” habe, jo verjteht er unter Motiven etwas Anderes: feine ftrophifchen Gebilde nämlich, die er in fteter Umbildung ganzen Streden des Gedichts zu Grunde legte.

Es verjteht ih, daß in längeren Balladen, die in mehrere Gruppen zerfallen, auch Zwijchenglieder Pla finden dürfen. Die Muſik braucht nicht jtramm von einer Gruppe zur andern fort zu marfchiren. Selbſt Rückwendungen fönnen eintreten: namentlih am Schluß wird wohl auf den Anfang zurüdgegriffen und, wie in „Elvershöh“, der „Gruft der Liebenden”, dem „Harald“, der „verfallenen Mühle“ das Ganze vingartig ge: ſchloſſen. Immerhin bleibt doch die Form hierin von der Dich—

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tung viel abhängiger, als beim lyriſchen Lied, wo der Componiſt ſich für ſeine muſikaliſchen Bedürfniſſe allenfalls durch Text— wiederholungen helfen kann. Die Geſtaltungskunſt hat ſich darin zu zeigen, daß die Gruppen im Charakter richtig von einander abgetönt, in gute muſikaliſche Verhältniſſe zu einander gebracht und einer Grundjtimmung untergeordnet werden. Alles in Allem genommen liegt in der Loewe'ſchen Ballade eine neue Kunjtform vor, die ohne ausländiichen Unterbau direct aus dem deutichen Liede herausgewachſen ift. Yon feiner größeren Form jeiner Zeit läßt fich dies fonft jagen. Auch in Schuberts aus: geführten Gejängen jpielt die italienische Dreigliederung eine bedeutende Rolle, die ihm wohl mehr dur die Formen der großen deutſchen Inſtrumentalmeiſter, als auf directem Wege zugefloſſen war. Wir müſſen ſchon auf Sebaſtian Bach zurück— gehen, um dergleichen rein nationale Bildungen anzutreffen. Bachs DOrgelchoräle und die aus diefer Form hervorgewachienen Choralcantaten find ſolche ausichließlih deutſche Kunſtformen. An den Choralcantaten ich meine die im engeren Sinne jo genannten, denn eine wichtige Rolle fpielt ja der Choral in allen geht ideell das betreffende firhliche Volkslied durch das ganze Werk, mag diefes noch jo lang und vielgeitaltig fein. Es fann der Wahrnehmung auf Augenblide zu entichwinden jcheinen; unter der, allerdings nothwendigen VBorausjegung, daß dem Hörer die Urgejtalt des Chorals jchon befannt war, wird er am Echluffe der Cantate immer das Gefühl haben, als babe er ihn niemals nicht gehört. Bei Loewe ift es infofern das Gleiche, als die Idee des jtrophifchen Rhythmus die ganze Ballade, und wäre fie jo lang wie der „große Chriſtoph“, mit gleicher Stärke durch— dringt. Der Hörer fann ſich des Reichthums der Gebilde, der ihm entgegenquillt, völlig bewußt werden; er mag ſich überfluthen laffen von ihm, jenes Grundgefühl wird ihn dennoch nie los: lajjen. In diefer Zuſammenſtellung Loewe's mit Bach, die jelbit- veritändlich feinen Vergleich der beiderfeitigen Talentkraft beab: fihtigt, verdient e8 doch auch Beachtung, daß ſowohl jene Bad):

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ſchen Formen als au die Ballade Loewe's das alleinige Eigen- thum der Deutfchen geblieben find. Sie wurzelten zu tief in be- fondern nationalen VBorbedingungen, um aud) andern Völkern, die Sfandinavier vieleiht ausgenommen, anheimelnd zu erjcheinen.

Hier und da fommt es ja vor, daß ein Balladengebilde in der bdreitheiligen, jogenannten Sonatenfagform verläuft. Die Legende „Johanniswürmchen“ gibt ein Beifpiel, ein anderes Goethe's „Fiſcher“. ES wäre merkwürdig, wenn Loewe in Diele herrſchenden Formen nicht zuweilen hineingeglitten wäre, zumal er doch auch ſelbſt Sonaten componirte. Aber wie grundver- jchieden davon er feine Balladen doch empfunden haben muß, läßt fich nirgends deutlicher als an feinen Schlüffen erfennen. Menn der Componift ein reiches Tonleben auf- und nieder: fluthend uns vorübergeführt hat, jo empfinden wir jein allmähliches Verjtrömen wohlthätig und beruhigend. Keiner verfährt ge- willenhafter nah dieſem Grundjaß als Beethoven: je höher er in irgend einem Sinfoniefage die Wogen fteigen ließ, deſto majeitätifcher und langgezogner läßt er fie endlich zu Strande rollen. Mißt man aber in vielen Loewe'ſchen Balladen die Strede von dem Höhepunkte der Handlung und der inneren Erregung bis zum Scluffe des Ganzen, jo fällt fie nach diejer Theorie zu furz aus. Bejonders wenn gegen Ende nod) eine neue Melodie auftritt; man ift dann geneigt, zu erwarten, daß fie jchon ihrer Neuheit wegen ausgiebiger verwendet werde. Ueber diefen Stein des Anftoßes wird man hinweggetragen durch die Gewöhnung, dem Pulsſchlag des ftrophiichen Rhythmus zu laufchen. Für den Vortragenden bedingt er freilih auch, daß in Aeußerung der Leidenfchaften niemals weiter gegangen werde, als bis zu einem Punkte, von dem aus man fie in kürzeſter Frift wieder in ihr Bette zurücdebben laſſen kann.

Wenn Loewe ſich mit der Methode feiner Balladencompofition auf den Grund des Volksthümlichen ftellt, jo thut er es nicht weniger mit der Art feiner Melodiebildung. Der enge Zuſammen— bang mit Weber wird dur fie am hellften bezeugt. Und wie

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man von diefem jagen kann, daß wir, was im modernen Sinne wahrhafter Volfston ift, erſt durch ihn ganz erfahren haben, jo auch auf feinem Gebiete von Loewe. Den jauchzenden Ton, den beflügelnden Schwung der Weberfchen Muſik finden wir bei ihm nicht, weil ihm das dramatifche Pathos fehlt. Aber Friſche, Treuberzigfeit, Zartheit der Empfindung jpendet er uns aus erster Quelle. Wenn Weber der Schiller der Mufif, jo ift Loewe ihr Uhland. „Der Wirthin Töchterlein”, „das Burjchen- Comitat“, „Harald“, „Heinrich der Vogler”, das „Hochzeitslied“, „Jungfräulein Annika“ ich greife wahllos einige Beiſpiele heraus wer hat in unferem Jahrhundert Melodien erfunden, die mit genialerem Treffer den innerjten Nero der Volks— empfindung anrühren ?

Wie die Weberſche, jo trägt auch Loewe's Muſik den romantifch religiöjen Zug, durch welchen im Beginn einer neuen Zeit das unbeftimmte, ahnungsvolle Weben der Volksſeele nad) Heußerung ſuchte. Andre und Kunzen hatten in ihren „Yenore”- Eompofitionen Choralmelodien benußgt, mit richtigem Verſtändniß für das Bolfsliedhafte, was gerade diefen Melodien damals noch eigen war. Auch bei Loewe finden wir dergleihen, aber die Art der Benußung iſt um jo viel anders als jeit einen halben Jahrhundert fich die Volksſtimmung geändert hatte. In der Legende „Jungfrau Lorenz“, verirrt jih das Mägdlein, das Sonntags früh Blumen ſuchen gebt für einen Kranz um die Stirn des Ehriftusbildes, im tiefen Walde. Der Abend dämmert, die Nacht fommt und das Grauen.

Da vergeht ihr der Athem, da wanket ihr Anie, Da finfet ohnmädtig zu Boden fie.

„Und muß es hier geichieden fein,

Herr Jeſu Chrift, erbarım dich mein!“

Schon in den Weifen, zu denen diejfe Strophe gefungen wird, flingt es, als nahe wie von ferne eine Trojtgeitalt, und wie nun weiter erzählt wird, es fei der Verlaſſenen im nächtigen Walde fein Leid geichehen, wohl möge ein Engel über ihr ge

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wacht haben, zieht eine fromme, einfältige Melodie in rührender Schlihtheit vorüber. Was ift da8? Es gibt einen Choral, „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr”, im defjen legter Strophe von den Engeln gejungen wird, welche die Seele „in Abrahams Schoß tragen“. Er ift es, den Loewe hier benußt, zunächſt in jeiner geijtreihen Art nur andeutend, hernach läßt er ihn heller hervortreten. Aber auch jo iſt es nicht der Choral ala ganzes Gebild, nur die erjten beiden Zeilen find in genauer Reihenfolge citirt, die folgenden zwei aus dem Vebrigen frei gewählt. Für feinen Zweck genügt dies. Auch Bach webt tieffinnig Choral- melodien ein, aber immer bleiben fie ihm Symbole von kirch— liher Bedeutung. Dieje ift hier nicht vorhanden, nur ein leifer frommer Schauer foll durch die weite ſchweigende Natur ziehen. Wird die Kenntniß der Melodie und ihres Tertes bei Loewe wie bei Bad) zum Verftändniß der fünftlerifchen Abficht vorausgejegt, jo doch bei Loewe in viel allgemeinerer Art; um die religiöfe Stimmung handelt es fih ihm, nicht um den be- arifflichen Inhalt. ES braucht ihn daher auch nicht zu fümmern, daß diefer in Sterbegedanfen andrer Art beitehend zu der Situation nicht völlig paßt. Es ift einzig der romantiſche An- lang, der gewedt werden joll. Dergleihen Erjcheinungen finden jih bei ihm mehrfah. Wenn Bapft Gregor die büßende Mutter abjolvirt (im fünften Abjchnitt der Legende „Gregor auf dem Stein”), erflingt in der Begleitung, wie von einem unfichtbaren Chor aus der Höhe des Domes, ein altfirhlicher Gejfang: „Gott jei uns gnädig und barmherzig und gebe uns jeinen göttlichen Segen.“ Die Ballade von Kaijer Dtto dem Großen, welcher 941 während der Weihnachtsfeier jeinem rebelliihen Bruder Heinrich verzieh, hat eine von Stüden eines uralten Adventschorals durch: zogene Begleitung, und am Schlufje tritt diejer in feiner vollen Geſtalt majeftätifch hervor. Unter Byrons „Hebräijchen Ge- ſängen“, die, theils rein Iyrifch, theils balladenhaft, von Loewe zwifchen 1823 und 1826 componirt worden find, ijt ein Klage— lied der durch Nebufadnezar in die Verbannung geführten Juden.

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Loewe läßt es ſich nicht entgehen, den Choral „An Waſſerflüſſen Babylon“ anklingen zu laſſen. Der zur Myſtik des Mittelalters gewendete religiöſe Sinn der Zeit iſt es auch geweſen, der Loewe's Aufmerkſamkeit der Wiederbelebung der Kirchentonarten zuwendet. Er hat ihr Weſen nicht immer richtig verjtanden, doc fommt hierauf wenig an, da er nur archaifirende Anklänge erjtrebte, die er auf dieſem Wege denn auch in vollem Maße gefunden hat.

Das Einführen von poetifchen Nebenbeziehungen,, die den Horizont ins Dämmernde, Unendliche erweitern, gehört überhaupt zu den Charakterzeihen der Zeit. Man weiß, mit welchem Erfolge Schumann ſich diejes Mittel bedient. Loewe ging ihm hierin voran, und mit faum weniger Geil. Auch auf nicht geiftlicdem Gebiete hat er Proben davon geliefert. Es gibt eine Ballade „Walpurgisnacht“, gedichtet von Willibald Aleris. Ein Geſpräch zwiſchen Mutter und Tochter, am Tage nad der Naht zum eriten Mai. Die Mutter hat auf dem Blodsberg geihwärmt. Arglos anfänglich fragt die Tochter nah dem Tumult der vorigen Nacht und dem Treiben der Heren. Von der Erinnerung an die dort genoffene Luft gepadt, antwortet die Mutter immer wilder und frecher, bis fie endlich wie in jatanifcher Bejejlenheit ihr Geheimniß herausitößt. Hier auf dem höchſten Punkte der Steigerung läßt Loewe mit aller Kraft die Muſik des Herentanzes aus der Blocksbergſcene des Spohrihen „Fauft” einfallen. Heute, da die Oper nur wenig noch gekannt ift, verfteht man die Abficht nicht mehr; damals war fie neu, und das Citat wird feine Wirkung nicht verfehlt haben. Sehr merkwürdig ift in der zweiten der drei Balladen vom „Mohrenfürften” ein Citat aus dem ſchaurigen Mitteljage des Beethovenichen D-dur- Trios. Die Mohrenfüritin harrt des zum Kampfe ausgezogenen Geliebten in der Einjamfeit und unter den nächtigen Schreden der Tropenwildniß. Hier Elingt e8 herein, erſt undeutlih, dann immer unverfennbarer. Die Stelle ift um jo phantaftiicher, als die Melodie jchon eine Rück—

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beziehung auf die erite Ballade einſchließt: dort ertönte fie zu Worten des jcheidenden Kriegers, die der Harrenden jegt in der Seele widerflingen. Zu einem vielfah jchillernden Gewebe kreuzen fi) jo die Fäden der Empfindungen. Eine fo freie Benugung fremden Materiales, die natürlich nicht im Mangel eigner Schöpferfraft ihren Grund hatte, fondern in der Luft am Anfnüpfen geiftreicher Beziehungen, findet ſich übrigens in Loewe's Zeit bei Niemandem jonft, auch nicht unter der nächſtfolgenden Generation. Gefallen an joldem Spiel zeigt Brahms.

Der Clavierbegleitung in der Loewe'ſchen Ballade fällt eine umfafjendere Aufgabe zu, als beim rein Iyrifchen Geſange. Sie bat nicht nur die Melodie zu fräftigen und ihr Fortjchreiten verftändlih zu machen, nicht nur den ausgedrüdten Affecten eine tiefere Refonanz zu geben und Andeutungen diefer Affecte mit ihren Mitteln auszuführen, es liegt ihr auch die Verbildlihung des erzählten Inhalts ob. Auf diefe ihre Verwendung richtet der Componift die größte Aufmerkſamkeit. Es ift dabei nicht an äußerliche Tonfpielereien zu denken. Sichtbare bewegte Vor: gänge ift die Mufif fähig, zu „malen“, wenn man es einmal jo nennen will, denn eigentli ijt das, was fie verrichtet, etwas ganz anderes, als ein Mebergriff in die bildende Kunft. Nicht die bewegten Dinge an ſich will fie vorführen, ſondern die Ge- fühlsbewegungen, mit denen wir fie ſympathetiſch begleiten. Ueber dieje Grenzen hinaus reicht ihr Vermögen nicht, innerhalb ihrer iſt es von eindringendfter Stärke. Von gewiſſen Partien der Balladendichtung kann die Mufit nur durch diefes Mittel Beſitz ergreifen. Soll aljo eine völlige Wiedergeburt jener in diejer jtattfinden, fo ift tonbildliche Behandlung unerläßlih. Se nad) dem Standpunft nun, den der Componift dem Dichtungs- Object gegenüber einnimmt, wird ihre Art verjchieden fein. In der eigentlihen Lyrik joll die Empfindung alles Gegenftändliche möglichſt in ihren Erguß verflößen; Bildlichfeiten haben hier nur jo weit Statt, als fie dem lyriſchen Strom neue Quellen zuführen. Der Balladenfänger umfchließt zwar auch mit einer

Zu a

Grundempfindung das Ganze, läßt fih aber mwilliger auf das Weſen der Objecte jelbjt ein. Noch weiter treibt die Entäußerung vom eigenen Ich der Dramatiker; er ſucht im Weſen der dar: geitellten Perſonen und Zuftände völlig aufzugeben. Keiner von beiden kann der bildneriſchen Kraft der Musik entratben, aber in der Ballade ijt fie durch eine lyriſche Grundempfindung be- dingt und gebunden, welche in der dramatiihen Muſik wegfällt.

In diefem Sinne bat auch Loewe feine Schildereien an: gebracht. Sie find nicht dramatiſch geſchaut, ebenjo wenig, wie dies bei Nede und Gegenrede in den Balladen der Fall ift. Bei lebendigem VBortrage läßt man fich hierüber leicht täufchen. Aber Loewe war Fein Dramatifer. Aus feinen Opern bat neuerdingd® Mar Kunze eine Anzahl von Arien herausgegeben; ein danfenswerthes Unternehmen, welches aber für Loewe's Begabung, bühnenmäßige Charafterbilder zu zeichnen, doch noch nichts beweift. Hätte er dieſe bejeffen, jo wäre er wohl kein Balladencomponift geworden, wie umgekehrt Weber die Ballade, wenigfteng die durchcomponirte, ganz bei Seite ließ, weil er nur dramatijch fühlte. Webers Situationsmalerei zeigt viel federe Striche und leuchtendere Farben, vor Allem auch viel jchärfere Gegenfäge, ald Loewe anwendet. Man merkt, daß fie frei und fihtbar fich vor uns bewegenden Menjchen und Vorgängen zur Folie dienen jol. Auch von Webers Liedern mit Clavier gilt dies; fie haben in der Mehrzahl einen dramatiichen Charakter im engiten Wortverjtande, und die Muſik jchließt ſich den Bor: gängen an, als ob man Perjonen auf einer Scene agiren jähe. Mancherlei konnte Loewe für jeine Zwede von Zumſteeg lernen. Ich glaube aber doch, daß Webers Vorbild wichtiger für ihn geworden iſt; abgejehen von der allgemeinen inneren Verwandt: Schaft beider, läßt es fich aus der jchlagenden Deutlichfeit der Bilder jchließen, die fich bei Loewe findet wie bei Weber, nur daß der Balladencomponift fie dem Charakter feines Stiles an- gepaßt hat.

Kaum gibt es etwas Genußreicheres, als die langen Galerien

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Loewe'ſcher Balladen grade einmal zu diefem Zwecke betrachtend zu durchwandern. Bor dem Reichthum der Schilderungen fann man nur mit höchfter Bewunderung jtehen, beſonders wenn man wahrnimmt, wie ungefucht, gleihjam jelbitverftändlich in ihnen Alles ſich einftellt. Welch ein unheimliches Rafcheln und Raunen durchzieht den „Erlkönig“ ; wie ſteht das lodende Gefpenft vor Augen, undeutlich, wie eine Nebelfäule, faft ohne Regung ver- barrend,, nur einige Male den Arm mie zum Wink erhebend ; wie Elingt fein Flüftern leidenjchaftslos und doch bethörend! Ein ganz anderer Ton, in dem die zitternde Seele des geitorbenen Kindes vor der Hütte der einfamen Mutter klagt, zärtlich, hülfe—

juchend ob je vorher ein Ausdrud gefunden war, wie hier zu den Morten: „Draußen weht es fo falt, draußen weht es jo graus?“ und doch nur Schatten von Empfindungen eines

einſt menjchlichen, jet förperlofen Etwas, das der Wind über die nächtliche Haide weht („Der ſpäte Gaft”). Wiederum anders fingt umd tanzt im „Herrn Oluf“ Erlfönigs Tochter ; was hier den Charakter der Muſik bejtimmt, ift der weibliche Zauber, der den ftarfen Mann umftridt. Glanz und Behagen vornehmer Tafelgälte malt der Eingang des Goethe'ſchen Hochzeitliedes. Herolde unter Trompetengefchmetter jehen wir ausreiten, um der Königin Willen dem Volk zu verfünden, raufchende Feit- muſik, gleichſam ein ſtolzer Marſch mit melodifchem Trio, jchildert ihre VBermählungsfeier („Gregor auf dem Stein”). Wie feierlich durchklingt die Erzählung vom Tode Heinrihs IV. der Puls der alten Kaijerglode zu Speyer; wie wimmert das Armen- jünderglödlein beim Sterben feines Sohnes. Unter erotiich gellendem Kriegslärm zieht der Mohrenfürft zur Schladt; von fern tönt der zurüdgebliebenen Geliebten das Kriegshorn, die Nacht finft nieder mit ihrem Thau, es fliegt der Glühwurm, die wilden MWüftenthiere regen fi in der Kühle Schwül drüdt die Luft im blumengefüllten Gemad der Jungfrau, die Geftalten ihrer Träume jcheinen aus ihr herauszutreten: ſchlanke Frauen, ſchwermüthige Jünglinge, Ritter, faijerliche Würdenträger, jtolze

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mohammedanifche Krieger drängen fich im bunt verworrenen Zuge dahin. Am Tajo das alte zerfallene Königsſchloß der Weit: gothen; wir vermeinen dem Künftler nachzufolgen durch den halb verſchütteten Gang, welder zur „Gruft der Liebenden“ führt; oben im palmenumraufchten Gemäuer raſtet der Wanderer, die wilden Tauben flattern über ihm durch die Fenjterbogen, die Blüthen des Citronenbaums wehen herab. Unter jchauerlid widernatürlihden Bewegungen jieht der Thürmer die Todten Mitternahts über den Gräbern tanzen; mit athemverjegender Deutlichkeit wird uns vorgeführt, wie das Gerippe am Thurm emporflettert, bis e8 bei dem erlöfenden Glodenjchlage Elappernd in die Tiefe ftürzt. Ergötzlichſt jchwerfällig fommt die Glode dem Firchenflüchtigen Kinde nachgewadelt; pfeifend wie bie Windsbraut jagt das bierdurftige wilde Heer hinter den ängit- lichen Kindern ber, die der „getreue Edart“ beruhigt. Luſtiges Lagerleben im Heere Prinz Eugens mit Marketenderjcher; und Soldatengejang, Kriegsbilder aus Friedrihs des Großen Zeit, und der alte Defjauer an der Leiche feiner Tochter, der nicht jo hart verfahren wäre, wie der „alte*, gegen jein Gebet taube „Feldherr droben“. Napoleons geifterhafte Heere ziehen in „nächtliher Heerſchau“ mit dumpfem Trommelſchall unter den Augen des todten MWeltbezwingers vorüber. Durch die Here von Endor beſchworen, fteigt vor Saul, dem Sfraeliterfönige, der Geiſt Samuels empor; Finfterniß umriejelt ihn, und wie Wind in Höhlenichlünden heult feine Rede. Im belagerten Babylon ſchwelgt der Wüſtling Belfazar, eine geſpenſtiſche Hand erjcheint und Schreibt an die Wand fein Schidjal, und das Grauen friecht heran und jpinnt um König und Gelaggenoſſen jeine unzerreißbaren Fäden.

Eine neue Welt ift hier aus der Phantafie eines Künitlers geboren, der ſich ausichwelgen möchte in Bildern. Es iſt zu verjtehen, daß er auch in Gedichten, die nicht Balladen find, mit Vorliebe das Malerifche hervorhebt, und daß er nah Ge dichten jucht, die ihm dieſes ungezwungen gejtatten. Wie

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Schubert neben dem rein lyriſchen Gejang die lyriſche Monodie, ſo bat Loewe neben der Ballade das mufifalifche Gemälde ge- pflegt. Die oft componirten „Bilder des Orients" von Etieg: lig gehören hierher. Vergleicht man fie mit Marjchners Com- pofitionen, jo wird der Unterfchied zwiſchen Iyrifcher und dra- matiſcher Malerei recht greifbar. Unübertrefflih ift in den „Feuersgedanken“ die heimlich jchwelende Gluth, das Leden, das gierige Züngeln, der Drang ſich aus den Banden der Menſch— heit zu befreien und ihr Werk zu vernichten, vor die Bhantafie gebradht. Ein andermal ijt es das Schaffen der Heinzelmännden, das Treiben der Lilienmädchen vom Mummelfee. Irgend ein niedlicher Elfe bejchreibt fich jeinen „Eleinen Haushalt”. Die heimgefehrten Schwalben erzählen dem nordifchen Lenz von den wunderjamen Dingen des Südens. Die „Elfenkönigin“ ordnet in der Sommermondnacht ihre Geſpielen zum Tanz. Der Geift eines Liebenden ſchwebt nächtens zur Geliebten über Höhen und Klüfte, und der erite Hahnenſchrei ruft ihn ins Grab.

Da die Aufgabe der Schilderung zumeijt der Clavier— begleitung zufällt, jo wäre die Befürdhtung nicht unbegründet, daß der inftrumentale Theil bei Loewe den gejanglichen über- mwuchern und erftiden möchte. Das iſt aber nicht der Yall. Loewe jang jelbit, zwar nicht mit großer Stimme, aber mit Schulung und Geifhmad. Er hatte ſich nach Righini’3 Methode zu bilden geſucht; ein Fleiner italianifirender Zug mag daher ftammen, der fich auch zuweilen in melodifchen Fiorituren und Schnörkeln äußert, die zu dem volfsthümlich deutfchen Grund- charakter jeiner Melodik nicht paljen wollen. Niemals wird dem Sänger fein gutes Necht verkürzt. Das Unterjcheidende von Loewe's Clavierjag läßt ſich vielleicht jo am deutlichiten machen. Beethoven, Weber, Schubert, Mendelsjohn, Schumann waren ſämmtlich auch große Claviercomponijten, Loewe dagegen nicht. Das Clavier redet ihm nicht in dem Grade eine eigene Sprache, wie Genen. Es war der Dolmetscher feiner poetiſchen Phan- tafien; empfing es von diefen das Zeichen, jo bewies es, was

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es fonnte, und das war viel; aber aus fich ſelbſt heraus redet e8 nicht gern. Was man bei Beethovens, Schubert?, Schu: manns Gejängen jymphonifhen, bei manden Weberſchen Dpernorcheiterftil nennen kann, gibt e8 bei Loewe nicht. In diefem Sinne ift die Verbindung feiner Begleitung mit dem Geſange troß ihres großen Reichthums eine äußerlichere. Aber dies bedeutet feinen Tadel; der ftrophiiche Charakter der Balladen wäre rettungslos zerjtört worden, hätte er bei der ungebeuren Fülle feiner malerifchen Bewegungen dieſen eine jelbftändigere Entwidlung neben dem Gejange erlaubt.

Neid mit jener Einfhränfung, neu an Figuren, Klang: fülle und SKlangreiz find auch die Begleitungen feiner Lieder. Wenn man muftert, was er an foldhen jchon in den zwanziger Sahren des Jahrhunderts geichaffen hat, wird klar, daß er darin feiner Zeit weit voraus gemejen ift. Unter den Liedern find viele von außerordentlicher Schönheit. Daß die Erfindungskraft ih am ftärkften äußert, wenn das Lied, ohne ſchon Ballade zu werben, doch etwas mehr gegenftändlichen Gehalt hat, als ge- wöhnlich, erflärt fi aus Loewe's ganzer Eigenthümlichkeit. Es ift nicht zu jagen, wie das „Ständen“ von Uhland und Kuglers Scene eines Todtentanzes geiltreiher und jchöner hätten componirt werden fünnen. Trat er dennoch als Lyriker niemals recht auf den erften Plan, fo jind daran zunächſt jeine eigenen Balladen jchuld, zuzmeit eine gewiſſe engere Begrenztheit des Empfindungsausdruds. Die volftthümliche Melodie jtand ihm in ihrer ganzen Herzigfeit zu Gebote, über ihr Gebiet hinaus fteigert und verfeinert er den Ausdrud mit Glüd in das Gebiet des Zarten, Rührenden, Träumerifchen. In die Tiefe der Leiden— Ichaften binabzufteigen gelingt ihm fehwer. Auf dem Balladen- gebiet ift das anders; wer ſehen will, wie er da erjchüttern kann, betrachte den dritten Theil des „Gregor auf dem Stein“. Hier iſt er in dem Neich, das er beherrſcht; feine Lyrik mußte neben der Schumannſchen verblaffen; aber was vollgemogen an ihr ift, wird fchon wieder zu Ehren kommen.

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Loewe hat Balladen componirt fein ganzes Leben hindurch; die legten find ein Jahr vor feinem Tode erfchienen. Indeſſen gewiſſe Perioden lafjen fich doch unterfcheiden. Eine erfte längere Pauſe tritt 1827 ein, und was von 1818 bis hier gefchaffen wurde, trägt einen vorwiegend nordiihen Zug. Ach überjehe nicht, daß in diefe Zeit auch die „Hebräifchen Geſänge“ fallen ; aber es iſt Byrons Poeſie, und wäre es nicht, jo würden doch die drei in ihnen enthaltenen Balladen die Wagſchale zu Un— gunften der nordifchen nicht beichweren. Die Form hat er end- gültig feitgeitellt, und auch die Kraft der Erfindung ift jpäter wohl faum höher gewachſen. Für die Romantik der nordijchen Elementargeifterwelt und Sagen hat er Klänge und MWeijen gefunden, die den Charakter derartiger Schöpfungen in Deutich- land dauernd mitbeftimmt haben. Eine zweite Periode beginnt 1830 und erjtredt fich bis gegen 1840. In die Zmwijchenzeit fallen größere Anftrumentalwerfe und das Oratorium „Die Zer: ftörung von Jeruſalem“. Die Beſchäftigung mit ihnen mag dem Componiften jene gelaffenere Ruhe des Meifters gegeben haben, die man den Balladen der zweiten Periode wohl anfühlt. Vierzehn Goetheiche Balladen gehören ihr an, während die erite Periode von Goethe nur den „Erlfönig” aufmweilt. Außerdem aber wendet fich Loewe in diefer Periode der Yegende zu, Die er al3 eine bejondere Art der Ballade liebevoll pflegte. Nicht weniger als deren zwölf entitanden im Jahre 1834, dazu famen bis 1840 noch weitere acht. Niemand, der Loewe's ganzes Weſen begreifen will, dürfte verfäumen, ſich die Legenden innerlichit anzueignen. Sind ſonſt bei den anderen Romantifern immerhin verwandte Stimmungen anzutreffen, wenn jchon ihre Ausprägung dur Loewe eigen genug ift etwas, das fich den Legenden von fern vergleichen ließe, gibt es in der deutichen Muſik überhaupt nit. Die einfältig Fromme Weiſe und rührende Kindlichkeit dergeitalt mit Phantaſtik mifchen zu können, dazu bedurfte es eben gerade einer Natur, wie die jeinige war.

Empfindungen wie unter dem Weihnachtsbaum a die Pbilipp Epitta, Mufilgefhichtlihe Aufſätze.

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Seele des Hörer. Da ift die Jungfrau, die im Walde ſich verirrt, unter dem Schutze der Engel ichläft und von einem Hirichlein heimgetragen wird. Da ift das frierende, verwaiſte Kind, das am Chriftabend die Gaſſen durcheilt, auf die Der Glanz der Lichterbäume hinausftrahlt, und das von Engeln fahht emporgehoben wird in die ewige Heimath, um dort jein ſchöneres Weihnahtsfeft zu feiern. Ein frommer Landmann ladet ſich den Herrn Ehriftus als Sonntagsgaft; ein armer Greis tritt bei ihm ein, und er erkennt, daß in diefem der Heiland jeine Bitte erfüllt. Ein häßliches Mägdlein trifft Maria umd das Chriftusfind auf der Flucht; es labt jie mit Milch und berzt den Knaben; zu Haufe angefommen, tritt fie zum Brunnen, und ein in Schönheit verwandeltes Geſicht ſtrahlt ihr entgegen. Der heilige Johannes findet ein Würmlein am Wege, er rettet und jegnet ed; da fängt es an zu leuchten und zieht wie ein Stern dur die Naht. Aber auch Ernſt und Tragif haben in den Legenden Platz: der ewige Jude findet im Gebet vor dem Kreuze den endlichen Frieden, Nepomuk, von den Henkern König Wenzeld in die Moldau gejtürzt, wird von den Wellen janft dabingetragen, unter Gejang löſt fich fein Geiſt vom Körper und fchwebt aufwärts. Das mächtigſte Werf ift un- ftreitig „Gregor auf dem Stein“, aber auch die Legende in Goethe's „Paria“ ift an reizenden und erfchütternden Momenten reich, und im „großen Chriftoph“ find Frömmigkeit und Humor zu einem unvergleichlichen Meiſterſtück verbunden.

In dieje zweite Periode fällt aud) eine Reihe von polnifchen Balladen des Adam Mizkiewitſch, die Loewe in Blantenjee’s Ueberjegung componirt hat und die theilweije zu feinen ſchönſten gehören. Einmal in die polniihe Sphäre hineingeratben, ließ er ihnen den von Ludwig Gieſebrecht gedichteten Balladenkreis „Either“ noch in demſelben Jahre (1835) folgen. Daß Balladen ganz dialogiſch verlaufen können, ift befannt; es braucht nur an Uhlandse „Schloß am Meer“ erinnert zu werden. Etwas Anderes ilt es no, wenn man den Verlauf der Begebenheiten

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durchaus, oder faſt durchaus, durch den Mund der miterlebenden Hauptperſon erfährt. Hier muß die Muſik einen ſubjectiveren Charakter annehmen, der leicht über die Grenzen des Balladen- mäßigen binausgreift. Loewe hat mehrere folder Gedichte com: ponirt. Schon Platens „Pilgrim vor St. Juſt“ kann dahin gerechnet werden, doch iſt bier der Balladenton mit meifterlicher Sicherheit feitgehalten, und wer defjen eigenes Weſen fich recht einleuchtend machen will, vergleiche dieſes Stüd mit Schuberts Monodie „Die junge Nonne”. In „Either” hat ihn jene Sicher— heit bisweilen verlaffen, zum Theil find e8 Arien, die die Geliebte König Kafimirs von Polen fingt. Ein anderes, nur um ein Jahr älteres Werf, „Der Bergmann. Ein Lieberfreis in Balladenform“ iſt ftileinheitliher, was allerdings durch die Dichtung erleichtert wurde. Ach berühre diefe Dinge, weil fie ein äfthetifches Problem einjchließen, das feine ganze Bedeutung erit dann hervorfehrt, wenn die Form der Ballade auf ein anderes Gebiet übertragen wird, als des Gejanges einer Stimme mit Clavier.

Will man die Periodifirung noch weiter fortjegen, jo würde ein dritter Abjchnitt von den Jahren 1843 und 1847 ein- gejchloffen werden, und der vierte und legte erjtredte ſich von 1850 bis zum Ende. Immer kehrt nach ziemlich gleich langen Ruhepauſen der Meifter zu feiner Lieblingsgattung zurüd. Syn manden Balladen der vierziger Jahre: im „Prinz Eugen“, dem „Mohrenfürften”“, „Tod und Tödin“, „Hueska“, der „verfallenen Mühle“, fließt die Erfindung jo reich, wie je in den beiten Stüden früherer Zeit. Aber die Gaben, mit denen er fid einjtellt, werden jeltener. Bon den Werfen des Alters hat der „Archibald Douglas“ noch einen großen und nachhaltigen Ein» drud gemacht; ich glaube, daß man diefe mehr effect- als gehalt: volle Ballade überfchägt, jedenfalls beweiſt fie aber mit mehreren anderen, daß Loewe ſich auch jetzt noch lange nicht verausgabt hatte. Wenn man feine äußeren LZebensverhältniffe in Betracht

zieht, erjcheint die8 merkwürdig genug. Bon 1820 an jaß er 29*

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in Stettin, einer vom Kunftverfehr abgelegenen Stadt, als Mufikdirector, Organiſt und Gymnafialmufiflehrer. Eine be: icheidene Poſition, und die Organe, durch die er wirken konnte, das Publicum, das ihn veritehen follte, mußte er fich erit er- ziehen. Die Kunftreifen, auf denen er jeine Balladen vortrug, genügten nicht, um ihn mit der Mufifwelt draußen in dauerndem anregenden Verkehr zu erhalten. Eine Kraft, die unter ſolchen Verhältniffen bis ans fiebenzigite Lebensjahr hin nicht verfiegt, mag man wohl eine jeltene heißen.

V.

Wenn in der Kunſtgeſchichte etwas Neues hervorgetreten iſt, ſo fragt man nicht nur, woher es kam, ſondern auch wohin es geht. Was iſt aus Loewe's Ballade geworden unter den Händen ſpäterer Künſtler, oder haben ſie die Hände überhaupt davon gelaſſen? Eingangs wurde feſtgeſtellt, daß die Theilnahme für ſie in der zweiten Hälfte unſeres Jahrhunderts raſch er— kaltet ſei. Daran müſſen die Künſtler, welche gegenwärtig das Ohr des Publicums haben, ſelbſt mit ſchuld ſein; „ſie finkt mit euch, mit euch wird ſie ſich heben“, gilt in etwas verändertem Sinne auch von dieſem Fall.

Indeſſen ſo ganz ſummariſch läßt ſich doch vom Nieder— gang der Ballade nicht ſprechen. Es verzweigen ſich in ihre Schidjale jogar allerhand Fragen, die einmal für die Zukunft der deutjchen Tonfunft von hoher Bedeutung werden fünnten.

Unter den Führern der jüngeren Romantik ſchwächere Geiiter, wie Reißiger und Andere, jeien bier bei Seite gelaſſen jteht Mendelsjohn der Ballade am ferniten. Merkwürdig ift das, da Loewe gerade mit Berlin noch die lebhaftejte Fühlung beſaß, wie denn auch feine Mufif von König Friedrih Wilhelm IV. bejonders geliebt wurde, und da gewiſſe Eigenjchaften jeiner phantaftiichen Bilderwelt verwandte Neigungen bei Mendelsjohn weden mußten. Aber die Thatiache fteht feit, dab Mendelsjohn

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kein Werk in der Loewe'ſchen Form der Ballade für eine Sing— ſtimme und Clavier geſchaffen hat.

Anders verhält es ſich mit Schumann. Wir wiſſen, mit welcher Sympathie er dem großen Talente des älteren Meiſters entgegengefommen ift. Er hat auch jelbit Balladen componirt, ein Dugend etwa. Aber nur einige davon zeigen Loewe's Stil: die „Löwenbraut“, die „beiden Gremadiere”, die „Frühlings— fahrt”, „Blondels Lied“, die legten beiden wohl am reiniten. Auch die „feindlichen Brüder” könnte man noch einbeziehen; daß die Gedichte von ihren Verfajlern zum Theil Romanzen genannt werden, darauf fommt gegenüber den ſcharf ausgeprägten Merkmalen der mufifalifchen Ballade nichts an. Die übrigen aber haben andere Formen. Im „Waldesgeſpräch“ und „Schaß- gräber“ herricht das Renaifjance-PBrincip von Sat, Gegenfag und Wiederholung, in dem gewaltigen „Belfagar”“ die Form einer nach Zwiſchenſätzen jtetS wiederkehrenden Hauptpartie. Im „Handihuh” ift jede Strophe neu componirt; man würde jagen fönnen, daß die Methode von Zumfteegs „Lenore“ bier befolgt jei, böte Schumann wirklich Melodien und nit nur ariofe Phraſen. Seine declamirten Balladen mit melodramatijcher Be- gleitung, „Schön Hedwig“, „Haidelnabe”, „Flüchtlinge“ weijen jfogar auf Kunzen zurüd. Im Ganzen ift der Eindrud diefer, daß bei Schumann die Ballade fi im Auflöjungsproceß befindet.

Brahms endlich, um bis auf die jüngſte Gegenwart herab» zugeben, bat nad der Ballade nur wie im Vorüberjtreifen die Hand ausgeſtreckt. Seinen durchdringenden Blid für Form— eigenthümlichkeiten hat er auch hier bewährt: der „Edward“ und die „Walpurgisnacht“, beide dem älteren Meifter wie abfichtlich nachcomponirt, wahren ftreng jeine Form. Der pittoresfe Zug fehlt ihnen, wie auch Schumann diejen vermifjen läßt. Eichendorffs „Nonne und Ritter“, eine Ballade, die Loewe ſicherlich als jolche, das heißt für eine Stimme componirt haben würde, ift von Brahms als Duett behandelt. Auch in den Vortrag der andern beiden Balladen theilen fi zwei Stimmen, was gegen Loewe's

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Grundſatz gemwejen wäre. Defien Forderung ging jogar dahin, daß der Balladenjänger fich auch felbft am Clavier begleite, was für den Vortrag durchaus nicht unmelentlih it. Der Sänger wird dadurch in einen Zuſtand der Gebundenheit gejegt, der ihn zwingt, im Ausdruck Maß zu halten, und namentlich den Affeet redend eingeführter Perſonen nicht zu übertreiben. Charakteriſtik jollte da jein, ſelbſt mimijhe Mittel hat Loewe, wie mir jein Schüler Kurth in Bremen jeiner Zeit erzählte, beim Bortrage nicht verihmäht. Aber alles Das jollte auf Andeutungen befchränft bleiben. Steht der Sänger jelbitändig neben dem Spieler, fo ift die Gefahr vorhanden, daß er für jeinen Theil zu viel thut, und find e8 gar zwei, jo ilt es faft unver: meidlih, daß ſie in den Stil der dramatiſchen Scene verfallen.

Es fann vorfommen, daß Formen der Gejangsmufif auf initrumentale einwirken. Für das Umgefehrte hat unjer Jahr: hundert Belege genug erbracht ; Beifpiele für jenen andern Vorgang bietet das vorige Jahrhundert. Iſt etwa folches auch bei der Loewe'ſchen Ballade geſchehen? Nur joweit e& fih um die Vebertragung gewiſſer Stimmung handelt. Inſtrumentalballaden und Legenden für Clavier, für Violine, Viola, aud für Orcheiter gibt e8. Aber ihr Stammbaum führt den Forſcher endlich auf die Inſtrumentalromanze zurüd, die von Mozart ihren Ausgang nahm.

Soweit hat die Ueberſchau wenig Poſitives ans Licht ge fördert. Eritorben ift der Drang zur Balladencompofition nod) nicht, dies beweijen unter andern Martin Plüddemanns Arbeiten; jedoch liegt es nicht im Plan, die Werdeproceſſe unjerer Zeit in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Aber von Loewe's Ballade geht noch ein anderer Weg aus, und dieſen bat er jelbjt gewiefen. Befanntlich hatte Goethe eine „Erſte Walpurgis- nacht” gedichtet und fih dazu der Gantatenform bedient. Loewe hat fie 1833 als „Ballade“ componirt, aber, nachdem er fih anfänglid nur auf Glavierbegleitung befchränft hatte, bernach großes Orcheſter an ihre Stelle gejegt, welches den

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Sologefängen und Chören erit feiten Grund, den Ton: malereien bie rechte Cindringlichfeit verleiht. In eine neue Gattung wollte er damit nicht übergetreten jein; deutlich kann man jehen, wie er jich bemüht, jeine Balladenmethode auch hier anzuwenden, obwohl die Fügung des Gedichts ihr wideritrebt. Aber die Brüde zum Oratorium war gejchlagen, und auf fie ift er alsbald getreten.

In der Dratoriencompoftition war Zoewe damals fein Neu: ling mehr. Er hatte 1829 eine „Zeritörung von Jeruſalem“ in die Deffentlichfeit gebradt und war jchon jeit 1824 mit einem Werk befchäftigt, das die wichtigften Ereignijfe aus ber Geſchichte Chriſti und jeiner Jünger im Anſchluß an die Feſte des Kirchenjahres oratorienmäßig behandelte. Seine amtliche Stellung jowohl, wie jein religiöjer Sinn mußten ihn zum Oratorium loden; die Anjchauungen jener Zeit machten zwijchen religiöfer und firchlicher Mufik feinen Unterfchied, was entſchuld— bar jcheint, da ein evangelifch-firhlicher Mufikitil überhaupt nicht mehr bejtand. Geiftlihe Dratorien hat er jpäter nod) mehrere gejchrieben, doch die „Zeritörung“ wollte ich zu dieſen nicht eigentlich gerechnet haben. In einzelnen Zügen das große Talent und den geiftreichen Kopf jeines Schöpfers verrathend, iſt dieſes Oratorium als Ganzes doch eine ftiliftiiche Unmöglich— feit, in dem Opernmelodien und Theatereffecte mit den Formen funjtvoll und ftreng gearbeiteter Chormufif zu einer gezwungenen Verbindung ſich haben bequemen müſſen. Diejer Weg führte in die Wildniß, aber nicht zur Höhe des deals. Beſſer ſollte es ihm von der Ballade oder Legende aus glüden. Die Dichtung Gieſebrechts von den „Sieben Schläfern“ ift eine ſolche. Zur Zeit der Ehrijtenverfolgungen unter Decius flüchten fieben Söhne eines vornehmen Ephejers, die dem neuen Glauben anhangen, in eine Gebirgshöhle, werden dort entdedt, eingemauert und von den Chriſten als Märtyrer verehrt. Nach 190 Jahren, da in- zwiſchen das Chriſtenthum berrichende Religion geworden, wird die Höhle geöffnet, und man findet die jieben Brüder lebend

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und in dem Wahn, nur eine Nacht durichlafen zu haben. Loewe componirte das Oratorium 1833 in demfelben Sabre, wie Goethe's „Walpurgisnaht“, und ein Jahr bevor er ſich mit ganzer Kraft auf die legendenhafte Ballade warf. Wie dieie Dinge zufammenhängen, fieht Feder. Auch das durch einen er: zählenden Prolog eingeleitete Oratorium „Johann Hub“, das, um den jchwächlichen „Gutenberg“ zu übergehen, neun Jabre nah den „Sieben Schläfern“ erjchien, darf nur als erweiterte Ballade aufgefaßt werden. Ihre Merkmale find leicht zu finden. Sie liegen in dem Genrehaften der Empfindungen, der Ktleinheit der Formen, und der Iyriihen Stimmung, welche farbig um die Ereignifje jpielt, anftatt fie durch ihre eigenen Contouren wirken zu lafjen. Das technifche Rüftzeug für ein Oratorium im großen Stile Händels oder Haydns fehlte Loewe wohl nicht; er war aus Türfs jolider Schule hervorgegangen und hat augenſcheinlich mit großem Fleiße feine Gejchidlichkeit ald Componijt nad) den verſchiedenſten Seiten entwidelt, auch nad) ſolchen, welche die da- malige Zeit noch wenig würdigte. Aber den Blid für größere muſikaliſche Verhältniffe hatte er, mit der jtrophiichen Balladen- compofition lebenslang vorwiegend beichäftigt, nicht genügend aus: gebildet. Die Mittel des Sologefangs, Chors und Orcheſters wußte er nicht in entjprechender Breite zu verwenden. Loewe's balladiſche Oratorien haben fich nicht halten fönnen, troß der Menge muſikaliſcher Schönheiten, geiitreicher Einfälle und einzelner Würfe von padender Neuheit. Aber fein Berdienit als Pfadfinder wird dadurch nicht geichmälert. Der Erite, den wir auf jeinen Bahnen finden, ijt verwunderlicherweife Mendels- john. Seine allbefannte Compofition der Goethe' ſchen „Wal: purgisnacht“ ift zwar im eriten Entwurf älter als die Loewe'ſche, aber ihre endgültige Geftaltung fand erft neun Jahre nad diefer ftatt, und daß er in jeinem Bannkreis fich bewegte, zeigt deutlicher als alles Andere der Umftand, daß er fein Werl, Goethe's Vorjchrift entgegen, nicht Gantate, jondern Balladı nannte. Schumann folgte 1843 nah mit „Paradies und Bert“,

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ade 1846 mit der „Comala“. Beide haben dann die Arbeit in dieſer Richtung mit Eifer fortgefegt: der Däne mit „Erl- fönigs Tochter“, den „Kreuzfahrern“ und andern Werfen gleichen oder ähnlichen Stils, der Deutfche mit der „Roſe Rilgerfahrt”, den Balladen „Königsjohn”, „des Sängers Fluch”, „Page und Königstochter", „das Glück von Edenhall“. Componiften geringerer Kraft haben fih ihnen angejchloffen.

Daß das Oratorium als Kunftgattung ſich mit der Ballade nahe berührt, ift leicht zu jehen. Bei beiden handelt es fich um bedeutende oder doch intereflante Begebenheiten, deren Iyrifcher Gehalt dur die Mufif entbunden werden ſoll. Welchen Lebens: freifen dieje Begebenheiten entnommen werden, ob der heiligen oder profanen Gejchichte, ob der Sage oder dem Naturleben, it diefer Forderung gegenüber gleichgültig. Dem Oratorium war von jeiner Entjtehungsgeichichte ein gewiſſer erbaulicher Zug anbaften geblieben; jonjt haben die Staliener, haben nad) ihnen Händel und Haydn von ihrer wohlverbrieften Freiheit immer Gebrauch gemacht, ſich die Stoffe zu holen, von welchen Gebieten jie wollten. Auch der erbauliche Charakter ift für die Gattung, wenn man die Sadhe rein äſthetiſch betrachtet, un— wejentlih. Nur eine gewiſſe Wichtigkeit und Größe des Gegen- ſtandes erjcheint nothwendig, wenn man zu jeiner mufifalifchen Behandlung die gefammten Mächte der Tonkfunft: Solo, Chor- gefang und Orcheſter, aufbietet: das Dargejtellte muß zu den darjtellenden Mitteln im Berhältnifje ftehen. Naturgemäk werden die geeigneten Stoffe leichter im Gebiete der heiligen Geſchichte oder Legende gefunden werden, da diefe ungezwungen zu dem Göttlichen in Beziehung gejegt und jo ins Erhabene geiteigert werden fönnen. Aber wer den richtigen Blid hat, findet fie aud anderswo: die Beſiegung der Römer durch Arminius, die Romfahrt eines deutjchen Heerführers, die Entdedung der neuen Welt, aud Sagen des clafliichen Alterthums wie „Amor und Pſyche“, Thaten und Erlebniffe antiker Helden, wie Odyſſeus und Achilleus, find ficherlich für das Oratorium oder die Ballade

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im größten Stil würdige Objecte, und Goethe hat in der „eriten Walpurgisnacht“ gezeigt, wie auch die Welt beidniichen Götter: glaubens zu dieſem Zwecke fruchtbar gemacht werden fann. Fit doch auch nur zu wünjchen, daß die Tonkunft nicht außerhalb unjeres, gegen früher jo mächtig erweiterten Anſchauungskreiſes ftehen bleibe; die Folge würde ſonſt fein, daß fie die Fühlung mit dem Leben und damit ihre eigene Wirfungsfraft einbüßte.

Die Schwierigkeiten, welche zu überwinden find, um zu einer fejtitehenden Form des balladifchen Dratoriums zu gelangen, icheinen hauptjählih in zwei Dingen gelegen zu jein: im der Geftaltung der Dichtung und in der Verwendung des Solo- geianges. Es ift ausgejchlofien, daß der Mufifer die fertige Ballade des Dichters hernimmt und componirt, wie es bei Einzelgefang mit Clavier geihieht. Ausnahmsweiſe kann das Unternehmen einmal gelingen, wie es bei Bruds „Schön Ellen“ gelungen ift. Aber im Allgemeinen find die mufifalijchen Mittel, welche in Bewegung gejegt werden jollen, viel zu jchwer und wuchtig, bebürfen daher von Seiten des Componilten einer viel zu großen Umficht in der Abwechslung und Abtönung ihres Gebrauchs, als daß der Dichter ihm nicht nach diejer Richtung hin vorarbeiten müßte. Wie zwifchen Erzählung und perjönlicher Rede oder Dialog abzumwechjeln ift, wann die Erzählung einem Einzeljänger oder dem Chor zufällt, ob überhaupt nicht die Erzählung als ſolche auszumerzen und der thatſächliche Stoff in den Dialog einzuarbeiten jei, find Fragen von Wichtigkeit, deren Löſung wohl nur durd lange Praris herbeizuführen wäre. Es iſt der unermeßliche Vorteil, in dem fich das alte italienisch: deutjche Oratorium dem neuen Balladen-Uratorium gegenüber befindet, daß jenes jih auf eine mehrhundertjährige bewährte Tradition ftügen fann, während für dieſes die poetiiche Technit erit geichaffen werden muß. Bei ſolchen Anfangsverjuchen gebt es ohne Mißgriffe niemals ab. Das reichite umd genialite Wert der neuen Gattung, Schumanns „Paradies und Peri“, weit davon zu jagen. Es kann feine jchönere Muſik geben als dieje,

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aber ihre Geſammtwirkung ift jtumpf, weil die Dispofition der Begebenheiten und der Daritellungsmittel nicht völlig gelungen it. Auch der Einrichtung der von Schumann componirten Balladen Uhlands und Geibels fühlt fih der Zwang an, der dadurch entftehen mußte, daß man ſich mit abgeichlofjenen Dichtungen wohl oder übel abzufinden hatte. Wollitändig ge: lungen ift die Formung eines Balladenjtoffes zu einem oratorien- haften Tert bis jet eigentlich nur einmal, in Goethe'3 „Wal: purgisnadt”, und mit Mendelsſohns Muſik, die derjenigen Loewe's an Reihthum und breit entwidelten Formen weit voran fteht, darf fie vorläufig al3 das Muſterwerk der Gattung gelten. Goethe's „Rinaldo”, jhön von Brahms componirt, und Gade's „Somala”, in neuejter Zeit auch Rheinbergers „Chriftoforus“ fommen dem Ideale mwenigftens nahe, das wir uns von der Gattung zu machen gejchichtlich und äſthetiſch berechtigt find. Tas alte Oratorium ift von der dramatiihen Muſik aus- gegangen. Es hat jich mehr und mehr ins Charakteriſtiſch-Lyriſche bhineingebildet, und Händel hat diejen feinen Stil endgültig feit- geitellt. Aber der äußere, drama⸗ähnliche Zufchnitt iſt in den meilten Fällen jtehen geblieben. Nicht erzählte, ſondern gleid): jam erlebte Begebenheiten werden uns vorgeführt; Einzeljänger und Chöre wirken unter der Maske beitimmter Berjönlichkeiten. Diefe Scheindramatif hat einen tiefen mufifalifhen Grund. Sie ift das einzige Mittel, den menjchlichen Gejang für fünjtlerifche Zwede voll zur Ausnutzung zu bringen. Unwillkürlich jteht der Sänger einem nur referirenden Terte mit einer gewiſſen Kühle der Nichtbetheiligung gegenüber. Erit wenn ihm die Fiction geitattet ift, ſich mit einer bejtimmten Rerfönlichkeit eins zu willen, entfaltet er die volle Lebhaftigkeit und Durchgeiſtigung des Ausdruds, deren das menjchlihe Organ fähig ift und durch die es jeine Weberlegenheit über die inftrumentalen Organe größtentheils zu behaupten hat. Dies hat niemald3 Jemand bejier gewußt als der Italiener; er würde verlegen jein, was er zu erzählend Iyrifchem Gejange, wie er in „Paradies und

460

Peri“ ſich lang bingeftredt, für eine Miene aufjegen joll, Da er doch ſelbſtverſtändlich etwas daritellen will.

Beim balladifchen Oratorium liegt die Sache umgefehrt. Nicht das Drama war zuerjt da, fondern die epifche Erzählung; fie muß, wenigftens in einigen Theilen, zur Scheindramatif er: hoben werden, foll anders die volle mufifaliihe Wirkung ſich einftellen. Gelingt dies dem Dichter, jo fteht der Mufifer vor der neuen Aufgabe, wie dergleichen Partien zu componiren find. Ans Opernmäßige darf er nicht verfallen; Loewe iſt im Diejer Beziehung ein warnendes Beijpiel; er fühlte fih nicht ficher auf der Grenze, die bier zwifchen den entgegengejegten Gattungen binläuft, er ſchädigt duch theatralifche Arien den Eindrud feiner Balladen-Oratorien, wie er denn felbit in einitimmigen Balladen wie „Ejther“ in den DOpernftil hineingeräth. Die alten Sologejangsformen find heutzutage fast untergegangen, Die Arie jowohl wie das Necitativ. Man kann das tief beklagen, ändert aber dadurd an der Thatjache nichts. Ich glaube indeften, daß die Arie, die den ftärkften individuellen Vortrag verlangt, für den Einzelgefang in der Ballade auch nicht die richtige Form wäre; nach der ganzen Entwidlung unferer Muſik und nad der Entjtehung der neuen Gattung ſelbſt fünnte es wohl nur das Lied fein. Auf diefen Ausgangspunkt blidend, fchiene uns aud das Recitativ entbehrlih, injofern es im alten Oratorium den Faden der Thatjachen jpann, an dem fich die Tonbilder auf: reihen. Der Ballade ift ein jprunghaftes Weſen eigen; ſie liebt es, die Hauptereigniffe hinzujtellen und überläßt deren Verbindung der Bhantafie des Hörers. So fünnen auch Tonwerfe einheitlich und befriedigend wirken, die nur eine Reihe von Bildern vorüber: führen, zwiſchen denen ein lofer Zufammenbang befteht. Bruchs „Scenen aus der Frithjoffage” erhärten diefe Möglichkeit nad drüdlihit; ihre Verbindung ift fo loder wie nur denkbar, der Rhythmus des Contraftes, in dem jie jich abfpielen, ift ibr vornehmites einigendes Band; dieſer ift ſtark genug, um zu— jammen mit dem inneren Gewicht der einzelnen Tonbilder dem

= Male

Werke nun ſchon dreißig Jahre lang einen Ehrenplag zu gewähr— leiten unter den Compofitionen gleicher Gattung.

Aber freilih, daß wir deshalb nun verzichten wollten auf die Kunftformen einer großen Vergangenheit, möchte ich damit nicht gejagt haben. Etwas Neues ijt im Werden, aber e&8 kann werden, ohne daß mit dem gebrochen würde, was früher beftand. Als Johann Adam Hiller feine erften Liederjpiele jchrieb, wäre wohl Niemand fühn genug geweien, zu prophezeihen, daß nur dreißig Jahre jpäter auf demjelben Boden eine „Zauberflöte“ und nach abermals zehn Jahren ein „Fidelio“ erwachjen würde. Das konnte geichehen, weil das jtrebfräftige Neue mit dem be- währten Alten eine Miſchung einging, die beide jtärfte. Vielleicht it es dem zwanzigiten Jahrhundert vorbehalten, auf anderem Gebiete Aehnliches zu erleben.

Doch das find Zufunftsgedanfen, und die Geitaltung unjerer mufifalifchen Zukunft ruht nicht bei den Hiftorifern, jondern bei den Künitlern.

ORION

Namen- und Sadj-Regifter.

(Die Ziffer bei den Namen bedeutet die Seitenzahl.)

Agricola, Georg Ludwig, Madrigal- | Benda, Georg, Melodramen „Ari-

componiit 74.

Albert, Seinrih, mit Schüß in Kopenhagen 27; im Befig von Schützſchen Compofitionen 37; 58.

Aligieri, Poefien von 9. Schüß componirt 39.

Andre, Yoh., feine Compofition der „Lenore” 410 ff.

Badı, J. S., componirt Dichtungen Chr. F. Hunolds 90 ff., perſön— lihe Belanntihaft mit ihm 99, mit Erdm. Neumeifter 100; Jo— hbannes:Baffion 101 ff.; compo— nirt ein Gedicht Chriftian Weiſe's 106 ff.; bearbeitet Sonaten von Reinten 115 ff.; benutzt ein Lehr— buch von Niedt 121 ff.: verwendet La folie d’Espagne in der „Bauerncantate* 235; „Ahr Schönen, höret an“ 255 f.

Ballade, als Dichtung, Charakter im 18. Jahrhundert 408 f.; Unter: jheidung vom rein Iyrifchen Ge- dicht 427. Inſtrumental-B. 454. Verwandtihaft zwiſchen B. und Oratorium 457 ff.

Deker, Cornelius, deſſen Pſalmbuch componirt 21 f., 25, 55.

adne“ und „Medea“ 413.

Bernhard, Chriftoph, Schüler von 9. Schütz 33, 36.

Bohemienne, Ya, Oper; ſ. Favart.

Bontempi, G. A., Capellmeiſiet in Dresden neben 9. Schüf 3.

Brahms, J., Citate in feiner Nuftl 443; Balladen 453 f.; „Rinaldo* 459,

Brud, M., „Schön Ellen“ 458, „Scenenaus der Frithjofſage“ 40.

Buchner, Auauft, Dichter des 17. Jahrhunderts 25, 29 (Anmerk.) 40 (und Anmerfk. 3).

Caffarelli, Sopranift, fingt 1749 in Rom 138.

Eanzone für nftrumente, deren Form 48, 50. Eanzonette, im 17. Jahrhundert 43 i. „Tre giorni son“ 158 ff. Eapricornus, Samuel, Capellmeifter in Stuttgart 59 (Anm.).

Ehrifian IV. von Dänemart, Muſil an deſſen Hof 26 }.

Eiampi, %. V., defien Oper Bertol- do in corte 153, 166.

Cocchi, ©., deſſen Oper „La scaltra governatrice* 153, 173.

Collegia musica im 17. und 18. Jahrhundert 305 f.

Enoert im 17. Jahrhundert 47 ff. Eonti, Gioadhino (gen. Gizziello), Sopranift, 1743 in Rom 138. Convivium musicale baujen i. Th. 81 fi., in Reval

304, in St. Gallen 305.

Eornett, Chriftoph, Gapellmeifter des Landgrafen Morik von Heflen- Caſſel 8, 13.

Eofimi, Giufeppe, ital. Operniänger 144, 147 f., 150, 155.

Dedekind, onitantin Dichter und Componift 40 (und Anmerf. 3).

Elben, Otto, Verdienite um das Männergefangäweien 299 f. Ur— theil über 3. ®. Kaitner 321.

Favart, Theaterunternehmer in Paris,

bearbeitet Rinaldos Zingara 150 ff. |

Frank, Salomo, Dichter deutscher Madrigale 69.

Franzöſiſche Lieder, ihre Verbreitung in Deutichland 226 ff.

Freimaurer und deren Xieder im 18. Jahrhundert 204 f.

Fritzſche, I. G. A., componirt ein Singipiel des Sperontes 188.

Gabrieli, Giovanni, Lehrer von 9. Schü 10, 38, 48.

Gade, NR. W., Balladen für Soli, Chor und Ordefter 457, „Cos mala“ 459.

Gallen, St., Singgejellihait „Zum Antlitz'“ dajelbit 303, 304 f. Generalbaß,

nad) J. S. Bachs Anficht 124, 126.

Gersbad, Joſeph, im musikalischen Vertehrmit Schnyder von Warten- fee 370; Lieder 374.

Gefänge, mehritimmige mit Clavier-

begleitung von Haydn und

Schubert 326 f.

463

in Mühl: |

Ehriftian, |

Bedeutung desielben |

' Görner, ob. Gottlieb, Clavier— concert 244.

ı Gottfhed, Frau Luiſe Adelgunde,

250 ff.

Gräfe, Joh. Friedr., deſſen Oden— jammlungen 191 f.; 224, 234, | 268, 290 ff.

Guarini, B. Bruchſtücke aus Il Pastor fido von Schü componirt 39.

' Günther, ob. Chriftian, Gedichte 247 f., 261 ff.

Händel, ©. F., Gefang- und Ins jtrumental-Stüde in franzöfifchen Barodien 236 f.

Heinrid, Reuß Poftumus, Verhältniß zu 9. Schütz 16 f.

Heinfe, W., „Dildegard von Hohen: thal“ 388.

| Hiller, Joh. Adam, Urtheil über die „Singende Muje an der Pleiße“ 225, 257 f.

Hoffmann, E. T. A., ald Muſik— ichriftfteller Vorgänger Schu— manns 389.

Zunold, Chriſtian Friedr. 90, 98 f.,

| Dichtungen von J. S. Bach cont-

ponirt 90 ff.

Iacobi, Joh., Dichter deutſcher Madri—

gale TO f.

IJommelli, N., defien Oper Vologeſo 185 ff.

Kaldenbach, Chriſtoph, Dichter des | Königsberger Kreijes 31.

Kaſtner, J. G., Charakter 359 f.,

Charakter ſeiner Muſik 343, Sin— fonie-Gantaten 346 ff., Klangſinn 349, Männergefänge 349 ff., Lehr— bücher 351 f., mufitwiffenichaftliche Werte 352 f.; ihre Verbindung mit eigenen Compofitionen 356 ff.

Rittel, Caspar, Kammermufiter in Dresden 23.

Kittel, Chriftoph, Dresden 35

Organiſt in

464

Bnüpfer, Sebaftian, eine „Intrade* | Lieder:

feiner Compofition 103 fi.

Brieger, Adam, 58.

Brieger, Johann, Beziehungen zu | Chriſtian Weile 105.

Kunzen, Friedr. Ludw. Nemilius, Compofition von Bürgerd „Ye nore* 413 ff.

Aur;, Joſeph, Lieder in deſſen Ko— mödien und Burlesten 281 fi.

kauremberg, Joh., Dichter 27, 40.

„Kenore“, Ballade von Bürger, Compoſitionen derielben 409, 410, 413 ff, 421, 423 f. 424 f.

Leoni, Giov. Battifta, Madrigaldichter 65.

Lied, deutiches, im Männergefang 325 ff.: für gemiichten Chor 329 ff.: voltsthümliches ſchwäbiſch— alemannifches 374 f. |

Lieder, in der Abhandlung über Eperontes beiprochene: |

Ah Heiliger Andres, erbarme | dich 218 f.

Ad höchſter Gott und Herr, Was |

|

will ich weiterö mehr 259. Ah! wenn fommt der frohe Tag 260, 282, Allen Mädeln zu gefallen 286. Allen Schönen zu gefallen 286. * Alles, alles hör ich an 191, 212. Alles eilt zum Untergange 264. Alles eilt zu feinem Ende So wie unire Burfchenzeit 264. Alles ift mir einerley 191. Alles fan doch manchmahl noch erfreut 246. Alles kommt zu ſeinem Ende, Aber mein Verlangen nicht 264. Alles lebt und liebt und ift ver- anügt 245. —— Als ich zur Sommerszeit Mich auf dem Land erfreut 259. | Alte Liebe roftet nicht 285.

Andread, du geprießnerMann218.

Angenehmer Bund 271, 285.

Angenehmer grüner Wald 271.

A toi Catin, Il faut que je t’en verse 236 (Anm. 4).

Auf, auf! auf, auf zum Jagen (Hubertus⸗Arie) 227.

Auf Jäger in den Wald 257.

Befördert, ihr gelinden Saiten 180, 181, 247, 264.

Brüder, laßt uns Iuftig ſeyn 202, 261 fi.

Brüder, ftellt das Jauchzen ein 202, 261.

Charmante Gabrielle, perc& de mille dards 229.

Charmantes Engelstind, Du haft mit deiner Liebe 257.

Daphnis, profitons du temps 237.

Das Glüde lag in legten Zügen 199 f.

Dedans mon petit reduit 230 f.

Der Abſchieds-Tag bridt nun heran 197.

Der erfte Tag im Monat Mai227.

Der Knieriem bleibet, meiner Treu 258 und Anm.

Diana bläft zur Jagd 257.

Die ſchwarze Stunde ſchlägt 211, 291.

Doux charme de ma solitude 212.

D’un jeune plumet vif et tendre 229.

Du ftrenge Flavia 234, 240 f.

Du mweltgeprießenes Geſchlechte 253, 268.

Edle Freyheit, mein Vergnügen 282.

Ein edles Her ift ſtets vergnügt 12 ff.

Ein harter Streit Hat mich mit mir entzweit 244.

465

£ieder: Kieder:

Erbarme dich, du Schönheit diefer Welt 211.

Ermuntre dich, betrübter Geift 268.

Es ift die Mode jo 257.

Es fürmelt, was da lebt 196, 246, 288,

Ey, fo fahre denn dahin 211.

Falſcher! jo mwillit du das Hertze verlafien 288.

Faliche Seele, willit du mich 271.

Folie d’Espagne 233 ff.

Freres et Compagnons de la Masonnerie 268 (Anm.).

Freyen ift fein Pferdefauf 289.

Funfzig Thaler baares Geld 269.

Gaudeamus igitur 261 ff.

Gedenck an mich und fey zu- frieden 264,

Gleichheit im Lieben Laden und Scherken 284.

Habe echs nech lang gefat 274 ff.

Doah ichs nid lang geivat 194 fi., 218, 274 ff.

Hoffe nur, hoffe befümmertes Hertze 267.

Holde Strahlen ſchönſter Augen 260. Jagen verbleibet das fchönite Vergnügen 180, 247, 258. Sa, zetichert nur, ihr Luftgen Sänger 220.

Ich bin nun, wie ich bin 246, 257.

Ich bin vergnügt mit meinem Stande 268.

Ih Hab die Nacht geträumet 280.

Ich hab ein Wort geredt: Mein Kind du bleibeft mein 215. Ich hab ein Wort geredt: Mein Kind ich liebe dich 215 und

216.

Pyilipp Spitta, Muſitgeſchichtliche Auffäge.

bringt |

Ich hab zu dir geiagt, mein Kind, ich liebe dich 217.

Ih ſchäkre nur, ich ſchäkre nur 138.

Je possedois une heureuse inno- cence 24.

Ihr Amouretten, Kommt, weiht die Ketten 287.

Ihr beiten Stunden, Ihr feyd gefunden 272. Ihr Grillen, laßt

gebrüht 268.

Ihr Grillen, weichet hin 287.

Ihr Grillen weicht, ihr Sorgen flieht 271.

Ihr muntern Schönen hört 256.

Ihr ſanfften Winde, Weht meinem Kinde 272, 282 f., 287.

Ihr Schönen höret an 180, 181, 184, 246 ff., 287 f.

Ihr Sternen hört, Wie man mit mir verführt! ch liebe, was mich tödtlich haßt 201, 224, 240 fi.

Ihr Sternen hört, wie man mit mir verfährt! Ich foll ein blutig Opfer feyn 248,

Ihr ftillen Winde, Zeigt meinem Kinde 287.

Iſt mein Stübchen eng und nett 230 f.

Itzt, da die Erde fi verjüngt 187.

Komm mein Schdk und laß uns eilen 218 (Anm. 1).

Kommft du mir aus meinen Augen 269.

Laßt des kurzen Lebens Zeit 230.

Le badinage, Lies ris et les jeux 237.

L’exercice de la chasse Ne fera plus mes &bats 227 (Anm. 2).

l,’Horoscope 229.

30

mih un—

466 kieder:

Liebe mich redlih und verſchwiegen 213, 258, 282,288.

Lieben und zweifeln vergrößert die Schmergen 234.

Liebfte Freyheit, fahre Hin! 260 f., 285.

Liebiten Schäfer, kommt herbey 260.

Liebfte Schweitern, fommt herbey 211, 291.

Liebite Wälder, Holde Felder 271.

Lorsque deux coeurs d’untendre feu 237.

„Mayerin“ (Aria chiamata La Meyerin) 232 f.

Mein Dösgen ift mein Haupt- vergnügen 271.

Meine Freyheit ift dahin 285.

Mein Engel, lab uns heimlich lieben 214, 217.

Mein Kind ich liebe dich 287.

Mein Kind, lab uns fein heim- lich lieben 217 (Anm. 3).

Mein Wunſch ift niemahls nicht | auf Erden 291.

Nahrung edler Geifter 262 f.

Nichts Fan Schöner als die Liebe 191.

Nimm die Mufhe Bon der Guſche 269, 286.

Nimmer kann ich mich beguehmen 218.

Nun ift der feite Schluß, Dabei ed bleiben muß 259.

Nun kommt mein Mops, das treue Thier 206,

Par les charmes d’un doux mensonge 237 (Anm. 1).

Pour aller à la chasse Faut ötre matineux (Uantique de S. Hubert) 227 f.

Sagt mir nichts vom Lieben 277. |

Schöne Kinder lieben 277. |

£ieder:

Schwarger Augen Gluthb und Kohlen 180, 247 f.

Schweiget mirvom Weibernehmen 218, 232 f.

Se risolvi abbandonarmi 237.

So lang id; meine Tabadapfeiffe 212.

&o offt ich meine Tobads-Pfeiffe 212 f.

Spielt, ihr Winde, Spielt ge- linde 267, 282.

Spredt, Bernünfftler immerhin, Was ihr wollt von unserm Orden 204.

Studenten tragen froben Muth 274.

Table nicht, geliebter Engel 260.

Tu croyois en aimant Colette 265.

Und daß ihrs alle wißt 227 f.

Vnndt alß i'nmahl war gelomma 278 f.

Verdi pradi 237.

Bergnüget euch an eitlen Dingen 272.

Verhängnig ah! Wenn fol mein Ungemach 243.

Weg ihr eitlen Grillen 262 f.

Wenn die Bettelleute tanzen 269,

Wenn mich Her und Augen haßen 260.

Wenn ich aufgeftanden bin 230.

Wenn ih aufs Jagen geb 257.

Wer will der mag fi jo er- gögen An Tuberoien 213 (Anm. 1).

Wie groß ift nicht die Luft 257.

Willft du dein Herz mir jchenten 214 ff.

Wohl dem, welcher feine Bruft Mit Berichwiegenbeit 215. Mo follt ich beffer wohl, ihr

Linden 197 f.

Cieder: Zu Coblenz auf der Brücken 280. Zu dein und meiner Luſt 283, Zu dein und meiner Ruh 284 (Anm.). #iedertafel, Berliner 309 ff., 325, C. M. von Webers Stellung zu ihr 311 f.

Löw, Johann Jacob, Schüler von

9. Schüg 34 f.

Loewe, Garl, feine zeitweilige Ber- nachläſſigung 405 ff., frühe Meifter- ſchaft in der Balladencompofition 433; Perioden feines Schaffens 449 ff.; neue Form feiner Bal- lade 433 ff., unmittelbares Her— vorgehen Dderfelben aus dem Strophenlied 433, Melodiebildung 439 f., romantiihe Verwendung des Choraläd 440 ff., andre poe- tiſche Nebenbeziehungen 442 f,, maleriicher Stil 443 ff., Elavier- fat 447; Lieder 448, Legenden 449 f., Balladen-Dratorien 454 ff., 460. Bortrag der Ballade 454.

Madrigal, italieniihe Gedichtform 63 f.; Nahbildung in Deutſch— land 64 ff., 75, 409; deutſche Madrigal-Componiften 72 ff. ©. aud unter Schütz.

Manelli, Betronio, ital. Opernjänger 144, 147, 150, 168.

Männergefang, deuticher, feine Be— gründung auf das unbegleitete mehrftimmige Lied 325 ff., Vor- gänger des gemifchten Chorlieds 329 ff. Männergefang mit Clavier und Ordeiter 326 ff. Männer: höre J. ©. Kaftners 349 ff.

Marini, Poeſien von 9. Schüß com: ponirt 39.

Marfhner, H., „QTunnel» Lieder* 316 f.; Gefänge für gemifchte Stimmen 330.

467

Matthefon, Joh., Böswilligkeit gegen J. 4A. Reinfen 112; Anfichten über den Generalbaf 127 f.

Meiſterſänger, Ueberbleibjel derſel— ben in Memmingen und Ulm 302.

Mendelsſohn-Bartholdy, F., ſeine Stellung zum Männergeſang 324; Lieder für gemifchten Chor 330 f. „Erite Walpurgisnadht“ 456, 459.

| Misler, Lorenz, 189 ff.

Morik, Landgraf von Hefjen-Gaffel 6 ff. 12 f.

Mozart, W. 4, feine Instrumental» Romanzen und deren gefcdicht- lihe Wirkung 416 f.

Mühlhaufen in Thüringen, Mufit zum 1627 dort gehaltenen Kur» fürftencollegtag 15 f., 44; Muſik— pflege dort im 17. Jahrh. 79 ff., 308.

Mufikfefte der Männergejangvereine 318 f., allgemeine in der Schweiz 368 f.

Muſikſchriftſtellerei 386 ff., dichte riiches Element in ihr 390. Mufikvereine Deutichlands im 17. Jahrhundert 79 ff., 303 ff. Nägeli, 9. G., Verdienfte um den Männergefang 308 ff., Sing:

anitalt 369, Lieder 374.

| Merefe, Chr. G., Compoſition der

Ballade „Lord Heinrih und Kätchen“ 412.

„Neue Sammlung verichiedener und auserlefener Oden“ (1746), deren Herausgeber und Beidhaffenheit 289 ff.

Neumeifter, Erbmann, Begründer der madrigalifden Cantaten— Didtung TI f.: im perfönlichen Verkehr mit J. ©. Bach 100; feine Poetik und weltlichen Lieder 211, 215.

30 *

Niedt, Fried. Erh., deſſen „Mufis falifche Hanbleitung“ 121 ff. Olearius, Joh. Gottfried, Dichter

beutiher Mabrigale 69.

Opit, Martin, Verhältniß zu 9. Schütz 22; Gedichte von Schü componirt 40.

Oratorium, Berwandtichaft mit ber muſikaliſchen Ballade 457 ff., Vorzüge des dDramatiichen D. 459; Stil des balladiichen D. 460.

Oftermaier, Andreas, Mufiter am

Caſſel 8.

Otto, Geora, Capellmeifter des Land⸗ grafen Morik von Heſſen-Caſſel 8, 13.

Parodiſtiſche Gefänge in Frankreich 235 ff., in Deutichland 238 ff., 264 ff.

Vergolefe, ©. B., 152, 163.f., 167, 168.

Prartorius, Michael, Thätigfeit am Hofe zu Dreden 11 f., 13 (An« merf.); am Hofe zu Bayreuth 16.

Reinken, ob. Adam, PViolintrios, betitelt Hortus musicus 112 ff.

Rellſtab, L., Art feiner Mufifichrift- ftellerei 388.

Rheinberger, J., Legende „Chrifto-

heiter 459.

Rinaldo von Gapua, Leben 181 ff., Opere serie 133 ff., Opere buffe | 140 ff., Oper „Die Zigeunerin® |

144 ff.

Rohlik, Friedr., Art feiner Mufif- |

fchriftitellerei 388 f.

Romanze, gelungene, im 18. Jahr- hundert 408,) 410, 413, 415; als Anftrumentalcompofition feit Mozart 416, Einwirkung auf die gefungene R. 417; wird nicht durcheomponirt 418.

468

Schũtz, Heinrich.

forus* für Soli, Chor und Dr |

| Roufeau, Jean Jacques, Schriftitüd | von ihm, Rinaldos Zingara be- | treffend 145 ff.: Beurtheiler | italieniſcher Muſik 156. Santarelli, päpſtlicher Capellſänger und Opernſänger in Rom 138.

Scachi, Marco, Capellmeiſter in Warſchau 59 (Anmerf.). Scheidt, Samuel, am Hofe zu Bay reutb 16.

Schein, Johann Hermann, 23. ' Schirmer, David, Dresdener Dichter Hofe des Landarafen Morig zu |

40.

Schleſiſche Dialect-Ditung 19% ff.

Scholze, Job. Sigismund, Yeben 203 ff.: das Pſeudonym „Speron-

tes“ 189 #.; Dichter 185 ff.; Charakteriſtik 209 ff.

Schubert, Franz, Balladen in Zum— ſteegs Stil 425 f., 428: „Erl- könig“ 427 f., „Zwerg“ 428, „Kreuzzug“ 429, lyriſche Mono— dien 429 ff.

Schũutz, Andreas,

Seinrih Sc. 5.

Großvater von

Schutz, Chriftopb, Vater von Heinrich

Sch. 5 f., 9, 11, 16 (Anmert. 2), 23.

| Schüß, Georg, Bruder von Heinrich

Sch. 5, 8, 20, 29.

Leben 4— 37: Herkunft 4 f. Ausbildung in Caſſel und Marburg 6 fi., in Venedig 9 f. Anftellung in Gaffel 11, vrgl. 17 f., in Dresden 12 f. Wirkſamkeit in Dresden 13 f., 24 f., 30 f. Ehe 20 f. Reifen nah Bayreuth 16, Bres- lau 15, Gera 17, Hamburg 26, Kopenhagen 26, 29 f., Yeipzig 16, 23, Mühlhaufen 15 f., Teplig 35, Benedig 22 f., Weimar 30 f., Weißenfels 30, 33, Wolfenbüttel 29, 34 f. Schüler: 9. Albert 27; Chr. Bernhard 33, 36: Casp.

469

Kittel 23: Chr. Kittel 35; Joh. Klemm 30, 32: 3. I. Löw 34 f. M. Weckmann 38,56. Beziehungen zu mitlebenden Mufifern: Bons tempi 33; Samuel Capricornus 59 (Anmerf.); Chr. Cornett 8, 13; Mich. Braetorius 12, 13 (Anmerf.), 16: Marco Scadi 59 (Anmerf.); ©. Scheidt 16; J. 9. Schein 33; D. Strund 34. Beziehungen zu zeitgenöfftihen Dichtern: A. Bud» ner 25, 29 (Anmert.), 40; ©. Dad 31 (Anmert.), 40; E. Chr. Dedekind 40; Chr. Kaldenbach 31, Joh. Zauremberg 27; M. Dpik 14, 2, 40; D. Schirmer 40; oh. Seufe 38, 40; E. Stod-

mann 40, 74: Casp. Ziegler 39, |

73 f. Tod 36.

Werte 37—60. Aeußere Schickſale 37 f. Arien 44. Cantiones sacrae 19, 21, 44 f. Ganzonetten 40, 43 f.

Goncerte 47 ff.; Domini est terra 48; „Herr nun läffeft du“ 18; Kleine geiſtliche C. 28, 29, 38, 49; Veni sancte Spiritus 18.

Dramatiide Werke 59; „Daphne“ 14, 44: geiftliche 57 f.;

35; Sieben Worte 18, 38; Weih— nachts-H. 35, 57 #. Madrigale: deutiche 39 f., 43 f.; italienifche 9, 39, 41 ff.; Madrigale spiri- tuale 40.

Motetten: „Das ift je gewißlich wahr“ 23, 32; der 116. Pialm 46: „Die Himmel erzählen” 32; Geiftlihe Chormufit 32, 4 ff.; „Herr, nun läffeit du“ 32; zwölf geiftlihe Gefänge 35. Plalmen: mehrchörige 18 f., 32, 46 f., 48; vierftimmige Tonſätze zu Cornelius Beckers Dichtungen 21 f., 26, 55 f. Symphoniae sacrae I 10, 28, 49 ff.: II 30, 49 fi.; III 32, 51.

Schumann, R., als Mufilichriftiteller Nachfolger E. T. A. Hoffmanns 391 f.; dichterifche Kritik 392 ff., 397 ff. Ziel feiner Aaitation 394, empiriiche Aefthetif 396, Stil 392. Compofition von Solo-Bal- laden 453, von Chor-Balladen 456 f., „Paradies und Beri“ 458 f.

Schweiter, Anton, Compofition des Monodramas „Polyrena” 412 f.

Schweiz, Mufitpflege, 304 f., 368 f.

„Orpheus und Eurydike“ 25; | Seuße, Johann, Dresdner Dichter

Zur Begrüßung des Kaiſers

38, 40.

Matthias 14 f.; Am däniſchen Sodi, Carlo, ital. Mandolinen-

Hofe 27. Gelegenheits » Werke: | Hochzeitsgeſänge 14, 19, 20; |

Huldigung der Ichlefiichen Stände 15, 16; Kurfürftencollegtag in Mühlhauſen 15 f., 44: Tauf— geſänge 14: Trauergelänge 17, 28 (Mufitaliihe Erequien), 21, 22, 28 (Aria de vitae fuga- eitate), 23, 32 (auf Joh. Herm. Schein), 32 (auf oh. Georg 1).

Hiftorien, evangeliiche 51 ff.; Auferftchungs-d. 14,19: Baifion en

| | |

|

ipieler 163 f., feine Oper Il gio- catore (Serpilla et Baccocco) 153, 168.

Sonate, form berielben bei J. X. Reinken 113 f.

Sperontes, ſ. Joh. Sigism. Scholze.

Stochmann, Ernſt, Madrigaldichter 40, 67 f., 72.

Strunk, Delphin, Organift in Braun ſchweig 34.

Studenten, Orden im 18. Jahrhundert 206 f.; Gefang 261 ff., 273 f.;

Sefangvereine 318 f. Suite für Elavier, Berwandtichaft mit | der Bartationenform 114. | Tomaſchek, W. J. feine Compofition von Bürgers „Lenore* 424 f. Tonelli, Anna, ital. Opernfängerin 144, 147 f., 150, 165, 168. „Tre giorni son“, Canzonette in der | Dper La Bohemienne 159 ff. | unnel-Gefellfhaften, in Berlin 315, in Zeipzig 315 ff. | Vogler, ©. J., Einfluß auf Nägeli, Gersbach, Schnyder von Warten- fee 375 ff. | Volkslieder, Entftehungsproceh der: felben nachgewieſen 272 ff.; Shwä- biich-alemanniihe 374 f.; balla- diſche 408 f., 433 f. Volksiuffpiel, wieneriſches, Dich— tungen des Sperontes in ihm ver⸗ wendet 280 ff. Wagner, R., als Schriftiteller im Begenjag zu Schumann 393, 401. Wartenfee, Xaver Schnyder von, feine Stiftung für Wifjenfchaften und Künſte 365, 382; Lebend- erinnerungen 366 ff., fein Ent- widlungsgang 367 ff., Studien

im 19. Jahrh.

470

in Wien 370, GCompofitionen 373 ff.; volksthümliche Lieder 374 ff., Dper „Fortunat* 377; Lehrthätigkeit 378 ff. Allgemeine Charatteriftit 380 ff.

Weber, ©. M. von, Lieder für Männergelang 311 ff., für ge miſchte Stimmen 329 f.

Wehmann, Matthiad, Schüler von 9. Schü 38, 56.

Weife, Chriftian, ald deutiher Ma- drigalift 71, 102 ff., ein Gebicht von ihm in 3. S. Bachs Eom- pofition 106 ff.: Lied: „Sch bab ein Wort gerebt” 214 f. ,

wölfl, J., feine Compofition der Ballade „Die Geifter des Sees“ 425.

Bahariae, Friedr. Wilh., Gedicht „Der Befriedigte* 187 f.

Biegler, Caspar, feine Schrift von den Madrigalen 39, 64 ff.

Biegler, Mariane von, 250, 252 f.

Bumfteeg, 3. R., Balladencompoiition 415, Opernhaftes in ihr 413 ff., Situationsmalerei 421, Iyriiche Solojcenen 421 f., „Lenore“ 421, 423 f.; Stellung Yoewes zu 3.

Inhalt.

3 Seite Vorwort . . . u 117 Heinrich Schütz' * Werke Pe er Bee 1 Die Anfänge madrigaliiher Dichtung in Deutichland . u 61 Die mufifaliihe Societät und das Convivium muficale zu Mühlhaufen im XI. abrbunbert: u. = 0 = 7

—— 2) Die Arie „Ach, mein Sinn“ aus der Johannes-Paſſion 101

3) Umarbeitungen fremder Originale ou A 111 4) Der Tractat über = Generalbaf F. Niebts Rufe i 121

Ninaldo von Capua und feine 5 er Die i EEE. | Sperontes „Singende Mufe an der Pleiße“. ur Geihichte des deutfhen Hausgeſanges im achtzehnten Jahrhundert -. - . » . 175

——

Piererihe Hofbuhdbruderei. Stephan Geibel & Go. in Altenburg.

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Mus 78.19 Zur musik : Sechzehm aufsatae

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