Der neue STENZL

Julius Eduard Hitzig, Willibald Alexıs, Anton ...

HARVARD LAW LIBRARY.

Röceived We 7. 1908

Der Vene Ditaval.

Neue Serie. Dreiunbzwanzigfter Band.

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r Der

MWeue Pitaval.

Eine Sammlung

der intereſſanteſten Criminalgeſchichten aller Länder aus älterer und neuerer Beit.

Begründet vom Criminaldirector Dr. 3. €, Hitzig und

Dr. W. Gäring (W. Alexis). Fortgeſetzt von Dr. 9. Bollert.

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| nm Neue Serie. Dreiundzwanzigfter Band.

Reipzig: F. A. Brodhaus,

1889.

A⸗ Hepr 14 1303

Borwort.

An die Spike des im vorigen Jahre erjchienenen 22. Bandes unfers „Pitaval“ haben wir ven Proceß wider Johann von Wejel in Mainz wegen Keßerei gejtellt. Den diesjährigen Band eröffnen wir mit dem Proceffe gegen Johann Hus, den großen böhmischen Reformator. Gohann von Wefel, ein ſchwacher Greis, wiberrief feine der Fatholifchen Kirche anftögigen Lehrfüge und bat um Gnade; er wurde zu lebenslänglicher Einfperrung im Klojter zu Mainz verurtheilt. Johann Hus blieb ftand- haft, die Biſchöfe übergaben feine Seele dem Teufel, er aber „befahl fie in die Hände feines Heilandes Jeſu Ehrifti” und ftarb auf dem Scheiterhaufen „freudig, muthig, zuverfichtlih, wie nur einer der zahlreichen Märtyrer, die in den erften Zeiten des Chriſtenthums ihr chriftliches Befenntnig mit dem Tode befiegelt haben’.

Der Proceß gereicht dem Kaifer, der die Verurtheilung zuließ, troß des dem Hus zugeficherten freien Geleites, und gleichermaßen dem Concil von Koftnig zur höchiten Unehre. Die verderbte römische Kirche konnte fromme

VI Borwort.

Männer nicht mehr tragen, welche die Autorität des Wortes Gottes prebigten und fich allein auf die Gnade und das Verdienſt Jeſu Chriſti ſtützten. Auch dieſer Proceß iſt ein weltgeſchichtliches Zeugniß wider die Natur und die Praxis des römiſchen Stuhles und der Würden— träger der römiſchen Kirche.

Den Diebjtahl beim Handelsmann Scüller haben wir aufgenommen, weil darin die Anwendung der Folter genau befchrieben wird und ber Fall ein deutliches, freilich fehr unerfreuliches Bild des deutſchen Eriminal- proceffes in der Mitte des vorigen Jahrhunderts gibt. Bergleiht man die Zuftände vor hundert Jahren mit dem jett im Deutjchen Reiche geltenden Strafverfahren, jo wird man nicht in Abrebe ftellen können, daß ber Fortjchritt auf dieſem Gebiete ein ungeheuer großer ift.

Der Proceß wider den Dr. med. Floden wegen Vergiftung aus Fahrläffigfeit gehört der neueften Zeit an. Derſelbe hat vor zwei Jahren die Stadt Straßburg im Elfaß in hohem Grade bewegt und auf- geregt. Er ift der Nepräfentant einer ganzen Gattung, injofern es fih um einen „ärztlichen Kunftfehler” handelt und um die Frage, in welchem Maße der Arzt ftrafrecht- (ih für ein Verjehen die Verantwortung zu tragen hat.

Die BVermögensberaubung des Kaufmanns Sſolodownikow und Die Ermordung des Eollegien- aſſeſſors Tſchichatſchew find berühmte Criminalfälfe aus der Gefellichaft in Petersburg, Der Staatsrath

Borwort. VII

Anatole Fedorowitſch Koni, Oberprocureur des Cri— minal⸗Caſſations-Departements des ruſſiſchen Senats, derſelbe, den der Zar im vorigen Jahre nach Borki ent— ſendete, um die Unterſuchung wegen des dortigen Eiſen— bahnunglücks zu leiten, hat 1888 ein Werk in ruſſiſcher Sprache veröffentlicht: „Gerichtliche Reden von A. F. Koni.“ Es enthält 27 Criminalfälle, bei welchen der berühmte Juriſt thätig geweſen iſt. Mit Erlaubniß des Verfaſſers haben wir jenem Werke zwei dieſer Fälle entnommen, die für die ruſſiſchen Verhältniſſe und Anſchauungen be— zeichnend ſind und auch die gerichtliche Beredſamkeit in Rußland charakteriſiren.

Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham iſt ein unvergleichliches Stück aus der engliſchen Straf— rechtspflege, ein ſo bizarrer, man kann ſagen toller Proceß, wie er nur in England möglich iſt. Der Proceß wider den Tagelöhner Morand und Genoſſen wegen Mordes endlich beleuchtet die Mängel und Schwächen der franzöſiſchen Rechtspflege, insbeſondere die bedenk— lichen Strömungen, die ſich in den Sprüchen der Ge— ſchworenen in neuerer Zeit geltend machen.

Die beiden letzten Beiträge verdanken wir dem Herrn Generalconſul Dr. Meyer in Wien, der ein treuer Freund unſers Sammelwerkes geblieben iſt.

Gera, im November 1889. Dr. A. Vollert.

Vorwort

Johann Hus. Sein Proceß und ſein Tod. 1414 —1415...

Ein Diebſtahl beim Sara: Schüller i in ar beim in der Eifel. Mitte des vorigen Jahrhunderts

Der Broceß wider den Dr. med. Flocken wegen Per: giftung aus Fahrläffigkeit. Straßburg im Elſaß. 1887 und 1888. ;

Die Bermögensberaubung des Kaufınanne Sfolo- bomnifow. Petersburg. 1870. 1871.

Die Ermordung des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. Petersburg. 1873. 1874. . . . eg

Der Einbrud im Pfarrhofe von Eolingham. Raub und Mordverfuh. England. 1879—1889.

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. Mord. Joigny in Franfreih. 1888.

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Iohann Aus. (Sein Proceß und fein Top.)

1414—1415.

Der Proceß wider Johann Hus darf in der Reihe der kirchenhiſtoriſchen Procefje des „Pitaval“ nicht fehlen, denn jo befannt auch der tragiiche Tod des von jeiner Zeit mit gleicher Glut gehaften und geliebten Mannes auf dem Scheiterhaufen zu SKonftanz fein mag, jo unbefannt ijt das Detail des Verfahrens, das eine jo unvermuthete Wendung genommen bat: ein Günftling der Krone Böhmens, aber noch mehr der Mann, der wie fein anderer die Seelen feines czechiichen Volkes in feiner Hand hatte; ein Unterthan, der mit dem Kaiſer— wort fommt transire, stare, morari et redire libere, ein für das wahre Wohl der Kirche begeifterter Reformator wird von dem großen NReformconcil dem Tode über- geben; er ftirbt ihn freudig, muthig, zuverfichtlich, wie nur einer der Märtyrer, welche das Chriftenthum in jeinen beiten Zeiten hervorgebracht. Kann aber eine Er- örterung der für das Verſtändniß dieſes Procefjes noth— wendigen theologiihen und Firchenpolitifchen Vorfragen, fann eine Vorführung unmöglich geworvener Gemaltacte auf das Intereſſe eines weitern Leſerkreiſes Anfpruch

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2 Johann Hus.

erheben? Wir wagen ein Ja zur Antwort aus einem zwiefachen Gefichtspunfte.

Einmal möchte der Frühling der Zeit vor der Thür jein, da nach einem Ausipruc des Neſtors unter den Kirchenhiftorifern der Gegenwart die Kirchengejchichte Be— ftandtheil der allgemeinen Bildung werden wird, ſodann fönnte die Darftellung dieſes Procefjes an ihrem be: ſcheidenen Theile einen Sieg erftreiten helfen.

Der romantische Katholicismus der erjten Hälfte des Jahrhunderts, der von der Weberzeugung erfüllt war, daß die römische Kirche und der moderne Staat mit jeiner Glaubens- und Gewifjensfreiheit fich nicht auszu— Ichltegen brauchen wie Feuer und Waffer, ver das Gott- wohlgefällige auch des pofitiven Proteftantismus zu wür- digen verftand, ift dahin. Jeſuitenorden und römische Kirche find iventifch geworben, der Jeſuitenzögling Leo XIII., der fih in der Masfe des rejervirten und gewiegten Diplomaten gefällt, kann über die „fittenverberblichen und gemeinjchädlichen” Einwirkungen der „abjcheulichen Irr— lehren“ des Protejtantismus poltern, ein über drei Jahr- hunderte alter Kampf ift heftig aufs neue entbrannt. Rom meint fich jtark genug, die Gefchichte zu überwinden, und dennoch fürchtet e8 nichts fo fehr als die Geſchichte. Die Geihichte muß den Protejtanten lehren, daß der „Fels der Wahrheit” in allen Geiftesfämpfen die neuen Gedanken nie widerlegt, fondern immer nur vergewaltigt hat, die Geihichte muß den Protejtanten lehren, vie Macht und Lift Roms durch klare Einficht in diefe That- jache geijtig zu überwinden. Es handelt fich bei dieſem Unterricht in feiner Weife um plumpe, blinde Agitation, jondern um das Aufzeigen gejchichtlicher Wahrheiten.

Auch das ungerechte, Schmachvolle Verfahren des geift- lichen Gerichts wider Hus kann für die Rüftung, welche

Johann Hus. 3

gegen römiſche Anläufe zu wappnen vermag, vielleicht ein eines Waffenftüc liefern. Betreffs einer Darftellung der Stimmungen und Bewegungen des 15. Iahrhunderts im allgemeinen aber dürfen wir wol auf unfern Auf- jag über „Iohann von Weſel und feine Zeit” aus dem borjährigen Bande des „Pitaval“ verweijen.

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Johann Hus iſt im böhmischen Marktflecken Huſſinetz an der Blanitz am Fuße des Böhmermwaldes aller Wahr- iheinfichfeitt nach im Jahre 1369 geboren. Er war czechiicher Nationalität und ein Kind des DVolfes, doch waren feine eltern verhältnifmäßig wohlhabend Er war ein guter Sohn der Fire. Als er im Prager Subeljahr von 1393 in die Petersfirche auf vem Wyſchehrad zur Beichte ging, gab er dem Beichtvater feine letzten vier Groſchen und machte dann die vorgefchriebenen Pro- cejfionen mit, um des großen Ablafjes theilhaft zu werben. Do ging bis in fein Mannesalter neben folcher Devotion eine gewiſſe Neigung zu leerem Zeitvertreib, z. B. mit dem Schachipiel, her und eitle Vorliebe für Lurus in ber Kleidung, wie der gewifjenhafte, gegen fein Sch jo hart gewordene Mann fich fpäter einmal jelbftanklägerijch verlauten läßt. Hus ftudirte in Prag und fchlug bie afademifche Laufbahn ein. Auf der Leiter ver afademijchen Grade gelangte er vom Baccalaureus der freien Künite zum Baccalaureus der Theologie, dann zum Magifter der freien Künſte. Die vom hellſten Glanze der Wiffenjchaft und höchiten äußern Ehren umjtrahlte Würde eines theologischen Doctors erwarb er jedoch nicht. Im Jahre 1398, zwei Jahre nachdem er Magijter geworden, fing Hus an, philofophiihe DVorlefungen an der Univerfität

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4 Sobann Hus.

zu halten; jchon drei Jahre fpäter wurde er Dekan der philofophiichen Facultät, im vierten Jahre zum erſten mal Rector der Univerfitit ein deutlicher Beweis für bie Achtung, die er erworben. Bei feinen Studien war Hus bejeelt von einer veblichen Wahrheitsliebe; jagt er doch jelbjt in einem akademiſchen Acte, e8 jet ihm nicht um hartnädige Behauptung der einmal gefahten Anficht, jondern um die Wahrheit zu thun; er babe von der eriten Zeit feines Studiums an fich zur Kegel gemacht, jo oft er in irgendeinem Punkte eine richtigere Anficht vernehme, von feiner frühern Anficht freudig und demüthig abzugeben. „O die betrügen ſich“, heißt es in einer Predigt, „die vor dem Papfte nieverfallen und alles für gut halten, was er thut, wie ich e8 auch für gut hielt, als ich die Heilige Schrift und das Leben bes thenern Heilandes noch nicht kannte.“ Den ftärkiten Ein- fluß auf Hus gewann durch feine philofophifchen und theologischen Schriften der Engländer Wichf. Dieſer Einfluß ift fo bedeutend, daß Hus fat nichts Anderes ift al® der nad Böhmen verpflanzte Wichf, daß ganze Kapitel in Huffens Werfen, ja man kann fagen, ganze Werke faum etwas anderes find als Nachbildungen, Ab- ichriften aus Wiclif.

Wielif ift der hervorragendite Träger jener Reform: unternehmungen bes Mittelalters, die außerhalb des Rahmens derjenigen Reformationen jtehen, welche Hand in Hand mit der Großfirche unternommen wurden; man ſprach der Univerfalfirche die Kraft ab, fich aus fich felbit zu vegeneriren.

Im Jahre 1365 forderte die avignonenſiſche Curie den ihr unter Innocenz III. durch Johann Ohneland zu— gejtandenen Lehnszins von England aufs neue und zu— gleich die Nachzahlung der Rückſtände feit 33 Jahren.

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Der ritierliche, helvdenhafte Eduard III. und das Parla- ment von 1366 erklärten, weder König Johann noch irgendjemand anders habe das echt gehabt, das Reich oder die Nation ohne Zuftimmung der leßtern einer andern Macht zu unterwerfen. Urban V. mußte fich mit der Erfenntniß begnügen, einen politiichen Fehlzug gethan zu haben. Im diefer nationalen Angelegenheit ſtellte Johann Wiclif, Profeffor der Theologie zu Oxford, jeine Feder in den Dienft des Königs und der Nation. Im Jahre 1374 wurde er Mitglied einer Gefandtjchaft, die zu Brügge mit päpitlichen Delegirten über Leiftungen Englands an den Papft zu verhandeln hatte. Hier machte er Quellenjtudien zu dem ungeiftlichen Wejen, der Käuf— fichfeit, dem Hochmuth und der Heimtüde der Curie, immer fchärfer wurde von num an feine Oppofition, als Heilmittel für die verfeuchte Kirche empfahl er Armuth derfelben. Als erzwingbar aber rechtfertigt Wiclif die Armuth der Kirche mit folgenden Sätzen: Nicht Kaijer, nicht Papſt, ſondern Gott allein ift die Duelle alles Beſitzes. Er theilt denfelben an feine Gehorjamen aus, ſodaß aller menjchliche Befit fein dominium iſt, fondern nur ein ministerium. Wer durch Todſünde Gott um- gehorjam wird, verliert vor Gott fein Befitrecht. Aber es fann ihm fein Lehen auch rechtlich abgeiprochen werben, dem ſündigen Priefter durch König, Parlament, Concilien und Synoden. Denn über allen weltlichen Dingen, auch über den Temporalien der Kirche jteht die Königsgewalt, fie hat zu forgen, daß das der Kirche gejchenfte Gut den ihm zugedachten Zweck erreiche. So fünnen nicht blos weltliche Herren der Kirche ihre Temporalien nehmen, wenn diejelbe beharrlich fehlt, auch dürfen fie e8 nicht blos, ſondern fie find ſogar fittlich verpflichtet, dies zu thun. Es fchwebt Wiclif, wie jo manchen bedeutenden

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Kirchenlehrer vor ihm, das Ideal einer politia evan- gelica, eines „evangelifchen Staates“ vor, habens omnia in communi, mit Gütergemeinfchaft unter Ausjchluß jedes Sondereigend. Er warnt aber ausprüdlich vor Mis- brauch feiner Theorie vom Beſitzrecht. Dffenbar arbeitet in Wichif ſchon die moderne Staatsidee, die damals fich zu entwideln begann und befonvers in national gefinnten Männern zündete.

Auf Wichif’8 firchenpolitifche Periode folgt eine refor- matorifche Periode. Als die erjchredte Chriftenheit das Schaufpiel erlebte, daß zwei Stellvertreter Gottes die furchtbarjten Bannflüche widereinander jchleuberten, und in jede Stadt, jedes Dorf die Ziwietracht geworfen war, da ward die Bahn frei für Fühneres Vorwärts- ichreiten. Wiclif geht zu rüdhaltslofer Bekämpfung des Papſtthums über: der Papft ift der Antichrift. Mit der ganzen fittlichen Entrüftung des Chrijten und Patrioten, aber dennoch wilfenfchaftlich nobel ftellt er in der Streit- ihrift: „De Christo et suo adversario Antichristo“, die für die ganze Art feiner Polemik als typiſch gelten fann, zwölf Antithefen auf; die elfte fett Chriftum, ben prunflofen und bienjtbereiten, dem Papfte mit feinem prächtigen Hofſtaate entgegen, der ſelbſt vom Kaiſer Knechtspdienfte fordere. In der zwölften jagt er, Chriſtus habe Weltruhm und Geldgewinn verachtet, vom Bapfte jet alles käuflich. Daraus ergibt fih ver Schluß: Niemand joll dem Papſte folgen, joweit derſelbe nicht ſelbſt Jeſu Chriſto nachahmt, noch ſoll der Papſt über das hinaus Gehorſam fordern, was die Schrift ihrem hellen Sinne nach bezeugt. Denn wenn jemand irgendwelchem Chriſten weiter müßte folgen, könnte er leichtlich von Chriſti Fuß— ſtapfen abweichen. Dem Kampf gegen den Papſt tritt der Kampf gegen ſeine Vorfechter zur Seite, gegen die

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Bettelmönde. Aufbauende Arbeit aber that Wiclif in Predigt und Seeljorge, Bibelüberjegung und in der Er- richtung eines Wanderprediger-Inftitutd. Seine „armen Prieſter“ jollten in das geiftliche Arbeitsfeld der Bettel- mönche eintreten und unter freiern Formen eine Löſung der Aufgaben verfuchen, welche von diefen nicht erfüllt worden ivaren.

Wir brauchen auf Wielif's Lehre bier nicht des Nähern einzugehen, es find eine ganze Reihe Punkte des firhlichen Lehrſyſtems, die der doctor evangelicus von der Pofition der alleinigen Autorität des göttlichen Wortes ans angreift. Das ‚„Erpbebenconcil” von 1382 verdammte jeine Lehren, die Univerfität jchloß ihn aus, aber weder jeines geiftlichen Aıntes wagte man ihn zu berauben, noch gar zu ercommuniciren. Er ſtarb im Frieden jeiner Yandpfarre 1384. Welch ohnmächtige Rache, wenn 43 Jahre nachher noch feine Gebeine aus dem Grabe gerifjen und verbrannt wurden und die Ajche in fließendes Waſſer geworfen! Mächtiger lobte das euer, das ber gewaltige Mann, der die Regungen der englijchen Volks— jeele verftanden wie fein Zeitgenojje, für ein langes Jahr— hundert in feinem Vaterlande entfacht hatte. Längſt auch waren die Funken hinübergeflogen nach dem waldigen Böhmen und hatten der Wiclifie dort in Huffens Perſon die Strahlenfrone des Martyriums eingetragen.

Bedeutjam wurde für Johann Hus das Jahr 1402. Er empfing die Priejterweihe und wurde „Rector und Pfarrer” an der Bethlehemsfapelle, fein Amt bejtand nicht im Mefjelefen und jonjtigen pfarramtlichen Ge- ihäften, fondern in jonntäglicher czechijcher Predigt für das „gemeine Volk’; mit diefer Beitimmung war die Kaplansjtelle an Bethlehem fundirt worden. Mit dem Empfang der Priejterweihe ging eine Wandlung in Hus

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vor ſich, und durch den Predigtdienſt an der Gemeinde wurde er zu immer größerer Vertiefung in Gottes Wort veranlaßt; zudem lernte er um jene Zeit nach den philo- ſophiſchen Schriften Wiclif's auch die theologijchen kennen. Nunmehr erfcheint Hus in all feinem theologijchen und firchlichen Denken als eine gefchloffene, Klare Perjönlich- feit, die fich in allem Wejentlichen gleich bleibt. Er wurde der Mann, der die jocialen Wünfche, die Eirchlichen Reform— ideen, die nationalsczechifchen Gedanken feiner Lands— leute in gleich bedeutender Weiſe zu charaktervollem Aus- drud zu bringen verjtand.

Seine reformatorifhen Gedanken bewegen ich um die beiden Pole des „Geſetzes Chrijti“, d. h. des göttlichen Wortes, als einziger Glaubensnorm und ber wahren Kirche Chrifti, an deren Herftellung zu helfen das höchite Ziel feiner Arbeit und Kämpfe war. Aus dem eriten Grundfate folgt ihm ab, daß man Concilien und päpftlichen Bullen nur glauben kann, wenn fie etwas ausjprechen, was aus der Schrift geſchöpft oder mittelbar auf die Schrift gegründet if. Der Papſt und jeine Curie fann irren und irreleiten. Und die Mitgliedjchaft in der Kirche Chriftt ift nicht abhängig von der äußern Anerkennung durch die Hierarchie oder von der Zugehörig- feit zu diefer, jondern ausfchlieglich von der Erfüllung des göttlichen Geſetzes. Es kann jemand in der Kirche jein, äußere Mitgliedfchaft, ja felbit Aemter und Würden in derjelben haben, ohne doch von der Kirche zu fein; wer aber von der Kirche ift, wer gegen Gottes Gejet ſich nicht verhärtet, der ift auch in der Kirche. Wer nur in der Kirche tft, nicht aber von ihr, der gleicht der Spreu unter dem Korn auf der Tenne, dem Unkraut im Weizenader.

In feinen focialen Anfhauungen geht Hus wie

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Wichf von dem Gedanken, daß die ganze Meenjchheit einen großen Lehenscomplex bildet unter dem oberjten Lehnsherrn Gott, und von der Todfünde aus. Durch fie verliert fein geiftliches Amt und feinen weltlichen Befig, wer e8 auch fei, denn „feine weltliche oder geift- liche Herrichaft, fein Amt und feine Würde wird von Gott nicht gebilligt”. Diejenigen, „welche ihren Beſitz gegen göttliche8 Gebot verwalten und gebrauchen, haben fein Recht an dieſem Beſitz“; „der Beſitz irgenbeines Gutes von feiten eines Ungerechten und Gottloſen (tft) ein Diebitahl und ein Raub“.

Sn der praftifhen VBerwerthung feiner Ge- danken wurde Hus allmählich erſt ver Mann, der von jeinem Gewiſſen geprungen nach Reformationen jtrebt in DOppofition zu dem Firchlichen Regiment, das für den verwahrlojten Zuftand der Chriftenheit Fein Auge haben will. Anfänglich glaubte er, für und mit feinen Obern, was er für recht erfannt, in die Wirklichkeit einführen zu fünnen. Der Wenvdepunft in dieſem Verhalten wird durch das Jahr 1410 bezeichnet.

Im Jahre 1403 gelangte Dr. Sbynko von Hajen- burg auf den prager erzbiichöflichen Stuhl, ein Mann bon geringer theologijcher Erfenntnig, aber des erniten Vorjages, feine Geiftlichfeit in Zucht zu nehmen. Er beitellte Hus zum Shynodalprediger, und e8 waren ernjte Strafpredigten, die der Klerus feitvem bei Er- öffnung der böhmischen Provinzialconcilien zu hören be— fm. Hus ließ es nicht bei allgemeinen Vorftellungen bewenden, jondern nannte die Mängel beim rechten Namen und ſtellte fie anfchaulich dar, ſodaß Klerifer, welche fich getroffen fühlten, dem muthigen Manne begreiflicherweife todfeind wurden. Als ferner Wilsnad im Branden- burgiichen Wallfahrtsort für Tauſende und aber Taufende

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wurde, die dem heiligen Blute zuliefen an drei Hoſtien ſollte das Blut Chriſti ſinnlich ſichtbar geworden ſein —, unterſuchte Hus im Auftrage des Erzbiſchofs mit zwei Collegen eine Anzahl der Wunderheilungen, die daſelbſt ſollten bewirkt worden ſein, und als ſich dieſelben als nichtig herausgeſtellt, wurde für Böhmen das Laufen nach Wilsnack verboten. Hus ſchrieb zur Rechtfertigung des Verbotes die Abhandlung: „Daß alles Blut Chriſti verklärt ſei“ Es ſind noch andere Maßnahmen, die zur Beſſerung des kirchlichen Weſens in jenen Jahren im Sinne Huſſens vorgenommen wurden. Der Abweſenheit der Pfründeninhaber von ihren Gemeinden wurde ge— ſteuert, regelmäßige Viſitation eingeführt, dem Schenken— beſuch, dem leichtfertigen und unzüchtigen Leben vieler Kleriker nachdrücklich gewehrt. Huſſens Wiclifismus wurde in keiner Weiſe Gegenſtand der Erörterung; ein Verbot der Univerſität an die Docenten, gewiſſe Sätze Wielif's vorzutragen, wurde auf Huſſens Verwendung ſpäter ſogar dahin beſchränkt, jene Artikel nicht in einem irrigen Sinne vorzutragen oder zu vertheidigen.

Das Einvernehmen zwiſchen Sbynko und Hus wurde geſtört durch eine Beſchwerde der Diöceſangeiſt— lichkeit an den Erzbifchof, Hus habe bei feinen Predigten in der Bethlehemsfapelle die Geiftlichfeit vor dem Volke angefchwärzt, das Volk zu ihrer Verachtung und zum Haffe aufgeftachelt. Hus verantwortete fich zwar, aber wurde von Sbynko doch feines Amtes als Synodal- prebiger enthoben, bald darauf auch öffentlich durch erz= biichöflichen Anschlag an allen Kirchthüren als ungehor- jamer Sohn der Kirche getadelt und ihm die Ausübung jeines Priefteramtes unterjagt. Vollſtändig wurde der Bruch zwijchen beiden Männern durch die Verſchiedenheit ihrer Stellung gegenüber der Bapftipaltung. Als

Johann Hus. 11

nämlih das päpftliche Schisma dadurch befeitigt werben jollte, daß die Kardinäle zu Pija einen neuen Bapft wählen und Gregor XIL von Rom und Benebict XIII. von Avignon zur Abdanfung zwingen wollten, wünſchte die Krone Böhmen wie andere Staaten die Neuwahl zu fördern durch Erklärung ihrer Neutralität gegenüber ben beiden Päpften. Der Erzbifchof mit feinem Klerus, zur Aeußerung aufgefordert, meinte von Gregor nicht abgehen zu fönnen, an ber Univerfität waren die bairifche, polnijche und ſächſiſche „Nation“ derſelben Anficht, die böhmifche aber willfahrtete vem König unter tem maßgebenden Ein- fuffe von Hus. Diefe firchenpolitiihe Spannung wurde verichärft Durch das mächtig gewordene nationale Sonder- gefühl der Böhmen gegenüber ven Deutjchen, und obgleich ber König anfänglich noch nach jenen Verhandlungen bie Deutjchen feiner Geneigtheit verfichert, wechjelte feine Stimmung doch bald, und er decretirte zu Anfang des Jahres 1409 im Sinne der Gzechen, daß fortan bei allen Wahlen und Handlungen der Univerfität Prag von den abzugebenven vier Stimmen nicht mehr jede Nation eine haben folle, jondern die Böhmen deren drei, aljo die Baiern, Polen und Sachſen zuſammen nur eine, Bier Tage darauf folgte das Mandat, wonach niemand im Königreich, weder geiftlichen noch weltlichen Standes, von jett an Gregor XII. als Papft anerfennen und ihm Gehorſam leiften dürfe. Die befannte Folge jenes könig— lichen Decret8S war die Auswanderung der beutjchen Doctoren, Meagifter und Studenten aus Prag, die der Mehrzahl nach die Univerfität Leipzig gründeten. In Prag wurde Hus der erfte Nector der umgeftalteten Univerfität und ein öffentlicher Charakter, der Huffitismus erhielt die Oberhand in ganz Böhmen. Er wird charaf- terifirt durch den Zug nach innerfirchlicher Reform auf

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Grund des göttlichen Wortes, das Verlangen nach Befferung der focialen Berhältniffe durch Einziehung des Kirchenguts, und durch die kraftvolle Geltendmachung nationaler Sonderideen. Hus ftand auf der Höhe jeines Lebens, er genoß die Gunſt des Hofes, die Königin hörte ihn gern predigen, und war vor allem der Mann des Volkes.

Der erbitterte Erzbifchof legte feine Gegenminen. Es ging eine öffentlihe Rüge wider die Stellung ber Magiſter der böhmifchen Nation in der PBapitfrage aus, Hus war darin mit Namen genannt. Hus antivortete mit einem Tadel des Erzbifchofs, daß derjelbe Gregor XII. doch jchlieglich verlaffen und dem neugewählten Alexander V. jeine Dbedienz erflärt habe. Dann beauftragte Sbynko jeinen Inguifitor, Hus wegen vorgetragener Irrlehren und aufreizender Predigten aufs Korn zu nehmen, und Alerander V. wurde, wie Hus behauptete, bejtochen, in einer Bulle ven Erzbifchof anzumeijen, daß er gegen die Verbreitung von Irrlehren einfchreite, Widerruf der— jelben und Ablieferung Wiclif’fcher Schriften erzwinge, auch das Predigen an Orten, wo es nicht altherfömmlich, unterjage.

Die Broclamationder Bulle am 9. März 1410 und die Berbrennung von über 200 Bänden Wiclif’fcher Schriften bei Glodengeläute und Tedeum-Geſang ent- fejjelte eine VBolfsbewegung, die dem Erzbifchof die Popu- larität Huffens und feine eigene Unbeliebtheit aufs klarſte darthun mußte. Die Studenten und das Volk ergingen jih in Gaſſenhauern:

Sbynjek, Biihof, U B E- Schüler, bat Bücher verbrannt, weiß nicht, was darin ftebt!

oder:

Johann Hus. 13

Shynjef bat Bücher verbrannt, Zdenjef hat fie angezündet, zur Schande der Czechen. Wehe allen treulojen Pfaffen!

Es kam auch zu Thätlichfeiten von beiden Geiten. Der Erzbifchof aber ging noch weiter und fprach über Hus und alle, die mit ihm wider die Ausführung ber Bulle an den beffer zu unterrichtenden Papft appellirt hatten oder fich der Appellation noch anfchliegen würden, ven Bann aus. Hus blieb jedoch getroft, die Stabt- behörden, mehrere Barone des Landes, ja felbit König und Königin verwendeten fich für ihn. Er predigte nach wie vor in feiner Bethlehemsfapelfe vor vielen Zuhörern. Dabei ftreifte er auch die Zeitfragen, und es kam zwijchen Prediger und Gemeinde zu beftärfender Nede und Gegen- rede. Wir hören ihn ausrufen: „Siehe der Papſt jchreibt, es gebe viele unter und, deren Herzen der Ketzerei voll ſeien. Ich aber fage und danke Gott, daß ich feinen feterifchen Böhmen kenne.“ Und das ganze Volf ant- wortet mit dem Rufe: „Er lügt, er Lüge!” (nämlich ber Papſt). Hus fpricht weiter: „Ich habe gegen bie Befehle des Erzbifchofs appellirt und appellire fortan: wollt ihr euch mir auch anſchließen?“ Die Antwort lautet: „Das wollen wir, wir Schließen uns an!‘ „Fürchtet die Ercommunication nicht”, fährt der Prediger fort, „ihr habt mit mir nah Brauch und Gewohnheit der Kirche appellirt!“ Ja, er wirft die Worte in das Volk hinein: „Es wäre wahrhaftig nothiwendig, daß wir, wie e8 im Alten Bunde durh Mofen befohlen war, uns mit dem Schwert umgürteten und Gottes Geſetz vertheidigten!” Sbynko fchritt zwar, weil er auch den auf Alexander V. gefolgten Sohann XXIII. für fich gewonnen, bis zum

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Interdiet über die Stadt Prag fort, aber die Ohn— macht der Hierarchie wurde nur um fo offenkundiger. Ein endlicher Einlenfungsverjuch fam, weil Sbynko darüber ftarb, nicht zur Perfection, doch Tegte fi) der Sturm damit für einige Zeit. Der Angelpunft des Conflicts it Huffens Wiclifie gewefen.

Bald genug aber fam e8 zu neuen Reibungen zwiichen den Wichifiten und der Hierarchie. Der Papft Johann XXIL. rief 1411 die Chriftenheit zu einem Kreuzzuge gegen König Ladislaus von Neapel auf, weil er von Gregor XII. nicht laſſen wollte. Die Theil— nehmer und Förderer des Krieges follten deſſelben Ab- lajjes theilhaft werden, wie er den Kreuzfahrern ing Heilige Land einft gejchenkt worden ſei. Hus und feine Partei erklärte fich gegen den Kreuzzug und Ablaß-Unfug in Schrift und Predigt und auf dem Katheder. Bei einer großen Disputation an der Univerfität feierte Huſſens Freund Hieronymus von Prag einen glänzenden Sieg. Er begeijterte die Studenten dermaßen, daß fie vom Rector, der ven Vorſitz führte, kaum bejchwichtigt werden fonnten; nach dem Acte geleiteten fie Hieronymus und Hus feier- ih nah Haufe. Ein bei Hofe angejehener Edelmann aber veranftaltete einen den Papſt bejehimpfenden Auf- zug. Man führte öffentliche Dirnen mit den päpftlichen Bullen am Halje auf einem Wagen durch die Stadt,

Herolde worauf und umgeben von Wiclifiten in großer Zahl, die mit Schwertern und Knütteln gerüftet waren. Sodann wurden die Bullen öffentlich verbrannt. In biefer neuen Phaſe des Streited ging eine Scheidung innerhalb der huffitiichen Partei vor fich, eine Anzahl bis— beriger Freunde von Hus ftanden till und wurden fogar jeine Feinde. Hus verhöhnte fie daher als „Krebſe“. Der Papft dagegen ließ den über Hus und feine An-

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hänger verhängten Kirchenbann in allen Kirchen Prags verkündigen. Wenn Hus nicht Buße thue, ſolle ihm niemand Speiſe und Trank, Gruß und Herberge ge— währen. Jeder Ort, wo er weile, ſolle unter dem Inter— dict ftehen. Die Ausführung des Interdicts in Prag hatte eine fo große Aufregung im Gefolge, daß König Wenzel Hus aufforderte, auf eine Weile freiwillig ins Eril zu gehen, er wolle feine Ausſöhnung mit der Geijt- fichfeit vermitteln.

Hus verlief die Stadt im December 1412, nachdem er in einer Denfjchrift vom Papfte an ben oberjten Kichter Jeſum Chriſtum appellirt hatte. Es heißt darin: Wenn e8 Anordnung aller alten Rechte fei, des göttlichen beider Teſtamente und des Fanonifchen, daß die Richter fih an den Thatort zu begeben hätten, um daſelbſt über das dem Angeklagten oder Verdächtigten vorgerücdte Ver- brechen Leute zu befragen, die ven Angeklagten kennen und nicht feine Nebenbuhler und Feinde find, und wenn der Angeklagte fichern Zutritt haben und der Richter mit ben Zeugen nicht fein Feind fein dürfe: fo ſei er offenbar vor Gott feiner Widerjpenftigfeit und Ex— commumication entjchuldigt, denn dieſe Bedingungen träfen bei ihm nicht zu. Er richte dieſe Appellation an ven Herrn Jeſum Chriftum, den gerechteften Richter, der jedes Menſchen gerechte Sache kenne, ſchütze und richte, an den Tag bringe und ohne Möglichkeit einer Entkräftung be— lohne. Hus hielt fich meist in zwei Burgen der Um— gegend auf, predigte vor den Scharen, die ihm zuſtrömten, trat auch hin und her als Neijeprediger auf, jchrieb feine Hauptichrift „Won der Kirche” und ftärkte feine prager Freunde durch tröftliche, zuwerfichtliche Briefe. „Ich bitte euch”, jchreibt er einmal, „daß ihr erftlich die Sache Gottes erwägt, der großes Unrecht gejchieht; denn e8 wollen

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gewiſſe Leute Sein heiliges Wort unterbrüden, ein für das Wort Gottes nützliches Heiligthum (die Bethlehems- fapelle) zerftören und die Menfchen jo vom Heile fern— halten. Erwäget ſodann die Schmach eures Vaterlandes und eures Stammes, eriwäget drittens vornehmlich ben Schimpf und das Unrecht, das man euch ungerechterweife zufügt. Erwäget viertens und tragt es mit Gleichmuth, daß der Teufel gegen euch wüthet und der Antichrift die Zähne fletfcht; doch wird er wie der Hund an ber Fette euch nichts fchaden, wenn ihr Liebhaber der göttlichen Wahrheit ſeid!“

Huffens Eril hat eine doppelte Bedeutung, einmal verbreiteten fich nun feine Anfchauungen nur um jo weiter, und ſodann löſte fich in Prag feine Suche von feiner Perfon; e8 wurde Far, daß fie auch unabhängig von ihm lebensfähig geworden fei. Die unermüblichen Schritte des Königs aber, den großen Conflict zu vergleichen, blieben ohne Erfolg, die beiden Parteien waren ſchon viel zu weit auseinander. Da fam die Sache Hufjens uner- warteterweije auf die Tagesordnung des üfumenijchen Concils von Konſtanz. Sigismund, König von Ungarn und römijcher König, mochte der Meinung fein, daß über die angeblichen Keßereien in Böhmen, auf die nachgerade von allen Seiten mit Fingern gewiefen wurde, das Concil, das fein Werk war, jehr gut mit befinden könne. Und Hus ging auf Sigismund’s Anerbieten auf bereitwilligite ein. Wünſchte er doch nichts jehnlicher, als fich öffent- (ih und volljtändig vwertheidigen zu fünnen. Der König jicherte ihm freies Geleit zu. |

Hus beftellte für alle Fälle fein Haug und nahm in einem bebeutjamen Briefe von feinen böhmischen Freunden Abſchied. „Betet eifrig‘, heißt e8 darin, „geliebte Brüder, geliebte Schweitern, dag Chriftus mir Bejtändigfeit geben

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und mich vor einem Makel bewahren wolle. Und wenn mein Tod zu Seinem Ruhm und eurem Nutzen etwas beiträgt, ſo wolle er mich ihn ohne verwerfliche Furcht ſterben laſſen. Wenn es uns aber mehr nützt, wolle er mich euch zurückgeben und ohne Makel hin- und zurück— führen, damit wir fernerhin vereint Sein Geſetz lernen und des Antichriſts Netz einigermaßen zerreißen und den künftigen Brüdern ein gutes Vorbild laſſen. Vielleicht ſeht ihr mich zu Prag vor meinem Tode nicht wieder; wenn aber der ſtarke Gott mich euch zurückgeben will, ſo wollen wir uns gegenſeitig um ſo fröhlicher wieder— ſehen; auf alle Fälle aber, wenn wir uns in der himm— liſchen Freude zuſammenfinden.“ Im Auftrage Sigis— mund's geleiteten Hus zwei böhmiſche Barone, Wenzel von Duba auf Leſtna und Johann von Chlum, genannt Kepka. Der dritte beſtellte Heinrich von Chlum auf Latzenbock, ſtieß erſt in Konſtanz zu ihnen. Von gelehrten Freunden reiſte mit ihm beſonders Peter von Mladeno— witz, der über die Reiſe und den Proceß Tagebuch geführt und die einſchlägigen Urkunden geſammelt hat. Er iſt unſer Hauptgewährsmann für die folgende Darſtellung.

Am 11. October nahm die Reiſe ihren Anfang. Sie führte über Weiden, Sulzbach zunächit nach Nürnberg. Dort hatten voraufziehende Kaufleute Hufjens Ankunft an— gejagt, darum jtand das Volk auf den Straßen, gaffend und fragend, welcher der Hus ſei. In den folgenden Städten that die Borläuferdienfte der Biſchof von Lübeck, der in Tagemarfchweite vorausreifte und ausfprengte, daß man Hus auf einem Wagen in Ketten geführt bringe; jo lief man ſcharenweiſe wie zu einem Schaufpiel ent-

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gegen, wenn die Böhmen nahten. Ueberall wurde der Mann, deſſen Namen in aller Munde war, gut auf- genommen, ja geehrt; ſodaß feine vorgefaßte Meinung vom Haffe der Deutjchen gegen ihn feit der Katajtrophe an der prager Univerfität durch die Thatjachen jelbit corrigirt wurde. „Wiſſet auch”, jchreibt er an feine böhmischen Freunde von Nürnberg aus, „daß ich bisher feinen Feind gemerkt habe.“ „Alſo befenne ich, daß die Feindſchaft wider mich von feiner Seite größer iſt als von den Einwohnern des Reiches Böhmen.“ In Nürn- berg und andern Städten ließ er deutjche und Tateinifche Anschläge an den Kirchthüren machen, worin er kund— that, daß er nach Konftanz reife, um von dem Glauben Rechenschaft zu geben, ven er bisher gehabt, noch habe und bis zum Tode mit Chrifti Hülfe behalten werde. Wer ihn eines Irrthums oder einer Ketzerei bezichtigen wolle, möge died vor dem Concil thun, dort fei ev bereit, Rede zu jtehen. Es fanden Unterredungen mit Geiftlichen und Gelehrten ftatt, Hus redete auch zu dem Bolfe, und es war „dankbar, wenn e8 die Wahrheit hörte”. So war neben der Neugier an Huffens Perfon ein Intereffe an jeiner Sache unverkennbar. Bon Nürnberg reifte Herr Wenzel von Duba dem Könige an den Rhein nach, um den verfprochenen Geleitsbrief für Hus in Empfang zu nehmen, während dieſer mit Sohann von Chlum bivect nah Konftanz fich wendete. Die Ankunft in Konftanz erfolgte am 3. November, Hus nahm Quartier in ber Paulsgaffe bei einer guten Frau, der Witwe Fida, in dev Nähe der päpftlichen Herberge. Am 5. November traf Wenzel von Duba ein mit dem zu Speier am 18. October ausgefertigten Geleitsbrief. Durch benjelben nahm Sigismund den zum Goncil reijenden Magijter Hus in der bei folchen Urkunden gewöhnlichen Form in

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feinen und des Heiligen Römifchen Reiches Schuß und befahl allen Reichsangehörigen, ihn freundlich aufzu- nehmen, gut zu behandeln und ungehindert hin- und zurückpaſſiren zu lafjen.

Huſſens Gegner hatten ihre Arbeit wider ven Ber: haften längft begonnen. Noch in Böhmen hatte man acht Belaftungszeugen eidlich zu Protokoll vernommen, die über ketzeriſche Säte des Magifters in Gefprächen und Predigten Ausfage thaten. Hus befam jedoch nicht blos Kunde davon, fondern ſelbſt eine Abjchrift des Schrift: jtüdes von der Hand des Notars, der die Zeugen ver- bört hatte. Er ftellte die Ausfagen durch Interlinear- bemerfungen und Zufäte zurecht: „Gott hat mir beſchieden, baß ich die Feinde kennen lerne und ihre Lügen wider: lege.” In RKonftanz waren beſonders Michael von Deutſchbrod und Stephan von Paletz gegen ihn thätig. Michael war ehemals Pfarrer von St.-Adalbert in Prag und fürzlich vom Papſte zu dem wichtigen Anıte eines Sachwalters in Glaubensjachen (procurator de causis fidei) ernannt worden. Paletz war ein einjtiger Jugendfreund und Gefinnungsgenoffe von Hus, erit 1412 wurde er fein Gegner. Michael de causis, wie man ihn zu nennen pflegte, fing gleich am Tage nach Huſſens Ankunft an, Plakate an die Kirchthüren anheften zu laſſen „wider den ercommunicirten, hartnädigen, der Ketzerei verdächtigen Sohann Hus“. Er that es mit Lärm und öffentlichen Aufjehen. Später vereinigte er fich mit Paletz; jie nahmen mehrfache Zufammenftellungen gegen Hus gerichteter Artikel vor, die theilweife aus deſſen Schrift „Von der Kirche‘ gezogen fein jollten, und eilten von einem Prälaten zum andern, um Hus anzujchtwärzen und feine Gefangennehmung auszuwirken. Hus felbit verhielt fich diefen Umtrieben gegenüber ruhig und würdig.

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Am 4. November begaben ſich die beiden Herren von Chlum zu Johann XXIII., um ihm Huſſens Ankunft zu melden und ihn um ſeine Hülfe zu bitten, daß Hus nicht beeinträchtigt werde. Der Papſt antwortete, das wolle er weder ſelber, noch wolle er geſtatten, daß es geſchehe, auch wenn Hus ihm den leiblichen Bruder getödtet hätte. Gegen die öffentlichen Anſchläge aber wollte er nichts thun: „Wie könnte ich das? Gehen ſie doch von euren eigenen Leuten aus!“ Gemäß weiterer Abmachungen that auch Hus nichts dagegen, der Papſt aber ſuspendirte das Interdiet und den über Hus verhängten Bann. Hus konnte die Stadt und ihre Kirchen frei beſuchen, nur ſollte er nicht dem Hochamt beiwohnen, um jeden Anſtoß zu vermeiden. Doch machte Hus von dieſer Erlaubniß keinen Gebrauch. Er blieb ſtets zu Hauſe, mit Ent— würfen zu Vorträgen vor dem Coneil beſchäftigt.

Da wurde am 28. November Hus plötzlich ver— haftet. Man hatte das Gerücht verbreitet, der Ketzer habe aus der Stadt zu entweichen verſucht; es war zwar unzweifelhaft falſch und baſirte auf einem höchſt harm— loſen Vorkommniß die auf den Heueinkauf ausziehenden Knechte der Böhmen hatten anfänglich die Plane des Wagens nicht abgenommen —, aber es wurde Veran— laſſung für einen großen Gewaltact. In der Mittags— ſtunde des genannten Tages ſchickten der Papſt und die Cardinäle die Biſchöfe von Augsburg und Trient, den Bürgermeifter von Konftanz und einen Herrn Hans von Baden in Huffens Herberge, um ven Magifter zu holen. Er habe früher gewünjcht, zu ihnen zu reden, fie jeten nunmehr bereit, ihn zu hören. Da ſtand zuerjt Johann von Chlum vom Tijche auf und fprach mit großer Heftig- feit, denn er ahnte die wahre Abficht der Gejandtichaft, Hus jtehe in des Kaiſers Schuß, und er fei vor Sigis-

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mund für die perfönliche Sicherheit Huſſens verantwortlich. Es ſei des Kaiſers erflärter Wille, daß vor feiner An- funft in Konſtanz in Huffens Sache nichts vorgenommen werde. Er warne die Gefandten, der Ehre des Königs zu nabe zu treten. Der Bilchof von Trient entgegnete, man ſei einzig in frieblicher Abficht hergefommen und wünsche alles Aufjehen zu vermeiden. Da ftand auch Hus vom Tifche auf und erklärte: „Sch bin zwar nicht nur zu den Garbinälen hierher gefommen und habe niemals begehrt, zu ihnen allein zu reden, fondern zum ganzen Concil bin ich gefommen und will bort reden, was Gott mir gibt und worum man mich fragt; aber dennoch bin ich auf die Bitte der Herren Garbinäle bereit, jofort zu ihnen zu fommen, und wenn ich über etivas befragt werde, hoffe ich Lieber den Tod wählen zu wollen, ehe ich die mir aus der Schrift oder fonjtwie erkannte Wahrheit verleugne.” Darauf erneuerten die Gefandten ihre Bitte freundlich, aber fie hatten doch das Haus und die Nachbarfchaft mit ſtädtiſchem Kriegsvolk bejegt. Als Hus die Treppe herabitieg, eilte ihm feine Wirthin weinend entgegen, er jegnete fie zum Abſchied, dann ritt er mit der Gejandtihaft und Johann von Chlum nad dem biihöflichen Palais, wo der Papſt feine Wohnung hatte.

Es empfingen ihn die verfammtelten Carvinäle und ſprachen: „Magiſter Iohannes, Vieles und Wunder- liche8 jagt man von Euch, daß Ihr viele Irrthümer hegt und im Reiche Böhmen verbreitet habt; deswegen haben wir Euch rufen lafjen, um mit Euch zu reden, ob dem alfo ſei.“ Hus erwiderte, er wolle lieber jterben, als an einem Irrthum fejthalten; ſobald man ihm einen Irrthum nachweiſe, ſei er in Demuth bereit, ihn abzu— legen. Die VBerfammlung erklärte dazu ihre Befriedigung und verließ dann den Saal, Hus blieb mit feinem Be-

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ſchützer unter militäriſcher Bedeckung allein. Um 4 Uhr des Nachmittags verſammelten ſich die Cardinäle aber— mals in der Wohnung des Papſtes, um über Hus einen Beſchluß zu faſſen. Es waren auch die Böhmen dabei, von der einen Seite beſonders Michael und Paletz, aber auch Freunde des Angeklagten. Erſtere boten neuerdings alles auf, um einen Rückſchritt unmöglich zu machen, und gaben ſich keine Mühe, die Schadenfreude über ihre Er— folge zu verbergen. Hüpfend vor Freude riefen ſie aus: „Ha, ha! nun haben wir ihn; er wird uns nicht ent— gehen, bis er den letzten Heller bezahlt“ (Matth. 5, 26). Als es ſchon ſpät geworden war, erſchien der päpſtliche Haushofmeiſter vor Chlum und Hus mit dem Beſchluſſe, Chlum könne gehen, Hus aber müſſe dableiben. Da eilte der Ritter in höchſter Entrüſtung, daß man unter dem Vorwand einer gütlichen Conferenz den Magiſter gefangen genommen, alſogleich zum Papſte, den er noch in der Verſammlung antraf. Er warf dem Papſte mit dürren Worten Wortbrüchigkeit vor, er wolle ſeine Stimme laut erheben wider alle, welche die königlichen Briefe gebrochen. Der Papſt jedoch rief die Cardinäle zu Zeugen auf, daß er nimmermehr Hus habe gefangen nehmen laffen, und Iprach jpäter zu Chlum unter vier Augen: „Ihr wißt ja, wie ich mit den Cardinälen ftehe; die haben mir ven Gefangenen aufgebrungen, ich mußte ihn übernehmen.’ Daran ift richtig, daß in der That fchon des Papftes Tiara ind Wanfen gefommen war, je länger je mehr gewann die Anficht Boden, daß zum Beſten des Friedens und der Einheit der Kirche alle drei ſchismatiſche Päpite zur Nieverlegung ihrer Würde bewogen werben müßten, alfo auch Johann XXIII., der das Concil zu leiten gefommen war. Db aber in Sachen ver böhmischen Keteret Differenzen zwifchen dem Papſte und feinen Cardinälen

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beſtanden, bleibt zweifelhaft. Hus wurde noch am ſelben Abend in das Haus eines Domherrn von Konſtanz ge— bracht und acht Tage lang von Bewaffneten gehütet. Am 6. December wurde er in das Dominicanerkloſter übergeführt, das auf einer Infel im Bodenſee dicht bei der Stadt lag. Ein finfterer, an eine Kloafe jtoßender Kerker nahm ihn auf, fo ungefund, daß er darin nach einigen Wochen erfranfte.

Johann von Chlum ftritt ritterlich für die Freiheit feines Schüglingse. Er beflagte fich öffentlich über den Papjt und die Cardinäle und wies den föniglichen Geleits- brief Grafen und Herren, Biſchöfen des Concils, auch anjehnlichen Bürgern der Stadt vor. Sodann protejtirte er jchriftlich durch Anjchläge an den Kirchthüren, die ev eigenhändig bejorgte. Man gab auch dem heranreijenden König Nachricht von dem Schickſal Huffens, und der flammte auf, gab Befehl, Hus in Freiheit zu jegen, und drohte, die Thür feines Gefängniffes mit Gewalt erbrechen zu laſſen. Doc wir werden jehen, daß Sigismund's That— kraft fich in folchen Aeußerungen erjchöpfte, zu burch- greifendem Wollen für feine und bes Reiches Ehre gegenüber dem Lügnerifchen Concil fonnte er fich nicht aufraffen.

Endlih in der Chriftnacht, den 25. December jpät nach Mitternacht, hielt König Sigismund mit feiner Gemahlin Barbara von Eilfey, vielen fürftlichen Herren und Frauen und einem glänzenden Gefolge von etwa taufend Berittenen, bei hellem Fadelfchein und ſchneidender Kälte, feinen fejtlichen Einzug in Konſtanz. Er gönnte der Königin und den vornehmen Damen faum mehr als die Zeit, fich in geheizten Zimmern von der Reiſe zu erwärmen und ihren Anzug zu wechjeln; dann begab er ih noch vor Anbruh des Tages in feierlichem Zuge

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unter Fadelichein in die helferleuchtete Kathedrale, wo der PBapft ihn empfing, der das Hochamt mit ungewöhn- licher Pracht perfünlich feierte. Nach althergebrachter Sitte diente der römiſche König dabei, als Diafonus gekleidet, mit der Krone auf dem Haupte, am Altar und fang mit EHangvoller Stimme das Evangelium: „Es ging ein Befehl vom Kaifer aus.” Nach der Mefje übergab ihm der Bapft ein geweihtes Schwert mit dem Bedeuten, e8 zum Schirm der Kirche zu gebrauchen: was Sigis— mund mit freudiger Bereitwilligfeit zujagte,

Die Eoncilsverhandlungen nach den Feiertagen betrafen Hus und feine Gefangenschaft. Sigismund ging mehreremale erzürnt aus der Sitzung weg, ja verließ jogar einmal die Stadt. Aber die verfammelten Väter jetten feinem Recht, einem Unterthanei feinen Schuß zu gewähren, ihr Necht entgegen, einen ver Ketzerei Ber- bächtigen nach den bejtehenven Kirchengejegen zu richten, und als er die Stadt verlaffen, Tiefen fie durch eine Gejandtichaft anfragen, wozu denn das Concil da wäre, wenn er nicht geftatten wolle, daß es feine gejetliche Wirkffamfeit entfalte. Es bleibe ihm nichts übrig als auseinanderzugehen. Der jchwahe Mann wagte nicht geltend zu machen, daß er nicht die Zuftändigfeit der Väter, über Hus zu befinden, bezweifle, wohl aber bie Ehrlichfeit ihres Verfahrens. Somit ließ er feit dem 1. Januar 1415 dem Proceß gegen Hus feinen Lauf, auch tröftete er fich mit der Autorität der geltend ge— machten Meinung, daß da nach göttlichem und menjch- lihem Rechte fein zum Nachtheil des katholiſchen Glaubens gegebenes Verſprechen gültig jein könne, er auch nicht ver- pflichtet jei, das einem Keter gegebene Wort zu halten. Somit war des Magifters Tod im Grunde fchon befiegelt, denn bie Väter veritanden e8 weder, noch waren fie willeng,

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mit ihm wirklich zu verhandeln, fie liefen fich genügen, ftarf genug zu fein, ihn zu verdammen.

Am 4. December 1414 hatte der Papft zur Vor— unterfuhung über Hus einen Ausſchuß von drei Biſchöfen beftellt. Sie follten alle Mafregeln ergreifen, die fie zur Ermittelung und Sicherftellung der Wahrheit binfichtlich der gegen Hus erhobenen Beichuldigungen für nöthig erachten würden; das Endurtheil wurde ihnen ansdrüdlih nicht anheimgeftellt. Die Commiffion hielt die üblichen Rechtsformen inne. Weil ein Inquiſit die Zeugen, die in feiner Sache deponiren follten, mußte ſchwören fehen, fo führte man fie Hus im Gefängniß zu, einmal nicht weniger als 15 an einem Tage, un— geachtet eben damals Hus fo krank war, daß für fein veben zu fürchten war. Der Angeflagte bat um einen Anwalt zu feiner Vertheidigung und um gegen die Zu: afjung von perfönlichen Feinden zur Zeugenjchaft Ein- wand zu erheben. Man wies aber das Verlangen eines Rechtsbeiſtandes für einen der Ketzerei Verdächtigen ſchließlich als ungefeglih ab, obgleih man anfänglich demſelben nachlommen zu wollen erklärt hatte.

Weiter Tegte die Commiffion dem Angeklagten fein Buch „Von der Kirche” vor, damit er die Autorjchaft anerfenne. Sodann z0g Stephan von Paletz aus dem— ſelben 37 irrige Lehrfäte aus und nahm in‘ weitern d Artikeln Bezug auf andere Lehr» und Streitjchriften, auf verwerfliche Predigten, Briefe und andere Neuferungen des Inquifiten. Diefe Anktlagejchrift wurde Hus zu: geitelft, als er fich von feiner Krankheit mit Hülfe der päpftlichen Leibärzte und in einem gefündern Gelaß des Kofters einigermaßen erholt hatte. Er gab feine Verant- wortung fchriftlich. Er führt die ihm ſchuld gegebenen Punkte der Reihe nach buchjtäblich auf und knüpft an jeden feine

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Beleuchtung. Bon vielen Artifeln beweiſt er, daß jie unrichtig aufgefaßt, verftümmelt und aus dem Zuſammen— hang geriffen jeien, aljo einen andern Sinn gäben, als er für fie vermeint gewefen. Von den Artikeln, die er anerfennt, beweift er, daß die angeblichen Irrlehren viels mehr Wahrheiten feien, indem er fie aus der Schrift, auch wol aus den Kirchenvätern begründet. Hus hält jeine von uns oben entwidelten Gebanfen über die wahre Kirche Chrifti voll und ganz aufrecht.

Die erhobene Anklage noch auf einen weitern An— flagepunft zu erjtreden, gejtattete eine bei Hufjens Anhängern in Böhmen inzwilchen eingetretene Cultus— veränderung. Magifter Jakob von Mies, das Haupt der böhmischen Reformer nach Hufjens Abreife, hatte be- gonnen, die Rückkehr zum Abenpmahlsgenuß unter beiderlei Geſtalt für die Laien nicht blos theoretifch zu fordern, jondern thatjächlich einzuführen. Allein die Huffiten waren jich über diefe Art ver Abenpmahlsfeier, die das Sinn- bild ihrer Partei werden jollte, damals noch nicht klar und unter fich uneinig. Hus wies von Konſtanz aus in einem kurzen Aufjage die dogmatiſche Correctheit der communio sub utraque nach, meinte aber, daß e8 wenn fomit auch erlaubt, doch nicht Pflicht fei, im Abendmahl Brot und Wein zu genießen. Man möge dahin wirken, daß durch eine Bulle die Spendung des Kelches an die gejtattet werde, welche ihn aus Andacht begehrten. Als das Concil aber unter dem 15. Juni 1415 den Kelch für die Laien geradezu verbot, erjchten ihm dieſe Ueber— ordnung von Herkommen über Gotted Wort als Wahn- wis, und er bat jeinen Freund Hawlik, Prediger an Bethlehem zu Prag, Jakob von Mies nicht länger zu widerftreben: „Leifte dem Kelchjaframent des Herren feinen Widerſtand, das Chriſtus felbjt und durch feinen Apoſtel

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eingejegt hat: denn die Schrift ift nicht dawider, jondern allein eine nach meiner Anficht aus Nachläffigfeit ein- geriffene Gewohnheit. Nicht ver Gewohnheit, fonvern allein Chriſti Vorbild und der Wahrheit müfjen wir folgen. Soeben hat das Concil, unter Berufung auf das Herfommen, den Kelchgenuß von feiten der Laien als Irrthum verdammt, und wer ihn ausübe, jolle, wenn er nicht wieder zu Einficht komme, als Häretifer beftraft werden. O diefer Echurferei! Chrifti Einſetzung als Irrthum zu verdammen! Ich bitte um Gottes willen, dag du Magifter Jakobell“ (fo gewöhnlich um feiner fleinen Statur willen genannt) „nicht länger befämpfit, damit feine Spaltung unter den Gläubigen entftehe, worüber ſich der Zeufel freut.‘ |

Die Unterfuchungscommiffion z0g ihre Arbeit jehr in die Yänge, und es trat ein Creigniß ein, das geeignet war, Hus Hülfe zu bringen. Johann XXIII. Hatte in beftimmtefter Zufage verfprochen, dem Wunſche des Concils zufolge zu vefigniven; bald aber fuchte er wieder Ausflüchte und entwich fchlieglih am 20. März ver- fleivet aus der Stadt, um von einem fichern Orte aus die Auflöfung der unbequemen Verſammlung verkünden zu fönnen. Dem flüchtigen Papfte folgten auf jeinen Befehl alle feine Diener, und jomit legten die Wächter Huffens die Schlüffel zu deſſen Gefängniß in des Königs Hand und verließen die Stadt. Nun wäre ed dem Könige ein Leichtes gewefen, feinem Geleitöbrief nach- träglich Beachtung zu verfchaffen, aber welchen Zweck hatte e8, einem machtlofen Gefangenen gegenüber eine Gewiffenspflicht zu erfüllen, wenn e8 bie verfammtelten Väter ungnädig aufnahmen, die im Intereffe des Königs um die Einheit der Kirche fo kräftig fich mühten! Der König beſprach fih im Gegentheil mit den Vätern des

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Concils, was mit Hus werden jolle, und nach Deren Rath übergab er den Gefangenen noch an bemfelben Zage, da er die Schlüffel empfangen (24. März), dem Biihof von Konſtanz. Hus hatte in feinen nach bes Papftes Flucht gefchriebenen Briefen fomit recht gehabt, fih fanguinifchen Hoffnungen nicht hinzugeben, ſondern nur die Möglichkeit feiner Befreiung ins Auge zu fallen. Dergeblid war die BVorftellung der zu Meſeritz ver: jammelten Stände von Böhmen und Mähren gewejen, die zu Anfang des Jahres mit Appell an des Königs fürftliche Ehre, unter Hinweis darauf, daß er Böhmen zu erben gebenfe, für Hus Befreiung aus der un gejeglichen Haft und öffentliches, freies Verhör ver- langt hatten, „damit, wenn jemand ihn eines Irrthums halben anflagen wolle, er öffentlich fich vertheidigen könne, wie er öffentlich und ohne Furcht das göttliche Gejet geprebigt hat. Und wenn er rechts- und ordnungsgemäß bei einem Irrthum betroffen wird, foll gejchehen, was die Gerechtigkeit fordert”.

Der Biſchof von Konftanz brachte feinen Gefangenen in jein feſtes Schloß Gottlieben am Rhein, dreiviertel Stunden unterhalb ver Stadt. Dort wurde Hus im oberjten Geſchoß des weftlichen Thurmes untergebracht. Wenn er im Gefängniß bei den Dominicanern noch hatte Briefe Ihreiben dürfen und Befuche empfangen, fo trug er jeßt tagsüber Fußfeffeln und wurde in der Nacht außerdem auf jeinem Bette mit Handfchellen an die Wand gefeffelt. Die Nahrung war ganz färglich, niemand wurde zu ihm gelaffen, fein einziger Brief aus diefer zehnmöchentlichen Gefangenſchaft ift vorhanden.

Der erlofchene Auftrag des Papftes an bie Unter- juchungsrichter wurde vom Goncil an eine neue Com- miſſion von vier Mitgliedern erneuert. Die Verhöre,

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bie biejelbe mit Hus anftellte, gejchahen ganz im Ge: heimen.

Aber eben dieje Heimlichfeit des Verfahrens und bie jtrengere Haft ihres Führers trieben die Böhmen und Mähren, ja jelbft einige Polen zu erneuerten Be- ihwervden. Wer fehen wollte, konnte jest erfennen, daß Hus doch fein einjamer DVerlafjener fei, jondern daß ſein Volk hinter ihm ftehe. So überjchiekten die zu Brünn verfammelten Barone dem König unterm 8. Mai eine Denkſchrift, die das jetige noch härtere Gefängniß Huffens und die Heimlichkeit des Proceffes beflagte. Am 12. Mai hingen zu Prag nicht weniger als 250 Edelleute ihre Siegel an eine Denkſchrift ähnlichen Inhalts, die ihre Spige in folgenden Sätzen hat: Hus, ber nichts ver- ihuldet und nunmehr genug erbuldet habe, möge aus dem Gefängnig entlaffen, in Freiheit geſetzt und nicht länger mit Gewalt und Unrecht unter Anklage gehalten werden zu Schimpf und Schande der ganzen böhmijchen Nation. Wenn das nicht gejchehe, werde Sigismund und dem ganzen Reiche Böhmen ein großer Schaden er: wachen. Schon werbe nvieljeitig Mistrauen gegen ben König ganz offen laut. Hus müffe frei nah Böhmen zurüdfehren. Diefe Eingabe war von einem Schreiben an die böhmischen und mährifchen Hofbeamten des Könige begleitet, worin dieſe um fräftige Verwendung für den— jelben Zwed angegangen wurden. Die legtern aber waren jchon felber vorgegangen. Sie verlangten ein ichnelfe8 Ende des Proceffes, da bei der Erjchöpfung jeiner Körperfräfte für Huffens Verſtand zu fürchten jet. Das diesbezügliche Schriftitüc war von Wenzel von Duba, Sohann von Chlum, Heinrich Latzenbock und andern Böhmen, dazu von den in Konftanz anmejenden Polen unterzeichnet und wurde einer im Franciscanerklojter ftatt-

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findenden Conferenz von Deputirten der vier Nationen des Concils (deutjche, englifche, franzöfifche und italienijche) übergeben, zugleich beichwerten fich die Böhmen für ihre Nation, daß Gegner Böhmens verleumbderifche Gerüchte beim Concil verbreitet hätten, wie 3. B. daß in Böhmen das Saframent des Blutes Chrifti in gemeinen Flajchen umhergetragen werde, und daß Schufter Beichte hörten und das Abenpmahl fpenveten. Als dieſe Beſchwerde verlefen wurde, jtand der in der VBerfammlung anwejende Biihof Sohann von Leitomifchl auf und fprach, bie Klage gehe ihn und die Seinigen an, und er nehme bie Berantwortung für feine Reden auf ſich. Denn aller- dings habe er mehrere Unorbnungen, die in nenejter Zeit in Böhmen, infolge der überhandnehmenden Communion unter beiderlei Gejtalt, eingeriffen, jo wie fie ihm aus Böhmen glaubwürdig berichtet worden, zur Kenntniß des Concils gebracht. Solches fei jedoch nicht in der Abficht geichehen, die Ehre feines Vaterlandes und feines Volkes zu fränfen,; im Gegentheil liege ihm dieſe Ehre mehr am Herzen als feinen Gegnern, die fie eben durch an— jtößige Neuoronungen bloßzuftellen feine Scheu trügen. Um jedoch auf die Klage eine begründete Antwort er- theilen zu fönnen, bat er fich die nöthige Frift aus, die ihm auch ertheilt wurde,

Am 16. Mai erhielten die böhinischen und polnischen Herren ſowol vom Concil als vom Bifchof von Leitomijch! Antwort. Letzterer hielt jett jchriftlich feine neulich ge- gebene Erklärung von Anftößigfeiten beim Heiligen Mahle infolge der wichfitiichen Forderung beider Elemente für die Laien aufrecht. Jüngſt habe eine prager Frau das einem Priefter gewaltfam abgedrungene Saframent eigen: mächtig genoffen und zur Entjchuldigung diefes Frevels viele Irrthümer behauptet und vertheidigt. Won einer

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Spendung der Sakramente durch Schuſter jedoch habe er niemals etwas vorgebracht, beſorge aber, daß ein ſolcher Skandal in die Länge auch noch zum Vorſchein kommen könne. Darum bat er wiederholt die Väter des Coneils, zur Unterdrückung ſolcher Unordnungen unverzüglich ge— eignete Maßregeln zu ergreifen. Von ſeiten des Concils gab der Biſchof von Carcaſſonne den Herren mündlich die Antwort, durch Huſſens Gefangennehmung könne der königliche Geleitsbrief um ſo weniger gebrochen worden ſein, als man eben erfahre, daß Hus dieſen Brief erſt 15 Tage nach ſeiner Gefangennehmnng erhalten habe; auch fei e8 unrichtig, daß er ohne vorläufige Unterfuchung eingeferfert worden, da e8 befannt ei, daß er nach Kom citirt, wegen Nichterfcheinens in contumaciam verurtheilt und ercommunicirt, feine Abfolution gefucht und erhalten habe, daher er folglich als Erzfeter (haeresiarcha) gelten könne, zumal er unter folchen Umftänden auch in Konftanz öffentlich zu predigen fich unterftanden hätte. Zwei Tage jpäter (18. Mai) replicirten die Herren, das Concil ſei binfichtlich des Datums in Huffens Geleitsbrief im Irrthum und fränfe die Ehre der königlichen Reichskanzlei, indem es die Möglichkeit vorausjege, daß biefelbe eine Urkunde um volle zwei Monate zurücdatiren und jomit fäljchen könne. Sie beriefen fi auf den König felbjt, ver die Ausfertigung angeoronet, auf die Fürften und Herren, die dabei gegenwärtig geweſen; es ſei nicht der Herren Schuld, daß am Tage jener Gefangennehmung niemand den Brief habe leſen wollen; auch ſei e8 unwahr, daß Hus in Konftanz jemals öffentlich gepredigt habe, da er jogar nie über die Schwelle des von ihm bewohnten Haufes gekommen ſei u.f.w. Solche Neben und Gegen- reden wurden dann an den folgenden Tagen noch fort- gejett und arteten zulett in bittere Perjönlichkeiten zwiſchen

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dem Bilchof von Leitomifchl und den Baronen aus, End— (ih auf die Bitte der lettern um Freilaſſung des Ge- fangenen, damit er fi an Körper und Geift erholen fönne, indem die Herren jede gewünjchte Bürgjchaft leiſten wollten, daß er dieje Freiheit nicht missbrauchen werde, antwortete am 31. Mai der Batriarh von Antiochien im Namen des Concils, daß man zwar Hus auch gegen taufend Bürgfchaften nicht auf freien Fuß jegen könne, daß aber das Eoneil den Bitten der Barone hinfichtlich ſeines öffentlichen Verhörs Folge geben und ven Ge— fangenen am nächjtlünftigen 5. Juni in einer öffentlichen Verſammlung hören wolle.

So hatte man der gerechten Forderung ber öffent- fihen Meinung endlich nachgegeben; aber für den Aus- gang biefer öffentlichen Vernehmung war e8 von übeljter Vorbedeutung, daß das Eoncil am 4. Mat jene feit 1403 oft erwähnten 45 Artikel Wielif's verdammt, ihn jelbit für einen bis an fein Ende unverbeiferlichen Keter er- klärt und ben obenerwähnten fanatiichen Beichluß gefaßt hatte, der 1427 an Wichf’8 Gebeinen vollzogen wurde. Am 5. Juni wurde Hus aus Gottlieben nach Konſtanz in das Franciscanerflofter gebracht, wo er bis zu feinem Tode verblieb. Zwei Tage vorher war der abgejette und eingefangene PBapit Iohann XXIII. in Gottlieben ein- gebracht worden, ſodaß der eine hohe Gefangene des Concils den andern ablöfte.

Am 5. Juni, einer Mittwoch, verfammelten ih im Refectorium der Franciscaner zum eriten Ver— hör des Erzfeters faſt alle auf dem Concil anwefenden geijtlichen Notabilttäten, die Cardinäle, Erzbifchöfe, Biſchöfe

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und Brälaten; ſodann viele Theologen und andere Per: jonen. Bevor der Gefangene herbeigebracht wurde, gefchah die Verleſung des Ergebnifjes der Vorumnterfuhung. Ein Böhme, der in des Vorlejers Nähe zu ftehen gekommen war, erblidte unter den zum Vortrag bejtimmten Stüden auch das bereits fertige Verdammungsurtheil des Hus. Er fette dem gleichfalls anmwejenben Peter von Mladenowitz, und biefer die Herren von Chlum und Duba in Kennt: niß davon, welche augenblidlich zu Sigismund eilten, ihn davon zu benachrichtigen. Der König fchiete fofort Ludwig, den Pfalzgrafen vom Rheine, und den Burg- grafen Friedrich non Nürnberg, die verfammelten Väter vor einer Üübereilten Entfcheivung in der Sache zu warnen. Hus folle geduldig angehört werben, und die Artikel, über die Fein Ausgleich erzielt werde, feien zu des Königs Kenntniß zu bringen, damit er fie einer Anzahl noch zu beitimmender Doctoren zum Durchficht übergeben könne. Auch brachten die Barone den genannten Yürften bie Autographe der ftrittigen Werfe Huſſens zur Uebergabe an das Concil, damit fie zur Controle der aus ihmen ge— ihöpften Anklagepunkte dienen könnten; doch follten fie zurücerjtattet werben.

Nachdem Hus in die DVerfammlung eingeführt worden und bie Fürften fie verlaffen hatten, wurden ihm die joeben genannten Hanpdjchriften (e8 waren jein Buch „Bon der Kirche“, feine Streitjchriften wider Paletz und Stanislaus von Znaim) mit der Frage vorgelegt, ob er fie als die feinigen anerfenne. Hus jah fich die Bücher genau an, befannte ſich zu ihnen, indem er fie dabet in die Höhe hob, und erklärte zugleich feine Bereitwilligfeit, wenn man ihn belehre, daß Irrthümer darin enthalten, diefelben zu widerrufen. Hierauf verlas man die aus jeinen Schriften ausgezogenen Sätze und die Zeugen-

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ausſagen. Als aber der Magijter auf einzelne Punkte eingehen und fich vertheidigen wollte, fchrien viele zu— gleich auf ihn ein; fuchte er nachzumweifen, daß man in den Auszügen gewiſſe Ausdrüde von ihm misdeutet habe, jo hieß es: „Laß deine Sophifterei und antworte Ja oder Nein!” Berief er ſich auf Ausiprüche von Kirchen- vätern, jo viefen viele: „Das fteht nicht in ihnen! Das gehört nicht hierher!” Schwieg er, fo fagten andere: „Nun jchweigeft du! Das ift ein Zeichen, daß du wirk— (ih diefe Irrtümer hegeſt!“ Für feine Bücher rief man nach dem Teuer. So leichtfertig verfuhr ein bie Geſammtkirche darftellender, „im Heiligen Geifte” ver- jammelter Körper, der in allen Glaubens- und Kirchen: jachen abjoluter Richter und Gejetsgeber jein wollte! ‘Der von den aufgeregten Vätern umtobte Angeklagte blieb ruhig und ließ fich nicht einfchüchtern. Sobald er wierer zu Worte fam, bemerkte er mit lauter Stimme: „Ich dachte, daR auf diefem Concil mehr Anftand, Frömmig— feit und Zucht fein würde!” Darauf ermwiderte der Präjident, Iohann von Brogni, Cardinal-Biihof von Oſtia: „Was fagft du? Im Schlojfe haft du eine demütbigere Sprache geführt!‘ Hus gab ihm zur Ant- wort: „Weil dort niemand auf mich einjchrie; hier aber jchreit ihr alle!“ Man mochte fühlen, daß man fich eine Blöße gegeben, und erfennen, daß jo die Angelegenheit nicht gefördert werden fünne. Die Situng wurde ge= Ihloffen und auf Freitag, den 7. Juni, vertagt.

Der Erzbifchof von Riga führte Hus in fein Gefängniß zurüd. Der Magifter begegnete dabei feinen Freunden, gab ihnen die Hand und fpradh: „Habt feine Furcht um mich!“ Sie antworteten: „O nein‘, und er jprach: „Ich weiß e8 wohl, ich weiß es wohl, ALS er die Stufen emporjchritt, jegnete ev das Volk, lachte und war fröhlich.

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Sreudige Zuverficht athmen auch feine Briefe aus biefen Zagen. So wünjcht er fih Glück dazu, daß es ihm bereits gelungen, zwei Artikel von der Klageliſte ftreichen zu machen, und lebt ver Hoffnung, daß e8 auch bei andern noch gelingen werde.

Freitag, den 7. Juni, fand eine faft totale Sonnen finfterniß ftatt; eine Stunde nah dem Naturfchaufpiel, des Vormittags um 10 Uhr, verfammelte fich das Coneil zum zweiten Verhöre Huffens, wiederum bei ben Sranciscanern. Die Zugänge wurden (wie auch am 5. und 8. Juni) von bewaffneten Stabtjoldaten beſetzt gehalten, ah König Sigismund wohnte der Verhandlung bei. Es ging an diefem Tage weniger ftürmifch zu als am eriten, denn e8 war von jeiten bed Königs und bes Concils kundgemacht worden, daß alle Schreier aus der Berjammlung binausgewiejen werden follten. Die Grund— lage der Vernehmung bildeten gewiffe Artikel, welche von Zeugen bejtätigt fein jollten und theils Huffens Buch „Von der Kirche“, theil8 Vorgänge in Prag feit dem Jahre 1408 betrafen. Das Verhör drehte fich bejonders um Huffens Berhältnig zu Wick. Der erfte Anklagepunft lautete auf wichfitiiche Leugnung der Brot-Verwandlungslehre. Als Hauptlämpfer gegen Hus trat Peter d'Ailly auf, der Cardinal von Cambrai, welcher als Vorſitzender der Slaubenscommiffion des Concils das Verhör leitete. Ally ftand zwar unter den Männern obenan, bie es damals unternahmen, die Einheit der Kirche wiederher- zujtellen, indem fie über die jtreitenden Päpſte hinweg auf die Autorität der Univerfalfirche und ihre Repräſen— tation im Concil zurüdgingen; er wollte auch jene „Re— formation an Haupt und Gliedern“, die der herzliche Wunſch aller Ernjtgefinnten war aber daß dazu das geſammte Firchliche Leben aus dem Worte Gottes von

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Grund auf zu erneuern und mit Beſſerung von Einzel— heiten beſonders ohne Antaſtung der hierarchiſchen Ver— faſſung nichts zu erreichen ſei, das blieb ihm verſchloſſen, und ſomit konnte er gegen Hus, der die offenen Schäden der Kirche doch auch wollte heilen helfen, weil derſelbe evangeliſch, nicht hierarchiſch geſinnt war, mit der größten Antmofität vorgehen. Dazu fam ver philofophiiche Gegen— jat der beiden Männer. Dem Nominaliften Ailly erſchien ber verhafte Realismus Huffens als eine nothwendige Duelle aller denkbaren Ketzereien.

Hus betritt beharrlich, daß er Wiclif's Angriff gegen die Lehre von der Wandlung fich angeeignet habe. Er blieb auch feſt, als Aillh und mehrere englische Doctoren aus jeinem Realismus folgern wollten, daß er die Wand: lung verneinen und das Bleiben des Brote auch nach der Conjecration behaupten müjje. Seine Bertheidigung machte doch folchen Eindrud, daß einer von den englijchen Doctoren im Concil ſelbſt ausjprach, diefe philofophifchen Fragen gehörten nicht zur Sache und Hus jet in Betreff des heiligen Abendmahls rechtgläubig.

AS Hus von den Zeugenausfagen mehrere geradezu für falih und nur aus bitterer Feindſchaft erbichtet er- Elärte und fich dagegen auf Gott und fein Gewiſſen berief, bemerkte ihm d'Ailly, das Concil fünne nach der Be— ichaffenheit feines Gewiſſens feinen Spruch fällen, fondern allein nach den vorhandenen Ausjagen beeiveter Zeugen. Hus fcheine in der Ablehnung diefer Zeugen zu weit zu gehen, da er auch den parifer Kanzler Gerjon für ver- bächtig halte, der gewiß ein jo berühmter Doctor ſei, wie nur einer in der ganzen Chrijtenheit gefunden werden fönne.

Ferner wurde Hus zur Laft gelegt, daß er gegen bie Berurtheilung der 45 Artikel Wiclif’s in Prag opponirt

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babe. Er gejtand, daß er mehrere ver Artifel für wahr halte, betonte jedoch, daß er für feine Perſon feinen der genannten Sätze hartnädig behauptet, ſondern nur ihrer Berurtheilung in Bauſch und Bogen und ohne Beweis fich widerjegt habe. Als ihm weiter auch jchuld gegeben wurde, daß er tiefe Verehrung für Wiclif's Perſon geäußert habe, ftellte er das feineswegs in Abrede; wenn er auch feine Gewißheit habe, dag Wichf ſelig geworden jet, jo fönme er doch nur wünfchen, daß feine Seele einmal dahin gelangen möge, wo Wiclif’8 Seele ei. Lautes Gelächter und Kopfichütteln war die Antwort der Berfammlung.

Daſſelbe Gelächter ertönte, als der Angeklagte auf die Frage, ob e8 erlaubt fei, auch an Chriftum zu appelliren, antwortete: „Sch befenne hier öffentlich, daß feine Appellation rechtmäßiger und wirffamer tft als die an Chriftum.” Es war ja nach jener Verfammlung Meinung ein echtes Keterfriterium, dem Willen der firch- (then Autorität fich nicht zu fügen und dennoch Chriſt fein zu wollen. Als römiſch gedacht läßt fih Huffens Wort ver Ausfpruch gegenüberfteflen, den einer der Doctoren bei ven Verhandlungen, ihn zum Widerruf zu beivegen, gethan Hat: „Wenn das Soncil fagen würde, dak du mr ein Auge haft, obwol du zwei haft, jo mußt du mit dem Goncil befennen, daß dem alfo ſei!“

Ferner maß man Hus die Schuld an den Zerwürf— niffen innerhalb der prager Umiverfität fowie an ven Gewaltthätigleiten bei, welche in der Hauptitabt gegen Prälaten und Klerifer vorgekommen feien, auch Anderes der Art rücdte man ihm vor. Mit Gefchid und Klar- heit lehnte Hus jede perjönliche Verantwortung Für folche Vorfälle ab.

Arm Ende konnte Ally es wicht unterlaffen, Huffens

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Prahlerei zu rügen, daß er ganz freiwillig zum Goncil gefommen fein wolle, und wenn er nicht hätte fommen wollen, weder König Wenzel, noch König Sigismund ihn zu bdiefer Reife hätten zwingen fünnen. Der Magiiter antwortete, dem fei in der That alfo: er habe fo viele große Herren in Böhmen für fih, daß diefe ihn auf ihren Burgen volllommen zu jchügen in der Lage gewejen wären. „Welche Vermefjenheit!” rief der Kardinal mit fichtbarer Entrüftung aus. Doch es ſprach nunmehr Johann von Chlum, Hus rede die Wahrheit: „Ich bin ein armer Edelmann in unferm Yande, und doch ver- möchte ich einziger an ein Jahr lang gegen welche Macht immer ihn zu fchirmen. Und es gibt viele große Herren, die ihn lieben, mit jehr feſten Schlöffern, die ihn jchirmen fönnten, folange fie wollten, felbjt gegen beide genannte Könige,”

GSeichloffen wurde die Situng durch Ermahnungen des Cardinals und felbft des Königs an den Angeklagten, er möge fich doch dem Concil unterwerfen. ‘Der König berichtigte zuerft den Irrthum hinfichtlich des Datums in dem vielbefprochenen Geleitsbriefe. Diejen Brief und jeinen Töniglihen Schuß habe er Hus allerdings noch vor deſſen Abreije aus Böhmen zugefichert und ihm auch Öffentliches Gehör zu verfchaffen verfprochen; darum habe er ihn auch dem beſondern Schuße der Herren von Chlum und Duba empfohlen, obgleich man behaupte, daß er einen der Ketzerei Verdächtigen in feinen Schuß zu nehmen nicht befugt gewejen. Nun ſei Hus ein vuhiges öffent- liches Gehör zugeftanden und damit das königliche Ver— iprechen gelöft worden. „Es erübrigt“, fuhr der König fort, „nichts mehr, als mich den Ermahnungen des Car- dinals anzuschließen, daß du nicht auf deinem Eigenfinn beteheft, jondern dich gänzlich der Gnade des Concils

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anvertrauft. Es wird mir, meinem Bruder und dem Königreich Böhmen zu Liebe dich gnädig aufnehmen und bir feine jchwere Buße auferlegen. Willft du aber auf deinem Eigenfinn beharren, fo werben die Väter ſchon wiſſen, wie fie dich zu behandeln haben. Sch habe ihnen zugejagt, daß ich feinen Ketzer bejchügen werde; ja wollte jemand hartnädig auf feiner Keterei beftehen, jo wäre ich ber erfte, der ihn auf den Scheiterhaufen führte. Darum möchte ich dir nochmals rathen, dich ganz im die Gnade des Concils zu ergeben, und zwar je eher, je bejfer, damit du nicht in noch tiefere Schuld verfalfeft.‘ Hus antwortete furz mit einem Danke für den empfangenen föniglichen Schug- und Geleitsbrief und mit der wieber- holten Betheuerung, er jei ganz von freien Stüden hierher gefommen, und nicht in der Abficht, irgendetwas hart- nädig zu vertheidigen, vielmehr in aller Demuth fich eines befjern belehren zu Lafjen, falls man ihm nachweife, daß er in irgendeinem Stücke geirrt habe.

Die Situng wurde gejchloffen und einen Tag ver: tagt, der Erzbiſchof von Riga führte ven Angeklagten in jeinen Kerfer zurück.

Das dritte und entjcheivende Verhör in Huſſens Sade fand am 8. Juni, abermals unter dem Präfidium des Cardinals Peter d'Ailly und an demſelben Orte ftatt; wiederum war außer ben Vätern König Sigismund er- ihienen, von böhmijchen Freunden ftanden Hus Wenzel von Duba, Johann von Chlum und Peter von Mladeno— wiß zur Seite. Der Angeklagte wurde über 39 zum Vortrag gebrachte Artikel vernommen, von denen 26 aus jeiner Schrift „Von der Kirche‘ gezogen waren und 7 bezw. 6 aus den Streitichriften wider Stephan von Palet und Stanislaus von Znaim Um die Richtigkeit dieſer Site darzuthun, wenn fie nicht wörtlich ausgezogen waren,

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geihah auch die Verlefung ver einjchlägigen Stellen in den Handjchriften. Ally glaubte dabei wiederholt be- tonen zu müffen, daß Huffens Gedanken in ihrer originalen Faſſung noch ſchlimmer Lauteten als in der Faſſung der Auszüge. Die wichtigften dem Concil anftößigen Lehr— ſätze des Angeklagten aber waren folgende: Die wahre Kirche ift die Gemeinschaft der von Gott Erwählten. Kein Kirchenamt, Feine Kirchliche Würde gibt zugleich Mitglied- ichaft in der wahren Kirche, fondern nur wer fittlich in der Nachfolge Jeſu wandelt, ift ein wahrer Chriſt, Prieſter, Cardinal und Papft. Chriftus, nicht Petrus ift das Haupt ver Kirche. Wenn ber beftellte Stellvertreter Chriſti feinem Herrn nicht nachfolgt, ift er des Antichrifts Gefandter und Stellvertreter Judas Iſcharioth's. Das Papſtthum und jeine Macht ift eine Schöpfung der Faiferlichen Gewalt. Die weltlichen Herren haben bie fittliche Pflicht, die Priefter zur Beobachtung des Geſetzes Chrifti anzuhalten. Es ift durchaus nicht richtig, daß der Beſtand der Kirche auf Erden von dem Vorhandenſein des Papftes abhängig jet. Es ijt unrecht, einen Keber nicht blos in Kirchenzucht zu nehmen, jondern auch der weltlichen Obrigkeit zur Strafe an Leib und Leben zu überlaffen. Die Strafe des Inter- dicts widerjpricht dem Vorbilde Chrifti. Der Vortrag diefer Sätze und ihrer Belegſtellen, ihre Verteidigung jodann durch den Angeflagten rief des öftern Bewegung, Aufregung, Kopfſchütteln und Gelächter hervor.

Das größte Auffehen jedoch erregte die Theſe: Wenn ein Papſt, Bifchof oder PBrälat jich in Todfünde befindet, fo ift er nicht Papft, Bifchof oder Prälat. Als Hus die Thefe durch die Erflärung zu rechtfertigen fuchte, daß ein folder Papft u. f. w. wol dem Amte nach, nicht aber dem Begriff und Weſen nach PBapft u. f. w. jein fönne, und beifpielsweife hinzufügte, daß auch ein König

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in Zodfünde vor Gott nicht König fei, rief man nad) König Sigismund, der foeben zum Tenfter des Refec— toriums ſich hinansgelehnt und mit dem Pfalzgrafen vom Rheine und dem nürnberger Burggrafen ein Geſpräch über bie Gefährlichkeit der bisher gehörten Sätze an- gefnüpft Hatte. Hus mußte feine Anficht vor dem Könige wiederholen, worauf berfelbe nur eriwiderte, daß wol niemand ohne Sünde fei; der Cardinal Ally aber brach in den Vorwurf aus, daß Hus, nicht zufrieden, das An— jehen des Klerus zu kränken, auch bie weltliche Macht zu untergraben gejucht habe. Der Tettbeiprochene Sat von Hus lautete, die apoftolifche Kirche ſei vortrefflich geweien ohne Papſtthum; möglicherweife könne man auch jegt und bis ans Ende ver Welt das Papſtthum ent- behren. Da bemerkte ein Engländer, Stofes, nicht mit Unrecht, Hus betrete hiermit ganz und gar ben Weg Wiclif's und habe gar nicht nöthig, fich feiner Schriften und Lehren zu rühmen, feine Lehren ſeien vielmehr Wicltf’s Lehren.

Nach beendigter Durchſprache dieſer Lehrſätze fagte Ally zu Hus, daß er nunmehr zwifchen zwei Wegen vie Wahl habe: entweder gebe er fich ganz in die Gnade und Hände des Concils und unterwerfe fich deffen Spruche, dann werde man fchonend mit ihm verfahren. Ober er bejchreite noch weiter den Rechtsweg und erhalte noch weitere® Gehör, das aber könne gefährlich für ihn werben, er fönne in noch größere Irrthümer fich verwideln. Em— pfehlenswerther jei der erfte Weg. Im gleichem Sinne ließen auch andere Prälaten fich vernehmen. Hus neigte das Haupt und antwortete demüthig: „Ehrwürdigſte Väter! Ich bin von freien Stücken hierher gefommen, nicht um irgendetwas hartnädig zu vertheibigen, jondern mih vdemüthig vom Concil eines. beijern belehren zu

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laffen, wenn ich etwas nicht wohl ober mangelhaft auf- geftellt haben ſollte. Doc bitte ich um Gottes willen, daß mir ferneres Gehör gefchenft werde, damit ich meine Abficht mit den mir vorgeworfenen Artikeln und die Be- weiſe aus den Kirchenvätern darlegen kann. Sollten meine Gründe aus Vernunft und Schrift nicht ftichhaltig fein, jo unterwerfe ich mich der Unterweifung des Concils.“ Sofort fchrien viele Stimmen, das jet mit Vorbehalt gejprochen; der Zurechtweifung und Entſcheidung der Berfammlung müffe er fich unterwerfen. Hus nahm dieſe Ausprüde auf, er habe nicht verfänglich reden wollen.

Dieje Erklärung nahm Ailly für bedingungsloſe Unter- werfung und eröffnete dem Magijter nunmehr, daß gegen 60 Doctoren aus Vollmacht vom Eoncil entſchieden hätten: Hus folle 1) feinen Irrthum in Behauptung jener Artikel vemüthig anerkennen; 2) diefe Sätze für alle Zufunft abſchwören; 3) dieſelben auch öffentlich widerrufen; 4) das Gegentheil der Artifel insfünftige annehmen, behaupten und ‚verfünbigen.

Da erwiderte Hus mit aller Chrerbietung, er jei bereit dem Concil Gehorſam zu leiften und fich weijen zu laffen; aber er bitte um Gottes willen, man möge ihn nicht zwingen zu lügen und Säte abzufchwören, von denen er Gott jei fein Zeuge und jein Gewiljen jih nichts bewußt fei, die ihm niemals in den Sinn gekommen feien; namentlich der Satz, daß im heiligen Abendmahl nach der Konfecration das Brot als Stoff noch bleibe. Sätze, welche er wirklich aufgeftellt habe, wolle er, wenn man ihn eines bejjern belehre, demüthig widerrufen. Aber wenn er ſämmtliche ihm ſchuld gegebene Süße, unter denen viele ihm mit Unrecht zugejchrieben worden, abſchwören müßte, jo würde er eine Lüge begehen

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und ſich die ewige Verdammniß zuziehen; das gehe wider ſein Gewiſſen!

Aber wer hatte Verſtändniß für dieſen Ernſt, dieſe Zartheit des Gewiſſens? Sigismund fagte leichtfertig: „Höre Hus, warum willſt du nicht alle irrthümlichen Sätze abſchwören, von denen du behaupteſt, daß die Zeugen ſie wahrheitswidrig dir beigelegt haben? Ich wollte doch alle Irrthümer abſchwören; darum muß ich doch nicht irgendeinen früher gehegt haben!“ Und der Cardinal Franz von Zabarella, Erzbiſchof von Florenz, ver— ſprach, Hus eine wohlbemeſſene Abſchwörungsformel vor— zulegen; dann möge er erwägen, was er thun wolle. Von diefem Punkte an verlief das Verhör wieder als ein wildes Hin- und Herrevden, wobei der eine Mann gegen die ganze Verfammlung ftandzuhalten hatte. Von neuem wurden ihm bie prager Ereigniffe vorgeworfen, bie Engländer erörterten feine Beziehungen zu Wichf u. f. w. As einigermaßen wieder Ruhe eingetreten war, jtand Palet auf, um die Erflärung abzugeben, daß er nicht aus falſchem Eifer oder perfönlichem Haß die Klagen wider Hus erhoben habe, fondern um feinem Doctoreide nachzufommen. Michael de causis fchloß fich ihm an. Hus antwortete: „Ich ftehe vor Gottes Gericht, der mich und euch mit Gerechtigkeit richten wird, wie wir's verdienen.’

Hierauf nahm der Erzbifchof von Riga den Gefangenen abermals in Empfang und führte ihn im feinen Kerker zurüd. Im Vorübergehen grüßte ihn Johann von Chlum, reichte ihm die Hand und tröftete ihn. Es ijt faft rührend zu leſen, wie hoch der bedrohte Mann im Gefühle feiner Verlaffenheit und der ihm entgegengebrachten Verachtung diefeß geringe Freundfchaftszeichen gewerthet hat. „O wie wohl that e8 mir, fchreibt er, „als mir Herr Johann die

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Hand bot; er Hat fich nicht gejchent, mir Armen die Hand zu bieten, mir veriworfenen Ketzer, mir Gefefjelten, mir auf den fait alles einſchrie!“

Hus hatte in den drei Verhören fih männlich und muthig benommen. Es war ihm gelungen, der Auf- bürdung gewiſſer Irrlehren fich zu erwehren; die Sätze, bie er als die feinigen anerfennen fonnte, hatte er auf- recht erhalten (einzelne angebrachte Limitationen find micht von Belang) und aus der Schrift und den Vätern be- gründet. Doch was vermochte ihm das zu nüßen? Das Concil hatte ven Angeklagten gehört, aber das Reſultat ber Bernehmung ftand vor allen Verhören feft, die Väter benahmen fich pharijätich ficher, auch hinterliftig und brutal; Unbefangenheit in Glaubens- und Gewiffensfragen war jener Verſammlung, ja faft jener Zeit eine unbefannte Größe: Widerruf ob mit, ob ohne Ueberzeugung ober Gefängniß und Tod war die graufame Alternative, denn fünnte die Kirche, das ökumeniſche Concil irren?

Nach aufgehobener Situng ereignete fich eine Scene, unbedeutend ſcheinbar und nicht für Hus geneigte Ohren beftimmt, die auf die ganze Frage, ob mit Hus ehrlich verfahren worden, ein beventjames Licht wirft. Hus war abgeführt, die Wachen hatten den Saal geräumt, ba fnüpfte der König beim Aufbruche mit den Prälaten ein Geſpräch an. Sigismund mochte glauben, daf Die Böhmen mit Hus aus dem Saale gegangen feien, er alfo mit Gefinnungsgenoffen alfein fer; aber die Herren Johann von Chlum, von Duba und Peter Mladenowitz hatten ſich in eim Fenfter zurückgezogen und vernahmen folgende Worte des Königs: „Ehrwürdige Väter! Ihr habt num gehört, daß von dem Vielen, was in ben Büchern jenes Menfchen fteht, wozu er fich befannt hat und worin er hinreichend widerlegt worden ift, ſchon eine

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Einzelheit zu feiner Verdammung genügen würde. Darum mag er, wenn er jene Irrthümer nicht widerrufen, ab- Ihwören und das Gegentheil annehmen will, verbrannt werden, oder mit ihm gejchehen, was euch vechtens dünkt. Doch rathe ich, daß wenn er auch Verjprechungen macht, widerrufen will und wiberruft, ihr ihm nicht tranet, wie auch ich ihm nicht trauen würde; nach Böhmen und zu jeinen Beichügern zurücigefehrt, würde er jene Irrthümer und andere mehr doch. wieder verbreiten, und würde bie neue Berirrung ärger werben als die alte. Darum ver- bietet ihm alles Prebigen und verhindert feine Nückfehr. Schickt auch die hier verdammten Artikel meinem Bruder in Böhmen und nach Polen und in die andern Länder, wo er fchon feine geheimen Anhänger und Gönner hat, und traget nicht nur den Biſchöfen und Prälaten, jondern auch den Königen und Fürften auf, diefe Anhänger zu trafen, damit die Aeſte zugleich mit dem Stamme aus— gerottet werden. Wahrlich, ich war noch jung, als dieſe Sefte in Böhmen begann: und zu welcher Stärfe iſt fie nicht ſeitdem emporgewachjen! Sch werde num das Concil bald verlaffen, darum ſäumet nicht in dieſer Sache, und machet auch ſobald als möglich mit feinen Schülern ein Ende, namentlich mit dem, der hier gefangen fit, mit dem dem” „Hieronymus“ fam man ihm zu Hülfe. „Ganz recht, mit Hieronymus. Für ihn brauchen wir feinen ganzen Tag; es wird dann fchon: leichter gehen, denn jener Menſch ijt der Lehrer, fie benennen ihn den Lehrer Hus, und diefer Hieronymus ift fein Schüler!‘ *)

*) Hieronymus von Prag, nähft Hus der bebeutendfte Bichfit in Böhmen, war freiwillig zum Concil gefommen. Als er bie Nutzlofigfeit feiner Anwefenheit für den Freund und bie Gefahr für fih erfannte, verließ er die Stadt, wurde aber unter» wegs gefangen und gefeffelt zurückgebracht (im April 1415), Durch

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Nach diefen Worten gingen fie insgefammt in heiterer Stimmung auseinander.

Die böhmischen Herren Hinterbrachten ihrem Schüß- ling des Königs Worte, und wenn Hus über fein Schid- jal noch hätte in Zweifel fein fönnen, fo wußte er von nun an ficher, was ihm bevorftand. Die Briefe aus der Gefangenfchaft bei den Franciscanern find voll der fihern Erwartung des Todes. Und wenn im Angeficht dieſes erbarmungslofen Feindes alles Lebendigen in den meiften Fällen all die armeligen Masken fallen, die ber Menſch dem Menfchen gegenüber vorgenommen, wenn bei den roheſten VBerbrechern ver oft tief vergrabene Funke religidfen Sinnes, wie ihn jede Menfjchenbruft birgt, wieder zur Flamme wird und der Mörder gejteht und bereut, um ohne Lüge dem Tode ind Geficht bliden zu fönnen, jo find auch Huſſens Abſchiedsbriefe wahrlich ehrlich und wahr: die Perfönlichkeit aber, die ſich in ihnen offenbart, muß man wahrhaft hochachten und lieb- gewinnen.

Der Gefangene dankt jeinen Freunden, die ihm in Konſtanz beigejtanden, für all den männlichen Bei- jtand in Rath und That, den fie ihm erwiejen, er wünfcht ihnen Gottes Kohn, er ermahnt das ganze böhmiſche Volf in einem Sendjchreiben an baffelbe, nie zu vergefjen, was diefe Männer für die Sache der Wahrheit gewagt. Er banft feinen Gönnern in Böhmen, und befonders dem König Wenzel und feiner Eöniglichen Herrin, daß fie ihn

balbjähriges hartes Gefängniß und unausgejettes Drängen feiner Nichter matt geworden, wiberrief er und erfannte Das Urtheil über Hus als gerecht an. Doch er ermannte fih wieder. Nach Zurüd- nahme des Widerrufs und Hffentlihem Verhöre vor dem Koncil, ftarb auch er, am 30. Mai 1416, mannhaft und freudig wie Hus, ben Feuertod.

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geliebt, gütig behandelt und Fleiß angewendet für ſeine Befreiung. Selbſt im letzten kurzen Lebewohl nach Böhmen heißt es noch einmal: „Der Königin, meiner gütigen Herrin, ſaget in meinem Namen Dank für alle Wohl— thaten, die ſie mir erwieſen!“ Ueberall hin, an die Freunde in Konſtanz, an die Gönner und Getreuen in Böhmen, an die Univerſität Prag, an alle Einzelnen, denen er ſchreibt, ergehen ſeine Ermahnungen, der erkannten Wahrheit, nicht um ſeinet-, ſondern um Chriſti willen, treu zu bleiben und nach ihr, d. h. dem Gebote Gottes gemäß zu leben. Was ſeine Feinde betrifft, ſo beklagt er zwar Sigismund's Unbeſtändigkeit, daß derſelbe ihn eher verurtheilt als ſeine Feinde, und nicht wenigſtens mit Pilatus geſprochen: „Ich finde keine Schuld an ihm“, oder: „Ich habe ihm freies Geleit gegeben; wenn er alſo des Conecils Entſcheidung nicht Leiden will, ſchickke ich ihn mit eurem Spruche dem Könige von Böhmen zurück, damit der mit ſeinem Klerus ihn richte“: wie ihm Sigismund ja mündlich verſprochen habe, daß er genügendes Gehör, und wenn er ſich nicht unterwerfen würde, ſichere Rückkehr bekommen ſolle. Später aber vermag Hus, ſeinen Freunden zu ſchreiben, daß er auch Sigismund danke für alles Gute, das derſelbe ihm er— wieſen. Gott möge dem Könige alles verzeihen, was er trugvoll gehandelt. Er verzeiht allen feinen perſönlichen Feinden insgeſammt: „Ich bitte für fie Gott aufrichtigen Herzens, daß er ihnen verzeihe!“ Bon Paletz ſchreibt er einmal, daß berjelbe bei einer Beſprechung im Ge— fängniſſe angefichts der Commiſſion des Concils ihn mit ten Worten begrüßt habe: „Seit Chriftt Geburt ift, Wichf ausgenommen, fein gefährlicherer Ketzer aufgeftanden ald du”, er fügt aber Hinzu: ,, Dies hätte ich vielleicht wicht jchreiben dürfen, damit es nicht etwa jcheint, ich

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baffe ihn.“ Weiterhin vermochte e8 Hus jogar, ben gewejenen Yugendfreund und ſpätern Hauptgegner um Verzeihung zu bitten, wenn er ein Wort des Vorwurfs gegen ihn gebraucht habe, und Paleg wurde wie Hus jelber zu Thränen gerührt. Michael de causis zeigte weniger Herz, gerade deshalb aber jagt Hus von ihm: „Der arme Mann!”

Ueber das Concil freilich lauten Hufjens Aeußerungen bitter und abjprechend. Er geißelt die Simonie, den Geiz, ben Hochmuth, die Heuchelei der Väter. Unfehlbar ſei die VBerfammlung wahrhaftig nicht: habe fie doch vor allem in Johann XXIII. fich geirrt. Derſelbe fei als Mörder, Knabenſchänder, Simonift und Häretifer befannt gewejen und doch gewählt worden; erit habe man ihn als „Heiligften Vater” durch Kniebeugung und Fußkuß geehrt und dann eben jener Verbrechen halber verurtheilt und abgejegt. „Wo bleibt nun die Doctrin, daß der Papit das Haupt und Herz der Kirche ijt, die unverfieg- bare Quelle aller Autorität und geiitlichen Vollmacht? Set ift die gläubige Chriftenheit ohne Papft, Jeſus Chriſtus ift ihr Haupt und Herz, die Duelle aller Getites- gaben und Gnaden.“ „O daß ihr doch dieſes unfehlbare Concil ſähet“, jchreibt er feinen Getreuen in Böhmen, „ihr würdet wahrhaftig etwas ungeheuer Abjcheuliches erbliden. Bei den Schwaben geht die gemeine Rede, Konftahz könne in dreißig Jahren nicht von den Sünden gereinigt werben, die das Concil in der Stadt gethban hat. Es ſpuckten manche aus, jo abjchenliche Dinge haben fie hierorts geſehen.““) Hus fieht in all diefer VBerfehrtheit des

*) Zu den fittlichen Zuftänden in Konftanz bringt ein Hiftorifer bei: „Neben den Repräjentanten der Kirche hatten fich beim Koftnizer Concil (als Repräjentantinnen?) fiebenhundert öffentliche

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Verjtandes und Herzens die Bosheit des Antichrifts, „den Greuel der Berwüftung an heiliger Stätte”. „Aber ich bin ver Zuverficht, daß Gott nach mir ftärfere Männer geben wird, welche die Bosheit des MWiderchrifts beffer an den Tag bringen und ihr Leben hingeben für vie Wahrheit des Herrn Jeſu Ehrifti.’

Für jeine eigene Perjon erhofft Hus den gnädigen Beijtand Gottes zu einem jtanphaften Tode und das ewige Leben. Er bittet feine Freunde, darum für ihn zu beten; auh auf die Fürbitte der Heiligen hofft er, in dieſem Stücke hat er die Schranken feiner Zeit nicht durch— brohen. Der Gedanke an einen Widerruf kommt ihm nicht, aber es ijt nicht Hochmuth, der ihın das Bewußt- jein gibt, dem Concil gegenüber die Wahrheit zu ver- treten, feine Freunde nämlich bittet er, feine Lehre zu prüfen und alles Nichtjtichhaltige aufzugeben und zu verbeſſern.

Mit dem 8. Juni war Huſſens Schickſal beſiegelt, dennoch ließ man ihn noch volle vier Wochen am Leben. Es iſt möglich, daß die Veranlaſſung für dieſen Aufſchub in neuen Briefen zu ſuchen iſt, die zu Huſſens Gunſten in Konſtanz einliefen. In einer Verſammlung der vier Nationen am 12. Juni kam jener Brief zur Verleſung, dem 250 Siegel böhmiſcher und mähriſcher Herren an— gehängt waren. Zur Beſchwichtigung der bei ſolchen Demonſtrationen doch nicht eindruckslos gebliebenen Ge— müther hoben der Biſchof von Leitomiſchl und Paletz hervor, daß wenigſtens König Wenzel keinen Schritt zu Huſſens Gunſten gethan habe. Das war wahr, aber der König

Luftdirnen eingefunden, «die ander heimlich Dirnen und Curtiſanen noch ungezählt». Gebhard Dacher nahm auf hurfürftl. ſächſiſchen Befehl ein Verzeichnis derſelben auf.‘

XXIII. 4

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that für Hus, dem er feine Gunjt jo mannichfach zu— gewendet hatte, feit derjelbe nah Konftanz gegangen, feinen Schritt mehr, nicht, weil er fich von Huffens Ketzerei überzeugt hätte, fondern um ber Feindſchaft mit feinem Bruder Sigismund willen: das konſtanzer Coneil als Sigismund’s Concil exiſtirte nicht officielf für den böhmiſchen König. Die Väter des Concils beichäftigten ſich am 18. und 23. Juni noch einmal mit der Prüfung von Hufjens Lehrjägen und verdammten auf Grund verjelben alle feine Schriften zum Feuer, mit ihm felber befaßten fie jich nur infofern noch, als ihm eine Widerrufungsformel vorgelegt und durch Deputationen des öftern ver— fucht wurde, ihm diefelbe annehmbar zu machen. Bon diefer Widerrufungsformel kann anerfannt werben, daß fie entgegenfommend gehalten war, Hus follte um ein „barmherziges“ Verfahren mit ihm bitten und proteftiren bürfen, daß man ihm vieles aufgebürdet, woran er nie gedacht habe. An den Deputationen betheiligten fich jelbit die vornehmſten Mitglieder ver Verfammlung, wie Atlly und Zabarella, mit Theilnahme und Beſorgniß erfüllt zeigte ſich insbejondere das unbekannt gebliebene Mit- glied, das Hus in feinen Briefen nur den „Vater“ nennt. Allein Hus erklärte, auch in dieſer Faſſung nicht abſchwören zu können, denn er würde doch immerhin noch viele Wahrheiten verwerfen, einen Meineid thun, dem „Wolfe Gottes großen Anjtoß geben. Der „Vater“ machte zwar geltend, daß Huffens etwaige Schuld, wenn er nämlich doch Wahrheiten abſchwören follte, ja nicht auf jein Haupt käme, jondern auf feine Obern, die ven Widerruf verlangt, aber Hus fürchtete bei einem jolchen Handel für feine Seligfeit.

So fam die imnerlichjte Differenz zwijchen dem An- gekfagten und feinen Richtern in den vier zwijchen dem

Johann Hus. 51

„Later“ und Hus gewechjelten Briefen zu klarem, zu— geipistem Ausdruck: Hus emancipirte fich bewußt als Einzelner vom Urtheil der Gefammtheit, hatte alſo vie Gewifjensfreiheit begriffen, aber auch die damit gejekte eigenfte perjönliche Verantwortung; das Concil bewegte fh in den hergebrachten Gedanken von ber umbedingten Autorität des Ganzen über das Glied. Zwei Zeiten waren einander gegemübergetreten, die alte Zeit noch (ebensfräftig genug, den neuen Geift zu bämpfen, aber bie neuen Gedanken fchon mit willig vergofjenem Herz- blut vertreten; und dieſe Leidenswilligfeit weiffagte ven Sieg der neuen Zeit.

Am 1. Juli gab Hus dem Concil die fchriftliche Erklärung, daß er nicht abſchwören könne noch wolle, und am 5. Juli wiederholte er fie mündlich der legten Deputation, vier Bifchöfen, zu denen fih im Auftrage Sigismund’S die böhmischen Herren gefellt hatten. Der 6. Juli, ein Sonnabend, wurde der Tag feiner Ber- intheilung und Verbrennung. Die Prälaten verfammelten fh im Dome zu Konftanz zur fünfzehnten General- Seſſion des Concils unter dem Vorfite des Carbinal- Biſchofs von Oſtia, Sohann von Brogni; einen bejondern Glanz verlieh der Sigung der König, indem er auf einem Throne figend, von den Zeichen der Majeſtät um— geben, anmwejend war. Inmitten der Kirche erhob jich ein tiſchförmiges Gerüft und darauf ein mit dem Mef- ornat behängter Holzftod. Der Erzbifchof von Gneſen elebrirte die Mefje, und unterdefjfen mußte Hus von dewaffneten umringt an der Kirchthür ftehen bleiben. Dann wurde er an das Gerüft herangeführt und ver-

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52 Johann Hus.

harrte davor kniend im Gebete, während der Biſchof von Lodi ſich in kurzer Predigt über die Schädlichkeit der Ketzereien in der Kirche und die Verpflichtung des weltlichen Armes zu ihrer Ausrottung erging. Die Ver— handlungen begannen mit Verkündigung der Strafe der Excommunication und zweimonatlicher Einſperrung, wenn jemand, weß Standes und Ranges er auch ſei, Zwiſchen— reden, Widerſpruch, Zeichen des Beifalls oder des Mis— fallens ſich zu Schulden kommen laſſe. Der erſte Punkt der Tagesordnung betraf irrige Lehrſätze Wiclif's. Die Univerfität Oxford hatte deren 260 aus feinen Schriften ausgezogen. Sie wurden verdammt, foweit das noch nicht geichehen war. Dann fam Huffens Sache an die Reihe. Es wurde ein Bericht über den Gejammtverlauf des Procefjes zur Verhandlung gebracht; als der Neferent das Berzeichnig der Hus jchuld gegebenen Irrthümer vorzu— tragen begann, ergriff der Angeklagte das Wort, um gleich den erſten Artikel richtig zu limitiren. Mean hieß ihn jchweigen, und da er dennoch zu den weitern Artikeln wieder zu reden anfing, befahl Kardinal Zabarella von Florenz den Wachen, ihn zum Schweigen zu bringen. Mit lauter Stimme bat der Angeklagte nun inftändig um Gottes ‘willen, man möge ihm doch Gehör geben, damit nur die Zuhörer nicht meinten, ev habe jo Irriges gelehrt, aber die Bitte wurde abgeichlagen, Hus fonnte nur auf die Knie fallen und mit gefalteten Händen gen Himmel blickend ftill beten. Er erhob fich wieder, als der Vorwurf erneuert wurde, er habe die Wandlung ver— worfen, feine Gegenrebe jchnitt Zabarella ab, indem er auf ihn einjchrie, Hus aber ermeuerte feine Bitte um Sehör und ven Proteft, ihm dieſe Irrthümer aufzuhaljen. Auch zu andern Punkten weiter das Wort zu nehmen, ließ er jich nicht mehr abhalten. Mit fittlicher Entrüftung

Johann Hus. 53

wies er die Beichuldigung zurüd, die man jett zum erjten male vorzubringen wagte, ev habe fich für die vierte Perjon in der Gottheit ausgegeben, eine Beſchuldigung, die un— beitritten als aus feindjeliger Confequenzmacherei hervor: gegangen angejehen wird. Als Huffens Appellation an Chriftum unter den verdammungswürdigen Irrthümern an die Reihe fam, antwortete der gequälte Mann mit lauter Stimme: „Herr Gott! fiehe, nun verdammt dies Goncil gar dein Thun und Geſetz als einen Irrthum, da du doch jelbit von den Feinden ſchwer bedrängt deine Sache Gott deinem Vater als dem gerechteften Richter anheimgeftellt haft; uns Armen zum Borbild, wenn wir irgendwie bejchwert find, zu dir, dem gerechteften Richter, zu fliehen und bein Urtheil demüthig zu verlangen!” Auch den Umjtand hob er noch einmal laut und öffent— lih hervor, daß er zum Goncil von freien Stüden mit freiem Geleite gefommen ſei. ine Röthe überflog Sigis- mund’s Wangen, als Hus bei diefen Worten jeine Augen auf ihn heftete. Als ein Jahrhundert jpäter Karl V. darum angegangen wurde, mit dem nach Worms ge— fommenen Ketzer Luther ebenjo zu verfahren, wie es in Konstanz mit Hus gejchehen jet, da entjchten der Kaifer, daß Luther das zugejagte Geleit zur Her- und Rückreiſe poll genießen jolle: Nolo erubescere cum Sigismundo.

Den folgenden Spruch des Concils verkündete ein fahlföpfiger, alter Italiener, der Biſchof von Concordia: Hus folle als ein offenbarer, hartnädiger Ketzer des Priefteramts entjeßt, aller empfangenen Weihen beraubt und dem weltlihen Arme über- geben werden. Seine Bücher jeien zu verbrennen. Auch hierbei erhob Hus wider einzelne; Punkte jeine Ein- iprache zum letzten mal, gegen das Ende hin fiel ev in die Knie und betete jtill mit dem Bli nach oben. Als der Biſchof

54 Johann Hus.

ſchwieg, rief er Chriſtum laut um Vergebung für alle ſeine Feinde an. Und dabei verſtanden viele Kirchen— fürſten nichts Beſſeres zu thun, als den Verurtheilten unwillig anzublicken und auszulachen!

Sieben Biſchöfe ſchritten nunmehr zur Degradation des abtrünnigen Prieſters. Sie ließen ihn in den vollen Schmuck der Meßgewänder kleiden; als der Verurtheilte die Alba umthat, gedachte er des weißen Spottkleides, mit dem der Heiland von Herodes zu Pilatus zurück— geſchickt worden. Nochmals wurde Hus aufgefordert zu widerrufen und abzuſchwören. Er ſtand auf, betrat das Gerüſt und im vollen prieſterlichen Schmuck, den Abend— mahlskelch in der Hand ſprach er ſchmerzlich bewegt unter Thränen, er fünne fich vor Gott nicht zum Lügner machen, nicht wider jein Gewiffen der göttlichen Wahrheit, die er vertreten, entjagen, auch nicht allen feinen Zuhörern und ben andern treuen Predigern des Wortes Gottes ein Aergerniß geben. Er ftieg herab, und die priefterlichen Abzeichen wurden ihm eines nach dem andern unter den herfömmlichen Berwünfchungen abgenommen, zulegt wurde ihm auch die Tonſur zerftört. Es erfolgte der Sprud: „Nun hat die Kirche alle Eirchlichen Rechte von ihm ge- nommen, fie hat nicht8 weiter zu thun. Er werde bem weltlichen Arm übergeben!’ Dann fagten die Bijchöfe: „Deine Seele geben wir dem Teufel anheim“, Hus aber befahl jie Chrifte. Weiter wurde ihm eine Baptermüte aufgejegt, bei einer Elle hoch, die mit drei Teufeln be- malt war, welche eine Seele umfrallten, und bie Infchrift trug: „Hic est haeresiarcha.” Als Hus fie erblidte, ſprach er: „Mein Herr Jeſus Chriftus hat für mich Armen eine viel härtere und fchwerere Krone aus Dornen unſchuldig bei feinem allerichimpflichiten Tode zu tragen geruht, und darum will ich armer Sünder diefe viel

Yohann Hus. 55

leichtere, denn fie ijt blasphemifch, demüthig tragen für jeinen Namen und feine Wahrheit.‘ Auf des Königs Befehl fegte nunmehr Pfalzgraf Ludwig den Reichsapfel weg und nahm den Verurtheilten in feine Gewalt. Er über- lieferte ihn an den konſtanzer Stabtmagiftrat mit den Worten: „Nehmet hin den Johann Hus, der nad des Königs, unfers allergnädigjten Herrn Urtheil und unjerm eigenen Befehl als ein Keter verbrannt werben ſoll!“

Das Concil fette feine Sitzung fort, Hus aber wurde zur ſofortigen Vollſtreckung des Urtheils abgeführt. Auf dem Domkirchhof lohte das Feuer ſchon aus ſeinen Büchern, er ſah es im Vorüberſchreiten und lächelte. Zu den Umſtehenden ſprach er, ſie möchten nur nicht glauben, daß er wirklich Irrlehren halber ſterben müſſe; dieſe ſeien ihm mit Unrecht ſchuld gegeben auf das Zeugniß perſönlicher Feinde hin. Mit feſten Schritten, betend und ſingend ging er dem Tode entgegen, auch ſeine Unſchuld noch des öftern betheuernd. Faſt die ganze Bürgerſchaft war zur Aufrechterhaltung der Ordnung bewaffnet aus— gerückt, ungeheuer war der Zudrang des Volkes. Es fehlte nicht an Aeußerungen des Mitleids. Der Richt— platz befand ſich zwiſchen Stadtmauer und Graben auf dem „Brühl“, einer Wieſe nach dem Schloſſe Gottlieben zu gelegen. Dort angekommen kniete Hus nieder und betete laut mit heiterer Miene. Als ihm zugerufen wurde, er ſolle aufſtehen, erhob er ſich und ſprach laut und ver— nehmlich: „Herr Jeſu Chriſte, dieſen grauſigen, ſchmach— vollen und rohen Tod will ich von wegen deines Evan— geliums und der Predigt deines Wortes ganz geduldig und demüthig ausſtehen.“ Hierauf entkleideten ihn die Nachrichter und banden ſeine Hände rückwärts mit Stricken und ſeinen Hals mit einer Kette an einen ſtarken in den

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Boden gerammten Pfahl. Da er aber mit dem Gefichte gegen Sonnenaufgang gefehrt war und einige Zujchaner das bei einem Ketzer unfchielich fanden, jo wendete man ihn gegen Sonnenuntergang um. Seine Füße ftanden auf Holzbündeln und rings um feinen Leib wurden zwei Fuder Holz mit Stroh vermiſcht bi8 an das Kinn hinauf emporgejchichtet.

Im Testen Augenblide fam, vom König gejandt, der Keihsmarfchall Haupt von Pappenheim herbei und forderte zufammen mit dem Pfalzgrafen Ludwig Hus nochmals auf, durch Widerruf fein Leben zu retten. Da antwortete er, den Did zum Himmel gerichtet, mit lauter Stimme: „Gott iſt mein Zeuge, daß ich dasjenige, was mir fäljchlicherweife, weil auf faljches Zeugniß hin, ſchuld gegeben wird, niemals gelehrt und geprebigt habe; viel- mehr war meine Hauptabficht bei meiner Predigt und allen andern Handlungen und Schriften nur darauf ge- richtet, die Menjchen von der Sünde zu befehren. Und in der Wahrheit des Evangeliums, welche ich gejchrieben, gelehrt und gepredigt habe nach den Worten und Sätzen der heiligen Väter, will ich heute mit Freuden ſterben!“ Da jchlugen beide Herren die Hände zujammen und ent- fernten ſich, die Nachrichter aber zündeten den Holzitoß an. Der Magifter fing mit heller Stimme an zur fingen; erit: „Chriſte, vu Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich unjer!”, dann: „Chrijte, vu Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich mein!” Als er aber weiter fang: „per du geboren bijt aus Maria, der Jungfrau‘, trieb ihm der Wind die Flammen ins Geficht, ſodaß man nur noch ſah, wie er Lippen und Haupt bewegte. Binnen der wenigen Augenblide, in denen fich schnell zwei, allenfalls drei Vaterunfer jagen laſſen, war er lautlos erſtickt.

Johann Hu. 57

Als der Holzſtoß niedergebrannt war und der Pfahl mit dem verfohlten Leibe im Halseifen daran noch auf: recht jtand, jtießen die Henker beides um und jchürten mit einem dritten Fuder den Brand aufs neue. Auch jchritten fie mit Knitteln um das Feuer und zerichlugen die Knochen, damit fie um fo jchneller zu Ajche würden; als fie den Kopf gefunden, theilten fie ihn durch Schläge in Theile und warfen ihn ins Teuer zurüd; das Herz ſpießten fie an einem zugefpitten Knittel auf, um e8 beſonders zu braten, zu verbrennen und mit Pilen zu durchſtoßen: wir unterbrüden dieſe graufigen Details nicht, weil fie in bebeutjamer Weiſe den Geijt jener Zeit illuftriren helfen. ALS der Reichsmarſchall und ver Pfalzgraf Huſſens Kleider in den Händen ver Nachrichter erblicten (es fiel nämlih, was ein Delinguent bei feiner Hinrichtung Brauchbares an fich trug, dem Henfer zu), befahlen jie, diefelben gleichfalls ins Feuer zu werfen, indem fie dafür eine Entjehädigung zu geben veriprachen. Schließlich wurde die ganze auf der KRichtftätte entjtandene Ajche aufgerafft und in den nahen Rhein ausgejchüttet, damit von dem Todten nicht etwas übrigbleibe, was jeine Anhänger etwa als Reliquie fortnehmen fönnten.

Das Eoncil und König Sigismund follten ihres Sieges über den Erzfeter nicht froh werden. Was half’s, daß des Gerichteten Yeben und Leib aufs gründlichſte ver: nichtet waren, er wurde recht erit lebendig mit feinem Tode! Ganz Böhmen jchied fich über ihm in zwei feind- liche Lager, die Huffiten erwiejen fich weit jtärfer als die Katholiken, und die auf Yahrzehnte entbrannten Kämpfe zogen auch die angrenzenden Gebiete in Mitleidenjchaft. Und weit über dieje unmittelbaren Folgen jeines Todes hinaus geht Huffens welthiftorifche Wirkung, die er durch jeine Gewiſſenstreue auf Jahrhunderte geübt hat.

58 Johann Hus.

Wir haben letztlich noch die Fragen um den Bruch des Hus gelobten freien Geleits und um das wider ihn erkannte Strafmaß zu erörtern, und zwar auf Grund des damals gültigen Rechtes. Der Umſtand, daß dem Magiſter der königliche Geleitsbrief erſt am 5. November zu Händen kam, iſt nicht von Bedeutung. Hus reiſte unter dem vollkommenen ausreichenden „lebendigen Ge— leite“ der böhmiſchen Barone, die für ihn durch aus— drücklichen Auftrag Sigismund's beſtellt waren, der könig— liche Brief kam als „todtes Geleit“ zu dem lebendigen noch hinzu, ohne aber eine rechtlich weiter greifende oder ſonſtwie andere Wirkung zu haben. Die Urkunde ſchützte Hus nicht gegen eine Unterſuchung und eventuelle Ver— urtheilung von ſeiten des für ſeine Sache zuſtändigen Concils, d. h. ſie hatte, wie die Vergleichung ihres Wortlauts mit den ſonſt bekannten Geleitsbriefen ergibt, nicht die Bedeutung eines „gerichtlichen Geleits“, ſondern nur eines „politiſchen“. So hat Hus ſelbſt, ſo haben auch die böhmiſchen Herren die königliche Zuſage ver— ſtanden. Gebrochen worden iſt das königliche Geleit, als am 28. November Hus ohne Verhör auf Befehl des Papſtes und der Cardinäle eiligſt verhaftet wurde. Die über ihn ſchon gefällte Entſcheidung mit der Strafe der Excommunication aber konnte nicht als Erſatz der Vernehmung gelten, weil Johann XXIII. den Bann über Hus und das Interdict über den Ort ſeines Auf— enthalts ſuspendirt hatte. Auch lag weder ein anerkannter Fluchtverdacht vor, noch etwa Nichtbeachtung des ihm vorgeſchriebenen Verhaltens. Sigismund's Schuld beſteht in der unritterlichen Nachgiebigkeit, mit der er dieſer Verachtung ſeiner königlichen Gewalt nur affectvolle Worte entgegenzuſetzen hatte. Ein Karl V. erneuerte dem Dr. Luther, als er denſelben auf den Spruch ber

Johann Hus, 59

Kirhe Hin, daß er ein verftodter Ketzer fei, mit ber Reichsacht belegte, doch vorher ausdrücklich das freie Sefeit auch für feine Heimkehr nach Wittenberg. Nicht das nahmen die Böhmen Sigismund fo übel, daß er Hus nicht gegen ven Kegerproceß ſchützte, ſondern daß er, anjtatt Huffens Anwalt zu fein, die Väter zu feiner Verdammung angeeifert.

Was die Todesitrafe betrifft, jo war fie für einen verſtockten Keter rechtens, wer durch Widerruf fein Leben rettete, wurde zu lebenslänglicher over langjähriger Haft in einem Klojtergefängniß verurtheilt. Diefer Maßſtab war Hus befannt und wurde von ihm anerfannt. ‘Die Frage ift nur, ob Hus einer Ketzerei überwiejen worden it. Wenn feinerzeit Wiclif’8 Angriff auf die Wandlungs- Iehre den Proceß wider ihn in Fluß gebracht hatte, fo mochte auch für Hus der gefährlichite der ihm zur Laft gelegten Sätze ver fein, daß nach der Conſecration ber Hoftie auf dem Altare materielles Brot bleibe. Aber gerade in dieſem Lehrſtück ift Hus feinem Lehrer nicht gefolgt, fondern vechtgläubig gewejen, wie ſchon auf dem Concil eine Stimme öffentlich anerkannte und auch fatholifche Forfcher ver Gegenwart thun. Was Huffens Anfichten über die „wahre Kirche” und das „Geſetz Chrifti”, das göttliche Wort als einzige Glaubensnorm betrifft, mit der daraus abfolgenden Beichränfung der Autorität der Hierarchie und der Möglichkeit einer Appellation an Jeſum Chriftum, fo muß daran erinnert werden, daß ein Dogma Von der Kirche damals noch nicht formulirt war, und darum war das ökumeniſche Concil, wenn auch Nepräfentation der Geſammtkirche, dem Magifter gegenüber des begründeten Nachweijes jeiner Irrthümer nicht entbunden. Aber war Hus nicht Wiclifit und Wiclif's Kegerei am Tage? Nun, Hufjens Verehrung

60 Johann Hu,

für die Perfon des Engländers fonnte jchwerlich als Be— weis der Härefie gelten, und ber in Prag gejhehenen Berurtheilung Wichf’icher Säte hatte er aus berechtigten formalen Gründen opponirt. Auch die Verantwortung für die in Prag und Böhmen entjtandenen Unruhen hatte der Angeklagte deutlich abzulehnen verjtanden, dazu würden fie ein Erfenntniß auf den Tod kaum aus— reichend motivirt haben. Wir brauchen überhaupt nicht nach Karen Gründen für Huffens Verdammung zu fuchen, das Concil ſelbſt hat fein Urtheil ohne Moti— pirung geſprochen: Das Eoncil hafte den Geift, der in Hus fich regte, fein Schriftprincip, feine Gewiſſenstreue waren mit vömifch-hierarchifchen Gedankengängen uns vereinbar.

Man ift proteftantifcherfeits früher geneigt geweſen, in dem Verfahren wider Hus rein einen brutalen Ge— waltact zu erbliden, zumal die Gejchichtspichtung in Alugblättern und Volksſchriften ſich früh des Falles bemächtigte und den wahren Sachverhalt mannichfach entjtellte und verbunfelte. Neuerdings haben wir an ber Hand der Urkunden und Concilsacten kennen gelernt, daß die Formen des Ketzerproceſſes eingehalten worden find; aber die Anklage bleibt voll und ganz für bie römische Kirche beftehen, daß man ſich weder gemüht hat, jene Formen ernjt zu nehmen, noch gar den Ver— juh gemacht hat, mit Hus fich wirklich fachlich, red— (ih und unbefangen auseinanverzujegen: daß Hus ein Keger fei, war eine ausgemachte Sache vor dem erſten Act des Verfahrens. Es genügte dem Concil, die Macht zu befigen, das „böhmifche Gift” als folches zu brand-

Johann Hus. 61

marken, dafür aber hatte man feine Erkenntniß, daß nicht eine kirchenpolitiſche Frage, ſondern eine religiöſe, eine Gewiſſensfrage vorlag. Rom hat dafür nie ein Auge gehabt, und ſomit iſt Hus allerdings als Märtyrer geſtorben.

Ein Diebkahl beim Handelsmann Schüller in Blankenheim in der Eifel.

(Mitte des vorigen Jahrhunderts.)

Der nachſtehend mitgetheilte Criminalproceß aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts dürfte deshalb auch für einen weitern Kreis von Leſern von Intereſſe ſein, weil ſich die Acten eines Proceſſes ſelten in ſolcher Vollſtändigkeit erhalten haben und ſie uns einen überaus klaren Einblick in den Gang des Inquiſitionsverfahrens, die angewandte Tortur und die ſchließliche Vollſtreckung der Urtheile gewähren. Sind doch in den Acten ſogar die Notizen vorhanden, welche ſich der Vorſitzende des Schöffenſtuhls gemacht hat, um bei der vorzunehmenden Tortur, wahrſcheinlich der erſten, welcher er in ſeinem Leben beigewohnt, die vorgeſchriebenen Formen nicht zu verſäumen. Die Acten werden nach dem heutigen Ver— fahren bei einem Diebſtahl, in welchem die Beſchuldigten im Beſitz der geſtohlenen Gegenſtände angetroffen und ein Betheiligter die That ſofort mit allen Einzelheiten einge— ſtanden hat, nur höchſtens 20—30 Folien füllen. Hier find fie zu einem anfehnlichen Bündel von Actenfascifeln angefchwollen, und Hunderte von Seiten nehmen einerjeits die verjchiedenen Inquifitionsprotofolle und andererjeitd die dem Oberhof zu Koblenz vorgetragenen und von biejem Gericht gebilligten Relationen ein.

Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller 63

Wir haben der Darftellung abfichtlich die unfern dem Kanzleiftil immer mehr entwöhnten Ohren etwas fremd— flingende Sprache des vorigen Jahrhunderts zu Grunde gelegt. Für die barbarifchen Formen des damals geltenden Procefjes paßt auch der barbarifche Stil. Man wird fich vielleicht mit Befriedigung davon überzeugen, wieviel menschlicher wir in unfern Strafen und Rechtsanfchauun- gen dem vorigen Sahrhundert gegenüber geworben find, wieviel deutjcher wir ſelbſt in der Schreibweije unjerer Acten und dem Stil unferer Urtheile geworden find.

Am 24. Juni 1751 wurde der gräflih Manverfcheid- Blankenheim'ſchen Kanzlei zu Blankenheim in der Eifel gemeldet, daß in der Nacht vom 23. zum 24. Juni in die Wohnung des Handelsmannes Schüller zu Blanfen- heim eingebrochen jei. Das Gericht hat in feiner vollen Bejegung mit dem Oberjchultheiß und zwei Gerichtsjchöffen jofort Generalhausfuchung und Augenjchein eingenommen und feitgeftellt, daß in die aus Lehm und Stücdhölzern gefügte Rückenwand des Kramladens ein jo großes Loch gebrochen war, daß ein Menſch bequem einfteigen konnte. Die obern Fächer des Kramladens waren ganz geleert und die werthvollſten Sachen, Damafte, Zi und Kattun im Werth von 300 Thlrn. wurden vermißt, während bie minderwerthigen Stoffe unberührt gelajfen waren. Neben dem gebrochenen Loch lag ein Pflugfolben, deſſen ſich Die Diebe auch damals ſchon zum Erbrechen der Wand be- dient hatten. Und um den Zugang von der Wohnung des Beftohlenen her abzujperren, während fie mit dem Einpaden der geftohlenen Sachen bejchäftigt waren, hatten die Diebe die Thür des Ladens nach der Wohnung hin mit einem Strumpfband feitgebunden, welches jpäter in der Unterfuchung noch eine große Rolle fpielte,

Auf die Anzeige hin wurden jofort einige Soldaten und

64 Ein Diebftahl beim Handelsmann Scüller.

Bürger ausgefchieft, um die Thäter auszufundjchaften und zu verfolgen „und namentlich die Heden und Büſche zu durchſuchen“.

Daneben lenkte ſich ſofort, ohne daß ein dafür erkenn— barer Grund aus den Acten hervortritt, der Verdacht gegen die Juden, welche damals nur auf Grund beſonderer Schutzbriefe geduldet waren, und es wurde feſtgeſtellt, daß der Jude Joſeph aus Engelgau, einem in der Nachbar— ſchaft belegenen Dorfe, flüchtig geworden ſei. Seine Ehe— frau wurde am 26. Juni gefänglich eingezogen, „weil ſie ſich erkühnt hatte, ſich ohne Schutz und Geleit in den gräflichen Landen aufzuhalten“. Bei ihrer Vernehmung gibt ſie an, ſie habe gehofft, daß ihnen neuer Schutz ge— währt würde, zur Sache aber behauptet ſie anfangs, ihr Mann habe ſich in der Nacht des Diebſtahls zu Hauſe aufgehalten, ſpäter aber beſinnt ſie ſich, daß er auswärts geweſen ſei, er verreiſe oft drei bis vier Tage, ohne ihr jemals ſeiner Reiſe Ziel und Zwecke mitzutheilen. Inzwiſchen wurde ermittelt, daß der Knecht eines Juden Moſer zu Bergheim beſtändig einen verdächtigen Verkehr mit aus— wärtigen und umherziehenden Juden unterhalte. Dieſer Knecht hatte am 24. Juni beim Schultheiß in Kuchenheim eine neue Schlafhaube und etwas Zitz mit dem Bedeuten niedergelegt, er habe dieſe Sachen von zwei Juden er— halten, die er nach Bonn begleiten müſſe, er wolle ſie bei ſeiner Rückkehr wieder abholen. Der Beſtohlene wurde nach Bergheim geſchickt und bei Moſer wurden für 10—12 Thlr. Waaren vorgefunden, welche Schüller mit Sicherheit ald ihm gejtohlen wiederfannte. Moſer wurde mit jeinem Knecht nach Blankenheim gebracht und fagte aus: Am Morgen des 24. Yuni fei der ihm befannte Joſeph aus Engelgau in Begleitung von zwei andern ihm nicht befannten Juden in feine Wirthichaft gekommen.

Ein Diebftahl beim Handelsmann Shüllenr 65

Alle drei ſeien jchwer mit Süden beladen gewejen, und er babe den Joſeph gefragt: „Was haft du denn? Ich glaube du trägft ven Dom zu Köln.” Joſeph antwortete, er jet Kaufmann geworben und trage Waaren, Joſeph habe fie offen im Wirthszimmer ausgelegt, und der Zeuge habe ohne irgendeinen Verdacht von den Waaren gefauft.

Auf Verlangen der drei Fremden iſt der Knecht des Moſer mit ihnen weiter gegangen und hat ihnen die Waaren auf der Strafe nad Bonn eine Strede weit getragen, bis fie einem andern Juden begegneten und dieſen als fernern Padträger annahmen. Als Lohn hatten fie dem Knecht die Schlafmüge und 1', Ellen von dem Zit übergeben.

Auf Grund der Ausjagen des Mofer und feines Knechts wurde eine genaue Beichreibung aufgenommen, wie die drei Diebe nach „Statur, Kleidung und ſonſten beihaffen gewejen”, und dann der Beftohlene, oder wie er in ven Acten heißt, die pars derobata mit dem Re— quifitortaljchreiben nach Bonn geſchickt. Zugleich wurde demjelben ein Schreiben an den Bertrauensmann bes Grafen von Manderſcheid in Bonn, dem kurkölniſchen Hofrath von Uphoff mitgegeben und der lettere um Bei- bülfe erjucht. In Bonn vifitirte man fofort die Juden— gaſſe. ES wurde feitgeftellt, daß die Diebe in der Stabt jelbjt bei einem Bäder logirt hatten, und der Beftohlene verfolgte diejelben weiter nach Siegburg. Dort wurden die beiden Diebe Nathan Levifch und Joſeph Salomon mit dem größten Theil der geftohlenen Waaren angetroffen. Dei der Bifitation des Joſehh Salomon wurde das Gegenftüd des Strumpfbandes, mit welchem die Ladenthür zugebunden war, in der Tafche gefunden. Als der Ge- richtsdiener e8 ihm aus der Taſche zieht und die Ueber— eanitimmung mit dem vom Bejtohlenen mitgebrachten

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66 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller.

Strumpfband feitgeftellt wird, bricht der Schultheiß im die Worte aus: „Jud, das Bändel hat dich verrathen.

Einige Schwierigkeit macht der Transport nach Dlanfenheim; denn der Schultheiß von Siegburg ver- langt, daß die Inhaftirten durch blanfenheimer Schügen abgeholt werden ſollen; durch Uphoff’8 VBermittelung wird indeß ein bonner Hufarencommando ausgewirkt und unter deffen Leitung werden die beiden Angejchuldigten nah Blankenheim gebracht.

Unterwegs geftand der einundzwanzigjährige Nathan Leviſch dem Hufarenwachtmeifter feine Betheiligung an dem Diebftahle ein. Jedoch wollte er nur als Knecht bet den beiden andern Juden, dem entflohenen Joſeph aus Engelgau uud dem Joſeph Salomon gemwejen jein. Er fei, fagt er, mit feiner Frau in Holland gewejen, von dort nach Neuwied gefammen und habe in Neuwied den Juden Joſeph Salomon. kennen gelernt, der ihm im jülicher Land Arbeit verjprochen habe. Sie jeien zu— fammen ven Rhein herunter bis Bonn gefahren und über Poppelsdorf nach Engelgau gegangen, wo fie bei dem entflohenen Joſeph einfehrten. „Am folgenden Abend gingen fie’, wie er weiter befennt, ‚nach Blankenheim.“ Bor dem Drt wurde ihm gejagt, er folle die Schuhe ausziehen; er weigerte fih anfangs, Joſeph Salomon jetste ihm aber ein Meffer und als er bei feiner Weigerung beharrte, eine Piftole auf die Bruft. Infolge deſſen ent- ſchloß er fich mitzugehen und an einer Straßenede Schild- wache zu ftehen. Kurze Zeit darauf kamen bie beiben andern Juden mit drei großen Baden, von welchen er den einen überwachte. Dann wanderten jie zuſammen nach Siegburg.

Bei feiner Verhaftung in Siegburg vor dem „praetore et V scabinis bejegten Gericht‘ Leugnete Leviſch an

Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 67

fänglich. Später machte er die hier mitgetheilten An- gaben, die er im dem in Blankenheim unter den gleichen Formen erfolgten inquifitorifchen Verhör wiederholte.

Joſeph Salomon aus Frankfurt, ein Schutzjude des Herrn von Darff, leugnete dagegen alles; er will bie Waaren für 25 Piltolen von einem Handelsmann in Neumayen gekauft haben. Als ihm das Strumpfband in Siegburg aus der Tafche gezogen wird, befitt er fogar die Unverjchämtheit, ven Gerichtspiener zu bejchuldigen, er habe es ihm heimlich hineingeftect.

Der am 3. Juli ftattgehabten Inguifition folgten bie eidlichen Bernehmungen der Zeugen gleichfall® vor be= jegtem Gericht zu Blankenheim bis zum 15. Juli. Frau Joſeph aus Engelgau erkannte die beiden Angefchulpigten als diejenigen Freinden wieder, welche vor dem Diebjtahl eine Nacht in ihrem Haufe zugebracht und fich mit ihrem Manne entfernt hatten. Schülfer verficherte, daß die in Beichlag genommenen Waaren ihm gejtohlen jeien. Er legte Vergleichsftüde vor, die er bereits. vor dem Dieb— ftahl von dem gejtohlenen Ballen abgejchnitten und in Dlanfenheim verfauft hatte, er fagte aus, daß Joſeph Salomon unter dem Vorwande, etwas faufen zu wollen, am Tage vor dem Diebftahl in feinen Laden gefommen war und dort augenjcheinlich recognofeirt hatte. Auch Mofer und fein Knecht beftätigten, daß die ihnen vor- geitellten beiden Gefangenen am 24. Juni in Bergheim geweien und die Waaren bei fich gehabt hätten. Es wurde durch richterlichen Augenfchein der Ort feſtgeſtellt, an welchem Leviſch Wache gehalten haben will, und e8 erwies ſich derſelbe als gut gewählt, weil man von dort aus die ganze Hauptitraße überfehen, die durch ein Neben- gäßchen eingebrochenen Diebe leicht benachrichtigen und jofort ins Freie gelangen fonnte.

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68 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller.

E8 liegt noch ein notarielles Protokoll bei den Acten, durch welches unter Vergleichung mit der Rechnung des fölner Lieferanten mit den befchlagnahmten Stücken feſt— gejtellt wurde, daß für 53 Rthlr. Waaren fehlten. Zu dieſem Werth mußten aljo die Diebe bereits Waaren verfauft haben.

Joſeph Salomon wurde wieder vernommen. Er er— flärte, die Zeugen hätten einen faljchen Eid gejchworen, verwickelte fich aber in Widerjprüche mit feinen frühern Angaben. Beim Eintritt in das kurkölniſche Land mußten die Waaren in Kuchenheim verzollt fein, und in ber That wurde auch ber Fuchenheimer Zollzettel aus Salomon’s eigener Brieftajche herausgeholt und ihm vorgelegt. Zuerit behauptete er, er habe ven Zettel gefunden und die Waaren in Brühl verzollt, dann aber fagte er „ganz boshafter- weise‘, er fei nicht unter feinen Briefen gewejen, ſondern von fremder Hand daruntergefchoben. Zum Schluß wurden Leviſch und Salomon confrontirt, die In— quifitionsprotofolle gejchlofjen und dem Grafen von Man— dericheid mit dem Erjuchen zugefchiet, dem leugnenden Salomon Tauf fein Erjuchen defensorem in Köln zu beſtellen (als welche hiefigen Orts nicht zu gehaben find) und einen oder zweien bewährten Criminaliften als Re— ferenten die Protokolle einzuſchicken.

Wenn man die umftändlichen Formen des Inquifitions- procefjes vor bejettem Gericht, die Reguifitionen von Blankenheim nah Bonn und Siegburg in ein Nachbar- gebiet berüdfichtigt, jo muß man über die Schnelligkeit des bier jtattgehabten Verfahrens ftaunen. Am 24. Juni ijt der Diebftahl entvedt und am 15. Juli die Unter- juchung bereit8 beendet.

AS Referent wurde ein Rath bei dem Furtrierjchen Oberhof zu Koblenz beftellt. Sein Referat füllt bei dem

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weitläufigen Kanzleiftil des vorigen Jahrhunderts nicht weniger als 118 Folien, obwol der Referent nach dem Vortrag des aus den Inquiſitionsacten geſchöpften That— ſächlichen ſelbſt hervorhebt:

„Betrachtet man nun ganz genau dieſen Verlauf, und daß darauf diefe Juden, wie bejchrieben worden, aljo verfundfchaftet, verfolgt und in der That fogar mit den Waaren ergriffen worden, jo wird wol fein vernünftiger Menſch zu finden fein, der den geringiten Zweifel machen wird, daß nicht eben dieſe beiden inhaftirten Juden die wahrhaften Thäter feien und jo gut als für überwiejen anzufehen find, als ob fie entweder der That geſtändig oder auch in flagranti ertappt worden wären.”

Darauf führt die Relation mit großen Bedenken aus, ob auch ein wirklicher gewaltjamer Einbruch ftattgefunden babe; denn e8 ſei nur eine Wand von Stüdhölzern mit Lehm durchbrochen, fie zerftreut aber diefe Bedenken mit ber nicht eidlichen Ausſage der Frau Schüller, welche unter Eid zu wiederholen jei, daß neben der durchbrochenen Wand ein Pflugfolben gelegen und dicht dabei eine augen- icheinlich von den Dieben benutte Yeiter geitanden habe, Dann wird ausgeführt, e8 Liege ein gewaltjamer und gefährlicher Diebitahl vor, weil deren Theilnehmer jich verbunden und Salomon eine in Siegburg bei ihm ge- fundene mit vier Stüden groben Schrots und drei Kleinen zerhauenen Bleiſtücken geladene Piſtole bei fich geführt babe; auch habe er noch fieben Stücke zerhauenen Bleies mit Schrot in Mafulaturpapier bei fich getragen. Dem— nach Tiege ein armata manu begangene® furtum vor.

Der Referent führt fort, daß auch ein großer und iharfer Diebftahl vorliege, und begründet die Größe jelt: ſamerweiſe nicht mit dem Werth und Umfang der in der Nacht vom 23. auf den 24, Juni gejtohlenen Sachen,

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fondern zieht von demſelben ven Werth der dem Schüller wieder zugefommenen Waaren ab, ſodaß er einen wirk— lichen Schaden von 73 Rthlrn. herausrechnet. Hier hat der Vertheidiger monirt, daß der Werth durch ein notarielles Protokoll unter Heranziehung der Rechnungen aufgeftellt jei, cum notario non credatur absque testibus und ichlägt der Referent daher vor, den Beftohlenen nochmals über den Werth zu befragen.

Er folgert, daß Leviſch auxilium in furto ipso commissum präjtirt habe, denn ohne feine Hülfe hätten die zwei andern nicht jo viele Waaren fortjchleppen können. Man könne fogar annehmen, Levifch ſei der Anftifter des ganzen Diebjtahls gewejen. Denn er habe früher in Geroljtein gewohnt und dieſen Ort erjt vor fünf Sahren verlaffen, weil jein Bater eines Pferdediebſtahls verdächtig war, er ſei geftändig, ſchon früher auf einer Hochzeit einen Diebftahl begangen zu haben, kenne die ganze Gegend und ſei mit der Frau des Joſeph in Engelgau verwandt. Augenjcheinlich habe er den fremden Salomon in die Gegend gebracht, um mit ihm dort zu ftehlen. Er habe feine Abficht, ind Nieverland zu reifen, nicht ausgeführt und alle feine Schußreden, er fei gezwungen, habe nichts von dem Diebjtahl gewußt, feien nur für unwahre Ausflüchte und Lügen zu halten. Er jei baber al® confessus reus anzufehen und zur poena lagnei zu verurtheilen. Gegen ihn wird noch als belaftend am geführt, daß er in Siegburg anfänglich gelengnet und behauptet habe, er komme mit den Waaren aus Holland.

Gegen Joſeph Salomon liege zunächſt nur die Aus- ſage des Leviſch vor, ber fein tüchtiger und unver- leumdeter Zeuge jei, da er nicht zum juramentum ab- mittirt werben könne. „Es haben aber die Criminal Rechten erfunden, daß ein jolcher socius fich per tor-

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turam habilitrien muß, um dadurch zu beftätigem, daß das jeinige wahr fei, wobei denn abjonderlich gefordert wird, daß dem Leviſch in der Tortur fein Name des socii genannt wird, fondern daß er aus fich felbit heraus diejenigen benennen muß, bie ihm in und zu ber That verholfen haben. Und ba dieſes noch nicht gejchehen, muß Leviſch noch zur fcharfen Frage verwieſen werben, jedoch vorbehalt feines Geftändnijjes und des— halb in Rechten verdienter Zodesftrafe” Die wirkliche Zortur fei bier aber nicht nothwendig, „ſondern e8 genüge, daß er dazu verwieſen und ad locum torturae cum praeextensione instrumentorum torturalium et aliqua ligatura geführt und angegriffen werde und dann absque suggestione bei feiner vormaligen Aus- jage verbleibe“. Deshalb befürwortet der Referent, daß Leviſch auf gebundenen Stuhl geſetzt, und die Daum- ſchrauben diefem complici etwas applicirt und ein wenig angebrüct werben könnten, um deſto ficherer und um— jtändficher die Wahrheit heranszubringen.

Gegen Salomon jpreche noch, daß er den Zollichein über den Ffurfölnischen gezahlten Zoll für drei Pade Waaren von Kuchenheim bei fich getragen, während er biefelben von Düffeldorf gebracht und bei Brühl verzollt haben will.

Das Referat führt die Widerfprüche in Salomon’s Auslaffungen weitläufig aus, äußert feine Anficht dahin, dag man ihn für überführt halte, aber alle dieſe Um— ftände genügten nicht, ihn zu verurtheilen, und ev müfle „wegen jo vielfältigen Verdachts zur jcharfen Frag durch alle Grad hindurch condemnirt werben‘.

Diefes Referat wurde am 20. October 1751 bei dem Oberhof in Koblenz vorgetragen und durch Vermittelung des Grafen von Mandericheid dem Schöffengericht zu

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Blankenheim überfandt. E8 wurden darauf am 1O. Novem- ber noch einmal der Bejtohlene Schüller und feine Ehefrau unter Eid vernommen. Schüller jchäßte den Werth der ihm Ipecificirt abhanden gekommenen Waaren auf 53 Gulven und nimmt an, daß ihm noch für 20 Gulden Waaren geftohlen feien, welche er nicht näher fpecificiren kann. Er fowol wie feine Frau bejtätigen, daß der Pflugfolben neben dem in die Wand feines Hauſes gebrochenen Loch gelegen und die Leiter angelehnt geftanden habe und beide Inſtrumente augenfcheinlich zum Durchbruch benust jeien. Ebenfo jagt der nochmals eiblich vernommene Schloffer Hermann aus. Demnach war das Bedenken des Ober- hof8 gehoben, ob auch ein „wirklicher gewaltfamer Ein- bruch“ vorliege, und e8 konnte nunmehr das weitere Ver- fahren ftattfinden.

Am 15. November erfolgt die sententia prima bes Schöffenſtuhls Blankenheim dahin: „wird auf Ge- ſtändniß des inquisiti Nathan Leviſch, welch’ Geftänp- niß hiermit ausdrücklich vorbehalten und die wohlverdiente Todesſtraf refervirt wird, nach eingeholter Nechtsbelehrung bei einem auswärtigen Oberhof hiemit zu Recht erkannt daß der geftändige Inquifit wegen der bei diefem Dieb- jtahl gewejenen Kameraden dahin zur jcharfen Frag zu verweifen, um wermittelft derfelben zu befennen und zu befräftigen, welcher oder welche diefen Diebftahl begangen, wo, wann und wie mit allen babei fürgenommenen Um— ſtänden.“

Da man am Oberhof in Koblenz vorausſetzte, daß die bei Anwendung der Folter zu beobachtenden Umſtände in Blankenheim nicht genügend bekannt ſeien, ſo wurde der Relation und dem bereits im Entwurf beigefügten drei Urtheilen noch eine genaue Folterinſtruction hinzu— gefügt: Pro notitia necessarie observanda, welche wir

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unverändert in ihrem alterthümlichen Deutſch-Lateiniſch folgen laffen. Es lieſt fich aus den Worten das graufige Behagen heraus, welches der Referent beim Appliciren ver Daumfchrauben und der fpaniichen Stiefeln empfindet, indem er noch einige bejondere Feinheiten zur Erhöhung der Empfindlichkeit hervorhebt.

Pro Notitia necessarie observanda.

Gleich wie die ahnliegende Relation über Beyde in- quisitos Juden Nathan und Joſeph Bejaget, daß Erfterer der Nathan wegen feiner Bekäntnuß mit dem ftrang Vom leben Zum Todt hinzurichten, Der inquisit Joſeph aber durch alle gradus Zur ſcharfen Frag zu Condemniren, undt wegen des Viellfältigen wieder Denfelben obwaltenden Berbachts dardurch zur geſtändnus der wahrheit zu Ver- mögen ſeye, Vermit deme gleichwohlen, daß der inquisit Nathan feine aufag auf den Juden Joſeph, daß derjelbe den Diebftall Begangen, undt ihme den pad waare zu— gebracht habe. Durch die fcharfe Fragbeftättige, Vorhero auch pars derobata ver jchüller auf feinen geleiteten aydt, ſei feine Specification Erlittenen jchadens sub litr. E vergeftalt Bejtättige, daß Er dabey gewehen, wie der Notarius dieße Specification aus den Rechnungen mit Manual Errichtet, dabey Er jelbften demnechſt feinen ſchaden alffolchergeftalt überlegt, und nach wiſſen tarirt, daß nicht allein die Specificirte waaren auf 53 rthr. jonderen auch die ihme ohnwifjende undt manquivende waaren auf 20 rthr. ſchätze, und Bekräftige, desgleichen muß auch noch des derobati jchüllers Ehefrau furato abgehöhrt werden über den Befund nach Bejchehenen Diebftall, daß ahn und bey ihrem laden morgends frühe auf den 24. Junyh letzthin Ein leither, dan Ein pflug

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Ehen, oder pflug jeig gejehen, undt gefunden, undt war, wie nicht zu Zweiffelen, die Nachbahren undt fonjten Semand glaubhaftes Eingleiche® auch der Zeith gejehen haben folte, Ein oder anderer Dieſes Ebenfals zu Be— fräftigen hätte; welchen nechſt Dan die hiebey kommende torturalurthel Deme inquisiten Nathan zu publiciren, undt folgender gejtalt zu exequiren währe;

Dan gleich die Enpliche urthel fo Entgegen venjelben abgefaffet, undt auch Hierbeneben gehet, Beſaget, daß berjelb wegen feiner geſtändnus mit der Enblicher Todts— jtraf zu Belegen jeye, jo wird in bießer torturalurthel deſſen geſtändnus undt desfals Verwürkte Bejtrafung austrücklichen Vorbehalten, womit Derſelb kein anlaß Nehmen möge, ſeine geſtändnus zu revociren, oder zu glauben, daß Er wegen dießes Diebſtalls umb zur Be— käntnus der wahrheit zu Bringen zu Dießer folter con- demnirt werde, ſondern dieſes gejchehet allein, umb vie wahrheit undt ficherheit zu haben wegen deren Complicum, undt Bey dießem fürgegangenen Diebjtall geweßenen ge- jellen, im mafjen gleichiwie feinem Zeugen ohne Jurament glauben Beygemeſſen wird, alſo wird Ebenfal® feinem Dieb oder übelthäter wegen feiner Complicum glauben Beygemeſſen, Er habe dan in der marter inhalts pein- licher halsgerichts ordnung art. 31 ſolche ahngegebene gejellen und Cammerathen wieberhohlet undt Beftättiget Daß ihm gleichwohlen folcher gejellen nahmen in ver marter Vorgehalten werde, jondern Es muß derſelb ſolche Bon freyen ftüden ohne suggestion Bekennen, welchem- nechſt Eine folche nominatio sociorum eriminis fo Vill würket, daß daraus Ein zulängliches inditium ad tor- turam wieder folche gefellen Entftehet, worauf der in- quisit Joſeph Salomon fowohl alsdan torquirt werden fan, als wir auch wan über furk oder lang ber flüchtige

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Joſeph habhafft gemacht werben folte, undt diefer Von ihme Süden Nathan in der marter für den Thäter dießes Diebftall8 ahngegeben werden wird, derſelb auf den laug- nungsfall Ebenwohl mit ver fcharfen frag ahngegriffen, undt darzu Condemnirt werden fünte, wobeh dan folgendes in praxi zu observiren ftehet, daß van alfo diefe tortural- urthel in gegenwarth Hrn. Richter undt Beyfigeren wobeh, zugleich wenigft der ſchultheiß mit 2 jchöffen mit adhibirt werden müfjen, in welcher aller gegenwarth dan nicht alfein dieße urthel deme Juden Nathan zu publiciren jtehet, fonderen publicata. sententia derſelb über ben gangen Verlauf des die nacht zwijchen ven 23. auf ben 24. Juny legthin zu Blankenheim Begangenen Diebitalls zu Befragen wehre, ohne daß ihme das geringite davon in Specie Vorgehalten werde, mithin außagen, war, wo, wie undt welche dießen Diebjtall Begangen, undt war dießes aljo gethan, und ad prothocollum per secreta- tarium et Judicy scribam aufgezeichnet worden ift, Derjelb zu Befragen ift, ob Dan dießes aljo ficher unbt wahrhaftig wahr jeye, daß Er die ihme publicirte urthel desfals ausjtehen, undt damit Befräftigen wolle, daß Er, ohne denen Benenten Complicibus damit waß ohnwahr nachzugeben, dieße folter ausftehen wolle, und müſſe, worauf fogar in Etwa doch nicht zum fcharffiten gebunden, anf den ftuhl gejegt auch wohl die Daumſchrauben dießem inquisito nathan Etwas zugefchraubet werden mögen, biß dahin davon die Empfindlichkeit in Etwa jchühret, wan derſelb nun alles wird alljolchergeftalt Bejtättigen, und die Complices ahngeben, jo wird dieße Benennung für Richtig gehalten, wo alß dan dem nathan alſo Bald die Daumfchrauben loßmachen, undt auf Binden zu laffen jeynd, forth auf freyen fuß in der marter Cammer zu ſtellen ift.

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Wobey dan nochmahls wohl in obacht zunehmen Er- innernt wirbt, feine questiones suggestivas zu machen, weder den Nahmen des inquisiti Joſeph Salomon, als wie auch des flüchtigen Joſephs oder fonften Jemand Borzuhalten, fondern E8 muß dießer Nathan alles felbjten ahngeben, undt aufjagen, jo Bald nun diejes gefchehen, jo fan eadem et altera die die auch hiebei) fommende tortural urthel deme inquisito Joſeph Ebenfals in ob- gemelter aller ambts und gericht® personen dan auch in gegenwarths des nachrichters, wie folches auch bey publica- tion Voriger urthel zu Berftehen, in loco consueto judicy publicirt werben.

Welchemnechſt der Hr. Präses deme inquisito Joſeph Borzuhalten hatt, wie Er nun mehro fehe, worauf Es ahnkomme, undt daß durch peinlihe Marter durch alle gradt zur geftändnus der wahrheit Vermöget werden folle, weldhe Er gleichwohlen nicht überftehen wurde, folte ge- denken, wie Vielle umbitändt Vorhanden, woraus nicht anderjt geglaubt werben fünte, als daß Er inquisit dießen Diebftall Begangen, undt weſſen auch überzeuget ſeyn, durch die aufag des inquisiten Nathans, des flüchtigen Joſephs, welcher dardurch fich ſchuldig gegeben, durch beffen Eheweib aypliche außag, daß den 22. undt 23. Juny in ihrem Hauß geweßen, undt daſelbſt gejchlaffen, ven 23. aber gegenabendt alle 3 ausgangen, und nicht zurüd fommen wahren, tl. des Juden Von Berchems undt feines Knechts ausfag, wohin morgens den 24. Juny umb 6 uhren mit 3 fchwehren packwaaren fommen, davon Dannen auf Cochem (Cuchenheim) fortbgangen, wohin des Derchemer Judens Knecht Einen pad Von den Zen päden tragen helfen, daß zu Cochem ven Zoll für fich und 3 pad bezahlt, undt Bejage auch folches das Bey ihme gefundene Zollzettelgen, welches in feinem Kampf—

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fuder gefunden, daß Endlich felbjten nach Viellen leugen gleihmwohlen geitanden, undt gejtehen müffen, daß ven 25. Juny zu Boppelsvorf mit waaren ahnkommen, wobeh dan auch der confessirender Nathan mitgeweßen, nach gehaltenem Schabes auf Bonn gangen, undt in Eins daßigen Bedershauß aufen ward, wie felbiten Bekennet, ſich Einlogirt, diejer fraw auch drey jehnupftücher Ver— faufet, Endlich Vom jontag bis Dienftag daſelbſt Ver- blieben, Bon dar auf fiegburg gengen, altwo dan auch mit den waaren Ergriffen, undt gefänglich überbracht worden, wo barbeneben Eine jcharfgeladene pistol, over jadpuffert Bey ihme gefunden worden, wie besgleichen Das gegentheill Von dem ftrumpff Bendel, womit vie Thür, worin geftohlen, zugebunden gehabt, forth auch alle waaren Bon dem Bejtohlenen mann Bon Blankenheim für die ſeinige ahnErkennet worden feynd, über deme nicht Erwißen fan, wo feßhaft, fonderen Viellmehr geftehen müffe, daß über all herumb vagire, nuhn jolte hierab Erſehen, wie aller dieſer umbſtänden halber ver Be— gangenen That überführt jeye, undt nichts mehr abgebe, als feine eigene geſtändnus, wo ohne daß allichon jo Viell Bekennet, daß man ahn der That nicht mehr zwehfele, jolte alfo in der güthe annoch zu ferneren Bekäntnus fich anſchicken, BeVor ihm durch die jcharfe Frag die glieder zerriffen, undt aljo zum armen Menjch und Kruppel gemacht wurde.

Wan nuhn auf diejes alles nichts Verfangen wolte, weniger derſelb fich zur geſtändnus ahnjchiden jolte, fo wird dießer inquisit ahnforberift deme nachrichter über— antworthet umb zur marter Cammer zu führen, Zu Bor aber barzu zu praepariren, nemblich die haar und jonjten abjcheren, auch ausKleiden undt genau visitiren zu lafjen, ob nicht Etwa derjelb was Verdächtiges Bey fich habe,

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wo indeffen Hrn. Beambter, undt richterr, wie Vorgemelt, zu der Marter Cammer ſich zu VBerfügen haben, allwo dan Vorherr der nachrichter feine instrumenta Torturalia parat liegen, undt aufgehenkt haben muß, welchemnechit dan auch dießer inquisit durch den Nachrichter mit zurück— laffung der wacht undt übrig darzı nicht gehörigen per- sonen herbey gebracht werden muß, allwo dießem in- quisit nach mahls all Boriges kürtzlich Vorzuſtellen ift, darneben aber auch alle gradus undt deren instrumenta nemblich die Daumftod, die ſpanniſche ftiefelen, und der flajchenzug Vorzuzeigen ſeynd, jedes ind Beſondere, mit der ahnmerfung undt Verwarnung, daß Er gewiß dieſelbe nicht überftehen werde, undt fein laugenen ihme aljo auch nichts helfen werde; warn dießes alles aber in der güthe Bey dem inquisito nichts DVerfangen will, jo fchreitet man zur würflichen tortur, vergeftalt, daß deme in— quisiten zu Erſt die Händ zufammen gebunden, dem nechſt derſelb auf Einen ftuhl ahn Eine wandt feſt— gebunden werde, daß alſo daſelbſt aufricht ſitzen bleiben muß, demnechſt werden demſelben die augen Verbunden, Beyde Daumen mit jchmahler Cordel umbwickelt undt darauf zu Erſt der Daumſtock applicirt, wobey zu Err— inneren, daß bießer wie auch die andere Beyde gradus jeder Eine Completo 4tel ftundt pflege ahnzudauren, undt wird aber Ehender nicht diefe Atel ftundt gerechnet zum anfang bis die zutrüdung undt Empfindung Beh dem inquisito Verjpühret wird, welche minute der ftund dan auch alfo ad prothokollum gejetet wird, umb Zu— jehen, wan dießer actus ahngefangen, undt aufgehöhrt, wobey aber zu Errinneren ift, daß war der inquisit Etwa Belennen zu wollen, undt ihnen loß zu Binden begehren würbe, man folchem Begehren nicht gleich gehör geben jolle, jonderen E8 hatte inquisit als dan Vor

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feiner Loß- Bindung Eine Etwaige glaubliche geſtändnuß zu Thuen, welchemnechit Erſt, Loßgebunden werben mag, wobey aber wohl zu Bemerfen ftehet, daß alfo bald, wan die instrumenta los undt aufgefchraubet werden, daß alfo gleich die minut undt Zeith Ebenfalls ad protho- eollum PVerzeichnet werde, um in dem Fall, wan anmwieber ih auf das leugenen Begeben folte, oder fonft die Rechte wahrheit nicht ausſprechen würde, wie jolches öfters ge- ſchieht, umb nuhen bie Zeith aljo umb zu Bringen, fo fahret man fo lang forth zur rechnen Bon der minut, wo man abgelafjfen, dan wo man ahnwieder mit würf- licher Empfindung ahnfanget, die Zeith ad prothocollum zu ſetzen, undt aljo jo lang zu Continuiren, bis bie Völlige Atel ftundt, oder 15 minuten in dem Erften, wie auch den anderen Beyden gradibus aljo Vollkommen Voll⸗ jogen worden ijt, wobey dennoch weithers zu Errinneren itehet, daß, warn: ver Inquisit Iofeph Beftandig in nega- tiva Bey allen 3 gradibus continuo Berbleiben undt die marter halfftärrig, oder hartnäckig überjtehen jolte, jo hatt man Bey Jedem gradu zu Beobachten, daß gleichwie die Zujchraubung langfamb nah Ein ander ge- ſchehen muß, daß wenigit Bey ablauf der halbſcheid der Viertelſtund die ſchraub ſich Völlig zu Befinde, undt dem— nechſt, ohne daß auch Etwas der inquisit Bekennet, die Daum- oder Beinfchrauben alfo Bald auf- undt Los— ihrauben zu laſſen Befohlen werde, fjolches auch ad prothocollum notirt werben müffe. Demnechit wird dem inquisito das geficht Loßgebunden, die durch die Daum: jtode zugejchraubte glieder gezeiget, umb zujehen, wie diejelbe zugerichtet, undt zu waß für Einen armjeeligen gebrechlichen Menichen Er ich ſelbſten muche, forth warn alles nichts DVerfangen will, demnechſt ahnwieder mit Etwaiger halber frifcher anfegung der instrumenten auf

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frifch fleifch Bei der abgelaffener minut jo lang forth fahren, bis die PViertelftund allemahl Vorbey, hiebey iſt weither zu Errinneren, daß der Nachrichter zu Verrichtung jeiner function nicht allein nachtrudiamb Verwahrnett werde, fondern dießer muß atıch feine dexterität darin Beweifen, daß Er Bey dem Daumftoden mit Einem hammer, nachdeme aufs neu undt fo oft als zugejchraubet, darauf Flopfe, welches den inquisitum neue Empfindlich- feiten Verurfachet, wie desgleichen pfleget, undt muß ven inquisit das Bein, woran bie fchienjchraub ahngeſetzet wird, mit ahnbindung Einer dünnen Cordel ahn vie große Zehne jolchergejtalt feſt ausgejtredet werden, daß das Bein nicht aufliege, noch ruhen könne, undt wird demnechjt mit dem Hammerftill Zeithlich darauf geichlagen, wodurch diefe geſpante Cordel in Bewegung gebracht, undt ber inquisit jolches deſto Empfindlicher jpühret. Bey dem leßteren gradu des aufzugs ba dem inquisito bie Händt auf den rüden gebunden, undt aljo hinterwärths aufgezogen wird, jo ftehet hiebey zu consideriren, daß Ein gantes Dannen Bort dem inquisito mit bünnen doch ſtarken Cordelen ahn die Zehen gebunden werde, welches derſelb nicht allein alſo mit in die höhe ziehen muß, jonderen Es hatt der nachrichter Jedoch mit jolcher Beicheivenheit, das wohl Endlich dem inquisito nicht gar den leib undt glieder aus Einander ziehe, alſo Bejcheident- ih undt Yangjamb nach undt nach darauf zu tretten, undt zu truden daß nicht allein der inquisit jein Völliges gefühl darvon habe, jondern auch durch jothanes lang— james aufjtoßen und Bewegen die Erjchütterung ahn feinen leib Berjpühre, imgleichen pflegen auch Beh dießem actu Etliche quassaten gegeben zu werben, bergeitalt, daß vie Cordel, worahn der inquisit hanget, nicht allein Etliche mahl durch Einen hammer oder jtodjchlag-Erjchüttert, und

Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 81

Beweget wird, fonderen ber nachrichter pfleget auch, wann dem inquisit in ber hohe hanget, Eine folche abmaaf zu nehmen, daß auf Einmahl den inquisitum alfo hange, oder ohngefehr Einen ſchuh Hoch auf Einmahl fallen Laffet, Jedoch dergaftalt, daß weder mit dem leib noch den füßen auf die Erde fommet, fonderen gleichwohlen alfo jchweben, und bangen bfeibet, in summa gleichwie Bey gefährlichen hartnädigen, undt gleichjamb überwiehenen Dieben alle Vorjorg undt Behuthſamkeit Vorzufehre alfo auch Viell darahn gelegen in folchem casu ahn Einem Erfahrnen Richter, undt daß derjelb den nachrichter zu aller prae- caution hinweiße, warn derſelb ohne daß Vielleicht derley actus Entweder gahr nicht oder gahr jelten practiciret hatt, undt Eben darumb man hiebey auch alfo umbjtänd- (ich diefen tortural actum zur praecaution ahngezeigt hatt, undt wohl zu wünfchen wehre, daß Einem Judicem practicum zu dießem casu hatten, oder allenfald fich Etwa aus Erjehen mögten, wann jelbiten Vielleicht derley actus noch nicht gehabt, undt dabey geweßen, wie im- gleichen auch Ein geſchickter nachrichter mit tauglichen instrumenten Beh jolchen gefährlichen delinquenten wohl Donnöthen it, undt ahnzurathen wehre, wo indejjen alles Vorgemeldtes zur genauer observation für jeßo und Etwa fünftig anrecommendiret wird.

Folgen nun auch die quastiones.

Torturales, worüber der Inquifit Joſeph Salomon

in der Marter zu Befragen:

1) Wer den die Nacht zwifchen ven 23. undt 24. Juny letzthin zu Blanfenheim Begangenen Diebjtall aus- geübt habe.

2) Wie Viel der Dieb geweßen.

3) Wan, undt wo dießen Diebitall mit Einander unterredet.

XXIII. 6

82

Ein Diebftahl beim Handelsmann Shüller.

4) Welcher Eingebrochen, undt Eingeftiegen. 5) Welcher die gejtohlenen waaren herausgebracht oder

geworfen.

6) Wem Er dan die waaren herausgelangt. 7) Wo dan mit den waaren fich hinbegeben. 8) Ob undt was, auch wo Von dießen geftohlenen

waaren Verkauft.

9) Wo die Erfte nacht nach dem Diebjtall gefchlafen. 10) Durch waß örther fie fommen, als mit dem Dieb-

ſtall ſich forthgemacht.

11) Ob auch als Jud ſeinen Zoll für ſeine person

undt die waare Bezahlt, undt wo.

12) Welcher ihm die 3 päck waaren Von Blanken—

heim undt weithers forthtragen helfen.

13) Wo fie in CammerXathichaft kommen, dieße undt

vergleichen mehrere general fragſtück müffen dem inquisito Bejtändig in der marter Borgehalten werden, wobey ban auch weithers zu observiren jtehet, daß warn der inquisit in-der marter ohn— fangen wird, zu discutiren Von folchen, welche nicht zur haubtjach gehören, jo ijt demſelben fein gehör gegeben, noch zu antworth, jonderen E8 muß derſelb Bejtändig in genere auf dieſen Diebſtall Befragt werden, maſſen durch Vielles raisoniren der ſchmertzen Bergefjen, undt jolche reden Vor— jetzlich führen, umb aljo die Zeith zu passiren; wan biefer tortural actus auf foldhe weiß ob- servirt werben wird, jo Beſcheiht dem Kechtlich praxı Ein genügen, undt ftehet auch zu hoffen, daß die Mechte wahrheit an den Tag komme, womit die gerechtigfeit auch deſto gejicherter aus— gejprochen werben möge, undt fommen auch hiebey die urthelen, wie biejelben zu publiciren, wo in=

Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 83

befjen ber weithere Erfolg auch das weithere weiß wird,

ALS forgfältiger Vorſitzender hat fich der Oberamt- mann zu Blankenheim einen furzen Auszug aus dieſer Inftruction gemacht, welcher von feiner eigenen Hand geichrieben gleichfall8 den Acten beiliegt und den wir gleichfall8 der Euriofität halber folgen Lafjen:

1) debet publicari sententia,

2) post publicatam sententiam debet interrogari in genere nach dem Diebjtahl am 23ten,

3) muß ausfagen, warn, wie und wer ben Diebftahl begangen,

4) ob diejes wahr ſei und er die im Urtheil benannte Folter ausjtehen wolle, ohne Jemand Unrechts anzugeben,

5) demnah muß nicht zum jchärfiten gebunden auf den Stuhl gejetst auch wohl die Daumjchrauben ihm etwas zugejchraubt werden, bis er davon in etwa die Empfindlichkeit verjpürt,

6) wenn alfo Alles bejtätigen und die complices nennen wird, jo wird bie Benennung für richtig gehalten und die Daumfchrauben [los zu machen.

Noch am Tage der Urtheilspublication wurden denn auch dem Nathan Leviſch die Daumfchrauben vergeftalt zugefchraubt, daß ihm einige Empfindlichfeit verurjacht. Gr blieb bei jeinem Geſtändniß und fügte nur noch hinzu, daß der flüchtige Joſeph die Yeiter geholt habe, und wurde er daranf von der Folter entlafjen.

Am Tage darauf, dem 16. November 1751, wurde den Salomon die sententia tertia dahin publicirt:

„Daß der Inquifit Joſeph Salomon bei jo vielfältig wider ihn vorwaltenden jchweren Verdachts und In—

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84 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller.

zichten zur feharfen Frag durch alle gradus zur Geſtändniß der Wahrheit zu verweiſen.“

Nach der in Gegenwart des Nachrichters erfolgten Berlefung wurde er nochmals zur Ausjage der Wahr heit ermahnt, dann zur Folterfammer gebracht und ihm die Torturalinftrumente mit dem deutlichen Hinweis vor— gezeigt: daß er burch jein Leugnen fi zum armen Menichen und Krüppel machen würde. Darauf ging man zur wirklichen Zortur über mit Applicirung der Daum— Schrauben. „Dabei war“, führt nun das Protokoll fort, „zu bemerfen, daß obwol man dem Inquiſiten bie questiones torturae in biejem Grad beftändig vor- gehalten, hat man von demjelben Feine Antwort erhalten, fondern er iſt nach etwas jchärferer Zudrückung nach ausgejtoßenen wenigen hebräijchen Worten zum Erjtaunen und Verwunderung aller Anweſenden in einen feiten Schlaf gefalfen.” Bon 10 Uhr 50 Minuten bis LO Uhr 58 Minuten wurden die Daumfchrauben zuerjt angelegt; um 11 Uhr 13 Minuten wieder auf frifches Fleiſch bis nach Ablauf einer Viertelftunde. Um 11 Uhr 31 Minuten bat er die erite Empfindung der Schtenenfchrauben befommen, 11 Uhr 37 Minuten wurde ihm das Geficht losgebunden, ihm die zugejchraubten Glieder gezeigt, wieder ohne Wirkung, und 11 Uhr 45 Minuten wurden die Schienenfchrauben bis zum Ablauf einer Bierteljtunde auf friichem Fleiſch weiter angelegt.

Diefes „hartnädige und boshafte Betragen‘ wurde für etwas Ungewöhnliches und beinahe Unnatürliches gehalten; man glaubte an diefem Tage auch durch Applictrung des dritten Grades nichts zu erreichen und verjchob die Brocedur.

Am folgenden Tage wurde um 10 Uhr 19 Minuten Vormittags mit dev Tortur fortgefahren. „Bei lang:

Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller. 85

jamer Aufziehung it er ſofort in einen Schlaf verfallen und obwohl der Nachrichter feine Derterität bezeigt, ven Juden etliche mal Herabichnappen laſſen und fonftige geift- und natürliche Mittel gebraucht, doch fein Wort von ihm erzwungen.”

Das Berfahren gegen den geftändigen Nathan Leviſch bot feine criminaliftifchen Schwierigfeiten mehr. Es lag ein unumwundenes Geſtändniß feiner Betheiligung am Diebftahl vor, und nad dem Grundſatz der Carolina: „Das Geſtändniß ift die Krone der Beweiſe“, waren bie darten und graufamen Strafbejtimmungen des Geſetzes nur auf den Gejtändigen anzuwenden. Jedenfalls kannte Nathan Leviſch das ihm drohende Schickſal. Er fuchte ihm dadurch zu entgehen oder e8 zu mildern, daß er vom eriten Tage feiner Verhaftung an „ſich anheifchig machte, den römijch-Fatholifhen Glauben anzutreten”. Zwei blanfenheimer Seminarijten haben ihn dann in der Freude ihres Herzens über die gewonnene Seele tagtäglich im Gefängniß in der Lehre der Kirche unterwiefen und zwar ohne daß von diefem Umſtande dem Landesheren nad Köln berichtet wurde. Erſt als im November die Kälte ben Aufenthalt im Kerker unerträglich machte und jo den frommen Bejtrebungen ein Hinderniß bereitete, bittet ber eifrige Seminarift in „unbejchreiblicher Freude über die große Begierde des Leviſch zur heiligen Taufe zu jhreiten‘‘, dem Arreftanten ein anderes Gefängniß an— zuweiſen, „wo ein Geijtlicher zu weiterem exercitio ſich der Kälte halber bei demjelben aufhalten fünne. Der Graf von Manderſcheid geftattet indeffen auf den ein- geholten Bericht nur, daß der Delinquent ein- und das andere mal ohne Gefahr des Echappirens auf das Haus— gefindezimmer gebracht und daſelbſt Beiſeins benöthigter Mannſchaft von der Wache inftruirt werde”. Zugleich

86 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller.

droht er der ganzen Compagnie, voran aber dem wacht- habenden Sergeant, Corporal und Gefreiten, die jchärfite Strafe an, wenn fie nicht jorgfältig Wache halten. Leviſch erreicht denn auch durch die bezeigte Frömmig— feit und Ausdauer in der Unterweifung, daß alle Semi— nariften am 20. November den Landesheren um Gnade für den Delinquenten bitten, und auch die Kanzlei berichtet auf hochgräfliche Anfrage in jener Zeit, daß derjelbe im hrijtlichen Glauben wohl unterrichtet fei.

Der Landesherr felbjt feheint indeß von der Skepſis des vorigen Jahrhunderts etwas mehr angefränfelt zu fein als feine glaubenseifrigen Blanfenheimer; denn er (äßt die Unterweifung bis Mitte Januar 1752 fortdauern und jchreibt dann: „Der Jude Nathan Leviſch wird hoffentlich bereits im Chriftenthum zureichend unterwiejen und auch noch gefinnt fein, in den Schoo8 der römijch- fatholifchen Kirche zu treten. Wenn e8 nun babei bleiben folfte, jo habt ihr anbeigehendes am Oberhof zu Koblenz ergangenes Todesurtheil der Drbnung nach zwar zu publiciren, gleichwohl anjtatt des Strangs durch das Schwert ihn hinrichten und zwei Tage vor der Publication und Erecution taufen zu laffen. Dann mag die Geijt- (ichfeit dejjen Beharrlichkeit aufzumuntern ihın davon wol die Nachricht geben mit ber Erinnerung jedoch, e8 müſſe feine Seel und Seelenheil und nicht die Strafminderung das Hauptziel der Befehrung ſein.“

Das zweite in diefer Sache gegen Leviſch ergangene Urtheil des Oberhofs zu Koblenz lautet: „— daß Leviſch wegen geftändiger Anwejenheit bei diefem großen Diebjtahl zu Blankenheim getragener Beihülfe und anderer in actis vorgefommener Umftände zur wohlverdienten Straf und Andern zum abjchredenven Erempel mit dem Strang vom Leben zum Tode hinzurichten und dazu zu

Ein Diebftahl beim HSandelsmann Schüller. 87

verweijen, als wir denn hiermit für Recht erfennen mit dem Strang vom Leben zum Tode hinzurichten befehlen und verweiſen.“

Das durch landesväterliche Huld gemilverte Urtheil wurde am 20. Januar 1752 an Leviſch volljtredt, und die Kanzlei berichtet darüber, „daß er nach vorher em— prangener Tauf und Wegzehrung in Begleitung des ehr- würbigen patris guardianı des Kapuciner-Ordens zu Münjtereifel, deſſen Gejellen und zweier Seminarijten zum auferbaulichen Exempel aller anweſend geweſenen Chrijtfatholifchen in Verfolg der ihm in diefem Fall ver- liehenen Gnaden am 20. Januar mit dem Schwert hin- gerichtet und dabei das Amt des Nachrichters wohl ver- richtet ſei“.

Größere Schwierigkeiten bot das weitere Verfahren gegen Salomon.

Nach den Regeln der Carolina und der herrichenden Auffaffung ihrer Lehren hätte der Inquifit in Wreiheit gejegt werben müſſen. Derjelbe war aber, wie ſich aus den über ihn eingezogenen Erfundigungen ergab, ein übel- berüchtigter Mann und mit in einen Raubmord an einem Paftor in Gravenbroich verwidelt, in welchem Proceß jeine Mitſchuldigen gerädert worden waren. Deshalb berichtet die Kanzlei am 22. November an den Grafen von Manderſcheid: „Gleichwohl nun der Jude Salomon die Folter durch alle Grad ausgejtanden, mithin vor und nah boshaftiger und halsjtarriger Weife von dem Dieb- jtahl nichts eingeftand, jo haltet man doch dafür, daß diejem ungeachtet in gegenwärtiger fo klarer Sade, ba nur die eigene Geſtändniß mangelt, derjelbe keineswegs auf freien Fuß gejett werde, damit dem publico von jolh boshaften Menſchen über kurz oder kein großes Unheil verurſacht werde.“

88 Ein Diebftabl beim Handelsmann Schüller.

Die Acten werden num wieder an den Oberhof zu Koblenz eingejendet und eine Nechtsbelehrung erfordert.

Die darauf am 6. December 1751 am Oberhof er- itattete ulterior relatio hebt alle Umftände hervor, welche gegen Joſeph Salomon fprechen, tadelt, daß die Tortur nicht in continua serie et una die vorgenommen, fondern die zwei erjten Grade am 16. und der dritte am 17. appficirt fei, hält aber in dieſem Punkte dafür, daß nicht contra iura verfahren: „erwogen für's erite die Um— jtände, wie hernnach folgen wird folches vernünftig erfordert haben, für’ andere fo waren die 3 gradus ben erjten Tag nicht vollzogen und folglich die andictirte Tortur auch noch nicht ihren Effect und finem erreicht hatte, für’8 dritte, jo hat man secunda die ab illa tortura angefangen, wo man vorigen Tags abgelafjen, für’s Ate jo hat man secunda die nidt a primo gradu an— gefangen.” Deshalb liege feine repetitio torturae vor, zumal die Unempfindlichfeit und der hartnädige Schlaf des Delinquenten die Anwendung des ten Grades am eriten Tage ausgejchloffen habe.

Der Referent zweifelt nicht an der Schuld, tritt aber dann in die Frage ein, was denn bermalen zu Iprechen jet.

Nach der Carolina equ. 61 feien dem Delinguenten die Abzugskoften zur Laſt zu legen, aber er müffe ab- jolvirt werben.

Die Folge davon wäre, daß die Sachen als nicht geitohlen und die Behauptung des Joſeph Salomon über ihren redlichen Erwerb für richtig angenommen werden müſſe, dagegen fprechen aber die eidlichen Ausſagen des bejtohlenen Schüler und der übrigen Zeugen. Demnach jet anzunehmen, daß fih Salomon im Befit gejtohlener Sachen befunden, daß er am Dienstag bei dem Be—

Ein Diebftabl beim Handelsmann Schiller. 89

jtohlenen im Laden gewejen, daß er mit in dem Haufe des flüchtigen Joſeph geichlafen und nachher mit dem geftändigen Leviſch zuſammen mit den geftohlenen Sachen betroffen ſei. Im ſolchen Fällen jchreibe aber ver be- rühmte Leyſer in thesi 640:

„dum jura reum etenim naturaliter convictum si tamen tormenta pertulit nihilque confessus est absolvi oportet atque iter judex contra scientiam suam judicare cogitur, attamen conscientia sua con- sulat, rem ad principem referre et improbus in- ficator in opus publicum detur suadere potest.“

(Wenn der durch die natürlichen Umftände Ueberführte ‚die Folter überftanden hat, ohne ein Geſtändniß abzu— legen, ift er nach dem Recht freizufprechen, und der Richter wird jo gezwungen, gegen jein Gewiffen zu urtheilen, dann ſoll er dennoch in feinem Gewiffen berathen, ob er die Sachlage nicht dem Fürſten vortragen und biejem rathen foll, den hartnädigen Leugner in ein Arrefthaus bringen zu lafjen.)

Weiter fage Leyſer, der König ſolle diefe Entſcheidung treffen dürfen, wenn er aber hier vom Könige rede, jo jet zu bedenken:

„quod quilibet dominus in supposito quod do- minium habeat ıillimitatum et jurisdiectionem superio- rem, sit rex et imperator in sua ditione itaque habeat potestatem puniendi reos ad mortem usque iter etiam desuper leges condere.“

(daß jeder Herr in dem Bereich, in welchem er bie unbegrenzte Herrichaft und die höhere Jurisdiction aus— übe, König und Kaiſer ſei und daher die Gewalt habe, die Schuldigen zum Tode zu verurtheilen und darüber Geſetze zu geben.)

99 Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller.

Dann fährt der Referent wörtlich fort:

„Wogegen zwar wiederum jtreitet, quod leges obligant in futurum non in praeteritum, aber dahier wird es nit proprie pro lege lata angejehen, ſondern weil eben dem Landesherrn viel an der Ruhe in feinem Land gelegen, daß er ſolche auch auf alle rechtliche Weg zu verichaffen ſchuldig und gleichwie nach den gemeinen Rechten ein jolcher Frevler, welcher vermitteljt der Tortur eine Miſſethat abgeleugnet, darnach, wenn feine andern Um— jtänd vorhanden, muß ab observatione judicii abjolvirt und praestita urpheda bimittirt werben, jo ergiebt jich ex praecedente, daß auch ein Landesherr bei jo viel übrigbleibenden Umſtänden mit einer exrtraordinarien Be— jtrafung zur Erhaltung der Ruhe im feinen Yanden und diefes um deſto ficherer damit fürgehen könne, als jogar ber befennende complex Nathan Leviſch wegen dieſes Diebftahls rechtlich mit ver ordinären Strafe des Strangs belegt werden joll, mithin aljo auch Fein Zweifel dabei obwalten werde, daß vefhalb auf Grund feiner Befennt- niß und die Ausfage ſeines complicis der Joſeph Sa— (omon leben und fterben werde. Und wenn diejes Alles auch nicht wahr, was vorher ex Leysero angeführt und ver rechtlichen Bernunft gemäß erjcheinet, fo habe ich Doch feinen Anftand über das den Inquifiten Salomon nad Inhalt der jüngeren Kur- und Rheinifchen Kreis-Pönal— Sanftion, als worunter die Grafichaft Blankenheim ge- hörig mit einer Feitungs- Arbeit zu belegen. Inmaßen daſelbſt verordnet ift, daß jolche herumvagirende, müßige, nirgendwo jeßhafte Leut, welche zu 2 und 3 und mehr herumvagiren und alfo ergriffen werden endlich und zulett auf zeitliche und ewige Fejtungsarbeit gejetst werben mögen.

Sic relatum et approbatum am Oberhof in Koblenz am 6. December 1751.“

Ein Diebftabl beim Handelsmann Shüller. 91

Wie Mufif mag eine derartige Relation dem fleinen Eifeldynaſten des vorigen Jahrhunderts geflungen haben, in welcher er an Machtuollfommenheit dem Kaifer und König gleichgejtellt und ihm das Necht eingeräumt wird, über Leben und Tod Gejege zu geben. Deshalb ver- ordnet er auch alsbald, „daß der Ingquifit auf lebens: linglih zum Stod- oder Zuchthaus verwiefen und ver- dammet werben foll und weilt das Schöffengericht zu Blankenheim an, nach Anzeige der beigefügten Relation das Urtheil ohne Anftand zu verfaffen und dem Delin- quenten zu publiciren. Aber ver Kaifer und König befitt fein Stock- oder Zuchthaus, und deshalb verfügt er be= iheidener weiter, copiam des Urtheils an ven furfölnijchen Hofrath von Uphoff zu fchiden und demſelben wegen des faiferswerther Stockhauſes zu empfehlen, ob es nicht angehe, denſelben lebenslänglich gegen jährliche Abzugs— foften, die fih auf 25 Rthlr. belaufen jollen, in jenes Stodhaus hinzufegen.

Schon vorher war mit der Kanzlei berathichlagt, was man mit dem Verbrecher anfangen folle, da ja Fein geeignetes Gefängniß vorhanden war. Die Kanzlei hatte auf das Faiferswerther Stodhaus hingewieſen, wo für die Unterhaltung derartigen Gefindels 13 Rthlr. jährlich gezahlt zu werben pflege. Man hatte auch jchon durch durabele Anfrage in Kaijerswerth die Unterbringung zu erreichen verfucht, allein der Vorſteher des Stodhaufes hatte unter unterthäniger Bereitwilligfeitserflärung, den Delinquenten gegen Zahlung von 25 Rthlrn. aufzunehmen, ich nur dann dazu im Stande erflärt, wenn die Land— jtände einverftanven feier. Denn das Stodhaus ſei nur für das Erzitift Köln gebaut.

Nach Anweifung des Landesherrn und der Foblenzer Relation gemäß lautete denn auch das Urtheil des Schöffen-

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jtuhls dahin, daß Salomon zwar wegen überjtandener Zortur nach vorläufiger abgejchworener Urphede ab ob- servatione judici mit Abtrag gleichwohlen feiner Ab- zugs- und Defenfionskoften zu abjolviren, wegen ſchweren in actis enthaltenen Verdacht und Argwohns ja jelbiger Bekenntniß zur Sicherheit der Landesunterthanen auf febenslänglich zum Zucht- oder Stockhaus zu verweifen und zu verbammen (29. Januar 1752).

Die Copie des Urtheild wurde an Uphoff geſchickt und der Antrag auf Aufnahme des Salomon in das faiferswerther Stockhaus gejtellt. Der Hofrath präfentirte das Urtheil der kurkölniſchen Regierung, „va aber felbige in demjelben eine offenbar gegen die Rechte anlaufende Contradietion erkannte“, jo trug fie Bedenken, das Urtheil mit dem von dem eifrigen Hofrath bereit8 entworfenen Schreiben an Se. furfürftl. Hoheit abgehen zu lafien, „damit man unnöthiger Dinge an fremden Sachen jich nicht pflichtig mache‘, und erbat fich zunächſt die rationes decidendi.

Diefe rationes werben bereitwillig geſchickt in ber Zuverficht, „daß dieſer Jud Salomon angetragenermaßen zum Stodhaus auf Kaiferswerth geführt werden möge, wobei um fo weniger Bedenken vorhanden, da jelbiger nach Inhalt der decisiones dazu verurtheilt und Die Sentenz dem Delinguenten bereits publicirt jet“.

Aber auch die rationes genügen noch nicht. Der Hofrath zweifelt fehr, „daß man felbige für gut und in jure fundirt anfehen werde. Ich möchte an folchen Urtheil fein Theil Haben“, will aber die Sache noch ein- mal vortragen. Und zehn Tage fpäter verlangt er ven völligen Inquifitionsproceh, „denn die furkölniiche Regie— rung bat unanime nad) Einficht des Urtheil® cum ra- tionibus decidendi bejchloffen, daß fothanes Urtheil im

Ein Diebftahl beim Handelsmann Schüller. 93

denen Rechten nicht bejtehen könne; deßhalb möge der Reichsgraf den Inquifitionsproceß einem Bonner hoben Gerichtsſchöffen zur Relation einfchiden, damit die unter- laufenen groben Fehler abgeändert und der Inguifit in das Stodhaus gebracht werden könne“.

Hierauf antwortet der Graf fofort, er werbe bie Acten nicht einjchiden, und e8 erfolgt zugleich ver Befehl an die Kanzlei, einem etwa an fie gerichteten directen Erjuchen um Acteneinfendung nicht zu entjprechen. Mit diefem Befehl Freuzt fich ein Schreiben der Kanzlei, von welcher direct die Einjendung gefordert war. Sie führt aus: „daß die kurkölniſche Hofraths-Regierung die völligen acta inquisitionis anzufehen begehrt, um ein anderes Urtheil abfaſſen zu laſſen, iſt wohl ein befremdliches Zu— muthen und muß diefes vermuthlich aus einer politischen Urfach herrühren, da doch alle Umftänd und Gejchichts- erzählung in dem berjelben überſandten rationibus und Dabei von dem Coblenzifchen Hofgericht oder deſſen Eriminal- Referendario weitwendig wiederholt worden.“

Die Kanzlei führt aus, daß in dergleichen Fällen die Criminaliften gejpaltener Meinung feien, da einige ben Inquifiten, welcher die Tortur ausgeftanden, praestita urpheda losſprechen und bemittiren, andere aber ihn ab instantia, aber nicht definitive abjolviren wollen, bezieht jich für die lettere Anficht auf Carpzov und ſtellt die Entjcheidung dem Grafen anheim.

Der Brief, mit welchem der Neichsgraf das an ihn und jeine Kanzlei gejtellte Anfinnen beantwortet, iſt jehr harakterijtiih und lajjen wir ihn daher mit Hinweg— laffung des Eingangs folgen: „und diene darauf in Antwort, daß die begehrte Infpeftion des Inquiſitions— Verfolgs, um ein anderweites Urtheil daraus abzufaſſen, deßwegen überflüffig, weil einestheild die Urtheil dem

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Delinquenten jehon publicirt it, mithin dieſe nicht mehr geichärft werben fan. Andrentheild bewegen mich bie Umftände der Gejchicht, alle Vorkehrung zu thun, damit ein jolcher Böjewicht außer Stande gejegt werde, meinen und den benachbarten Unterthanen hinfüro Schaden zu thun; folglich möchte ich nicht gern ſehen, daß man nun— mehro trachten möge, jelbigen von allem Verdacht zu ab- ſolviren und er dadurch auf freien Fuß gejtellt wurde. Auch ift das Koblenzer Oberhofgeriht mit vergleichen wacdern Leuten befanntermaßen beftellt, daß man fich ihrer Decifion ohne zu bejorgender Verantwortung confirmiren darf. Daß anfonjten der Hofrath die Urtheil einzufjehen verlangt, habe ich nicht unbilligen Fönnen, daß felbiger aber ferner die rationes decidendi auch begehrt, daraus blidte ſchon eine fichere Geringjchätung meiner heim- gelafjenen Regierungsfanzlei. Auch würde die Communi- cation nicht erfolgt fein, wenn ſelbige fich nicht damit übereilt hatte.” Es folgt die Aufforderung „bei jolchen der Sachen Eigenheit den Hof-Rath auf andere Gevdanfen zu bringen und den Bericht zu veranlaſſen“.

Uphoff antwortet: „Es ift ganz und gar nicht die Frage, ob das Urtheil gejchärft werben foll, ſondern im Gegentheil wird dafür gehalten, daß jolches allzu ſcharf jet, weil der Ingquifit nach ausgeftandener Tortur a poena mortis abfolvirt und in eine andere dem Tod gleiche Strafe verdammt worden ift. Ich laſſe es dahin ge— jtelft, ob der Oberhof zu Coblenz mit wadern Leuten bejtellt it und ob Ew. Hochgräfl. Excellenz jich deren Decifion ohne zu gefährender Verantwortung confirmiren bürfen. Man darf Niemand bejonders von auswärts in das Stockhaus jegen, e8 ſei denn, daß man bei hiefiger Regierung erfennt, daß er durch Urtheil im Recht dazu condemnirt worden fei. E. E. ermefjen demnach, daß

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man bei einem fo dunklen Urtheil boppelfältig billige Ur- fach gehabt habe, die rationes dec. anzufehen, da es müge das Urtheil gejtaltet fein, wie e8 immer wolle, der In— quiſit niemals in's Stodhaus aufgenommen werde.

„Dan hat auch den Gedanken nicht, daß dieſer dem publico gefährliche Menſch auf freien Fuß geftellt werde, fondern um Hochberjelben eine gefällige Gewierigfeit zu bezeigen, hat man das medium erjonnen, daß E. E. die Akten anhero fchiden mögen, damit man hierdurch in Stand gejegt werde, ferner an Hand zu geben, wie dem Verf durch einen einzelnen Federzug, ohne eines Menfchen Sewifjen zu Fränfen, abzuhelfen ſei, welches visis actis um jo eher gejchehen kann, als Hochderoſelben als Landes— herrn das jus aggratiandi mithin auch die Urtheil certo respectu vermuthlich ratione laborum publicorum et quidem perpetuorum zu mindern je und allezeit frei ſteht, wo es bei dem ewigen Gefängniß zu belaſſen oder gleichwohl dieſe paſſage ſo glimpflich geändert werden könnte, daß es gleichwohl über eins herauskommt, wozu ferner Nichts gefordert wird, als daß man ſage: der Inquiſit ſolle ſo lange als Hochderoſelben gefalle in dem Stockhaus aufbehalten werden.“

Der Graf ging auf dieſes Anſinnen indeß nicht ein; er erſuchte Uphoff nochmals ſeinen Credit bei dem Kur— fürſten geltend zu machen, gab aber in der Zwiſchenzeit der Kanzlei ſchon den Befehl, zu überlegen, ob ſich zu Blankenheim außer dem Schloß auf geringe Koſten ein Ort ausfindig machen laſſe, wo der Delinquent ohne Ge— fahr des Entweichens hingeſetzt werde.

Wie vorausgeſehen bedauerte Uphoff, dem Herrn Grafen nicht, wie er gewollt, gedient haben zu können, da der Statthalter bei ſeiner Anſicht verbleibe. Und nun wurde nach langen Schreibereien die Herrichtung eines Gefäng—

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nifjes für Salomon auf dem Schlofje zu Gerolftein an— geordnet und mit jcharffinniger Unterjcheivung bejtimmt, daß die Mittel zur Inſtandſetzung des Gefängnifjes von der Srafichaft Gerolftein, daß aber das Waffer und Brot für den Delinquenten vom Schloßwachtmeijter herzugeben, die Bewachung durch deſſen Knecht zu erfolgen, da der Gerichtsbot fich Hierzu nicht emplotiren laſſe, die Ab- gangsfoften aber aus den Mitteln der Grafjchaft Blanfen- heim beftritten werden jolften.

Später ift Salomon noch nach Burg Bettingen trans- portirt, „und dort am 3ten März 1755 als ein Hart- nädiger Jud abgereift und hat von feinem Geiftlichen und feiner Belehrung etwas wifjen wollen“.

Einige charafterijtifche Einzelheiten find aus dem Ver— fahren noch hervorzuheben. Wir haben oben jchon bemerkt, daß die verhältnigmäßige Schnelligkeit des Berfahrens angenehm berührt. Dahin gehört auch die prompte Er- ledigung der Kequifitionen. Der Diebftahl war in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni vorgenommen, und wenn auch neben dem offictellen Requifitionsjchreiben an die kurkölniſchen Behörden das Privatjchreiben an den gräf- lichen Vertrauensmann in Bonn, den Hofrath von Uphoff, bejchleunigend und ebnend eingewirft haben mag, fo tft e8 doch viel, daß am 30. Juni ber fiegburger Stadt— jchultheiß jchon ver Abhebung halber vorläufig bejcheinigt, daß die Diebe ertappt und bereits mit vorſorglichem Ver— hör der Anfang gemacht if. Und am 3. Juli wurde bereits in Blanfenheim mit dev Inguifition begonnen.

Unter den Gerichtsfoften find diejenigen des foblenzer Oberhofs befonders zu erwähnen. Dort werden für bie erite Relation mit den Urtheilsentwürfen etwa 48 Rthlr., an Porto der Acten von Koblenz nach Blankenheim über 3 Rthlr. und für die zweite Relation 12 Rthlr. berechnet.

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Dem Bertheidiger find 9 Rthlr. zugebilligt. Der fieg- burger Stabtjchultheiß berechnet die durch die dortige vor- läufige Inquifition entjtandenen Koften auf 12 Rthlr., miteingejchloffen 3 Rthlr. für die von zwölf fiegburger Schüten bejorgte Bewachung der Feitgenommenen. Und um unnöthige Botengänge zu fparen, zieht er dieſen Be— trag gleich von der bei Joſeph Salomon vorgefundenen und beichlagnahmten Baarichaft ab, ein jehr kurzes, aber boch etwas eigenmächtiges Verfahren, da dieſes Geld dem Salomon gebört und mit dem Verbrechen in feinem Zu: ſammenhang jtand.

Beim Durchlefen der Acten vergeffen wir ganz, daß der Criminalproceß fih um die Mitte des vorigen Jahr— hunderts abjpielt, kaum vierzig Jahre vor der Franzöſiſchen Revolution, im Jahrhundert der Aufklärung, als Tho— maſius in Halle jchon eine humanere Auffaffung des Strafrecht zu verbreiten verjuchtee Daß hier im der Eifel noch die Folter herricht, fan nicht wundernehmen. Hatte doch der große König erjt elf Jahre früher bei feiner Thronbefteigung für Preußen die Tortur bejeitigt. Hier jtehen wir noch ganz unter dem finftern Schreden ber Carolina. Und die Richter find noch jchredlicher als das Geſetz jelbft. Denn nach dem Geſetz, welches nur ven Gejtändigen ftrafte und deshalb zur Folter griff, um ein Geſtändniß hervorzubringen, mußte der Verbrecher, welcher alle Grade der Folter erduldet Hatte, ohne ein Geftänd- niß abzulegen, freigejprochen werben. Hier aber halten - fie ven Salomon fejt und verurtheilen ihn aus landes— herrlicher Machtvollkommenheit zu lebenslänglichem Stod- haus, weil er den Unterthanen des Grafen von Wander: icheiv gefährlich fei. Der arme Menſch, an Geift und Körper durch die Folter gebrochen, ſoll noch gefährlich fein. Und die furkölnifchen Juriſten wollen ſchließlich

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dafjelbe nur in anderer Form, wie aus den Briefen des Hofraths von Uphoff hervorgeht. Sie halten e8 nur für falfch, daß diefe Strafe im Urtheil ausgeiprochen jet. Nach ihrer Anficht mußte das Urtheil die Freifprechung ohne Clauſel anordnen. Dann aber follte ver Graf als Landesherr wegen ber Gemeingefährlichfeit des armfeligen Krüppeld die Verweijung zum Stodhaus ausiprechen und die Thore von Kaiferswerth würden fich für Salomon geöffnet haben. In der Praxis alfo vafjelbe: ein Hin- wegfegen über Recht und Geſetz aus Gründen der Zweck— mäßigfeit und der abjolute Kandesherr, der oberfte Richter, über dem Geſetz, wenn das lettere die Verurtheilung des Delinguenten nicht geftattet.

Der Proceß wider den Dr. med. Flocken wegen Vergiftung aus Sahrläffigkeit.

(Straßburg im Elſaß.) 1887 und 1888.

Die veutfchen Gerichte haben fich in ven letzten Jahren häufiger als bisher mit Fällen auf dem Gebiete der fo- genannten „Arztlichen Kunftfehler” zu befchäftigen gehabt. Mag der Grund darin zu fuchen fein, daß folche Fehler heutzutage mehr an die Deffentlichfeit dringen, oder daß man ihnen abfichtlih, zum größern Echuge von Leben und Gefundheit des Publikums, jeitens der Behörde ener- giſcher entgegentritt: bald bier, bald dort hört man von einem gegen Aerzte oder Apothefer eingeleiteten Strafver: fahren, welches in den jelteften Fällen mit Freiſprechung endigt.

Ein in jeder Beziehung hervorragender und in ben weiteften Kreifen Aufjehen erregender Fall diefer Gattung lag in dem verfloffenen Jahre der Straffammer des faijerlichen Landgerichts zu Straßburg im Elſaß zur Aburtheilung vor. Sowol die Zahl der Angeklagten, al8 deren verhältnißmäßig angejehene Stellung in ber ftraßburger Gefellichaft; nicht minder auch die beflagens-

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100 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.

werthen Opfer der ärztlichen Fahrläffigfeit und die un— würdige Art, wie man dabei anfänglich den Thatbejtand zu verbunfeln und die Behörde zu hintergehen bejtrebt war; mehr noch die wifjenjchaftliche Bedeutung des Falles in mebicinifcher wie in juriftifcher Hinficht alles ver- einigt fih, um eine eingehende Darftellung dieſes Pro- ceſſes zu rechtfertigen.

Die Hauptperfon in dem erjchütternden Drama, in welchen es ſich um zwei Menjchenleben auf der einen, um Schädigung und nahezu Vernichtung von Anfehen und Stellung auf der andern Geite handelte, war ein junger Arzt, dem es weder an Kenntniſſen noch an ein= flußreichen Beziehungen mangelte. Dr. Robert Floden, 38 Jahre alt, gebürtig aus der Pfalz, aber ſchon von früher Jugend an in Straßburg erzogen, hatte im Jahre 1872 an der bortigen Univerfität promovirt, war dann nach abgelegtem Staatsexamen raſch in die Stellung eines Affiftenzarztes an der geburtshülflichen Klinif und ipäter in die eines Cantonalarztes vorgerüdt und hatte es verſtanden, fich in den weiteiten Kreifen befannt und beliebt zu machen. Seine Gattin war eine ziemlich be= güterte Elſäſſerin von nicht gewöhnlicher Schönheit und anerfannter Herzensgüte. Sie hatte ihren Mann mit einem reizenden Zöchterchen beſchenkt. Alles ſchien da— nach angethan, ben renommirten Arzt und glüdlichen Familienvater denjenigen Menſchen beizugejellen, deren Los ein beneidenswerthes genannt werben burfte.

Am 31. October 1887 wurde Dr. Floden im Laufe des Vormittags durch einen Boten nach dem unweit Straßburg gelegenen Dorfe Eckbolsheim zu einem Pa— tienten gerufen. Der Schwanenwirth Mathis daſelbſt hatte jeit einigen Tagen über Schmerzen in den Füßen und im rechten Arm geflagt und fich furz vorher zu

Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 101

Bett gelegt. Der Arzt, welcher das volle Vertrauen der Familie genoß, erjchten gegen 1 Uhr nachmittags, betrachtete den Kranken flüchtig und verjchrieb dann zwei Necepte, von welchen das eine zum äußerlichen, das andere zum innerlichen Gebrauch bejtimmt war. Beim MWeggehen empfahl er, die Recepte in der Meijen- Apotheke zu Straßburg anfertigen zu lafjen, „weil fie dort frifcher zu haben ſeien“.

Das war die erjte Ungehörigfeit. Es muß auffallen, daß der Arzt feinem Patienten eine beftimmte Apothefe vorjchlägt und fie vor andern bevorzugt. Es lag des— bald nahe, an eine Art Compagniegefchäft zwijchen Arzt : und Apotheker zu benfen, eine vielleicht nicht ganz un: gerechtfertigte und wenigftens in der ftraßburger Ber völferung für richtig erachtete Schlußfolgerung, die auch von der Anflagebehörve ſpäter in ergiebigiter Weije ver- werthet worden tft.

Die Meijen- Apotheke in Straßburg wurde von dem Apothefer Jakob Greiner, einem wohlhabenden Straß- burger in den vierziger Jahren, geleitet und ſtand als „„ofapothefe‘ bei dem Publikum gleichfalls in bedeuten— dem Rufe. Leider huldigte ver Herr Hofapothefer allzu jehr dem Jagdſport, der ihn öfter als nöthig feinen Berufs- gejchäften entzog. Im feiner Abwejenheit wurde die Apo- thefe von dem Gehülfen Alfred Wolff, dem Sohne eines Notars aus Dberbronn, und dem noch jugendlichen Lehrling Jakob Andres aus Weißenburg verwaltet. Beide befanden fich in der Apothefe, als der alte Vater des Wirthes Mathis die Floden’schen Recepte überbrachte und zubereiten ließ. Er erhielt von ihnen zwei Flaſchen Arznei, die er zugleich mit den Recepten jeinem Sohne nah Edbolsheim zurücbrachte.

Nachdem der Vater des Kranken nach Edbolsheim

102 Der PBroceß wider ben Dr. med. Floden.

zurüdgefehrt war, erhielt der Wirth Mathis von feiner Mutter um 3'/, Uhr den erjten Löffel der innerlich zu nehmenven Arznei; nach zwei Stunden ber Vorjchrift ge- mäß ben zweiten und um 71/, Uhr den dritten Löffel. Gleich nach dem Genuß des zweiten Löffels klagte ber Kranke, dag ihn die Arznei zu ſehr angreife. Bald dar- auf jtellte fich heftiges Erbrechen und Durchfall ein; nad dem dritten Löffel verftärften fich dieſe Zufälle in außerorbentlichem Maße. Das Erbrechen und der Durch- fall wiederholten fich Häufig die ganze Nacht hindurch. Die Ereremente waren wäfferig geronnen und bräunlich gefärbt. Der Kranke wurde dabei von einem heftigen Drennen im Halfe und von jtarfem Durfte geplagt, den er vergebens zu ftillen fuchtee Da die Schmerzen in ber Nacht nicht nachlaffen wollten, jo eilte fein Bruder gegen Morgen zu Dr. Floden, dem er von dem Zuftande bes Kranfen Kenntnig gab. Der Arzt verfah fih in ber Apotheke Haenle mit Optum-Ertract, Aether und Jod⸗ falium und fuhr zu dem Kranken, bei dem er gegen 5 Uhr früh in fichtlicher Beftürzung eintraf.

Er Tieß ſich von deſſen Mutter das Arzneifläfchchen geben, kratzte die Etifette jo weit ab, daß das darauf Geſchriebene unleferlich wurde, und leerte den Inhalt aus. Mit warmem Waffer, welches ihm auf fein Verlangen geholt wurde, fpülte er das Glas forgfältig, ſchüttete ein Pulver ein (Jodkali), welches er in Waſſer auflöfte, und ichrieb vor, daß dem Kranfen dreiviertelftündlich ein Eplöffel davon gereicht werben follte. Zugleich verord- nete er Fußbäder, ließ ven Patienten Eis fchluden und in Eis gefühlte Milch trinfen, das Erbrechen hörte in» folge deffen auf, nicht aber der Durchfall. Diejer bielt den ganzen folgenden Tag und die Nacht über an. ‘Der Arzt wurde nochmals gerufen. Als er am 2. November

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Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 103

gegen 5 Uhr in der Frühe ankam fand er den Kranken ber Auflöfung nahe.

Er verordnete Senfbäder und verfchrieb ein neues Recept, welches in der Stadt angefertigt werben jollte. Bor jeinem Weggange verlangte er jedoch von der Frau Mathis das erſte Recept zurück; als diefe, feinem Wunjche willfahrend, e8 aus einem Buche nahm und zur Erbe fallen ließ, bob e8 Dr. Floden auf und ftedte e8 zu ih. Bon der Frau darauf aufmerkfjam gemacht, daß er das neue Recept im Krankenzimmer habe liegen laſſen, antwortete er: das alte fei gerade jo gut. Der Bruder des Kranken begab fich mit dem Doctor nach der Stabt, um bie neue Arznei mitzubringen. Eine halbe Stunde jpäter etwa verjhied Michael Mathis. In dem von dem behandelnden Arzte ausgeftellten Todtenſcheine wurde ald Todesurſache Endicarditis (Herzkrankheit) nach acutem Gelenfrheumatismus angegeben.

Kurz vorher, ehe Dr. Floden am 31. Detober 1887 zum erjten male zu Mathis gerufen wurde, erjchten das Dienftmäpdchen des Wirths Herter aus dem „Luxhofe“ zu Straßburg bei ihm und meldete, daß ihr Dienftherr über Schmerzen in den Füßen Fage und feinen ärztlichen Beiftand wünfche. Floden hatte den Wirth Herter im Laufe jenes Monats bereit8 an einer leichten Halsentzün- dung behandelt und dagegen Brießnik’sche Umfchläge ver- orpnet. Ein Kleines Gejchwür, welches ſich damals bil- dete, war von felbft aufgegangen. Am 30. October fühlte Herter Gliederweh, blieb aber noch im Geſchäfte bis zum folgenden Tage und fchiefte, wie erwähnt, erft am 31. October zum Arzte. Dr. Flocken erklärte dem Mädchen, er könne fich vor Ende der Sprechſtunden nicht entfernen, übrigens wiffe er wohl, was Herter fehle, er habe, wie der „Münchner Kind'l“-Wirth, Aheumatismus,.

104 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden.

Er verordnete deshalb, wie bei Mathis, ein Del zum Einreiben und eine Arznei zum innerlichen Gebrauch, die in ber Apothefe des Greiner gleichzeitig mit dem für Mathis beftimmten Necepte Hergeftellt wurde. Herter weigerte fich jedoch, diefe Arznei zu nehmen, ohne ärzt— (ich unterfucht worden zu fein. Erſt als Flocken gegen 6 Uhr erjchienen war, ihm den Fuß verbunden und bie Anwendung der Arznei nochmals empfohlen hatte, nahm Herter, der furz vorher noch mit Appetit gegefjen hatte, gegen 8 Uhr den erften und um 10 Uhr ven zweiten Eflöffel. Gleich darauf jtellte fich Diarrhde ein. Nach dem dritten Löffel, ven Frau Herter ihrem Manne reichte, gejellte fich heftiges Erbrechen dazu, welches ſich und zwar unter den heftigften Anftrengungen häufig wiederholte. Der Kranfe Eagte über quälenden Durft, Brennen im Halje und Engbrüftigfeit. Sein Befinden wurde jo ſchlimm, daß man fich entjchloß, gegen 1 Uhr nachts zum Arzt zu fchiden. Dr. Flocken erjchien und beruhigte ven Kranken, welcher geneigt war, bie Uebel— feiten der Arznei zugzufchreiben, indem er ihm ver— fiherte, er habe das Mittel fchon fehr häufig ver- jhrieben. Uebrigens rieth er Doch, die Medicin wegzu— lafjen, und verorbnete eine andere, die er felbjt in der Greiner'ſchen Apotheke zubereiten ließ und dem ihn be- gleitenden Mädchen übergab. Als auch nach dem Genuß diefer Arznei der Zuftand fich immer mehr verjchlechterte, wurde gegen 4 Uhr morgens nochmal® zu Dr. Floden geihicdt. Er war zu jener Zeit gerade in Edbolsheim und hatte dajelbjt Gelegenheit, fich von der Wirkung der gereichten Arznei zu überzeugen.

As er nah feiner Rückkehr von Edbolsheim um 51/, Uhr früh Herter befuchte, befand fich diefer in einem Zuftande, der das Schlimmfte befürchten Tief.

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 105

Dr. Floden Teerte die Arznei in das Waſchgeſchirr, be- feitigte die Etikette, jehwenfte dann das Glas aus und’ Ihüttete zwei Pulver hinein, die er in Waffer auflöfte und dem Patienten reichte. Um 8 Uhr früh erjchien er wieder, verordnete zur Stillung des Durſtes Mineral- waſſer, worauf zwar das Erbrechen, nicht aber der Durch- fall nachließ. Nach einem fernern Bejuche 309 Dr. Floden auf Wunfch der Familie Herter den Profeſſor Wieger zu, dem er mittheilte, er habe zwei Gramm Colchicum— Zinetur mit fünf Gramm falichlfaurem Natron ver- Ihrieben, Herter babe jedoch nur wenig genommen. Ob— wol Profeffor Wieger ven Durchfall der Colchicum-Tine— tur zujchrieb, glaubte er doch, beim Mangel anverweiter Anhaltepunfte und da Floden ihm erklärte, Eiweiß im Urin gefunden zu haben, ven Krankheitszuftand auf eine Nie- ren⸗ bezw. Herzbeutelentzündung zurüdführen zu müſſen.

Am andern Tage war ber Kranke fehr theilnahmlos; ver Puls jchlug ſehr ſchwach; die Extremitäten waren kühl und boten leichte Anzeichen von Cyanoſe (Blau- ſucht). Zur Hebung der lektern wurde Sauerſtoff-In— balation verordnet. Es fanden an diefem und dem nächit- folgenden Zage noch häufige Beſuche ver behandelnden Aerzte ftatt, ohne daß die angewandten Mittel Hürfe bradten. Der Zuftand des Kranken wurde immer ſchwächer, bis endlih am Donnerstag ben 3. Novem- ber ver Tod eintrat.

In Uebereinftimmung mit dem Ausjpruche des Pro- fefior Wieger gab Dr. Floden auf den von ihm ausge- tefften Todtenſcheine al8 Todesurſuche an: Herzlähmung (Fettherz) nach Enteritis, Darmentzündung mit acuter Nierenentzündung, und Herzbeutelentzündung. Auf eine Anfrage der Stuttgarter Rentenanftalt, bei der Serter für den Todesfall verfichert war, ob nicht

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Selbjtvergiftung vorliege und ob eine Section vor— genommen ſei, antwortete Dr. Floden, daß ein jolcher Verdacht völlig ausgefchlofjen fei, auch eine Beranlafjung zur Vornahme einer Section um fo weniger vorgelegen habe, als in den legten Wochen in Straßburg außerges wöhnlich häufige Fälle von acuter Gajtro-Enteritid vor— gefommen feien und Herter überbies an biphtherifcher Halsentzündung mit nachfolgenden heftigen rheumatiſchen Schmerzen gelitten habe.

Alle diefe Angaben des Arztes waren, wie fich nach— träglich herausjtellte, einjchlieglich der Information des confultirten Profeſſor Wieger bezüglih der angeblich verordneten Colchicum-Tinctur, bewußt unwahr. Es fann überhaupt nur Indignation und Befremden erregen, wenn man, wie hier und fpäter bei den verantwortlichen Bernehmungen, überall das Beſtreben durchſchimmern fieht, von vornherein den begangenen und auch zur vollen Erfenntniß gelangten Fehler zu bemänteln und zu beſchöni— gen. Anftatt, wie e8 einem wifjenjchaftlich gebildeten und harafterfeften Manne geziemt hätte, die VBerantwortlichkeit für die folgenſchweren Unfälle voll zu übernehmen und, jo- lange e8 noch Zeit war, das Menjchenmögliche zur Ver— hütung des Aeußerſten zu thun, verichanzte Dr. Sloden fih Hinter dem Deckmantel der Gleichgültigfeit und Lüge, welche den, wir wiederholen e8, an fich verzeihlichen Irr— thum in den Augen jedes Urtheilsfähigen und jelbjt des unparteiifchjten Richters nur verichlimmern konnte.

Sp weit war die Sache gediehen, als die jtraßburger Staatsanwaltichaft von den Vorfällen Kenntniß erhielt, und zwar zunächjt von dem edbolsheimer plöglichen To— desfall. Die Leitung der Angelegenheit fand fich in den Händen eines energifchen Staatsanwalts, der erit kürz— lich nach Straßburg verjegt worden war und fich bereits

Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 107

in den um dieſe Zeit oder furz vorher abgewidelten el- ſäſſiſchen Landesverraths-Proceſſen jehr tüchtig und bienfteifrig eriwiefen hatte. Es kann deshalb nicht wun- vernehmen, daß das elſäſſiſche Publikum in dieſer emfig betriebenen Unterfuhung mit ihren zahlreichen Verhören und plöglichen BVerhaftungen anfangs für bie in ange— jehener Lebensftellung befinplichen Beſchuldigten vielfach Partei ergriff. Gab es doch nicht wenige, die den Fall auf das politifche und localpatriotiſche Gebiet hinüber- zufpielen und den Doctor und Apotheker mitfammt ben Gehülfen als die Opfer blinder Verfolgungsfucht darzu— jtellen verfuchten.

Später wendete fich allerdings das Blatt, als man vernahm, daß die Angeklagten das Mögliche gethan hatten, um ihre Schuld zu vertufchen und ben Thatbeitand zu verbunfeln, und als e8 bald darauf dem Staatsanwalt im Verein mit dem Unterfuchungsrichter gelang, ven an- fänglich hartnädig Leugnenten ein umfafjendes Geftänd- niß abzuringen, hörten die Sympathien des größern Pu» blifums für die Angefchuldigten gänzlich auf.

Am 3. November fam der Fall Mathis zur Anzeige, der Staatsanwalt ließ den Dr. Floden vor fich fommen und unterzog ihn einem eingehenden Verhör, aus welchem er erjt abends gegen 8 Uhr entlaffen wurde. Vom Yuftiz- gebäude in der Blauwolkengaſſe begab er ſich fofert in die unfern gelegene Meifen-Apothefe, verabredete bort mit Greiner den Plan, wie fie fich der drohenden ftrafgericht- lichen Berfolgung entziehen und ven Erfolg der Unter- juchung vereiteln wollten, ein Plan, deffen Ausführung für den fonft wahrfcheinlich unbehelligt gebliebenen Apo- thefer verhängnißooll werben jollte,

Der Apotheker Greiner fehiete feinen Lehrling Andres ichleunigft in die dem Juſtizgebäude gegenüberbefind-

108 Der Brocef wider den Dr. med. Floden.

liche Wallenfels’jche Papierhandlung mit dem Auftrage, dort ein neues Neceptirbuch zu kaufen; vafjelbe wurde dem am 29. October im Gebrauch befindlichen Receptir- buche, in dem die beiden Floden’schen Recepte eingetragen waren, untergejchoben. Am Morgen des 4. November brachte Greiner zwei Necepte zum Borjchein, die von Dr. Floden gejchrieben waren und von denen das eine auf Mathis, das andere auf Herter lautete. In dem erjtern Recepte war Digitalis mit Ahabarber, in dem (eßtern zweit Gramm Tinctura colchici in einer Löfung von 150 Gramm verfchrieben. Greiner beauftragte ven Apothefergehülfen Alfred Wolff, die bereits jeit dem 29. Dctober gemachten Einträge in das neue bei Wallen- fels angefaufte Neceptirbuch einzujchreiben, dabei jedoch die zwei Necepte für Mathis und Herter nicht wahr- heitsgetreu nach ihrem urjprünglichen Inhalte, jondern entjprechend ben beiden von ihm erſt am 4. November vorgelegten Necepten einzuzeichnen. Der Eintrag erfolgte unter den Nummern 34205 und;34206. Die aus dem al- ten Receptirbuche herausgerifjenen Blätter, jowie die Kladde und das Driginalrecept von Herter, welches in ver Apo- thefe zurücgeblieben war, wurden vernichtet. Das Ori— ginalvecept für Mathis hatte fih Dr. Flocken bei feinen: legten Bejuh in Edbolsheim, wie oben mitgetheilt, an— geeignet und ebenfalls befeitigt.

Greiner und Flocken ermahnten ven Gehülfen Wolff und den Lehrling Andres, über die Sache das tiefite Stilffchweigen zu beobachten. Als die Staatsanwaltichaft am Morgen des 4. November das Receptirbuch in der Apotheke abholen ließ, händigte Greiner dem Criminal- commifjar das neuangefertigte, bei Wallenfels angefaufte Neceptirbuch ein. In dem Verhöre, welchem Wolff und Andres ſodann durch den Criminalcommiffar unterworfen

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 109

wurden, erklärten beive: das auf Mathis bezügliche Recept Nr. 34205 entipreche genau der VBorjchrift des Dr. Floden; bie Digitalis-Infufion babe Andres zubereitet, nachdem ihm Wolff die beftimmte Quantität Fingerhutblätter ver- abfolgt habe.

Am 5. November 1837 wurbe der Apothefer Greiner von der Staatsanwaltihaft vernommen. Auch er be- bauptete, das Receptirbuch ſei nicht etwa nach Einleitung des Strafverfahrens neu bergeitellt, fondern am 29. Dc- tober begonnen und ſeitdem ununterbrochen fortgeführt worden. Am 3. November abends 10 Uhr fei Dr. Tloden in die Apotheke gefommen und habe erzählt, daß er joeben wegen bes dem Mathis verorbneten Neceptes verhört wor- den ſei. Da Dr. Sloden fich des Inhaltes feines Neceptes nicht mehr genau erinnerte, hätten fie beide gemeinschaftlich das Neceptirbuh aufgejchlagen und unter Nr. 34205 dasjenige Recept vorgefunden, welches heute noch darin eingetragen jet. Als Andres am 5. November nachmittags 4 Uhr auf dem Bureau der Staatsanwaltjchaft erjchien, um zwei ältere NReceptirbücher Greiner’s abzuholen, wurde er von dem Staatsanwalt über die vor dem Polizeicom- milfar Spatz gemachten Angaben befragt. Er beharrte dabei, daß das Neceptirbuch jchon feit dem 29. October in Gebrauch gewejen fei, daß das Recept 34205 genau der Vorſchrift des Dr. Floden entipreche und daß Wolff die Arznei und er die Fingerhutblätterinfufion hergeftellt babe.

Am 5. November abends ermittelte die Polizeibe- börde, daß Andres an Abend des 3. November bei dem Papierhändler Wallenfeld ein Negifter und Wolff am 4. November ein zweites Negifter gekauft habe. Das dritte und einzige bei Wallenfel® noch vorhandene Re— gifter ftimmte mit dem Neceptirbuche bis in die Kleinften

110 Der Broceß wider den Dr. med. Floden.

Einzelheiten überein. Dennoch verficherten Wolff und An— dres, die noch an demſelben Abende einem neuen Ver— höre unterzogen wurden, daß ihre früher gemachten An— gaben wahr ſeien. Erft nach anderthalbftündiger Ber- handlung bequemten fie fich zu dem Geſtändniſſe, daß das Receptirbuch am Abend des 3. November bei Wallen- fel8 angefauft und dag Wolff am Morgen des 4. November auf Anordnung des Apothefer8 Greiner die Einträge in das Buch bewirkt habe. Sie fügten indes Hinzu: das Recept 34205 habe in dem frühern Receptirbuche ebenfo gelautet und fei wortgetren in das neue Buch, übertragen worden. Andres befannte: fein Principal Greiner habe ihm verboten von dem Ankaufe ver Negifter der Polizei- behörde oder der Staatsanwaltichaft etwas mitzutheilen. Der fofort vernommene Apothefer Greiner ftellte bie Ausfagen feines Gehülfen und Lehrlinge in Abrede und blieb bei feinen frühern Angaben ftehen. Insbeſondere erflärte er; „Ich weiß nichts davon, das am Abend bes 3. November ein neues Regiſter angefauft und daß am Morgen des 4. November das alte Regiſter durch das neue erjegt worden ift. Wenn Wolff und Andres dies ge— than haben, fo ift es ihrerjeitS aus eigenem Antriebe und ohne mein Wiſſen geſchehen.“

Das Shitem der Täufchung, welches Dr. Flocken und Apothefer Greiner erfonnen hatten, um bie Behörben irre- zuführen, half ihnen wenig. Es brach zujfammen, als der zweite Herter’sche Fall ruchbar wurde und zur Ver— haftung der Angejchuldigten führte.

Die Witwe Herter hatte durch Die Tagesblätter von ver eingeleiteten Unterfuhung Kenntniß erhalten, fie ver— glich den Tod ihres Mannes mit dem des Gaftwirths Mathis in Eckbolsheim und fchöpfte nun Verdacht, daß die faliche Behandlung des Dr. Floden auch das Unglüd

Der Broceß wider ben Dr. med. Floden. 111

in ihrem Haufe verurfacht Habe. Sie forderte in der Greiner’schen Apothefe das verhängnißvolfe Necept. Man bändigte ihr nicht das richtige, wie wir wiffen be- reits vernichtete Necept ein, jondern das mit Nr. 34206 bezeichnete, aber untergefchobene Recept. Sie übergab daffelbe zu den Unterfuchungsacten. Das Gericht ordnete die Ausgrabung und bie Section ber beiden Leichen an; indes Tieß fich die Todesurfache nicht beftimmt fejtitellen. Der Dr. Floden, der Apothefer Greiner, fein Gehülfe und jein Lehrling, die in ftrenger Einzelhaft gehalten wurden, weil man Collufionen befürchtete und auch der Verdacht der Flucht nicht ausgefchloffen war, Tiefen fh auch jetst nicht herbei zu einem offenen Geftänbnif. Sie behaupteten nach wie vor, die Necepte Nr. 34205 und 34206 jeien von Dr. Floden jo verfchrieben und in der Greiner’ichen Apothefe jo hergeftellt, wie fie in dem Neceptirbuch eingezeichnet waren.

Endlich entichloß ſich der Apothefergehülfe Wolff, wahrjcheinlich auf Zureden feiner ihn im Gefängniffe be- juhenden Anverwanbten, der Wahrheit die Ehre zu geben und ein offenes Bekenntniß abzulegen. Die drei andern An- geihuldigten gingen nach und nach ebenfalls mit ver Sprache heraus und räumten, freilich nur mit verjchiedenen Modifi— cationen, ein, was fie begangen hatten. Am 9. December wurden fie aus der wider fie am 26. November 1887 verhängten Unterjuchungshaft gegen hohe Kautionen im Betrag von 10000, 20000 und 40000 Mark entlaffen.

Das für alle entjcheivende Geſtändniß des Dr. Floden gipfelte in der von ihm zugegebenen Thatfache, daß er in beiden Fällen aus Verſehen Extractum colchici ftatt Tinctura colchici und zwar zwei Gramm in einer Löfung von 150 Gramm verjchrieben habe. Er glaubte daſſelbe jedoch dahin abjchwächern zu müſſen,

112 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.

baß er nicht einfach Extractum colchici, jondern Extrac- tum colchici aethereum verorpnet habe, eine Zuſam— menjegung, die nach den jpäter noch genauer zu bevich- tenden Gutachten der Sachverjtändigen nicht vorkommt. In dem Geftänpniß des Apotheferd Greiner war noch bon einem dritten Falle die Rede, ven Dr. Floden jedoch bis zum Schluß auf das entichiedenfte in Abrede geftellt hat, und der deshalb auch heute noch nicht auf- geklärt ift.

Greiner hatte in Bezug hierauf Folgendes angegeben:

„Dr. Sloden fam an dem Tage, an welchem er Ex- tractum colchici für SHerter und Mathis verfchrieben hatte, abends gegen 10 Uhr in meine Apothefe und theilte mir mit: Es fei ihm bei Herter eine Arzneiflafche aufgefallen, die eine Etikette mit jchwarzem Untergrund getragen habe. Er erzählte dann weiter, er habe heute dreimal Extractum colchici verjchrieben für Herter, für Wirth Mathis in Edbolsheim und für einen Drit- ten. Daß das Recept Mathis bei Greiner gemacht wor= ben fei, wifje er. |

„Ich fragte ihn, wie er dazu fomme, Extractum zu verjchreiben; er antwortete: «Ich weiß nicht. Sie wiffen, gewöhnlich habe ich Tinctura verjchrieben; wie ich dazu fam, Extractum zu verfchreiben, weiß ich ſelbſt nicht.» Davon, daß er Extractum colchici aethereum ver— ichrieben, hat er nichts gejagt. Wer die dritte Berfon war, für die Dr. Floden am felben Tage Extractum colchici verfchrieben hat, weiß ich nicht.

„As Dr. Sloden davon fprach, daß er Extractum colchiei verordnet hätte, habe ich ihn jofort darauf auf— merfjam gemacht, daß eine ſolche Doſis mir ſehr ftarf zu fein jcheine. Darauf erwiderte Floden: «Ah bah!» Dr. Sloden hat nach feiner Meinung überhaupt feinen

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 113

vechten Begriff davon gehabt, welchen Giftgehalt 2 Gramm Ertractum haben. Er ift etwa um 9%, Uhr abends zu mir gefommen und hätte durch ſofortige Benach— rihtigung der Patienten ein weiteres Einnehmen der Arznei verhüten fünnen.“

Diefe Ausfage wurde im weſentlichen beftätigt durch den Apothefer Schmidt, der fich folgendermaßen äußerte:

„Am Montag den 31. Dectober war ich mit dem Apo- thefer Greiner den Mittag über auf der Jagd und habe danach mit ihm zu Abend gegeffen. Wir gingen, als wir von der Jagd zurücfehrten, durch die Apothefe in den zweiten Stod, der von Greiner beivohnt wird Wir hielten uns in der Apotheke nicht auf. Greiner bat fih nicht erkundigt, was etwa vorgefommen fein möchte; auch hat fi Greiner weder nach den Necepten noh nach dem Neceptirbuch umgefehen.

„Etwas vor 10 Uhr etwa fam Dr. Floden zu ung und trank bis gegen 11 Uhr Bier mit ung; ge iprächsweife bemerfte er dabei, e8 ſei ihm heute etwas Förichtes) (Komiſches) paffirt, er habe nämlich brei- mal 2 Gramm Extractum colchiei verjehrieben, anjtatt Tinetura. Er meinte ein Apothefer werde doch fo gejcheit fein und Tinctura ftatt Extract nehmen. Ich erwiderte ihm daranf, das dürfe ein Apotheker nicht, er müjfe vielmehr bei ihm anfragen, wenn er das Necept bean- ſtande. Ich fügte noch hinzu: diefe Recepte würden wol jo von den Apothefern, wie er fie verfchrieben habe, auch gemacht worden fein, weil Colchicumertract außer: ordentlich jelten verjchrieben werde. Mein Gedanke dabei war, daß den Apothefern, gerade weil das Mittel jelten oder gar nicht werjchrieben wird, die Schäblichkeit deſſel— ben wenig befannt tft; doch habe ich diefen Gedanken nicht ausgefprochen.

XXI. 8

114 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden.

‚Greiner fragte nun den Dr. Floden, ob eins der Recepte in feiner Apotheke gemacht worden fei; Dr. Flocken antwortete: «Ja, das für Mathis, das für Herter ift wahrjcheinlich beit Munde gemacht, denn e8 befand fich eine Ihwarzgeränderte Etifette auf dem Glafe.» Greiner ent- gegniete: «Auch ich führe jolche Schwarzgeränderte Etiketten», und frug weiter, ob das Medicament ſchädlich ſei? Dr. Flocken berubigte ihn mit den Worten: «Ah bah, ich gehe heute Abend noch in den Luxhof.) Gegen 11 Uhr entfernte ſich Dr. Floden, und ich folgte ihm bald darauf. Als Tloden an jenem Abend fam, waren bie beiden Brüder von Greiner anwejend, viefelben gingen aber ichnell weg und haben das vorerzählte Geſpräch zwiſchen Flocken und Greiner nicht angehört. Davon, wo das dritte Recept angefertigt worden und für wen es Flocken ver- ichrieben hat, ift weiter nicht gefprochen worden.“

Auf Vorhalt diefer Ausjagen erklärte Dr. Floden:

„Ih habe am 31. October nur zweimal Colchicum- extract verjchrieben, nämlich für Mathis und Herter. Wenn Greiner und der Zeuge Schmidt behaupten, ich hätte ihnen gejagt, daß ich an jenem Tage drei verjchiedenen Per— onen Colchieumertract verjchrieben habe, fo irren fie fich. Sch bin an dem fraglichen Tage um 10 Uhr des Abends, e8 kann auch jchon etwas fpäter gewejen fein, in die Apothefe von Greiner gekommen, die gerade gejchloffen werben follte. Ich hielt mich eine furze Zeit unten in der Apothefe auf, wo ich ein Necept und wie ich meine, auch noch einen Brief ge= ichrieben habe. Als ich auf mein Befragen erfuhr, daß Greiner mit noch einigen andern Herren eben beim Nacht: ejjen jet, jah ich, wie ich das öfter that, noch in dem Neceptirbuch nach; dabei bemerfte ich, daß in den beiden mehrerwähnten Recepten ftatt Colchicintinctur, Col- hieinertract verfchrieben war.

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 115

„Sb fragte die anmwejenden Gehülfen Wolff und Andres, was jie denn gegeben hätten; fie erwiderten, fie hätten Extract gegeben, und das Mittel im fünften Stod geholt. Nunmehr ging ich zu Greiner hinauf, um mit ihm deshalb Rüdjprache zu nehmen. Ich traf feine beiden Brüder und ven Apothefer Schmidt. Als die erjtern weggegangen waren, erzählte ich von der Ver— wechjelung, die mir heute paffirt war, und fragte Greiner, was er von Goldieinertract halte und wie ftarf das Mittel jei; Greiner erwiderte darauf, er habe verjchiedene alte Extracte; die Ertracte jeien zehnmal ftärfer als TZinceturen. Die Patienten fonnten, da die Mebdicin erit am Nachmittag gemacht worden war, am 31. Octo— ber nicht mehr viel genommen haben, wie ich glaubte, nicht mehr, als die Marimalvdofis beträgt. Ich beruhigte mich für den Augenblid und zwar um jo mehr, als mir Greiner verficherte, e8 machte nichts, die Leute wür- den nur ordentlich abgeführt werden, eine Ver— jicherung, die er jpäter und bis die Yeute ftarben wiederholt bat. Ih ging nach Haufe und las noch über das von mir verordnete Medicament. Ich fand, daß die Sache doch gefährlich werden fünnte, und überlegte, was zu thun ſei; da ging die Schelle und ich wurde zu Herter gerufen. Es war in der Nacht 12—1 Uhr. Ich hielt mich bei Herter jehr lange auf; e8 kann 19, bis 2 Stun: den gewejen jein. Al ich nach Haufe zurüdfam und nad Edbolsheim fahren wollte, fam ein Bote, der mich dorthin holen ſollte.“

Wir haben die vorjtehenden Ausjagen, wie fie in dev öffentlichen Verhandlung wiederholt wurden, ausführlich wiedergegeben, weil fie den Standpunft der beiden Ange— Schuldigten zu der Anklage und zueinander fennzeichnen, aber auch beweifen, wie leichtfertig dev Arzt und der Apothe-

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116 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden.

fer über die ihnen anvertrauten Menſchenleben gejcherzt haben und wie fahrläffig der Dr. Floden namentlich gehandelt hat. Die Ausfage des Apothefers Schmidt follte für Dr. Flocken äußerst verhängnißvoll werden. ALS vie Acten bereits gejchloffen waren und Dr. Floden fih auf Grund der geleifteten Caution längft wieder auf freiem Fuße befand und feine Praxis wieder aufgenommen hatte, beichloß die Straffammer des Landgerichts unterm 10. April 1888 auf Antrag der Staatsanwaltjchaft die Wiederverhaftung des genannten Arztes. Die VBertheidigung wendete hier- gegen bei dem Dberlandesgericht zu Colmar das Nechts- mittel der Beſchwerde ein, aber auch die zweite Injtanz billigte die angeordnete Maßregel.

Bald darauf, am 24. April 1888, wurde vom Land:

gericht der nachitehende Verweiſungsbeſchluß eröffnet:

„Auf Antrag der faijerl. Staatsanwaltichaft wird gegen 1) Dr. Robert Floden, Santonalarzt,

2) Alfred Wolff, Apothefergehülfe, 3) Jakob Greiner, Apothekenbeſitzer, 4) Jakob Andres, Apotheferlehrling, jämmtlih zu Straßburg, welche hinreichend verdächtig erjcheinen: ad 1. Am 31. Detober 1887 durch zwei jelbftändige Handlungen |

a. zu Edbolsheim den Tod des Wirthes Michael Mathis,

b. zu Straßburg den Tod des Wirthes Ludwig Herter durch Fahrläffigkeit verurjacht zu haben, indem er die Aufmerkfamfeit, zu welcher er ver- möge feines Berufes bejonders verpflichtet war, aus den Augen ſetzte.

ad 2. Am 31. October 1837 zu Straßburg durch zivei jelbftändige Handlungen den Tod

Der Broceß wider den Dr. med. Floden. 117

. des Wirth Michael Mathis in Eckbolsheim,

. des Wirths Ludwig Herter in Straßburg durch Fahrläſſigkeit verurfacht zu haben, indem er die Auf- merfjamfeit, zu welcher er vermöge feines Berufes bejonders verpflichtet war, aus den Augen fette.

ad 3. Im November 1887 zu Straßburg durch eine und

diefelbe_ Handlung |

a. dem praftifchen Arzte Dr. Floden und dem Apo⸗ thekergehülfen Alfred Wolff nach Begehung des Vergehens der fahrläſſigen Tödtung des Michael Mathis und des Ludwig Herter wiſſentlich Bei— ſtand geleiſtet zu haben, um ſie der Beſtrafung zu entziehen, und zwar, ſoweit die Begünſtigung in Bezug auf die fahrläſſige Tödtung des Michael Mathis in Frage fteht, gemeinjchaftlich mit dem Apotheferlehrling Jakob Andres,

b. ven Apotheferlehrling Jakob Andres durch Mis- brauch feines Anſehens, Aufforderung und andere Mittel vorfätlich beftimmt zu haben, dem praf- tiichen Arzte Dr. Flocken und dem Apothefergehül- fen Alfred Wolff nach Begehung des Vergehens der fahrläffigen Tödtung des Michael Mathis Bei- ſtand zu leiften, um die Thäter der Beitrafung zu entziehen.

ad 4. Im November 1887 zu Straßburg gemeinfchaft-

(ih mit Jakob Greiner dem praftiichen Arzte Dr. Floden und dem Apothefergehülfen Alfred Wolff nach Begehung der fahrläffigen Tödtung des Michael Mathis wiffentlich Beiſtand geleiftet zu haben, um fie der Beftrafung zu entziehen.

Vergehen gegen 88. 222, 257, 47, 48, 73 und 174 81.6.9. Das Hauptverfahren vor der Straffam- mer des Faiferlichen Landgerichts hierſelbſt eröffnet.

Oo’ »

118 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.

„Die Unterfuhungshaft gegen Dr. Floden hat fortzu- dauern. Hinfichtlich der Unterfuhungshaft gegen bie Angeichulpigten Alfred Wolff, Jakob Greiner und Jakob Andres hat e8 bei den getroffenen Maßregeln zu ver- bleiben.”

Den Borfig bei der Hauptverhandlung, welche am 11. und 12. Mai 1888 in dem Schwurgerichtsfaal des Straßburger Landgerichts ftattfand, führte der Landge— richtödirector Krieger. Die Anklage vertrat ber Staatsanwalt Stadler, als Bertheidiger waren bie Rechtsanwälte Schneegans, von Schottenftein, Dr. Betri und Dr. Reinhard erjehienen, alle befannt als angejehene Mitglieder des ftraßburger Barreau. Die gewöhnlich den Gefchworenen eingeräumten Bläße wurden von einer ftattlichen Anzahl einheimifcher und auswärtiger Fachgelehrten und BProfefforen eingenommen, die ſämmt— (ih als Sachverftändige geladen waren. Als Vertreter der Allgemeinen Renten -Anjtalt zu Stuttgart und der Witwe Herter wohnte der Rechtsanwalt Dr. Mumm ven Sigungen bei. Außerdem war eine anjehnliche, vornehmlich aus Fachkreifen und Yuriften zufammengejekte, Zuhörer- Ihaft in dem verhältnigmäßig Heinen Saale verfammelt.

Unter ven zahlreichen Zeugen, die fih in dem Raume zwijchen der DVertheidiger- und Sachverftändigen- Bank aufgeitellt Hatten, zogen die Witwen und die andern nächiten Angehörigen des Wirthes Mathis und des Wir- thes Herter fowie die tiefbekümmerte Frau des Dr. Flocken die Aufmerkſamkeit des Publikums in beſonderm Maße auf ih. Ihre und die übrigen Zeugenausjagen find damals von den Tagesblättern mit großer Ausführlichkeit wiedergegeben worden. Für eine actenmäßige wiſſenſchaft— liche Darftellung des Procefjes haben fie feine Bedeutung. Da wir das thatfächlihe Material bereits mitgetheilt

Der Proceß wiber ben Dr. med. Floden. 119

haben, können wir das Zeugenverhör übergehen. Dage- gen müffen wir uns mit den Gutachten der Sachver- ftändigen eingehend bejchäftigen. Diefe Gutachten haben auf das Urtheil nicht den entjcheivenden Einfluß aus— geübt, den man urjprünglich ihnen beizumeſſen geneigt war. Insbeſondere hat die den ftraßburger Gelehrten diametral entgegengejegte Meinung des göttinger Pro- feffors Dr. Hufemann den Gerichtshof nicht einen Augen- blik zu Gunften der Angeklagten zu jtimmen vermocht. Aber durch die verjchtedenen Beleuchtungen von fachwilfen- ihaftlicher Seite wurden die mebicinijch - pharmaceutifch intereffanten Fragen in ein helles Licht geſetzt. Be— merfenswerth find zunächjt die bereit8 in der Worunter- juchung durch den Privatoocenten Dr. von Schröder veranlaßten Verſuche an Thieren, behufs Feftitellung ber Einwirkung des Kolchieingiftes auf den thierifchen und menschlichen Organismus. Diefer Gelehrte hatte zu dem Ende einer Anzahl Katen die auf ihre Wirkung zu prüfenden Gifte unter die Haut gejprigt und dabei ge— funden, daß ſchon einige Gentigramm Colchicumertract genügten, um ein töbliches Ende herbeizuführen. In allen Fällen wurden die Ertvacte behufs Injection in etwas Waffer nah Hinzufügung einiger Tropfen Alkohol aufgelöft und nah Abkühlung auf Körpertemperatur den Thieren eingefpritt.

ALS DVergleichdertracte benutzte er zwei Präparate, von denen er das erſte aus der Storchen-Apotheke des Herrn Reeb bezogen hatte, während das andere Präparat in der Apothefe des Bürgerjpitals eigens angefertigt worden war. Was die Art der Wirkung des Greiner'ſchen Colchicin— extracts anlangt, jo war diefelbe genau übereinſtimmend mit derjenigen, welche nach der Einfprigung von Colchiein oder Colchicumpräparaten an Katzen beobachtet wurde.

120 Der Procef wider den Dr. med, Floden.

Nach Injection des Giftes zeigten die Thiere in den erjten 3—5 Stunden feinerlei auffallende Symptome. Durch größere Doſen fonnte ein rajcher Eintritt der Vergiftungs- ericheinumgen nicht bewirft werben, d. h. der Beginn der Vergiftungserjcheinungen war unabhängig von der Größe | der Dofis. Dies ift eine jehr bemerfenswerthe Eigenjchaft des Colchicins und der Colchicumpräparate, die nur jehr wenigen Giften zufommt.

Nach Ablauf der angegebenen Zeit trat Erbrechen und Durchfall ein, gleichgültig ob das Gift in den Magen oder unter die Haut eingeführt worden war. Gleichzeitig mit dieſen Magen- und Darmerſcheinungen wurde eine erhebliche Stumpfheit, ein Herabgehen der Senſibilität an den Thieren beobachte. Die Magen- und Darm— ſymptome hielten in der Regel nicht bis zum Tode an, ſondern ließen nach einigen Stunden nach, ſodaß in vielen Fällen eine bemerkbare Beſſerung im Verhalten des Thieres eingetreten zu ſein ſchien. Bald aber ſtellten ſich die— jenigen Wirkungen des Giftes ein, welche einen tödlichen Ausgang herbeiführten. Es waren dies die centralen Lähmungserſcheinungen. Die Lähmung ergreift zuerſt die hintern Theile des Rückenmarkes und ſchreitet dann langſam vorwärts. Ungeſchicklichkeit bei der Direction der Extremitäten macht ſich geltend, das Thier muß längere Zeit genöthigt werden, bis es ſich zu einem Gang entſchließft. Die erſte Abweichung von den normalen Bewegungen beſteht darin, daß die Hinterbeine beim Stehen jteif und auseinandergejpreizt werben. Bald ichwindet auch die Herrichaft über die Borderbeine. Dann wird die NRejpiration langjamer. Auf der Seite liegend, immer langſamer athmend, geht das Thier meift ohne weitere Frampfhafte Erjcheinungen durch Lähmung der Reſpiration zu Grunde,

Der Proceß wider ben Dr. med. Floden. 121

Wir fönnen die weitern Einzelheiten dieſer intereffan- ten Berfuche ſowie auch das in der Situng verlejene Gut- achten des abwejenden Sachverjtändigen nicht ausführlicher ihildern und begnügen ung mit der fich unmittelbar dar— aus ergebenden Löfung der geftellten Frage: ‚Welche Wirkung wird das bei Greiner bejchlagnahmte Ertract nah den Verſuchen an Thieren auf den menjchlichen Organismus vorausfichtlih ausüben, wenn e8 in ber von Dr. Sloden verorbneten Verdünnung von 2 Gramm zu 150 Gramm angewendet und wenn dabei, wie im Fall Mathis und Herter nur drei Eßlöffel in Zwiſchen— räumen von je zwei Stunden genommen werden?‘

Dieje Frage wurde kurz gefaßt dahin beantwortet: „Drei Eflöffel entiprehen 60 Gramm Tinctura col- chici. Es hätte alſo der Kranke innerhalb vier Stunden 60 Gramm Tinctura colchici erhalten, während vie Maximaldoſe pro Tag nach ver Pharmacopoea Grer- manica edit. altera 6 Gramm beträgt. Xettere wäre alſo um das Zehnfache überjchritten worden. Daß hier- burch der Kranke unter den Erfcheinungen einer Colchi— cumvergiftung zu Grunde gehen mußte, war mit Sicher: heit zu erwarten.” Auf verwandtem Gebiete bewegten fih die dem Profeffor Dr. D. Schmiedeberg vorgeleg- ten Fragen, von denen die erſte lautete:

„Sun welchem Berhältniß in Bezug auf Giftgehalt fteht zur Tinctura colchiei das Extractum colchici und wieniel beträgt bei lettern die Marimaldofis: a) als Cinzelgabe, b) als TZagesgabe?“

In Beantwortung diefer Frage gab der als Autorität in dieſem Fache allgemein anerfannte Gelehrte Folgendes an:

„Unter Tinctura colchici ift der alfoholiihe Aus— jug der Zeitlofenfamen (Semen colchici) zu verjtehen, ver nach der Deutjchen Pharmakopöe aus einem Theil Samen

122 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.

und zehn Theilen Alkohol bereitet wird, während 3. B. die Franzöfische Pharmafopde (Codex medicamentarius) auf einen Theil Samen nur fünf Theile Alkohol vor- ichreibt, ſodaß alſo diefe Tinctur doppelt fo ftarf ift als jene. in Extractum colchiei fennt die Deutjche Pharmakopde nicht. Verſchiedene derartige Präparate finden fi) in den Pharmakopöen anderer Länder. Für den vorliegenden Zweck ift aber nur das Extract der Franzöſiſchen Pharmafopde (Extractum colchici seminis alcoholicum) zu berüdfichtigen. Dafjelbe bejteht aus den gleichzeitig in Alkohol und Waffer Löslichen Beſtand— theilen ver Samen, während die Tinctur auch noch die in Waſſer unlöglichen Antheile (3. B. Harz und Fett) enthält. Nach den neuern Unterfuchungen muß angenom- men werden, daß in dem Zeitlojenfamen mehrere wirf- jame Beftanotheile (zwei Erhftalifierte Colchicine, Amor» phes Colchicin, Colchickin) enthalten find.

„Bon den praftifchen Aerzten der verfchiedenen Länder wird für die Anwendung bei den Kranken, insbejondere bei jolchen, die an Gicht und Rheumatismus leiden, unter allen Colchieinpräparaten der Auszug dev Samen mit Wein (Vinum Colchici seminis) bevorzugt. Bei der Anwendung eines folchen Weines, der an Stärke unjerer Tinctur entiprach, hat man mit Verfuchen an gejunden Menjchen nad 3—7 Gramm, die in verjchtedenen Gaben während mehrerer Stunden verabreicht waren, mehr oder weniger jtarfes Erbrechen und Durchfälle, aljo bereits ausgefprochene Vergiftungserjcheinungen eintreten jehen. Erbrechen und Durchfälle fuchten früher manche Praftifer bei Kranken abfichtlich hervorzurufen, weil fie glaubten, daß der heilfame Erfolg nur in diefem Falle eintritt, ein Glaube, der fih wol noch hier und da erhalten haben mag.“

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 1923

Bezüglich der von Dr. Floden gebrauchten Ausrede, daß er zwar verjehentlich Extractum colchici, aber mit dem Zuſatz aethereum verfchrieben habe, ließ fich der Sachverftändige dahin aus: „Ein jolches Präparat wird nirgendwo hergeftellt und ift nicht gebräuchlich. Indes bleibt e8 dem Arzte unbenommen, jolche Präparate zu verorbnen und eigens anfertigen zu laſſen. Allein ein bejonderer Zwed läßt fich dabei nicht abjehen. Man kann als folchen nicht geltend machen, daß die ätherijche Tinctur und das ätherifche Ertract geringere Mengen giftiger Bejtandtheile enthalten und deshalb milder wir- fen und weniger jchädlich find; denn um dieſen Zwed zu erreichen, genügt es, von den gebräuchlichen Präparaten geringere Mengen zu verordnen. Wenn ein Arzt folche ungewöhnliche Zubereitungsformen dennoch anwenden will, etwa um fie zu erproben, jo muß er wenigjtens genau die Bereitungsweije angeben. Es darf nicht als jelbftverjtändlich vorausgefegt werden, daß der Apotheker zur Herſtellung der ätherifchen Zincetur die Samen und nicht die Zwiebel (Bulbus) ver Zeitlojfe und von ben erftern wiederum 1 Theil auf 10 Theile Aether ans wenden wird. Falls das Recept einfach Tinctura col- chici aetherea verlangt, fo kann der Apothefer ebenjo gut die Zwiebel ftatt der Samen benuken, wenn er fie ge- rade vorräthig hat, oder auf 1 Theil der lettern nicht 10, fondern nur 5 Theile Aether wählen. Jedenfalls iollte e8 dem Apothefer nicht überlaffen bleiben, ein der— artig ftarf wirfendes Mittel nach eigenem Ermeſſen hin- fichtlich der Mengenverhältniffe zu bereiten.”

Eine weitere Frage lautete:

„Denn im Falle Mathis 2 Gramm Extractum col- chici in einer Löjung von 150 Gramm verjchrieben waren und Mathis hiervon am 31. October drei Eflöffel

124 Der PBroceß wider den Dr. med. Floden.

voll genog und zwar nachmittags 31, Uhr den eviten, 5, Uhr den zweiten, 71, Uhr den dritten, war diefe Dofis geeignet, den Tod des Mathis herbeizuführen?‘

Hierauf gab der Sachverftändige folgende Antwort, die fich zum Theil mit den Ergebnifjen der Dr. Schrö- der'ſchen Unterſuchungen Freut:

„Man nimmt bei der Doſirung von flüſſigen Arzneien allgemein an, daß ein gewöhnlicher Eßlöffel 15 Gramm einer wäſſerigen Flüffigfeit faßt. Mathis hat demnach von der ihm verjchriebenen Medicin 45 Gramm genom- men, in welchem zujfammen O, Gramm Extractum colchiei und zwar von dem nach der Vorſchrift des franzöfiihen Coder aus Samen bereiteten Präparat enthalten waren. Ob dieſe Gabe geeignet ift, den Tod eines erwachjenen Fräftigen Menjchen herbeizuführen, kann nur auf Grund der bisher vorgefommenen Colchicum— vergiftungen entjchieden werden, da es eine andere, auch nur annähernd fichere Grundlage für diefe Beurtheilung nicht gibt. Nah Verſuchen an Thieren kann man nur im allgemeinen entjcheiven, ob eine Subſtanz gar nicht, wenig, oder ftarf giftig if. Ueber die Menge, welche gerade geeignet ift, ven Tod eines Menjchen her- beizuführen, geben Thierverjuche feinen fichern Aufichluf. Bon den 50—60 mir befannt gewordenen theil® tödlich verlaufenen, theils mit Genejung endenden Vergiftungs- fällen mit Colchieum find etwa 20, darunter eine Mafjen- vergiftung, nachweislich durch Colchicumſamen oder deren Präparat bedingt worden. Bet den übrigen handelt es ſich faft ausjchließlich um die Zwiebel (Bulbus colchicı).

„ie bereits angegeben, hat Mathis innerhalb vier Stunden zufammen O,s Gramm Ertract genommen. Wie bei Beantwortung der erſten Trage bereit8 auseinander- geſetzt ift, find zur Gewinnung dieſer Exrtractmengen nicht

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 1925

weniger als 5 und nicht mehr als 7,; Gramm Colchi— cumjamen erforderlich gewejen, eine Menge, welche ven obigen Herjtellungen zufolge wenigjtens für einzelne Fälle als eine tödliche bezeichnet werden mußte. Auf Grund der vorjtehenden Ausführungen muß die gejtellte Frage demnach dahin beantwortet werden, daß eine Gabe von O,« Gramm des hier in Rede ftehenden Extracts der Colchicumſamen, auf einmal oder wie in dem Yall Mathis, in drei Gaben binnen vier Stunden innerlich ge: nommen, bei einem erwachjenen Menjchen unter allen Umjtänden eine jchwere Vergiftung herbeiführen wird, und daß dieſe Gabe auch geeignet ijt, unter den obwal- tenden Umjtänden den Tod zu verurfachen, daß e8 aber auch Fälle geben fünnte, in denen eine Vergiftung nach dieſer Gabe mit Genefung endet.“

Bezüglich des Falles Herter erflärte der Sachver— jtändige, daß, da in diefem Falle der Thatbeſtand in Be- zug auf das Colchicumpräparat, die Größe der Gabe, die Art des Einnehmens der lettern der gleiche iſt wie in dem Falle Mathis, und da auch die Individualität des Herter nichts bietet, was auf die Beurtheilung der Gabe des Giftes von Einfluß fein fönnte, die Wirkung diefelbe jein mußte wie im Falle Mathis.

Es wirde über ven Rahmen unferer Darftellung hinausgehen, wollten wir die weitern Ausführungen diejes gründlichen Gutachtens auch nur im Auszuge wieder- geben. Ebenjo müffen wir uns bezüglich des Gutachtens des Gerichtsarzte8 Dr. von Mering, welcher die Sec- tion der beiden Leichen und die chemijche Unterjuchung der einzelnen Theile derjelben vorgenommen hatte, auf die Feftjtellung bejchränfen, daß weder Gelentrheumatis- mus bei der einen, noch Herzlähmung bei der andern jich anatomifch nachwetjen ließen. Die bei der Obduction

126 Der Proceß wider den Dr. med. Floden,

feitgeftellte mäßige "ettauflagerung des Herzens ift auf den Zod des Mathis, wie auch des Herter ohne wejent- lichen Einfluß gewefen. Die Frage nach der Todesurjache fonnte daher von biefem Gelehrten dem anatomijchen Defund gemäß nicht erklärt werden. Hervorzuheben dürfte noch fein, daß Dr. Floden bei der Section der Herter’ichen Leiche darauf bejtand, daß die Eingeweide auf Gift unterfucht würden, da ber franfe Herter ihm ge— jagt hätte, er habe einen dummen Streich gemacht und vielleicht zu feinem frühzeitigen Tode jelbjt beigetragen. Bei der chemischen Unterfuhung nach Colchicum war das Reſultat in beiden Fällen ein negatives, da im Magen und Darm fi eine Spur des Giftes nicht vorfand.

Außer dieſen bereits in der Vorunterſuchung beige— zogenen Sachverſtändigen wurde in der Hauptverhand— lung noch vernommen der Vorſitzende der pharmaceuti— ſchen Prüfungscommiſſion und Director des pharmaceu— tiſchen Inſtituts zu Straßburg, Profeſſor Dr. Flückiger, welcher beſtätigte, daß die Deutſche Pharmakopöe nur die Colchicum-Tinectur kenne, und darauf hinwies, daß der Arzt gehalten ſei, bei außergewöhnlichen, beſonders gifthaltigen Recepten ein Ausführungszeichen (!) hinter die Verordnung zu ſetzen. Der Apotheker ſoll ſich in ſolchen Fällen ſtets mit dem Arzt ins Benehmen ſetzen.

Dies beſtätigte auch der von der Vertheidigung als Sachverſtändiger geladene Apotheker Pfersdorf, welcher erklärte, er ſelbſt würde die vorliegenden Recepte nicht gemacht haben, ſelbſt ohne Ausrufungszeichen. Da indeß eine Maximaldoſis nicht vorgeſchrieben ſei, jo könne man dies dem Apotheker kaum verargen, zumal er ſelbſt ſtär— fer wirkende Gifte in größern Doſen, z. B. 1,15 Digitalis, verſchreiben durfte. Insbeſondere habe ſich der Gehülfe

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 197

bei dem zweiten Recept, welches ganz gleichlautend mit dem erjten in die Apothefe Fam, beruhigt finden fönnen.

Bei Erörterung der Frage, inwieweit ber Apothe- fergehülfe Wolff mangels hierüber im Reichslande be- ſtehender gejetlicher Vorſchriften überhaupt als Vertreter des Apothefer8 anzufehen ſei, hatte jchon Profejlor Dr. Flüdiger über die hierzulande bejtehende „Wirth- ſchaft“ geklagt, eine Klage, der fich auch der Kegierungs- rath Dr. Krieger anfchloß, indem er betonte, daß bie fragliche Geſetzgebung im Uebergangsſtadium ſich befinde. Bezüglich der Pflicht des Arztes in jolchen Fällen, wo er die Wirfung der Präparate jelbjt nicht Fennt, ſchloß fih indeß diefer Sachverftändige der Auffaffung des Profefjor Schmiedeberg an.

Am günftigiten für den Angeklagten Wolff ſprach fih der Apothefer Dr. Amthor aus, welcher früher als Chemifer an der Unterfuchungsitation für Nahrungsmittel in Straßburg angeftellt war. Er hob hervor, daß man von einem Apothelergehülfen, der noch feine eigentliche wiffenjchaftlihe Bildung auf der Univerſität genoffen habe, ein fichere8 Urtheil über die Wirkungen ver ver- ichiedenen Gifte, insbefondere des Colchicum, von dem ſelbſt Profefjor Schmiedeberg zugejtanden habe, daß er nur wenig davon wilje, faum erwarten fünne. Der Apothefer habe auch die Verpflichtung, raſch zu arbeiten, und könne nicht bei jedem Recepte zum Arzte laufen, ‚nonft würde die ganze Heilfunde lahm gelegt werden“. Es erübrigt noch, kurz auf die Anficht des göttinger Profeffors Dr. Huſemann zurüczufommen.

Der greife Gelehrte erklärte, nach gewifjenhafter Prüfung der Frage über die Todesurjache in den beiden Vergiftungsfällen fei er zur Ueberzeugung gefommen, daß

128 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.

die von Dr. Flocken verordnete Dofis zu gering war, um ben Tod durch Colchieinvergiftung herbeizuführen.

Es fünne zwar feinem Zweifel unterliegen, daß fein beuticher Pharmakologe oder Klinifer diefe Gabe als eine nachahmenswerthe empfehlen werde; nichtsdeſtoweniger fünne man aber nicht jagen, daß diefelbe eine unwiffen- ichaftliche fei; noch viel weniger würde fie als eine folche zu bezeichnen fein, deren Tödlichkeit bezw. Schäplichkeit ein wifjenjchaftlich gebildeter Arzt bei entſprechender Auf- merfjamfeit erkennen müſſe.

Unter einem wiffenfchaftlich gebildeten Arzt verſtehe man einen ſolchen, der nach abſolvirten mediciniſchen Studien, nah den im Laufe derfelben beftandenen Ten— tamen und Ablegung der vorjchriftsmäßigen Staats— prüfung, feine Approbation erhalten habe. Mean dürfe bei alfer Achtung vor der wifjenfchaftlichen Bildung der beutjchen Aerzte doch gerade in Bezug auf ihre Kennt— niffe der Arzneimittel und ihrer Berhältniffe nicht über- triebene Forderungen ſtellen. Es fei notoriſch, daß das Wiffen des eben approbirten Arztes in biefem Zach durch— Ihnittlich weit geringer ſei als in allen übrigen Zweigen der Heilfunde.

Eine Urtheilsfähigfeit über pharmafologiiche Fragen bringe der approbirte Arzt in feine neue Wirkfamtfeit in der Regel nicht mit; vollftändig orientirt ſei er höch— jtens über Mittel, die ev in der Klinik habe anwenden jehben. Dagegen fünne er die in der Pharmacopoea, Germanica enthaltene ſog. Maximaldoſentabelle aus- wendig, d. h. er wiffe, daß er in bejtimmten Fällen nach dem Recepte ein Ausrufungszeichen machen müſſe, und er wife Die Menge auswendig, welche für jedes in ber Tabelle enthaltene Mittel ihn zu diefen Ausrufungszeichen nöthige. Dieje letstere Kenntniß bleibe übrigens nur für

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 129

einige Zeit. Da fich nichts fo Leicht vergeffe, wie Zahlen, jo habe der junge Therapeut ſchon nach einigen Jahren diejelben vergefjen, und der Arzt führe deshalb einen ärztlichen Kalender, der eine ſolche Tabelle ent- halte, oder ein Recepttafchenbuch bei fih, aus dem er ih Rathes holen könne. Er jchlage es in allen Fällen auf, in denen er über die Gabe nicht orientirt jei. Handele e8 ſich um einen Stoff, um eine Zubereitung, die in feinem gewöhnlichen Hülfsmittel nicht ftehe, fo jehe er in einem größern Werfe nach, aljo entweder in einem Werfe über Arzneimittellehre, oder vermuthlich in einem jolchen über Arzneiverorbnungslehre. Das hätte im vorliegenden Falle gefchehen müffen, denn von Extrac- tum colchieci nähmen die Marimalfalenvder feine Notiz und die Marimalpojentabelle der Pharmakopöe laſſe höchſtens indirect eine Beftimmung durch eine Schlußfolgerung zu. Ein eraminirter ober wifjen- ichaftlich gebildeter Arzt brauche aber noch keineswegs durch diefe Schlußfolgerung die Ueberzeugung zu gewinnen, daß er bei Verordnung von 2,0 Gramm Colchieumertract Geſundheit und Leben feines Patienten geführbe.

In feinen weitern Ausführungen gab ſodann ver Sachverftändige eine Ueberficht über die in den verjchie- denen Ländern des Continents ſowie in Großbritannien und den DBereinigten Staaten von Amerika gebräuchlichen Arten der olchicumrecepte und ihre verjchiedenen Dofen und kam zu dem Schluffe, daß dem Arzte bie Kenntniß der Differenz der Stärfe der einzelnen Extracte, die jelbjt der Pharmakologe nicht auswendig wiſſe, nicht zugemuthet werden könne; mit andern Worten, daß ein wilfenjchaftlich gebildeter Arzt, beim Verordnen einer Tagesgabe von 2 Gramm Extractum colchici nicht im voraus erfennen und auch bei entiprechender Aufmerk—

XXI. 9

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ſamkeit nicht zu der Anficht gelangen müſſe, daß dieſe Gabe für die Gejundheit und das Leben gefährlich fei.

Diefe Behauptung des göttinger Profeffors war vie Zielſcheibe der jchärfiten und fchonungslofeften Angriffe des Vertreters der Staatsanwaltichaft. Bevor jedoch der Vorfikende ihm das Wort ertheilte, redete er dem Angeklagten Dr. Floden nochmals eindringlich ins Ge— wiſſen, um ben dritten Vergiftungsfall womöglich noch in legter Stunde aufzuklären. Es gab dies Veranlaffung zu folgender bemerfungswerther Unterhaltung zwijchen dem Präfidenten und dem Hauptangeklagten.

Präfident. Herr Dr. Flocken! Che wir weiter gehen, möchte ich nochmals eine eindringliche Trage an Sie richten. Sie haben gehört von Schmidt und Greiner, daß Sie bei ihm an jenem Abend aus eigenem Antrieb davon gejprochen hätten, „va jei Ihnen etwas Förichtes paffirt, Sie hätten fich dreimal verjchrieben u. ſ. w.“. Ih frage Sie: wo ift der dritte Fall? Wo ift er? Sagen Sie e8!

Angeflagter. Das ift jo wenig wahr wie das an— dere, daß der Ertract zehnmal ftärker ift.

Präjident. Ich frage Sie: wo ift der dritte Fall?

Angeflagter. Ich Habe mich nur zweimal ver- ſchrieben.

Präſident. Ermittelt iſt der Fall nicht. Ich habe gedacht, Sie könnten vielleicht das Bedürfniß haben, Ihr Gewiſſen zu erleichtern, indem Sie uns ſagen, wo der dritte Fall iſt.

Angeklagter. Ich verſichere, es ſind nur die beiden Fälle.

Präſident. Dann frage ich Sie nochmals, was ich ſchon geſtern wiſſen wollte: wann ſind Sie über Ihren Irrth um klar geworden?

Der Proceß wider den Dr. med. Flocken. 131

Angeklagter. Ich habe mein Recept gefehen in der Kladde um 10 Uhr. Ich war ja um 5 oder 6 Uhr bei Herter. Hätte ich’8 gewußt, wär's doch ganz einfach ge- wejen, die Medicin wegzunehmen.

Präfident. Aber Wolff und Andres, die auch nicht das geringjte Intereffe daran haben, dieſe Frage jo oder jo zu beantworten, beftreiten dieſe Möglichkeit.

Angeflagter. Ich fage ja nicht, daß die beiden zu- gejehen haben, als ich ins Buch jchaute. Sie waren be- ſchäftigt.

Präſident. Anſtatt dieſes Blickes in die Kladde, Herr Dr. Flocken, war's der „dritte Fall“, der Sie zur Erkenntniß gebracht hat? der ruhig blieb? der entweder glücklich verlaufen iſt? oder ſchon mit Erde zu— gedeckt iſt?

Angeklagter. Wenn ein dritter Fall beſtände und er wäre glücklich verlaufen, dann hätte ich ihn doch citirt, um zu zeigen, daß die Giftwirkung gering war und wenn anders, dann wäre es doch herausgekommen.

Präſident. Warum ſind Sie nicht ſpornſtreichs zu Herter geeilt, um zu retten? Warum?

Angeklagter. Ich dachte, er habe höchſtens zwei bis drei Löffel voll genommen; das Extract iſt nicht um ſo viel ſtärker wie die Tinctur, ich habe Zeit gehabt mich zu Hauſe zu informiren.

Präſident. Nun denn ja ich habe meine Schul— digkeit gethan.

Die Beweiserhebung iſt geſchloſſen.

Hierauf nahm zunächſt der öffentliche Ankläger das Wort und verbreitete ſich nach einer rhetoriſch meiſter— haften Einleitung über die Hauptfragen: „1) Was iſt that— jächlich erwiefen ? 2) Was ergeben die Sachverftändigen- Gutachten? 3) Welche Schlüffe find hieraus zu folgern?

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Bei Prüfung der Trage nach der Todesurfache Fri- tifirte Redner einerjeits das Verfahren det Dr. Flocken bei Ausftellung der Todtenſcheine, andererjeitd aber auch die Widerfprüche in den Gutachten der Sachverftändigen, infonderheit befämpfte er die Anfichten des Profeſſor Huſemann. „Ich bin weit entfernt‘, ruft Redner aus, „Profeſſor Hufemann irgendwie anzugreifen und feinen wijfenjchaftlichen Auf oder feine perfönliche Ehrenhaftig: feit irgendwie in Frage zu ftellen; aber ich muß doch betonen, daß nicht der unparteiiſche Richter ihn hierher gerufen und inftruirt hat, fondern der Angeklagte, der in der ganzen Welt herumgejchrieben haben mag, bis er end— (ih einen Sachverjtändigen fand, der geneigt war, feine Sache zu übernehmen. Jedenfalls bejteht alfo ein gro- Ber Unterfchied in der Objectivität von vornherein, Pro- fejfor Hufemann wäre nicht genommen worden, wenn er ſich nicht bereit erflärt hätte, die Sache im Sinne des - Angeklagten zu vertreten.“

Die Vertheidiger Schneegans und Freiherr Schott von Schottenſtein legen Tebhaften Widerfpruch ein gegen dieſe Kritik, die überhaupt nicht jehr beifällig aufgenommen und auch jpäter lebhaft im Kreife der Fachgenoſſen commentirt wurde. In der That follte man juriſtiſch und thatjäch- lich feinen folchen Unterfchied machen. Es kommt nichts darauf an, von wen die Zeugen oder Sachverftändigen zur Hauptverhandlung geladen worden find, ob von ber Dertheidigung oder von der Anklage. Nach geleiteten Eide find fie an fich gleichwerthig, wie vor dem Gejek, jo au) vor den Organen des Gejeted. Leider wird gegen dieſen Fundamentalſatz ber Gerechtigkeit noch viel- fach bewußt oder unbewußt gefünbigt.

„Dem fchlichten, Haren Vortrage Schmiedeberg’s ge— genüber”, fährt der Staatsanwalt fort, „kann der Sprüb-

Der Procef wider den Dr. med. Floden. 133

regen glänzender Gitate, welche Huſemann vorgebracht bat, nicht in Betracht fommen. Huſemann, ber die Frage der Vorausjehbarfeit nicht zweifellos bejaht, ift entgegenzuhalten, daß hierdurch geradezu ein privilegium odiosum für die Profefjoren der Pharmakologie gefchaffen wird. Denn fie find dann die einzigen, bie noch wegen Colchieumvergiftung beftraft werden fünnen. Die Be- gründung der Anklage gegen Wolff gibt mir zumächit Beranlaffung, über einen Vorfall bei der Beweiserhebung zu fprechen. Profeſſor Flückiger ſprach davon, daß in unfern pharmacentifchen Verhältniffen eine «Wirthichaft» beſtehe. Ich würde darauf nicht zurückkommen, wenn diefe Worte aus einem weniger berufenen Munde ge- fommen wären. So aber ift Profefjor Flückiger die erfte Größe der Welt auf dem Gebiet der pharmaceu— tiichen Chemie und außerdem eljaß-lothringifcher Yandes- beamter, Vorſitzender der pharmaceutijchen Prüfungs- commiffion und Director des pharmacentischen Inftituts. Ih bin völlig überzeugt, daß die Aeußerung in gutem Glauben erfolgt ift; er hat feinem Unmuth darüber Aus- druck gegeben, daß die thatjüchlichen Berhältniffe nicht alle jo find, wie fie feinen wifjenjchaftlichen Idealen ent- iprechen; aber es fünnte doch dieſes Wort aus folchem Munde eine Misdeutung erfahren, und ich erachte es als die Pflicht de8 Vertreters der Staatsbehörbe, zu jagen, daß die hiefige Medicinalverwaltung, wenn auch noch) nicht alles jo ift, wie es fein follte, doch vollauf ihre Pflicht gethan hat. Sie hat feine glüclichen Zuftände vorgefunden, der größte Theil der Gejege ftammt noch aus der Zeit der Franzöſiſchen Revolution und batirt vom Germinal XI Abhülfe ijt bereits gejchaffen auf dem Gebiete des Prüfungswefens und der Reviſion der Apothefen; Regierungsratb Dr. Krieger bat bie

134 Der Procef wider den Dr. med. Floden.

Gründe angegeben, warum bisjett nicht weiter gegangen werden konnte. Die Apotherferordnung ift ein jehr ichwieriger Punkt. Sollen die Apothefen freigegeben oder concejfionirt werden? Das it eine verwidelte Frage. Wie gefagt, die Landesverwaltung trifft in feiner Weife eine Schuld, und unter Mitwirkung Profefjor Flüdiger’s wird, woran ich nicht zweifle, bald eine Beſſerung ge- ihaffen werden.” Rendner bejaht hierauf in eingehen- der langer Begründung die Fragen nach ber jtrafrecht- lichen Berantwortlichfeit des Gehülfen Wolff, des Apothe- fers Greiner, des Lehrlings Andres. Der Strafantrag lautet, unter Annahme von Milderungsgründen für alle Angeklagten, für Wolff wegen fahrläffiger Tödtung in bei- den Fällen je 1 Monat oder da auf eine Geſammt— jtrafe zu erfennen ift auf zuſammen 6 Wochen, für Greiner 1 Monat Gefängniß, für Andres 100 Marf Gelpftrafe eventuell 10 Tage Gefängniß. „Bei dem An— geflagten Dr. Floden find faft nur Erjchwerungsgründe in Betracht zu ziehen. Daß er einen guten Ruf ge- nießt, kann nicht jehr bedeutend ins Gewicht fallen; es ijt nicht fchwer, einen guten Ruf zu haben, wenn man eine jociale Stellung hat wie Dr. Floden. Er hat im Laufe des Verfahrens nicht gehandelt, wie ein Mann von Anftand und Ehre. Er hat es ferner unterlafjen, feinen Fehler wieder gut zu machen. Wie gejagt, lauter Erjchwerungsgründe. Mögen Sie aber immerhin, da wir feine Beranlaffung haben, gegen ihn die ganze Strenge des Gefetes in Anwendung zu bringen, auch bei ihm Milderungsgründe gelten laffen. Er wird durch eine gerichtliche Verurtheilung ohnehin fchwer genug leiden, denn einen gebildeten Mann trifft die Gefängnißitrafe jhwerer wie andere. Seine Subfiftenz wird dadurch in hohem Grave gefährdet und feine Familie ins Un—

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 135

glück gejtürzt. Ich beantrage, gegen den Dr. Floden wegen des Falles Mathis neun Monate, wegen des Falles Herter ein Jahr und als Geſammtſtrafe 1!/, Jahre Ge- fängniß auszufprechen.

Präfident. Der Staatsanwalt hat die Sachver- jtindigen in einen gewifjen Gegenjat zu bringen gefucht, indem er ausführte, Freiherr von Mehring und Schmiebe- berg feien durch das Gericht geladen, Hufemann aber durch den Angeklagten. Das ift ja dem Gericht nichts Neues geweſen. Es ift auch für das Gericht einerlei. Die ſämmtlichen Sachverjtändigen haben hier unter den Augen des Gerichts den Eid geleiftet, wie ihn das Geſetz borjchreibt, daß fie nach beitem Wiffen und Gewifjen ihr Gutachten abgeben wollen. Das Gericht wird, gleich- viel von welcher Seite die Sachverftändigen hierher ge- rufen worden find, die Gutachten, feiner Pflicht gemäß, mit gleichen Maße prüfen. Im übrigen muß ich e8 ber Vertheidigung überlaffen, auf die weitern Ausführungen zu antworten.

Rechtsanwalt Schneegans beantragte ala Vertheidiger des Angeklagten Dr. Sloden für feinen Clienten Frei— iprechung. Das Leugnen defjelben ſei veritändlich und menjhlih und vom menjchlichen Standpunkte aus müſſe man alles betrachten, was der Menſch unter gewiſſen Umftänden thue. Deswegen müffe er jagen: „Ich war von Anbeginn bewegt, als ich fah, mit welcher Härte man gegen die Bejchuldigten, insbejondere den Dr. Floden vorgegangen ift. Handelte e8 fich doch nicht um ein ab» fichtliche8 Vergehen oder Verbrechen, bei welchem man den Thäter fofort zu verhaften pflegt, jondern um einen tahrläffigen Irrthum, der die Ehre nicht antaftet, denn jeder kann fich irren. Ich geftehe, es ift das erjte mal, daß ich gegen einen Mann in der focialen Stellung wie

136 Der Broceß wider den Dr. med. Floden.

Dr. Floden in der Weife vorgehen fehe, und wundere mich darüber, daß man ihn verhaftet hat, mag er auch jein Thun zu verjchleiern gejucht haben. Wenn ich mich erinnere, wie im vorigen Jahre in Paris bei einem Fahr— läfligfeitsfalle verfahren worden ift, der eine ganz andere Bedeutung hatte, jo ftaune ich über dieſe Verſchiedenheit des Verfahrens.”

Präfident. Ich möchte doch bitten, fich in dieſer Richtung nicht länger aufzuhalten. Es iſt das gefetliche Rechtsmittel gegen ven Bejchluß, den Angeklagten Dr. Flocken zu verhaften, ergriffen worden, bie zuftändige Behörde hat die Beſchwerde zurüdgewiefen, und damit war bie Sache erledigt.

Rechtsanwalt Schneegansd. Bedauern darf ich e8 immerhin nach der Lage meines Clienten. Der Tall in Paris, von dem ich geiprochen habe, der Brand der Oper hat Hunderte von Opfern gefoftet, und doch ift an eine Verhaftung des Directors nicht gedacht worden.

An der Beweisführung des Staatsanwalts bemängelt Redner vor allem, daß feine Ausführungen auf die Unter- lage gebaut feien, Dr. Flocken habe Extractum verjchrie- ben, während die Thatjache, daß er nicht Exrtractum, jondern Zinetura habe jchreiben wollen, gänzlich außer Acht gelaffen werde. „Errare est humanum! Irren it menſchlich. Es Liegt ein einfacher, wenn auch folgen- jhwerer Irrthum vor. Nach der heutigen Verhandlung iſt man wol berechtigt, das Wort des Heilands anzu- wenden in ber Veränderung: «Wer fich nicht bewußt ift, je einen Irrthum begangen zu haben, ver hebe den erften Stein gegen Dr. Floden auf!» Sein Scidfal jchafft fich jelbjt der Mann, hat der Präfident geftern gejagt. Gewiß, ein ſchönes, erhabenes, ftolzes Wort; aber e8 gilt nicht in allen Fälfen. Es gibt befanntlich auch ein Fatum,

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 137

eine Borjehung, eine höhere Gewalt. Dieſe höhere Gewalt leitet die Kugel des einen Mannes, der in das Dlaue ſchießt, ebenfo wie die des andern, die einen Men— hen in das Herz trifft. Dieſer wird beftraft, jener nicht, obgleich er daffelbe gethan hat. Der Erfolg allein, nicht die That ſelbſt entjcheidet. Im vorliegenden Falle würde eine Strafe die jchredlichiten Folgen haben: Dr. Sloden wird aus der gejellichaftlichen Stellung heraus: gerifjen, gebrandmarft mit dem Zeichen fahrläfjiger Ver— giftung, was joll aus ihm werden als Arzt? Seine ganze Stellung, jein häusliches Glück werde vernichtet. Da muß man doch fragen: wenn folch ein fahrläffiger Irrthum gefühnt werden muß, ift er dann nicht bereits ſchwer gefühnt durch alles, was über ven Dr. Flocken gefommen ift, durch feine jechswöchentliche Haft, dadurch, daß er heute auf ver Anklagebank vor Gericht erfcheint? Man legt Gewicht darauf, daß der Irrthum ein doppelter gewejen und in zwei Fällen vorgefommen ijt. Aber denkt man denn nicht an das befannte Beifpiel, welches jedermann an fich erfahren hat, daß man den Fehler in einer fal- ihen Addition, den man jucht, oft von neuem begeht?“

Der Redner wendet ſich zu ter in dem Gutachten erörterten Trage, ob Dr. Floden die Wirfung der Arz— net babe vorausjehen müffen. Er macht geltend: „Der Arzt kann nicht immer in Büchern und Tabellen nad): ihlagen und nachjuchen, das flößt Mistrauen ein, und es heißt doch vielleicht auch mit einigem Nechte: bie Hauptheilfraft ver Medicin liegt in dem Vertrauen des Kranken. (Heiterkeit) Der Arzt muß das Necept fofort Ihreiben, er muß fich der Gefahr des Irrens ausfegen, das fommt überall vor, auch beim Nechtsanmwalt, wenn er in einer jchwierigen Trage fofort Stellung zu nehmen hat. Auf den Ruf des Dr. Flocken haftet

138 Der Proceß wider den Dr. med. Floden.

nicht der geringfte led. Alles das find Gründe genug, ihn freizufprechen.

Präfident. Sie haben mich nicht richtig verftanden, als ich das Citat gebrauchte: fein Schickſal ſchafft jich jelbjt der Mann. Ich meinte damit lediglich das Schid- jal, das fih Dr. Floden im Laufe der Vorunterfuchung bereitet bat.

Aus der Nede des Rechtsanwalts Freiherrn Schott von Schottenftein, des zweiten Vertheidigers des An— geflagten Dr. Floden, theilen wir nur den Eingang mit, der fo lautet: „In Worten, die gefühlvoll Klingen und gewiffermaßen a priori ein Wohlwollen für den Ange- flagten befunden follen, hat die Staatsanwaltſchaft er- fHärt: wenn Dr. Floden und ich ftelle feit, daß zu meinem Staunen und lebhaften Bedauern Dr. Floden aus den Angeklagten herausgegriffen worden ift, al® ob er allein alle Unwahrheiten gejagt hätte ein reuevolles Geſtändniß abgelegt hätte, dann wäre e8 ja wol am Plate, daß auch die Staatsanwaltjchaft in weiten Um— fange Nachficht übte und viele Momente zu Gunften des Angeflagten geltend machte. Aber da er es nicht gethan, gewiffermaßen fich jelbft außerhalb des Geſetzes gejtelft hat, ift auch dem Ankläger die Aufgabe erleichtert worden. Nun kann er mit voller Schärfe vorgehen und ihn jo belajten, wie er belastet werden muß.

„Dtejer Standpunkt ift weder juriſtiſch noch moralijch richtig. Entweder ift Dr. Flocden vor Gott, vor den Menjchen und vor dem Geſetze jo fchuldig, wie behaup- tet wird, dann muß ihn die ordentliche Strafe treffen, oder er iſt nicht fchuldig, dann ift e8 die geſchworene Pflicht des Vertreters der Staatsanwaltjchaft, alles zu berüdfichtigen, was die Gefetgeber des Deutjchen Reichs mit ehernem Griffel vermerkt haben. In der Strafprozeß-

Der Procek wider den Dr. med. Floden. 139

ordnung heißt es im 8. 258, daß die Staatsanwalt- haft ebenjo die Pflicht hat wie alle andern Organe der Zuftiz, nicht nur die Momente der Belaftung, fondern auch jene der Entlaftung ans Licht zu ziehen. Ich habe das volle Vertrauen zum Gericht, daß diefe Argumentation ber Staatsanwaltichaft nicht gebilligt wird. Es -ift un— zuläjfig, daß der Vertreter des Staates fich jo ausge— iprochen bat. Ich will angefichts der unbarmherzigen Kritik, welche der Angeklagte und die Vertheidigung durch die Staatsanwaltjchaft erfahren haben, nicht in denfelben Sehler verfallen. BPerjönlichfeiten gehören nicht hierher. Die Behauptungen der Staatsanwaltichaft ſtützen fich lediglich auf Vermuthungen.“

Wir können jelbftverftändlich die mehrere Stunden in Anjpruch nehmenden Vorträge, Neplifen und Dupfifen der Staatsanwaltichaft und der Bertheidigung, die ung in ftenographijchem Auszuge vorliegen, hier nicht wieder- geben. Wir begnügen uns daher nur noch furz darauf binzuweijen, daß die beiden Vertheidiger der Angeklagten Wolff, Greiner und Andres, der Neichstagsabgeorbnete Dr. Petri und Dr. Reinhard, ver Stellung ihrer Clienten zur Anklage entiprechend, hauptfächlich die juriftifch in- tereffanten Streitfragen der Verantwortlichfeit des Apo— thefers und jeiner Gehülfen, ſowie die rechtlichen Vor— ausjegungen der Begünftigung im Sinne des Deutjchen. Strafgejetbuches eingehend prüften und zu Gunjten ihrer Clienten auszulegen verſuchten. Für ſämmtliche Ange— klagte wurde Freiſprechung beantragt.

Der Gerichtshof zog ſich zu einer dreiviertelſtündigen Berathung zurück und verkündete ſodann das Urtheil, durch welches Dr. Flocken zu neun Monaten, der Apotheker— gehülfe Wolff zu zwei Monaten und der Apotheker Greiner zu zwei Wochen Gefängniß verurtheilt, der

140 Der Proceh wider ven Dr. med. Sloden.

Lehrling Andres dagegen freigefprochen wurde. In den Urtheilsgründen ijt bezüglich der Schuldfrage und der Strafzumeffung hauptfächlich Folgendes ausgeführt: „Sur die ftrafrechtliche Würdigung der Trage, ob ver Tod als eine Folge des Verhaltens der Angeklagten Soden und Wolff, nämlich des Verordnens und Ver— abreichens des Colchieumertractes, fich darjtellt, hat die wiffenjchaftliche Feſtſtellung der abjolut tödlichen Doſe dieſes Giftes nicht dieſelbe Bedeutung, die dieſe Feſt— jtellung bei der Frage nach der jtrafbaren Fahrläffigkeit gewinnt. Vielmehr handelt es fich hier zunächit darum, zu willen, ob in beiden Fällen die verabreichten Dojen Golchieumertract wirklich den Tod verurfacht haben, wobei e8 ohne Belang ift, ob dieſe Wirfung durch andere begleitende Umstände und urjächliche Verhältniffe unter- jftüßt und verftärkt worden ift. Dieje Frage wird von ſämmtlichen Sachverftändigen bejaht, und dieſem Gut— achten Fonnte fich Das Gericht nur anjchliefen. Danach muß als feitftehend betrachtet werden, daß der Tod des Mathis und Herter durch das von ihnen als Arznei genommene Golchteumertract herbeigeführt worden iſt, welches Dr. Flocden verjchrieben und Wolff zubereitet und verabreicht hat.

„Es fragt ſich in zweiter Linie, ob dieſe Folgen von den beiden Angeklagten in fahrläffiger Weije verjchuldet worden find. In dieſer Richtung ift, was den Angeklagten Dr. Flocken betrifft, al8 erwieſen anzunehmen, daß er nur aus Verſehen das fragliche Recept verichrieben hat, indem er ftatt Golchieumertract Colchieumtinctur ver: ichreiben wollte. In dieſem Verſehen liegt aber ein fahr- läjfiges Handeln, eine Verlegung feiner Berufsobliegen- heit, die e8 ihm zur Pflicht macht, bei Necepten, die ein jo beftiges Gift verordnen, mit einer Aufmerffamfeit und

Der Proceß wider den Dr. med. Sloden. 141

Genauigkeit zu verfahren, die das Vorkommen eines Irr- thums ausjchlieft. Die berufswidrige Fahrläffigfeit, die in dieſem Verhalten Liegt, ift jedoch nur dann eine ſchuld— hafte und jtrafbare, wenn der allerdings nicht gewolfte Erfolg einzig durch den Mangel der gebotenen Vorficht herbeigeführt worden ift. Dies würde aber nicht zu— treffen, wenn, wie Died das Keichsgericht wiederholt, ins- bejondere im Urtheil vom 20. December 1886 näher ausgeführt hat, ein an Gewißheit grenzender Grad von Wahrjcheinlichfeit vorläge, daß der tödliche Ausgang auch dann eingetreten fein würde, wenn das jchuldhafte Handeln nicht vorausgegangen wäre. Allerdings nicht etwa des— halb, weil die Saufalität zwifchen ver Handlung und dem Erfolg nunmehr unterbrochen erjcheint, da möglicherweije ver leßtere auch ohne dieſes Handeln eingetreten wäre; denn die Caufalität wird durch diefe Möglichkeit oder Wahricheinlichfeit nicht berührt; ſondern weil die An— wendung des 8. 222 des ©t.-G.-B. einen Zufammenhang jwijchen der fahrläfjigen Handlung und dem Erfolge vorausſetzt. «Fahrläjfig» iſt jedoch nur eine begriffliche Gigenjchaft, die als Ergebniß der Erwägungen des Be— urtheilenden einer Handlung beigelegt wird, ber danach eine cauſale Beziehung nicht zukommt, welch lettere viel- mehr nur dem Handeln jelbit anhaftet. Da es jedoch aus andern jtrafrechtlichen Gründen nicht angeht, einen Erfolg, der wahrjcheinlicherweije auch ohne dieſes Handeln oder ohne dieſes jo geartete Handeln eingetreten wäre, blos um deswillen unter Strafe zu ftellen, weil dem Handeln ein entſchuldbares Motiv zu Grunde liegt, fo erübrigt zur Erflärung der dem $. 222 des St.G.-B. mit Recht unterlegten Auffaffung nur das Eine, den Begriff der Fahrläffigfeit enger zu faſſen und feine Strafbarfeit dann auszufchliefen, wenn eine andere Hand—

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fung oder dieſelbe jedoch mit einem nicht zu beanjtandenden Beweggrund wahrjcheinlicherweife den gleichen Erfolg er- zielt hätte, ohne dafür zur ftrafvechtlichen Verantwortung gezogen werden zu fünnen.

„Das Gericht ift num zu der Ueberzeugung gekommen, daß der Angeflagte bei pflicht- und berufsmäßigem Handeln die fragliche Mediein nicht habe verjchreiben fönnen und auch nicht würde werfchrieben haben. Der Angeflagte erklärte felbjt, daß er über die Wirfung des Colchicum— extractes nur jehr vage Anſchauungen gehabt und daß er dafjelbe für etwa zehnmal ftärfer als die entjprechende Tinctur gehalten habe. Auf Grund diefer Annahme hätte er nie dazu kommen fönnen, ben Extract in der ar geordneten Menge zu verjchreiben.

„Außer diefen in der Abfaffung der beiden Recepte beruhenden Momenten der Nachläffigfeit fand aber das Gericht einen weitern Beleg dafür in dem Umftande, daß Dr. Tloden, obwol er um 10 Uhr abends feinen Irr— thum bereit8 bemerkt hatte, nichts that, um die Folgen defjelben rüdgängig zu machen, dies hätte zur Zeit, als Herter erſt den zweiten Löffel der ververblichen Medicin eingenommen hatte, noch gejchehen können. Es Tann dahingejtellt bleiben, woher der Angeklagte zu feiner Erfenntnig gelangt ift, ob durch Einfichtnahme der Kladde in der Greiner’schen Apothefe, oder, was wahrjcheinlicher it, aufmerkſam gemacht durch einen dritten gleichartigen, vielleicht noch vechtzeitig verhüteten Fall.

„Was den Angeklagten Wolff betrifft, jo war berjelbe jeit etwa 14 Tagen in der Greiner’ichen Apothefe als Gehülfe bejchäftigt und Hatte am 31. October, an welchem Tage fein Principal, der Angeklagte Greiner, auf ver Jagd war, in deſſen Vertretung die Apothefergejchäfte wahr- zunehmen, zu denen die Zubereitung und Verabreichung

Der Proceß wider den Dr. med. Floden. 143

der Medicamente gehört. ine folche vorübergehende Ver— tretung des Apothefers jeitens eines Gehülfen, der blos das Lehrlingseramen gemacht hat, aljo wifjenjchaftlich noch nicht ausgebildet iſt, iſt nach den hier beſtehenden Vorſchriften und Gebräuchen geftattet. Wolff hat eins der beiden Recepte jelbjt zubereitet, da8 andere aber unter jeiner Xeitung vom Angeklagten Andres beritellen laſſen. Er jelbit gibt an, daß er die ihm vorgelegten beiben Recepte überhaupt nicht geprüft habe, ſondern daß es Andres gewejen ift, ver das Ertract vom fünften Stocke holte und ihm übergab. Da es die Pflicht des Apothefers bezüglich feines Bertreters ift, die ihm zur Zubereitung übergebenen Necepte näher zu prüfen und an ver Hand der in der Pharmafopde angegebenen Marimalvojen zur Verhütung verhängnißvoller Irrthümer ven Arzt nach diefer Richtung Hin zu controliven, jo liegt in dieſem Unterlaffen jeder Prüfung eine ſchuldhafte Fahrläffigfeit.

„Aber auch hier ift es, um die Strafbarfeit des Ver— ſchuldens feitzuftellen, nöthig, zu prüfen, ob die Ver— abreichung ver beiden Medicamente erfolgt fein würde, wenn eine pflichtgemäße Prüfung verjelben vorausgegangen wäre. In diefer Beziehung fällt vor allem ins Gewicht, daß Extractum colchici überhaupt in der Deutjchen Pharınafopde nicht enthalten if. Wenn nun auch die Verhandlung ergeben hat, daß vielfach in der Praris noch Mittel verjchrieben werden, die unfere Pharmakopöe nicht fennt, und diefem Verfahren auf Grund ver hier: zulande bejtehenden Verhältniffe Feine Hinderniſſe ent- gegenftehen, jo muß doch gerade beim Mangel diejer orbnungsmäßigen Handhabe für feine Drientirung vom Apothefer eine bejonders hohe Aufmerkſamkeit verlangt werden,

‚denn dem Wolff weiter nichts befannt war über das

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Ertract, als daß es viel ftärfer jet als die Tinctur, fo mußte ihm jchon dieſe Erwägung und der gebotene Ver— gleich mit der in der Pharmakopöe enthaltenen Tinctur die Gewißheit verjchaffen, daß der für lettere gegebene Maximalſatz in den Recepten beveutend überjchritten fei. Solche Ueberjchreitungen jollen aber vom Apothefer nur angefertigt werden, wenn aus dem Necept hervorgeht, daß diefelben vom Arzt gewollt find.

„uch die Thatjache, auf welche die als Sachverftändige vernommenen Apothefer beſonderes Gewicht legen, daß daſſelbe Recept kurz hintereinander zweimal von dem nämlichen Arzte verſchrieben worden war, durfte ihn, entgegen der Auffaſſung der Sachverſtändigen Pfersdorf und Amthor, nicht beruhigen, da daraus keineswegs der Schluß zu ziehen iſt, daß ein Irrthum ausgeſchloſſen war. Die Verpflichtung, ſich angeſichts des ganz außergewöhn— lichen Receptes über den Willen des Arztes zu ver— gewiſſern, durfte Wolff um ſo weniger außer Acht laſſen, als ſich der Ausführung unter den obwaltenden Um— ſtänden weder locale, noch ſonſtige Hinderniſſe in den Weg ſtellten.

„Auch bezüglich des Angeklagten Wolff iſt demnach durch die Verhandlung feſtgeſtellt worden, daß durch ſeine pflichtwidrige Fahrläſſigkeit der Tod des Mathis und des Herter verurſacht worden iſt. Da aber die Thätig— keit der beiden Angeklagten Flocken und Wolff als zwei gleichwerthige urſächliche Factoren bezüglich des ein— getretenen Erfolges zu beachten iſt, ſo müſſen beide und zwar unabhängig voneinander als Thäter im Sinne des 8. 222 St. G.«B. angeſehen werden.

„Was die gegen Greiner und Andres erhobene Anklage betrifft, ſo hat die Verhandlung feſtgeſtellt, daß Dr. Flocken in der Frühe des 1. November, nachdem

Der Proceß wider ben Dr. med. $loden. 145

bei Mathis und Herter die Vergiftungserjcheinungen fich gezeigt hatten, dem Angeklagten Greiner hiervon Mit- theilung machte und daß der leßtere ihm vorjchlug, zwei neue Recepte zu verjchreiben, ein Vorjchlag, auf den Flocken einging.

„Dr. Sloden hat das Mathis’sche Necept an fich ge- nommen und vernichtet, Greiner hat das in feiner Apothefe verbliebene echte Recept für Herter bejeitigt. Da Greiner jowol wie Wolff und Andres bei ihren durch die Staats— anwaltjchaft erfolgten VBernehmungen die vorgenommenen Aenderungen im Receptirbuche hartnädig in Abrede ftellten, jo hätten dieſe Manipulationen aller Wahrfcheinlichfeit nach eine Aufklärung der Sachlage verhindert, wenn es nicht gelungen wäre, den Ankauf des neuen Receptir- buches nachzumweijen, und wenn Wolff darauf hin nicht den wirklichen Sachverhalt zugeftanden hätte,

„Durch diefe Handlungen hat fich ver Angellagte Greiner des Vergehens der Begünftigung im Sinne des $. 257 &t.-G.-B. ſchuldig gemacht. Derjelbe war nach der ihm durch Flocken gewordenen Mittheilung nicht im Zweifel, daß Teßterer fowol wie fein Gehülfe Wolff fich eines Bergehens ſchuldig gemacht hatten. Die Thätigfeit, die er felbjt in diefer Richtung entwidelte, war von der Ab- ficht geleitet, ven Dr. Floden und den Wolff der Be— jtrafung zu entziehen. Greiner behauptet num allerdings, daß es für ihn zumächit fich darum gehandelt habe, bie Dermögensnachtheile, die eine Unterfuchung gegen Floden und Wolff vorausfichtlih für ihn im Gefolge haben mußte, von fich abzuwenden, und daß, wenn feine Thätig- feit auch feinem Gehülfen Wolff und dem Dr. Floden zugute fommen mußte, diefer Erfolg von ihm keineswegs oder wenigftens erjt in zweiter Linie beabfichtigt worben jet; daß er übrigens ſehr unfichere Anschauungen über

XXI. 10

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feine Haftbarfeit gehabt habe und durchaus im Unflaren darüber geweſen fei, ob er nicht auch ftrafrechtlich dafür verantivortlich gemacht werden könne, daß er den Wolff während feiner Abwefenheit als Vertreter zurüdgelafjen babe.

„Was letztern Punkt betrifft, jo lag jedoch, da bie Dertretung den beſtehenden Vorſchriften entſprach, für ihn fein Grund vor, eine ftrafrechtliche Unterfuchung befürchten zu müffen. Vielmehr hat er felbjt bei feiner vichterlichen Bernehmung, nachdem der Sachverhalt fchließlich Klar gejtellt war, als Grund feines Handelns das Intereſſe angegeben, das er daran gehabt habe, die Wahrheit nicht laut werden zu lafjen, weil feine Apothefe dadurch ruinirt werben fonnte und weil er ven mit ihm eng befreundeten Dr. $loden, von welchem der Hauptfehler gemacht worben war, habe ſchützen wollen. In dieſer Erklärung bürften die Motive feines damaligen Handelns ihren richtigen Ausdruck gefunden haben. Zum Thatbejtand des $. 257 St.⸗G.-B. ift nicht erforderlih, daß der Begünjtiger einzig und allein von dem Beweggrund geleitet worben ift, die Zwede der Strafverfolgung in Bezug auf den Thäter zu vereiteln, vielmehr genügt e8, daß der Wille des Begünftigers diefen Erfolg gleichviel aus welchem Deweggrund bezwedt hat, wie dies fchon daraus er- heilt, daß der 8. 257 eit. felbft eins der möglichen Motive, nämlich den eigenen Vortheil, ausdrücklich hervorgehoben und zu einem weitern Thatbejtanpsmerfmal gemacht hat.

„Das Gericht ift auf Grund der Verhandlung zu der Ueberzeugung gefommen, daß e8 dem Anklagten Greiner bet der Vernichtung der Recepte, ver Kladde und bes Receptirbuches und bei der Unterichiebung anderer Necepte und Receptirbücher, indem er dadurch nachträglich ven Angeklagten Floden und Wolff durch Rath und That

Der Proceß wider ben Dr. med. $loden. 147

Beijtand leitete, zunächit darum zu thun war, die letztern der Beftrafung zu entziehen. Mit der Verwirklichung dieſes Zwecks fanden die ſämmtlichen Beweggründe, die ihn hierzu bejtimmen konnten, ihre Befriedigung. Nach ben Ergebniffen der Verhandlung ift ferner die Angabe bes Angeklagten vollftändig begründet, daß hierbei jein eigener Vortheil mitbezweckt war. Er verfuchte die Ver— mögens- und fonftigen Nachtheile, die ihm burch bie Unterfuchung vorausfichtlich treffen mußten, von ſich fern zu halten.

„Die Gründe, welche zur Freiiprechung des Angeklagten Andres führten, waren theils in deſſen Jugend und Un- erfahrenheit, theil8 in der Möglichkeit gegeben, daß er bei jeiner Thätigkeit lediglich die Abficht verfolgte, jich jelbjt gegen eine etwaige Unterfuchung ficherzuftellen.

„Bezüglih der Strafzumefjung wurde erwogen, daß e8 fih um eine fchwere Verlegung der Berufspflicht handelt, der zwei Menfchenleben zum Opfer fielen. Was Dr. Flocken bejonders angeht, jo wurde in Betracht ge- zogen, daß er aus freien Stüden durchaus nichts gethan hat, um rechtzeitig die Folgen feiner Fahrläfjigfeit wieder gut zu machen, und daß dies den Fall Herter in einem beſonders ungünjtigen Licht erjcheinen laſſe. Der Irr— thum in Betreff des Receptes war aufgeklärt und das Leben des Herter konnte vielleicht noch gerettet werben. Dr. Floden hat jedoch dieſe feine wichtigfte Pflicht ver- ſäumt und fpäter nur das Beſtreben gezeigt, fich den rechtlichen Folgen ſeines Thuns zu entziehen. Mildernd fommt dabei allerdings in Betracht, daß er an dem frag- lichen Tage jehr bejchäftigt war und daß er ſpäter, ind» bejondere bei Herter, ſich Mühe gab, pas früher Verfäumte nachzuholen. Unter diefen Umſtänden erjchten für den Tall Mathis eine Gefängnißitrafe von vier Monaten und

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148 Der Proceß wiber ben Dr. med. Flocken.

für den Fall Herter eine folche von ſechs Monaten an— gemeſſen, an deren Stelle gemäß $. 74 St.-G.«B. eine entiprechende Gejammtftrafe von neun Monaten zu jegen war, Dabei hielt e8 das Gericht zugleich für angezeigt, einen Theil der erlittenen Unterfuchungshaft von der er- fannten Strafe in Abzug zu bringen. Bezüglich des An— geflagten Wolff wurde berüdjichtigt, daß Jugendlichkeit und Umnerfahrenheit die Haupturfachen feines fahrläffigen Verhaltens waren, daß er durch feine offene Darjtellung Licht in den Sachverhalt gebracht hat. Andererjeits mußte aber erfchwerend ins Gewicht fallen, daß er ohne im geringiten ſich der Schwere feiner damaligen verant- wortungsreichen Stellung bewußt zu werden, mit un— begreiflicher Sorglofigfeit den Lehrling Andres bei der Zubereitung der Medicamente gewähren ließ. Für jeden der beiden Fälle erjchten demnach eine Gefängnißftrafe von ſechs Wochen geboten, an beren Stelle ebenfall® nach 8. 74 St.-G.⸗B. eine Geſammtſtrafe und zwar in ber Höhe von zwei Monaten zu treten hatte.

„Was den Angeklagten Greiner betrifft, fo war bei Ausmeffung der Strafe vor allem zu erwägen, daß er e8 war, ber dem Dr. Floden ven Rath ertheilte, jene unwürdigen Manipulationen vorzunehmen, welche die Be— feitigung der Spuren des Vergehens bezwedten, und daß während es feine Pflicht als Principal war, feinem Per— jonal in einem feinem Berufe und feiner Stellung ent- iprechenden ehrenhaften Benehmen voranzugehen, er ihnen Rathicehläge und Anweiſungen ertheilte, in welcher Weife die Wachſamkeit der Rechtspflege am beten getäufcht werben fünnte. Andererſeits wurde aber auch der bisherige gute Ruf des Angeklagten und jeine Unbejcholtenheit gebührend berücfjichtigt und deshalb eine verhältnißmäßig geringe Strafe über ihn verhängt.’

Der Brocef wider den Dr. med. Floden. 149

Die von dem Apothefer Greiner und Wolff gegen diejes Urtheil eingelegte Revifion wurde durch das Neichsgericht am 27. September 1888 verworfen.

Dr. Flocken unterwarf jich dem Urtheil. Durch einen Gnadenact wurde die Gefängnißftrafe in Feſtungsſtrafe verwandelt. Er verbüßte diejelbe in der Feſtung Bitich.

Die civilrechtlichen Anfprüche der Hinterbliebenen von Mathis und Herter find durch eine angemefjene Ent- ihäbigung im Vergleichswege befriedigt worden.

Die Vermögensberanbung des Anufmanns Sſolodownikow.

(Petersburg.) 1870. 1871.

Am 25. Auguſt 1870 erſchien ver Gärtner des neben der Forjtafademie in Petersburg gelegenen Landhauſes, welches dem Kaufmann erſter Gilde Nifolat Sſolodownikow gehörte, vor dem Landpolizeicommiffar des Forſtbezirks und meldete, der Beſitzer dieſes Landhauſes ſei in Der Nacht zuvor geftorben. Ueber diefe Meldung wurde ein Protokoll aufgenommen. Am 29. Auguft und am 1. Sep- tember fand ſich das Gericht in der Wohnung des mit Tode abgegangenen Kaufmanns Sfolodownifow ein, um ben Nachlaß feitzuftellen. Es fanden fi vor: 28 Rubel baar, 50000 Rubel in drei vom Kaufmann Sfawin blanco girirten Wechſeln, zwei Schulpfcheine des Kaufmanns Antſchinnikow über ein Darlehn von 20000 Rubel und eine Quittung des Waffili Ljubaͤwin über 700 Rubel.

Es wurde ermittelt, daß der DVerftorbene von feinem Bruder Michael Sſolodownikow mehrere Millionen Rubel geerbt Hatte, und e8 entjtand der Verdacht, daß ein großer Theil feines Vermögens beifeitegefchafft worben fei. Der

Die Bermögensberaubung des ꝛc. Sfolobownifomw. 151

Verdacht, dieſes Verbrechen begangen zu haben, fiel auf ben frühern Diener und jpätern Hausverwalter Jakob Sfuslenifow, welcher in der Nacht vom 24. zum 25. Auguft in dem Landhauſe zugebracht hatte. Die wider ihn ein- geleitete Unterfuchung ergab Folgendes:

Der Diener Koloffow war am 25. Auguft, früh 6 Uhr, in das Schlafzimmer feines Herrn getreten und hatte ihn todt im Bett liegend gefunden. Er theilte dies ohne Berzug dem in obern Stod fchlafenden Sſuslenikow mit. Der lettere kleidete fich fchnell an und ging in das Sterbe- zimmer; er jah vom Efzimmer aus, daß der Hausverwalter bie obern Schubladen der rechtS von der Thür ftehenpen Kommode mit den daran befindlichen Schlüffeln öffnete, ein Buch herausnahm, es unter feinen Rod ſteckte und biefen zufnöpfte. Er kehrte in fein Zimmer zurüd und äußerte im Vorbeigehen, er wolle ein Pulver einnehmen, weil er fiebere. Bald darauf fam er wieder, eignete jich eine in jener Kommode jtehende Chatoulle von Rothholz an, öffnete diefelbe mit einem Schlüffel und unterjuchte bie darin befindlichen Papiere. Er nahm ferner bie Schlüſſel zum Kafjenjchranfe im Stadthauje, eine Papp- ihachtel mit kleinem Silbergeld und eine goldene Schnupf- tabacksdoſe an fich und befahl uns, von dem Todesfalle Niemand etwas zu fagen, auch die Polizei davon nicht in Renntniß zu fegen. Dann fuhr er in die Stadt und fehrte erjt um 1 Uhr mit dem Bankier Ljubamwin in das Landhaus zurück.

Der Hausarzt des Kaufmanns Sſolodownikow, Dr. Heffe, erklärte: Sfuslenitow habe ihm am Morgen bes 25. Auguft, und zwar 9'/, Uhr, den Tod feines Herrn gemeldet und dabei bemerft, daß er in ber Stabt bon diefem Todesfalle Kenntniß erhalten habe. Dr. Heſſe begab fich in das Landhaus, im Efzimmer ftieß er auf

152 Die Bermögensberaubung

Sfuslenifow, der an ihm vorübereilte und dabei unter dem Node einen Gegenjtand verborgen hielt. Dr. Heife, wußte, daß der Verftorbene, deſſen Hausarzt er jeit ſechs Jahren war, auf Sſuslenikow fchlecht zu ſprechen war. Schon im Jahre 1866, als dieſer feinen Dienft an- getreten hatte, ſprach ſich Sſolodownikow dahin aus: „Er ift ein brauchbarer, anftelliger Menfh, man muß ihn aber kurz halten, fonft ift er zu allem fähig.” Als Dr. Heffe am 21. Auguft in das Landhaus Fam, fand er den Hausherren in einem aufregten Zuftande. Er klagte über Sfuslenifow’s Undank, nannte denfelben einen verfluchten Räuber und fügte hinzu: „Er ift ohne Hojen zu mir gefommen und foll auch arım wie eine Kirchen- maus wieder von mir weggehen.”

Bon verjchiedenen Perjonen wurde bejtätigt, daß Sſolodownikow ein bedeutendes Kapitalvermögen binter- laſſen haben müßte.

In Sſuslenikow's Wohnung fand man bei einer Hausfuhung 40000 Rubel in Wechjeln, die ſämmtlich erſt nach dem 25. Auguft, dem Todestage feines Herrn, ausgeftellt waren, Abrechnungen über 35000 Rubel und 7000 Rubel verkaufte Werthpapiere und 950 Rubel baar.

As man ihn befragte, woher dieje beträchtlichen Geld- mittel rührten, verwidelte er fich in Widerfprüche, gejtand aber zu, im December und Januar 1871 bei dem Juwelier Iwanow in Petersburg einen Ring im Werthe von 1600 Rubel und 42°), Karat Fleine Brillanten für 2300 Rubel 50 Kopeken theils verkauft, theils umgetaufcht zu haben. Der Ring wurde der Gemahlin des Majors Liprandi, dem Dr. Hefje und dem SKleinbürger Waffıli Sſolodownikow vorgezeigt. Sie erfannten ihn als das Eigenthum des DVerftorbenen an. Die Brillanten waren aus dem Bilde des Heiligen Nifolat ausgebrochen, welches

des Kaufmanns Sjolodomnifom. 153

Sſuslenikow in Verwahrung hatte. Im der großen Krone, an dem Rande verjelben und in ven Streuzen ivaren bie echten Brillanten herausgenommen und unechte bafür eingejett, nur im Namenszuge des Heiligen befanden fich noch echte Steine.

Der Angejchuldigte wollte zuerft nur einen Brillant- . ring bei feinem Herrn gejehen haben. Als der Iumelier Iwanow aber beftätigte, daß Sjuslenifow jenen Ring an ihn verfauft habe, gab er an: er habe ven King von dem Diener Koloffow Fäuflich für 50 Rubel erworben und venjelben dem Neffen Sſolodownikow's übergeben wollen, dann aber fich entjchloffen den King zu verfaufen. In Betreff der Brillanten behauptete er anfänglich, ver am 1. April 1871 verftorbene Kapellmeifter des faijer- lihen Theaters Ljädow habe fie ihm gegeben. Später jagte er aus: Sſolodownikow habe ihn beauftragt, die Brillanten aus der großen Krone des SHeiligenbildes herausnehmen zu laffen. Er habe dieſen Auftrag bejorgt. Der Juwelier Lindholm befundete: das jehr fojtbare Bild im Werthe von etwa 12000 Rubel jet ihm von Sſusle— nifow übergeben worven; er habe mehr als 400 Stüd Brillanten ausgebrochen und biefe durch ebenjo viele faljche Steine erjekt.

Auf Grund diefer Ergebniffe der Vorunterfuchung wurde der Angeklagte verhaftet und wegen eines Dieb- ſtahls über 300 Rubel an Werth vor das Schwurgericht veriviefen. Die Verhandlung fand in Petersburg am 20. December 1871 ftatt. Den Vorſitz führte der Vice- präfivent des Gerichts Fürft Kefuatow. Die Anklage vertrat der Staatsanwalt Koni, die Vertheidigung hatte ver Rechtsanwalt Ankowsky übernommen.

Der Angeklagte gab in ver Hauptjache Folgendes an: „Als der Diener mir am Morgen des 25. Auguft 1870

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bie Nachricht brachte, Sſolodownikow ſei gejtorben, begab ich mich in fein Schlafzimmer, um mich von feinem Ab- leben zu überzeugen. Er lag im Bett auf ver Seite, ich wendete den Körper fo, daß das Geficht nach oben gerichtet war, und faltete die Hände über der Bruft. Dann befahl ich der Dienerjchaft, bei der Polizei Anzeige zu machen, und fuhr in die Stadt.

„Ich war mit Sjolodownifow feit dem Jahre 1845 befannt. Unſer Verhältniß war ein jehr freundichaft- liches und intimes. Im Jahre 1848 ftarb meine Frau. Im Jahre 1851 machte mir Sjolopownifow den Vor— ichlag, ein ihm naheſtehendes hübjches junges Mädchen zu heirathen, und verfprach mir eine Mitgift von 25000 Rubel. Ih ging auf diefen mich entehrenden Antrag nicht ein, wir entzweiten uns und e8 fam zu einem völligen Bruche, Wir fahen uns 16 Jahre lang nicht wieder. Im Jahre 1867 begegnete mir der DVerftorbene auf der Newsky— Perfpective. Er redete mich an und bot mir an, zu ihm zu ziehen und bei ihm zu wohnen. Ich fagte zu ihm: wenn er mir eine Stelle geben wollte, fo ſtünde ich ihm zu Dienjten, aber als Gejfellichafter wollte ich nicht bei ihm leben.

„Einige Zeit nachher forderte mich Sſolodownikow brief- ih auf, als Hausverwalter zu ihm zu fommen. Wir wurden einig und ich trat nun in feinen Dienft. Er erzählte mir, wie er in den verfloffenen Iahren gelebt hatte, und fügte hinzu: Er fei ſehr böſe geweſen, daß ich die Heirath ausgefchlagen, und habe fich gefreut zu hören, daß ich im eine recht jchlechte Lage und in Noth gerathen jet.

„Ich erhielt anfänglich nur freie Station und monat- ih 7 Rubel. Sehr oft mußte ich in Geichäften zu ihm aufs Land, auch die ihm vom Arzte verorbnieten Ein-

bes Kaufmanns Sſolodownikow. 155

reibungen machen, weil ich, wie er fich ausbrüdte, fo weiche Hände hätte. Er behandelte mich nicht gut, oft geradezu tyranniſch. Er fagte, er thäte dies, um mic zu prüfen.

„sm Jahre 1868 wurde Sſolodownikow von feiner Köchin wegen jchwerer Beleidigung durch Schimpfworte verklagt. Mean hatte ihm mitgetheilt, es könnte wol fein, daß er deshalb ins Gefängnif wandern müßte. Er gerieth darüber in die größte Angſt. Er war fo außer fich, daß er mich dringend bat, die Sache gütlich beizulegen, und mir zu dieſem Behufe 10000 Rubel einhänbigte. Ich ging zum Friedensrichter und hörte dafelbjt, die Köchin habe 100 Rubel als Buße gefordert, fei aber mit ihrer Klage, die fie durch Beweife nicht habe unterftügen können, abgewieſen worden.

„Rah meiner Rüdfkehr ſetzte ich Sſolodownikow hier- von in Kenntniß. Er war fehr zufrieven, bebanfte fich bei mir und frug nicht danach, was aus bem Gelbe geworden ſei. Er dachte vielleicht daran, wie jchwer es war, ihm etwas recht zu machen, und daß in brei Jahren vierzig Perjonen jeiner Dienerichaft gewechſelt hatten.

„Sfolodownifow hatte wenig Umgang und wenig Be- fannte: feinen Arzt Dr. Hefje, den Regiffeur Kulikow und den Bankier Ljubawin. Zuneigung hatte er auch zu biefen Perfonen nicht. Er glaubte, daß Eigennutz und nicht Freundfchaft fie zu ihm führte, und ging nur deshalb mit ihnen um, weil er eine Unterhaltung haben wollte und an ven Arzt einmal gewöhnt war.

„Er jagte oft zu mir: von meiner Uneigennütigfeit jet er überzeugt und mir allein vertraue er unbedingt. Er meihte mich ein in alle feine Angelegenheiten und jpeifte und trank ausſchließlich in meiner Geſellſchaft.

156 Die Vermögensberaubung

„per DVerftorbene gehörte zu der Sekte ver Sfopzen (Eunuchen, die fich aus religisfen Gründen verjtümmeln laffen). Als der bekannte Proceß gegen den Sfopzen Plotitin geführt wurde, ſchickte er mich mit einem Packet, welches wahrjcheinlich eine bedeutende Geldſumme enthielt, nah Moskau. Er nähte das mit zwei Giegeln ver- ichloffene Padet in meine Hofentafche und trug mir auf, es in Moskau einer Perſon zu übergeben, die zu mir fommen und mir ihren Namen nennen würde, Sch voll- zog den mir ertheilten Auftrag, in Mosfau fand fich ein Heiner alter Mann bei mir ein, erhielt von mir, nachdem er den richtigen Namen angegeben hatte, das Padet und entfernte fich jodann fchleunigjt, ohne daß weiter ein Wort gewechjelt wurde,

„An dem Dr. Hefje misfiel dem Verftorbenen, daß er ein Lutheraner war und trotdem ihn zum Pathen feines Kindes gebeten hatte. Am Tage vor feinem Tode ſprach mir Sjolodownifow feinen heißen Dank aus für alle ihm erwiefenen Dienfte und für meine Freundſchaft. Er über- gab mir zur Belohnung dafür 15000 Rubel und fette hinzu: er bleibe noch mit 10000 Rubeln in meiner Schuld wegen Erledigung der Klage vor dem Friedensrichter. Ich erwiderte ihm, dieſe 10000 Rubel hätte ich ja in ver zur Niederfchlagung der Sache behändigten Summe jchon erhalten. Da ſank er auf die Knie und rief: «Gott fei Lob und Danf! Dir Jaſcha (Jakob) danke ich jett, meine vollfommene Beruhigung!»

AS der Präfident dem Angeklagten fein auffallenves Benehmen am Morgen des 25. Auguft vorhielt, ver- widelte er fich in Widerfprüche und fonnte feine genügende Erflärung geben.

Auf Vorhalt in Betreff des werthvollen Ninges und der aus dem Heiligenbilde herausgebrochenen Brillanten

bes Kaufmanns Sſolodownikow. 157

jagte er aus: „Ich habe nach Sſolodownikow's Tod für den Unterhalt des Stadt- und des Landhaufes wenigſtens 3000 Rubel von meinem eigenen Vermögen verausgabt. Dann fam der Neffe des Berjtorbenen, der inzwijchen ebenfall® mit Tode abgegangene Waſſili Sſolodownikow, zu mir und bat mich um einen Vorſchuß, den er ſofort nach dem Antritt der Erbichaft zurüdzuzahlen verſprach. Ich konnte diefe Bitte nicht erfüllen, da forderte mich der Erbe auf, aus dem Heiligenbilde die echten Steine heraus: nehmen und durch falſche erfegen zu laffen. Er bemerkte, er wolle das Bild dem Waalamfcher Kloſter ſchenken. Den Mönchen könne es gleichgültig fein, ob die Steine echt over faljch wären. Sch habe den Auftrag bejorgt, den Erlös aus den verkauften Brillanten aber zum Unter— halt der Häufer verwendet.

Sn Bezug auf den Ring wiederholte er feine frühere Angabe. Er ftellte auf das beftimmtejte in Abreve, nach dem Tode feines Herrn irgendetwas aus dem Nachlaß, insbefonvere größere Geldſummen oder Werthpapiere fich angeeignet zu haben.

Der als Zeuge vernommene Dr. Hefje hat ven Ver— jtorbenen wöchentlich zweimal bejucht, er litt an Waſſer— ſucht und ift an diefer Krankheit gejtorben. Sſolodownikow hat ihm wiederholt gejagt: er befite jo viel Geld, daß er fich faft ſchäme, die auf feine Obligationen dev innern Anleihe jo oft fallenden größern und Fleinern Gewinne einzufaffiren.

Dr. Heffe wiederholte, daß der Angeklagte, mit dem er am 25. Auguſt 1870 im Sterbezimmer zujammen- getroffen fei, einen Gegenjtand unter dem Rode verborgen und beijeitegejchafft habe.

Aus den Ausfagen des Regiſſeurs Kulifow ergibt fich, daß der Verſtorbene von feinem Bruder fünf bis ſechs

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Millionen Bapierrubel geerbt, luxuriös gelebt, Künftler, insbefondere Schauspieler bei fich gejehen und gajtfrei bewirthet hat, daß er große Gejchäftsipeculationen in Talg betrieben, ſpäter aber alles aufgegeben und fich in die Einſamkeit zurücdgezogen hat.

Er zeigte dem Zeugen gelegentlich einmal die Schwie- len an feinen Händen und äußerte lächelnd: vie habe ih mir beim Gouponabjchneiden mit der Schere zu— gezogen.

Weiter wurde feitgeftellt, vaß der Verftorbene bei dem Bankier Ljubawin eine laufende Rechnung hatte, daß der fegtere mit dem Angeklagten am Todestage im Sterbe- bauje und im Sterbezimmer gewejen war: daß beibe fich dort längere Zeit zu thun gemacht hatten, ehe der Arzt und die Polizei fich daſelbſt einfanden.

Zjubawin gab vor Gericht ald Zeuge unbeitimmte, ausweichende Antworten. Er erklärte, Sſolodownikow könne unmöglich viel Geld bejeffen haben, venn er habe von ben ererbten fünf Millionen gleich eine Million an zwei Handlungsdiener feines verftorbenen Bruders ver— ſchenkt, beim Zalggejhäft über eine Million verloren und im Goncurje Podſoſſow's eine halbe Million ein— gebüßt. Der Bau der Waalamer Kirche ſei ihm theuer zu jtehen gekommen, und fein früheres fehr üppiges Leben habe ungezählte Summen verjchlungen. Bei ihn habe der Berjtorbene bis zum Mat 1870 in laufender Rech— nung bi8 30000 Rubel gut gehabt, dann aber das Geld erhoben,

Sſolodownikow habe feinem Bruder, auf deſſen Ver— anlaffung er entmannt worden fei, geflucht und mit der Selte der Sfopzen niemals Verkehr unterhalten.

Dr. Heſſe jei eine® Tages zu ihm gefommen und habe fich erkundigt, ob der Verftorbene ein Teftament

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hinterlegt und etwa feinem Pathen (dem Sohne des Dr. Heffe) ein Legat ausgefett habe.

Auf den Vorhalt, daß der Zeuge mit dem Angeklagten im Sterbezimmer allein geweſen ſei und daß er fich dann in ein Zimmer bes obern Stodes begeben habe, ant- wortete Ljubäwin: Das jet gefchehen um eine Cigarrette zu vauchen. Bei der Leiche habe er das Rauchen für unpafjend gehalten um fo mehr, weil man bie Geiftlich- feit zur Todtenmeſſe erwartet habe.

Dr. Hefe, der mit Ljubawin confrontirt wurde, gab an: in Sſolodownikow's Schlafzimmer habe ſtets eine Kite mit Cigarren geftanden, ber Angeklagte hätte ihm am 25. Auguft eine Cigarre daraus angeboten und Ljubäwin, der damals ſelbſt rauchte, habe noch die Be— merfung gemacht: das ſeien Cigarren für Bauern, und ihm aus feiner Gigarrentafche eine Cigarre gereicht.

Der Diener Koloſſow wiederholte feine frühere Aus- age. Er hat gejehen, daß der Angeklagte Papiere aus der Kommode an fich genommen hat und mit benjelben in das Zimmer gegangen ift, in welchem fich Ljubawin befand. Der lettere hat ihm, wie er behauptet, damals eine Stelle in feinem Haufe angeboten, aber ihn, als er fich jpäter dazu meldete, abjchlägig bejchieven.

Der Angejchuldigte richtete die Frage an den Zeugen: ob er nicht eines Tages der Wäfcherin geklagt habe: es jei ihm eine Weite abhanden gekommen, in deren Taſchen io viel Geld gewejen jei, daß es für jein ganzes Leben ausgereicht haben würde.

Koloffow antwortete: Ya, e8 ift mir eine Wefte weg— gefommen, e8 waren aber nur 70 Rubel darin, die ich mir von meinem Lohne eripart hatte,

Die Hausfnechte und der Gärtner verficherten, ver Angeklagte habe ihnen ftreng unterjagt, der Polizei Anzeige

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von dem Todesfalle zu erjtatten oder mit irgendjemand barüber zu fprechen.

Nachdem noch verjchievene Rechnungen, Zeugniffe und etliche Auszüge aus dem umfangreichen Tagebuche des Derftorbenen verlefen worden waren, nahm ber Staat- anwalt das Wort und begründete die Anklage folgender: maßen:

„Meine Herren Richter und Gejchworenen!

„Am 25. Auguft 1870 ftarb in feinem bei der Forſt— afademie, ganz nahe bei der Stadt Petersburg gelegenen Haufe der Rentner Nikolat Sſolodownikow. Er war nicht verheirathet, gehörte der Sekte ver Sfopzen an und galt nicht ohne Grund für reich.

„Nach feinem Tode fanden fich indeß nur Wechjel und Schuldjcheine im Betrage von 77000 Rubel und 28 Rubel baares Geld vor. Die Papiere waren nod nicht fällig, der reihe Mann hätte alfo fchon in den nächiten Tagen nicht mehr das zu den nöthigften Ausgaben erforderliche Geld gehabt, wenn er nicht noch gerade zur rechten Zeit geitorben wäre.

„Die Staatsanwaltichaft glaubt nicht an diefe unerflär- liche plögliche Verarmung. Sie vermuthet vielmehr, daß die Berarmung erit nach dem Tode des Verſtorbenen zum Nachtheil feiner Erben raſch und auf ſchlaue Weiſe herbei- geführt worden ijt, daß ein Mann den Raub bewirkt hat, welcher fich für einen Freund Sſolodownikow's ausgibt und niemals den Pfad der Ehre und Treue verlafjen haben will.

„Mm diefe Behauptung zu beweijen, müffen wir einen Blick auf die Perfönlichkeit des Verjtorbenen und auf die Beziehungen zu feiner Umgebung werfen. Die Ausfagen der Perfonen, die ihm nahe ftanden, und fein umfang- reiches, feit 20 Jahren mit ziemlicher Genauigfeit ge-

des Kaufmanns Sfolodomwnilom. 161

führtes Tagebuch machen es uns möglich, ein deutliches Bild von Sjolodownifow zu zeichnen.

„Das Schidjal des Wilmanftand’ihen Kaufmanns Nikolai Naſarowitſch Sſolodownikow war ein überaus tragifches. Als er die deutjche Petriſchule befuchte, in weiche er nach den noch vorhandenen Zeugniffen mit guten Kenntniffen in den fremden Sprachen eingetreten war, wurde er eine Waiſe. Sein älterer Bruder, ein alter einflußreicher Sfopze, nahm ihn aus der Schule. Er wollte die Seele des Knaben retten, indem er das Fleiſch für immer tödtete. Im einer ber «Radenic» ge- nannten Gebetsverfammlungen feiner Glaubensgenofjen wurde ber vierzehnjährige junge Menſch gewaltjam ver- ſtümmelt und biutüberjtrömt in ein geheimes Nebengemach getragen, um daſelbſt verbunden zu werden. Während dies geſchah, jtimmte die bei feinem Bruder verfammelte Skopzengemeinde Lobgefänge an und dankte dafür, daß bie Schar der «Weißen Zauben» fich wieder um ein Täubchen vermehrt habe.

„Der Knabe genas und lebte fortan bei feinem Bruder, der ihn völlig beherrſchte. Als er älter wurde umd begriff, daß er auf unmenjchliche Weiſe verſtümmelt worden umd infolge deſſen unfähig war, fich zu ver— heirathen und ein Familienleben zu gründen, entbrannte in ihm ein großer Zorn. Er fing an feinen Bruder zu haffen und wollte mit ihm und der Sekte der Sfopzen feine Gemeinfchaft mehr haben. Er entwich heimlich und ließ fich weder durch Bitten noch durch Drohungen be wegen wieder zurüdzufehren. Sein Bruder nahm die Hülfe der Polizei in Anjpruch und erklärte, daß er ihn enterben würde. Aber noch ehe er diejen Vorſatz aus- geführt hatte, ereilte ihn der Tod. Nun war Nikolai Siolodownifow fein eigener Herr und der Befiter eines

XXIII. 11

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großen Vermögens, welches von dem Bankier Ljubäwin und dem Börjenmafler auf fünf Millionen Rubel geſchätzt worden ift. Er bejaß nicht blos Werthpapiere, jondern auch ein Haus am Boulevard der reitenden Garde in Petersburg, welches fpäter für 200000 Rubel an den Fürſten Kotſchubei verkauft wurde, zwei Seejchiffe und mehrere Waarenlager.

‚Nikolai Sſolodownikow war allerdings ein Skopze geworden, aber wider feinen Willen. Er gehörte nach feinen Anfichten und Gewohnheiten nicht zu dieſer finftern Sekte, fondern war ein lebensluftiger junger Mann, ein Freund der ſchönen Künfte.

„Ex bezog das Haus feines Bruders, entließ die Diener: ichaft vefjelben, nachdem er fie freigebig belohnt hatte, und ichenfte zwei alten Commis eine Million Rubel. Er be- gann ein Leben herrlich und in Freuden. Das ganze Haus wurde neu und luxuriös eingerichtet, er jchaffte fich theuere Pferde an, hielt offene Tafel für Künftler und Schaufpieler, denen er auch in Geldverlegenheiten aushalf, und oftmals hörte man jeßt in dem alten finjtern Skopzenhaufe bis tief in die Nacht den Klang der Becher, das Lachen und Singen einer fröhlichen Zechgejellichaft.

„Bei jeder erſten Theatervorſtellung ſah man den an dem weibijchen, bartlofen und aufgedunſenen Geficht, ſowie an der plumpen behäbigen Geſtalt leicht fenntlichen Theater- freund Nikolat Sfolovownifow in den erjten Reihen ver Lehnſtühle fiten.

„Das Geſchäft gab er ganz auf, nachdem er in einer Zalgjpeculation eine Million und bei dem Concurs des Handlungshaufes Podſoſſow eine halbe Million verloren hatte. Er bejaß noch immer Geld genug, um ganz nad jeinen Neigungen zu leben und fich alles anzujchaffen, was jein Herz begehrte. Es ift bewiejen, daß er nad

bes Raufmanns Sſolodownikow. 163

jenen Berlujten und nach dem Bau der Kirche in Waalam die ihm 50000 Rubel foftete, noch 169000 Rubel in fünfprocentigen Papieren, 30000 Rubel in laufender Rechnung beim Bankier Yjubawin, eine große Summe in Papieren der innern Anleihe und außerdem fein Haus in der Stadt, fein Landhaus und viele werthuolfe Gegen- ftände beſaß, 3. B. ein Heiligenbild im Werthe von 12000 Rubeln.

„Er konnte faum die Hälfte feiner jährlichen Einfünfte verbrauchen, denn in den fechziger Jahren hatte er feine Lebensweife gänzlich verändert. Er war nicht mehr ver gaftfreie Mäcenat, der eifrige Theatergaft und Freund in der Noth, auch nicht mehr der freigebige Beiſitzer des Hofgerichts, der fein Gehalt den ärmern Beamten über- fieß und freigebig für die Aufbefferung der Gefängniffe und Gefangenen forgte. Er war ein einfamer, ab— gejchloffener Mann geworben, ver mit feinem Menfchen mehr vertraulich verfehrte, ein Geizhals, der jede Aus— gabe jcheute. Sein Tagebuch läßt erfennen, wie fich bieje Umwandlung vollzogen hat. Da fteht gejchrieben, daß ihn die Rolle eines Freundes der Kunft und eines Be— ichügers der Künſtler nicht mehr befriedigte. Das geränfch- volle Treiben wurde ihm läſtig, er glaubte zu bemerfen, daß man ihn nur ausbeuten wollte Seine Gebanfen wenbeten fich ab von dem eiteln weltlichen Wefen, er jehnte ſich nach dem Glück eines ftillen friedlichen Familienlebens. Wir lefen in jenem Tagebuche: «Die Gebete eines einſam jtehenden Menſchen find Wünfche und Forderungen eines Samilienvaters. Ein theilnehmender Blick einer theuern weiblichen Seele iſt tauſendmal mehr werth als feine Rolle gut fpielen.»

„Das troftlofe Bewußtſein feines phyſiſchen Unvermögens erfüllte ihn mit Groll und Bitterkeit. In feinem Tage:

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buche finden fich zwei Frauennamen, denen Kojewörter beigejetst find, aufgezeichnet. Es jcheint, dag Sſolodownikow ein Opfer habjüchtiger Kofetterie geworben ift, daß Damen ſich ihm genähert haben, die e8 auf jeine Börſe abgejehen hatten. Vom Jahre 1854 an enthalten die Blätter des Tagebuchs mehr und mehr bittere Bemerkungen über die Menſchen, vie ihn brandichagen wollen. Er nennt jie Heuchler und jagt 3. B.: «Da fam heute jo einer, um zu gratuliren und fich nach meiner Gefunpheit zu er- fundigen. Ich weiß jchon, dur jcheinheilige Fratze, worauf du hinausgehſt, was dein Bejuch bedeutet. Du möchteft verjuchen, ob ſich wieder etwas herausloden läßt. Ich habe dich aber gehörig ablaufen lafjen, ich habe immer gethan, als ob ich dich nicht verjtände, und bir nur Thee angeboten.»

„In Verzweiflung darüber, wie er die Dede feines Lebens ausfüllen könne, kauft er wieder Pferde und be- theiligt fih am Sport. Aber ſchon nad Yahresfrift verfauft er alles, was zum Stall gehört. Er legt ſich auf die Zaubenzucht, baut prachtuolle Kiosfe, jchafft fich die jchönften Exemplare an und fjcheint ſich am Fluge ber Thiere zu freuen. Allein jehr bald ift er ihrer eben- falls überdrüjfig und wendet fih nun religidien Be— jtrebungen zu. Auf Kulikow's VBeranlaffung erfüllt er jtreng alle Vorjchriften der Kirche. Er lieft das Leben der Heiligen, erbaut fih an dem von Gott gejegneten Wirken des Vorjtehers des - Sfarowsfifchen Kloſters Sjerafim, macht Auszüge aus der «Nachfolge Chrifti » und wallfahrtet nach verjchiedenen Klöftern. Bor allen zieht ihn das auf einer Inſel im Ladogafee gelegene Kloſter Walaam an. Dort beruhigt ihn die wilde große artige Natur und nicht minder die Strenge, mit welcher die Mönche ihre Pflichten erfüllen. Er entjchließt fich,

des Kaufmanns Sſolodownikow. 165

ein Jahr lang in dieſem Klofter zu leben und auf dem in den See hinausragenden Feljen eine Kirche zu bauen.

„Aus dem Tagebuche aus dieſer Zeit erfieht man, daß die trüben Eindrüde des Stadtlebens verjchwinden. Friedliche, gottergebene Gedanken beherrfchen ven Schreiber. Aber plößlich tritt wieder eine gänzliche Umwandlung ein. Im Begriffe, auf furze Zeit nach Petersburg zurückzu— fehren, bejucht er jeine Kirche noch einmal, wo er «von Herzen ‚und aus ganzer Seele, frei von allem irdischen Zreiben beten fonnte». Getröftet und zufrieden ging er in feine Wohnung. Dort erwartete ihn Bater Damasfin. Er wünſcht ihm zunächſt glückliche Reife, dann zieht ev ein Bapier heraus und lieſt e8 Sſolodownikow vor. Es enthielt eine Aufzählung alles deſſen, was man für das Klofter noch thun fünne, wenn Sſolodownikow fich ent- fchlöffe, eine Million Rubel zu ſpenden.

„Damaskin, der Vorſteher des Kloſters, war ein asfetifcher, ftrenger, energijher Mann, dem das Wohl feines Kloſters über alles ging. Wahrjcheinlich hatte er das Klojterleben Sſolodownikow's für einen vollitändigen Bruch mit der Welt gehalten und deshalb gehofft, ihn zu einer jo großen Schenfung bejtimmen zu fönnen. Uns flugerweife deutete Damaskin in diefem Gejpräche darauf bin, daß Sfolodownifow zu der Sekte der Sfopzen gehöre. Das traf den legtern an der verwundbarſten Stelle. Peinlich eingewurzeltes Mistrauen, fein Haß gegen die Menjchheit, die ihn ausbeuten wollte, machte von neuem auf. Es erfaßte ihn eine furchtbare Wuth. Am liebften hätte er das Papier fortgefchleudert, aber er nahm fich gewaltfam zuſammen und that jo, als ob er den Vorjchlag überlegen und vielleicht annehmen wollte.

„Er verlieh das Klofter auf Nimmerwieberjehen. Auf dem Dampfboote, welches ihn fortführte, jchrieb er in

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jein Tagebuch: «Das war ein Tag, ben ich nie in meinem Leben vergeffen werde! Ihr verabjcheut mic) alſo. Ich bin ein gottverfluchter Skopze, den ihr nicht um feiner fündigen Seele, fondern nur um feines Geldes willen zugelafjen habt. Meine Million war es aljo, bie ihr bedurftet!» Seine Seelenruhe war gänzlich dahin. Statt mit Gebeten und frommen Reden füllt er fein Tagebuch mit Klagen über die Habjucht der Menjchen, mit Ausdrüden der Entrüftung und mit Schimpfworten.

„Er zerichnitt das Band mit dem Klofter gänzlich. Nach jeinem Tode jchrieb der Vorjteher Damaskin an den Unterjuchungsrichter: «Bald nach der Einweihung der Kirche verließ Sſolodownikow das Klofter. Obgleich wir ung voll Danf und Anerkennung mehreremal fchrift- ih an ihn wandten, erhielten wir doch nie eine Ant- wort. Er ließ feinen ver Klofterbrüder wieder vor fich.»

„ach feiner Rückkehr nach Petersburg führte er das Leben eines Einfiedlers. Einen großen Theil des Jahres brachte er auf feinem, von einer hohen Mauer ums jchloffenen Landhauſe zu. Er brach alle gejellichaftlichen Beziehungen ab, jchimpfte auf feine Dienerjchaft, ſchränkte fih auf das äußerſte ein und erſchreckte die Kinder des Gärtners, die mitunter in den Garten famen, durch fein wüftes Geſchrei.

„Sein Tagebuch wird von nun an fehr langweilig. Man findet darin feinen edlern Zug mehr, feine warme Empfindung. Faſt aus jeder Zeile fpricht Geiz, Hab- gier, Mistrauen und der ſtärkſte Egoismus. Er führt ein ödes, trauriges Leben. Mit Ausnahme von Kulikow und Dr. Hefje fieht er nur feine Dienerſchaft. Nur mit großer Mühe erreicht der Arzt, daß er fich etwas beſſer ernährt. Seinen einzigen Berwanbten, einen leiblichen Neffen, läßt er darben, er will nicht, daß er jemals zu

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ihm fommt. Argwöhniſch bewacht er eine Fleine eijerne Chatoulfe, die fein Geld und jeine Werthpapiere birgt. Unerwartet und plöglich rafft ihn ver Tod hinweg. Kein Menfch fteht ihm bei in ver legten Noth. Er wird, nach— dem er faum ven legten Athemzug gethan hat, beraubt und ausgeplündert, gleichgültig ftehen die Hausgenoſſen mit brennenden Gigarren um den Todten herum, beim Wafchen geht man jo unvorjichtig zu Werfe, daß ber Kopf der Leiche auf den Boden jchlägt. in roher Haus- necht fpottet: «Aha, jett fiehjt du nichts mehr, im Sommer aber bemerkten deine Luchsaugen alles und bu verſtandeſt zu ſchimpfen.»

„Bei der Lebensweiſe des Verſtorbenen iſt es unmög— lich, daß ſein Vermögen in den letzten Jahren ſich ver— mindert hat. Es muß erheblich gewachſen ſein. Wie kommt es nun, daß ſich nur wenige Rubel baares Geld vor— fanden, als er die Augen geſchloſſen hatte? Warum hat die Polizei die Verſiegelung ſo ſpät vorgenommen? Daran iſt der Angeklagte ſchuldig. Er verbot den Hausgenoſſen, den Todesfall anzuzeigen, er legte ihnen Stillſchweigen auf. Er, der ſich den Freund des Todten nennt, ſagt uns: «Wir kannten einander ſchon ſeit 1845. Ohne mich fonnte Sſolodownikow weder efjen noch trinfen, mich, mich allein liebte er, der ſonſt niemand liebte, mich ſah er gern bei fich, mir vertraute er unbegrenzt alles an.»

„Aber wie ftimmt zu diefer Behauptung das Benehmen des Angeklagten? ALS er den Tod feines Freundes von dem Diener Kolofjow erfährt, bleibt er völlig theilnahn- (08. Den Leichnam überläßt er der Dienerjchaft und fein Menſch bemerkt etwas davon, daß der Todte feinem Herzen nahe geftanden hat. Durch die Verhandlung tft beiwiejen, daß das Verhältniß zwiſchen Sſolodownikow und Sſuslenikow Fein freundichaftliches geweſen tt.

168 Die VBermögensberaubung

„Der Verftorbene hat dem Angeklagten Geld angeboten, wenn er ein Mädchen, welches dem eritern nahe jtand, heirathen wollte In den Gefprächen mit Kulifow und Dr. Heſſe hat er feinen Hausverwalter Sfuslenifow einen Räuber genannt, ihn mit noch andern Schimpfworten belegt und gejagt, er ſei zu allem fähig, fogar fähig, ihn umzubringen. Sſolodownikow hat den Angeklagten tyrannifirt, fich über feine zerrüttete Vermögenslage ge— freut, ihm nur 7 Rubel monatlichen Lohn gezahlt und geäußert: er werde ihn fo fahl wie eine Rabe, ohne Hofen, wie er gekommen fei, aus dem Haufe jagen. Daraus ergibt fih, daß er nicht der Freund des An- geflagten geweſen ift.

„Sſuslenikow hat ein Märchen erzählt von einer geheimnißvollen Reiſe nach Moskau, daß der DVerftorbene ihm ein Padet mit einer bedeutenden Geldſumme in die Hofentafche genäht und daß er daffelbe in Moskau einem geheimnißvolfen alten Mann habe überbringen follen. Er jucht glauben zu machen, daß Sſolodownikow ge= fürchtet habe, man werde ihn in die Unterſuchung wider den befannten Sfopzen Plotitzin verwideln. Aber es iſt ja bewiefen, daß Sſolodownikow nicht freiwillig, jondern durch einen Act brutaler Gewalt Mitglied ver Sfopzenjefte geworden ift. Kaiſer Nikolaus ſelbſt hat Mitleid gehabt mit dem Schickſal des unglüdlichen Mannes und ihm deshalb alle Rechte zuerfannt, bie ven Sfopzen nach dem Gefet entzogen werben. Infolge deſſen konnte er ſogar, wie Ihnen befannt ift, in ben funfziger Iahren Ehrenmitglied und Beifiger des Hof- gericht8 fein. Sfolodownifow hatte von den Strafen, die damals über die Sfopzen verhängt wurden, nichts zu fürchten. Er hatte nicht die mindejte Urfache, dieſe ihm verhaßte Sekte mit Gelomitteln zu unterjtügen.

des Kaufmanns Sjolodomnifom. 169

Die ganze Erzählung des Angeklagten ift augenfcheinlich erfunden. |

„Der Angeklagte hat uns mitgetheilt, daß er 10000 Rubel von jeinem Herren empfangen habe, um bie Klage feiner Köchin rückgängig zu machen. Die Klage, in welcher die Köchin nur 100 Rubel Schadenerjat gefordert hatte, war vom Friedensrichter abgewiefen worden. Dies verſchwieg Siuslenifow und begnügte fich mit dem magern Berichte, die Sache fei erledigt. Er behauptet, fein Herr habe ihm eine Belohnung geben wollen und fich deshalb nicht er- fundigt, was aus den 10000 Rubeln geworben ei. Richtiger wird e8 fein, wenn wir fagen, daß der An— geflagte fich diefe Summe betrügeriich angeeignet hat, indem er vorfpiegelte, fie jei für die Vergleichung des Procefjes verausgabt worden.

„Sanz unglaubhaft ift die Gefchichte von dem Verkaufe der Brillanten aus dem Heiligenbilde durch den An— geffagten. Er widerſpricht fich hierbei, denn er jagt anfänglich «der Verftorbene» und fpäter «Waſſili Sfolo- bownifow» habe ihm den Auftrag dazır ertheilt.

„Pag fich dies verhalten, wie es wolle, e8 jteht feit, daß der Angeklagte über den Berfauf der aus dem Bilde berausgenommenen Brillanten feine Rechnung gelegt, fondern das Geld behalten und folglich unterjchlagen hat.

„Siuslenifow [ebte, wie wir wiffen, bis zum Tode jeines Herrn in jehr ärmlichen Verhältniffen. Ein Zimmer in Petersburg und 7 Rubel Monatsgehalt war alles, was er hatte.

„Als nach dem Ableben feines Herrn Hausfuchung bei ihm vorgenommen wurde, war er ein reicher Mann. Er befaß 40000 Rubel in Wechjeln, 7000 Rubel in fünf- procentigen Papieren, Rechnungen über 35000 Rubel in Banfactien und 950 Rubel baar. Er gibt an: 10000 Rubel

170 Die Bermögensberaubung

babe ihm ver Verftorbene gegeben, um die Injurienklage ber Köchin rückgängig zu machen, 15000 Rubel habe er ihm kurze Zeit vor feinem Ableben gefchenkt, um ihn für feine Dienfte und feine Freundſchaft zu belohnen, und etwa 3800 Rubel betrage der Erlös aus dem uns be- fannten Ringe und den Brillanten des SHeiligenbildes. Wir haben dargethan, daß die Angaben in Betreff ver 10000 und der 15000 Rubel nicht wahr jein Fönnen. Aber wenn fie wahr wären, würde baburch doch nur ber Befit von 28800 Rubel erklärt. Wie kommt es, daß man rund 83000 Rubel bei ihm gefunden Hat? Auf welche Weije hat er die ungefähr 54000 Rubel erworben, deren Befit er nicht zu erflären vermocht hat?

„Ueberdies will er auch noch 3000 Rubel zur Unter: haltung des Stabt- und des Landhauſes verwendet haben, und bat jeinerfeitS ein koſtſpieliges Leben geführt, nach- dem fein Herr die Augen gejchlofjen hatte,

„Meine Herren Geihworenen, Sie kennen ven Charafter des Verftorbenen und werben bie Angaben bes Angeklagten nicht glauben. Ein Menfch, ver jede Kopefe genau an— fieht und fich ſelbſt alles entzieht, vergißt nicht, daß er 10000 Rubel an feinen Hausverwalter gegeben hat, jondern verlangt Rechnungslegung. Ein folder Mann quält fich nicht mit dem Gedanken, daß er feinem Freunde nur 15000 Rubel und nicht 25000 Rubel als Belohnung geben kann. Es ift völlig unglaublich, daß ein Menſch, der nur an fich denkt und nur noch 28 Rubel in Haufe hatte, wie der Angeklagte behauptet, eine Summe von 15000 Rubel heimlich weggibt. Er wußte ja nicht, daß er plötlich fterben würde, und wäre ſchon in den nächiten Zagen in bittere Noth gerathen.

„Freilich ift e8 nicht richtig, daß Sſolodownikow nur noch 28 Rubel bejefjen habe, als er ftarb, denn im Mat

bes Kaufmanns Sfolodownifom. 171

hatte er vom Bankier Ljubawin 30000 Rubel zurüd- gezahlt befommen. Seit jener Zeit hat er fein Haus nicht verlaffen und Außerft fparfaın gelebt. Es iſt nicht möglich, daß er bis zu feinem Tode, alfo in etwas mehr als drei Monaten, 15000 Rubel verausgabt haben fol. Er verbrauchte bei feiner Lebensweife überhaupt nur 5000 Rubel jährlich.

„Sſuslenikow ift nach feiner Erzählung reichlich belohnt worden für feine Verdienfte. Sein Wohlthäter liegt im Grabe und ift ftumm. Was hat er aber gethan, als fein Freund ftarb: er hat befohlen, ven Todesfall zu berjchweigen, er hat die Schublaven der Kommode ge— öffnet, in welcher der Berftorbene feine Werthpapiere und jein baares Geld aufbewahrte, er hat heimlich unter feinem Node etwas weggefchleppt, als er dem Dr. Hefe begegnete, und wie der Zeuge Koloſſow ſah, einen Gegenftand ver- jtedt in fein Zimmer im obern Stod getragen.

„Hat er vielleicht die Einnahme- und Ausgabebücher beifeitegefchafft, die Sſolodownikow mit ziemlicher Ge— wifjenhaftigfeit führte? Sie find fpurlos verſchwunden, und auch das Vermögen des Verftorbenen ift verfchwunden. Sch glaube den Ausfagen der Zeugen, ich glaube auch, daß der Angeklagte dem Diener Koloffow gegenüber ge- Hagt bat: ihn fjchüttle ein Wieberfroft. Es war ber Fieberfroſt des böſen Gewiſſens.

„Er bat ſelbſt gefühlt, wie mangelhaft feine Erklärungen über den Urjprung feines Vermögens find. Deshalb jucht er zu beweifen, daß Sſolodownikow bei feinem Tode nichts mehr bejeffen habe, was geraubt werben konnte. Wir haben die Märchen von dem Greife in Moskau, ber eine große Summe Geld heimlich empfangen joll, und alles, was dahin gehört, bereit gewürdigt. Es iſt dem An- geflagten nicht gelungen, diefen Beweis zu liefern, es ift

172 Die Bermögensberaubung des x. Sjolodomwnifom.

ihm nicht gelungen, die Verdachtsgründe, die gegen ihn iprechen, zu entfräften. Meiner Meinung nah muß Ihnen, meine Herren Gejchiworenen, die Sache Har jein. Ich Hage Sſuslenikow an, ven Tod Sſolodownikow's benugt zu haben, um fein Vermögen, joweit e8 ihm möglich war, zu rauben, und zwar jedenfalls eine den Betrag von 300 Rubel, von welchem das Strafgefetbuch fpricht, weit überfteigende Summe an fich zu bringen.

„Der Angeklagte hat ung gejagt, daß eine der Urfachen von der großen Zuneigung Sſolodownikow's zu ihm bie weichen Hände gewejen wären, bie ihm bei den Ein- reibungen jo wohlgethan hätten. Wielleicht wird Ihr Ver— diet beweifen, daß feine weichen Hände auch recht lange Finger hatten.”

Der Bertheidigung gelang e8 nicht, den Staatsanwalt zu widerlegen. Ihre Ausficht auf Erfolg war von vorn- herein hoffnungslos, weil die Erzählungen des Angeklagten gar zu unglaublich waren. Die öffentliche Meinung ging fogar noch weiter als die Anklage. Sie legte dem un- getreuen Hausverwalter nicht b[o8 die Bermögensberaubung, fondern fogar den Tod feines Herrn zur Laſt, obgleich e8 dafür an jedem fichern Grunde fehlt. Die Gejchworenen iprachen das Schuldig aus und der Gerichtshof verurtheilte ven Angeklagten zu dem Verlufte aller bürgerlichen Rechte und zur Verbannung in das Gouvernement Tomsk in Weſtſibirien.

Die Ermordung des Collegienaſſeſſors Tſchicha- tfchew.

(Petersburg.) 1873. 1874.

Am 26. November 1873, 5 Uhr nachmittags, kamen der verabjchiebete Stabsfapitän N. und feine Frau zu dem in Petersburg, Sachäsjewskoiſtraße, im Haufe Popow wohnenden Gollegienaffeffor a. D. Tſchichatſchew. Nach einem furzen Wortwechjel erhielt Tſchichatſchew von dem Stabslapitän eine Fräftige Ohrfeige.

Es entjtand eine Schlägerei, N. verjegte feinem Gegner einige Mejferitiche, von denen zwei in die Bruft tödlich waren, Frau N, gab auf Zichichatichew aus einem acht- läufigen Revolver zwei Schüffe ab, ohne ihn zu treffen. Sie wurden von dem herbeigeeilten Hausfnecht Woronin und andern Perjonen getrennt.

Tſchichatſchew jtarb an den erhaltenen Wunden.

Die Vorunterjuchung ergab Folgendes: Frau N. hatte als Mädchen, während fie im Jahre 1867 in der Familie ihre8 Bruders auf deſſen Landgute lebte, ein intimes Verhältniß mit dem das Haus bejuchenden verheiratheten, aber von feiner Frau getrennt lebenden Tſchichatſchew

174 Die Ermordung

angefnüpft, welches einige Monate vor ihrer Verheirathung mit dem Stabsfapitän N. abgebrochen wurde. Vor ver Hochzeit Tieß fih Frau N. von Tſchichatſchew das Ver— iprechen geben, daß er über feinen Umgang mit ihr das tiefite Schweigen beobachten würde. Auf ihren Wunſch wohnte er im Mat 1868 ihrer Hochzeit als Zeuge bei. Ihrem Manne jagte fie weder vor noch nachher etwas von den Beziehungen, die fie als Mädchen zu Tſchichatſchew gehabt Hatte. Der Stabsfapitän N. äußerte fpäterhin, er habe zwar unbeftimmte Gerüchte über das Vorleben feiner Frau gehört, aber nie an die Möglichkeit gedacht, daß fie vor der Ehefchließung fich einem andern Mann hingegeben und ihn betrogen habe. Sechs Jahre lang lebte das Ehepaar einig und zufrieden. Im Juni 1873 erfuhr Frau N. von ihrer Schwägerin, daß Frau Tſchicha— tihew von ihr als von einem unmoralifchen, ehr- und ſchamloſen Weibe rede. Sie glaubte, Tſchichatſchew habe jein Wort nicht gehalten, und fürchtete, ihrem Manne fönne die Sache hinterbracht werden. Sie entjchloß fich deshalb alles zu gejtehen, und theilte ihm eines Tages mit: Tſchichatſchew Habe fie im Haufe ihres Bruders verführt, fie habe feine Anträge und Lockungen abgewiejen, aber er jet immer zubringlicher geworden, habe enblich Gewalt gegen fie gebraucht und fie jet ihm aber nur ein einziges mal unterlegen. Ihr Mann war äußert aufgebracht. Er forderte von ihr, fie jolle dies in jeiner Gegenwart dem Zichichatichew ins Geficht jagen. Beide reiten nach Aſchewo, wo fich Tſchichatſchew auf dem Gute des Randebelmannes Nikolai Zerefchfewitich befand. Dort angelangt jtiegen fie in einer Fuhrmannsherberge ab, und der Stabsfapitän ließ den Collegienaſſeſſor bitten jeine Frau zu befuchen. Tſchichatſchew erjchien, die Thür wurde hinter ihm abgejchloffen und Frau N. erklärte ihm: fie

des Collegienafſefſors Tſchichatſchew. 175

habe ihrem Manne bekannt, was früher zwiſchen ihnen vorgegangen ſei, ſie erinnerte ihn an die nähern Umſtände und verlangte, er ſolle ihre Ausſage be— ſtätigen.

Tſchichatſchew war ſehr verwundert über dieſe Scene. In der Meinung, der Stabskapitän N. habe von einer dritten Perſon Kenntniß von dem verbotenen Umgang ſeiner Frau mit ihm erlangt, nahm er alle Schuld auf ſich. Der Stabskapitän nannte ihn hierauf einen Schurken und eröffnete ihm, ſein Verbrechen müßte beſtraft werden. Frau N. mahnte ihn an ſein ihr gegebenes Verſprechen, daß er bereit ſei, ſein Leben für ſie zu opfern, und fügte hinzu: jetzt ſei die Zeit gekommen, das Gelübde zu er— füllen, er habe nur noch fünf Minuten zu leben. Dabei lagen ein Dolch und ein Revolver auf dem Tiſche. Zu— fällig klopfte Zereſchkewitſch in dieſem entſcheidenden Augen— blicke an die Thür. Tſchichatſchew war gerettet, er ent— fernte ſich mit dem Bemerken, daß er um 5 Uhr nach— mittags wiederfommen würde. Als er fich nicht einfand, juchte der Stabsfapitän den Collegienaffeffor in ver Wohnung des Herrn Zerejchfewitich auf, wurde aber mit dem Bemerfen abgewiejen, daß Tſchichatſchew erfranft jei. Segen 8 Uhr abends jchidte ver Stabsfapitän einen Zettel, in welchen gejchrieben war: er glaube nicht an die angebliche Krankheit und bejtehe auf einer Zuſammen— funft. Zereſchkewitſch bejchied ihn abfällig, der Stabs— fapitän antwortete: Cr begebe fich auf jein Gut Andrju- ichinow und werde dort bis zum 8. August auf Tſchichatſchew warten. ALS diefer Termin verjtrichen war, fand ſich das Ehepaar am 11. Augujt wieder in Ajchewo ein. Tſchicha— tihew war noch dort, aber gerade an dieſem Tage im Begriffe mit feinem Freunde von Witte nach Petersburg abzureifen. Vom Fenſter aus jah er feinen Feind an—

176 Die Ermordung

fommen, jofort warf er fich, feine Sachen zurüdlafjend, in den bereits angefpannten Wagen und fuhr weg.

Der Stabsfapitän meldete fich bei Zereſchkewitſch, der ihn im ganzen Haufe herumführte, um ihn davon zu überzeugen, daß Tſchichatſchew nicht mehr anweſend jet. In großer Aufregung erflärte er, daß er nicht eher ruhen würbe, als bis er feinen Gegner getödtet habe. Er bat die Herren Zerefchfewitich und von Witte, feine Heraus- forderung dem Tſchichatſchew zu bejtellen, dann beitieg er jeinen Wagen, um ben Flüchtling womöglich einzu— holen. Unterwegs überlegte er indeß, daß Tſchichatſchew einen zu großen VBorjprung habe. Er fehrte um und fuhr vachejchnaubend nach Andrjuſchinow zurück.

Tſchichatſchew verbreitete von Petersburg aus das Ge- rücht, er jet ins Ausland gereift, um fich vor der Ber- folgung zu retten. Im September fam N. mit Frau nach Petersburg; fie hörten Tſchichatſchew jet dageweſen, aber abgereift. Sie folgten ihm in das Ausland und juchten ihn bis Mitte Detober vergeblich; dann fehrten fie nach Rußland auf ihr Gut zurüd.

Vom November 1873 an behandelte N. feine Frau oft auf wahrhaft graufame Weile. Er ſchlug fie, riß ihr die Haare aus, bejchimpfte fie, ſodaß fie eines Tages aus dem Haufe lief und fich in den Schnee warf, um jich zu erfälten und womöglich zu fterben.

Frau N. jchrieb im November an Tſchichatſchew und machte ihm die bitterften Vorwürfe. Dieſer faßte eine Antwort ab, zögerte dann aber fie abzuſenden.

Am 26. November fam das Ehepaar N. nach Peters: burg. Der Stabsfapitän war als Zeuge vom Gericht vorgeladen worden und benußte die Gelegenheit, um fich im Adreßcomptoir nach Tſchichatſchew zu erkundigen. Er erfuhr, daß diejer zwar in der Sachasjewsfoiftrafe im

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 177

Hauje Popow eine Wohnung habe, aber am 29. October nah Moskau gereift fei. Er traute diefer Mittheilung nit und ging mit feiner Frau nachmittags 5 Uhr in das Haus Popow. Er trug ein Meffer bei fich, feine Frau war mit dem achtläufigen Revolver ihres Mannes bewaffnet. Bon einem Hausfnecht hörten fie, Tſchichatſchew jet zu Haufe. Sie traten ein und eröffneten ihm, fie fümen, um feine Antwort zu holen. Er übergab ihnen einen Brief und fügte Hinzu: er werde fich erft dann rechtfertigen, wenn fie den Brief gelefen hätten.

Der Stabsfapitän ſteckte den Brief ungelefen ein und beitand darauf, Tſchichatſchew jolle jofort fagen, was er zu feiner Rechtfertigung vorzubringen habe, und fich auf die Forderung zum Duell erklären. Es fam zu einem Handgemenge, welches mit dem Tode Tichichatfchem’s endigte.

Die Verhandlung in dieſer Sache fand am 2. und 3. März 1874 vor dem Kreisgerichte in Petersburg ſtatt. Den Vorſitz führte der Präſident Baturnin, die Anklage wurde vom Oberprocurator Koni vertreten, die Ver— theidigung des Stabskapitäns N. hatte der Rechtsanwalt Spaſſowitſch, die ſeiner Frau der Rechtsanwalt Gerard übernommen.

Der Angeklagte N. bekannte ſich ſchuldig, dem Tſchicha— tſchew Meſſerſtiche beigebracht und ihn dadurch getödtet zu haben. Er behauptete aber, er habe das Geſicht ſeines Gegners gar nicht geſehen, es ſei nicht ſeine Abſicht ge— weſen, ihn zu tödten, er habe ſich gewehrt und nicht an einen Mord gedacht.

Frau N. ſagte aus: ſie habe nicht auf Tſchichatſchew geſchoſſen und in dem Augenblicke, wo ſie den Revolver abdrückte, nicht gewußt, was ſie that.

Der Zeuge Oberſt von Raaben gab an: Tſchichatſchew

XXIII. 12

178 Die Ermordung

bat mir erzählt, er habe als Friedensrichter in Nowortſchew die Befanntichaft der Angeklagten gemacht, die damals ein junges Mädchen war und im Haufe ihrer Verwandten lebte. Seine Frau hielt fich in jener Zeit jeit einigen Monaten im Auslande auf, weil die Ehegatten in Un— frieden lebten. Die Frau begegnete ihm ftets eifig Falt, troß feiner Bitten reifte fie bald dahin, bald borthin und lebte nicht mit ihm zuſammen.

Als er mit der Angeklagten näher befannt wurde, fühlte er fich immer mehr zu ihr hingezogen. Es that ihm wohl, daß er ihre Theilnahme und Zuneigung be- merkte. Er ſah fie nur in Gegenwart ihrer Verwandten und fand feine Gelegenheit zu einer ungeftörten Unter- haltung mit ihr. Da fagte die Angeklagte eines Tages zu ihm: „Man geftattet uns feine vertrauliche Ausfprache; fommen Sie heute nach dem Abendefjen zu mir in mein Zimmer, dort wird uns fein Unberufener ſtören.“

Tſchichatſchew war überrajcht durch dieſen Vorjchlag, jagte aber zu und fand fich am Abend in ihrem Zimmer ein. Er ftellte ihr vor, daß fie jehr unvorfichtig handle, weil die Anwejenheit eines Mannes in ihrem Zimmer ihrem Rufe leicht ſchaden könne. Sie entgegnete: „Darin jehe ich nichts Böſes“, und nöthigte ihn, fich zu ihr zu jegen und mit ihr zu plaudern. Er wieberholte bie Warnung, unterhielt fich eine Zeit lang mit ihr und ver- ließ fie nach kurzer Zeit.

Am folgenden Tage forderte fie ihn auf, fich feine grauen Haare wachjen zu laffen und feine Abenpbejuche bei ihr fortzufegen. Er folgte diefer Aufforderung, und es Fam nach und nach zu einem vertrauten Verhältniß zwijchen ihm und dem jungen Mädchen.

Anfänglich bejchlich ihn die Furcht, er könnte zu weit gehen. In diejer Stimmung ſchrieb er feiner noch immer

des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 179

geliebten Frau: „ſie begehe einen großen Fehler, ihn ſo allein zu laſſen, weil er dadurch in Verſuchung kommen könne, anderwärts Troſt zu ſuchen“.

Er erhielt ausweichende und unbefriedigende Ant— worten, und nun erſt knüpfte er intime Beziehungen mit der jetzigen Frau N. an.

Später kehrte ſeine Frau zurück, ebenſo unverſöhnlich, ebenſo kalt wie vorher. Als er eines Tages mit ſeiner Frau in Geſellſchaft mit der Angeklagten zuſammentraf, errieth ſeine Frau, wie Tſchichatſchew ſich ausdrückte, gewiſſermaßen inſtinctiv, daß ein vertrauter Verkehr zwiſchen ihnen beſtand. Zu Hauſe machte ſie ihm eine ihn ſehr überraſchende Eiferſuchtsſeene und verlangte, er jolfe geftehen, wie weit dieſes Verhältniß gediehen jei.

Er fuchte fie zu beruhigen, ihr den Verbacht aus- zureden; fie war aber eine von ben Frauen, bie jchiver Vernunft annehmen und hartnädig bei dem beharren, was fie fich in den Kopf gefegt haben.

Die Eiferfuchtsicenen wiederholten ſich. Um benjelben zu entgehen und fich zu zerjtreuen nahm er bie Bejuche bei der Angeklagten, die er eine Zeit lang ausgeſetzt hatte, wieder auf. Die Angeklagte reijte indeß bald nachher ab. Er hörte, daß Herr N. ihre Belanntfchaft gemacht habe und fie zu heirathen gedenke. Später erhielt er von ihr eine fchriftliche Einladung, bei ver Trauung als ihr Braut- vater zugegen zu fein. Die Rolle war ihm peinlich, er übernahm fie aber, weil fie ihn dringend bat, ihr ben Wunſch zu gewähren, und geltend machte, daß dadurch jever etwaige Verdacht über ein Verhältniß zwiſchen ihnen entfräftet würde.

Nach der Hochzeit jah er Frau N. nur noch dreimal auf etliche Augenblide. Ste beſchwor ihn, die ftrengjte Derichwiegenheit über feinen Umgang mit ihr zu bewahren,

12*

180 Die Ermordung

denn e8 würbe ihr ſchlimm gehen, wenn ihr Mann etwas davon erfahre. Er beruhigte fie, verficherte, daß er nicht die mindeſte Veranlafjung habe, das Geheimniß kundzu— machen, und gelobte ihr unverbrüchliches Schweigen.

Es kam zwifchen Tſchichatſchew und feiner Frau zum Bruce. Er Iebte bis zum Tode feiner Mutter im Petersburg, dann aber bald in Petersburg, bald im Auslande.

Im Jahre 1873 reiſte er nach Nowortſchew, um bei der Gründung eines Creditvereins behülflich zu ſein. Er ſtieg daſelbſt bei feinem alten Freunde Zereſchkewitſch ab. Am dritten Tage nach feiner Ankunft befuchte ihn ganz unerwartet der Stabsfapitän N. und frug ihn im Laufe des Gefpräches, ob er nicht auch feine Frau zu fprechen wünſche, die ja eine alte Bekannte von ihm ſei. Tſchicha— tſchew eriwiberte, er würde fich freuen, fie wieberzujehen, und begleitete ven Stabsfapitän, der ihn zu ihr führen wollte. Unterwegs unterhielten fie fich über gejchäftliche Dinge. Der Stabsfapitän bezeichnete eine jämmerliche Fuhrmannsfneipe al8 den Ort, wo er mit feiner Frau abgeftiegen ſei. Tſchichatſchew wurnderte fich darüber, denn er wußte, daß N. fonft bei feinem Verwandten, dem Landespofizeichef, oder im Gafthofe wohnte, Trotzdem folgte er ihm, ohne Argwohn zu hegen, in ein durch eine Scheunenwand getheilte® Gemach, aus welchen N. ihn in ein Nebenzimmer führte. Dort jtand feine Frau. Sie erwiderte den Gruß Tſchichatſchew's fteif und fagte fein Wort. Ihr Mann Schloß die Thür ab, und auf dem Tiſche lagen ein Dolch und eine Piftole. Der weich- berzige, jchüchterne Tſchichatſchew erichraf, er merfte, daß etwas Ungemwöhnliches im Werfe war. Es fam ihm der Gedanke, der Stabsfapitän könne von dem PVerhäftnif jeiner Frau zu ihm etwas gehört haben und wolle ihn

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 181

deshalb zur Rede ſetzen. Er wußte, daß mit dem Stabs— fapitän N. nicht zu fpaßen war.

Jetzt hob Frau N. an, ihre frühern Beziehungen zu ibm bis in die geringiten Einzelheiten aufzudeden. Sie ftellte e8 jo dar, al8 habe Tſchichatſchew ihre Un— erfahrenheit benugt und ihr nach Aufwenbung aller Ver: führungsfünfte zulegt Gewalt angethan, um feinen Zweck zu erreichen.

Während diefer Erzählung ftand N. finfter und drohend dabei, wie ein Richter dem Delinquenten gegen: überjteht.

Frau N. ſchloß: „Erinnern Sie fih, Herr Tſchicha— tihew, daß Ste mir damals Ihr Wort gaben, Ihr Leben für mich zu opfern. Jetzt verlange ich die Erfüllung Ihres Verjprechens und fordere Ihr Leben.” Es iſt be- greiflich, daß dieſe Schlußrede Tichichatjchew ftußig machte und daß er ſich, obwol er erjchroden und ziemlich fafjungs- {08 war, eines Lächeln nicht erwehren konnte. Der Angeflagte N. gerieth darüber in Zorn. Er jchrie ihn probend an: „Sie wagen noch zu lachen!‘ und fuhr, fih zu feiner Frau wendend, fort: „Sieh, er höhnt ung!’

Tſchichatſchew entjchuldigte fih, N. aber rief: „Sie dürfen nicht länger leben. Wenn Sie nicht ſelbſt frei- ‚willig ein Ende machen, jo wird es von anderer Hand gejchehen!” Frau. fügte hinzu: „Ich habe mein Wort verpfändet. Wenn Sie fich nicht ſelbſt dazu entjchließen, geichieht es durch mich!“ Der Angeklagte N. frug jeine Frau: „Biſt du bereit?”, fie antwortete: „Sa! ich bin es!“ In dieſer Fritiichen Lage erklärte Tſchichatſchew, es ſei ihm unmöglich, dieſer Forderung nachzukommen, man ſolle ihm Zeit laſſen, einen Entſchluß zu faſſen. Die Angeklagten gaben ihm fünf Minuten Friſt.

182 Die Ermordung

Als Zerejchkewitich ihn jpäter frug, weshalb er nicht energifch proteftirt und insbeſondere nicht fofort die An— ichuldigung, daß er dem jungen Mädchen Gewalt an- gethan, zurücgewiefen habe, erwiderte er: „Sch ſchwieg, weil die Frau mich dauerte. Ich kannte den rachfüchtigen Charakter ihres Mannes und feine Reizbarfeit.” Er fuhr dann fort in feiner Erzählung: „Er habe nach einen Auswege aus der verzweifelten Lage gejucht, und zu feinem Glück pochte jemand von außen an bie Thür. Der Stabsfapitän rief: «ES darf Niemand herein!n»“

Es war Zerefchfewitich, er blieb vor der Thür ftehen und antwortete: „Gut, ich werde warten.” Die Ans geflagten wagten nun doch nicht, ihr Vorhaben auszu— führen. Sie bewilligten Aufſchub und gaben Tſchichatſchew frei. Als er mit Zerefchkewitich fortging, frug ihn ber fettere, der nicht wußte, was gefchehen war, ob er ben Stabsfapitän und feine Frau zu Tiſch Bitten follte. Tſchichatſchew antwortete ganz verftört: „Wie du willft, wie bu willſt!“

Jetzt erjt bemerkte Zereſchkewitſch, daß fein Freund fajt von Sinnen war. Er unterließ die Einladung und erfundigte jich, was denn zwiſchen dem Stabskapitän und ihm vorgefallen wäre. Tſchichatſchew theilte ihm alles mit. Zereſchkewitſch rieth, die unfinnige Forderung, daß er fich das Leben nehmen folle, rundweg abzulehnen. ALS der Stabsfapitän N. abends zu Zerejchfewitich Fam und Tſchichatſchew zu jehen verlangte, erflärte ver Haus- herr, fein Gaft jet unwohl und fünne niemand empfangen. Der Stabsfapitän fprach feine Verwunderung aus und übergab einen Zettel für Tſchichatſchew, in welchem er bon biejem eine beftimmte Antwort auf das an ihn ge- jtellte Verlangen forderte. Tſchichatſchew Tieß ihm fagen:

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 183

„er fühle ſich ſo leidend, daß er den Zettel nicht habe leſen können“.

Nun ſchrieb N. einen Brief, um deſſen Uebergabe er Zereſchkewitſch bat. Darin hieß es: „Ich erwarte Sie beſtimmt im Laufe der nächſten beiden Wochen auf meinem Gute, ohne Zeugen.“

Die Angeklagten reiſten ab, weil ſie einſahen, daß ſie vorläufig ihren Zweck nicht erreichen konnten.

Tſchichatſchew aber zerbrach ſich vergebens den Kopf, was er anfangen ſolle. Er blieb in Nowortſchew, um ſeine Geſchäfte zu erledigen. Dieſe zogen ſich länger hinaus, als er dachte. Als er den Koffer packte, um mit ſeinem Freunde von Witte abzureiſen, ſtürzte der letztere plötzlich in ſein Zimmer mit den Worten: „Der Stabskapitän N. und ſeine Frau ſind hier, raſch, raſch in den Wagen und fort!“

Tſchichatſchew war unentſchloſſen, aber ſein Freund ließ ihm keine Zeit, er zog ihm den Paletot an, ſtülpte ihm die Mütze auf den Kopf, trieb ihn in den Wagen und befahl dem Kutſcher, zur nächſten Station zu fahren.

Zehn Minuten nach der Abfahrt erjchien der Stab8- fapitän. Dan fagte ihm, ZTichichatichew ſei abgereift. Er wollte das nicht glauben, dann fagte er: „Geſtern Abend war er noch hier.“

Zerejchkewitich wiederholte: „Er ijt fort!”

Der Stabsfapitän ging, fam aber gleich darauf mit feiner Frau zurüd und verlangte nach Tſchichatſchew. Zerefchkewitich zuckte die Achjeln und ftellte ihm frei, das Haus zu durchſuchen. Sie machten von biefer Erlaubnif Gebrauch. ALS fie ihn nicht fanden, waren fie ſehr er- bittert, Frau N. fehrie wüthend: „Ich bringe den ſchänd⸗ lichen Verführer um, er hat meine Unerfahrenheit auf

184 Die Ermordung

das abjcheulichite misbraucht und mich unglüdlich ge- macht!” Endlich zogen fie ab.

Zerejchfewitich und von Witte aber fuhren zur nächiten Station, auf welcher fie mit Tſchichatſchew zufammen- trafen. Er und von Witte reiften mit der Bahn weiter, während Zerejchkewitich zurückkehrte. Unterwegs ftieß er auf die Angeklagten, die Tſchichatſchew nacheilten, ihn aber nicht mehr einholen konnten. Tſchichatſchew kam glüdlih nach Petersburg und erzählte dort fein Aben- teuer. Nach und nach beruhigte er fich wieder und zwar um jo leichter, weil ihm Zereſchkewitſch jehrieb, die An— geflagten fchienen ihre Rachegedanken aufgegeben zu haben, fie wären auf ihr Gut gegangen und würden bemnächit ins Ausland reifen.

Tſchichatſchew Tieß das Gerücht verbreiten, er begebe jih ind Ausland, in Wahrheit aber ging er zu feinem Freunde, dem Dberjt von NRaaben, in das Lager von Krasnoe-Selo und blieb daſelbſt 14 Tage.

Bis zum November ereignete fich weiter nichts, als daß von N. ein Brief fam, den Tſchichatſchew dahin be— antworten wollte, man jolle ihn in Ruhe laffen. Ehe die Antwort abgegangen war, traf von Zereſchkewitſch die Nachricht ein, der Stabsfapitän fer als Zeuge in Sachen des Friedensrichters Klingenberg nach Petersburg geladen.

Dieje Mittheilung veranlaßte Tſchichatſchew, mit feinen Verwandten Rath zu pflegen, was er thun follte. Sie hielten e8 zwar für unmöglich, daß die N.s ein Attentat auf fein Leben beabfichtigten, viethen aber doch, die Polizei zu benachrichtigen. Dazu Fonnte fich Tſchichatſchew nicht entjchließen, er lebte fich nach und -nach in den Gedanken ein, es fönne am Ende doch fo fchlimm nicht werben. Der Oberſt von Raaben erbot fich den nervöſen Tſchicha— tihew, der fchwerlich Faltblütig bleiben würde, bei ver

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 185

Zuſammenkunft mit dem Stabskapitän zu vertreten. Tſchichatſchew ging jedoch auf dieſen Vorſchlag nicht ein. Er kannte den Stabskapitän als einen aufbrauſenden Menſchen, befürchtete, daß er gegen den Offizier grob werden und dadurch die Sache verſchlimmern könnte, insbeſondere aber ſollte N. auch nicht erfahren, daß der Oberſt von dem Verhältniß Tſchichatſchew's zu Frau N. unterrichtet ſei.

So wurde denn endlich beſchloſſen, Tſchichatſchew ſolle ſich nur in Gegenwart des Oberſten, als Zeugen, in eine Auseinanderſetzung mit dem Stabskapitän einlaſſen, und wenn dieſer zum Angriff überginge, ſolle der Oberſt ihn ergreifen und Tſchichatſchew Leyte zur Hülfe rufen. Man fam überein, daß der Angeflagte nur um 6 Uhr empfangen werben bürfte, weil der Oberft um dieſe Zeit ſtets zu Haufe war.

Alles ſchien aufs beſte georbnet zu fein. Es kam aber ganz anders.

Am 26. November fehrte ber Dberft ſchon um 4 Uhr nachmittags vom Dienft zurüd. Er war ſehr ermübet, er legte fich, was fonft nicht feine Gewohnheit war, in jeinem Zimmer, welches an das von Tſchichatſchew ſtieß, zur Ruhe und jchlief ein. Halb im Schlafe hörte er, daß ihn jemand wedte, Tſchichatſchew ſtand vor ihm und flüfterte ihm zu: „Stehen Sie auf, fie find ge— fommen!”

Der Zeuge fprang auf und fleidete fich haftig an.

Tſchichatſchev war dem Angeklagten N. inzwifchen entgegengetreten und hatte die Zwiſchenthür hinter fich zugemacht. Einer nur minutenlangen bitigen Unterredung folgte heftiger Lärm. Frau N. fagte: „Ich bin gefommen, Antwort auf meinen Brief zu holen.“

Tſchichatſchew übergab ihr die tags vorher fchriftlich

186 Die Ermordung

aufgejette Antwort, mit den Worten: ‚Da ift fie! Sie mögen daraus erjehen, was ich Ihnen mitzutheilen habe; ich laſſe mich auf Unterhandlungen nicht ein und erfuche Sie, mich in Ruhe zu laffen. Sollten Sie indeß noch vollftändigere Erflärungen wünfchen, jo läßt fich darüber reden.”

Der Angeklagte nahm den Brief und murmelte etwas von einem Duell.

Tſchichatſchew erwiderte: „Nach Ihrem Verfahren gegen mich kann ich die Herausforderung nicht annehmen; Sie haben jedes Recht dazu verwirkt!‘‘

Hierauf großer Lärm. ALS der Oberft eintrat, fand er die beiden Männer im Fauſtkampf; die Schläge fielen hageldiht. Der Oberſt riß den Angeklagten weg von Tſchichatſchew, fehleppte ihn auf einen Divan und hielt ihn dort feſt. Der Stabsfapitän hatte ein Meffer in der Hand. Es krachte ein Schuß. Tſchichatſchew rief: „Jetzt kann man fie ver Polizei übergeben.” Gleich darauf jagte er: „Ich bin verwundet!” Frau N., die gejchoffen hatte, wurde von einem Hausfnecht weggeführl. In biefem Augenblide fiel ein zweiter Schuß. Frau N. wurde gewaltſam entfernt und vie Treppe hinunter- befördert. Den Stabsfapitän befürderte der Oberſt in ein Vorzimmer und fchloß dafjelbe ab. Die Frau rief ihrem Wanne zu, „ob ihm etwas zugeftoßen fei“, ver Dberft entgegnete: „Hier ift nicht der Ort Zärtlichfeiten auszutaufchen. Ihr wahrer Feind ift Ihr Mann. Sie find fein blindes Werkzeug.” Plötzlich fagte jemand: „Tſchichatſchew iſt ſchwer verwundet!“ Darauf ant- wortete fie: „Hörft dur, Kolinka“ (Koſename für Nikolai), „ich babe ihn getödtet.” Ihr Mann, der dieſe Aeußerung durch die Thür vernommen hatte, eriwiderte: „So ver— giß nicht, was ich dir gejagt habe.“

bes Eollegienafjefiors Tſchichatſchew. 187

Bald darauf erjchtenen die Polizei und ber Unter— inchungsrichter.

Vom Präfidenten nach der Perfönlichkeit des ver- ftorbenen Tſchichatſchew befragt, erflärte ter Oberſt von Raaben: „Er war ein Menſch, deſſen Gutmüthigfeit und Meichherzigfeit zur Verzweiflung bringen konnten, ſchwach, nervös, leicht erregbar, wahr und reblich in Wort und That, human und menjchenfreundlih. Im Dienjte des Staates ftand er lediglich aus Patriotismus, nicht der Befoldung wegen. Er war ſehr wohlhabenn. Vor einigen Jahren hat er für 70 Kinder eine Dorfjchule bauen lafjen, für die er jährlich mit freigebiger Hand ipendete. Auch in feinem Zeftamente hat er der Schule noch 10000 Rubel vermadt. Bon feiner Frau, die ihın das Leben verbitterte, lebte er geſchieden. Trotzdem hatte er ihr, als fie fich trennten, eine unabhängige Stellung gefichert, und mehr als einmal fagte er, daß er fie wieber ins Haus nehmen würde, wenn fie durch irgendeinen Zufall von dem ihr jett naheftehenden Manne getrennt werben ſollte. Im Teſtament bat er ihr 5000 Rubel ausgejegt. Er war ein feltfamer, dem weiblichen Ge— ichlecht gegenüber zartfühlender Menſch.“

Der Zeuge Woronin (Hausfnecht) jagte aus: „Ich war in der Tſchichatſchew's Wohnung gegenüberliegenden Küche, als ich Lärm und Schreien hörte und darauf zueilte. Ich ſah Tſchichatſchev am Divan ftehen, ein Unbekannter hatte ihn an der Bruft gepadt. Sch jprang hinzu, um den Fremden von hinten zu faffen, fühlte aber jofort einen Schmerz in der Hand. Der Unbekannte hatte durch meine Finger hindurch Herrn Tſchichatſchew ein Mefjer in die Bruft geftoßen und mich dabei ge= fchnitten. Im felben Augenblic ſprang Oberjt von Raaben hinzu, griff den Fremden an umd rief mir zu, ich jolle

188 Die Ermordung

die Frau feithalten. Sie gab einen Schuß ab. Als ich die Frau faßte und fortzog, fiel ein zweiter Schuß. Nun warf ich fie nieder und jchleppte fie zur Treppe. Sie ſchrie und ſchimpfte Zichichatfchew einen Schurfen und Elenden. Dem Fremden rief fie fragend zu: „Kolja, wo haft du das Mefjer?“ Diefer antwortete: „Zum Fenſter Hinausgeworfen!” Als ich fagte, Herr Tichicha- tſchew ſei auf den Tod verwundet, rief der Frembe: ‚Run, Gott mit ihm!“

Zeuge Popow, der Neffe des Gemorbeten, ſprach fich im hohen Grade günftig aus über den ſympathiſchen Charakter feines Oheims, und beftätigte alles, was von Raaben ausgejagt hatte.

„Nach der Kataftrophe war der Angeflagte vollfommen gefaßt, rauchte eine Cigarrette und tranf Thee. Bei ber Ankunft der Polizei jchimpfte er auf Tſchichatſchew und nannte ihn einen Schurken, bat dann aber, man möge bemjelben fein Bedauern über das Gejchehene aus- drücken.“

Die Zeugin Frau Popow gab an: „Mein Bruder“ (der Ermordete) „hat mir ſein Abenteuer in Aſchewo ganz ſo mitgetheilt, wie es der Oberſt berichtete. Daß er einem Mädchen Gewalt angethan haben ſollte, glaube ich nicht; zu einer ſolchen That war er unfähig; er trat dem weiblichen Geſchlecht gegenüber immer ſchüchtern und zurückhaltend auf.“

Nach den Ausſagen Zereſchkewitſch's iſt der Angeklagte ein leicht reizbarer, rachſüchtiger Menſch, der auf alle Welt gewohnheitsmäßig ſchimpfte und mit dem ſchwer auszukommen war. Tſchichatſchew, ehrlich und gutmüthig, war ſicher nicht fähig, ein Mädchen zu vergewaltigen. Er weigerte ſich, der Frau N. in Aſchewo eine ſchriftliche Beſtätigung über fein Verhältniß zu ihr zu geben, nament—

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 189

lich darüber, daß er ſie ohne ihre Einwilligung gebraucht habe. Den falſchen Beſchuldigungen in Gegenwart ihres Mannes gegenüber ſchwieg er, weil er Mitleid mit ihrer Page hatte.

Die Zeugin N., die Schwägerin der Angeflagten, be- fundete: „Beim Austritt aus dem abeligen Fräulein ftift, in welchem das junge Mädchen feine Erziehung genoffen hatte, that fie oft jo naive, unfluge Fragen, wie ein Feines Kind. Ich hielt fie deshalb für unerfahren in allem, was Welt und Leben betrifft, und rieth ihr, beſonders vorfichtig im Umgang mit Männern zu fein, weil fie ſonſt leicht in Gefahr fommen könnte, ihren guten Ruf zu verlieren und fich unglüdlich zu machen. Sonſt war fie bejcheiden, heiter und ruhig.”

Perjonen aus der vornehmften Gefellichaft, wie die Fürſtin Chowansfy, General Stenbof Fermor und andere Gutsbefiger der Gegend, beftätigten die Charafteriftif, die Oberft von Raaben von dem verftorbenen Tſchichatſchew gegeben hatte. Allgemein hielt man dafür, daß er ven Damen gern den Hof machte.

Der Angeklagte wurde von den Zeugen übereinstimmend als ein ftreng rechtlicher, aber reizbarer und ftolzer Menſch bezeichnet, der oft jeharfe, bittere Kritif übte, ohne fich um die Meinung anderer viel zu fümmern. Ausprücde wie: „Idiot, Krethi und Plethi, Canaillen“, führte er beftändig im Munde. Er war deshalb im Gouvernement nicht beliebt, wohl aber wegen feiner energiichen Thätig- feit geachtet und vielfach gefürchtet.

Nach beendigtem Zeugenverhör nahm der Angeklagte das Wort und fprach fih, mitunter ftodend und immer jehr erregt, über die Anklage in folgender Weife aus:

„Meine Frau war mir immer eine liebende, ergebene Gattin, die meine Anfichten theilte. Wir lebten glücklich,

190 Die Ermordung

ich hatte fein Geheimniß vor ihr und glaubte, daß auch fie keins vor mir habe. ALS fie mir beichtete, was fich zwijchen ihr und Tſchichatſchew vor unjerer Verheirathung zugetragen hatte, traf e8 mich wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Ich Hatte fie mir niemals anders als keuſch und unentweiht vorjtellen können. Nach ihrer Natur- anlage und ihren Wejen war ich davon überzeugt, dag fie in ihrer Unwiſſenheit und Unerfahrenheit ver Ver— führung unterlegen jein müſſe, daß fie nicht freiwillig, jondern gewaltjam entehrt worben fei. Sie theilte mir mit, Tſchichatſchew Habe das Haus ihrer Berwandten, bei denen fie wohnte, häufig bejucht, ihr den Hof gemacht und das traurige Verhältnig zu jeiner Frau erzählt. ALS das Unglüd gejchehen und fie jein Opfer geworden, habe er jein Berbrechen bereut, fie angefleht, das Geheimniß zu hüten, damit feine jchlimmen Folgen entjtünden, und gejagt: fie würde ihm dadurch beweifen, daß fie ihm verziehen habe.

„Ich war innerlich ganz ſchwankend. Einmal glaubte ich, daß ˖ alles fich jo verhielt, wie meine Frau angegeben hatte, dann zweifelte ich wieder. Ich wußte mich in meine Lage nicht zu finden. Um Gewißheit zu befommen, verlangte ich von meiner Frau, fie jolle in meiner Gegen- wart von ihrem DVerführer Tſchichatſchew ein Bekenntniß feiner Schuld fordern. Wir dachten, er würde dazu bereit fein. Ich hatte mir vorgenommen, ihn unter irgendeinem Vorwande zu einem Duell zu zwingen und die Schande zu rächen. Wir wählten Ajchewo und hatten dort die befannte Zufammenkunft mit Tſchichatſchew. Als meine Frau ihm vorhielt, was er an ihr verbrochen hatte, jagte er fein Wort. Er ftimmte nicht zu, wiberjprach aber auch nicht, nur als das Wort «Gewaltthätigfeit» fiel, äußerte er, daß man fein Vergehen fein gewaltthätiges

bes Kollegienafjeilors Tſchichatſchew. 191

nennen könne. Meine Frau erinnerte ihn an fein DVer- jprechen, ihr fein Leben opfern zu wollen.

„Ich konnte nicht fchweigen und rief ihm beleibigenve Worte zu, weil mich der Zorn übermannte. Ob ein Dolh und eine Pijtole auf dem Zijche gelegen haben, weiß ich nicht.

„Zereſchkewitſch unterbrach uns und wir fonnten die Unterredung nicht beendigen.

„Als Tſchichatſchew troß feines Verſprechens nicht zu uns auf unſer Gut kam, hatte ich feine Ruhe mehr. Wir fuhren wieder nach Ajchenow. Ich wollte ihn zu einer Erklärung zwingen und ihn dann fordern.

„Mein Plan mislang, er war entflohen. Ich fchidte ihm durch Zerejchkewitich meine Forderung jchriftlich zu. Es wurde mir aber erwibert, nach dem PVorgange in Ajchewo könne die Forderung nicht angenommen werben. Ich glaubte, die Ablehnung erfolge wegen ver Be— feivigungen, die ich ausgeftoßen Hatte, und entgegnete: es fei das ein Grund mehr zum Duell. Die Art und Weife, wie der Auftritt in der Dorffneipe von Tſchichatſchew weiter erzählt worden war, hatte mich geärgert. Ich reijte, um mich zu zerjtreuen, ind Ausland. Aber ich konnte mich nicht beruhigen. Ich war aufgeregt und fchlafloe. Ich fchenkte meiner Frau zwar Glauben, ich wußte, daß fie mich lieb hatte, aber ich mochte fein, wo ich wollte, fogar in der wiener Ausftellung vergaß ich nicht, ie unglüclich ich geworden war. Immer wieber tauchten Zweifel in meiner Seele auf. Im diefer Verfaſſung jehrieb ih den Brief an Tſchichatſchew, deſſen Concept fich bei ven Acten befindet.

„Als ich nach ſechs Monaten zurüdfehrte, hörte ich, in der Gejellfchaft würde über uns geiprochen, die Sache jet mit allen Detaild befannt. Ich verlor meine Fafjung

192 Die Ermordung

gänzlich, ich Konnte mich nicht mehr mäßigen, und meine arme Frau litt unter ‚meiner Stimmung und meiner Behandlung. Ich war mehr denn je entfchlofien, ven Räuber der Ehre meiner Fran zu einem Duell zu zwingen, vorher aber wollte ich feine Vertheidigung hören und Gewißheit darüber haben, daß meine Frau völlig un- ichuldig gewejen und von ihm mit Gewalt genöthigt worden jet, fich ihm hinzugeben. Ich kannte meine Heftigfeit und gab meiner Frau deshalb den Revolver, als wir am 26. November 1873 in Tſchichatſchew's Wohnung ein- traten. Ich dachte nicht daran, ihn zu ermorden. Meine Frau forderte feine Erflärung. Er gab ihr einen Brief und ſagte, er fei zu einer weitern Beſprechung bereit, wenn wir benjelben gelejen hätten. Ich eriwiberte, ich wollte den Brief fofort lefen. Er remonjtrirte dagegen und verabjchiedete und. Ich war froh, ihn endlich geſtellt zu haben, und rief ihm, als er uns in barſchem Zone aus feiner Wohnung wies, meine Herausforderung zu. Er antwortete, nach den Vorgängen in Ajchewo nehme er ein Duell nicht an, und weigerte fich ganz entſchieden, obgleich ich ihm bemerkflich machte, jene Vorgänge hinderten ben Zweikampf nicht. Nun ohrfeigte ich ihn, ſodaß er gegen die Thür flog. Raſch erhob er fich, fiel über mich her und fehrie: «Der Hausfnecht joll Sie binden» Im biefem Moment trat ein Offizier aus dem Nebenzimmer, der fich mit Zichichatfchem auf mich warf. Es entitand - eine Schlägerei. Ich vertheidigte mich, jo gut ich Tonnte, wurde aber auf einen Divan nievergeworfen. Das Mefjer hatte ich bis dahin noch nicht in der Hand, nun aber gelang e8 mir, es aus der Taſche zu ziehen. Ich ſtieß blind zu auf Tſchichatſchew, der mit beiden Fäuften auf mich fchlug. Ich weiß nicht, ob und wohin ich ihn ge- ftochen habe. Ich hörte zwei Schüffe fallen. Meine Frau

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 193

wurde abgeführt und ich befand mich plötzlich allein im Vorzimmer. Ich wußte gar nicht, was eigentlich ge— ſchehen war, und zog den Brief Tſchichatſchew's hervor, um ihn zu leſen. Da hörte ich meine Frau mir zu— rufen, daß Tſchichatſchew gefährlich verwundet ſei. Ich erſchrak, warf das Meſſer zum Fenſter hinaus und ließ Tſchichatſchew ſagen: Ich hätte ihn nicht abſichtlich ge— ſtochen, es thäte mir leid. Ich bäte um Verzeihung. Ich bin ſchuldig an der Verwundung, aber ich leugne, daß ich ihn habe ermorden wollen und daß ich abſichtlich gehandelt habe.“

Die Angeklagte Frau N. erzählte vor Gericht, daß ſie ihrem Manne ihren Fehltritt bekannt habe, weil ſie fürchtete, die Sache könnte ihm durch Tſchichatſchew's Frau hinterbracht werden und weil ihr das Geheimniß ihrem Manne gegenüber ſchwer auf dem Gewiſſen gelegen habe. Ob ihr Mann am 26. November ein Meſſer bei ſich gehabt habe, wiſſe ſie nicht, ſie habe geglaubt, daß Tſchichatſchew durch die von ihr abgegebenen Schüſſe ver- wundet worden fei. Geſchoſſen habe fie ganz ohne Ueber- fegung, weil man ihren Mann gejchlagen habe.

Nach dem Gutachten von zwei Sachverftändigen, die in der Verhandlung verlefen wurben, hat Tſchichatſchew ſechs Stichwunden erhalten, die von einem jeharfen Mefjer herrührten. Zwei davon waren zolltief in die Bruſt eingedrungen, die eine links von oben nach unten, bie andere rechts geradeaus. Beide Wunden waren unbedingt tödlich.

Weiter wurben folgende Briefe verlejen:

1) Ein Brief des Angeklagten aus Berlin an Tſchicha— tſchew:

„Nichts iſt empörender, als eine in jeder Hinſicht verächtliche und jämmerliche Perſönlichkeit eg: zu

XXIII.

194 Die Ermordung

jehen, die ihre eigene Erbärmlichkeit nicht anerfennt. In Ihnen ift nichts Ganzes, alles kläglich Kein. Sie find ftoddumm, fade und geldgierig. Nur eine einzige Eigen- ichaft befiten Sie nicht im verfleinerten Maßftabe, die des Feiglings! Je mehr ich alle Phaſen Ihres Lebens durchdenke, je effer und widerlicher wird mir Ihre Per- fönlichkeit. Auch nicht ein einziger mildernder Umjtand! Sie find ein erbärmlicher Menſch! Nur der Aoler kann einem leibthun, dem man bie Flügel bejchnitten hat, nicht aber ein Patron wie Sie!

„Verſtand befigen Sie nicht, Finnen ihn aljo auch nicht verlieren. Ich verfolgte Sie, um Sie zum Zwei— fampf zu nöthigen, und mit Ihnen zu verfahren, wie man mit einem Teigling verfährt, wenn er fich weigert, d. b. ihn mit dem Stod zu züchtigen. Meine Abficht haben Sie bei Ihrem Freunde verbreht, als ob ich Sie ermorden wollte. Wie haben Sie nur die free Stirn gehabt, jo etwas vorausjegen zu können?

„Man verlangte von Ihnen eine Auseinanderſetzung, Sie aber hielten es für ficherer davonzulaufen.“

2) Der Brief der Angeklagten an Tſchichatſchew, von deſſen Wiedergabe der Länge wegen abgejehen werben muß. Er beiteht aus Schmähungen und Schimpfreben, in denen fich die ercentrifche Schreiberin ergeht. ‘Der Inhalt ergibt fich übrigens aus dem dritten Briefe, Tſchichatſchew's Antwort darauf:

„Die erjten Zeilen Ihres Briefes enthalten jchon eine, durch nichts begründete Forderung. Sie jehreiben: Ich hätte gewagt, Sie aufs fchmählichite zu verleumben durch die Behauptung, ich habe Ihrem Freunde gejagt, Sie hätten mich entehrt u. ſ. w.

„Der gibt Ihnen vor allem ein Recht, in jo be fehlendem Zone zu reden? Haben Sie denn vergefjen,

bes Eollegienaffeffors Tſchichatſchew. 195

daß ich bei den Scenen nach meiner Abreiſe aus Aſchewo nicht gegenwärtig ſein konnte?

„Was ich nicht weiß, kann ich weder beſtätigen noch leugnen, kann auch Zereſchkewitſch, einem ſelbſtändigen, ehrenhaften Manne, den ich nicht fähig halte Verleum— dungen zu verbreiten und Thatſachen zu verdrehen, weder etwas verbieten noch befehlen. Ihre Schmähungen und Schimpfreden laſſen an Schärfe nichts zu wünſchen. Das iſt leicht, beſonders wenn noch Einflüſterungen mithelfen. Sie beweiſen indeß gar nichts, beleidigen nicht, beſchmuzen nur den, der ſie ausſtößt und zu ſolch niedrigen Mitteln greift. Ihr Brief enthält die widerſprechendſten Be— hauptungen, die eigentlich unbeantwortet bleiben ſollten. Beantworte ich ſie dennoch, ſo geſchieht dies aus dem Grunde, weil mein paſſives Verhalten Ihnen gegenüber ſtatt begriffen zu werden, falſch gedeutet und zu neuen Schimpfreden benutzt wird. Sie ſchreiben: «Sie ſind ein ehrloſer Feigling, der ein unglückliches, vor ihrem Manne und der Geſellſchaft verleumdetes Weib im Stich lift.» Die Worte: «ehrlofer Feigling» paſſen nicht auf mid. Bei Ihrem erjten Beſuch in Ajchewo und Ihrer rechtfertigenden Erklärung gegenüber habe ich mich fchweigend verhalten, weil ich jo bejtürzt war, daß ich feine Worte fand, auch Lieber jchwieg und alles auf mich nahm, um Sie nicht bloßzuftellen. Und dies Verhalten nennen Sie feig, ehrlos! Wenn ich auch Feine Friegerijchen Neigungen verjpüre, fo muß ich es doch ausfprechen, daß mich Ihr Vorgehen ftugig machte, mehr noch als das Unerwartete der Scene.

„Ich wollte Ihren Kummer nicht vergrößern und ver- mieb lieber jegliche Erklärung, weil fie nur ungünftig für Sie lauten konnte. Es war mir peinlich, daß das von mir jorgfältig gehütete Geheimniß an den Tag ger

13*

196 Die Ermordung

fommen war, barum ließ ich auch die Schimpfreden Ihres Herrn Gemahls ruhig über mich ergehen. Sie fünnen nicht leugnen, daß ich, nachdem ich alles ohne Erwiderung angehört hatte, frug, was man weiter von mir wolle? Ich glaubte eine würdige Antwort zu erhalten, jtatt Dinge zu hören, die mir nie in ben Sinn gefommen waren. |

„Ich jollte mir felbft das Leben nehmen!

„Wie jchwer mir auch ums Herz war, konnte ich doch nicht umhin, diefe Forderung lächerlich zu finden.

„Da drohte mir Ihr Gemahl mit Mord!

„Leugnen Sie nicht, ich verdrehe dieſe Thatjache nicht. Wie fol man den Menfchen nennen, der, wenn er ich beleidigt fühlt, die Gefahr von fich ſelbſt abwenden will und e8 feiner Frau überläßt dem Gegner eine fo eigen- thümliche Forderung zu ftellen ?

„Sie werben fich erinnern, daß mir zuerjt nur fünf Minuten, dann aber bi8 5 Uhr nachmittags Zeit zur Entſcheidung gegeben wurde, unter der Bedingung, daß ih die Drohungen gegen mich geheimhielte.

„So ſchlau dies ausgedacht war, jo egoiftifh war es auch.

„ach dem, was vorgegangen war, konnte da noch von einer wiederholten Zuſammenkunft die Rebe fein?

„Ich hätte verrüct fein müffen, wäre ich darauf ein- gegangen.

„SH ſah in Ihnen nur noch meine Feinde, nichts- beftoweniger bewahrte ih das Geheimniß. Ich be= ichleunigte meine Abreife, konnte fie jedoch erſt auf den 11. Auguft feitjegen.

„Was dann vorging, übertraf das Menjchenmögliche. Ihre Verfolgung meiner Berfon wurde aller Welt be- fannt, fie bildete das Gefpräch des ganzen Gouvernements,

des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 197

„Vieles wurde hinzugeſetzt, noch mehr entſtellt. So blieb mir nichts übrig, als die Wahrheit zu berichten, was ich ſo discret als möglich gethan habe.

„Die ganze Schwere des Ereigniſſes fällt auf Sie, in noch höherm Grade auf Ihren Mann, der Sie eine ſo unwürdige Rolle ſpielen ließ.

„Bevor ich ſchließe, kann ich die Stelle Ihres Briefes nicht mit Stillſchweigen übergehen, in welcher Sie den Wunſch ausſprechen, ich möge den Wahnſinnigen ſpielen!

„Die Rolle käme denen eher zu, welche die Sache an die große Glocke gehängt haben, nicht mir!

„Auch die Auslaſſung Ihres Briefes ſoll nicht üßer- gangen werden: «Sie find ein gemeiner Dieb, ber fich in ein Haus gejchlihen und das Mitleid eines uner- fahrenen jungen Mädchens misbraucht hat, um fein Theuerſtes zu ftehlen.»

„Wie unwahr! Verkehrte ich doch in dem Haufe, bevor ich von dem Dafein des unerfahrenen Mädchens wußte. Warum Sie mich aber Dieb nennen, verftehe ih nicht. Sch Habe nie etwas genommen, was ınir nicht gutwillig gegeben wurde.

„Bor Ihrem Manne wollen Sie nie etwas verheim- licht haben, und verjchwiegen ihm doch jahrelang, was Ihnen ſchaden konnte. Eine ftreng moralifche Frau hätte den Manne die Bekenntniſſe vor ihrer Verheirathung gemacht. Damals wäre das ehrlich gewejen.

„Ihre Begriffe fcheinen verwirrt zu fein. Was Gie unter Verleumdung und Wahrheit verftehen, begreift fein Menih. Klar ift nur, daß Sie in fünftlich erregter Wuth auf Befehl Ihres Heren nach fo vielen Jahren großes Unheil angerichtet haben. Gegen mich aber haben Sie gewijjenlo® gehandelt, indem Sie die ganze Schuld auf mich jchoben. Dadurch wurden Sie zu meiner Feindin.

198 Die Ermordung

Trotzdem fchonte ic Sie, um nicht als Ankläger gegen Sie aufzutreten, und Sie nennen mich dafür einen Feigling!

„In Ihrer mündlichen Bejchuldigung konnte ich die Beeinfluffung Ihres Mannes vermuthen; die DVerant- wortung für Ihren Brief fällt auf Ste allein und raubt Ihrer Lage jede Theilnahme. Bon dieſem Augenblid ar hört jede Verpflichtung meinerſeits Ihnen gegenüber auf, und ich muß auf Sie als meine jchlimmite Feindin bliden. Ihnen auszuweichen, habe ich Feine Urfache, ebenjo wenig bin ich verpflichtet, Site aufzufuchen. Gegen jedes etwaige Attentat Ihrerſeits habe ich meine Maßregeln getroffen!

Hierauf wurden Stellen aus Zereſchkewitſch's Briefen an Tſchichatſchew verlefen, aus benen hervorgeht, daß Zereſchkewitſch ihm die Gerüchte mittheilt, die in ber Gegend laut geworben find. Die Klatjcherei erzählt von Dolch und Pijtole, von einem Glaſe mit Gift und einem Strid zum Hängen, von den Reifen der Angeflagten als Derfolger und daß der Stabsfapitän zum 26. November nach Petersburg geladen fei als Zeuge.

Weiter wurden Stellen verlefen aus Frau N.'s Tager buch. Da heißt es: „Ach wie oft werfe ich mir vor, daß mir das unheilvolle Geſtändniß entjchlüpfte! Warum mußte ich es ihm geftehen! Es wäre beſſer gewejen, ich hätte e8 mit ins Grab genommen! Ich hätte ihn und mich nicht jo gequält. Was kann ich dafür, wenn ich nicht begreife, worüber er fich nur jo grämt? Alles hätte ja im ftillen und befjer abgemacht werben fünnen.

„3b ſchwur ihm, alles zu erfüllen, was er verlangt begriff ich aber, was ich ſchwur?

„Ich muß zu Grunde gehen; das ift unvermeidlich, ich bin auch bereit dazu, wenn ich ihn nur wieder glüd- lich ſehe.

„Daß ihm aber das Glüd bringen wird, bezweifle ich.

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„zraurig ift, daß er dadurch, wie er mich behandelt, es dahin gebracht hat, daß ich ihn fürchte, während ich ſechs Jahre glücklich mit ihm lebte, er zärtlich gegen mich war und mich [iebte.

„Ich fürchte ihn wirklich zumeilen, meide ihn, fuche ihm nicht unter die Augen zu kommen. Was alles bat mir mein Leichtfinn zugezogen!

„Heute bin ich den ganzen Tag allein und athme frei auf. Sch grüble bejtändig darüber, wie jchwer e8 doch jein würbe, von ihm getrennt zu leben.

„Ad, ich habe mein und fein Glück vernichtet!

„Welch eine edle, tieffühlende Seele er befitt! Wie viel Gutes habe ich von ihm genofjen! Gott ift mir gnädig gewejen, als er mir einen Mann wie biejen jandte! Vielleicht erbarmt ſich Gott meiner und rettet mid! Er allein kann mich noch retten.

„Der heutige Tag verging wie der geftrige. Ich hatte ihn nicht erwartet, faß mit meinem Mädchen allein, wollte mich fchlafen legen, hatte weder Glode noch Hundegebell vernommen, da hörte ich plößlich laut ſchreien. Heftig erihroden lege ich meine Arbeit weg, jtatt die Thür öffnen zu laſſen. Er fchlug ftarf dagegen, als ob er fie einbrechen wollte. Mean eilte, ohne Licht, zum Deffnen, was eine Kleine Weile dauerte. Er jchimpfte laut, ich war auch dabei und befam mein Theil ab. Früher be- grüßte er mich, namentlich in Gegenwart Fremder, nie anders als zärtlid. Jetzt bebe ich vor Angit, ftatt mich zu freuen und ihn zu begrüßen. _

„In jener Nacht fchloß ich Fein Auge, ging hinans auf die Straße und legte mich in den Schnee; brei Stunden blieb ich Liegen, ich wollte mich erfälten. Als ih wieder hineinkam, fagte er, er fei zum 27. nad Petersburg geladen, redete weiter mit mir und wir ver-

200 Die Ermordung

ſöhnten und. Am 14. November verlangte er, ich jollte einen Brief jchreiben; ich that es, er las ihn durch und verbejjerte ihn.“

Die Beweiserhebung war gejchloffen, der Thatbeſtand klar gejtellt. Der Oberprocurator am Caffationshofe Des Senates zu Petersburg, A. F. Koni, der höchſte Beamte der Staatsanwaltichaft in Rußland, erhob fih und be- leuchtete das begangene Verbrechen in einer interefjanten Rede, die im wejentlichen fo lautete:

Meine Herren Richter und Gefchworenen!

Durch Geftändniß und Zeugenausfagen wiljen Sie, daß am 26. November 1873 in ver Sachäsjewskoiſtraße ein Mord an dem emeritirten Prievensrichter Tſchichatſchew verübt worden iſt. Der Fall erregte in Petersburg und in der Gegend, in welcher vie Angeklagten und der Er- mordete gelebt hatten, großes Aufjehen.

Die verjchiedenartigften Auslegungen, die abjurdeften und Fühnften Behauptungen und Vermuthungen wurden ausgeiprochen. Die Einen fehilderten die Angeklagten in den fchwärzeften Farben, die andern dagegen ſchmähten ben verjtorbenen Tſchichatſchew als einen Menjchen, ver feines Mitleivs würdig fei.

Diefe Gerüchte, welche nur auf leerem Gejchwät be- ruhten, müffen heute ein Ende nehmen, denn bie gericht- liche Unterfuchung und die Verhandlung haben die Wahr- heit kundgemacht. Wir werden bie Bedeutung und ben Charakter der That auseinanderzufegen haben, Damit ein unparteiifche8 Urtheil gefällt werben kann. Es wirb fich zeigen, ob man ungeftraft über ein fremdes Leben verfügen darf unter dem Einfluffe des Zornes und des

des Collegienaſſeſſors Tſchich atſchew. 201

Haſſes, ob jedermann Richter in eigener Sache ſein und den Urtheilsſpruch vollziehen darf, ven er in ſeiner Leiden- ihaft jelbjt gefunden hat.

Die Anklage bejchulvigt den Stabsfapitän N., im Jähzorn und in Gemüthsaufregung den Collegienaffefjor Tſchichatſchew getödtet, und die Frau N., im Jähzorn und Gemüthsanfregung auf das Leben des genannten Tichicha- tſchew ein Attentat begangen zu haben.

Das Gefeß unterjcheivet ſcharf zwiichen dieſen Ver— brechen und dem Morde, der vorher geplant, vorbereitet und dann Faltblütig begangen worden ift. Die Voraus— jegungen dieſer Anklage find Jähzorn und Gemüths- aufregung und ber aus ihnen plößlich heruorgegangene Entichluß, den Gegner zu tödten, welcher zur Ausführung gelangt ift.

Betrachten wir zunächſt die Perjönlichkeit des An—⸗ geflagten N.

Er war Vorfitender der Semſtwa (Provinzial- inftitution), ein energijcher, thätiger Mann. Er genof das Vertrauen feiner Mitbürger und wurde beshalb für feinen verantwortlichen Boten gewählt. An jeiner Ehr- Vichfeit ift nie gezweifelt worven. Chrlichleit und Thätig- feit allein aber reichen noch nicht aus, um fich die Sym⸗ pathie der Menfchen zu erwerben.

Der Angeklagte ftand allein im reife. Es bildeten fih Parteien gegen ihn, mit denen er zu fämpfen hatte. Seine fcharfe Zunge, fein fchroffes, abjprechendes Weſen machten ihn unbeliebt. Er felbft hat fich „ſchneidig“ genannt. Er geräth zu oft und zu rafch in Zorn und fpricht feine Meinung zu rücjichtslos aus.

Die bei den Acten befindlichen Briefe bejtätigen bie bier gejchilverten Charakterzuge. Für ihn ift der ganze Kreis voll „Idioten“ oder „Lumpengeſindel“. Er allein

202 Die Ermordung

ift der Fuge Mann, er fteht geiftig höher als alle andern, er weiß alles beifer.

Es ift begreiflich, das er feine Zuneigung im Kreije erweckte. Man bulvete ihn eben als ein nothwendiges Uebel. Diefer Mann beirathete ein junges Mäbchen, welches eben erft aus der PBenfion gefommen war. Die Zeugen fchilvern fie als fehr naiv. Nach ihrer Ver— heirathung ftand fie vollfommen unter dem Einfluß ihres Gatten, der fie als die ergebenfte und treuejte Lebens— efährtin bezeichnet. Sie war ftetS feiner Meinung. Selbſtändige Gedanken, eigene Entjchlüffe hatte fie nicht. Ihre Briefe und ihr Tagebuch beweifen, daß fie zu ben nicht jeltenen Frauen gehört, die zu weinen, zu leiden und fich zu grämen verstehen, bie bereuen, was fie gefehlt haben, aber nicht die Kraft befiten zu handeln und in einer jchwierigen Lage fich zu helfen. Sie bepürfen eines Haltes. Wie ftarf ihr Mann auf fie einwirfte, erfennt nian daraus, daß fogar ihr Briefſtil dem feinigen gleicht, daß fie diefelben Ausdrücke gebraucht wie er.

Der Angeklagte hat wiederholt erklärt, er habe fich mit Tſchichatſchew „ehrlich und ftandesgemäß‘ auseinander- jegen wollen. In den Briefen ver Frau kommen dieſelben, in ihrem Munde jeltfam Elingenden Worte vor. Auch) in der Verhandlung hat fie gejagt, fie habe Tſchichatſchew bemeijen wollen, daß fie fich ſtets „anſtändig“ und „ehr- ih” benommen habe. Leider hat fie von ihrem Manne auch das Schimpfen gelernt.

Ein Mann wie der Angeklagte hätte überhaupt fein jelbftändiges Weib neben fich geduldet, nur eine -weiche, paſſive Frau konnte mit ihm eine glüdliche Ehe führen. In das gute und friedliche Familienleben fehlichen fich nach den erften ſechs Jahren Mistrauen und Zweifel ein. Al Frau N. noch ein junges Mädchen war, bielt

bes Eollegienafjeffors Tſchichatſchew. 203

fie ich bei ihren Verwandten auf. Dort traf fie mit Tſchichatſchew zufammen. Er lebte getrennt von feiner Frau und trauerte darüber, daß er jo allein ſtand.

Es iſt begreiflich, daß feine Lage die Theilnahme des Mädchens erwedte und daß diefe Theilnahme ihm wohl that. Er fuchte Troft und Ruhe bei ihr, es entwickelte ſich erſt Freundfchaft, dann Liebe und leider fam es zu einem nur zu vertrauten Verhältniß zwifchen ihnen. Wir brauchen den Schleier nicht weiter zu lüften, aber hervor- heben müſſen wir, daß von VBerführung oder gar von Gewalt nicht die Rebe fein kann. Die Umftände hatten die beiden Menfchen zuſammengeführt. Er jehnte fich nach .einer freundlichen, liebenden, weiblichen Seele, und fie hatte den lebhaften Wunſch, ihm fein Leid vergejjen zu machen. War eine Täuſchung vorhanden, jo bejtand fie nur darin, daß beide ein bauerndes, tiefes Gefühl nicht von einer augenblidlichen leivenfchaftlichen Erregung unterjchieden.

Die ganze Situation und der Verlauf der Sache liefern den Beweis, daß Frau N. den Umgang mit Tſchichatſchew freiwillig angefnüpft hat. Sie war als Saft bei ihren Verwandten. Dieje hatten fie ermahnt, ihren Ruf zu fchonen, und fie gewarnt vor allzu freiem Verkehr mit Männern. Hätte Zichichatichew ihre Un- erfahrenheit gemisbraucht, ihr Vertrauen getäufcht, oder gar ihr Gewalt angethan, fo würde fie weinenb bei ihren Verwandten Schu und Beiftand gefucht haben. Statt deſſen hat fie nicht nur nicht8 gejagt, jondern das Verhältniß fortgefett, bis fie das Haus verließ und ber Stabsfapitän N. um ihre Hand bat.

Tſchichatſchew war ein Verehrer hübjcher Frauen, aber ſchwach und ohne Energie. Er trat jchüchtern und zart auf und beſaß gewiß nicht die Willenskraft, feine Wünſche

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mit Gewalt burchzujegen. Es iſt nicht denkbar, daß er in ihr Schlafzimmer eingedrungen fein und fie genöthigt haben follte, ihm zu Willen zu fein. Beide hatten ben moralifchen Halt verloren, beide waren in Leidenjch aft zueinander entbrannt und wiberftanden ihr nicht. Beide find gleich ſchuldig geweſen. Um jedem Verdachte vor— zubeugen, wohnte Tſchichatſchew der Hochzeit der An geflagten als Trauzeuge bei.

Der Angellagte N. hatte feinen Verdacht gegen feine junge Frau, die er liebte, der er vertraute. Wie er und jagte, beichlich ihn nur felten eine Ahnung, daß nicht alles war, wie es fein follte, doch ſchlug er fich ſolche Gedanken aus dem Sinn. Seine Frau aber konnte bie alten böfen Erinnerungen, den Schandfled in ihrem Leben nicht vergeffen. Lange Zeit fehlte ihr der Muth, ihrem Manne ein Geſtändniß abzulegen. Scham und Furcht banden ihre Zunge. Gewiß, e8 war umrecht, aber ver- zeihlih. AS fie reifer wurde, als ihre Anhänglichkeit und Liebe zu ihrem Manne wuchs, blickte fie reue- und fummervoll auf ihre Verirrung zurüd. Sie quälte fich mit dem Vorwurfe, ihren Gatten bintergangen zu haben. Ihr Gewiſſen ließ ihr feine Ruhe Ihr Mann Hatte viele Feinde, fie war fein einziger Troft, und nım mußte fie fih immer wieder jagen, daß fie feines Vertrauens unwürdig, daß fie nicht aufrichtig gegen ihn gewejen war.

Ih glaube, was fie uns in diefer Beziehung gejagt hat. Es wurde ihr immer fchwerer, das Geheimniß in fich zu verfchließen, und e8 bedurfte nur noch eines äußern Anftoßes, um fie dahin zu bringen, daß fie ihr Herz ausichüttete. Sie hoffte wol auch, ihr Mann würde ihr den jugendlichen Fehltritt verzeihen und feine Liebe nicht entziehen. Ihre Lage wurde noch unerträglicher, als fie befürchten mußte, daß ihre Schuld von dritten Perjonen

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 205

offenbart werden könnte. Sie haben gehört, daß Frau Tſchichatſchew inftinetmäßig das Verhältniß ihres Mannes zu dem jungen Mädchen errathen hatte und daß fie davon zu Befannten ſprach. Die Gefahr der Entvedung wurde brohender. Wie leicht fonnte dem Stabsfapitän N. hinter- bracht werben, daß feine Frau vor ihrer Verhetrathung ſich mit Tſchichatſchew vergangen Hatte.

Der Menſch, meine Herren Gejchiworenen, ijt aus Widerfprüchen zufammengefegt. Hochherzige edle Gefühle find oft gemifcht mit Kleinlichen Empfindungen. Falſche Scham und der Wunfch, fich vor Gefahr zu ſchützen, fich als rein und unjchuldig darzuftellen, find nicht felten bie Urfache, daß man nicht die volle Wahrheit jagt. Schwache Menſchen befennen zwar ihre Schuld, aber fie machen für fi Milderungsgründe geltend. So gefhah es auch bier. Frau N. berichtete ihrem Manne, was gejchehen war, aber fie beſaß nicht ven Muth, ihre Beichte gewifjen- haft und ehrlich abzulegen.

Nach ihrer Erzählung war fie das Opfer von Tſchicha— tichew’8 Verführungskunſt geworden, er hatte Gewalt gegen fie angewendet. Unbedacht entfeffelte fie hierdurch in der Seele des Angeklagten einen Sturm, den fie nicht wieder zu bejänftigen vermodte.e Man fann fi vor- jtellen, was ber ftolze, ehrgeizige Mann litt, als er dieſes Geſtändniß anhören mußte. Sein ganzes Leben erjchien ihm vergiftet. In jede Erinnerung an das Glüd feiner Ehe, an die Liebe und Zärtlichkeit feiner Frau, drängte fich der bittere Gevanfe, daß alles Betrug und Lüge jet, daß vor ihm ein anderer die gleiche Gunft genoffen habe. Es entwidelte fi in ihm ein furchtbarer Haß gegen Tichichatichew. Das Vertrauen zu feiner Frau ſchwand, denn fie hatte ihm ihre Schande jahrelang verheimlicht. Er hatte die Achtung vor ihr verloren und kam mol

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auch auf den Gedanken, daß das Geftänbniß nicht voll- jtändig jein möchte. Ihre Angabe, daß fie gewaltthätig entehrt worden fei, war doch recht unglaublich, die An- nahme, daß fie eine Zuneigung zu Tſchichatſchew gehabt habe, lag nahe, und auch ver Zweifel, ob die Beziehungen nach der Verheirathung etwa gar fortgejett worden jeien, nagte an feiner Seele. Tſchichatſchew und feine Frau waren ja öfter in Gejellfchaft zujammengetroffen, und weshalb hatte fie jo viele Jahre gejchwiegen und ihren Verführer gefhont? Der Angeklagte ließ fih immer wieder alle Detail8 ihres Verkehrs mit Tſchichatſchew er- zählen und mwühlte in ber offenen Wunde. Bald glaubte, bald bezweifelte er alles, was fie ihm erzählte. Heute hielt er feine Frau für das unfchuldige Opfer eines Schurken, morgen für eine Betrügerin, und forderte von ihr den Beweis, daß fie Tſchichatſchew haſſe, daß fie ihn verachte und niemals ein wärmeres Gefühl für ihn gehabt habe. Er glaubte, er würbe wieder ruhig werben, wenn Tſchichatſchew felbit geftände, daß er Gewalt habe an- wenden müfjen, um das zu erlangen, was ihm freiwillig nicht gewährt worden war. Er meint, wenn feine Frau ihren DVerführer aufforberte, fich ſelbſt das Leben zu nehmen, und er bieje Strafe für feine ehrlojfe Handlung an fich felbft vollzöge, wäre die Schande getilgt. So erflärt fi die Scene in Aſchewo. Wir brauchen fie nicht zu wiederholen; Sie wiffen was fich dort zu— getragen hat.

Die Ausfagen der Zeugen jtimmen barin überein, daß Tſchichatſchew aus der Fuhrmannsherberge, in welcher er die Unterredung mit ben Angeflagten gehabt hatte, bleich, verftört und fat Frank herausgefommen ift. Es unterliegt feinem Zweifel, daß man ihm die Zumuthung gemacht hat, er folle Hand an fich legen und feinem

des Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 207

Leben ein Ende machen. Die Angeklagten ſelbſt leugnen es nicht, behaupten aber, es ſei nur ein Scherz geweſen. Ich glaube nicht, daß die Angeklagten den Wunſch gehabt haben, Tſchichatſchew ſolle ſich vor ihren Augen tödten, denn ſie mußten ſich ſagen, daß dann jedermann geglaubt haben würde, ſie hätten ihn umgebracht. Ich lege keinen Werth darauf, daß ein Dolch und eine Piſtole dort gelegen haben. Ich bin der Anſicht, der Angeklagte wollte hören, wie die Aufforderung ſeiner Frau von Tſchichatſchew aufgenommen werden würde. Ging er darauf ein, ſo war nach der Anſicht des Angeklagten N. der Beweis erbracht, daß Tſchichatſchew ſchuldig und das von ihm entehrte Mädchen unſchuldig war. Hatte die letztere den Muth, dieſen Selbſtmord zu verlangen, ſo lag darin ein Zeugniß dafür, daß fie vergewaltigt worden war, daß fie ihren Verführer niemals geliebt hatte, daß fie ihn haßte um feiner That willen. Diefer Gedankengang be- berrichte ven Anflagten und erklärt, was er gethan bat. Die Liebe zu feiner Frau mußte ftarf erjchüttert fein, font hätte er fie nicht dazu gezwungen, in einem ſchmuzigen Einfehrhofe ihrem frühern Liebhaber alle Einzelheiten. ihres Verkehrs vorzuhalten, ihre eigene Schande haar: Hein zu erzählen, fie dem befchimpfenden Klatſch ver Nachbarn und des ganzen Kreifes preiszugeben, fie zu fohelten, zu quälen, zu fchlagen, nicht weil er fie für ſchuldig hielt, ſondern weil er an ihrer Unſchuld zweifelte, Der Angeklagte ijt ein felbjtfüchtiger, in feiner Ehre gefränkter, herzloſer Menih. Die Aufforderung an Tſchichatſchew, ſich jelbft zu tödten, war fein Scherz. Nicht umfonft hatte Frau N. nach dem Dictat ihres Mannes an ihn geichrieben: „Die Ehre einer Frau kann nur durch Blut rein gewafchen werben, folgen Sie dem Beiſpiele Ihres Bruders, der fich erjchoffen hat.”

208 Die Ermordung

Tſchichatſchev war ein lebensluftiger Menſch, ein eifriger Kunftfreund, er hatte ein fühlendes, warmes Herz. Die Zumuthung, ſich das Leben zu nehmen, war für ihn ein Schlag ins Gefiht. Im feiner Angft war es ihm unmöglich zu jchweigen, er mußte fich mit feinen Freunden berathen, und es war ganz natürlich, daß er fich vor jeinen Feinden zu jchügen fuchte. Es entjtanden über die Streitigfeiten zwijchen dem Stabslapitän N. und Tſchichatſchew die abenteuerlichiten Gerüchte, fie ver- breiteten fich weiter, als ber erjtere nach vierzehn Tagen zum zweiten mal in Ajchewo erjchien und feinem Gegner eine Herausforderung zuſchickte. Man kann fich vorftellen, daß die Stimmung des Angeklagten immer verbitterter wurde. Die vergebliche Fahrt nach Ajchewo, die Zurüd- weijung des Duells, der Gedanke, daß er die traurige, Tächerliche Rolle eines betrogenen Chemannes fpielte, brachten den ftolzen Mann faft um ven Verſtand. Meine Herren Geſchworenen, wahricheinlih ift das Leben auf dem Lande vielen von Ihnen bekannt. Es bejchäftigt fih nicht mit den gejellihaftlichen Fragen der Gegen— wart, welche die Bewohner in den großen Stäbten be= wegen. Das lebhaftefte Interefje erweckt der Eleinliche Klatih, der befannte Perfonen betrifft, beſonders jolche, bie eine hervorragende Rolle im Kreiſe fpielen. Der Stabsfapitän N., VBorfigender ver Semſtwa und Friebens- richter, war ein im Kreiſe wohlbefannter, vielfach ges bafter Mann. Nun wurde er ber Gegenftand des all- gemeinen Geſprächs, und wie wurde über ihn gerebet! Die einen freuten fich, daß fein Uebermuth geftraft worden war, bie andern fpotteten über den von der jungen Frau bintergangenen Gatten, noch andere zuckten mitleivig die Achjeln über feine vergeblichen Bemühungen, durch einen Zweilampf jeine Ehre wiederherzuftellen.

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 209

Das Leben wurde ihm zur Hölle, die Theilnahme, die man ihm ausſprach, brachte ihn faſt zur Verzweiflung. Sein Haß gegen Tſchichatſchew wuchs immer mehr. Er reiſte in das Ausland. Ich behaupte nicht, daß die Reiſe ben Zweck hatte, feinen Feind dort zu treffen, ein Bes weis dafür ift nicht erbracht. Es ift wol möglich, daß er aus der Atmojphäre, die fein Leben vergiftete, heraus— fommen wollte und daß er hoffte, burch die Reife das verlorene Gleichgewicht wiederzugewinnen und bie über ihn und feine Frau umlaufenden Gerüchte zum Schweigen zu bringen. Seine Hoffnung fchlug fehl. Sein häus— ficher Kummer begleitete ihn, Tag und Nacht wurde er von ben quälendften Gevanfen verfolgt und troß alles Nachvenfens fand er feinen Ausweg. Er jchrieb von - Berlin aus den Ihnen befannten Brief an Tſchichatſchew, der den vollgültigften Beweis dafür Tiefert, daß Haß und Race gegen ihn feine Seele ausfüllten. Als er heimfehrte, hieß e8, daß er eine erfolglofe Hetzjagd hinter Tſchichatſchew her gemacht habe. Wiederum brehten fich die Gejpräche in allen Gejelfichaften um den Stabsfapitän und feine Frau, wiederum gab es Leute, die den unglüd- fihen Mann auslachten und verhöhnten.

Die Angeklagten zogen fich gänzlich zurüd, fie ver- zichteten auf jeden Umgang und lebten einjam. Das Tagebuch der Frau N. gibt uns, Aufjchluß über das, was in ihrem Haufe vorgegangen iſt. Wir erfahren daraus, daß der Stabsfapitän fich feiner böfen Laune und feinem Zorne über jein Geſchick rückſichtslos überlief. Da niemand bei ihm war als jeine Frau, fo mußte ie darunter leiden. Er war in feinem Benehmen gegen fie jehr ungleichmäßig. Bald überhäufte er fie mit Xieb- fofungen, bald behandelte er fie mit großer Roheit. Immer wieder verhörte er fie über ihren Verkehr mit

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210 Die Ermordung

Tſchichatſchev und ließ fich erzählen, was er längit wußte. Mitunter ſprach er tagelang Fein Wort mit feiner Frau, oft belegte er fie mit Schimpfworten. Cr mishandelte das arme Weib, warf in der Wuth einen Stuhl nach ihr, fchlug fie mit der Fauſt und prügelte fie mit einem Pfeifenrohre. Sie vergießt viele Thränen und füllt ihr Tagebuch mit Klagen. Die Tage, an denen er verreift ift, find ihre Erholungszeit. Sie verläßt eines Nachts das Haus und wirft fich in den Schnee, um zu jterben.

Der Angeklagte denkt in feiner Einjamfeit darüber nah, wie er fih an Zichichatichem rächen fann. Die Briefe an ihn, auch die Briefe feiner Frau, die auf jeinen Befehl gejchrieben worden find, ſprechen deutlich den grimmigjten Haß aus. Da heißt es: „Wir wollen unjere Hände nicht mit Ihrem unfaubern Blute befudeln, Sondern Ihnen eine Tracht Prügel verabreichen.” „Wir jenden Ihnen eine Ohrfeige, in der Hoffnung, dieſelbe auch thatfächlich ertheilen zu können.“ ‚Wir rathen Ihnen, fih auf der Jagd zu erjchießen, wie Ihr Bruder es ge than hat.”

Der Stabsfapitän lechzt nach dem Blute feines Feinded. Er trägt ihm wiederholt ein Duell an. Tſchichatſchew fchlägt die Forderung ab, und nun fommt e8 zu der entſcheidenden Zufammenfunft am 26. Noven- ber 1873.

Sch Habe verfucht, den Geiftes- und Gemüthszuſtand des Angeklagten zu ſchildern, und dargethan, daß es nur einer geringen äußern Veranlafjung beburfte, um eine Erplofion herbeizuführen. Cie erfolgte, als Tſchichatſchew fih nochmals weigerte, im Zweilampfe ſich dem An— geflagten zu ftellen. Er wurde geohrfeigt, es fam zu einer Balgerei, die und von den Zeugen lebendig ge

bes Collegienafjeijors Tſchichatſchew. 211

ſchildert worden iſt. Der Angeklagte brachte feinem Feinde Zichichatihem mit einem Meffer mehrere Wunven bei, an denen er gejtorben if. Hat er die Abficht gehabt, ihn zu ermorden?

Die Waffe, mit welcher das Verbrechen verübt wurde, war ein jcharfgejchliffenes, ziemlich jchweres Mefjer. Es ließ ſich wegen ver elaftifchen Weder nicht Leicht öffnen. Der Angeklagte gibt an, er habe erſt, als ihn der Oberft von Raaben auf den Divan geworfen hatte, das Meffer gezogen, e8 mit ven Händen geöffnet und um ſich geftochen. Was weiter gejchehen fei, wiffe er nicht. Sie, meine Herren Gejchiworenen, werden biefer Angabe fo wenig Glauben jchenfen wie ih. Sie haben die Ausjage des Hausfnechts gehört, der zuerſt in das Zimmer trat, ſich auf die beiden miteinander ringenden Männer warf und eine Schnittwunde an den Fingern davontrug. Dies geſchah, ehe der Dberft von Raaben feinem Freunde zu Hülfe fam. Als er den Angeklagten von Tſchichatſchew wegriß, hielt der Hausfnecht die Frau N. am andern Ende des Zimmers feit. Der Hausfnecht blutete, aljo war er bereits verwundet, ehe von Naaben eintrat. Wollte man annehmen, daß der Angeklagte das Meſſer erft gezogen hätte, als von Raaben mit ihm handgemein geworben war und er auf dem Divan lag, wer hätte dann verletzt werben müſſen? Doch gewiß derjenige, ver auf ihm lag, und nicht die Finger, auch nicht die Bruft des Gegners, der auf ihm lag, hätten getroffen werben müfjen, ſondern der Rüden oder die Seiten. Der Oberft von Raaben war unbejchädigt bis auf etliche Schrammen an der Hand; nicht ihn, ſondern Tſchichatſchew, der zur Seite jtand, hatten die Meſſerſtöße in die Bruft getroffen. Alſo nicht während der Oberſt von Raaben mit dem Angeklagten rang, hat dieſer geftochen. Das Meffer war offen in

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212 Die Ermordung

jeiner Hand, ehe von Raaben eintrat, und Tſchichatſchew hatte nicht blos Wunden in der Bruft, fondern auch kleine Berlegungen, die von einem Mefjer herrührten, an ven Händen. Wir wiffen, daß der Angeklagte feinem Gegner, ber jeine Forderung ablehnte, einen Schlag in das Ge- ficht verjeßte, der jo heftig war, daß der Gefchlagene zu Boden ftürzte. Der Zorn des Angeklagten war in Wuth übergegangen, er hat offenbar gleich nad dem Schlage jeinem Feinde das Mefjer mehreremal in die Bruſt geftoßen. Die Wunden laufen von oben nad unten, dies paßt zu der Situation, benn ver Stabsfapitän ſtand und Tſchichatſchew lag am Boden oder erhob fich joeben von jeinem Sturze. Hätte der Angeflagte auf dem Divan liegend geftochen, jo müßten die Wunden von unten nach oben gehen. Hätte er fie Tſchichatſchew beigebracht, als fie fich gegenüberftanden, fo müßten die Wunden ebenfalls von unten nach oben laufen, denn Tſchichatſchew ift von höherm Wuchje als er. Ein Menſch, der in blinder Leidenschaft um fich fticht, ſtößt unficher und überlegt nicht, wohin er trifft. Diefe Mefferftöße find mit fejter jiherer Hand nach einem bejtimmten Ziele geführt und haben das Herz getroffen.

Der Thäter hat gewußt, was er wollte Er war bei voller Befinnung, ev vertheidigte fich nicht, ſondern zücte das jcharfgefchliffene Mieffer gegen den von ihm zu Boden gefchlagenen Mann und ftach es ihm im bie Bruſt. Das heißt tödten wollen!

Eine gewöhnliche Schlägerei ift es nicht gewejen, eine jolche verläuft bei uns zu Lande anders. Man kommt zujammen, ohne daß man fich Haft, man trinft und itreitet fih. Es entjteht eine Balgerei, man zerichlägt jich vielleicht die Köpfe und reißt fich den Bart heraus. Gejchieht dabei ein Unglüd, wird jemand getöbtet, fo

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Pen

des Eollegienaffefjors Tſchichatſchew. 213

bat fein Menſch diejen Ausgang beabfichtigt. Hier aber bat ein lange Zeit genährter Haß feine Befriedigung gefunten. Hier ift Menfchenblut abfichtlich vergoffen worden.

Werfen wir noch einen Blick auf das Benehmen des Angeklagten nach vollbrachtem Morde. Der Stabsfapitän, den der Oberft von Raaben in ein VBorzimmer eingeichloffen hat, raucht dort ruhig eine Cigarrette. Er hat Appetit und bittet um ein Glas Thee, ja er erkundigt fich Falt- bfütig bei der Dienerichaft, ob Tſchichatſchew todt fei. Als er von feiner Frau Hört, nicht ihr Schuß habe den Tod ihres Feindes herbeigeführt, fondern er habe ihn mit dem Meffer erftochen, ſagte er: „Nun Gott ſei mit ihm!” So, meine Herren, beträgt ſich Fein Menjch, ‚der einen andern zufällig und wider feinen Willen um- gebracht hat.

Der Angeflagte dürftete nach Tſchichatſchew's Blute, er wollte fein Leben haben entweder im Zweikampf oder auf irgendeine andere Weife. Daß Tſchichatſchew auf den Angeklagten mit Fäuften fchlug, kann man ihm nicht zum Vorwurf mahen. Man darf nicht verlangen, daß ein Mann ftillhält, wenn fein Todfeind bei ihm einbringt, ihn thätlich angreift, zu Boden wirft und mit dem Meffer tractirt. Wir haben nach dem ganzen Verlaufe der Sache das Necht zu fagen: der Angeklagte hat die Abficht gehabt, Tſchichatſchew zu tödten, er bat im Jähzorn diefe That verübt. Sein Gedanfengang war: ‚Du willft mir feine Genugthuung geben nun wohl, jo werbe ich über dich berfalfen wie ein wildes Thier. Du willſt nicht im Zwei— fampfe in die Mündung der Piftole jehen, fo follft du das Meffer koſten. Du haft mein Leben verborben, fo will ih dafür dein Leben haben.” Er hat feinen Vorſatz ausgeführt und den tödlich gehaßten Gegner ermordet.

214 Die Ermordung

Wir haben nur noch von der Angeklagten zu reden, und behaupten, fie hat verbrecheriichen Antheil an dem Morde. Sie ift der Leitung ihres Mannes unbedingt gefolgt und hat fich an feine Rodjchöße gehängt. Tſchicha— tſchew ift auch ihr verhaßt, denn er ift die Urfache ihres Unglüds. Unter ven Schlägen ihres Mannes weinend, gedemüthigt durch das Geſtändniß ihrer Schande, zitternd vor dem Gatten, der fie nicht mehr liebte, immer wieder gequält durch peinliche Verhöre über ihren Verkehr mit Tſchichatſchew, wollte fie zulett um jeden Preis ein Ende machen. Sie glaubte, wenn ihr Verführer Tſchichatſchew den Tod erlitten hätte, würde ihr Mann volle VBerzeihung gewähren und ihr feine Liebe und fein Vertrauen zurüd- geben. So reifte allmählich auch in ihrer Seele ber Entſchluß, fein Leben zu fordern, und als er fich weigerte, Hand an fich zu legen, feuerte fie zwei Schüffe auf ihn ab. Sie wußte, was fie that. Beachten Ste, meine Herren Geſchworenen, daß um zweimal zu jchießen auch ver Hahn bed Revolver8 zweimal gejpannt werden mußte. Sie fönnen fich nachfichtig gegen die Angeklagte beweijen, denn nicht fie hat Tſchichatſchew getödtet und fie ftand beit ihrem Handeln unter dem ftarfen Einfluffe ihres Mannes. Aber vergeffen dürfen Sie nicht, daß fie ihren Mann in zweifacher Weile betrogen hat, inbem fie ihm ihren Umgang mit Zichichatjcehew verjchwieg und dann zwar ein Bekenntniß ablegte, aber ihm vorjpiegelte, fie fei das Opfer einer Gewaltthat geworden. Dadurch find in ihrem Manne Zweifel und Mistrauen und Rache— gedanken entftanden, die zum Morde führten. Vergeſſen Sie nicht, daß fie den Revolver in mörberijcher Ab- ficht zweimal abgebrüdt hat. In Uebereinftimmung mit dem Gerichtshofe erhebe ich die Anklage, daß Frau N. dem Derjtorbenen nach dem Leben getrachtet, und daß

bes Collegienaſſeſſors Tſchichatſchew. 215

der Stabskapitän N. ihm im Jähzorn das Leben ge— nommen hat.

Meine Herren Geſchworenen, es ſind nicht heitere Betrachtungen, die ich anſtellen mußte. Das Drama ſchließt mit dem Tode eines guten Menſchen. Tſchicha— tſchew war uneigennützig und wohlthätig, er ſuchte die Volksbildung zu heben, richtete eine Volksſchule ein und war ein Mitbegründer einer Sparkaſſe. Für ſeinen Leichtſinn, für ſeinen Fehltritt, den er mit der An— geklagten zuſammen begangen, hat er mit dem Leben gebüßt. Dieſes Leben hat nicht etwa ein Menſch zer— ſtört, der die Tragweite ſeines Verbrechens nicht be— urtheilen konnte, ſondern ein gebildeter, kluger Mann, der ſelbſt Richter und deshalb berufen war, andern die Achtung vor dem Leben eines Menſchen und dem Geſetz zu lehren. Ich halte dafür, daß Ihr Urtheil ein ſtrenges gegen ihn ſein muß, denn das Gericht und die Rechtspflege ſind dazu da, das Leben zu ſchützen und jede eigenmächtige Verfügung über daſſelbe zu ſtrafen. Der Angeklagte hat eine angeſehene Stellung einge— nommen, er iſt ein thätiges und nützliches Mitglied der bürgerlichen Geſellſchaft geweſen und verſtand es, ihre Intereſſen zu wahren. Es war ihm viel gegeben, aber wem viel gegeben iſt, von dem wird man viel fordern. Ich glaube, daß Ihr Spruch in dieſem Sinne aus— fallen wird.

Das Verdiet der Geſchworenen erklärte ven Angeklagten für Schuldig des im Jähzorn begangenen Mordes, ba- gegen wurde die Angeklagte freigeſprochen.

216 Die Ermordung des Collegienaſſeſſ. Tſchichatſchew.

Das Gericht verurtheilte ven Stabsfapitän zur Ver: bannung nach Sibirien, als freier Anfievler, ohne Ver: luft der bürgerlichen Rechte. Dort mag er etiva ein Sahrzehnt mit feiner Frau gelebt haben, dann aber werben beide Eheleute in ihre Heimat auf ihr Gut zurüd- gefehrt fein.

Der Einbrud im Pfarchofe von Edlingham. (Raub- und Mordverſuch. England.) 1879—1889.

Das Städtchen Alnwid in ver Grafihaft Northumber- land ift von einer ſchwer bisciplinirbaren Bevölkerung bewohnt. Man bezeichnet die Wilddiebe ganz laut mit Namen, und ihrer find nicht wenige. Die Pofizet hat einen harten Stand, und ihre Aufgabe wird überdies noch dadurch jehr erichwert, daß ein nicht geringer Theil der Einwohner des Städtchens offen und ungeſcheut mit denen Iympathifirt, die fortvauernd einen Heinen Krieg führen mit den Polizei- und Forftbeamten, und die verbotene Jagd als ihren Erwerb und ihre höchfte Luft ausüben.

Die gefpannten Beziehungen zwijchen der Bevölkerung und ven Behörden befferten fich, als ein außergewöhnlich freches und brutales Verbrechen die Gemüther in Be— wegung jeßte.

In der Nacht vom 6.auf den 7. Februar des Jahres 1879 wurde von zwei Männern in dem Pfarrhofe des Dorfes Edlingham nächft Alnwid eingebrochen und unter ſehr er- jchwerenden Umftänden eine Beraubung ausgeführt. Der ſchon bejahrte Pfarrherr Namens Bulle, jeine hoch— betagte Fran, ihre Tochter und drei Dienſtmägde bewohnten

218 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.

das Haus. Der Pfarrer und feine Tochter wurden Durch ein verbächtiges Geräufch im Schlafe gejtört. Der erjtere bewaffnete fich mit einem alten Schwerte. Beide begaben fih von ihren im erften Stodwerfe gelegenen Schlaf- zimmern bie Treppe herab in das Erdgeſchoß, um zu fehen, was denn eigentlich vorginge. Zwei Räuber traten ihnen entgegen, der eine war mit einer Flinte bewaffnet, fie griffen die Hausbewohner an und es fiel ein Schuß, der den Pfarrer und feine Tochter an der Schulter vers wunbete. Dennoch gelang es ihnen die Räuber zu ver- jagen. Fräulein Budle insbefondere bewies einen ganz ungewöhnlichen Muth und große Energie. Trotz ihrer Wunde drang fie auf die Räuber ein, faßte einen der— jelben bei den Haaren und ließ jofort, nachdem die Ver— brecher fich geflüchtet hatten, das Dorf alarmiren und burch einen reitenden Boten die Polizei in Alnwid von dem Ueberfall in Kenntniß jegen. Geraubt war ein geringer Baarbetrag und eine goldene Uhr nebjt Kette und Siegel.

Der erfte Verdacht fiel auf zwei übelberüchtigte Burfche: den Tagelöhner Charles Richardſon und den Gärtner- gehülfen George Edgell, die eine gerichtsbefannte Ver— gangenheit hinter ſich hatten und fogar früher bejchulpigt waren, einen Polizeibeamten Namens Gray ermordet zu haben. Die Bolizei fuchte fie jogleich in ihren Woh— nungen auf. Beide lagen im Bett, ihre Fußbefleivungen waren troden. Augenjcheinlich waren nicht fie die Thäter geweſen.

Sodann richtete ſich der Verdacht gegen zwei andere nahezu ebenſo berüchtigte, notoriſche Wilddiebe, die Tag— löhner Michael Brannagan und Peter Murphy. Der letztere ſtand überdies bei der Polizei ſchlecht an— geſchrieben, weil gegen ihn der dringende Verdacht vor— lag, er habe durch eine beſchworene falſche Zeugenausſage

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 219

vor Gericht die Freilafjung eines Cumpans herbeigeführt, ber des Entendiebſtahls bezichtigt war.

Dieje beiden Leute wurden in der kritiſchen Nacht von den Polizeibeamten zu Haufe nicht angetroffen. Sie waren am Abend zuvor weggegangen und noch nicht heim- gekehrt. ALS fie enplih um 7 Uhr des Morgens an- famen, wurden fie feftgenommen. Ihre Röde und Fuß— beffeivungen waren durchnäßt. Won der Polizei zur Rede gejtellt, gaben fie nach einigem Zögern zu, auf Wilbpieb- ftahl ausgewefen zu fein, leugneten aber entjchieven von dem Einbruche etwas zu wifjen.

Sie wurden in Haft behalten und die Unterfuchung warb wider fie eingeleitet.

Es kam zunächſt darauf an, die Ipentität der An- geſchuldigten mit den Einbrechern feftzuftellen. Um dies Ziel zu erreichen, veranftaltete man eine Art Theater- coup. Die Unterfuchungsgefangenen wurden des Nachts in derjelben Kleidung, in der fie von den Bolizeiorganen überrajcht und feftgenommen worden waren, nad) Edlingham übergeführt und in das Zimmer gebracht, in welchem bie Räuber von dem Pfarrherrn betroffen worden waren. Mr. Buckle erſchien mit einer Kerze in der Hand in dem von nicht fonft erleuchteten Gemach. Seine Tochter folgte ihm. Beide erklärten übereinftimmend, daß die ihnen vor- geftellten Individuen in Statur und Kleidung den Ein- brechern glichen, daß fie jeboch nicht mit Beſtimmtheit ihre Gefichtszüge wiederzuerfennen vermöchten.

Die Hauptverhandlung, bei der nad dem Brauche der engliichen Strafrechtspflege die Angejchuldigten nicht jelbft gehört wurden, fand unter großem Zubrange ber Bevölkerung ftatt. Richter Manifty leitete die Ver— handlung, der Anwalt Mr. Edward Ridley trat für die Anklage, der königliche Rath Mr. Milwain für die

220 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.

Bertheidigung in die Schranken. Die Schlußverhandlumg dauerte mehrere Tage und brachte einen nahezu zwingenden Indicienbeweis zu Stande.

Die Thatzengen, Pfarrer H. ©. Buckle und feine Tochter, hatten die Räuber nur im ungewiffen Schein bes Mondlichtes, und in der fladernden Beleuchtung einer einzigen Kerze gejehen und konnten fie nicht mit Sicherheit agnofeiren. Aber die von ihnen übereinftimmend ent- worfene Bejchreibung desjenigen Burfchen, der das Mord- gewehr auf fie angelegt hatte, war ganz präcis und lautete dahin: „Ein vierfchrötiger, breitfchulteriger Gefell von militärifeh ftrammer Haltung, bärtig und dunkelhaarig.“ Dieſe Beichreibung paßte vollftändig auf Brannagan. Auch die Kleidung ftimmte. Auf diefen legtern Umstand Fonnte indeß nicht viel Gewicht gelegt werben, denn fie pflegt beit allen Leuten dieſes Schlages jo ziemlich die gleiche zu fein. Die Thatzeugen fagten unter ihrem Eide aus: Sie glaubten mit größter Wahrjcheinlichkeitt Brannagan als einen der Räuber bezeichnen zu können, wollten fich indeß doch nicht dazu verftehen, ihn auf Eid und Ge- wiffen für einen der Thäter zu erklären.

Diefe Ausſage allein würde zur DVerurtheilung ber Angeklagten nicht genügt haben, aber die von der Polizei mit großer Sorgfalt durchgeführte Vorunterſuchung hatte noch außerdem eine Reihe der ſchwerwiegendſten be— Laftenden Momente feitgeftellt.

Im Garten des BPfarrhofes waren am Morgen nad ver That Fußſpuren aufgefunden worden. Die fofort mit Gips firirten Eindrüde paßten genau auf die Stiefel Brannagan's und die Holzichuhe Murphys. Ein am Thatorte zurücdgebliebener Meißel, mit dem die Eingangs- thür zum Pfarrhofe aufgejprengt worden war, iſt von Sohn Redpath, dem Geliebten ver Schwefter Murphy's

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 221

und zugleich beffen Duartiergeber, als fein Eigenthum anerfannt und diefer Umftand von dem Zeugen in öffent- licher Gerichtsfitung auch beſchworen worden, Ein ab— gerifjenes Stüd einer Zeitung, welches im Garten bes Pfarrhofes von Edlingham aufgefunden wurbe, paßte genau zu einem Blatte, welches im Unterfutter des Rockes ftaf, ven Murphy getragen hatte. Der beigezogene Arzt, Dr. Wilſon, hatte diefen Rock unterfucht, um feitzu- jtellen, ob der Rod etwa Spuren des Schwertes trüge, mit welchem der Pfarrer Buckle auf die Räuber ein- gebrungen war. Solche Spuren entdedte Dr. Wilfon nicht, aber er fand jene Zeitung, aus ber das im Pfarr- hofe liegende Stück herausgeriffen war. Einige Tage nach der That wurde ferner von einem Dienſtmädchen vor dem Fenſter des Pfarrhofes, durch welches die Ein- brecher fich geflüchtet hatten, ein Streifen groben Stoffes, auf den ein Knopf aufgenäht war, gefunden. ‘Die Farbe und die Dualität des Fetzens war bie gleiche wie die ber Hofe des Angejchuldigten Brannagan, von ber ein Stüd abgerifjen zu fein jchien.

Beide Angeklagte waren die Nacht hindurch vom Haufe abwejend gewejen. Sie verjuchten dieſen Umſtand damit aufzuklären, daß fie wildern gegangen wären; allein ihre, vor der Polizei abgegebenen Ausjagen jtimmten in verichiedenen Punkten nicht überein. Sie gaben ein Ver⸗ jtef an, in welchem fie die erbeuteten. Kaninchen ver- borgen hielten, aber abgejehen davon, daß die Kaninchen vecht gut fchon tags vorher erbeutet und dahin gebracht. worden fein fonnten, fand man bei ihrer Verhaftung, die doch unmittelbar nach ihrer Rüdfunft erfolgte, den Spaten nicht, mit dem fie nach Kaninchen in deren Bau gegraben haben wollten. Cine Oelegenheit, ven Spaten vorher zu befeitigen, hatten fie aber faum gehabt.

2232 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam.

Die mit großem Aufwande von Gejchidlichkeit und Eifer geführte Vertheidigung bejtritt die Identität ber Einbrecher mit den Angeklagten und fuchte den Indicien— beweis in allen Punkten zu befämpfen. Es gelang ihr jedoch nur einen einzigen dieſer Verbachtsgründe zu widerlegen. Das vorgefundene Stückchen Stoff trug eine andere Sorte Knöpfe al8 die Hofe Brannagan’d. Das Stückchen Stoff erwies fih al8 ein abgejchnittener Streif, nicht al8 ein abgerijjener Fetzen.

Die Berurtheilung der Angeklagten war unvermeid- lich. Sie wurden nach gründlicher Berathung der Ge- fhworenen, die drei Stunden brauchten, um fich über ihren Spruch zu einigen, am 23. April 1879 wegen ſchweren Einbruchsdiebſtahls und verfuchten Mordes zu lebenslängliher Zuchthausarbeit rechtskräftig ver- urtheilt. Beide traten ihre Strafe an und verbüßten diefelbe in den Zuchthäufern von Morpeth, Pentonville, Millbanf und Portsmouth.

Nahezu zehn Jahre jpäter meldeten fich der Gärtner- gehülfe Edgell und der Tagelöhner Richardſon frei- willig bei der Polizeibehörde in Alnwid und gaben an: ste feien die Thäter gewefen. Bon Gewifjensqualen be- drüdt und von dem Geeljorger Edgell's hierzu bejtimmt, hätten fie fich entjchloffen, ein Befenntnif abzulegen, um den unfchuldigen Männern, die feit faft einem Jahrzehnt im Zuchthaufe jchmachteten, die Freiheit zurückzugeben.

Ein Sturm der Entrüftung burchbraufte England. Kein Ausprud war zu fräftig, der nicht im Hinblid auf den gejchehenen Juſtizmord angewendet werden durfte.

Es hagelte Interpellationen im Parlament: wie fich denn die Regierung zu dieſer Frage jtellen wolle? Welche Entihädigung fie den unjchuldig Verurtheilten, die ihre Lebenszeit in trauriger Kerfernacht verfeufzten, gewähren

Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 223

würde? Welche Sühne dem beleidigten Nechtsgefühl zu— theil werben jollte?

Die Regierung, wol etwas unter dem Drude der öffentlichen Meinung ftehend, beeilte fich, dem allgemeinen Wunſche Rechnung zu tragen. Am 15. November 1883 wurden Brannagan und Murphy aus der Haft entlafjen. Ihre Heimfahrt glich einem Triumphzuge, man feierte ſie, wie man Sieger, die aus dem Felde heimfehren, zu feiern pflegt. Ihre nähern Freunde waren ihnen bis Bilton= Junction entgegengefahren, um fie zu begrüßen, in Alnwid aber harrte ihrer eine erregte, jubelnde Menge. Unter allgemeinem Enthufiasmus wurden die entlafjenen Sträflinge auf die Schultern williger Gefinnungsgenoffen gehoben und vom Bahnhofe bis in die Stadt ge- tragen. Eine Mufikbande begleitete den Zug, Iuftige Weijen fpielend, und unter ven Klängen des Volksliedes „Home, sweet home!” zogen vie Befreiten in ihre Baterjtadt ein. Die Localblätter brachten fpaltenlange Berichte, und ſogar ernfte Zeitungen wie bie „Times“ widmeten dem Vorgange eingehende Darftellungen.

Brannagan und Murphy wurden vorbehaltlos be- gnadigt. Die Regierung gewährte jedem von ihnen ein Ehrengejchenf von je 800 Pd. St. = 16000 Reichs— marf.

Gegen bie beiden andern Burfche wurde die Unter- juhung eröffnet. Das Geſtändniß, welches fie ablegten, wich in einigen nicht unwefentlichen Punkten von ven früher gerichtlich erhobenen Thatſachen ab. Sie be- haupteten, fie hätten, um ihre Tritte unhörbar zu machen, die Füße mit Tuchfetzen ummwidelt. Die Gipsabgüffe der Fußſpuren im Garten mußten, wenn dies wahr war, von dritten unbetheiligten Perjonen herrühren, und ihre genaue Uebereinſtimmung mit den Stiefeln des Brannagan

224 Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingham.

und ben Holzſchuhen des Murphy verlor den Werth eines Beweismittel. Die Ausfagen der neuerdings An- gejehuldigten waren auch in Einzelheiten voneinander ziem- lich verſchieden. So behauptete jeder von ihnen, ber andere habe ven Plan zum Einbruche ausgehedt, ver andere habe zuerjt Hand angelegt u.f.w. In der Haupt- ſache aber ftimmten fie überein. Sie befannten fich jelbft als die Thäter. Wie es fcheint, hatten fie auf die Zu— jicherung gerechnet, die Edgell von dem Vicar zu St.-Paul in Alnwid, Herın Jevon I. M. Perry, erhalten haben wollte: daß fie nicht um eines Verbrechens willen zu einer Strafe verurtheilt werben Fönnten, um bejjentwillen zwei andere Männer durch rechtögültigen Spruch ver Gejchworenen eingeferfert worden waren. Allein dieſe Auffaffung erwies fich als unzutreffend.

Der Polizeirichter, weniger durch ftarre Formen beengt als der Vorfigende einer Schwurgerichtsverhandlung, pflog eifrigft Erhebungen. Mr. Buckle, ein nunmehr jechsund- achtzigjähriger Greis, vermochte noch weniger als ehedem bie ihm vorgeführten Individuen zu iventificiren. Fräulein Buckle dagegen erklärte mit voller Beftimmtheit, daß Edgell feinesfalls der Mann geweſen fei, ven fie damals bei den Haaren erfaßt habe; aber auf dieje Erklärung bejchränfte fich ihr Zeugniß in Betreff der ihr vorgeftellten Angejchulpigten. Brannagan und Murphy erjchienen nun auch al® gejetzlich gänzlich unbevenkliche Zeugen und gaben beſchworene Aus- jagen über ihren Verbleib in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1879 ab, während fie doch in ber wider fie ſelbſt vurchgeführten Hauptverhandlung nicht verhört werden burfter und auch nicht befragt worden waren.

Die Anklage wurde erhoben und vor den Affiffen in Newcaftle durchgeführt. Die Verhandlung fand am 24. November 1888 ftatt. ALS Vorfigender fungirte ver

Der Einbruch in Pfarrhofe von Edlingbam. 225

Richter Baron Pollod. Für die Anklage erichienen der fönigliche Rath Mr. Gainsford Bruce und die Herren Hans Hamilton md D. F. Steavenjon; für die Bertheidigung der fünigliche Rath Mr. Digby Seymour und Wr. Strafhban. Namens des Polizeigerichts in Alnwid, welches das Geſtändniß der Angeklagten entgegen- genommen hatte, wohnte Mr. Skidmore der Verhand— lung bei.

Zunächſt wird dem Gerichtshofe eine Petition der Einwohnerichaft von Alnwick unterbreitet, welche mit mehrern tauſend Unterjchriften verjehen, auf Grund des Selbjtbefenntnifjes der Angeklagten um eine milde Be— urthetlung ihrer That bittet, und deren Treifprechung von der Einficht und Großmuth des Nichters erwartet.

Hierauf erhebt fih Mr. Seymour und macht Rechts- bevenfen geltend. Er jtellt die Vorfrage, ob überhaupt eine Verhandlung in Angelegenheit des Einbruches in Edlingham, nachdem zwei andere Perjonen gerade biejes Berbrechens wegen rechtskräftig verurtheilt worden, wider die jetst angejchuldigten Edgell und Richardſon zuläffig jei.

Baron Pollod weift die Berechtigung dieſes Be— denkens zurücd, erfennt jedoch an, daß der Vertheiviger durch die Anführung diejes Umftandes und das Auf- werfen biejer Rechtsfrage nur jeine Pflicht erfüllt habe und deshalb Feine Rüge verdiene. Er bejchließt in bie Berhandlung einzugehen.

Die Angeklagten Charles Richardſon, 53 Jahre alt, Tagelöhner, und George Edgell, 47 Jahre alt, Gärtnergehülfe, find bejchuldigt des Einbruches, Des Raubes einer goldenen Uhr ſammt Kette und Siegel aus gleichem Metall und einer Summe baaren Geldes, ſowie des Mordverſuches wider den Neverend Mr. Buckle und jeine Zochter.

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—2 226 Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingbam.

Die Angeklagten befennen fich des Einbruchs und Raubes jchuldig, aber nichtichuldig des Mordverſuches. Sie behaupten, die Flinte, die fie mit fich führten, habe fih nur durch einen unglücjeligen, unvorbergejehenen Zufall entladen.

Mr. Gainsford Bruce erflärt darauf, daß er die Anklage wegen des Mordverfuches fallen laſſe und diejelbe auf den eingeräumten Thatbeitand bejchränfen wolle. Der logiſche Widerfpruch, der in diefem Vergehen liegt, wurde weder damals in der Verhandlung begründet, noch hat er jpäterhin Bedenken erregt.

Da nach der englifhen Strafprocefordnung jomit nicht8 zu erweifen übrigblieb, denn der Einbruch und Raub galt dur das Befenntniß der Angeklagten für gerichtsordnungsmäßig nachgewiejen, wurde das Beweis— verfahren gefchlofjen.

Mr. Seymour plaidirt für ein mildes Urtheil. Er hebt hervor, daß im Jahre 1879 für die Bemeſſung der Strafe der Mordverfuch ausichlaggebend gewejen. Diejes gewichtige Moment ift aber durch die Zurüdziehung der Anklage Hinfichtlich dieſes Punktes gänzlich weggefallen. Dagegen ijt die Seelengröße anzuerkennen, mit ber bie Angeklagten ſich zu ihrem freiwilligen Geftänpniß ent- Ichloffen und es angeficht der ihnen drohenden Strafe aufrecht erhielten. Edgell ift verheirathet. Die Sorge für jein Weib und für fein Kind verjchloß ihm bisher den Mund. Trotz beftändiger Gewifjensqualen glaubte er ſchweigen zu müſſen. Allein als fein Kind ftarb, da trat er mit dem Geſtändniß hervor. Wie jehr das Schickſal biefer beiden Menſchen vie öffentliche Meinung erregte, geht aus der mit mehr als 3000 Unterjchriften bevedten Petition der Einwohnerichaft Alnwids hervor, bie ins— gefammt ein mildes Urtheil hofft und erwartet.

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 227

Baron Pollod fällt das Urtheil: „Der Wegfall der Anklage wegen Mordverjuchs müſſe wol auf die Be— mefjung ver Höhe des Strafjages von entjcheidender Ein— wirkung fein. Dagegen fönne der Richter weder das freiwillige noh das verjpätete Geſtändniß als mildernd oder erjchwerend berüdjichtigen. Die Petition der Bewohner Alnwids habe ihre Adreſſe verfehlt; fie jei nicht an ihn, ſondern an diejenigen zu richten, denen die Handhabung des Begnadigungsrechtes zuftehe.” Der Richter vwerurtheilte demnach die beiden Angeklagten zu fünfjähriger Zuchthausſtrafe.

Damit gab fich aber und dies ift ein jchöner Zug des öffentlichen Gewiſſens die aufgeregte Volksſtimme nicht zufrieden! Wenn ein Juſtizmord begangen worden war, und dies fchien nach der dvermaligen Sachlage außer Zweifel zu ftehen, jo galt e8 nicht nur die Schuld ver Gefellichaft an ven Betroffenen zu fühnen, e8 waren auch Berjonen vorhanden, welche den verfehlten Richterſpruch herbeigeführt hatten. Die Polizeiorgane, durch deren Be— mühungen feinerzeit der Imdicienbeweis erbracht worden war, erjchienen nunmehr verdächtig, entweder in dem guten Glauben, die wirklichen Berbrecher dadurch ihrem Richter zuzuführen, oder gar in der böslichen Abjicht, überhaupt einen Schuldigen herbeizujchaffen, die einzelnen Indicien ohne Rückſicht auf die jubjective Wahrheit fabricirt, fünftlich gruppirt, vielleicht ſogar fäljchlich hergeftellt zu haben.

Es wurde demgemäß ein Proceß gegen die in ber Sache thätigen Polizeibeamten eingeleitet und in mehr- tägiger Verhandlung durchgeführt.

Am Montag, den 18. Februar 1889, erſchienen in Newecaitle vor dem Nichter Denman, als Vorſitzendem des Schwurgerichts, die Angeklagten: Thomas Harrijon,

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70 Sahre alt, penfionixter Polizetinjpector, JIſaak Sair, 42 Jahre alt, Polizeifergeant, und Robert Sprot, 36 Jahre alt, Polizeiconftabler, unter der Anjchuldigung, „in den Monaten Februar, März und April des Jahres 1879, in Gemeinjchaft mit dem jeither verftorbenen George Harfes, damaligen Polizeileiter des Bezirkes, fich in ungejetlicher Weije verabredet zu haben, um den richtigen Gang der Rechtspflege zu behindern und in faljche Bahnen zu leiten durch die Herbeichaffung, DBerfertigung und Vorführung gefälichter Beweismittel in der Nechtsjache wider Michael Brannagan und Peter Murphy wegen Einbruchs, Diebftahls und Mordverſuches im Pfarrhofe von Edlingham“.

Die Anklage, welche namens der Krone erhoben wurde, vertraten; ver fünigliche Rath) Mr. Gainsford Bruce und die Herren D. %. Steavenjon und Hand Hamilton. Die BVBertheidigung führten Dir. Besley und Mr. Boyd.

Mr. Gainsford Bruce begründete die Anklage jo: „Die Anfchuldigung geht dahin, daß die Polizeiorgane zujammengewirft haben, um hemmend und jtörend in den orbentlichen Gang der Rechtspflege einzugreifen. In der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1879 wurde im Pfurrhofe von Edlingham ein frecher Einbruchspiebitahl verübt. Die Bewohner des Haufes, die fich zur Wehre jetsten, wurden verlett. Die wirklichen Miffethäter wußten jich gejchiekterweife vor den Augen der Poltzeiorgane zu verbergen und den Schein der Unjchuld um fich zu vers breiten. Die Polizei jedoch, von dem Chrgeize getrieben, die Verbrecher zu entveden, ging, wahrjcheinlich unter dem birecten Befehle ihres Chefs, des jeither verjtorbenen George Harkes, daran, gefälfchte Beweismittel herbeizu: jhaffen, um die Verurtheilung ver beiden von ihr einmal

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam, 229

verhafteten Individuen, Brannagan und Murphy, welche fie als der That verdächtig bezeichnet hatte, herbeizu- führen. Harkes ift inzwiichen mit Tode abgegangen und fann nicht mehr zur DBerantwortung gezogen werben, allein die Anklage gegen die Andern, die mit ihm zus jammenwirften, ift berechtigterweife zu erheben, weil fie wifientlich gefälichte Beweismittel hergeftellt haben. Die damals des Einbruches verdächtigen und deshalb proceffirten Männer wurden auf Grund der durch die Polizei be— hafften Indicien verurtheilt. Es ijt nunmehr feitzu- ſtellen: 1) Die Bolizet veranlafte die Gipsabprüde von Fußſpuren, die angeblich im Garten des Pfarrhofes am Morgen nach dem Attentate entdedt worden waren. Diefe Formen entiprachen genau den Abdrücken ber Stiefel des einen und der Holzichuhe des andern An— geffagten. Die Abgüffe waren jedoch wiſſentlich von dieſen Fußbekleidungsſtücken direct und nicht von wirk- lichen Fußipuren im Garten genommen und find troß- dem bei der Hauptverhandlung als Beweismittel vor: gebracht worden. 2) Ein Mann Namens John Redpath, der im Goncubinate mit der Schwefter des Peter Murphy lebte und diefem Unterftand gewährte, wurde durch einen ihm gefpielten Betrug veranlaßt, einen Meißel als jein Eigenthum anzuerfennen, der am Thatorte aufgefunden worden fein ſoll und den die Einbrecher angeblich benutzt haben, um vie Thür aufzufprengen. 3) Die Einbrecher haben im Garten des Pfarrhofes ein Stüc einer Zeitung zurüdgelaffen. Das Blatt, aus welchem e8 herausgeriffen war, ift in das Futter des Modes prafticirt worden, den Murphy in der Nacht des Attentats trug, um durch bie Zufammengehörigfeit diefer Papierfegen den Beweis der Anwejenheit Peter Murphy's am Thatorte herzuftellen. 4) Ein Stüd groben, ftarf gerippten Baumwollſtoffes von

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der Hofe Brannagan’s, die er nach der Behauptung der Polizei bei dem Attentate getragen hat, ift abgetrennt und an eine Stelle gebracht worden, an der e8 von einer unbefangenen Zeugin, einem Dienjtmäbchen des Pfarrers, drei Wochen nach der That gefunden werden mußte. Die Polizei hat gewußt, wie dieſes Stückchen Stoff an feinen Fundort gefommen iſt, und war nicht darüber in Zweifel, daß dieſes Stüd Stoff nichts be- weijen fonnte, dennoch hat fie e8 bei ver Hauptverhand- lung vorgelegt, um Brannagan's Anwejenheit im Pfarr- hofe varzuthun. Waren diefe Beweismittel echt, jo mußte man die Angeklagten Brannagan und Murphy für ichuldig erklären und verurtheilen. Im ihrer Gefammt- heit lieferten fie einen jo zwingenden Indicienbeweis, daß jede Jury einhellig zu einem VBerdammungsurtheil gelangen mußte. Wenn diefe Beweismittel aber gefäljcht waren, wenn demnach Brannagan und Murphy unjchuldig an dem Berbrechen waren, dejjen fie geziehen wurden, welche furchtbare Verantwortung trifft die Polizeibeamten, vie jetst angeklagt find! Zwei andere Perjonen, George Edgell und Charles Richardfon, haben jich feither freiwillig als die Thäter befannt und dem Gerichte gejtellt. Sie find wegen dieſes Verbrechens mit fünfjähriger Zuchthausitrafe be- ftraft worden. Sie werden bei diefer Verhandlung als Zeugen vernommen und gehört werden. Sie erzählen, daß fie in der Fritijchen Nacht in den Wald von Birsley gingen, um Faſanen zu jagen, daß es ihnen aber nicht gelang, jolche zu erbeuten. Erbittert über ihr Mis— geſchick faßten fie gemeinjchaftlich den Plan, in den Pfarr- hof von Edlingham einzubrechen, der ganz nahe bei jenem Gehölze Liegt. In der zweifachen Abficht, das Geräufch ihrer Fußtritte zu dämpfen und um ihre Spuren un— fenntlich und jomit nicht verfolgbar zu machen, zerriſſen

Der Einbrub im Pfarrhofe von Edlingbam. 231

fie einen zufällig gefundenen alten Sad und wanden die daraus gewonnenen Jutefeßen um ihre Stiefel. In einem der Gartenhäujer fanden fie einen Meißel, jprengten mit bemjelben eines der großen Fenſter auf, die wie Thüren bi8 an den Erdboden hinabveichen, und gelangten auf diefem Wege in das Innere des Hauſes. Sodann brachen fie mit dem gleichen Inftrumente die Thür des Wohn: zimmers auf und drangen in das Efzimmer. Der Lärm weckte Fräulein Buckle, die ihrerjeitd ihren Vater rief. Beide famen muthig über die Treppe in das Erdgeſchoß berab. Der jechsunpfiebzigjährige Pfarrer voran, ein Yicht in der einen, ein alte& Schwert in der andern Hand. Die Einbrecher verlöjchten jofort das Yicht, das fie jelbjt mit fich führten. Durch einen unglückheligen Zufall, durch eine der haftigen Bewegungen Richardſon's wie er felber zugejteht entlud ſich die Flinte, die er von der Jagd ber geladen bei fich trug. Sowol ver Pfarrer als deſſen Tochter wurden durch den Schuß ver- wundet. Wahrfcheinlich jedoch trafen die groben Schrot- förner fie nur als Prellſchuß, denn beide wurden glüd- licherweife nicht ernjtlich verlegt. Die Einbrecher fuchten jofort zu entfliehen: Miß Buckle erfaßte einen derſelben mit großer Energie an den Haaren, war aber begreiflicher- weije nicht Fräftig genug ihn fejtzuhalten. Sie flüchteten durch das Fenſter und waren hierbei genöthigt, fich auf die Knie niederzulaffen. In der That find Eindrücke, die von Knien herrühren vürften, vor dem Wohnzimmer: fenster jeinerzeit im Gurten bemerkt und conjtatirt worden. Dies betätigt die Darftellung, welche die Verbrecher jelbit bon der That gegeben haben. Edgell und Richardſon eilten auf dem Fürzeften Wege nach Haufe, verbargen ihre durchnäßten Stiefel und Strümpfe und legten trodene Kleider und Stiefel zurecht, in der Vorausficht, daß die

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Polizeiorgane bald ihre Spur gefunden haben und nicht jäumen würden, ihnen einen Beſuch abzujtatten. Sie tänjchten fich darin auch nicht. Die Polizei fam in ihre Behaufung, fand jedoch anfcheinend alles in befter Ord— nung und zog leicht befriedigt wieder ab. Von dort begab fie fih zu Brannagan dieſer war noch nicht nach Haufe gefommen. Die Polizei ging in das Haus Redpath's und conftatirte, daß auch Murphy über Nacht weggeblieben und noch nicht heimgefehrt war. Derart von ven wirf- lichen Einbrechern weg und auf eine faljche Fährte ge- lenkt, jteiften die Polizeibeamten fih nun darauf, in Brannagan und Murphy die wahren Verbrecher zu er- bliden. Dieje beiden Leute waren aber thatjächlich vie Nacht hindurch damit bejchäftigt gewejen, nach Kaninchen zu graben, und hatten einen Hund und einen Spaten mit jih geführt. Sie hatten auch wirklich vier Kaninchen erbeutet, die fie im Walde, unweit von Alnwid, verborgen zurücließen. Sie wollten eben in Alnwick nicht mit ihrer Jagdbeute gejehen werden.

„Die Polizeibeamten hielten denn auch beide bei ihrer Heimkehr an. Ste liefen Brannagan und Murphy, nach- dem jie biejelben befragt und durchſucht hatten, jedoch zuerjt wieder ziehen und verhafteten fie erjt jpäter. Bei dieſer Verhaftung nahm die Polizei auch die Kleider der Verdäch— tigen in Verwahrung. Die Schweiter Murphhy’s, welche wol befürchten mochte, daß ihr Bruder wegen Wilddieberei zur Verantwortung gezogen werden jollte, hatte die Innen— tafche aus dem von ihm getragenen Rod, die vom Blute erbeuteten Wildes beſchmuzt war, herausgeriffen und gab deshalb nicht diejes Kleidungsſtück, fondern einen Rod ihres Liebhabers Redpath, den fie zuvor durchnäßt hatte, an die Polizeibeamten ab. Diejer Rod wurde gleich im Anfang der Unterfuhung zwar geprüft, allein nichts

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Verdächtiges daran gefunden. Neun Tage jpäter jedoch ereignete jich ein Wunder. Das famoje Zeitungsblatt wurde von einem unbefangenen Zeugen, den jeither ver- jtorbenen, vom Gerichte beigezogenen Arzt Dr. Wilfon, in Gegenwart eines der heute angeflagten Polizeibeamten im Unterfutter des Rockes entvedt. Den im Bfarrhofe gefundenen Meißel legte die Polizei gefchickter-, jedoch nicht Loyalerweife unter die übrigen Geräthe und das Handwerkszeug auf das Bret von Redpath's Schranf und richtete jodann an Redpath die Frage, ob der Meifel jein Eigenthum ſei? Getäufcht von diefem Kniffe, ant- wortete Redpath unbedenklich mit Ia. Später hat er jedoch eine andere Ausfage abgegeben und betheuert, es jet nicht fein Meißel geweſen, er habe, weil der Meißel unter feinem Handwerkszeug gewejen jet, angenommen, daß er ihm gehöre. Der Feten groben Baumwollſtoffes, der von einer gänzlich unbevenklichen Zeugin vor dem denfter des Pfarrhofes aufgefunden wurde, paßte in Größe und Qualität genau zu dem abgeriffenen Stüde von Brannagan's Hofe; allein ein fachverftändiger Schneiber- meifter, der als Zeuge vorgeführt werben wird, hat feit- geftellt, daß der Streifen abgefchnitten und nicht abgerifjen worden iſt und unmöglich jo lange Zeit, als zwijchen dem Einbruche und der Auffindung lag, Wind und Wetter ausgefett gewejen fein kann. Schon bei dem erjten Proceß in dieſer Angelegenheit, wider Brannagan und Murphy, hat der gelehrte Richter die Gejchtworenen er- mahnt, gerade auf dieſes Beweisftüc feinen Werth zu legen, und dabei bemerkt: Der Stoffreft paſſe zwar in Größe, Farbe, Form und Dualität zu der Hofe Brannagan’s, aber der aufgenähte Knopf ſei ganz verjchieden von den andern Knöpfen, die fich noch auf dem Beinkleide be- fänden. Es ift übrigens für den Ausgang der ver-

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maligen Verhandlung gleichgültig, ob die Angeklagten es veritanden haben, diefen Streifen als ein für die Schuld der Angeklagten wichtiges Beweisſtück herbeizujchaffen. Verſucht haben fie es. Entſcheidend wird nur fein, ob die Geſchworenen eine ungejegliche Verabredung ver Bolizijten annehmen. Unter ven beim Einbruche geftohlenen Gegen- ſtänden befanden fi ein an einer goldenen Uhrkette be= feitigtes Siegel, welches dem Fräulein Buckle gehörte. Es wird nachgewiefen werben, daß Nichardjon an einen Juwelier in Alnwid ein goldenes Siegel verkauft hat. Der Juwelier wird diejen Umftand vor Gericht bejtätigen. Brannagan und Murphy find vorbehaltlos begnadigt, Edgell und Richardſon dagegen, welche das Berbrechen eingejtanden haben, jind deshalb zu fünf Jahren Zucht- hausftrafe verurtheilt worden.”

Es folgte das Zeugenverhör. Zunächſt werden bie Belaftungszeugen aufgerufen.

Wir führen nur die wichtigjten Ausfagen an.

Kapitän Terry, der Kommandant der Conjtabler, der die Stiefel, Röde und andern Kleidungsſtücke der jeweilig Verurtheilten unter Verjchluß hatte, legt diejelben dem &erichtshofe vor und berichtet über feine Be— obachtungen an denjelben.

Ihm folgte Charles Richardſon, der in Sträf- lingskleidern vorgeführt wird. Er gibt an, daß er und fein Kamerad Edgell in der Fritiichen Nacht urfprünglich nur ausgingen um zu jagen. Sie konnten aber nicht8 erbeuten, fein Wild fam ihnen zu Schuß, und fo bejchlofjen fie den Einbruch in den Pfarrhof zu Edlingham. Es war eine plögliche Eingebung. Sie ummidelten ihre Füße mit Sadleinwand und fanden im Stalle einen Meißel, vermitteld dejjen fte fich den Eingang erzwangen.

Nach engliicher Strafprocefordnnung ift e8 Sache der

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Partei, die von ihr vorgeführten Zeugen zu vernehmen. Der Ankläger erklärt ſich für befriedigt, nachdem er Kichardfon längere Zeit befragt hat. Der Richter ent- icheidet jedoch: „Die Ausjagen, die der Zeuge abgegeben babe, fünnten auf Wahrheit beruhen und die dermalen angeflagten Perſonen dennoch völlig unfchuldig fein.“ Er ordnet daher das Streuzverhör dieſes Zeugen durch den gegneriichen Anwalt an.

Das Kreuzverhör wird vorgenommen. Der Zeuge verfichert im Laufe dejjelben, ver Gedanfe und der Vor— ihlag zu dem Einbruche jei von Edgell ausgegangen. Richardſon ift mit Edgell jchon oftmals zuvor des Nachts auf Wilpdiebitahl ausgewefen, um nach Hafen, Kaninchen oder Faſanen zu jagen.

Sodann wird Edgell vernommen. Auch diejer er- ſcheint im Sträflingsanzuge vor dem GerichtShofe und ift von einem Gefängnifwärter begleitet. Er wiederholt im wejentlichen die Ausjagen des vorigen Zeugen und be- ftätigt die Angaben, die er vor dem WBolizeirichter in Alnwick gemacht hat. Edgell muß im Kreuzverhör zu— geſtehen, daß er mit Richardſon und Bob (Robert) Vint wegen der Ermordung des Polizeiſergeanten Gray in Unterjuchung gewejen ijt. Er betheuert aber nichts Ge— naueres über dieſe Unthat zu willen und insbejondere feine Kenntniß davon zu haben, daß Richardſon ven Polizeifergeanten erjchoffen habe. Der geijtliche Herr, jein Seelforger, hat ihm aber allerdings gejagt: „Die Umftände werden für Richardſon doch allmählich Fritifch. Ueber furz oder lang wird er fich genöthigt jehen, den Mord einzubefennen.” Edgell gibt ferner an: der Geijt- lihe und der Rechtsanwalt Hätten ihm, auf Grund eines von ihm eingeholten Rechtögutachtens, bevor er das frei- willige Geſtändniß vor dem Polizeirichter abgelegt habe,

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zugefichert: es drohe ihm und Richardion feine Strafe, wenn fie zugejtänden, daß der Einbruch in Edlingham von ihnen verübt worden fer, denn das Schwurgericht habe bereits zwet andere Berjonen wegen eben diejes Ver— brechens verurtheilt. Ein volles Jahr hindurch, oder noch länger, hätten die beiden Herren Edgell zugeredet, ja, ihn bejtürmt, das Geſtändniß zu machen, und ihm wieder: holt betheuert, e8 werde ihm nichts gejchehen, er könne gar nicht bejtraft werden. Endlich habe er jich von feinem Seelforger in einem Augenblide hierzu bejtimmen lajjen, da er Frank und der Meinung gewejen jet, er müſſe ohnedies jterben.

Nichardjon, nochmals in das Kreuzverhör genommen, gibt gleichfalls an, der Rechtsanwalt habe ihm verfichert, daß das Gutachten eines Nechtsgelehrten eingeholt worden jei, und habe ihn darüber beruhigt, daß er, wenn er jich freiwillig als der eigentliche Einbrecher befenne, doch nicht bejtraft werden fünne, weil fchon zwei Männer deſſelben Berbrechens -wegen im Zuchthaufe ſäßen. Er hat diefer Angabe vertraut. Unter der Anfchuldigung, den Polizeifergeanten Grab) ermordet zu haben, iſt Richardſon zwei Monate lang in Unterfuchungshaft gewejen. Allein er will unschuldig an diefem Verbrechen jein. Er be- hauptet, in der Nacht des Mordes ſei er gar nicht im Walde bei Glebe-Field, wojelbit die That verübt wurde, gewejen. Er ſei jchon eine Woche lang zuvor gar nicht wildern gegangen.

Mr. Edward Ridley, derzeit Friedensrichter, der im Jahre 1879 in der gegen Brannagan und Murphy durchgeführten Verhandlung als Ankläger fungirt, ebenjo Mr. Maniity, der als Richter feinerzeit die Verhand— lung geleitet hatte, berichten über die Einzelheiten und Vorgänge im Jahre 1879.

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Der Eönigliche Rath Mr. Milwain, ver Vertheidiger der Angeklagten Brannagan und Murphy im Procefie von 1879, wird aufgerufen und legt die Information vor, auf Grund deren er damals die Bertheidigung übernahm und burchführte.

Der Vorfigende, Richter Denman, entjchien jedoch, daß feine SZeugenjchaft im gegebenen Stadium der Ver— handlung unzuläffig jet.

Hierauf werden Brannagan und Murphy ver- nommen. ie erjtatten einen übereinjtimmenden Bericht über ihr Verbleiben in der kritiſchen Nacht, geitehen wol zu, wildern gegangen zu fein, jtellen aber entjehieden im Abrede, in Gejellichaft Edgell's und Richardſon's geweſen zu jein,

In das Kreuzverhör genommen, geben fie zu, in einer ganzen Reihe von Fällen gewildert zu haben und wegen Wilddiebſtahls und Uebertretung der Forftgejege mehrfach bejtraft zu fein. Ste räumten auch ein, bei mehrern Gelegenheiten abweichende und fich widerjprechende un- wahre Ausjagen abgegeben zu haben.

Nunmehr erjcheint Fräulein Buckle als Zeugin. Sie wiederholt die Angabe, welche fie jchon in der Verhandlung von vor 10 Jahren gemacht hatte, und bejchreibt ven Vorgang während des Einbruchese. Sie vermag jedoch weder in Edgell noh in Richardſon die Einbrecher zu erfennen.

Damit ift die Reihe der von der Anklage geführten Zeugen erjchöpft.

Bertheidiger W. Besley richtet hierauf eine An— ſprache an die Gefchworenen, um die Behauptungen ber Anklage zu entkräften, und jucht jie Punkt für Punkt zu widerlegen. Auch er führt etliche Zeugen vor.

Se. Ehrwürden H. ©. Budle wiederholt die Ausjage,

238 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam.

bie er in ber Hauptverhandlung vom Jahre 1879 abge- geben bat. Nach feiner Anficht, Die er unummwunden ausipricht, find Edgell und Richardſon ganz ficher nicht die Männer gewejen, welche in der Ffritiichen Nacht in den Pfarrhof eingebrochen find.

Der Polizeiconftabler Chambers, der urfprünglich mit in die Anklage wegen „ungejetlicher Verabredung“ einbezogen werden follte, aber jchon von dem Polizeirichter als gänzlich unbetheiligt entlafjen wurde, gibt, nunmehr als Zeuge vernommen, an, daß er perfönlich anwejend gewejen ift, als die Gipsabgüffe von den Einprüden und den Fußſpuren im Garten abgenommmen worben find. Er conftatirt mit aller Bejtimmtheit, daß dieſes fofort am Morgen des 7. Februar 1879 gejchehen ift, und be- jchreibt ausführlich und in allen Einzelheiten das hierbei beobachtete Verfahren. Er verweijt darauf, daß Dr. Wilſon ebenfall8 gegenwärtig war und fich darüber eingehend ge- äußert habe. Chambers jelbft hat ven Meifel im Wohn: zimmer des Pfarrhofes aufgehoben, er gibt die beſondern Merkmale, die er an dem Inftrument fand, detaillirt an.

Der hochwürdige Erzdiafon Hamilton fagt aus, daß er gegenwärtig war, als John Redpath den frag- lichen Meipel als fein Eigenthum anerkannte. Er bezeugt, Redpath habe ven Meißel genau bejehen, dann erſt den- jelben mit voller Beſtimmtheit als ihm gehörig bezeichnet und gleichzeitig auch die bejondern Merkmale hervorge- hoben, an welchen er ihn erfenne. Redpath habe damals ferner angegeben, daß fih das Werkzeug jeit mehr als zwei Jahren in feinem Befite befinde.

Verſchiedene Zeugen fprechen fich über den Leumund der Angeklagten aus. Alle ohne Ausnahme wiljen nur das Günftigfte zu berichten.

Mr. Besley nimmt wieder das Wort. Er faßt die

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 239

Ergebniffe der damaligen Berhandlung zufammen und beflagt lebhaft, daß die Anklage nicht alle Zeugen be- rufen hat, die feinerzeit bei der urjprünglichen Ver— handlung wider Michael Brannagan und Peter Murphy vernommen worden find. Er jagt: „Die Anklage hat es wol für zwedmäßig gehalten, Fräulein Budle zu be> rufen, weil fie ihrer bevurfte, um bie Einzelheiten des Einbruches zu bezeugen, allein die Ausfage der Dame bat weit mehr gegen als für die Anklage bewiejen, denn fie hat in Edgell und Richardſon die Einbrecher nicht erfannt. Wenn der geehrte Vertreter der Anflage bei den Gejchiworenen die Verurtheilung der Angejchuldigten beantragt, muß er die Jury auffordern, der von ihm ſelbſt borgeführten Zeugin zu mistrauen. Und warum hat es die Anklage unterlaffen, ven ehrmwürbigen Herrn Buckle ebenfall8 vor die Schranken des Gerichtshofes zu laden? Nur durch Zufall hat die Vertheivigung e8 erfahren, daß dies nicht gejchehen folltee Zum Glück war fie in der Lage, ihrerjeits dieſe Vorladung noch rechtzeitig vorzu— nehmen. Die Erinnerung des geiitlichen Herrn in Betreff der Perſon der Verbrecher ift weit jchärfer zum Ausdrucke gelangt als in den Ausfagen feiner Tochter. Seine An— gaben find für die Anklage geradezu vwernichtend. Er er- klärt bejtimmt: Edgell und Richardſon find nicht bie Thäter gewejen! Aber auch noch andere Zeugen hätten von jeiten der Anwälte der Krone berufen werden müffen. Ihre Vorladung ift unterblieben, weil ihre Ausfagen mit den Behauptungen der Anklage in unlösbarem Wider- ipruche ftanden. Nicht die Vertheidigung hätte die Auf- gabe gehabt, den Polizeiconjtabler Chambers, den hoch- würdigen Herrn Erzdiafon Hamilton vorzuladen, es wäre Sache der Kronanwälte gewejen, wenn fie ihrer Aufgabe getreu die Erforfchung der Wahrheit als oberften

240 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.

Zwed vor Augen gehabt hätten. Nach allem, was wir nunmehr wiſſen, ift die Anjchuldigung gegen Brannagan und Murphy vermalen noch feiter begründet als im Jahre 1379, wo fie von den Gejchworenen einjtimmig verurtheilt wurden. Die Jury hat diesmal nicht zur entjcheiven, welches von den beiden würdigen Paaren, ob die Wild- Diebe Brannagan und Murphy oder die Wilddiebe Edgell und Richardfon, ven Einbruch im Pfarrhofe zu Edlingham verübt haben. Stünde die Entjcheidung hierüber, bet dieſer Jury, fie würde faum jchwanfen, fie würde Brannagan und Murphy für die Thäter erklären und jo ihre ur= ſprüngliche Verurtheilung vatihabiren. Eins jteht als Ergebniß dieſer Verhandlung feſt: daß Edgell und Richardſon nicht die Männer waren, welche jenen Einbruch begangen haben. Die Zeugenausjage über die Art der Auffindung der Fußſpuren im Garten und über die Anfertigung der Gipsabgüffe ift zwingend für jeben, ber jehen und hören will. Die Gipsabprüde find in der loyalſten Weiſe hergejtellt worden. Darüber befteht nicht ber leifefte Zweifel mehr. Was den Meifel anbelangt, fo ift zwar nicht in Abrede zu ftellen, daß Rebpath zur An— erfennung feines Eigenthums vermitteld einer Xijt pro= vocirt worden ift, allein fein Zeugniß war klar und bleibt unanfechtbar. Er erfannte an, daß gerade dieſes Werf- zeug fich feit vollen zwei Jahren in feinem Beſitze befand. Was das Stücdchen Zeitungspapter anlangt, das im Unterfutter von Murphy's Rod gefunden wurde, und den Feten Stoff, der von der Hofe Brannagan’s abgerifjen zu fein jchien, fo ift auch nicht der Schatten eines Nach— weiſes dafür erbracht worden, daß die Bolizeiorgane ihre Hand dabei im Spiele gehabt hätten, als dieje von dritten, unbefangenen Perjonen aufgefundenen Beweisjtüde an bie Fundſtelle gejchafft oder gethan wurden. Sowol die An—

Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 241

geflagten als ihr inzwijchen verfjtorbener Vorgefekter, der Polizeichef George Harfes, haben fich von jeher als Männer von erprobter Chrenhaftigfeit erwiejen, denen derartige jchamloje Fälfchungen nicht zugetraut werben DREI, 240

Nachdem Mr. Bruce namens der Anklage replicirt hatte, richtete am legten Verhanblungstage, Samstag, den 23. Februar, der Richter Denman folgendes Reſume an die Gejchworenen:

„. . . . In meiner langen Erfahrung ift mir fein Fall vorgefommen, in dem von gewifjer Seite mit mehr Nach- prud gejtrebt wurde, auf Heine und Fleinliche Indicien bin, zu ganz bejtimmten und concreten Schlußfolgerungen zu gelangen. Diefe Indicien find aber oft jehr fraglicher Natur gewefen. Darum muß ich im Intereffe der ge- rechten und finnesgemäßen Anwendung des Geſetzes Sie ermahnen, daß Sie, die Sie berufen find, durch Ihr Urtheil das Verhalten des Gerichtes zu bejtimmen, ich darauf beichränfen mögen, Ihre Aufmerkfamfeit, Ihr Ge- dächtniß und Ihre Beurtheilung ausſchließlich auf die Shnen im Gerichtsfaale bewiejenen Thatſachen zu richten, und daß Sie fich nicht von dem Widerſtreit der öffent— lichen Meinung, der doch ficherlich auch zu Ihrer Kenntniß gekommen fein muß, beeinfluffen laffen mögen. Der in Frage jtehende Fall ift von jehr großer und weittragender Bedeutung. Wenn man die Schuld der drei Angeklagten als vorhanden annehmen will, fo find zwei Möglichkeiten in das Auge zu faſſen, die in ihrer relativen Wichtigkeit weit voneinander abweichen. Wenn nachgewiefeu iſt, daß die angeflagten Polizeiorgane jelbit an die Schuld Bran— nagan’s und Murphy's nicht glaubten, dennoch aber Beweisſtücke fäljchten, um deren Verurtheilung herbeizu- führen, jo haben ie ein abjcheuliches en

XXIIL

242 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam.

weitaus vwerwerflicher, als wenn fie, von der Schuld ber beiden Leute überzeugt, beabfichtigten, bei ven herbeigejchafften Beweijen nur etwas «nachzuhelfen». Doch auch in dieſem weniger argen Falle, wenn fie jelbft in veblicher Abficht durch folche Praftifen die Zwecke geregelter Juſtizpflege zu fördern vermeinten, bliebe ihr Vorgehen durch und durch unmoralijch, jchändlich und verdammenswerth. Ald «Ver— ihwörung» oder «unerlaubte Verabredung» im Sinne des Geſetzes muß es gelten, wenn die drei Angeklagten oder auch nur einer berjelben im Einverftändniffe mit ihrem, feither verfjtorbenen, Vorgeſetzten George Harfes conjpirirten und fich mit ihm dahin einigten, dem Gerichte Beweiſe zu unterbreiten, von denen fie wiffen mußten, daß fie gefälfcht, umrichtig und geeignet waren, bie Ge— vechtigfeit auf andere Bahnen zu leiten, auch dann, wenn fie jelbjt von der Anficht ausgingen, daß die von ihnen verhafteten Individnen die wirklichen Verbrecher wären. Anders ftellt fich die Sachlage, nicht nur nach ven Grund: ſätzen der Moral, fondern auch nach den Geſetzen Englands, wenn diefe Männer, die heute auf ver Anflagebanf fiten, in ehrlicher Ueberzeugung von der Schuld Brannagan's und Murphy’ und in gutem Glauben Beweigjtüde dem Gerichte vorführten, von deren Unrichtigfeit fie nichts wußten, bie fie nach ihrer eigenen ehrlichen Anſchauung für überweijend erachtet haben. Wenn dann auch jene Beweisſtücke zu einem vorjchnellen und ungerechten Urtheil verleitet hätten, jo find fie dieſerwegen noch nicht ſchuldig. Ebenfo wenig Fönnen Sie die Angeklagten jchulpig jprechen, wenn bie leßtern von der redlichen Abficht befeelt, bie Wahrheit aufzuklären und in dem Glauben, auf ber richtigen Spur zu fein, einem Zeugen, deſſen Unbefangen- heit nicht außer allem Zweifel jtand, mit Anwendung einer Yilt eins der Beweisftüde, den Meifel, in die Hände

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlinghbam. 243

ipielten, um von ihm eine wahrheitsgetreue Ausfage über das Eigenthum an dieſem Handwerksgeräth hervorzuloden, die fie font fchwerlih von ihm erlangt hätten. Es iſt dies ein von feiten der Polizei einem Zeugen bevenf- licher Natur gegenüber ganz zuläffiges Vorgehen, wenn die Abficht redlich darauf gerichtet war, die Wahrheit darzuthun. Die Frage, die zu entjcheiden ift, geht dahin: «ob die Angeklagten im Cinverfiändniffe mit dem ver: jtorbenen George Harfes, im Bewußtjein, daß fie Beweiſe fäljchten, in unehrlicher Weiſe fich beftrebten, einer auf ſchwachen Füßen jtehenden Anklage nachzuhelfen». Die Geſchworenen haben zu erwägen, daß nach unſern ftraf- procefjualifchen Vorjchriften die Angeklagten nicht berechtigt find, perjünlich etwas zu ihren Gunften worzubringen. Es wäre ebenjo ungerecht al8 grauſam, wenn fie berur- theilt werden jollten, weil in Ihrer Enticheivung Grund— ſätze maßgebend würden, die im Civilproceſſe zuläffig und nothwendig, im Strafprocefje aber verwerflich find, wenn Sie nämlich die größere oder geringere Wahrfcheinlichkeit, bie für die eine oder die andere Angabe jpricht, mitein- ander bilanciren wollten. In Straffachen muß die Schuld des Angeklagten nach der Ueberzeugung des Richters er- wiejen fein. Nur wenn die Anklage nachzuweijen im Stande ift, daß feine andere Erklärung gegeben werben kann, als das ſchuldbare Einverjtändniß der Angeklagten, dürfen Sie diejelben verurtheilen, jonjt muß ihre Frei— iprechung erfolgen. Der Fall ift unzweifelhaft ein ganz außergemöhnlicher. Der nadten Thatfache, daß zwei Männer im Jahre 1879 zu lebenslänglicher Zuchthaus- arbeit verurtheilt wurden und daß nach faft einem De— cennium zwei andere Leute freiwillig herwortreten und befennen, daß fie jenes Verbrechen begangen haben, um deſſentwillen die andern beiden jeit nahezu 10 Jahren im 2 16*

244 Der Einbrud im Bfarrhofe von Edlinghbam.

Kerker ſchmachten, ift in fünf Jahrhunderten englijcher Gerichtöpflege nichts Aehnliches an die Seite zu ftellen. In diefer Beziehung fteht ver Fall ohne feinesgleichen da. Ueberdies bejtehen noch jet Zweifel und Unklar— heiten. Sie laſſen fich nicht bejeitigen, ja es iſt ſogar ber Verdacht rege geworben, daß jenes verjpätete Be— fenntniß nicht reinen Gewifjensjcrupeln, fondern andern, vielleicht unlautern Motiven entjprungen jei!

„Wenn dies aber wirklich der Fall ift, welche unge- heuere, welche geradezu frevelhafte Verantwortlichkeit haben jene auf fich geladen, die durch ihren unberufenen Eifer wieder andere, unfchuldige Perfonen unter dem Verdachte, eine ungerechte Berurtheilung durch frivole Machinationen verurfacht zu haben, auf die Anklagebank brachten!

„Das etwas ftarfe Bild, das der Vertheidiger Mr. Besley gebraucht hat, al8 er Ihnen zurief: «Wenn das Gebäude der Anklage nur auf Ausjagen der nunmehr als die wirf- lihen Einbrecher geltenden zwei Burjche allein beruhen jollte, hätten Sie dann den Muth, darauf hin auch nur einen Hund hängen zu laffen?» es ijt gerechtfertigt. Dieſes Zeugniß ijt in der That ein ſolches, daß es zu ernten Bedenken Anlaß bietet. Die Anklage beruht aber thatjächlich darauf, daß ein jtrafwürdiges Einverjtändniß zwijchen den angeflagten Bolizeiorganen bejtanden habe. Ehe Edgell und Richardſon ihr überrafchendes Befenntnif ablegten, war man allgemein überzeugt, ein ziwingender Indicienbeweis habe die Verurtheilung der Angeklagten Brannagan und Murphy herbeigeführt ein dermaßen zwingender Beweis, daß ein erfahrener, vorfichtiger Richter und intelligente Geſchworene nach einer langdauernden, jorgfältig geführten Schlußverhandlung, bei welcher ein hochbefähigter und gewiffenhafter Vertheidiger und ein Iharfjinniger und pflichteifriger Rechtsanwalt den Ange-

Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingham. 245

fagten zur Seite ftand, dieſe zwei Perſonen ebendesjenigen Verbrechens für jchuldig erklärten, deſſen Verübung, wie es nunmehr heißt, nicht ihnen, ſondern zwei andern ver- lotterten Burſchen zur Laſt fallen ſoll. Die Frage, welche Sie zu entſcheiden haben, ijt jevoch nicht: ob A, ob B, od C den Einbruch im Pfarrhofe zu Edlingham begingen. Diefe Frage iſt durch andere Gejchworene und fie tft widerjprechend beantwortet worden. Sie mögen fich ihre eigene Anficht darüber bilden, ob es ficher ift, daß dieſe oder jene Perjonen die Verbrecher waren, oder ob noch immer Zweifel darüber möglich find, aber Sie haben darüber nicht zu entjcheiden. Ihr Wahrfpruch hat diefe Bedeutung nicht. Ihre Entſcheidung gilt ausjchließlich und allein der Frage: Sind die angeflagten drei Männer, oder einzelne von ihnen, der ihnen zur Laſt gelegten Handlung, der fträflichen ungefetlichen Verabredung zum Zwede der Herbeiführung einer Verurtheilung jener zuerit wegen des Einbruches in den Pfarrhof von Edlingham vor Gericht geftellten Individuen, ſchuldig?

„Meberlegen Sie in Ruhe ven Hergang. Es iſt zweifellos fichergeftellt und wird von feiner Seite beftritten, daß ein frecher und verwegener Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar 1879 verübt wurde. Ob Sie nun Brannagan und Murphy oder Edgell und Richardſon als die Verbrecher anjehen, gewiß ift, daß die That in rücfichtslofer, brutaler Weiſe und mit großer Gefährdung von Menjchenleben begangen, in feiger und tückiſcher Weife ins Werk gejetst worden ijt. Das Haus war nur von einem einzigen alten Manne, dem hochbejahrten geiftlichen Herrn, und einigen Frauens— perfonen bewohnt. Welches der beiden Paare immer ben Einbruch verübte, die Thäter waren mit diefen Verhält- niffen wohl vertraut. Brannagan hatte als Knabe im

246 Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingham.

Pfarrhofe Schulunterricht genofjen, Edgell war zeitweilig aushülfsweije als Gärtner im Haufe bejchäftigt worden. Welches der Paare ald Einbrecher dort auftrat, e8 war ein Paar feiger Schufte, denn jie betraten das von feinem widerjtandsfähigen Manne bewohnte Haus, bewehrt mit einer geladenen Flinte. Der alte Herr ſowol als feine Tochter bewieſen rühmenswerthe Unerjchrodenheit. Beide boten der Gefahr kühn die Stirn, indeß wollte in eriter Linte der Vater die Tochter und die Tochter den Vater ſchützen. Sie wollten ihr Eigenthum vertheidigen und die Räuber fejtnehmen, ſelbſt dann noch, als fie durch den Schuß, der auf fie abgegeben wurde, verwundet worden waren. Der nächte Morgen traf die Verbrecher mögen es nun Brannagan und Murphy oder Edgell und Richard- jon gewejen fein in Alnwid. Die Anklage meint, e8 habe im Intereſſe der Verbrecher gelegen, fo raſch als möglich ihr Heim aufzufuchen, um, fall8 die Polizei Ver— dacht jchöpfen und Nachforſchungen anjtellen follte, ruhig im Bette betroffen zu werben; die Vertheidigung dagegen macht mit ebenjo großer Wahrfcheinlichfeit geltend: pie Verbrecher möchten unter dem Schulpbewußtjein, ein Gewehr abgefeuert zu haben, aber ungewiß darüber, ob dem Schufje ein Menjchenleben zum Opfer gefallen jet, einen Umweg eingefchlagen haben, um Alnwid von der entgegengejetten Seite zu betreten. Denn dadurch ver- binverten fie, daß man ihre Spur auffand. Wie ich wiederholt betonte, iſt e8 diesmal nicht unſere Aufgabe zu entjcheiden, wer die Einbrecher geweſen find. Dieſe Trage bleibt für ung ein Incidenzfall. Wer immer es gewejen fein mag, als lobenswerth joll hervorgehoben werben, daß die Verfolgung mit überrajchender Schnellig- feit eingeleitet und zielbewußt durchgeführt worden ift. Dies gejchah wieder infolge ver Geiftesgegenwart und des

Der Einbrud im Pfarrbofe von Edlingham. 247

energiichen Eingreifens des Fräulein Budle. Sie ſandte nämlich fofort einen berittenen Boten nah Alnwid, der einen Arzt und die Polizei herbeiholen jollte. Die Organe ber lestern fehrten bereitö um 5 Uhr morgens von Ed— lingham nach Alnwid zurüd. Der erjte Verdacht richtete fich gegen Edgell und Richardſon, zwei berüchtigte Burjchen, gegen die bereits früher ein Verdacht der allerjchwerjten Art, der Verdacht eines Mordes, erhoben worden war. Die Polizei fand jedoch beide in ihren Betten, angeblich ichlafend, und was jehr bezeichnend und bemerfens- werth iſt dieſelben Polizeibeamte, denen jett übergroßer, weit über das Ziel hinausſchießender Scharffinn, ja jogar jene Schlauheit vorgeworfen wird, die Fünjtliche Beweis- ſtücke zu fabriciren im Stande ift, fie fanden nichts, rein gar nichts Verdächtige vor. So gingen fie beruhigt ihres Weges. Lag aber irgendein Grund vor, weshalb etwa die Polizei Edgell und Richardſon fchonen, fie gegen andere, dritte Perfonen bevorzugen follte? Bei deren gerichts- befannten Antecedentien? Gewiß nicht. Edgell und Richardſon hatten, wie aus ihren eigenen Ausjagen her— vorgeht, wegen des Mordes eines Polizeifergeanten in Unterfuchung gejtanden. Sie find gerade Menjchen jenes Schlages, gegen die fich der Verdacht naturgemäß und in erjter Linie richtet, gerade von dem Schlage auch, nad) dem die Polizei gern greift und den fie nur ungern wieder losläßt. Es lag ficherlich für die Polizei fein Grund vor, gerade dieſe Burjche beſonders rückſichtsvoll zu behandeln, gerade fie zu fehonen. Eher fünnte man das Gegentheil annehmen. Nichtsveftoweniger ließen die Polizeibeamten biejen zuerjt rege gewordenen Verdacht fallen und fahndeten nah Brannagan und Murphy, die ihnen verhältnigmäßig doch weit harmlojer erjcheinen mußten. Als fie in deren Behaufungen famen, kann e8 nur wenig nach 5 Uhr

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morgens gewejen fein. Beide waren die Nacht über nicht heimgefehrt. Die Polizei zog zunächft ab, fam aber um 7 Uhr früh wieder dahin zurüd. Nun waren die Ge— juchten eingetroffen. Sie verantworteten fich mit verjelben Ausflucht, die fie Schon mehrmals in ähnlicher Fällen vorgebradht hatten: «Site feien auf dem Moore von Charlton wildern gewejen.» Die Polizei fand dieſe Be— reitwilligfeit, ein DVBergehen zuzugeftehen, welches jonft jo beharrlich geleugnet zu werben pflegt, jehr verbächtig. Sie glaubte den Burjchen aber nicht und feste ihre Er— hebungen fort. Der Anfläger von heute ift hingegen dieſem Befenntnifje gegenüber, weit weniger ffeptiih. Ihm ericheint die Jagd auf dem Moore von Charlton glaub- würdig und der Wahrheit entjprechend. Einen Nachweis für die Richtigkeit ihrer Angaben haben Brannagan und Murphy nicht erbracht. Es ift nur bemerkt worden, daß fie auf einem Wege Alnwick erreichten, der nicht direct auf Edlingham als Ausgangspunkt weilt; allein dies würde, wenn fie die Einbrecher waren, ganz gut Durch einen mit Schlauheit gewählten Umweg, der auch ihr jpäteres Eintreffen begreiflich machen würde, leicht zu er— klären fein. Sie behaupteten, die erbeuteten Kaninchen in einer Anpflanzung zurüdgelaffen und verſteckt zu haben. Thatjächlich find an der von Brannagan und Murphy bezeichneten Stelle Kaninchen verſteckt vorgefunden worden. Es ift aber ebenfo möglich, daß fie diefelben fchon ein oder zwei Nächte zuvor gejagt und gefaugen und, um einer Entdeckung des Wilddiebſtahls vorzubeugen, bort verborgen gehalten haben. Dies würde mit ven Thatjachen in feiner Weiſe im Widerfpruch ſtehen. Was hätte fie verhindern fünnen dies zu thun? Der Zuftand des aufgefundenen Wildes fteht diefer Annahme nicht entgegen. Wenn fie in der kritiſchen Nacht jo vorgegangen find, wie e8 Edgell

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 249

und Richardſon von fich behaupten, wenn fie auf ihrer Jagd nichts, oder nur etliche Kaninchen erbeutet und dieſe in ihr Verſteck gebracht haben, jo Liegt in dem Umſtande, daß wirklich an der von Brannagan und Murphy ange- gebenen Stelle fi) Kaninchen befunden, nichts, was ber Annahme, vdieje beiden Individuen feien die Einbrecher, wiberjprechen würde. Sie haben auch angegeben, einer von ihnen hätte einen Spaten, ber zum Ausgraben ber Kaninchenbaue bejtimmt war, in feinem Rodärmel ver- borgen gehabt, allein jene beiden, nicht in die Anklage miteinbezogenen Boliziften, welche Brannagan und Murphy anhielten, müßten recht alberne Stümper geweſen jein, wenn fie, als fie die Wilderer durchjuchten, dieſen Spaten nicht jofort entdeckt und beichlagnahmt hätten.

„Die Beweisaufnahme ift äußert umfangreich ich jelbft habe über 209 Foliofeiten Notizen vor mir liegen und e8 ift fchwer, die fich widerjprechenden Angaben zu entwirren. Man muß daher, um fich ein klares Ur- theil bilden zu fönnen, bie verfchiedenen Möglichkeiten des Falles einzeln genau erwägen. Zuerft die, daß Bran- nagan und Murphy die Einbrecher waren, und dann wieder die Gründe erwägen, bie dieſer Annahme entgegenitehen. Hierauf muß man Edgell und Richardſon als die Ein- brecher anfehen, aber auch wieder erwägen, welche Gründe gegen diefe Annahme ftreiten. Dieje Brage aber haben Sie, meine Herren von der Jurhy, ich mache Sie wieber- holt darauf aufmerffam, nicht zu löſen. Es bleibt über- haupt dahingeſtellt, ob heute nach dem vorliegenden Ma- teriale diefe Frage von irgendeiner Jury bejtimmt und in befriedigender Weife beantwortet werben fünnte. Zwei wichtige Zeugen, ver Polizeileiter George Harkes und der Arzt Dr. Wilfon, find ja feit dem Zeitpunfte der erjten Hauptverhandlung in dieſem vielerjchlungenen Procefje

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mit Tod abgegangen, und es mag jein, daß niemals mehr volles Licht über die Thatumftände verbreitet werden wird.

„Die erjte Annahme geht aljo dahin, daß Brannagan und Murphy die Einbrecher waren. Wenn Sie nun der Anficht find, daß die Polizei die Indicten gegen die Ge- nannten in aufrichtigem Beſtreben nach Wahrheit, auf redliche Weiſe zufammengeftellt hat, jo Tiegt ein fait un- umftößlicher Beweis gegen diefe Leute vor. Nachdem ich das im Jahre 1879 bei der Verhandlung durchgeführte Beweisverfahren genau geprüft habe und nach jorgfältiger Durchficht der Aufzeichnungen des damaligen Verhand- lungsrichters, jo kann ich al8 Ergebniß meiner aufmerfjamen Studien mit gutem Gewiſſen jagen: ich habe jelten einen Strafproceß erlebt, in dem die Schlußfolgerung klarer und präcijer vorgezeichnet erjchien. Wenn eine Jury nach den Ergebnifjen ver Schlußverhandlung noch Zweifel ge- hegt hätte, ob fie verurtheilen follte, jo würde ich der Ueberzeugung fein, daß dieſe Jury nicht aus intelligenten Männern zufammengejett gewejen wäre. Sleinerlei Um— jftand war damals zu Tage getreten, der das Zeugnif ber Polizei hätte irgendwie zweifelhaft erjcheinen laſſen fünnen. Ein Stüd Zeitungspapier war im Pfarrhofe aufgefunden worden, welches zu jenem Blatte, welches Dr. ®ilfon im Unterfutter von Murphy’ Rod vorfand, genau paßte. Redpath, der Duartiergeber Murphy's, hatte Har und bejtimmt ausgejagt, daß der Meißel, der ihm vorgewiefen wurde und der gleichfalls im Pfarrhofe aufgefunden worden war, jein Eigenthum jet. Er jagte unbefangen aus, weil er nicht ahnte, daß dieſes Werkzeug als ein wichtiges Beweisſtück fungiren ſolle. Redpath wurde zu zwei verjchiedenen malen befragt, und er gab die Kenn— zeichen, die ihn veranlaßten, gerade diefen Meißel als fein Eigentum zu agnojciren, genau und unverhohlen an.

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 251

„Als ein ferneres Indicium war urjprünglich ein Kleiner Tegen groben Tuches oder Baumwollſtoffes mit einem Knopfe vorgelegt worden, der geraume Zeit nach dem nächtlichen Einbruche unter dem Fenjter des Wohnzimmers des Pfarrhofes von einem Dienftmädchen aufgehoben worden war. Der rechtsgelehrte Kichter, welcher ber Hauptverhandlung im Jahre 1879 präfidirte, hat dieſen Teen vor Augen gehabt und bemerkt, daß ver Knopf daran den andern Knöpfen an der Hofe Brannagan’s nicht gli. Er hat darum dieſes Beweisſtück beanſtandet und zurücgewiejen, vafjelbe wurde deshalb in die fchließ- liche Anklage nicht miteinbezogen und bat feinen Einfluß auf die Urtheilsichöpfung der Gefchworenen ausgeübt. Da— gegen wogen um jo jchwerer die Ausſagen des Reverend Mr. Buckle und jeiner Tochter. Diefelben äußerten fich allerdings mit der anerfennenswertheften Vorficht und Gewiſſenhaftigkeit. Allein fie jtimmten doch darin über- ein, daß der Mann, welcher die Flinte gegen fie abfeıterte, in Geftalt und Ausfehen dem Angeklagten Brannagan vollftändig glich, daß der DBetreffende breitjchulterig war, von militärisch ftrammer Haltung, und dunkles Kopfhaar trug. Man fand im Garten Fußſpuren, fie wurden un— verzüglich in Gips abgeformt. Die Gipsabgüffe paßten genau zu ben Stiefeln Brannagan’s und den Holzihuhen Murphy's. Alle diefe Indicien vereint mußten genügen, um eine noch jo zweifelfüchtige Jury zur Abgabe eines «Schuldig» lautenden Wahrjpruches zu veranlaffen. Nun heißt e8 wol, Brannagan und Murphy waren doch nicht die Thäter, denn es ift nachgewiejen, daß zwei andere Individuen den Einbruch verübt haben. Wenn Sie aber mit mir der Anficht find, daß Edgell der Bejchreibung, welche Fräulein Buckle jeinerzeit von dem Einbrecher gab, ven fie doch bei den Haaren gefaßt hatte, ebenjo wenig

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entjpricht wie Richardſon, jo ift der Beweis, der gegen Brannagan und Murphy vor zehn Jahren als erbracht galt, unerjchütterter denn je. Noch mehr. Sie haben zu erwägen, ob Mer. Budle over feine Tochter fich geirrt haben, als fie angaben, Edgell könne nicht der Mann gemwejen fein, der auf fie gejchoffen habe, Bedenken Sie, daß Edgell und Richardfon in der wider fie durchgeführten Verhandlung fich ſchuldig erklärten des Einbruches, nicht ichuldig des Mordverfuches, daß das Urtheil in dieſem Sinne lautete und daß fie deshalb mit einer verhältniß- mäßig geringen, zeitlichen Freiheitsſtrafe belegt worden find. Von einem der Parteivertreter iſt auch hervorge— hoben worden, daß Redpath ſchwache Augen habe und jein Zeugniß aus diefem Grunde mit Mistrauen aufzu— nehmen fei. Seine Anerkennung des Eigenthums an dem fraglichen Meipel fünne nur mit Vorbehalt als beweijend angejehen werben. Dieſe Behauptung ift nicht jtichhaltig. Meine Erfahrung lehrt mich, daß ſelbſt völlige Blinpheit bie Fähigkeit, gewiffe Gegenftände an befondern Merf- malen zu erfennen, nicht ausfchlieft. Ich erinnere mich aus meiner eigenen Praxis eines bemerfenswerthen Falles, in dem ein ſtockblinder Mann einen Glasgriff, der ihm geftohlen worden war, ficher wiedererfannte. Er fand denſelben unter 20 verjchiedenen, ihm beim Kreuzverhör vom gegnerischen Advocaten vorgelegten Glasgriffen ohne Schwierigkeit und mit voller Sicherheit heraus. Der Meißel, der hier in Frage fteht, hatte aber bejonvere Kennzeichen: ein Sprung, der entlang dem Griffe ver- lief, und überdies war ein Stüdchen des lettern ganz abgefplittert. Dies find Merkmale bejonderer Art, bie dem Eigenthümer nicht entgehen fünnen. Redpath wurde obendrein in dieſer Angelegenheit zu zwei verſchiedenen malen vernommen, und wie wir aus den Zeugenausfagen

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ſowol des Schriftführers am Friedensgerichte, als bes hochwürdigen Erzdiafons Hamilton entnehmen, wurde er beim zweiten mal von dem Wertheidiger der Ange— Hagten, Der. Milwain, in ein jcharfes Kreuzverhör ge- nommen. Beidemal erfannte er jedoch den Meißel mit voller Beftimmtheit als den feinigen und gab jeine Gründe hierfür an. Warum aber bejchwor er dann in ber zweiten Hauptverhandlung vor dem Friedensrichter das Gegen- theil? Die Erflärung iſt leicht zu finden. Sie ift in der menfchlichen Natur begründet, wenn fie auch nicht jehr ehrenvoll für den Zeugen ijt. Redpath war furz nach der Verurtheilung Brannagan’s und Murphy's ge- nöthigt, fich in die freiwillige Arbeitsanftalt zu begeben, in diejelbe zu flüchten, wenn man will. Es blieb ihm fein anderer Ausweg mehr. Er hatte durch feine ums» umwundene Ausfage den allgemeinen Unwillen feiner Ge- jellfchaftsfreife erregt. Seine Geliebte, die Schweiter Murphy's, Hatte ihn verlaffen. Er war verfemt, von allen gemieden, und als lette Zufluchtsftätte blieb ihm nur das Aſhlhaus. Es ift dies nicht überrafchend bei einer Bevölkerung, welche die heimfehrenden Zuchthäusler wie lorbeergefrönte Helden, im Zriumphe empfing. Er war ein armer, wenig willensjtarfer Menjch, er juchte wol durch die abgeänderte Zeugenausjage wieder etwas populärer zu werben. Es liegt Ihnen jeine neuerliche beihworene Ausfage vor, in der er nunmehr behauptet, alle Angaben, die er in Betreff des Meißels, der eine jo wichtige Rolle im Beweisverfahren fpielte, im Jahre 1379 beeidet hatte, jeten irrig und unwahr gewefen. Wenn Sie diefer nachträglichen Correctur den Glauben ver- weigern und jeine urfprüngliche Angabe für wahr erachten, jo ift das Herfommen des Meißels, der unbejtrittener- maßen beim Einbruche als Werkzeug diente, bis auf Mur—

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phy's Wohnftätte zurückzuverfolgen und bildet ein äußerſt wichtige8 Belaftungsmoment gegen die Compagnie Bran- nagan und Murphy. Was die in dieſem Procefje von Murphy in feiner Eigenjchaft als Zeuge abgegebene Aus- fage betrifft, jo war die Art und Weiſe, wie er biefelbe vorbrachte, geradezu bedenklich. Zuerſt ſprach er fließend. Seine Darftellung machte ven Eindruck des Eingelernten. Als er aber in das Kreuzverhör genommen, aufgefordert wurde, dieſes oder jenes Detail zu beſchwören, da ftockte er, da antwortete er nur zögernd und nur auf einbring- liches Befragen. Selbit ohne Rüdficht auf die Zeugen- ichaft der Polizeiorgane, nur im Hinblid auf die Ausfagen des Reverend Mr. Budle, feiner Tochter und der andern unbefangenen Zeugen, denen gewiß voller Glaube beizu- mefjen ift, erjcheint der Beweis gegen Brannagan und Murphy fo gut wie erbradht. Wenn nun diefe Zeugen- ichaft der Polizei als eine ehrliche angenommen wird, jo ift der Beweis, der vorher jchon gelungen ſchien, dadurch vollfommen ergänzt worden. In ber jeßigen Berhandlung ift ein Zeuge aufgetreten, der perjünlich gegenwärtig war, als die Gipsabgüffe hergeftellt wurden, und ver für deren Nichtigkeit einfteht. Dr. Wilfon ift todt. Allſeitig wird zugegeben, daß er eine höchſt achtungswerthe und intelli- gente Perfönlichkeit geweſen iſt. Nichtsveftoweniger hat man angedeutet, er könne vom damaligen Bolizeileiter George Harfes getäufcht und misbraucht worben fein. Dr. Rilfon war e8 nämlich, der Murphy's Rock unter- ſuchte. Er that dies vorfichtigerweife, um ſich zu ver— gewiffern, ob in demſelben etwa Schnitte von dem Schwerte bemerkbar wären, mit dem der Reverend Mr. Buckle fich bewaffnet hatte, al8 er den Einbrechern entgegentrat. Bei ‚diefer Unterfuchung fand Dr. Wilſon im Unterfutter des Nocdes jene Zeitung, zu welcher das von den Einbrechern

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 955

im Pfarrhofe verlorene Stüd gehörte. Der fragliche Rod it ein ſehr defectes Kleidungsſtück, jehr abgetragen und zerrifjen, und es ijt in dem Umftande, daß das Zeitungs. papier jtatt in der Innentafche im Unterfutter ftaf, nichts Auffälliges zu erbliden. Es ift Zeugenfchaft dafür an- geboten worden, daß der Rod, welcher als jener Murphy's der Polizei übergeben wurde, eigentlich dem Redpath ge- hörte. Dies ift an fich wol möglich, denn die beiden Männer lebten ja thatjächlich in einem gemeinjchaftlichen Haushalte, und Berwechjelungen wären nicht unmöglich gewejen. Es ijt auch behauptet worden, gerade dieſer Rod jet von der Schweiter Murphy's, der Geliebten Redpath's, vorſätzlich durchnäßt und dann erjt in die Hände der Polizei ausgeliefert worden, um fie zu täujchen und glauben zu machen, daß Murphy den Rod in jener feuchten Februarnacht getragen habe. Es wird ferner geltend gemacht, Brannagan und Murphy hätten einen Hund mit fich geführt, und in der Unterjuchung vom Sahre 1879 habe nichts davon verlautet, daß man Hunde— puren gefunden habe. ‘Diejer Umitand tft jedoch keines— wegs erheblich, denn zur Zeit des Einbruches befand fich ein großer Wachthund in der Hundehütte nächft dem Pfarrhofe. Derfelde wurde auch am folgenden Morgen von der Kette gelaffen, und es wäre kaum möglich ge- wefen, feitzuftellen, ob etwaige Spuren von biejem Hunde oder einem andern berrührten. Kerner iſt darauf hin- gewiejen worden, die Zeugen hätten bejtätigt, daß bie beiven Bejchuldigten am Morgen nach dem Einbruche auf einem Wege in Alnwid eingetroffen wären, der nicht in Die Richtung nah Edlingham führt. Allein dies beweilt gar wenig. Sie konnten abfichtlich den Umweg gewählt haben. Dies würde auch mit der Ausjage jenes Polizeibeamten übereinjtimmen, der angab, daß die Fußfpuren im Garten

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des Pfarrhofes jich in einer nicht nah Alnwick führenden Richtung entfernten: Er habe die Fußſpuren noch eine furze Strede verfolgen fünnen, dann aber hätten fie fich auf dem harten Boden verloren. Es ift übrigens aus dem Datum des Einfchreibebuches dieſes Poliziften con- jtatirt worden, daß er diefe Beobachtungen wirklich ſchon am 7. Februar 1879, am Morgen nach dem Einbruche und nicht erjt nachträglich gemacht hat. Was für Leute find aber eigentlich Edgell und Richardjon? Ueber ihr Vorleben find Sie genügend unterrichtet. Ueber ven Eindrud, den ihr perjönliches Auftreten zurüdläßt, ift wenig zu jagen. Er jteht noch friich in Ihrer Erinnerung, fie jind ja bier auf der Zeugenbanf erjchienen. Nichard- jon präjentirt fich genau jo wie man Einbrecher ſich typisch vorzuftellen pflegt. Laſſen Sie fich jedoch dadurch nicht zu falfchen Schlüffen verleiten! Meinen Sie wol, daß die Polizei einen folchen Vogel ohne weiteres hätte fliegen laſſen, wenn fie nicht jehr triftige Gründe dafür hatte? Edgell fieht allerdings weniger ruppig aus, allein darum doch nicht vertrauenswürdiger. Er vertritt fo recht den Typus des Friechenden, immer weinerlichen und demuths— voll zufammenfnidenden Bettlers. Sie haben feine Art fih zu geben auf der Zeugenbanf beobachten Fünnen. Lauten aber auch nur die Ausfagen diefer beiden in jenen Punkten wejentlich gleich, in denen fie die Aufrichtig- feit ihres Geftänpdniffes vorausgeſetzt übereinstimmen müßten? Nein... Beide, jowol Edgell als Richardfon, waren mit den Verhältniffen auf dem Pfarrhofe wohl- vertraut. Beide hatten vollauf Gelegenheit, fich über die Einzelheiten und Ergebniffe der Verhandlung wider Bran⸗ nagan und Murphy genau zu unterrichten. Sie waren jomit ganz leicht im Stande, eine erdichtete Erzählung über die Umftände des Verbrechens vorzubringen. Edgell und

Der Einbrud im Pfarrhofe von Eblingbam. 257

Richardſon waren umd dies ift ein Schwarzer Punkt bes Mordes eines Polizeibeamten wegen in Unterjuchung gewejen. Das Dunkel, welches über jenem Mord ſchwebt, iſt noch immer nicht aufgehellt. Sie jelber geben überein- jtimmend zu, daß fie von dritten Perjonen zu ihrem Geftänd- niß gedrängt und von ihnen dazu bewogen worben find. Sie behaupten, fowol der Seelforger Edgell's als ihr Rechts- anmwalt hätte ihnen vwerfichert, daß ein Nechtsgutachten eingeholt worben fet und daß fie jedenfalls ftraflos aus- gehen müßten, wenn fie fich ſelbſt vor Gericht als die— jenigen angäben, die den Einbruch verübt hätten. Ihre Beitrafung fei unzuläffig, jo habe man ihnen gejagt, weil wegen jenes Verbrechens ſchon zwei Männer rechtsfräftig berurtheilt wären und feit Jahren als Zuchthausfträflinge dafür büßten. Sie glaubten feſt an die Nichtigkeit dieſer Rechtsauffaſſung, bis zu dem Augenblid, wo zu ihrer großen Ueberraſchung ihre VBerurtheilung erfolgte. Es it zwar nicht recht begreiflih, daß ein hervorragender Rechtsgelehrter wirklich einer folchen Rechtsanficht huldigen und ihr in einem Öutachten Ausdruck gegeben hat. “Dem Gerichtshofe ift dieſes Gutachten nicht vorgelegt worden, aber der Thatfache, daß man ein folches eingeholt bat, ift von feiner Seite widerfprochen worden. Sch muß aljo annehmen, daß die Leute in diefem Sinne belehrt worden find und in der darauf bafirten faljchen Zuverficht ihre Gejtändniffe machten. Im den wichtigften Einzelpunften gingen aber die Angaben der beiden weit auseinander. Sie ftehen mit den von dem Neverend Mr. Budle und jeiner Tochter abgegebenen Ausjagen mehrfach in grellem Gegenſatz. Wollen Sie ihnen glauben? Es wird auch zu Gunften Brannagan’s und Murphy's angeführt, daß fie wiederholt um ihre Begnadigung gebeten !haben. Meine Erfahrung aber geht dahin, daß die XXIII.

258 Der Einbrudh im Pfarrhofe von Edlingham.

von einer fchweren Verurtheilung betroffen worben find, in der Regel Begnadigungsgefuche überreichen, und daß fih immer gutherzige Menjchen finden, die folche Be— gnadigungsgejuche befürworten.

„Die dermaligen Angeklagten find fammt und ſonders Männer von erprobtem guten Ruf und Wohlanftändigfeit. Dies darf Sie jedoch nicht hindern, fie alle oder einzelne von ihnen zu verurtheilen, wenn Sie die Anklage wohl begründet erachten. Wenn Ste aber nicht die Anjchauung gewonnen haben, daß die beſchuldigten Polizeiorgane, jet es im Uebereifer, jet es aus Böswilligfeit oder aus andern Gründen, fich vergangen haben, fo ift e8 Ihre Pflicht, dieſelben freizufprechen.’

Die Jury gab nach furzer Berathung ihr Verdict ab: Nicht ſchuldig!

Der Richter erklärt fich mit dieſem Urtheil einver- Itanden. Er verfündigt, daß er ven Gefchworenen, Mann fir Mann, für ihre Mühewaltung die Berhandlung hatte fünf Tage in Anfpruch genommen eine Gebühr von 4 Guineen (gleich 84 ME.) als Entſchädigung an— weiſen werde,

Mr. Boyd erbittet die Intervention des Richters dahin, daß die nicht unerheblichen Koften der Vertheidigung auf den Staatsfchat übernommen werden. Richter Denman erflärt fich in diefer Angelegenheit für incompetent, fpricht aber die Anficht aus, daß ein diesbezügliches an die Re— gierung gerichtete® Geſuch wol von Erfolg begleitet fein iverde.

Die Angeklagten werden als ſchuldlos entlaffen.

In England braucht die öffentliche Meinung, wenn ein Strafproceß allgemeines Auffehen erregt hat, längere

Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlingham. 259

Zeit, um fich zu beruhigen. Auch in dem vorliegenden Falle fam e8 zu einem Nachipiel in der Prefje und im Parlament.

Der Seeljorger Epgell’s, ein Mann, ver jeit 23 Jahren dem geijtlichen Stande angehört und feit 16 Jahren als Vicar der St.-Paulsfirche in Alnwick angejtellt ift, Jevon I M. Berry, fühlte fih durch den ihm vom Nichter Denman gemachten Vorwurf, daß er Edgell und Richard- jon durch nicht ftichhaltige Zuficherungen zu einem Ge— jtändnifje bewogen habe, in feiner Ehre gefränft und wendete fich mit einer vom 26. Februar 1889 datirten Einjendung an die „Times“, um feinen Standpunkt dar- zulegen. Er fagt in feiner Erflärung im wejentlichen: „Es ift und bleibt ein feeliiches Geheimniß, was Edgell und Richarbfon veranlaßt hat zu geftehen, daß fie, und jie beide allein, den Einbruch verübt haben; durch dieſes Bekenntniß haben fie eine Kerferjtrafe von fünf Jahren über fich felbit heraufbeichworen. Edgell hat vor dem Richter Denman in Newcaftle angegeben, ich ſei es ge- wejen, ver ihn zu dem Gejtänpniffe bewogen habe, weil ich ihm verfichert hätte, er könne für biejes Verbrechen nicht mehr beitraft werden. Der rechtsgelehrte Richter bat auf diefe Ausfage Edgell's bin, ohne mich vorher zu hören, einige jehr jcharfe Bemerkungen über mein Ver— halten fallen laffen. Ich war von der Anklage als Zeuge vorgeladen, bin aber nicht vorgerufen und vernommen worden, und fonnte daher vor Gericht feine Erklärung abgeben. Sch bin nicht verhört worden, obgleich ich, nachdem ich Edgell's Ausjage in den Zeitungsblättern gelejen hatte, ven Anfläger ausdrücklich und fjchriftlich erjuchte, er möge mich vorrufen laffen. Sch bin aljo verurtheilt worden, ohne gehört zu fein. Edgell hat nur einen Theil deſſen berichtet, was ich mit ihm in diefer Angelegenheit

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bejprochen habe. Ich erklärte ihm nachbrüdlich, er würde nur dann unbebingt ſtraflos ausgehen, wenn ber Staats- jecretär des Innern ihm im vorhinein «freies Geleit » zuficherte. Es ijt wahr, ich habe um jolches «freies Ge- leit» für Edgell angefucht, ich habe e8 aber nicht erwirfen fönnen. Ich habe Edgell jedoch hiervon verjtändigt und ihm auseinandergejegt, daß ein worbehaltlojes Geſtändniß ihn nicht vor einer Verurtheilung jchügen könne. Dennoch habe ich es als Geiftlicher und Seelſorger für meine Pflicht gehalten, ihm in das Gewiffen zu reden und ihn aufzufordern, troß diefer möglichen Gefahr reuig feine Unthat zu befennen, um die wegen feines Werbrechens ungerecht verurtheilten Männer dem Kerfer zu entreißen. Gerade deswegen bleibt das Räthſel ungelöft, was ihn und Richardſon bewogen haben mag, fich als die Thäter anzugeben, wenn fie nicht wirklich die Einbrecher waren. Der rechtsgelehrte Richter fagte in jeinem Nefume laut den jtenographiichen Aufzeichnungen des «Newcastle Evening Chronicle» vom 23. Februar wörtlich: „«“Sowol Edgell als Richardſon waren des Mordes an dem Polizeioffizier Gray in Edlingham im Jahre 1873 bezichtigt worden. Es ift jehr auffallend, daß dieſe alte Gejchichte bei diefem Anlafje aufgerührt wurde. Edgell jelbjt hat bei ver Verhandlung zugegeben, jener Herr, ver fich fo eifrig darum bemühte, daß die angeblich unjchulpig Verurtheilten ihre Freiheit wiedererlangen möchten, und dies durch das Geſtändniß Edgell's und Richardſon's zu erreichen ftrebte, habe im Laufe der Beiprechungen, bie er mit ihm gehabt, der Befürchtung Ausdruck gegeben, Richardſon könnte fich als Mörder jenes Polizeioffizieres jchuldig befennen. Warum aber zeigte jener Herr diejer- wegen Bejorgnig? Was in der Welt Fonnte ihn, ver ſich jo befliffen zeigte, ein ergangenes ungerechtes Urtheil

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 261

richtig zu ftellen, veranfaffen, eine jolche Unruhe darüber an den Tag zu legen, ob Richardſon fich jenes Mordes ihuldig befennen würde oder nicht? Iſt e8 denn nicht auch im Imterefje der Gerechtigfeitspflege und der öffent: lichen Moral gelegen, daß Richardjon jene Unthat ein- gefteht, wenn er fie begangen hat? Ich kann es nicht begreifen. Es jeheinen bier geheimnißvolle Motive mit- zufptelen. Einerſeits der Drud, der von jener Perjön- [ichfeitt ausgeübt wird, auf daß die Wahrheit in Sachen eines dunkeln Verbrechens zu Tage trete, und gleichzeitig die fieberhafte Beſorgniß, daß derſelbe Menſch den an- geblich von ihm an einem wehrlojen Polizeibeamten be- gangenen abjcheulichen Meuchelmord befennen möchte. Warum jollte er gerade in diefem alle zurüchaltend bleiben? Am Ende gar deswegen, weil man auf irgend- eine Weije fich die Anſchauung gebilvet hatte, mit ber DVerurtheilung Brannagan's und Murphy's jet ein arger Fehler begangen worden. Sollte etwa jemand es mit jeinem Gewiſſen vereinbarlich gefunden haben, an ihrer Stelle andere Perjonen als die Thäter vorzuführen, un— befümmert darum, ob fie auch wirflich ſchuldig wären ? Welch eigengeartetes Gewilfen müßte dies fein! Zwei Perjonen dazu veranlaffen, daß fie fich ftatt Brannagan und Murphy als Einbrecher ftellen, und diefes Geſtändniß durch die Ausficht hervorloden, daß dieſes Bekenntniß eines nicht begangenen Verbrechens, das obendrein voraus— fichtlich jtraflos bleiben werde, fie vor der drohenden, weit größern Gefahr zu jehüten vermöge, wegen eines Mordes

verfolgt und verurtheilt zu werden? Sollte Dies ber Gedankengang jener Berjönlichfeit geweſen fein, die fich unberufen in die Unterfuchung mengte?....»

„Ich habe dieje jo energijch aufgeworfene Frage durch meine Zeugenausjage beantworten wollen. Die Perjün-

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lichfeit, auf die fich die Worte des Richters beziehen, bin ich. Ich Habe mich bereit gezeigt, in offener Gerichts- verhandlung auf meinen Eid die Erklärung abzugeben, und ich habe auch fehriftlich dem Ankläger gegenüber er- klärt: e8 fei ganz und gar unrichtig und feinerlei be- gründeter Anlaß zur Bermuthung dafür gegeben, daß ich zu irgendeiner Zeit die Beſorgniß gehegt oder gezeigt hätte, Edgell oder Richardſon könnten die Ermordung des Polizeibeamten Gray zugeftehen. Ich habe zu feinem von beiden darüber ein einziges Wort gejprochen. Ich bin der fejten Ueberzeugung geweſen, daß Edgell fein Ge- ſtändniß wegen des Cinbruches ablegte, nicht etwa um daburch den weit jchwerern Verdacht des Meuchelmorbes von fich abzujchütteln, ſondern einzig und allein in ber Erfenntniß feiner Pflicht, unſchuldige Menjchen von einer Buße zu entlajten, die ihnen um eines Verbrechens willen aufgelegt worden war, welches er begangen hatte. „Damit habe ich wol genug gejagt. Die nadte That- jache iſt, daß Edgell und Richardſon, trotzdem fie hinreichend über die Tragweite ihres Entjchluffes unterrichtet waren, fih freiwillig zum Geftändnifje gemelvet haben, fie hätten den Einbruch begangen. Sie gaben dieje Erklärung zuerjt vor dem Yuftizbeamten Herrn Elsdon und jpäter vor dem Polizei-Dberinjpector YButcher ab. Sie wiederholten ihr Geftändnig vor dem Richter Baron Pollock und wurden von ihm zu fünfjähriger jchwerer Zuchthausftrafe ver- urtheilt. Sie haben das gleiche Geftänpniß vor dem Triedensrichter in Alnwick beeidet und fie haben es in ber legten Verhandlung unter ihrem Zeugeneide vor bem Richter Denman in Newcaftle zu einer Zeit wiederholt, als fie fich feiner Illuſion mehr darüber hingeben konnten, welche Folgen ihr Bekenntniß nach fich ziehen mußte. Es ijt wahr, in ihren jeweiligen Ausjagen find gewiffe Wider—

Der Einbruch im Pfarrhofe von Edlinghbam. 263

iprüche vorgefommen. Sie haben nicht das Gleiche darüber ausgejagt, wer den Plan zu dem Einbruche zuerjt aus: geheckt hat und wer von ihnen beiden zuerjt in das Haus eingedrungen ift. Dieſer Widerjpruch ift aber von dem legten Ankläger mit Recht als der ſchlagendſte Beweis dafür gedeutet worden, daß feine Verabredung zwijchen ihnen jtattgefunden bat. Dieje Widerfprüche entjpringen aus der Natur des Menjchen, der, auch wenn er jeine Schuld zu— geiteht, gern noch Vorbehalte macht, fich als den Berführten, den Genofjen aber als ven eigentlichen Anftifter zum Böfen hinstellen möchte, auch wenn er in der Hauptjache die Thatjachen unummunden zugejteht. Ich überlaffe es getrojt der Beurtheilung der öffentlichen Meinung, ob die Löſung des pipchologijchen Räthſels auf dem Wege möglich ist, auf den der rechtsgelehrte Richter zu weifen für gut befunden hat. Die öffentliche Meinung mag entjcheiden, ob ich wirklich meinen Einfluß auf das Gemüth dieſes Menſchen, Edgell, misbraucht habe denn ich bemerfe bier ausdrüdlich, daß ich jeinen Genofjen Richardjon vor jeiner Verhaftung gar nie gejprochen habe —, ob ich Edgell zum Geſtändniß eines Verbrechens, deſſen er nicht jchuldig war, veranlaßt habe, um ihn dadurch vor den möglichen Folgen zu bewahren, die ihm durch die Ent- hüllung feines Antheil8 an einer weit jcheußlichern von ihm mitbegangenen Unthat drohte. Und dies jollte bie einzig mögliche Löſung dieſes pſychologiſchen Problemes jein!?

„Die «Times» hat in ihrem Berichte einen äußerſt wichtigen Umſtand erwähnt, ver in ver Verhandlung nahezu unbeachtet vorüberging. Es iſt das Moment der um— wicelten Füße der Einbrecher. Was ich von diefer That— jache weiß, bejchränft fich auf das Nachftehende. Am 17. November 1887 machte Edgell mir und Herrn BPerch

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zum erſten mal das Gejtändnig. Er fagte, als er und bie Einzelheiten ver That beichrieb, er und fein Genoffe, den er damals noch nicht mit Namen nannte, hätten in einem der Nebengebäude zufällig einen alten zerrifjenen Sad gefunden, denſelben in Streifen gejchnitten und mit "diefen die Stiefel ummidelt, um dadurch das Geräuſch ihrer Schritte zu dämpfen. Eine Unterjuchungscommiifion iſt vom Staatsfecretär des Innern im Auguft 1888 an— geordnet worden. Der BVertreter der Yuftizbehörve, der beauftragt war, dieſe Commiffion zu leiten, war der Rechtsanwalt Mr. Dransfield von Newcaſtle-on-Tyne. Sch ſelbſt führte ihn in meinem Wagen zu einem Guts- püchter Namens Mordue in Edlingham. Ich Hatte nie vorher mit Herrn Mordue verfehrt, ihn weder gejehen noch gejprochen. Der Pächter war der feften Leber: zeugung, daß Brannagan und Murphy die Einbrecher gewejen waren, allein in feiner Herrn Dransfield er- ftatteten Darftellung des Ereignifjes, die in meiner Gegen- wart, unaufgefordert und ohne jedwede Suggeitivfrage erfolgte, und die zweifello® ohne das geringfte Bewußt- jein über die Tragweite feiner Ausfage abgegeben war, erzählte er: «Ich errinnere mich ganz gut, daß ber damalige Bolizeichef Herr George Harkes mir noch am Abend deſſelben Tages, an dem der Einbruch erfolgte, gejagt hat, daß die Kerle, die aus dem Speijezimmer- fenfter jprangen, die Füße wahrjcheinlich mit alten Feten umwidelt gehabt haben werben.» Auch Herr Morpue ber Jüngere, der Sohn des Gutspächters, erinnerte fich daran, daß fein Vater ihm dieſes damals mitgetheilt hatte. Dieje Thatjache ift in der legten Verhandlung als Beweismoment nicht zur Geltung gelangt.”

So viel aus dem umfangreichen Briefe des geijtlichen Herrn. Das Nachipiel im Parlament klang aus anderm

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Zon. Während nach dem Belanntwerben des Gejtänd- nifje8 der Compagnie Edgell und Richarbfon ein Schrei der Entrüftung über den erfolgten Juſtizmord durch bie Lande ging und dem Staatsjecretär des Innern die Be— willigung einer ausgiebigen materiellen Entihädigung an die unjchuldig Verurtheilten förmlihd im Sturme ab- gezwungen wurde, hat in der Sitzung des Unterhauſes vom 7. März 1889 der Abgeorbniete Sir G. Campbell den Minifter über feine Abfichten interpellirt und von Mr. Matthews nachitehende Antwort erhalten:

„Sch Habe ven wirklich recht ſehr verwidelten und ichwierigen Fall ernfthaft und forgfältig erwogen und bin zu dem Schluffe gelangt, daß es nicht thunlich ift, noch weitere Erhebungen zu pflegen oder noch weiter gehende Unterfuchungen einzuleiten, um ver Wahrheit auf den Grund zu fommen und neue Thatjachen aufzudeden. Der Generalanwalt hat den ftricten Auftrag ertheilt, für bie legte Berhandlung alles Material herbeizufchaffen, das irgendwie Licht in das Dunkel bringen könne. Dies ift auch gejchehen. Es mußte freilich der Beurtheilung des intervenirenden Anwaltes überlafjfen bleiben, welche von ben Zeugen er zur Zeugenjchaft berufen wollte Die Herren Perry und Perch waren wol vorgeladen worden, man hat fie jedoch nicht zur Abgabe ihrer Ausjagen auf- gefordert, denn die ihnen von Edgell und Richardſon gemachten Mittheilungen ſtanden nicht im Zujammen- hange mit der Anklage wider die Poltzeiorgane, Doch waren fie vorgeladen und fonnten, wenn die Bertheidigung den Wunſch ausgefprochen hätte, fofort berufen werben. Herr Perry war auch feinerzeit von dem Polizeirichter, der das Verhör mit Edgell und Richardſon abhielt, vor- geladen geweſen und fonnte jchon damals einem Kreuzverhör unterworfen werben. Die Geldfumme, welche die Re-

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gierung für Brannagan und Murphy als Entſchädigung anmwies, it zu Handen ver hierzu deſignirten Curatoren ausgezahlt worden. Es wird dem Parlament anläßlich der Nachtragseredite Rechnung darüber gelegt werben. Der Bericht des Rechtsanwalts des Schatamtes Tann dem Haufe nicht mitgetheilt werden. Er enthält ver- traulihe Angaben, die zu öffentlicher Erörterung nicht geeignet find, auch ift das Plenum des Haufes nicht im Stande als Yuftizhof zu fungiren. Ich fühle mich jowol berechtigt als verpflichtet, hier zu erklären, daß ich nicht allein auf Grund einfeitiger Berichte vorgegangen bin, und erit dann einen Schritt zur Begnadigung Brannagan’s und Murphy's gethan habe, als Edgell und Richardfon geitanden und ihr Bekenntniß aufrecht erhalten hatten, troß der Warnung, daß fie fich hierdurch ftraffällig machten, und wirklich zu fünfjähriger Zuchthausftrafe verurtheilt worden waren.‘

Sir G. Campbell fragte weiter, ob der Ankläger dahin inftruirt gewejen fei, nur diejenigen Beweismomente vorzubringen, welche möglicherweije zu einer Verurtheilung führen konnten, oder ob er beauftragt war, überhaupt alle Beweiſe erheben zu laſſen, welche Licht über ven bunfeln Hergang verbreiten, alfo auch die Glaubwürbig- feit Edgell's und Richardfon’s erjchüttern konnten?

Minifter Matthews entgegnet: von feiten des Minifteriums fei dem Kronanwalte der ftricte Auftrag ertheilt worden, die Anklage nicht als Selbſtzweck zu be— handeln, fondern alles zu thun, was zur Erforichung der Wahrheit dienlich fein könne.

Sir ©. Campbell erwibdert, daß er anläßlich ver Berathung der Nachtragseredite auf den Gegenitand zurüdfommen werde, um nachzumweifen, daß nicht dieſer Tall als jolcher einen unbefrienigenden Abjchluß gefunden

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habe, fondern daß überhaupt das englische Strafgejeg an barbariichen Beitimmungen kranke und die Strafproceß— ordnung, wie fie derzeit beitehe, vollkommen unfähig jet, die Wahrheit an den Tag zu bringen.

Damit jchloß vorläufig die durch diefen jonderbaren Proceß hervorgerufene Bewegung. Ob diejelbe noch Folgen haben wird, muß dahingeſtellt bleiben. Der unleugbar große Rechtsfinn der Briten wird eben durch ihre Vor- liebe für das Althergebrachte. und ihre Scheu, an ein- gelebten Ginrichtungen zu rütteln, nur zu ſehr be— einträchtigt und gehemmt. Der ganze Berlauf dieſes merfwürdigen Proceſſes aber veranlaßt uns doch zu einigen Betrachtungen.

Die Anklage und die Verhandlung wider die Polizei- organe, deren Thätigfeit die Beichaffung des Beweis: material® wider die in ber erjten Verhandlung ver- urtheilten Angeklagten zu danfen war, iſt das Ergebniß ftarrer Conſequenz des Rechtsverfahrens, eine Conſequenz, die man freilich nicht überall gezogen haben würde. Be— merfenswerth, ja erftaunlich ift aber, daß die Zeugen ausjagen in diejer Verhandlung ganz geeignet erjcheinen, wieder Zweifel an der Nichtigkeit des zweiten Urtheiles zu erweden und bie Frage, ob Brannagan und Murphy nicht doch die Einbrecher geweſen jind, eine Frage, die vorher gelöft zu jein jchien, von neuem aufzırwerfen.

Die Bedeutung ded Nefume des Richters Denman liegt darin, daß er das Schuldig über Brannagan und Murphy zu rechtfertigen verjucht und die Aufrichtigfeit des von Edgell und Richardſon abgelegten Gejtänpnifjes in Zweifel zieht. Die Meinung eines jo gewiegten und

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erfahrenen Criminaliften, der völlig unbefangen den Er- gebniffen dreier, einander ergänzenden Verhandlungen fi gegenüber befand und unter dem perjönlichen und unmittelbaren Eindrud der Vernehmung aller betheiligten Hauptperjonen des Dramas jtand, ijt gewiß von fehr beachtenswerthem Gewichte.

AS die beiden Burjche, Edgell und Richarbfon, im Herbit 1887 mit dem überrafchenden Geftänpniß hervor- traten, daß fie die eigentlichen Einbrecher im Pfarrhofe zu Edlingham gewejen feien, und daß fie, wenn auch unabjichtlich, ven Pfarrherrn und feine Tochter verwundet hätten, daß aljo Brannagan und Murphy unfchuldiger- weije dieſes Verbrechens wegen zu lebenslänglicher Zucht- hausarbeit verurtheilt worden wären da mußte ein verhängnißvoller Irrthum der Nechtiprechung, ein Juſtiz— mord angenommen werden. Die gejtändigen Verbrecher wurden am 24. November 1888 vor Gericht geftellt und ihrerjeitS verurtheilt. Ein Zweifel ſchien nicht mehr mög- (ih. Brannagan und Murphy wurden der veralteten und verwerflichen englifchen Rechtsanfchauung gemäß nicht rehabilitirt, jondern begnabigt; dann aber gefeiert und durch eine für ihre fociale Lebensſtellung ſehr beveutende Dotation entfchädigt. Die Thatjache, daß Edgell und Richardſon als Folge ihres Befenntniffes ohne Wider- ipruch ihre VBerurtheilung zu fünfjähriger jchwerer Kerfer- haft hinnahmen und die Strafe antraten, leiftete bie jicherfte Gewähr für die Wahrheit ihrer Angaben. Keine Erklärung vermag das Gewicht dieſes Umftandes zu be- ſeitigen. Mochten fie auch urjprünglich der Meinung gewejen fein, fie müßten ftraflos bleiben, eine Anjchauung, bie nach englijcher Rechtiprechung nicht al8 ganz unbegründet verworfen werben darf, jo find fie doch feitvem eines Beſſern belehrt worden und dennoch unentwegt bei ihren

Der Einbruh im Pfarrhofe von Edlingbam. 269

Ausjagen verblieben. In dem nunmehr wider die Polizei- organe wegen unerlaubter Verabredung zur Ueberführung Unjchuldiger eingeleiteten Strafproceß traten fie als Hauptzeugen auf und wurden entiprechend einer der vielen Anomalien englijcher Procekführung als folche beeibet. Im Kreuzverhör haben fie wol zugeftanden, daß bie faljche Sicherheit, in der fie fich wiegten, die Triebfeder ihres Vorgehens gewefen jei, und baß fie bis zu ihrer wirflich erfolgten Verurtheilung feſt daran geglaubt hätten, fie müßten jtraflo8 ausgehen. Allein fie erkannten doch wol jchon während ver Verhandlung, wie kritiſch ihre Lage fich geftaltete, und hielten nichtsdeſtoweniger an ihrer Er- klärung fejt. Aber dies Eingeſtändniß, daß fie auf Grund eines Rechtsgutachtens an ihre Straflofigfeit geglaubt hatten, hat bei dem Richter und den Gejchiworenen tiefen Eindruck gemacht und quälende Zweifel hervorgerufen, ob denn thatfächlich die wahren Verbrecher derzeit im Kerfer büßen. Bei der gegen fie jelbit durchgeführten Berhandlung hatte man ausjchlieglich auf ihr Geſtändniß gefußt und von der genauen Erwägung und Erörterung der fejtgeftellten Thatumftände Abſtand genommen; num aber, da dies doch wieder gejchah, mußten Bedenken laut werden, bie man für alle Zeit hätte als ausgejchloffen erachten jollen.

Die engliſche Strafproceforpnung fennt eben feine Wiederaufnahme des Verfahrens,

Jeder der drei, dafjelbe Verbrechen betreffenden Proceffe mußte jelbjtändig durchgeführt werden, und darum Flaffen auch in jeder diefer Verhandlungen Lücken, deren bloßes Borhandenfein die Mängel der in dem Infelreiche geltenden Strafprocefordnung tlluftrirt.

Der letzte diefer drei Proceffe, den wir hier etwas ausführlicher wiedergegeben haben, hatte, wie Wichter

270 Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham.

Denman in feinem Refume betont, feineswegs den Zived, die Trage zu enticheiden, ob Brannagan und Murphy oder Edgell und Richardfon die Einbrecher geweſen find. Die Gejchworenen mußten fich darauf befchränfen, zu erklären, ob die Polizeiorgane ihren Wirfungsfreis über- ichritten, ob fie „im Bewußtjein ungefeßlichen Vorgehens die Verbachtsgründe gegen Brannagan und Murphy künſtlich verftärkten‘‘ oder nicht. Allein die Beantwortung diefer Trage Schloß auch die Beantwortung der nicht geftellten Frage ein. Wenn die ebengenannten Individuen jchuldig waren, ift die der Jury vorgelegte Frage mindeſtens überflüffig.. Wenn andererfeits Brotmnagan und Murphy unſchuldig waren, Eonnte freilich der Zweifel entjtehen, ob die Polizei die Beweismittel jo, wie fie diefelben eruirt hatte, dem Gerichte unterbreitete, oder ob fie etwas „nach— geholfen” habe. Es ift immerhin beruhigend, daß weder dem Richter noch den Gefchworenen von 1879 irgendein Unrecht zur Laft fallt. Auch der Richter von 1889 mußte betonen, daß ein geradezu zwingender Indicienbeweis gegen die Angeklagten von damals vorlag. Auch ihre DVer- theidigung bat ihre Pflicht erfüllt. Merkwürbigerweife bat aber die legte Verhandlung wider die Polizeiorgane troß der dazwifchenfallenden Verurtheilung der ge— ftändigen Edgell und Richardfon eine Befräftigung und Verſtärkuug der damals beigebrachten Indicien herbei- geführt. Uns iſt allerdings aufgefallen, daß in gar feiner der drei Verhandlungen bie Flinte erwähnt wurde, die uns ein fehr beveutjames Beweismittel zu fein jcheint. Freilich lehrt die criminaliftiiche Erfahrung, daß alle Indicien täufchen und irreleiten können. Es bleibt daher troß alledem möglich, daß Brannagan und Murphy uns jchuldig, daß Edgell und Richardſon die eigentlichen Thäter gewejen find, um jo mehr da, wie wir fchon

Der Einbrud im Pfarrhofe von Edlingham. 271

vorher gejehen haben, der Umſtand als entjcheidend an- gejehen werben kann, daß die leßtern, nachdem ihnen bie Folgen ihres Geſtändniſſes inzwifchen Har geworben waren, dennoch bei ihrer Ausfage geblieben find. Nichts- bejtoweniger find nicht alle Zweifel beſeitigt. Brannagan und Murphy, jowie Edgell und Richarbfon par nobile fratrum find anrüchige Gejellen und verdienen als Menſchen feinerlei Sympathie. Es handelt fih nur um die Rechtsfrage, und diefe ift nicht in befriedigender Weife gelöft, weil wie der Interpellant im Parlament richtig hervorhob die englifche Strafprocekordnung nicht die Mittel bietet, die Wahrheit gründlich zu erforfchen.

Befriedigend ift nur, daß diefe unbeholfenen Rechts- formen in der Hand fo hervorragend tüchtiger Menschen, wie e8 die englifchen Richter durchweg find, nicht mis» braucht werden, und als ein wahres Glüd für die britifche Rechtspflege darf man es bezeichnen, daß die Polizei- organe, denen in England eine weit verantwortungs- reichere und jehwierigere Aufgabe als auf dem Continent zufällt, vorwurfsfreti und unbejcholten aus dem gegen fie angeftrengten Proceß hervorgegangen find.

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. (Mord. Yoigny in Franfreich.) 1888.

Am 9. Februar 1888 zog ein Fiſcher aus Joigny, der in der Nonne fijchte, einen menjchlichen Arm aus dem Waffer, ver offenbar erjt vor kurzem vom Körper getrennt und noch einigermaßen befleivet war.

Faſt gleichzeitig verbreitete fich die Nachricht, der Uhr: macer DVetard aus Joigny jet verſchwunden und jein Laden ausgeraubt. Vetard war ermordet und fein Leich- nam zerjtüdt worden. Die Mörder hatten einzelne Körpertheile ind Waſſer geworfen, die wieder an bie Dberfläche famen und in gerichtliche Verwahrung ge- nommen wurden. Die fofort eingeleitete Criminalunter- juchung fuchte das Verbrechen aufzuflären und die Mörder zu entdecken.

Eine Familie von Landftreichern Namens Mouillon wurde eingezogen. Man glaubte die Schuldigen beveits ermittelt zu haben. Aber das Gericht war auf faljcher Fährte. Die Gefangenen wiejen ein unanfechtbares Alibi nah und mußten auf freien Fuß gejegt werben. Der Unterfuhungsrichter, deſſen Nachforſchungen erfolglos ver: liefen, machte fich ſchon darauf gefaßt, das Verfahren

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 273

einſtellen zu müffen, da meldete fich ein älteres Fräulein und theilte mit, der Uhrmacher Vetard jei von einer Dirne in einen Hinterhalt gelodt, ermordet und beraubt worden. Nun hatte man fejten Boden, die Unterfuchung fonnte im Mai 1888 abgejchloffen und die Verhandlung der Sache vor dem Schwurgericht in Aurerre anberaumt werden.

Eine ungeheuere Menge von Menjchen jtrömte in die Heine burgundiiche Stadt. Nicht nur ganz Joigny und die Nachbarorte jchienen anweſend zu fein, jelbit aus Paris waren Leute zugereift, die dem merfmwirbigen Proceffe beiwohnen wollten. Der Feine Verhandlungs- jaal war überfüllt, die Gänge und Gorridore des Ge— richtshaufes wimmelten von Zuhörern, jogar vor ben Eingangsthoren ftanden Hunderte in fieberhafter Er- regung. Es war fat unmöglich, für die Zeugen Raum zu jchaffen.

Bor dem Präfidententifche find in großen Weißblech— fijten die corpora delieti aufgejtellt, ferner der Tiſch, auf dem ber Leichnam zerſtückt worden ift, und zwei Trag— förbe aus Weivengeflecht, in denen die Leichentheile zum Fluſſe gebracht fein jollen.

Um 11 Uhr 15 Minuten wird die Verhandlung von dem Borfigenden Edmund Victor Lefranc eröffnet.

Das Auditorium iſt in ungewöhnlicher Aufregung. As die Angeklagten vorgeführt werden, ertönen wilde Rufe und Verwünfchungen: „Nieder mit den Mördern! führt fie zum Zovel....“ Die Volksſtimme hat fie bereit8 gerichtet.

ALS Angeklagte erjcheinen:

1) Edme Arthur Alfred Morand, geboren in Villiers-Vinend am 9. März 1839, Tagelöhner in Joigny.

XXIII. 18

274 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

2) Julius Octav Bacher, geboren in Montacer am 5. September 1850, Gaftwirth in Joigny.

3) Sofephine Martin, geboren in Yoigny am 17. November 1861 und wohnhaft bajelbit.

4) Eugenie Martin, verehelichte Clergeot, ges boren in Joignh am 31. Juli 1856 und wohnhaft dajelbit.

5) Amelie Digard, verehelichte Bacher, geboren in Paroy-ſur-Tholon am 14. Januar 1859, Wirthin in Joigny.

Der Staatsanwalt Le Bourdelles vertritt die An— flage. Der. Lailler, Advocat aus Paris, vertheidigt den Angeklagten Morand. Advocaten aus Aurerre: bie Herren Savatier-Larodhe, Remacle und Herolp, haben die Vertheidigung der andern Angeklagten über- nommen. |

Der Schriftführer Lalmand verlieft die Ankflage- ichrift, welche die Ergebniffe der Vorunterfuchung zu— jammenfaßt und fodann jchliekt:

„Morand, Vacher und Joſephine Martin werben angeklagt:

„Am 8. Vebruar 1888 in Joigny, Departement der Yonne, gemeinschaftlich einen vorbedachten und verab— rebeten Mord an der Perſon des Herrn Vätard verübt zu haben, mit der Erjchwerung, daß dieſer Mord von langer Hand vorbereitet und in tüdifcher Weiſe aus- geführt ſich als Meuchelmord darftelt. Mit dem Meuchelmord concurrirt ein Diebftahl, begangen am gleichen Drte und zur felben Zeit, indem von der Perion des genannten Herrn Vetard Schlüffel widerrechtlich ent» nommen wurden. Diejer Diebftahl qualificirt fich durch die Theilnahme mehrerer Perfonen als Gejellichaftspieb- jtahl, begangen des Nachts in einem bewohnten Haufe,

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 275

und mit Einbruch, indem zur gleichen Zeit und am gleichen Drte mehrere der Angeflagten durch widerrecht- liche Mittel in den Laden des vorgenannten Herrn Vetard gebrungen find und fich dort eine, im Betrage nicht genau befannte, größere Summe Geldes, Uhren, Juwelen und andere Werthjachen zum Nachtheile des Eigenthümers in fträflicher Weife angeeignet haben.

„Sugente Martin, verehelichte Elergeot, wird angeklagt, jich des vorgebachten Mordes mitſchuldig gemacht zu haben, indem fie den drei Hauptangeflagten behülflich war zur Vorbereitung und Ausführung der That.

„Sugenie Martin, verehelichte Elergeot, und Amelie Digard, verehelichte Vacher, werden angeklagt, fich zu Mitjchuldigen des vorgedachten Diebftahles gemacht zu haben, indem fie die gejtohlenen Gegenſtände ganz ober theilweife verhehlten, obgleich fie von dem verbrecherijchen Ursprung derjelben genügende Kenntniß hatten.’

Die Angeklagten hören die Berlefung ver Anklage: Ichrift fchweigend an. Nur Bojephine Martin und Frau Bacher fcheinen bewegt und vergiefen einige Thränen. Die andern bliden theilnahmlos um fich.

Noch che in die Verhandlung eingetreten wird, er— hebt fih Mr. Lailler, Bertheidiger des Morand, zu einem Antrage, Er jagt:

„Herr Präfident! Im einem Zeitungsblatte von Joigny ftand geftern Morgen, daß ein an Joſephine Martin nach deren Verhaftung gerichteter Brief zwar beichlagnahmt worden fei, jedoch nicht unter den Acten ericheinte. In dem betreffenden Artikel wird ſogar be- hauptet, man habe die Preſſe erfuccht, nichtS darüber zu veröffentlichen. Ich erlaube mir daher die ergebene An— frage an den Herrn Staatsanwalt: Eriftirt ein folcher

18*

276 Der PBrocef wider den Tagelöhner Morand,

Brief? Was ift darin enthalten? Was iſt aus ihm geworden ?“

Der Yournalartifel, der in dem ‚„‚Radical de !’Yonne‘ erſchien, Iautete:

„Was ift aus dem bei ver Poft in Yoignhy beichlag- nahmten, an die Joſephine Martin gerichteten Briefe geworden, in welchem ein Liebhaber der Yojephine ihr mittheilte, daß er fich über die Grenze begeben werde? Diefer Brief fam aus Paris und trug den Poftjtempel des Inoner Bahnhofes. Es hat darüber nichts verlautet, Doch wiſſen wir um fo ficherer, daß er eriftirt, da man uns erfucht hat, nichts darüber zu veröffentlichen.‘‘

Der Gerichtshof bejchließt nach kurzer Berathung die Requifition des betreffenden Actenſtückes aus Joigny. Der Präfident bemerkt bei Verfündigung des Gerichts- beſchluſſes, daß bei jeder Unterfuchung eine Reihe von Schriftſtücken, die dem Unterfuchungsrichter unwichtig icheinen, zurücbleiben, ohne dem Staatsanwalt oder dem Bertheidiger zugeftellt zu werden.

Es wird zum Verhör gefchritten und zunächſt Jo— jephine Martin vernommen.

Sie präfentirt fich als ein Kleines, zierliches Figürchen, ichlanf, von blafjer Gefichtsfarbe, mit großen glänzenden Augen. Sie ift brünett, die Züge find ftarf entwidelt. Ihr Gefihtsausprud ift offenherzig. Sie jchlägt häufig die Augen nieder, wenn fie angerevet wird. Die Stimme it von jeltenem Wohlklang, einfchmeichelnd und ge— winnend. Sie antwortet anfänglich leiſe, fait ſchüchtern und unverjtändlich, nach und nach aber wird die Stimme fauter und ficherer, und ſchließlich, als von den ent- jeglichen Einzelheiten der Miffethat die Rede ift, jpricht “fie einförmig, ohne irgendwelche Bewegung zu zeigen, fajt jo, als ob fie eine eingelernte Xection wieder—

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 277

holte. Sie trägt ein bunfle® Gewand von eleganten Schnitt.

Präfident. Sie wifjen, Angeklagte Martin, daß man über Sie die ungünftigite Auskunft erhalten hat. Seit mehrern Yahren haben Sie das Haus Ihrer Mutter verlaffen und fich der Proftitution hingegeben.

Angeflagte. Ceit drei Jahren.

Präjivdent. Sie haben aber ein Kind von vier Jahren, ein Kleines Mädchen, deſſen Water nicht befannt it. Das Kind Tebt bei Ihnen und fennt Ihre Lieb— haber. Der legte war ein Herr Babillot, der Ihnen 50 Francs monatlich gab und Gie alle Abende bejuchte. Am DBorabende des Berbrechens haben Sie ihm aber gejagt, er möge am nächiten Abend, am Mittwoch, nicht zu Ihnen: fommen.

Angeklagte. Ja, wegen ber Vorbereitungen zu ber bevorſtehenden Hochzeit meines Bruders.

Präfident. Sie fannten Herrn Vetard? Ihr Kind fannte ihn gleichfalls ?

Angeklagte. Nein, Herr Präfident.

Präfident. Aber die Kleine hat, als man in ihrem Beilein von dem Manne fprach, der am Abend des Ver: brechens bei Ihnen war, ausgerufen: „Es war nicht Papa Babillot, e8 war Papa Vetard!..

Angeklagte. Ich begreife nicht, wie fie das fagen fonnte. Sie fannte Herrn Vetard nicht.

Präfident. Das unglüdliche Kind muß Zeuge der Zeritüdelung der Leiche geweſen jein, denn fie fagte: „Papa Betard ift im Wein gelegen.” Was das Kind aber für rothen Wein hielt, war Blut. (Bewegung.) Sie müſſen Vetard gekannt haben, denn die Kleine fagte wiederholt: „Papa Vetard.“

278 Der Procen wider den Tageldhner Morand.

Angeflagte Oh, das Kind nannte alle Herren Papa. (Heiterfeit.)

Präjident. Der Staatsanwalt hat das Zeugnif des Kindes nicht gegen Sie anrufen wollen! Wir werden die Wahrheit auf anderm Wege zu erfahren trachten. Ihr Geftändniß bildet wol einen Hauptſtützpunkt ver Anklage, allein nicht den einzigen. Noch vor Ihrem Gejtändniffe war die Unterfuchung durch Briefe auf Ihre Theilnahme an dem Verbrechen aufmerkfjam gemacht worden. Es find dies die Briefe, die Sie mit den An- fangsbuchftaben der Roſalie Mary verfehen an VBetard gerichtet haben. Die Briefe lauten:

Erjter Brief: Herrn Betard. Uhrmacher und Juwelier.

Brüdenvorjtadt. Joigny.

Mein lieber Freund! Ich bin heute Nacht um 2 Uhr mit der Eiſenbahn angekommen. Ich bin bei einer meiner Freundinnen abgeſtiegen. Ich will meine Familie nicht aufſuchen, bevor ich Dich geſehen habe, denn meine Ab— ſicht geht dahin, ganz in Joigny zu bleiben. Die Ent— ſcheidung wird von den Rathſchlägen abhängen, die Du mir geben wirſt, und ob Du die Beziehungen mit mir erneuern willſt, die zwiſchen uns beſtanden haben. Wenn Du mir entgegenkommen willſt, ſo werde ich hier bleiben.

Ich werde Dich in der Nähe der Schlachthäuſer um 7 Uhr erwarten. Ich rechne auf Deine Güte und Dein gutes Herz. Ich weiß jehr wohl, daß Du mich noch lieb Haft und daß es Dir wehe thun würde, wenn ich wieder abreijte.

Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 279

Wie ih Dir ſchon gejagt habe, ich erwarte Dich bei den Schlachthäufern um 7 Uhr.

Wenn es aber Deine Abficht fein follte, nicht mehr mit mir zu gehen, fo komme doch um mir einen legten Kuß zu geben.

Ich bin ganz die Deine.

Deine Feine Freundin, die Dich fo ſehr liebt, und die Dich immer lieben wird.

Aber vor allem fei Discret und verbrenne diefen Brief. Sage niemand, daß ich wieder hier bin

R. M. Der zweite Brief:

Kleiner Freund!

Ich bitte Dich taufendmal um Verzeihung. Denke Div nur, ich hatte meiner Tante in Sens gejchrieben, daß ich in Joigny angekommen bin, daß aber davon bei meiner Mutter nichts erzählt werben fol. Dann habe ich ihr auch die Wohnung mitgetheilt, wo ich bin, und da hat fie mir an demjelben Tage gejchrieben, an dem ih Dir das Stelldichein gegeben habe.

Ih war gendthigt, mit dem erjten Zuge wegzufahren, und darum habe ich nicht fommen können, denn fie hat mir einen Plat in einem Hotel angetragen. Es find jetzt ſehss Tage, daß ich in diefem Hotel bin, aber beim beiten Willen kann ich nicht bleiben, es ift eben zu jchwere Arbeit für mid. _

Ih bin gendthigt, mir es fo einzurichten, wie ich Dir Schon gejchrieben habe. Heute noch juche ich mir ein paffendes Zimmer. Es iſt mir möglich gewejen, mir nach und nach 200 Francs zu eriparen, damit kann ich

280 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.

mir ſchon die nothwendigiten Anjchaffungen machen. Und Du wirft fommen können mich bejuchen wenn Du willft, und wir werden glüdlicher fein als je zuvor. Aber vor— läufig jprich nichts darüber, komme heute Abend an den— jelben Ort, ven ich Dir das vorigemal bezeichnet habe, damit ich Dir berichten kann, ob ich alles in Ordnung bringen fonnte und Dir den Ort angeben fann, wo ich allein mit Dir zufammenkommen fann und wo Du hin- fommen fannit. Heute Abend aljo ganz gewiß, mein Vielgeliebter. R. M.

Dritter Brief:

Ich werde Dih von 6 Uhr bis längſtens 6 Uhr 15 Minuten erwarten. Aber, höre wohl, fperre Deinen Laden zu. Ich kann es nicht begreifen, daß Du Deinen Laden offen laſſen fannft, wenn Du doch fortgehft.

Endlich wirjt Du doch einjehen, daß ich glüdlich fein werde, Dich wiederzufehen, und daß es mir geglückt ift, ein reizendes Kleines Zimmerchen zu finden. Es iſt nicht theuer, ich zahle nur 7 France monatlich dafür.

Ich habe alle Einrichtungen wegen meines Bettes getroffen. Ich habe vier Stühle Ich habe nur einen ganz Kleinen Tiſch, aber e8 iſt Doch das Wichtigjte für den Augenblid.

Weift Du, weil Du erfroren bijt, habe ich daran gedacht. Ich Habe einen Roſt im Kamin und Coafs. Es ift jehr warm bei mir. Aber wenn ich an die erite Nacht denke ich verjichere Dich, es überläuft mich ganz eigen.

Ich Hoffe doch, daß wenn Du fommen wirjt, um mir Gejellihaft zu leilten, ich mich nicht langweilen werde.

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 281

Ich rechne feit auf Dein Kommen. Ich bitte Dich, faffe mich nicht figen wie geftern. Du fannft noch vor dem Eſſen fommen, und wenn Du willft auch gleich wieder gehen. Es ift nur um Deine Abfichten fennen zu lernen und ob Du wieder mit mir halten willit. Von meinen Leuten weiß noch niemand, daß ich hier bin. Du wirft jehen, es it jehr bequem zu mir zu fommen. Sch werde nicht anjpruchsvoll jein, ganz jo wie Du es wünſcheſt, ich will nur Dich haben.

Morgen werde ich noch alles Nothwendige beſorgen. Ich werde auch zu meiner Familie gehen und meine Nähmaſchine zu mir holen. Ich werde mich noch heute wegen Arbeit in einem großen Magazin melden, und Du wirſt ſehen, ich werde glücklicher ſein als je zuvor. Aber bevor ich Dich bei mir empfange, will ich doch wiſſen, ob Du immer noch ſo viel Freundſchaft für mich hegſt, ob Du mich recht lieb haben willſt, und ob Du noch andere Bekanntſchaften haben willſt außer mir. Das will ich nicht leiden, ich will Dich ganz allein haben. Ich bin Dir noch immer unverändert gut. Ich habe Dich ſehr lieb und ich ſchwöre Dir, ich werde Dir treu bleiben, wie ich Dir ſchon verſichert habe. Ich wieder— hole es, ich will ſehr brav ſein.

Ich rechne beſtimmt auf Dich, mein Vielgeliebter! Ich ſchicke Dir im voraus tauſend Küſſe.

Fehle nicht beim Eingange der Straße 6 Uhr 15 Minuten ſpäteſtens. Wenn Du aber willjt, daß ich eine fehr große Freude haben foll, jo fomme zu mir zum Efjen. Ich habe eine gute Suppe und ein Huhn zugejtellt und wir werben jo glüdlich zuſammen fein.

Wenn Du zuerjt fommit, jo warte auf der eriten Bank.

Aber Du kannſt Dich darauf verlaſſen, ich werde es

282 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

ſchon fein, die zuerſt kommt. Laß mich nicht lange warten, ich bitte Dich, mein vielgeliebter Schaß. Sch bin ganz die Deine, Deine kleine Frau, die Dich jo lieb hat. R. M.

Ich fürchte beinahe, Du haft meinen geftrigen Brief nicht erhalten. Zeige meinen Brief niemand, fei viscret.

Präſident. Erkennen Sie an, daß dieſe Briefe von Ihnen geſchrieben worden ſind?

Die Angeklagte ſchweigt.

Präſident. Am 10. Februar wurden Sie bereits verdächtig. Man hat Sie verhört und Sie haben be— hauptet, Sie wären zur Zeit, da das Verbrechen verübt wurde, bei Ihrer Mutter geweſen. Angeſichts Ihrer Ruhe und Ihres ſichern Auftretens hat der Unterſuchungs— richter feinen Verdacht fallen laſſen, allein eine Haus— juchung führte eine für Ste ſehr bevenfliche Entdeckung herbei. Man fand bei Ihnen einen zwar fertig ge— jchriebenen, doch noch nicht zur Poft beförderten Brief. Er war an Herrn Ablon, ven Präfidenten ver Handels— fammer und Eigenthümer des Haufes, in dem Sie wohnen, gerichtet. Dem Unterfuchungsrichter fiel die Aehnlichkeit der Schriftzüge mit den Briefen auf, die mit R. M. gezeichnet, in ver Wohnung des Herrn Vetard vorgefunden worden waren. Sie wurden einem Sachverjtändigen übers geben und dieſer erklärte mit aller Beſtimmtheit, daß fie von berjelben Hand herrührten wie der bei Ihnen vor— gefundene Brief. Das hat Sie bewogen, zum Gejtänd- nifje zu jchreiten. Geben Sie dies zu?

Angeklagte. Ya, Herr Präfident.

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 283

Präfident. Es fprachen übrigens noch andere Ver— dachtömomente gegen Sie. Man hat Herrn Vetard ge- jeben, wie er in Begleitung einer weiblichen Perjon Ihr Haus betrat, und während der ganzen Nacht ift in Ihrer Wohnung eine ungewöhnliche Bewegung, ein fortwährendes Gehen und Kommen beobachtet worden. Ihr Alibi war nicht aufrecht zu erhalten. Ihr Geſtändniß war aber fein freiwilliges, Sie haben fih nur erbrüdt von Be— weijen hierzu herbeigelaffen. Nun jagen Ste uns auf- richtig, warum haben Sie dieje Briefe gejchrieben?

Angeklagte Es ift Herr Morand, der mich ge- zwungen bat fie zu jchreiben. Zuerſt habe ich nicht gewollt. „Aber Fräulein‘, jo jagte er zu mir, „Sie find doch ſonſt fo gefällig. Es handelt fich ja um einen Spaß. Herr Betard liebt einen guten Auffiger, und ich auch. Wir werden alle zwei etwas zum Lachen haben. Thun Sie mir Doch den Gefallen.” So habe ich mich ver- leiten lafjen. Ich glaubte wirklich, es handle fich um einen Spaß.

Präjident. Und Sie haben Morand nicht gefragt, welcher Art diefer Spaß fein werde?

Angellagte. D ja! Aber er erwiderte nur: „Sie werden es ſchon ſehen.“

Präſident. Alſo Morand hat einen ſolchen Ein— fluß auf Sie ausgeübt, daß Sie nicht widerſtehen konnten?

Angeklagte. Ich habe ja nichts Böſes vermuthet.

Präſident. Dieſe Verantwortung wäre vielleicht glaubhaft, wenn es ſich nur um einen einzigen Brief handeln würde, allein es ſind deren drei vorhanden. Sind ſie alle drei nur des Spaßes wegen geſchrieben?

Angeklagte. Ich hätte Morand niemals zugetraut, daß er etwas ſo Fürchterliches im Schilde führe.

984 Der Procef wider den Tagelüöhner Morand.

Präſident. Dieje Vertheidigung it nicht glücklich gewählt. Ihre Aussage fteht im Widerjpruch mit Den Angaben verjchiedener Zeugen, insbejonvdere der Roſalie Mary. Diefe erklärt, daß alle Einzelheiten der Briefe auf genauer Kenntniß ihrer Lebensverhältnifje beruhen, daß die darin enthaltenen pofitiven Angaben richtig find, und daß daher die Briefe nur von einer Perjon her- rühren können, die fie jehr gut fennt. Sie und Ihre Schweiter, nicht aber Morand waren in der Lage, dieſe Einzelheiten und Familienbeziehungen zu willen. ft dies jo?

Angeklagte. Nein, Herr Präfident.

Präſident. Herr Veätard ift troß der verſchiedenen Briefe nicht gefommen. Was haben Sie am Abend des Verbrechens gethan?

Angeklagte Ich ging um 6 Uhr aus. Ich be- gegnete Herren Morand. Er hat mich gefragt, ob ich nicht eine Säge hätte, die ich ihm leihen Fönnte. Ich antwortete, ich bejäße deren zwei. Ich habe ihm meinen Wohnungsichlüffel übergeben, um die Säge zu holen.

Präſident. Alfo nur zu dieſem Zwede haben Sie ihm Ihren Schlüffel gegeben?

Angeklagte. Ja wohl, Herr Präjident.

Präſident. Wo find Sie hingegangen?

Angeflagte. Zu meiner Mutter.

Präfident. Um welche Zeit find Sie nad) Haufe zurüdgefommen ?

Angeklagte. Ih kann die Zeit nicht ganz genau angeben. Es war zwijchen 9%/, und 1/10 Uhr.

Präſident. Mit Ihrer Kleinen Tochter ?

Angeflagte. Ja wohl, Herr Präfident.

Präfident Was haben Sie zu Haufe wahr- genommen?

Der Brocek wider den Tagelöhner Morand. 285

Angeklagte. Meine Thür war verfchloffen. Sch Elopfte an, und als Morand, der in Hemdärmeln war, mir öffnete, jagte ih: „Wie, Sie find noch hier?” Er ſah ganz verftört aus und antwortete mir: „Treten Sie nur ein und macen Sie feinen Lärm!’ „Was ijt denn 108? fragte ich und trat in die Stube. Vetard lag auf dem Tiſche, todt, in einer Blutlache, nur halb mit einem Quche zugededt. Meine Kleine begann zu meinen und ich jchrie laut auf. „Unglücdlicher Menſch! Was haben Sie gethan! Und bei mir! Was foll num mit mir geſchehen?“ Morand jchnauzte mich mürriſch an: „Schweig gleich ftill, oder ich mache Di auch noch kalt!“ Er hatte jein großes Meffer in der Hand. Bacher war um die Leiche bejchäftigt. Sie waren gerade daran, die Beine abzujägen. Ich flüchtete in mein Schlaf- zimmer. Aber Morand rief mich heraus. „Es iſt fein Waſſer da!“ fagte er zu mir, „man fann fich nicht einmal die Hände wafchen. Holen Sie uns Waffer!” Aus Angit habe ich ihm willfahrt und bin zum Brunnen hinuntergegangen.

Präfident. Alſo Sie haben fi nur aus Furcht den Anordnungen Morand's gefügt und haben mir des— halb Wafjer geholt, damit die beiden Mörder fich vom Blute reinigen konnten?

Angeklagte. So tit es, Herr Präfident.

Präfident. Ia, warum haben Sie dann, al8 Sie unten beim Brunnen waren, nicht um Hülfe gerufen?

Angeklagte. Morand iſt mir gefolgt. Wenn ich gerufen hätte, hätte er mich gewiß umgebracht.

Prajivdent. Angenommen, daß Sie aus Furcht jo bandelten: warum haben Sie dann am nächiten Tage feine Anzeige eritattet ?

Angeklagte. Ich hoffte, daß die Wahrheit auch

286 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.

ohne mein Zuthun herausfommen würde. Ich wollte ihn nicht denuneiren, nicht aus Schonung für ihn, aber jeiner Kinder wegen habe ich gejchwiegen.

Präſident. Was haben Sie am näcjten Tage gethan?

Angeklagte. Des Morgens ging ich in die Meſſe.

Präſident. Und ſpäter?

Angeklagte. Dann war ich bei der Trauung meines Bruders.

Präſident. Richtig, und dann nahmen Sie theil am Hochzeitseſſen, und gingen auf den Ball, und tanzten! Sie ſollen ſogar beſonders luſtig geweſen ſein.

Angeklagte. O nein, das nicht, Herr Präſident.

Präſident. Nur einen Augenblick waren Sie be— wegt. Sie kauften Zuckerwerk bei einer Nichte des Er— mordeten. AS Sie den Namen „Vätard“ auf ber Firmatafel oberhalb der Ladenthür erblidten, find Sie erichroden zufammengefahren.

Angeflagte D nein, ich habe den Namen gar nicht geſehen.

Präfident. Sie werden den Zeugen darüber hören. Man hat an diefem Tage jchon von dem Verbrechen geiprochen ?

Angeklagte. Nah Tiſche war die Rede davon.

Präfivdent. Und Sie haben ruhig zugebört, ob— gleich Sie abends zuvor ſelbſt Augenzeuge der abjcheu- fihen That waren! Aber Sie haben über die Zer— jtüdelung der Leiche noch nichts gejagt. Was haben Sie davon gejehen ?

Angeklagte. E83 war fchon fait gejchehen, al® ich nad Haufe kam. Die Beine waren bereits abgefägt. Sie lagen auf einem Stuhl. Morand fügte die Arme ab. Er hatte Einfchnitte auf beiden Seiten gemacht, und

Der Proceß wider ben Tageldhner Morand. 287

weil es ihm zu lange dauerte, ſtemmte er fein Knie an und trat feſt auf den Knochen, bis er brach. (Bewegung des Entjegens im Zuhörerraum.) Er hat die Gelenfe mit dem Fleiſchermeſſer ausgelöft, mit dem er mich be— drohte. Vacher ftand daneben und war ihm behülflich. Nachdem die Zerjtüdelung fertig war, find bie Theile der Leiche in Säcke gethan und diefe in zwei Tragförbe gelegt worden, wovon der eine meiner Schweiter gehörte und der andere von Vacher mitgebracht worden war. Morand und Vacher haben die Säde in die Nonne getragen. |

Präfident. Nach dem Morde ift Morand zu Vetard gegangen, um den Laden auszurauben ?

Angeklagte. As ich nah Haufe fam, war ber Diebftahl ſchon begangen.

Präfident. Wieviel haben Sie erhalten?

Angeklagte. Morand hat mir 40 Franes gegeben und DVacher auch 4O Franc,

Präſident. Nach den Vermuthungen der Polizei haben Sie viel mehr erhalten, denn Sie haben viel Geld ausgegeben.

Angeklagte. Ich habe gewiß nicht mehr empfangen.

Staatsanwalt. Haben Sie nicht vierzehn Tage nach dem Morde, an dem Tage, wo Sie verhört wurden, nochmals 20 France befommen?

Angeflagte. Ja! Morand war fehr aufgeregt, als er erfuhr, daß ich verhört worden fei. Er hat mich be- ſchworen, nichts zu verrathen.

Präfident. Sie haben in der That zuerft andere Perſonen als die Thäter bezeichnet: einen gewiffen Pietre und den Schwiegerjohn Morand’s, Cizel.

Angeklagte. Ja wohl. Ich habe zuerjt Pietre ge- nannt. Es iſt das fein intimfter Freund. Ich war

288 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

überzeugt, daß diejer von der Sache wußte, und dachte jeine Angaben würden Morand zum Gejtänpnig zwingen. Cizel habe ich in der Aufregung mit Bacher verwechielt. Der Mitſchuldige ift Vacher. -

Alle diefe Angaben werden mit ruhiger, —— Stimme gemacht.

Die Angeklagte iſt ſo wenig bewegt wie ein Dienſt— mädchen, welches ſich wegen eines zerbrochenen Tellers verantwortet.

Es wird zur Vernehmung Morand's geſchritten.

Morand iſt ein herculiſch gebauter, ruhig blickender Mann. Seine Züge bleiben unbewegt, in ſeinem düſtern Geſicht zuckt keine Fiber. Sein Haar iſt ſchwarzbraun, doch bereits leicht ergraut. Sein Schnurrbart iſt ſtark, ſtruppig und noch ganz dunkelbraun. Sein Hände ſind muskulös und wohlgeformt. Er iſt mit einer alten Tuch— hoſe und einer weißen Bluſe bekleidet.

Präſident. Die Thatſache, daß Herr Vetard um ungefähr 7 Uhr 15 Minuten in Begleitung einer weib— lichen Perſon in das Haus der Joſephine Martin ein— trat, ſteht feſt. Sie haben ſich um 6 Uhr 45 Minuten dahin begeben? Man hat Sie eintreten jehen.

Angeflagter. Nein! Das ift vollfommen unrichtig. Ich kannte das Mädchen faum und war niemals bei ihr.

Präfivdent. Aber die Zeugenausfage der Frau Droin lautet ganz bejtimmt.

Angeflagter. Es ift eine falfhe Zeugin. Diefe Frau lebt feit zwei Jahren in Todfeindſchaft mit mir. Sie haft mich und hat einen Meineid gefcehworen, um mich zu verderben.

Präjident. Wo waren Sie während der Zeit, ba das Verbrechen begangen wurde?

Der Broceß wider ben Tageldhner Morand. 289

Angeflagter. Zu Haufe, Herr Präfident, und im Bett. Ich bin an diefem Abend überhaupt nicht aus- gegangen.

Präjident. Um wieviel Uhr haben Sie fich nieder- gelegt ?

Angeflagter. Um halb acht Uhr.

Präſident. Sie haben gehört, daß Joſephine Martin Sie der Thäterjchaft beſchuldigt?

Angeflagter. Die Ausfage derjelben ift ein durch» fichtiges Lügengewebe.

Präjident. Es liegen aber auch noch andere Ver— bachtögründe gegen Sie vor. Auf einem Ihrer Holz- ichuhe find Blutjpuren gefunden worden.

Angeflagter. Ich bin jehr vollblütig und leide oft an Nafenbluten. Dan kann alle meine Kameraden darüber befragen, fie werden es insgefammt beftätigen. In der Unterjuchungshaft habe ich auch Najenbluten gehabt. Ich bitte nur den Kerkermeiſter darüber zu ver- nehmen.

Präſident. Man hat bei Ihnen einen Tragforb vorgefunden. Die Martin gibt an, derjelbe habe zum Wegichaffen der Leichenreſte gedient.

Angeflagter. Wenn er wirklich dazu verwendet worden ift, jo war ich e8 doch nicht, der ſich jeiner dazu bediente.

Präfivdent. Es haben fih an dem Korbe Blut— jpuren gefunden.

Angeflagter. Ich Habe ihn bei Gartenarbeiten benugt. WBielleicht babe ich mich bei der Arbeit einmal gerigt, dann hat mein eigenes Blut diefe Spuren hinter- laffen. (Unwillige Ausrufe im Zuhörerraum.) Ich be= haupte e8 ja nicht, ich fee nur den möglichen Fall.

Präfident (zum Auditorium). Wenn noch weitere

XXI 19

290 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

derartige Störungen vorfallen, jo laſſe ich den Saal räumen. Morand, fahren Sie fort.

Angeflagter. Mein ZTragforb ſtand immer vor der Hausthür. Es fonnte ihn leicht jemand ohne mein Borwiffen benugen. Es ift daher möglih, daß ber CS chuldige fich feiner bevient hat. Ich jchwöre, ich weiß nichts davon. Ich bin unfchuldig.

Präfident. Ihre Frau hat einen andern Erflärungs- grund für die Blutjpuren angegeben. Sie fagt, e8 jet darin mehreremal gefchlachtetes Schweinefleifh trans» portirt worden.

Angeklagter. Diefe Thatjache ift auch richtig. Es ift dies fogar gleich nach Lichtmeß (2. Februar) gejchehen.

Präfident, Ich komme jet zu den Briefen. Sie behaupten, Sie haben an deren Abfaffung nicht mit- gewirkt?

Angeflagter. Ganz ficher nicht. (Sehr energiich:) Sch fchwöre, daß ich niemals in meinem Leben meinen Fuß über die Schwelle der Wohnung der Sofephine Martin geſetzt habe. Ich Habe fie faum gefannt und nie zuvor gejprochen. Die Roſalie Mary aber, deren Unterjchrift misbraucht worden fein joll, kenne ich gar nicht.

Präfident. Man hat Sie um 9 Uhr 15 Minuten am Brunnen mit Iofephine Martin gejehen, gerade zu ber Zeit, als diefe Waffer für Sie geholt haben will.

Angeflagter. Es ift nicht wahr. Ich war nicht dort. Ich lag bereits in meinem Bett.

Präſident. Sie werden die Zeugen felbjt hören.

Angeflagter. Ich war es nicht.

Präfidente Am Tage nah dem Morde, am 9. Februar, find Sie wie andere Neugierige zur Nonne gegangen, um das Herausfifchen der Gliedmaßen des Ermordeten mit anzufehen?

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 291

Angeflagter. Iawohl, Herr Präfident. Zuerft war ich mit meinem Freunde Grivet ausgegangen, um ben Vaftnachtsochjen auzufchauen. Als wir bemerften, daß fich die Leute am Ufer der Yonne anjammelten, ver- fügten wir und auch dahin. Dean erzählte ung, es jei ein Männerarım gefunden worden, und wir fahen, wie die andern Neugierigen, den Arbeiten zu.

Präfivdent. Am Morgen, als befreundete Arbeiter zu Ihnen famen, find dieje fajt betäubt worden von einem entjeglichen Gejtanf, der von Ihrem Herde ausging.

Angeflagter. Ich verbrannte altes Lederzeug, alte fette Fetzen, alte Abfälle aller Art. Auch zwei tobdte gel aus meinem Garten waren dabei. Es mag übel genug gerochen haben.

Präjident. Am Ufer der Nonne fiel Ihr verftörtes Weſen beim Auffinden der Leichentheile mehrern Ihrer Bekannten auf.

Angeflagter. Ich war nicht verftört. Ich hatte feine Urjache dazu. Mein Gewiljen iſt rein. Sch bin bei Gott vollfommen unſchuldig an der Mordthat.

Präfident. Sie behaupten, des Abends am 8. Februar gar nicht ausgegangen zu jein?

Angeflagter. Nah 8 Uhr abends gewiß nicht. Um halb 9 Uhr war ich ficher im Bett.

Präſident. Eine Zeugin, Frau Madeleine Salmon, hat aber behauptet, daß fie an jenem Abende nicht zu Haufe geweſen jind.

Angeflagter. Die Frau irrt fih im Tage.

Präfident. Ihre Tochter joll Frau Salmon gebeten haben, zu bezeugen, daß fie am jenem Abend Sie zu Haufe getroffen habe.

Angeflagter. Man hat e8 mir erzählt. Sch weiß nicht, ob e8 wahr ift.

19*

292 Der Brocef wider den Tagelöhner Morand.

Präfident. Sie haben während der Unterfuchungs- haft verjchiedene Verfuche gemacht, mit Ihrer Frau in Correſpondenz zu treten, um ein Alibi zu beweifen. Man hat Zettel aufgefangen, die jo lauten. Der erite:

„Sage der Tante, der Madeleine und Louis, daß fie um 10 Uhr 15 Minuten fortgegangen find. Sie follen fih nur daran erinnern. Ich war ind Bett gegangen. Ich umarme Euch alle. Dein unjchuldiger Gatte. Stede nichts in die Taſchen.“ |

Der zweite:

„Wenn Marie Delooze am Abend des Verbrechens beit uns war, fo rite ein Kreuz unter dem Blechteller mit der Mefjerfpite. Wenn Du im Nermel meiner Jacke meinen Brief gefunden haft, mache eine Null daneben. Ih umarme Dih und die Kinder. Dein unfchuldiger Gatte. U

Der pritte:

„Wenn Du Marie, Deine Tante und Louis geiprochen haft, mache 1, 2, 3 unter dem Teller.”

Der vierte:

„Nähe mir Nachricht in das Hofenfutter ein. Ich werde meine Hoje morgen verlangen.‘

Der fünfte:

„Du mußt Herrn Ablon und Herrin Contura auf: ſuchen. Sie glauben an meine Unjchuld und werben Dich unterftügen. Vergiß nicht, nach dem Zapfenftreich war ich im Bett.‘

Der jechste:

„Du mußt Herren Ablon und Herrn Contura auf- juchen. Sie follen etwas für mich thun, denn ich bin unschuldig. Bejuhe auch Frau Grene. Ich umarıne Dich und die Kinder. Schide mir einen Bleiſtift.“

Präjident Wie erklären Sie dieje Briefe?

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 293

Angeflagter. Ich wollte den Zeugen Thatumftände, bie jie als unwichtig vielleicht vergeffen hatten, ins Ge— dächtniß zurüdrufen. Ich bin unſchuldig, vollfommen unfchuldig und will e8 beweifen.

Präfident. Wir fehren zu den Angaben ver Jo— jephine Martin zurüd. Cie behaupten, ihre Ausjage jet faljch?

Angeklagter. Vollkommen erlogen, Herr Prä— ſident.

Präſident. Iſt ſie Ihnen feindlich geſinnt?

Angeklagter. Ich weiß es nicht.

Präſident. Warum aber klagt die Martin Sie an?

Angeklagter. Offenbar um den wirklich Schuldigen zu beſchützen. Ich erinnere mich, daß, wie ich zum erſten mal mit der Joſephine Martin vor dem Unterſuchungs⸗ richter confrontirt wurde, der Schriftführer, als der Herr Richter einen Augenblid das Zimmer verließ, der Jo— jephine Martin einen Zettel zugeftedt Hat. (Bewegung.) Diejer Schriftführer heißt Labeſſe. Ich bedauere jehr, daß er nicht bier ift. Er gehört hierher (deutet auf bie Anklagebanf). Ich Habe leider nicht den Muth gehabt, dem Herrn Unterfuchungsrichter jofort von meiner Wahr- nehmung Mittheilung zu machen. Man hat die Dirne einfach auf mich gehekt.

Präfident. Und Sie vermuthen, diefer Zettel....

Angeflagter. Enthielt VBerhaltungsmaßregeln.

Präfident. Sie bleiben alfo dabei, daß Joſephine Martin Unwahres über Sie ausgejagt hat?

Angeflagter. Gewiß. Sie lügt. Ich bin unſchuldig.

Präfident. Iofephine Martin! Erheben Sie id). Haben Sie den Angeklagten Morand gehört?

Joſephine Martin. Ich betheuere es, Morand und Bacher find die Schuldigen. Sie follen es nur leugnen,

294 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.

fie find e8 doch gewejen. Ich verfichere, fie find e8. Aber fie werben fortfahren e8 zu leugnen, fie werben es noch auf den Schafott leugnen!

Morand. Sch jchwöre es, ich bin unjchuldig!

Präſident. Es gemügt nicht zu fchwören. Man muß es beweijen fünnen.

Bertheidiger Mr. Lailler. Es ijt doch nicht Mo- rand's Sache, zu beweifen, daß er unschuldig ijt. Im Gegenteil, die Anklage muß beweijen, daß er fchuldig ift.

Staatsanwalt. Die Anklage wird den geforberten Beweis führen. Sie haben e8 gar zu eilig, Herr Ver- theidiger!

Zailler. Die Gejchworenen werden darüber urtheilen.

Staatsanwalt. Ya wohl, und ich erwarte mit Ruhe ihr Verdict.

Präſident. Ich fchliege vorläufig Ihre Vernehmung, Morand, und conftatire, daß Sie bereits bejtraft find und daß die Polizeinote jehr ungünftig über Sie lautet. Alle Welt fürchtet fih vor Ihnen.

Angellagter. Ich habe in meinem Xeben feinem Menjchen ein Haar gekrümmt.

Während der ganzen Dauer feiner Vernehmung, auch als er Joſephine Martin Auge in Auge gegenüberftand, hat Morand feinen Augenblid laug feine Selbftbeherrichung verloren. Er antwortete ohne zu ftoden, mit großer Geiftesgegenwart und Bejtimmtheit.

Der Schanfwirth Vacher wird vernommen.

Er ift ein dumm ausjehender, kleiner, dider Mann mit ſtark gerötheten, glatt vafirten Wangen, der richtige Typus eined Dorfgaftwirthes.

Präjident. Bacher, erheben Sie fih. Sie haben die Ausjagen der Yojephine Martin gehört. Sie hat be- hauptet, daß, als fie nach Haufe fam, Sie und Morand

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 295

mit der Zeritüdelung der Leiche des Herrn Vetard be— ichäftigt waren.

Angeflagter. Es ift nicht wahr. Sch war um bieje Zeit zu Haufe.

Präfident. Weshalb befchulvigt Sie die Martin?

Angeflagter. Wahricheinlih um fich zu entlaften und andere nicht zu verrathen.

Präfident. Angeklagte Martin, was fagen Sie dazu ?

Joſephine Martin. Sie waren e8 und fein anderer! Sie hielten die Beine, die Morand abjägte! Niemand außer mir fann jagen, was bei mir vorgefallen ift. Mo— rand, Vacher und deſſen Frau find die Schuldigen! Nie- mand fonft war dabei. Als Morand mir die Thür öffnete, juchte Vacher fich zuerjt zu verbergen. Sch rief ihnen zu: „Aber ihr jeid ja Mörder! Es ift fürchterlich!‘ Bacher antwortete darauf: „Aber fo fehweigen Sie doch! Seien Sie doch ſtill!“ Dann hat Morand mich mit jeinem Mefjer beproht und mir gejagt: „Schreien Sie nicht, fonft bin ich im Stande, Ihnen das Gleiche an— zuthun!“ Mein eines Mädchen weinte und fragte, was die Leiche zu beveuten habe. Vacher hat mir eine Uhr und Kette gezeigt und mir gefagt: „Die gehören Ihnen. Sie befommen fie aber jegt noch nicht, denn Sie find zu Teichtfinnig, Ste würden ung verrathen.‘ Bacher hielt einen Soden Vetard’s in der Hand und zog ihm venfelben wieder an. Es war abjicheulich! (Bewegung im Zuhörer- raum.)

Präfivdent. Hit denn die Leiche entkleivet geweſen?

Joſephine Martin. Nein. Einzelne Gliedmaßen waren abgetrennt und jchon in Säcke gethan. |

Präjivent. Haben die Mörder die Stube gewajchen?

Joſephine Martin. Ja wohl, auch ven Fußboden.

296 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand.

Das Spülmwafjer haben fie in den Anftandsort meiner Wohnung gegojjen. Ich habe jogar geglaubt, fie hätten den Kopf der Leiche vahineingeivorfen, e8 war bies ein Hauptgrund, weshalb ich mich fürchtete etwas zu verrathen.

Präfident. Hat nicht Morand etwas Auffälliges dazu bemerkt?

Sofephine Martin. Ja wohl. Morand fagte: „Den Leichnam werfen wir in den Fluß, die Kleider werden wir verbrennen.”

Präfident. Hören Sie das, Bacher? Es find das doch Einzelheiten, die man nicht erfindet?

Angeflagter Bacher. Ich begreife nicht, warum fie mich bejchuldigt. Ich war zu Haufe und nicht in ihrer Wohnung.

Präjivdent. Behaupten Sie etwa auch nach dem Beifpiele Morand’s, man müſſe die Mörder anderswo juchen ?

Angeflagter. Ich weiß es nicht. Ich bin unfchubig.

Präfident. Zu Ihrem Unglüde gibt e8 aber Zeugen, bie gegen Sie ausjagen.

Angeflagter. Ich habe e8 fchon in der Unterfuchung erklärt und wiederhole e8, ich bin an jenem Abende nicht ausgegangen.

Präfident. Ein Zeuge hat Sie am 9. Februar, gegen 6 Uhr morgens, an ben Ufern der Monne begegnet, unweit der Stelle, wo man wenige Stunden ſpäter den Arm Vetard's aufgefunden hat. Sie jahen forgenvoll aus.

Angeklagter. Es fann fein. Ich erinnere mich nicht, ob ich gerade an diefem Tage und an jener Stelle war. Jedenfalls war dies ein bloßer Zufall, Ich gehe häufig früh morgens aus und fpaziere meiſtens am Ufer des Fluſſes. |

Präfident. Auch an dieſem Morgen?

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 297

Angeflagter. Möglich. Ich erinnere mich daran nit. Am Abend des 8. Februar bin ich aber ficher nicht ausgegangen.

Präfident. Ein Zeuge, Herr Barte, hat dem Ge- richt mitgetheilt, daß Sie nicht zu Haufe geweſen find. Ihre Frau hat ihm gejagt, Sie wären verreift.

Angeflagter. Das ift nicht wahr!

Präſident. Alſo hat der Zeuge gelogen?

Angeflagter. Nein, er irrt fih nur im Datum.

Präfident. Ihr Dienſtmädchen Vellon wird fich aber im Datum nicht irren, und fie jagt aus, daß fie deutlich gehört habe, wie Sie ſpät in der Nacht heimfehrten.

Angellagter. Es ift nicht wahr. Sie hat mich nicht gehört. Ich bin nicht nach Haufe gefommen, weil ich gar nicht fort war.

Präſident. Alfo alle Zeugen irren jich, oder a ichuldigen Site fäljchlich ?

Angeflagter. Ich kann nur wiederholen, ich bin unschuldig, ich war zu Haufe.

Staatsanwalt. Geftehen Sie zu, größere Zahlungen in Gold und Banknoten geleiftet zu haben, und daß bies erft nach dem Mordattentate gewejen tjt?

Angeflagter. Ich bin immer allen meinen Der: bindlichfeiten nachgefomnten.

Präſident. Herr Ablon hat bezeugt, daß dies nicht immer rechtzeitig gejchehen tft.

Angeflagter. Ich bitte, es ift niemals ein Wechjel gegen mich proteftirt worden. Ich habe im December einen Wechfel von 1000 Fre. eingelöit. Seither habe ich wieder Einnahmen gehabt.

Präfident. Geben Sie zu, während Ihrer Haft einem Mitgefangenen Namens Barbe gejagt zu haben: „Morand wird uns doch nicht verzündet haben?“

298 Der Procef wider den Tagelöbner Morand.

Angeflagter. Das ijt bloße Erfindung eines Men- ichen, der jich wichtig machen will.

Bacher tritt weit weniger ficher auf al8 Morand. Er blickt zuweilen ganz dumm um fich, ehe er antwortet, er ftottert hie und da bei jeinen Antworten, bleibt aber feſt dabei, daß er vollfommen unjchuldig und zur kritiſchen Zeit zu Haufe gewejen jet.

Frau Bader, die nach ihrem Manne verhört wird, ift eine große, magere Frau mit ftechenden Augen und dünnen Lippen, fie fieht ſtörriſch und unwirſch brein.

Präfident. Frau Vader, find Sie am 8. Februar abends bei Joſephine Martin gemwefen ?

Angeklagte. Nein, Herr Präfident.

Präfident. Sie haben nichts dorthin gebracht und nicht8 fortgetragen ?

Angeklagte Nein, Herr Präfident.

Präjident. Joſephine Martin, hören Sie das?

Sojephine Martin. Sie find in meine Wohnung gefommen, ich bejchwöre e8! Sie waren gar nicht entjegt über die That! Sie haben zwei Säde mitgebracht und eine Flaſche Sohannisbeergeiit. Sie haben die Schmud: jachen mitgenommen und haben noch gejagt: „Ich fürchte nur Eins, daß man euch erwijcht während ihr mit ven Zragförben zum Waſſer geht.‘

Angellagte Bacher. Es ijt nicht wahr, ich bin nicht bet ihr gewejen.

Sofephine Martin. Niemand weiß befjer, was vorgegangen iſt, als ich.

Angeklagte Bacher. Das glaube ich wohl, denn Sie waren bei dem Morde zugegen. Aber ih ich war nicht dabei!

Präſident. Wo waren Sie denn?

Angeflagte Bacher. Zu Haufe.

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 299

Präſident. Sehen Sie einander ins Geficht!

Es gejchieht. Allein Feind der beiden Frauenzimmer weicht vor dem andern zurüd.

Präſident. Ja freilich, ihr waret alle zu Haufe. Aber unglücklicherweile für Sie jagt das Dienjtmädchen Dellon aus, Sie wären im Laufe des Abends weggegangen.

Angeflagte. Es iſt nicht wahr, ich bin nicht aus- gegangen.

Präfident. Und an den folgenden Tagen, was haben Sie da gethan?

Angeklagte. Nichts Bejonderes.

Präfident. Sie find mit ihrer Magd Vellon und einem Herrn Benoit nach Paris gereift?

Angeklagte. Das ijt richtig.

Präfjident. Iſt diefer Benoit der Liebhaber ver Bellon ?

Angeklagte. Sch weiß es nicht.

Präfident, Aber fie jchliefen doch in demſelben Bette?

Angellagte. Ya, während der Reiſe.

Präfident. Wer zahlte vie Reiſekoſten?

Angeklagte. Herr Benoit.

Präjident. Es wird aber behauptet, Sie hätten die Neijefojten bezahlt. Was haben Sie in Paris gethan? Angeklagte. Wir waren zum Bergnügen dort.

Präfident. Benoit hat gejagt, daß er Sie in Paris mit mehrern Eleinen PBadeten in der Hand gejehen habe.

Angeklagte. Es waren dies Fleine Gejchenfe, bie ich mitbringen wollte.

Präfident. Und es iſt wirklich Benoit gewejen, der alles bezahlt hat?

Angeflagte. Ja wohl. Die Reife hat uns feinen Pfennig gefojtet.

300 Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand,.

Präjident. Joſephine Martin, warum haben Sie zuerjt behauptet, Frau Morand fei e8 gewefen, die Vetard zu Ihnen geführt habe? Sie haben doch jpäter ſelbſt zu— gejtehen müſſen, daß fie unſchuldig ift.

Sofephine Martin. Ich wollte Morand durch die Derbächtigung feiner Frau zum Geſtändniß bewegen.

Frau Elergeot, geborene Deartin, deren Vernehmung nun folgt, fieht ihrer Schwefter ähnlich, aber ihre Züge find gröber und mehr entwidelt, auch ift fie ftärfer und voller als Joſephine Martin. Sie ift ſchwarz gefleivet und trägt ein Kopftuch jtatt des Hutes.

Präfident. Es wird behauptet, daß Sie längere Zeit in intimen Beziehungen zu Vetard gejtanden haben.

Angeklagte Es ift nicht wahr. Ich habe nie intim mit Vetard verkehrt.

Präfident. Sind Sie e8 geweien, die Vetard ab- geholt und zu Ihrer Schweiter geführt hat?

Angeklagte Nein, Herr Präfivent. Ich kann beim allerhöchften Gott fchwören, daß ich das Haus der Ma- dame Druge an diefem Tage nicht verlaffen habe.

Präjident. Der eine dieſer Tragförbe gehört Ihnen ?

Angeklagte. Ia. Meine Schweiter hatte ihn jchon mindeſtens acht Tage früher von mir geliehen. Ich weiß nicht mehr zu welchem Zweck. Ich bin nicht verantwortlich für die Verwendung meiner Sachen durch andere Perſonen.

Präfident. Als Ihnen der Tragforb zurücdgegeben wurde, haben Sie da Blutfpuren daran bemerft?

Angeklagte. Nein, Herr Präfident.

Präfident. Sie ſelbſt haben ihn am Tage nach dem Berbrechen abgeholt?

Angeklagte. Das ift richtig.

Präſident. Noch ein anderer Verbachtsgrund wird gegen Sie geltend gemacht. Sie haben kurz nach dem

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 301

Verbrechen weit mehr Geld bejeffen als jonft und große Ausgaben gemacht.

Angeklagte. Ich habe mein rückſtändiges Gehalt als Kojtfrau für Pfleglinge in der Höhe von 50 Franc und eine Remuneration jowie einen Monatsbetrag von 37 Francs auf einmal empfangen, und mein Mann bat am letten Januar 80 Francs an Lohn ausgezahlt erhalten.

Präjident. Nach dem Berbrechen haben Sie eine verbächtige Aeußerung gethan. Sie haben Ihrer Schweiter vor dem Zeugen Robert gejagt: „Vergiß nicht anzugeben, daß du bei der Mutter übernachtet Haft.‘

Angefllagte. Das habe ich nicht gefagt.

Na einer Unterbrehung von mehrern Stunden wird zur Zeugenvernehmung gejchritten.

Paul Lemblay, 22 Jahre alt, Schwertfegergehülfe in Joigny. Am Mittwoch Abend, um halb 11 Uhr, habe ich beim Nachhaufegehen bemerkt, daß ver Raven des Herrn Vetard, der font um dieſe Zeit immer gejchloffen war, offen jtand. Vétard pflegte fonft um 6 Uhr abends zu ſchließen. Ich war darüber erjtaunt. Auch am nächften Morgen, als ich an die Arbeit ging, war der Laden fchon offen. Ich ging hinein, aber e8 war niemand darin. Ein Sicherheitswachtmann ging vorüber und ich machte ihn darauf aufmerkſam.

Etienne Theophile Leblanc, 29 Jahre alt, Par— fumeur in Joigny. Er bewohnt das Haus, in dem jich Vetard's Raven befand. „Am Abend des 8. Februar jchloß ih mein Geſchäft zur gewöhnlichen Stunde. Mehrere Perjonen verbrachten den Abend bei mir. Fünf Minuten vor 10 Ubr habe ich zwei Perfonen in meinen Corridor eintreten und miteinander Sprechen hören. Es war eine Männer- und eine Frauenftimme. Was fie fagten, konnte ih nicht verftehen. Am nächjten Morgen war ich fehr

.“

302 Der Procek wider den Tagelöhner Morand.

überrafcht, Vetard's Laden jo früh jchon offen zu ſehen, und jagte zu meiner Frau: «Da fchau nur, es fcheint, daß der dem Faftnachtsochien einen Frühtrunf widmet!» Etwas ſpäter bin ich ausgegangen und war jehr erjtaunt, nicht wie fonft die Uhren in der Auslage zu ſehen. Dffen- bar waren fie gejtohlen. Eine Nachbarin erzählte mir jpäter, daß zu der Zeit, wo am Abend zuvor ver Mann und die Frau in den Hausflur traten, eine andere Frauens— perjon im Hofe Wache geſtanden habe.“

Staatsanwalt. Haben Sie niemand beargmöhnt ?

Zeuge. Nun, wie des Morgens ein Hochzeitszug porüberfam, da dachte ich mir, iſt wol einer darunter, deffen Hochzeitsanzug von Vẽtard's Geld bezahlt worden ijt?

Präfivdent. Das find leere Phantafien. Sie haben nur über Thatjachen auszufagen. Haben Sie noch jonft etwas zu bemerken?

Zeuge Am 13. Februar, um halb 1 Uhr, als man die Beine aus dem Wafjer herausfifchte, fagte ich zu einem Gensdarmen: „Man jucht den Mörder in ver Verne, und er iſt ganz nahe.”

Präfident. Wen meinten Sie?

Zeuge. Den Hauptangeflagten Morand!

Bertheidiger Lailler. Das ijt eine bloße Ver— muthung!

Zeuge. Freilich. Wenn ich deſſen gewiß gewejen wäre, jo hätte ich ihn angezeigt. Ich füge hinzu, daß e8 eine Frau gewejen tft, welche die Uhr aus der Aus— lage weggenommen bat.

Ein Gefhworener. Woher wiſſen Sie das?

Zeuge. Weil ziemlich dider Staub in der Auslage war, und bie Fingerfpuren, die zurücblieben, die einer Weiberhand waren.

Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 303

Bertheidiger Remacle Hit dies gerichtlich con— jtatirt worden?

Präfident. Nein, aber ver Zeuge hat fchon in der Unterjuchung auf diefen Umftand bingewiefen.

Lucien Gasnier, 28 Yahre alt, Bedienter. Am Tage des Verbrechens war ich bei VBetard wegen eines Kaufes. Er gab mir auf eine größere Note heraus, und als er die Geldlade öffnete, jah ich, daß er jehr viel Baargeld liegen hatte.

Louis Dejenclos, 68 Jahre alt, Briefträger, hat in der Nacht gegen 2 Uhr Licht im Laden Vetard's ge- ſehen.

Alexis Auguſte Babillot, 29 Jahre alt, Finanz- beamter in Joigny. Ich Habe bei dem Unterſuchungs— richter alles ausführlih zu Protokoll gegeben. Wichtig it an meiner Ausfage nur, daß ich am Abende des Ver- brechens am Haufe Joſephinens vorbeifam. Es war zwijchen halb 8 und 8 Uhr. Die Thür war verjperrt und die Fenjterläden waren gejchloffen.

Präfident. Hatten Sie einen Hausjchlüffel?

Zeuge. Nein. Joſephine gab ihn mir zuweilen, aber in der Regel hatte ich ihn nicht.

Präſident. Man hat Ihnen einige Briefe vorge- wiejen und Sie haben die Schrift Ihrer Geliebten erfannt ?

Zeuge Ja wohl, Herr Präfident.

Präfivdent. Wußten Sie, daß Joſephine Martin mit dem Uhrmacher Vetard befannt war?

Zeuge. Mein.

Präfivdent. Hat Ihre Geliebte Sie vorher ver- tändigt, daß fie am 8. Februar abends nicht zu Haufe jein würde?

Zeuge. Sie hat mir gejagt, fie würde vorausfichtlich den Abend bei ihrer Familie zubringen, weil ihr Bruder

304 Der Brocef wider den Tagelöhner Morand.

am nächiten Tage Hochzeit halte. Sie hat hinzugefügt, wenn es zu langweilig fein follte, würde fie Doch nach Haufe zurüdfehren. Darum bin ich für alle Fälle vorüber- gegangen.

Bertheidiger Lailler. Sie famen täglich zu Jo— jephine Martin, haben Sie jemal® Morand bei ihr ge- jehen ?

Zeuge Niemals.

Präfident. Cs ift doch natürlich, daß Joſephine ein Zufammentreffen der verſchiedenen Männer zu ver- hüten wußte. (Gelächter im Zuhörerraum.)

Jean Ablon, 63 Yahre alt, Bankier in Yoigny. Am 9. Februar morgens war ich eben daran, mein Fijch- zeug zu ordnen, als mein Fijcher zu mir fam und mir erzählte, man hätte am Ufer des Fluſſes einen menſch— lichen Arm aufgefunden. Sch habe fofort den Stants- anwalt hiervon verjtändigt.

Das Auftreten der nächjten Zeugin ruft eine größere Bewegung des Publifums hervor. Es iſt dies die ehe- malige Geliebte Betard’s, Roſalie Mary, verehelichte Deproy, 28 Jahre alt, derzeit Dienftmagb in Tonnerre, Es iſt eine Kleine, frifche, rejolute Perjon, von etwas rundlicher Leibesbejchaffenheit. Sie hat fich Fofett heraus— gepußt und ihren jchwarzen Sammthut mit einem Sträuß- chen von Maiblumen geſchmückt. Trotz ihres felbftbe- wußten Auftretens wird fie durch die neugierigen Blicke des Auditoriums einigermaßen verjchüchtert.

Sie gibt an:

„Man bat mir bei Gericht Briefe vorgewieſen, die von mir herrühren follten. Es war dem jedoch nicht fo. Sie find von Joſephine Martin’8 Hand gejchrieben. Ich ver- muthe indeß, daß fie von Madame Elergeot ausgegangen

Der Broceß wider ben Tagelöhner Morand. 305

find. Dieje fannte meine Verhältniffe genau und hat diejelben vermuthlich der Joſephine berichtet.’

Präfident. Kannten Sie ven Angeklagten Morand?

Zeugin. Nein, Herr Präfident.

Präfident. Somit hat er die Briefe nicht dictiren fönnen. SKannten Sie Herrn BVetard?

Zeugin. Ya wohl, Herr Präfivent. Ich habe ihn zuweilen in jeinem Laden gejprochen.

Präjident. Aber Ihre Geſpräche drehten fich nicht um Uhren?

Zeugin. Ach nein.

Präfident. Er ift gern mit Ihnen zufammenge- troffen ?

Zeugin. Ich glaube es wohl.

Präfident. Er hat Ihnen Anträge gemacht?

Zeugin. Sa, aber ich bin nicht feine Geliebte ge— worden.

Präſident. Die Einzelheiten der incriminirten Briefe beruhen auf genauer Kenntniß Ihrer Verhältniffe?

Zeugin. Sa wohl, Herr Präfident.

Präfident. Sind Sie mit Yojephine Martin auf vertrauten Fuße geitanden ?

Zeugin. Vor dem Verbrechen fannte ich fie faum wohl aber Frau Elergeot.

Präfivdent. Hat Joſephine Martin Sie nach dem Verbrechen aufgejucht?

Zeugin Zunächſt nicht. Frau Elergeot fam zu mir. Sie wollte horchen, welche Vermuthung ich über die Ver- fafferin der Briefe geäußert hatte. Joſephine Martin war bejorgt. Sie fürchtete, daß ich fie genannt haben fönnte, und jchidte darum ihre Echwefter zu mir. Als dennoch der Verdacht gegen ſie geäußert wurde, leugnete ſie mir gegenüber ſehr entrüſtet die hütefhaf ab, und

XXIII

306 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

Frau Glergeot jpottete über die Albernheit der Nichter. Don da an juchte mich Iofephine Martin möglichit oft auf und war voll Zuvorkommenheit und Liebenswürpigfeit.

Angelique Godefroy, 47 Yahre alt, Näherin in Joigny. Gegen den 18. oder 20. Januar kam Fräulein Sojephine Martin, meine Nachbarin, zu mir und bat mic, an die „Magafins du Louvre‘ zu fehreiben, weil fie ein Hochzeitsfleid für die Trauung ihres Bruders bedurfte. Sie ift auf diefe Beftellung nicht zurückgekommen. Ich vermuthe als Urjache Geldmangel. Am 8. Februar theilte mir eine Frau Raoin mit, daß dieſe Hochzeit für den nächſten Tag anberaumt jei, und fügte hinzu: „Die arme Joſephine wird wol jchwerlich dabei fein fünnen, fie hat fein Kleid zum Anziehen.‘ An vemfelben Tage, abends gegen 7 Ubr, hörte ich zwei Perſonen die Treppe zu Jo— jephine hinauffteigen und wispern: „Phinel.. Phine!..“ Es erfolgte feine Antivort und die beiden Perjonen gingen wieder hinunter. Etwas jpäter, etwa um 7'/, Uhr, habe ich wieder zwei Perſonen hinauffteigen hören. Nach dem Klang der Schritte waren e8 eine mit der Dertlichfeit vertraute Frauensperjon und ein Mann. Dieſer ftolperte auf der Treppe. Gegen 8 Uhr vernahm ich viel Geräujch, kümmerte mich indeß nicht viel darum, denn ich las Die Zeitung oder plauderte mit einer Freundin. Um 10 Uhr war ein fortwährendes Gehen und Kommen. Zwiſchen 11 und 1 Uhr wurde der Lärm jchwäcer. Sch war neugierig und legte mir bie Frage vor, was das zu be— deuten habe. Die Nacht war abjcheulih. Es regnete und ftürmte. Mich fröftelte und e8 wurde mir angft. Endlich um 1 Uhr jchlief ich ein. Um 6 Uhr am nächiten Morgen ſtand ich auf. Ich bemerkte, daß Joſephine Mar— tin noch nicht ausgegangen war. Bald darauf kam ein junges Mädchen mit einem Kleiderkorb zu ihr und brachte

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 307

ihr den Hochzeitsitant. Gegen 10 Uhr vormittags jprach ih Marie Morand, die Tochter des Angeklagten, die bei mir nähen lernte. Sie erzählte mir, fie habe joeben Jo— jephine Martin begegnet, die in vollem Putz zur Trauung gegangen ſei. Sie ſehe ſehr hübſch aus. Kurze Zeit darauf vernahmen wir von einer Nachbarin, daß ein Männerarm am Flußufer gefunden worden fei. Frau Morand kam zu mir und erzählte, man habe ven Arm an dem Daumennagel als den des Uhrmachers Vötard erfannt. Wir plauderten über die verbrecherifche That, und ein anwejender junger Mann, Herr Salmon, jagte, er habe Herrn Vetard abends vorher um 7 Uhr in Be— gleitung eined® Frauenzimmers zu Joſephine gehen jehen. Sch erinnerte mich fofort an das merkwürdige Geräuſch vom DBorabend, allein ich dachte damals durchaus nicht daran, daß Joſephine jelber jchuldig fein könnte. Nach— mittags 4 Uhr kamen Herren vom Gericht mit Herrn Labeſſe zu mir. Herr Labeſſe fragte mich, ob Joſephine zur Hochzeit gegangen fei. Ich bejahte es. Er äußerte jofort: „Oh, das arme Ding! Gewiß fie hat mit ber Angelegenheit nichts zu jchaffen. Ich wußte e8 ja, fie war bei ihrer Mutter!“ Etwas fpäter fagte Frau Clergeot zu dem Gensdarmenwachtmeilter: „Sie kann nichts dafür. Sie hat bei unferer Mutter übernachtet.” ALS Sofephine kam, lief fie ihr entgegen und rief ihr raſch zu: „Daß du es nur weißt, ich habe es jchon gejagt, daß du heute bei ver Mutter übernachteft haft.” Am Abende Fam Joſephine zu mir herüber, ich fragte jie baarflein aus. Sie erwiderte mir aber: „Auf jolche Saden fann man gar nichts antworten!” Das hat mich zuerjt ftugig gemacht und mir Verdacht gegen fie ein— geflößt. Am 15. Februar fprach ich den Angeklagten Morand. Er jagte zu mir: „Nun, was denken Sie über 20 *

308 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

den Mord? Man hat die Thäter erwifcht, e8 find die Mouillons.“ Ich vrüdte ihm meine Zweifel an ber Richtigkeit diefer Nachricht aus. Morand erwiderte: „ES mag jein, daß der Mann unfchuldig ift, er ift ein Lump, aber ein guter Kerl. Die Frau halte ich aber einer jolchen That ſchon fähig.” Ich erinnerte ihn daran, daß Herr Betard nad Salmon’s Behauptung am 8. Februar abends zu Sofephine gefommen fei. Er erwiberte lebhaft: „Ab, ver Salmon ift eine Canaille, ein freiwilliger Polizeiſpion!“

Staatsanwalt. Haben Sie Morand bei der Jo— jephine Martin gejehen ?

Zeugin. Ihn nicht, wohl aber Frau Morand. Die Kinder fpielten zuweilen miteinander, das war die Ver— anlafjung.

Präfident (zuMorand). Haben Sie gejagt, daß Cal- mon eine Canaille und ein freiwilliger Polizeifpion ijt?

Angeflagter. Nein. Man fprach von den vielen Anzeigen, die fälfchlich gegen die Monillons angebracht worden waren, und ich fagte im allgemeinen, dieſe An— zeiger ſeien Canaillen und freiwillige Polizeifpione. Ich habe es nicht von Salmon im beſondern behauptet.

Zeugin. Sie haben e8 von ihm gejagt.

Leon Salmon, 27 Yahre alt, Zijchlergefelle in Joigny. Am 8. Februar, des Abends um 7'/, Uhr, war ich vor der Hausthür meiner Mutter und habe veutlich Herrn Betard erkannt, als er mit einem Frauenzimmer in das Haus der Joſephine Martin hineinging. Er ift an mir vorübergefommen. ‚Herr Betard ift über eine Stufe geftolpert und hat etwas zwijchen ven Zähnen ge— murmelt. Das Frauenzimmer habe ich nicht erfannt.

Präfident. Sehen Sie die Angeklagten Martin und Elergeot genau an. Scheint Ihnen eine won beiden die Begleiterin des Herren Vetarb gewejen zu fein?

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 309

Zeuge. Die Joſephine Martin war es gewiß nicht, aber ich bin jett beinahe ficher, daß e8 die Fran Elergeot gewejen tit.

Bertheidiger Remacle. War die Stiege zur Wohnung der Martin denn nicht beleuchtet?

Zeuge. 9a, mit einer Lampe.

Bertheidiger Lailler. Iſt das Frauenzimmer mit binaufgegangen?

Zeuge Ja wohl.

Dertheidiger Remacle War im Zimmer jchon Licht, als die Frauensperſon hinaufitieg.

Zeuge Ja wohl.

Eleonore Bognot, verehelichte Vetard, 37 Yahre alt, Krämerin in Saint-Julien-du-Sault. Joſephine Martin ift mit der Hochzeitsgejellfchaft in unfern Ort gekommen. Sie ijt in meinen Laden getreten, um Zucker— werk zu faufen. Als fie meine Firmatafel las, war fie ganz bejtürzt.

Eugene Robert, 21 Jahre alt, Gärtnergehüffe. Ich habe gehört, wie Frau Clergeot ihrer Schweiter zu— rief: „Vergiß nicht zu jagen, daß du bei der Mutter übernachtet haft.“

Eine Reihe von Zeugen jagt über den Charakter Moranv’s aus. Die Stimmung verjelben ijt offenbar gegen ihn. Morand ſoll feine Kameraden oftmals hart angefahren und wörtlich bedroht haben; feiner von allen jedoch vermag zu behaupten, daß er jemals wirklich zu- geichlagen hätte.

Adolfine Suffroy, verehelichte Droin, 55 Jahre alt. Am Tage des Berbrechens, abends zwijchen 6 Uhr 15 Minuten und 7 Uhr, babe ih Morand bei der Sofephine Martin eintreten jehen. Ich jtand beim Brunnen.

310 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.

Präfivdent. Ihre Ausfage ift äußerſt wichtig. Ueber- legen Sie wohl, find Sie deſſen vollfommen ficher ?

Zeugin. Bollfommen.

Präfident. Sie hegen feine Feinpjeligfeit gegen den Angeklagten?

Zeugin. SKeinerlet.

Präfident (zu Morand). Sie hören die Zeugin.

Angeflagter. Es ift faljche® Zeugnif. Ich war nicht dort. Ich war es nicht. Ich bin in meinem ganzen Leben niemals zur Joſephine Martin gegangen. Es ift ein Racheact der Frau, fo gegen mich auszujagen.

Zeugin. D, wenn er aus biefem Zone jpricht! Ich weiß noch gar mancherlei über ihn zu erzählen!

Präfident. Darum handelt es fich nicht. Ich frage Sie nochmals: hegen Sie feindfelige Gefinnungen gegen ven Angeklagten ?

Zeugin. Nein. Ich bin nicht voreingenommen und vollfommen gerecht. Ich fage nur die Wahrheit. Am nächſten Tage habe ich felbit gehört, dag Morand ven Bacher durch einen Pfiff herbeirief. Sie führten ein erregtes Gefpräch, aber mit leifer Stimme, ſodaß ich die Worte nicht verjtehen Eonnte.

Angeflagter. Aber das ift eine neue Erfindung! Das ift vollfommen unwahr!

Zum erjten mal jcheint Morand etwas aufgeregt; alfein er gewinnt bald feine Selbftbeherrichung und Ruhe wieder und lächelt nur, als Frau Droin mit großer Zungengeläufigfeit alle die Drohungen aufgezählt, die er angeblich gegen fie ausgejtoßen haben will.

Präfivdent. Sie haben bet anderer Gelegenheit be= hauptet, Morand fei ein Schmuggler?

Zeugin. D, er läuft ganze Nächte lang herum! Ich habe es ihm fchon früher gejagt, ev thäte befjer

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand, 311

daran, zu arbeiten, als folchen Lichtfchenen Beichäftigungen nachzugehen.

Angellagter. Es ift ein vorbedachter Racheact. Ih habe die Frau einmal gerichtlich angezeigt, und feit biefer Zeit haft fie mid).

Präfident. Sie behaupten alfo, diefe ganze Aus— fage beruhe auf Erfindung?

Angeflagter. Mit aller Beſtimmtheit.

Marie Ligault, verehelichte Duffange, 32 Yahre alt. Am 8. Februar abends ging ich nach dem Zapfen ftreich nach Haufe und jah Fräulein Martin, als fie zum Brunnen ging, um Waffer zu holen. Ein Mann war unweit von ihr. Sch habe ihn nicht erfannt. Herr Vetard war e8 ficher nit. Er war größer, trat jchwer auf und trug eine Mütze.

Präſident. Glich der Mann dem Angeklagten Morand ?

Zeugin. Herr Präfivent, das ift Gewiſſensſache. Ich kann eine folche Frage nicht Leichthin bejahen.

Präfident. Sie haben recht. Alſo Sie erkennen jenen Mann nicht in dem Angeklagten?

Zeugin. Nein! Es ift zu ernit, um leichtfinnig zu antworten. Was die Frauensperfon anbelangt, fo bin ich dagegen meiner Sache ficher. Es war Fräulein Martin, darauf fann ich ruhig fchwören.

Präſident. Es ſtimmt dies nicht mit der Zeit. Die Angeklagte will damals noch bei ihrer Mutter ge- wejen fein. Frau Zeugin, fönnen Sie genau jagen, um wieviel Uhr Sie die Joſephine Martin gejehen haben?

Zeugin. 8 Uhr 45 Minuten. Es fchlug eben vom Thurme der Kirche zum heiligen Johannes.

Marie Mapdalenat, verehelichte Ablon, 40 Jahre alt, Weingartenbefigerin, war in Gejellichaft ver vorigen

312 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.

Zeugin. Sie fagt ganz übereinftimmend mit der— jelben aus.

Präfident. Erfennen Sie in dem Angeklagten Mo- vand den Mann, den Sie gejehen haben?

Zeugin. Ich habe ihn nicht genau gejehen und er- fenne ihn nicht.

Bertheidiger Lailler. Was trug jener Dann für Schuhe?

Zeugin. Soviel ich weiß, grobgenagelte Lederſchuhe.

Staatsanwalt. Diefen Umftand hat Sofephine Martin aufgeklärt. Sie hat gejagt, dat Morand jeine Holzihuhe ausgezogen habe.

Am nächſten Verhandlungstage wird der Brief zur Berlefung gebracht, den der Bertheidiger Yailler zu Be— ginn der Verhandlung reclamirte, Dieſer Brief lautet jo:

„Joſephine!

„Du biſt eine Elende. Du haſt mich retten wollen und haſt mich zu Grunde gerichtet. Im Augenblick, an dem Du meinen Brief empfängſt, lebe ich vielleicht nicht mehr, denn ich kann dem Schmerze nicht widerſtehen, der mich überwältigt, wenn ich bedenke, in welcher Lage ich mich befinde, und erwäge, daß es Deine Schuld iſt, Du Spitzbübin. Glücklicherweiſe für mich ſind meine Papiere in Ordnung, ſonſt wäre ich wol ſchon verhaftet. Du wirſt nie wieder von mir hören. Ich nenne Dir das Land gar nicht, wohin ich mich begebe. Ich reiſe morgen ab. Ich hoffe, Du haſt meine zurückgelaſſenen Papiere vernichte. Wenn ich den Muth habe, ins Ausland zu entfliehen, bin ich vielleicht gerettet. Ich ſage Dir nicht mehr, denn Du biſt eine Verworfene und Niederträchtige, die man meiden muß. Ich bitte Dich, verbrenne dieſen Brief ſofort, damit ihn niemand findet.

Der Procek wider den Tagelöhner Morand. 313

„Set verflucht, denn Du haft das Herz dazu einen Mann in feinem Bett auszuliefern. Wie viele Unfchuldige haft Du nicht denuncirt! Ich habe e8 in der Zeitung gelefen, wie ich in Aurerre war. Gut, daß ich fort: gegangen bin. Wenn ich geblieben wäre und auf Did gehört hätte, wäre ich wol fchon eingejperrt, denn Du bift eine Verrätherin und jo verächtlih, daß Du nie wieder von mir hören wirft.‘

Staatsanwalt. Diejer Brief, meine Herren Ge- ihworenen, iſt mit Bleiftift gejchrieben. Er befand fich nicht in einem Briefumfchlag, jondern war in ein Stüd Papier eingejchlagen. Der Poſtſtempel lautet: „Paris, Lyoner Bahnhof März 1888. Außerdem befindet fich ein Boftitempel darauf: „Quarre-les- Tombes 12. März 1888.” Der Pojtjtempel Joigny fehlt. Er ift offenbar deshalb irrigerweife nach Quarre-les-Tombes gejchieft worden, weil der Pojtbeamte die Straßenbezeich- nung „Große Tombe“ für den Ortsnamen gelejen hat.

Präſident. Angeklagte Sojephine Martin, haben Sie diefen Brief erhalten?

Angeklagte. Nein! Aber der Kerfermeifter, Herr Frank, hat mir gegenüber von diejem Briefe gejprochen.

Präſident. Wiſſen Sie, wer den Brief gejchrieben hat?

Angefllagte. Ich kann es nicht willen.

Bertheidiger Remacke Wie it der Brief in die Hände des Unterfuchungsrichter8 gefommen ?

Staatsanwalt. ch weiß es nicht. Vielleicht kann der Kerkermeiſter Frank darüber Aufjchluß geben.

Präfident. Derfelbe ift als Zeuge vorgeladen und kann darüber vernommen werden. Site, Angeklagte Martin, erkennen die Handjchrift nicht?

314 Der Procef wider ben Tagelöhner Morand.

Angeklagte. Nein! Herr Präfident.

Das Zeugenverhör wird fortgeſetzt.

Madeleine Butris, verehelichte Salmon, 55 Jahre alt. Am Tage des Verbrechens bin ich um 5 Uhr nach» mittags zu Morand gefommen. Er ift ausgegangen, und als ich um 10 Uhr abends wegging, war er noch nicht wiebergefomment.

Präfident. Morand behauptet, er habe fich zu Bett gelegt.

Zeugin. Nein, Herr Präfident! Ich bin deſſen ficher, daß er nicht zu Bett war. Er hat um 5 Uhr gegeſſen, ift eine Biertelftunde darauf mweggegangen und war um 10 Uhr noch nicht zurüd.

Angeflagter. Ich Habe um 6 Uhr gegeffen und babe mich dann niedergelegt. Frau Salmon ift mit meiner Frau weggegangen, um den Faftnachtsochlen an— zufehen. Ich habe es gehört, wie fie weggingen.

Zeugin beharrt bei ihrer Ausjage.

Ein Gejhworener. Wo liegt die Schlafftube des Morand und wo waren Sie?

Zeugin. Ih war in der Küche und die Thür feines Schlafzimmers führt in die Küche. Er mußte, um fich in fein Bett zu begeben, durch die Küche gehen.

Vertheidiger Lailler. Sie haben nicht darauf ge= antwortet, ob Sie ausgingen, um den Faftnachtsochien anzujehen ?

Zeugin. Ja, aber nur gerade vor die Thür.

Präfivdent. Hat nicht Bertfa Morand, eine Tochter des Angeklagten, vwerjucht, Ihre Ausfage zu be- einfluffen ?

Zeugin. Sie hat mir gefagt: „Nicht wahr, wenn ' Sie gefragt werden, werden Sie fagen, daß Papa um

Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 315

8 Uhr zu Haufe war.” Ich antwortete ihr: „Kind, ich werde die Wahrheit jagen.‘

Francois Werner, 36 Iahre alt, Weinbauer, bezeugt, daß er Blutflecken auf Morand's Holzichuhen gejehen hat.

Marguerite Fanny Bellon, genannt Gabriele, 22 Jahre alt, Dienjtmäbchen bei Vader. Diejes Mädchen, eine richtige Gafthofsmagd, frech, gejund, von derbem Gliederbau, frijcher Gefichtsfarbe und Tebhaft bligenden Augen, war längere Zeit hindurch jelbjt ver Theilnahme am Morde verdächtig und deshalb verhaftet. Jetzt galt ihre Zeugenausjage als die wichtigfte Stüte der Anklage wider das Ehepaar Vacher. Ihr Auftreten ift jehr ſelbſtbewußt. Sie gibt an:

„Ih bin im Dienfte bei den Eheleuten Wacher ge— ftanden. Ich behaupte mit Bejtimmtheit, daß Herr Bacher am 8. Februar um 8 Uhr 45 Minuten ausgegangen und erft in jpäter Nachtjtunde zurücgefommen ift. Frau Vacher ging gegen 10 Uhr fort und blieb ungefähr 20 Minuten lang weg.” (Bewegung im Zuhörerraum.)

Angellagter Bacher Es ijt nicht wahr. Wir ipielten Karten, ich, meine Frau und Gabriele, bis 10 Uhr 30 Minuten. Sie jelbft jagte noch am andern Tage: „Es iſt ein wahres Glück, daß wir drei hier faßen und Karten fpielten. Man hätte jonft auch behaupten fünnen, ich jet e8 gewejen, die den Vetard umgebracht hat, man bejchuldigt ohnedies bereit8 die halbe Stadt und alle Mädeln.“

Zeugin beharrt bei ihrer Ausſage.

Angeklagte Frau Vacher. Gabriele irrt ſich. Wir ſpielten zuſammen Karten bis nach 10 Uhr. Sie hat ſogar mit meinem Manne nicht wenig fofettirt.

316 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

Angeflagter Bacher. Ich habe vie Außenthür jelbjt um 10 Uhr 45 Minuten zugemadht.

Zeugin. Nein! Frau Bacher und ich haben zu— gejperrt.

Angellagte Frau Vacher. Das ijt gelogen, Gabriele!

Zeugin beharrt bei ihrer Ausjage.

Angeflagter Bacher. Wenn ich fpät nachts nach Haufe gefommen wäre, jo müßten die Nachbarn davon wiffen. Der Hund des Photographen in unſerm Daufe macht in folchen Fällen immer einen Höllenlärm, ſodaß die Nachbarfchaft fich jchon oft beflagt hat. In diejer Nacht iſt e8 aber nicht gefchehen.

Bertheidiger Savatier-Laroche. Waren nicht noch andere Perjonen, Gäfte, um diefe Zeit bei Vacher ?

Zeugin. Nein, nicht mehr, Die legten, der Trom- peter und der Reſerviſt, waren um 9 Uhr jchon weg- gegangen.

Bertheidiger Savatier-Laroche. Hatten nicht Sie jelbjt abends vor der Thür eine Unterredung mit einen Schreiber des Notard wegen eines Veilchen- ſtraußes?

Zeugin. Nein, das war während des Tages.

Vertheidiger Savatier-Laroche. Der Schreiber, Herr Albouy, ſagt aber, dieſe Unterredung habe Abends 9 Uhr 15 Minuten ſtattgefunden.

Zeugin. Nein, das iſt nicht richtig.

Ein Geſchworener. Haben Sie bemerkt, daß Frau Vacher etwas mitnahm, als ſie wegging?

Zeugin. Nein! Ich gab nicht Acht darauf. Ich ſpielte ja.

Vertheidiger Savatier-Laroche. So, Sie ſpiel— ten? Ei, und mit wem denn eigentlich?

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 317

Zeugin. Mit Herrn Grivet.

Präſident. Sie find mit Frau Vacher nach Paris gereift ?

Zeugin. Ja wohl, Herr Präfident.

Präfident. Wer hat denn dieje Reife in Vorjchlag gebracht ?

Zeugin. Herr Bacher.

Angeflagter Bacher. Nein! Es war Benoit.

Zeugin. Herr Vacher hat Benoit dazu ermuntert. Er hat ihm gejagt: „Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, jo möchte ich gleih zur Unterhaltung nad Paris reifen.‘

Präfident. Iſt die Reife dann fofort angetreten worden?

Zeugin. Nein. Sie wurde mehrmals verjchoben. Die Urfache der Verzögerung war die, daß Herr Benoit damals gerade fein Geld hatte.

Präfident. Wie lange find Sie ausgeblieben?

Zeugin. Bon Montag bis Mittwoch.

Präfident. Wer hat die Koften getragen?

Zeugin. Ich weiß nur, daß Herr Benoit für mich alles gezahlt hat. Er brachte auch Herrn Vacher ein Geſchenk, eine Meerichaumpfeife, mit.

Präfident. Herr Benoit ftand mit Ihnen auf ver- trautem Fuße?

Zeugin (lächelnd). Freilich.

Präfident (zu Vacher). Welche eigenthümliche Idee von Ihnen, Ihre Frau mit Ihrem Dienftmädchen und deren Geliebten nach Paris zu fehicen!

Angellagter Bacher. Meine Frau kannte Paris nicht. Es war eine gute Gelegenheit. (Heiterfeit.)

Präfident. War Frau Bacher während der Reife im Befite von Geld?

318 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

Zeugin. Ich habe Geld in ihrem Portemonnaie ge- jehen. Vielleicht 100 France.

Angeklagte Frau Bacher. O nein, ed war nur etwas Fleine Münze.

Präſident. Frau Vacher Hat in Paris einige Ein- käufe gemacht? Was wiſſen Sie davon?

Zeugin. Sie hat eine Pfeife, einen Pelzkragen, einen Korb und andere Kleinigkeiten gefauft.

Präfident. Was befand fi) im Koffer der Frau Bacher?

Zeugin. Dinge, die nicht darin hätten fein dürfen.

Präfivdent. Was meinen Sie damit?

Zeugin. Die Goldfachen von Vetard. (Bewegung im Zubörerraumt.)

Präſident. Haben Sie bdiefelben jelbit gejehen ? Waren Sie anwefend, als fie die Schmudjachen verfauft hat? Wiſſen Sie, wo und wann dies gejchah?

Zeugin (zögernd). Nein! Das freilich nicht.

Präjident. Wiffen Sie wenigitens, wann fie weg— ging, um diefelben zu verkaufen?

Zeugin. Nein! Ich blieb immer bi8 um 11 Uhr vormittags im Bett liegen.

Staatsanwalt. Die Anklage will ihrerjeits feine Unflarheit beftehen laſſen. Die Herren Gejchworenen wollen zur Kenntniß nehmen, daß die nunmehrige Zeugin Vellon felbjt verdächtig war und in Unterjuchung gewejen ift. In der Unterfuchung hat fie eingeftanden, daß fie Vetard abgeholt und zur Joſephine Martin geführt habe. Warum haben Sie das jo angegeben?

Zeugin. Joſephine Martin hat mich dazu veranlaft.

Präſident. Wie ift das gekommen?

Zeugin. Joſephine Martin hat mir erzählt, der Polizeicommiffär habe ihr gejagt, daß ihre ganze Familie

Der Proceß wider den TZagelöhner Morand. 319

in die Gejchichte verwidelt werde. Sie bat mich, jo aus- zufagen, um jie zu entlaften. Sie weinte den ganzen Zag. Ich habe Mitleid mit ihr gehabt, und um ihr einen Dienjt zu erweijen, habe ich es fo angegeben.

Präfivdent. Das war ein für Sie felbft fehr ge- fährlicher Liebesdienft, ven Sie ihr da erwiejen haben.

Zeugin. Ich hatte es nicht jo bedacht. (Sie lächelt verſchmitzt.)

Präſident (zu Joſephine Martin). Weshalb haben Sie die Vellon zu dieſer falſchen Ausſage verleitet?

Angeklagte Joſephine Martin. Es geſchah, um Morand zu einem Geſtändniß zu beſtimmen.

Präſident (zur Vellon). Hat die Angeklagte Martin Ihnen dieſen Grund angegeben?

Zeugin. Ja wohl, Herr Präſident! Sie hat mir geſagt: „Wenn Morand hören wird, daß du geſtehſt, bu ſeieſt es geweſen, die Vetard abgeholt hat, jo wird er vielleicht in ſich gehen und die Wahrheit geſtehen.

Präſident. Wann hat ſie Ihnen dies geſagt?

Zeugin. Nachdem ſie die Beſchuldigung gegen eine andere Perſon zurückgezogen hatte. Aber es geſchah noch, bevor ſie dem Unterſuchungsrichter geſtand, daß ſie mich zu der falſchen Angabe verleitet habe, und daß ſie ſelber Vetard abholte.

Prosper Barre, 24 Jahre alt, Maurer. Am Abend des Verbrechens war ich bei Vacher. Er war nicht an— weſend. Ich fragte ſeine Frau nach ihm, und ſie ant— wortete mir, er ſei verreiſt.

Präſident. War die Vellon bei dieſer Unterredung anweſend?

Zeuge. Nein! Sie war nicht da. Frau Vacher ſagte mir, ſie ſei ſpazieren gegangen.

Präſident. Wo ſtanden Sie?

320 Der Proceß wider den Tagelöhner Morant.

Zeuge Beim Zahltiich.

Präfjident. Sie haben Vader nicht Karten fpielen gejehen ?

Zeuge. Nein! Es war niemand anwejend als ber Trompeter Ye Bätard.

Angeklagte Frau Bacher Herr Barre berichtet eine wahre Thatjache, allein er irrt fih im Tage. Er war ein wenig angetrunfen.

Präfident. Zeuge, Ihre Ausjage ift jehr wichtig! Erinnern Sie ſich des Tages genau?

Zeuge. Es ift fein Irrthum möglih. Am 6. Februar war ich in Orleans, am 7. Februar in Laroche. Es muß daher am 8. Februar gewejen fein, daß ich zu Bacher fam. Sch war freilich Schon am 7. Februar gleich nach meiner Rückkehr auch bei Bacher. Aber damals war er anweſend. An diefem Tage war ich vielleicht ein wenig betrunfen.

Angeflagter Daher. Am 8. Februar abends war ih zu Haufe und der Zeuge war an jenem Abend ficher- fich nicht bei mir.

Cäſar Dumont, Küfer, hat Barre begleitet. Auch er war angetrunfen. Er gibt übereinftimmend mit dem vorigen Zeugen den 8. Februar als den Abend an, wo fie bei Vacher geweſen find. Auch er hat weder Vacher noch die Vellon gejehen.

Eugene Bourdois, 24 Jahre alt, Kutjcher. Donnerstag, den 9. Februar, bin ih um 6 Uhr 30 Minuten früh ausgegangen. Ich fam auf meinem Wege langfam gegen die Monne zu, ba vernahm ich Schritte hinter mir her. Ich blieb ftehen und jah mich um. Ich erfannte Herrn Vader. Er war barhaupt und trug ein leinenes Aermelleibchen und eine graue Hofe. Ich war erftaunt, ihn bei jolchem Wetter fo früh ausgehen zu ſehen. Er wendete fich dem Manöverfelde zu.

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 321

Präfident. Vacher, irrt fich diefer Zeuge auch?

Angeflagter Bacher. Es ift nicht möglich, an einem trüben Wintermorgen um 6 Uhr 30 Minuten, bei dem Wetter, das damals herrichte, einen Menjchen auf einige Entfernung mit Beftimmtheit zu erfennen.!

Zeuge. Doc, ich habe Sie erfannt. Ich habe jogar, als ih nach Haufe fam, meinem Herrn gefagt: „Herr Bacher iſt aber heute jchon jehr früh ausgegangen.”

Ambroife Louis Barbe Tagelöhner, war mit Bacher in einer Zelle im Gefängniß und hat ihn fagen bören: „Morand wird uns doch nicht verzündet haben!”

Bacher leugnet, diefe Aeußerung gethan zu haben.

Kerfermeifter Frank, gibt Auskunft über die Briefe Morand's an feine Frau.

Bertheidiger Lailler (zu dem Zeugen). Sie haben eine Unterredung gehört, welche zwijchen der Unterfucchungs- gefangenen Joſephine Martin und Gabriele Vellon ftatt- gefunden hat?

Zeuge Als ich meine gewöhnliche Kunde machte, habe ich eines Tages die Joſephine Martin und bie Bellon durch das Gitterfenjter im Corridor miteinander Iprechen hören. Gabriele fagte zu Vofephinen: „Du weißt ganz gut, daß bu mich zu der falſchen Ausjage verleitet haft, daß Morand mich veranlaft habe, Vetard abzuholen. Morand hat e8 nicht gethban. Du haft mich beitimmt, jo auszufagen. Es war am lekten Sonntag. Du haft heftig geweint und mich unter Thränen um- armt und haft mich bejchworen: Nette mich und meinte Familie!“ Die Martin hat ihr ganz laut darauf zu— geichrien: „Freilich weiß ich, daß esTerlogen war, aber deswegen, du dummes Ding, bhätteft du doch dabei bleiben können. Dir hätte esinicht viel geſchadet, aber

mir jehr viel genüßt.” Die Bellon erwiderte: „3a, XXI. 21

322 Der Procef wider den Tagelöhner Morand,

wenn ich deine eijerne Stirn und deine unzerjtörbare Srechheit hätte! Dann wäre e8 mir möglich gewejen, an der Lüge feitzuhalten. Ich kann das eben nicht.” Die Martin entgegnete: , Hör’ auf, du willft nicht die Stirn haben, du, Haft du denn nicht dem Morand ins Geficht behauptet, daß er dich angejtiftet habe? Du haft ihn ja, weil er es leugnete, einen elenden Schuft und einen verworfenen Schurken genannt!“

Bertheidiger Nemacle Hat die Martin währent ihrer Unterjuchungshaft Briefe erhalten?

Zeuge Meines Wiffens ift nur ein einziges an fie gerichtetes Schreiben angefommen; ich habe es ord— nungsgemäß dem Unterfuchungsrichter zugeftellt.

Bertheidiger Remacle. Hat Joſephine Martin biejen Brief, ehe er abgeliefert wurde, gejehen ?

Zeuge. Vielleicht. Ich erinnere mich deffen nicht.

Bertheidiger Remacle. Ich erjuche Sie, Ihr Er- innerungsvermögen zu jfammeln. Haben Ste über dieſen Brief mit ihr gejprochen oder nicht?

Zeuge Ich glaube nicht, aber ich kann es nicht beſtimmt verfichern.

Angeklagte Joſephine Martin. Herr Frank redete mir immer zu: „Aber fagen Sie doch die Wahrheit, gejtehen Sie... .” Eines Tages fagte er mir: „Was it e8 denn mit dem Briefe, ven Sie erhalten haben, der von dem Tiebhaber, der jchreibt, er wolle fich um Ihret— willen in die Seine ftürzen. Leugnen Sie nicht, ich habe ihn ja gelejen.“

Zeuge. Ich kann mich daran nicht erinnern.

Angeklagte Jojephine Martin. Herr Frank hat mir gejagt, e8 handle fich um einen Liebhaber, der mein Zimmer genau fenne und genaue Einzelheiten gejchrieben babe.

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 323

Präjident. Herr Kerfermeifter, kannten Sie den Inhalt des Briefes?

Zeuge. Ja! Der Unterfuchungsrichter hat ihn mir vorgeleſen.

Vertheidiger Lailler. Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß es ſehr ſonderbar iſt, daß die Angeklagten fortwährend von allen Vorgängen, die ſie be— trafen, unterrichtet worden ſind.

Präſident. Es iſt nicht in Abrede zu ſtellen, daß im Laufe dieſer Unterſuchung mancherlei Ungehörigkeiten vorgefallen ſind.

Auguſte Benoit, 45 Jahre alt, Grundbeſitzer. Vacher hat mich zu der Reiſe nach Paris ermuntert und mir zugeredet, die „Damen“ mitzunehmen. Ich habe alles bezahlt und Vacher eine Meerſchaumpfeife mit— gebracht. Die Reiſe hat mich 320 France gekoſtet.

Der Arhiteft Dppenot gibt genaue Auskunft über die Wohnung der Joſephine Martin und über die dajelbft feitgejtellten Blutſpuren.

Dr. Leriche erjtattet das Gutachten über die Leichen- refte. Diejelben wurden mit Beftimmtheit als von Vetard berrührend erkannt an der bejondern Bejchaffenheit des Daumennagel8 und an einer Narbe am Bein, die von einer Verlegung zurücgeblieben war. Dr. Leriche hatte ihn feinerzeit deshalb felbjt behandelt. Der Sachver- jtändige nimmt an, daß Vẽtard auf der Stiege rüdlings überfallen und daß ihm mit einem jchweren Hammer ber Schädel eingejchlagen worden ift. Sodann hat man ihn in das Zimmer gebracht und dort die Zerjtüdelung der Leiche vorgenommen.

Die Leichenrefte werden enthüllt und die Angeklagten: Morand, Bacher und Joſephine Martin, vor diejelben geführt. Es ift 8 Uhr abends geworden, Dümmer-

21*

324 Der Procek wider den Tagelöhner Morand.

licht erfüllt den Saal. Eine dramatijche Scene jpielt jich ab.

Morand erklärt mit größter Kaltblütigfeit, er fenne diefe Glieder nicht, er habe feinen Theil an dem Morde.

Bacher ift jehr aufgeregt. Er feufzt mit erjticter Stimme: „Ich bin jehr unglüdlih! Wie fomme ich dazu! Ich war nicht dabei!”

Joſephine Martin freifcht laut: „Es find die Mörder! Niemand weiß es als ich! Ich ſchwöre es, dieſe beiden da find die Mörder!”

Mit diefer bewegten Scene endet die Verhandlung des zweiten Tages.

Am dritten VBerhandlungstage richtet der Präſident die Aufforderung an die Joſephine Martin, fie möge nochmals genau jchildern, was fih an dem fritijchen Abend zugetragen habe.

Angeklagte. Ich habe um 5 Uhr 30 Minuten, meine fleine Juliette an der Hand, meine Wohnung ver- laffen, um zu meiner Mutter zu gehen. Ich habe Morand beim Brunnen gegenüber meiner Wohnung getroffen. ch habe ihm erzählt, daß ich zur Hochzeit gehen und nicht nah Haufe kommen würde Cr hat mich um meinen Wohnungsichlüffel gebeten, damit er fich eine Säge ab- holen fünne. Er hat dabei ausdrücklich gejagt: „Da Sie heute Abend nicht nach Haufe fommen wollen, brauchen Sie Ihren Schlüfjel ohnehin nicht, holen Ste ihn bet mir ab, wenn Sie zurückkommen.“ Ich habe ihın den Schlüffel gegeben. Hierauf fagte er: „Sie fommen auf Ihrem Wege bei dem Uhrmacher Vetard vorbei, bitte, geben Gie ihn diefen Brief.” Ich nahm den Brief an mich und beabfichtigte ihn bei VBetard "abzugeben. Derſelbe war jedoch nicht anmwefend. Ich bin nun zu meiner Mutter gegangen. Um 6 Uhr 45 Minuten ging ich wieder zu

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 395

dem Laden des Uhrmacher. Herr Vetard war zurück— gefommen, nahm den Brief, las ihn und ging mit mir fort. Bei der Fifchhalle trafen wir Morand. Wir gingen zujammen weiter. Vetard folgte uns, blieb aber etwas zurüd, Ich bin mit Morand voraus die Stiege hinauf. Detard Fam und nad. Er tft auf der eriten Stufe ge- ftolpert. Morand hat mir ein Gläschen Gognac ein- gejchenft und mich dann weggeſchickt. Ich war darüber jehr verwundert und habe Morand gefragt: „Ja, wes— halb wollen Sie denn noch dableiben?

Angeflagter Morand. Bon Anfang bis zum Ende erlogen! Ich war nie bei Ihnen! Weder damals noch je zuvor.

Angeklagte Iofephine Martin. Schweigen Sie! Sie find das abjceheulichite Ungeheuer! Ich bin aljo fortgegangen und um 7 Uhr 30 Minuten bei meiner Familie gerade noch rechtzeitig zum Abendefjen angefommen. Wir haben die Vorbereitungen zur Hochzeit fertig geftellt. Meine Mutter verlangte, ich jollte bei ihr übernachten. Ich wollte aber nicht und bin nach Haufe zurüd, wo ich eben Vacher bei der Arbeit traf. Yeugnen Sie nicht! (Mit fteigenver Erregung:) Ihr allein feid die Mörder! Als ich Lärm Schlagen wollte, drohte mir Morand mit dem Fleijcher- meffer. Auf dem Fußboden war eine Blutlache, die mein Kind für rothen Wein hielt.

Präſident. Zur Aufklärung der Herren Gefchworenen muß ich hier bemerken, daß man das Fleine Mädchen ver Sojephine Martin befragte. Das Kind fagte: „Papa Betard iſt gefallen. Man hat ein Leintuch über ihn ge- than und ihn gefchnitten.” Es jcheint demnach der Zer- jtüdelung des Leichnams beigewohnt zu haben. Zur Zeugenfchaft fonnte jedoch das Kind, weil e8 erjt vier Jahre zählt, nicht herangezogen werben,

326 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.

Auf Verlangen des Vertheidigers Lailler wird Fräulein Godefroy nochmals worgerufen.

Bertheidiger Lailler. Haben Ste nicht um halb 7 Uhr das Kind der Yofephine Martin jchreien hören?

Zeugin Ya wohl, genau um dieſe Zeit.

Bertheidiger Lailler. Sie haben Morand niemals bei der Martin gejehen ?

Zeugin. Niemals.

Bertheidiger Lailler. Können Sie uns etwas über das Benehmen des Schriftführers Labeſſe mittheilen ? Er joll Sie ja bejucht haben?

Zeugin. Ja wohl, das hat er, Am 11. Februar ift Herr Labefje ganz athemlos zu mir gefommen und erzählte: „Joſephine ift nicht ſchuldig. Sie fünnen Betard nicht bei ihr haben eintreten jehen. Ich habe es ſchon beim Unteriuchungsrichter gefagt. Seien Sie außer Sorge. Ich werde jchon dafür forgen, daß Ihnen die Bejuche der Gensdarmen erjpart bleiben.” Ich erwiderte ihm: „Ich habe feinen Grund, mich vor dem Befuch der Gensdarmen zu fürchten. In jedem Falle werde ich nur die Wahrheit jagen. Uebrigens wenn auch ich verfchweigen wollte, was ich weiß, Salmon hat die Joſephine doch geſehen.“ Herr Labeſſe zuckte geringſchätzig die Achjeln und verjegte: „Dieſer Sulmon ift ein einfältiger Burjche. Ich werde ihm ſchon fagen, daß er fich geirrt hat. Meine liebe Angelika, das Herz blutet mir, wenn ich an die Qualen denke, welche diefe arme, unjchuldige Perſon erleiden muß.‘

Sachverſtändiger Eugene Benvit, Apotheker, gibt das Nejultat feiner chemifchen Unterfuchungen befannt. Demgemäß find die Blutjpuren in der Wohnung ver Sofephine Martin theilweife noch ganz deutlich erkennbar, andere find verwajchen. Im Stiegenhaufe find Spuren von Gehirnmaſſe vorhanden. Sie beftätigen die Anficht

Der Proceß wider den Tagelöbner Morand. 327

des Arztes, daß dort die Schädelzertrümmerung ftattge- funden habe. An den Sägen find gleichfalls unzweifelhafte Blutflecke zurücgeblieben. Das bei Morand vorgefundene große Meſſer dagegen weit feine Spuren imenjchlichen Dlutes auf. Im feinem Tragkorbe waren fleine, faſt mikroſkopiſche Spuren menfchlichen Blutes. Der andere Zragforb war frei von Blutflecken.

Bertheidiger Lailler beftreitet, geſtützt auf die Unter: fuchungen des berühmten Brofeffors Brouardel, die Richtig: feit der Expertiſe, injoweit fie die mifroffopifchen Spuren im Tragforbe Morand's als Mienjchenblut diagnofticirt. Das Dlut eines andern Säugethieres fünne leicht für Menſchenblut gehalten werden.

Das Mefjer wird der Iojephine Martin vorgewieſen. Diefe erklärt, das Meſſer, mit welchem Morand fie be- droht habe, fei weit größer gewejen.

Der zweite Sachverftändige, Chemifer Dr. Gabriel Poncet, hat in beiden Tragförben Blutjpuren gefunden und behauptet mit Bejtimmtheit, es könne dieſes Blut nur von Menfchen, Hunden, Eichhörnchen, Meerjchwein- chen, Katzen oder Kaninchen herrühren, nicht aber von Schweinen, Ochſen oder Eſeln.

Da Bacher behauptet hatte, die Achjelbänder des Trag- forbes der Glergeot könnten ihm nicht paſſen, weil es ein Trauenzimmerforb fei, fo wird ver Verſuch im Ge— richtsfaal gemacht. Die Achjelbänder paſſen ihm voll: fommen. (Bewegung im Zujchauerraum.)

Präfivdent. Bacher, warum haben Sie dieje faljche Behauptung aufgeitellt?

Angeflagter Vacher. Es war eine bloße Ver— muthung meinerjeits. Ich wußte es nicht, denn ich hatte den Verſuch nie zuvor gemacht.

Zeuge Alerandre Fournier bejchreibt die Wohnung

328 Der Procef wider den Tagelöhner Morand.

des Morand. Er theilt mit, daß man in diejelbe nicht nur durch die Küchenthür, fondern auch von der andern Seite her gelangen könne.

Frau Salmon wird darauf hin nochmals vorgerufen. Sie ftellt die Ausfage dieſes Zeugen in Abrede und be- hauptet wieder, fie jei von 5 bis 10 Uhr dort gewejen, ohne Morand zu fehen.

Angeklagter Morand. Die Thür wird felten be- nußt. Ich habe am Mittwoch Abend auch feinen Gebrauch von ihr gemacht. Ich bin durch die Küche gegangen, ohne mich aufzuhalten. Bielleicht war dies, während die Weiber ausgegangen waren, um den Faftnachtsochjen zu jehen, vielleicht war die Zeugin, wie jchon oft zuvor, beim Herdfeuer eingenidt.

Auguste Pietre gibt Auskunft über die Kleider, welche Morand getragen, und beftätigt, daß ver Angeklagte Häufig an Najenbluten gelitten habe.

Pietre war von Joſephine Martin zuerjt als der Mit- ichuldige Morand's denuncirt worden, aber jofort in der Lage, ein unzweifelhaftes Alibi nachzuweijen. Darauf hin erjt nannte fie Bacher, Der Bertheidiger Savatier-La=- roche macht die Gefchworenen auf den auffallenden Unter- ichted der Erfcheinung beider Männer aufmerkam.

Präfident. Joſephine Martin, warum haben Sie Herrn Pietre denuncirt?

Angeflagte Joſephine Martin. Ich habe ge— glaubt, daß Pietre, weil er ein Freund Morand’s ift, auch fein Helfershelfer gewejen fei, und hoffte, durch dieſe Anzeige Morand zum Geſtändniß zu bewegen.

Marie Anne Gaillard, verehelihte Salmon, 70 Sahre alt (eine Tante des Morand), gibt an: Ich bin am 8. Februar bei Morand gewejen und habe ihn um 8 Uhr abends gejehen. Ich bin des Tages darum

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 329

jo jicher, weil e8 der Vorabend des Zuges des Taftnachts- ochjen war. Er, jeine ganze Familie und die Frau Ma- deleine Salmon waren dort. Morand fam um 8 Uhr nah Haufe und ift faft gleich darauf jchlafen gegangen.

Präjident. Im der Borunterfuchung haben Sie an— gegeben, die fremde Frauensperjon, die bei Morand ge: wejen jet, wäre die Gabriele Vellon gewejen.

Zeugin. Das fan nicht fein.

Präſident. Sie haben das Protofoll fo unter: ſchrieben.

Vertheidiger Lailler. Hatten Sie nicht längere Zeit den Tragkorb des Morand bei ſich zu Hauſe?

Zeugin. Ja, einige Zeit nach dem Morde.

Vertheidiger Remacle Die Zeugin iſt in ben abgefaßten Briefen Morand's genannt worden?

Präjident. Ya wohl. Es Heißt in einem berjelben: „‚ Sage meiner Tante...“

Bertheidiger Lailler. Aber ihre Vernehmung vor dem Unterfuhungsrichter war erfolgt, ehe der Brief ge- jchrieben wurde.

Die andere Frau Salmon wird wieder vorgerufen.

Präjident. Haben Sie die Tante an jenem Abend bei Morands gejehen ?

Zeugin. Ya, fie war dort!

Präfident. Und Sie bleiben dabei, daß Morand nicht zu Haufe gewejen ift?

Zeugin. Gewiß.

Die Tante. Aber das ijt unrichtig. Er war da. Sie wifjen es, er ift um 8 Uhr nach Haufe gekommen,

Sean Ye Bätard, Trompeter bei einem Dragoner- regiment, auch ein begünftigter Liebhaber ver Vellon. Ich war am Abende des Verbrechens bis gegen 9 Uhr bei

330 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand,

Bacher. Er, jeine Frau, Gabriele (Vellon), der Reſerviſt und der Photograph waren noch dort. Sch bin mit dem legtern weggegangen.

Präfident. Haben Sie fonft niemand dort gejehen?

Zeuge Nein.

Die Zeugen Barre und Dumond werben wieder vor— gerufen. Sie bleiben bei ihren Angaben.

Gabriele Vellon wird vorgerufen. Sie fagt: „Herr Bacher ift erft fortgegangen, nachdem der Trompeter fich entfernt hatte. Nur Grivet und ich blieben noch zurück.“

Louis Victor Legraverend, Photograph. Ich war an dem Abend des Verbrechens bei Vacher. Ich bin etwas nach halb 9 Uhr weggegangen. Ich habe mit dem Re— jerviften geplaudert und nicht darauf geachtet, ob Wacher anweſend blieb oder wegging.

Aleris Grivet, Bädergehülfe in Charmont. Ich habe am Abend des Verbrechens mit Herrn und Frau Bacher bis 10'/, Uhr Karten gefpielt. Die Vellon war anmwejend und wiſchte das Gejchirr ab. Ach wohne im Haufe und habe dort gefchlafen. Wer die Hausthür an jenem Abend verjchloß, weiß ich nicht. Morand ift am nächjten Morgen gefommen und hat mich aufgefordert, den Faftnachtsochfen mit ihm anzufchauen. Wir gingen miteinander und bemerften eine Menſchenanſammlung am Ufer der Nonne.

Leon Salmon wird nochmals vorgerufen.

Vertheidiger Lailler. Sie haben einige Zeit lang geſchwankt, ob Sie die Anzeige erjtatten follen, daß Sie Betard in die Wohnung der Dirne Iofephine Martin haben eintreten jehen. Da Sie fich entichloffen haben, e8 zu thun, haben Sie zugleich dem Unterfuchungsrichter mitgetheilt, die Urfache Ihres Zögerns fei geweien, daß eine Perſon Sie beſtimmen wollte, diefe Ausfage nicht

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 331

abzugeben. Sie ftehen nun vor Gericht. Sagen Sie, wer war dieſe Perjon ?

Zeuge. Es war ber Schriftführer Labeſſe. Er ift zu meiner Mutter gefommen, hat ihr gejagt, ich irrte mich, ich müſſe mich irren. Ich hätte offenbar Per- jonen verwechjelt, es jei ein jehr erniter Fall und ich jolle mich hüten, Teichtfinnige Angaben zu machen, denn ich werde hierfür ganz entjchieden zur Verantwortung gezogen werden.

Damit ift das Beweisverfahren gejchloffen und es folgen die Plaidoyers.

Staatsanwalt Le Bourdelles nimmt das Wort. Nach längerer Einleitung gelangt er zur Charafterifirung der Angeklagten. Er jagt hierbei wörtlich: „Joſephine Martin? Es ift ein Weib.... Ein Weib! gibt e8 ein Wort, das fanftere Empfindungen weden kann? Allein fie verdient nicht diefe Bezeichnung zu führen. Sie be- reitet das jchauerlichite Verbrechen, ein Liedchen trillernd, vor, und Tags darauf, nachdem fie Augenzeuge der ent- jeglichen That gewejen, begibt fie fich, als ob nichts vor— gefallen wäre, zu einer Hochzeit, fie tanzt und bezeigt kaum eine flüchtige Erregung, ald der Zufall ihr auf einem Ladenjchilde den Namen Betard vor das Auge führt. Was kann die Vertheidigung zu Gunſten der Sofephine Martin vorbringen wollen? Sie wird vielleicht jagen: Joſephine Martin gibt zu, die erjten drei Briefe gejchrieben zu haben, fie hat Vetard zu fich geführt, allein damit tft auch der Gefammtumfang ihrer activen Theilnahme an der Vorbereitung des von ihr nicht vorbedachten Ver— brechens erſchöpft. Sie begibt fich zu ihrer Familie, und erft als fie wieder nach Haufe fommt, befindet fie fich angefichts der vollbrachten That, des fürchterlichen Schau ipiels! Und fie tritt vor die Gefchworenen und klagt:

332 Der Brocef wider ben Tagelöhner Morand,

Ich foll eine Verbrecherin jein?.... Ich bin es nicht. Ich Habe einem unwiderjtehlichen Zwange folgen müffen, ich habe mich nur aus Furcht den Anordnungen ber Ver- brecher gefügt. Ich gehorchte freilich ihren Weiſungen, doch ohne zu ahnen, wohin das alles führen follte, ich glaubte an einen Scherz!

„Die Anklage kann aber eine ſolche Verantwortung nicht gelten lafjen. Ich wende mich zu Joſephine Martin und rufe ihr zu: Ihre Verantwortung iſt durchaus un— glaubwürdig. Sie iſt jo gezwungen, daß Sie genöthigt find, fih in das Gewand der verfolgten Unſchuld zu drapiren, das Ihnen durchaus nicht paßt. Nur einen Schritt weiter und Sie jagen zu Morand: Sie haben mein Zimmer verunreinigt, Sie find mir Schabenerfat ichuldig!

„Mein. Sie find e8, die mit Vorbedacht das Verbrechen vorbereitet hat! ....“

Der Staatsanwalt verlieſt hierauf nochmals die drei mit R. M. gefertigten und von der Hand der Joſephine Martin geſchriebenen Briefe und fährt fort:

„Sagen Sie nicht: Ja, ich habe dieſe drei Briefe ge— ſchrieben, denn ich glaubte an einen Spaß; den vierten Brief aber, den habe ich nicht geſchrieben, den hat mir Morand nur zur Beſtellung übergeben. Die Geſchworenen mögen urtheilen und entſcheiden, ob ſie annehmen wollen, daß dieſer vierte, nicht mehr vorhandene Brief von einer andern Perſon herrührt. VBetard, der notoriſch mis— trauiſcher Natur war, hätte doch ſchon an der Verſchieden— heit der Handſchrift Anſtoß nehmen müſſen, und gerade diesmal wäre er zum Stelldichein bereit geweſen? Ge— ſtehen Sie, Joſephine Martin, ſagen Sie die Wahrheit! Wenn irgendetwas Ihr Schickſal zu erleichtern im Stande iſt, kann es nur das unumwundene Bekenntniß ſein. Was

Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 333

aber hat zur Aufklärung und Entdeckung geführt? Gewiß nicht die Gejtändniffe der Sojephine Martin. Dieſe Ge- ſtändniſſe jpielen zwar eine wichtige Rolle im Gange ber Unterjuchung, allein fie erjchöpfen fie nicht. Es bevurfte ber DVergleichung der Handjchriften durch Sachverftändige, um auf bie richtige Fährte zu gelangen. Dadurch nur wurde der Zuſammenhang Far und dann erjt entichloß fich Sofephine Martin zögernd zu dem noch immer un— volljtändigen Geſtändniß.

„Die Frage, ob Iojephine Martin bei der Ermordung Betard’8 gegenwärtig war, kann ich nicht mit voller Be— jtimmtheit behaupten. Nach ihrer Angabe wäre fie erit um 10 Uhr, als der Mord verübt und der Diebftahl begangen war, heimgefehrt. Was den Diebjtahl anbelangt, jo ift dies gewiß umrichtig. Er iſt überhaupt erjt zu einer jpätern Stunde ausgeführt worden, wie die Zeugen— ausfagen beweijen. E83 wäre bejjer gewejen, wenn Jo— jephine Martin ihre Betheiligung daran unverhohlen ein- geftanden hätte. Die Finger jener Frauenhand, die im Staube des Auslagefaftens ihre Eindrücke zurückließen, waren bie ihren.

„Joſephine Martin, Sie wagen e8 zu verfichern, Sie hätten an einen Spaß geglaubt! Aber al8 Sie in Ihr Zimmer fraten und ben entjetlichen Anblic vor fich jahen, warum haben Sie da nicht um Hülfe gerufen? Angenommen, der Schreden, die Furcht lähmte Ihre Zunge. Was hinderte Sie am folgenden Tage zur Polizei zu geben, Ihr Herz einer Nachbarin auszujchütten?‘

Der Staatsanwalt erörtert nun die Widerfprüche in den Angaben ver Iofephine Martin. Diefe erichüttern zwar nach jeiner Auffafjung deren Glaubwürbdigfeit nicht. Die legten Mittheilungen der Angeklagten über die Perjon der Mörder entiprechen der Wahrheit, ihre frühern un—

334 Der Brocek wider den Tagelöhner Morand.

wahren Angaben bezwecten wirklich, Morand zu einem Geftändnig zu nöthigen. Er fährt fort:

„Die Dirne Iojephine Martin hat eine beträchtliche Summe von Einzelheiten über die That angegeben. Gerade dieſe Einzelheiten werden aber durch andere Umſtände als wirklich jo vorgefallen beftätigt. Joſephine Martin hat die Schwierigkeiten gejchilvert, die Morand zu über- winden hatte, um die Knochen der Extremitäten vom Rumpfe zu trennen, die Ausführungen des Dr. Leriche haben die Erklärung dazu geliefert. Wenn ich auch die Ihärfiten Strafen, die unfer Geſetz verhängt, für die Uebelthäter begehren muß, jo fann ich doch für Joſephine Martin mildernde Umftände gelten laſſen. Erſtlich weil jie ein Weib ift, dann weil fie unter dem überwältigenden Einfluß eines Mannes geftanden ift, der alle Eigenjchaften beſaß, um auf jchwache Gemüther einen Drud auszuüben. Sie hatte nicht die moralifche Kraft, einem Morand zu iwiderjtehen. Ueberdies verdankt das Gericht ihrem Ge— ſtändniß viel zur Enthüllung des Geheimniffes, das über der graufen Miffethat lagert. Sch fordere daher für fie nicht die Todesſtrafe. Ich fordere fie dagegen für Morand. Er iſt ein abgefeimter, entmenjchter Böfewicht. Er leugnet alles, leugnet angefichts der überzeugendften Beweiſe, leugnet entgegen ver überwältigendften Gewißheit! Gegen ihn fprechen die Befenntniffe der Joſephine Martin. Sie hatte feine Urjache ihn anzuflagen. Bon andern Zeugen kann man behaupten, fie jeien ihm feindlich ge- finnt. Allein die Martin? Warum follte fie ihn anflagen, wenn er nicht fchuldig wäre! Kommen wir zu ben Thatjachen. Da find die Blutflefe an den Sägen und an den Tragkörben. Es find dies Spuren menjchlichen Blutes, Morand hat doch in feinem Korbe nicht das Fleiſch von Affen oder Meerichweinchen herumgejchleppt.

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 335

Diejer blutige Tragforb redet eine überzeugende Sprache. Man wird doch nicht der albernen Erfindung Glauben ichenfen wollen, daß der myſteriöſe Thäter den Tragforb des Morand benugt habe! Dann die Holzichuhe. Auch auf diejen find Blutjpuren gefunden worden. Ein Zeuge hat fie zwei oder drei Tage nach dem Berbrechen deutlich gefehen. Die Sachverjtändigen haben fie unterjucht und jtiimmen überein, es find ficherlich Flede gewejen, die von menschlichen Blut herrührten.“

Der Staatsanwalt befpricht hierauf den unheimlichen Geruch in der Küche des Morand. Noch wichtiger aber ift, daß Morand am Abend des 8. Februar fein Haus verlaffen hat.

„Die Zeugenfchaft ver Frau Madeleine Salmon wider- legt jeine Berficherung, er jet daheim geblieben und jchlafen gegangen. Können Sie von diefer Frau etwa auch be- haupten, fie jet Ihre Feindin, wie Frau Droin? Nein. Es iſt eine Freundin Ihrey Familie, die oftmals bie Abende bei Ihnen zubrachte. Sie fagte aber Kar und beutlih, Sie wären fortgegangen und den Abend über nicht wieder nach Haufe gefommen. Wollen Site fich gegenüber dieſer Ausjage auf die andere Frau Salmon, Ihre Tante, berufen? ALS ich die arme alte Frau vor dem &erichtstijche ſtehen ſah, empfand ich aufrichtiges Mitleid. Gebeugt von Alter, that fie ihr Beſtes, um Sie, Angeflagter, zu retten. Die Bedauernswerthe! Sie erregte nur ein Gefühl des Erbarmens für fich jelbit. Was jagte Sie aber eigentlih? Sie berichtete, Morand wäre zu Haufe gewejen. Das erjte mal, als fie ver- nommen wurde, vor dem Unterfuchungsrichter, war fie ihrer Sache noch nicht gewiß. An diejer Stelle freilich bat fie mit aller Entjchiedenheit ausgejagt. Sie that aber dabei des Guten zu viel. Sie erzählte ung, Morand babe einen Teller Suppe gegefien. Das jtimmt aber

336 Der Procef wider den Tagelöhbner Morand.

nicht mit Morand's eigener Angabe, nach welcher dieſer die Küche nur durchquerte, um in feine Schlaffammer zu gelangen. Noch mehr. Sie hat angegeben, eine fremde Perjon ſei dabei gewejen. Wer war dies? Im der Vor— unterfuchung fagte fie, es ſei die Gabriele Vellon gewefen, bier dagegen nannte fie Frau Madeleine Salmon. Geht nicht Elar daraus hervor, daß fie jo ausgejagt hat, um ihren Neffen zu retten?

„Das Verbrechen war von langer Hand durch Morand vorbereitet. Es jollte am 6. Februar ausgeführt werden, und darum erzählte er feinen Kameraden, er wolle am 5. nach Sens oder Villeneuve reifen. Darum ſah man ihn auch am 6. vor dem Laden des Vetard herumlungern. Auch die Zeugen Frau Duffange und Herr Ablon haben die Ausfagen der Joſephine Martin bejtätigt. Ausichlag- gebend ift die Ausfage der Frau Droin. Sie hat Mo- rand bei Joſephine Martin eintreten fehen. Sie hat es mit aller Energie behauptet und an ihrer Behauptung fejtgehalten. Man wird ihr Zeugniß anfechten, weil ans geblich zwifchen ihr und Morand feit langer Zeit Feind- ſchaft beitehen joll. Aber iſt dieje Feindſchaft jo tiefgehend, daß fie deshalb eine wifjentlich faljche Zeugenausjage ab» gegeben hat? Frau Droin ift Morand nicht grün, ich will e8 zugeben. Allein ift fie deshalb bereit, einen Mein— eid zu fchwören, einen Menfchen auf das Schafott zu bringen? Morand hat ein Alibi vorzubereiten gefucht. Diefen Zwed verfolgte er mit den Zetteln, die er im Gefängniß ſchrieb und an feine Frau zu ſchmuggeln ver- juchte. Er wollte, daß die beiden Zeuginnen Salmon jeine Anmwejenheit zu Hauſe am Abend des 8. Februar betätigen jollten. Aber fein Plan ift mislungen.

„Run zu Vacher. Morand fpielte die erjte Violine, Vacher war die zweite Rolle in dem Drama zugefallen.

Der Proceß wider den Tagelühner Morand. 337

Diejes geht zunächit wieder aus dem Geſtändniß der Jo— jephine Martin hervor. Nach ihren Angaben ift er es nicht gewefen, der Vetard ermordet hat. Er half aber bie Leiche zerftücdeln. Im diefem Punkte jagt die Joſephine Martin ganz beftimmt aus. Und nun frage ich wieder, welchen Beweggrund hätte das Frauenzimmer, ihn anzu— klagen, wenn er unfchuldig wäre? Sie hat zuerft allerdings nicht ihn, fondern Pietre denuncirt, aber als dieſer ein unzweifelbares Alibi nachgewiejen hat, gibt fie ver Wahr- heit die Ehre und jagt: Morand ift ver Mörder, er hat Vetard getödtet, er hatte einen Gehülfen, und diefer Ge- hülfe war Bacher.

„Dieſe Angabe ver Joſephine Martin fteht nicht allein. Gabriele Vellon hat in der Vorunterfuchung angegeben, daß Bacher einige Tage vor dem Verbrechen fagte, er bedürfe eines Betrags von 1000 France, und einige Tage ipäter tft er im Befig einer Baarjumme von 600 France betroffen tworden.’

Der Staatsanwalt erörtert nun im Detail die ver- ſchiedenen Zahlungen, die Bacher nach dem 8. Februar in Gold und Banknoten geleiftet hat.

‚Run gelangen wir zu der fir Vacher äußerſt wich- tigen Frage, in welcher Stunde das Verbrechen verübt worden ift. Die Magd Bellon, der man feine Feind— jeligfeit gegen ihren Dienftheren zutrauen kann, behauptet fteif umd feft, daß Vacher gegen 9 Uhr ausgegangen und erjt nach Mitternacht wiedergekommen iſt. Auch die Zeugen Dumend und Barre find pofitiv in ihren Ausjagen. Sie waren am 8. Februar des Abends in feinem Schanflocal und Vacher war nicht anwejend. Die Bertheidigung hat dagegen Herrn Legraverend als Zeugen vorgeführt. Er ſchwankt aber in jeinen Angaben, und die Ausjagen des Zrompeterd Le Bätard find confus.“

XXI. 22

338 Der Proceß wider den Tagelöhner Moranb.

Der Staatsanwalt erörtert hierauf, welchen Antheil Frau Vacher und Frau Clergeot an dem Verbrechen ge= nommen haben. Er gelangt zu dem Schluffe, daß fie nur Nebenperjonen geweſen find, aber doch bei dem Morde mitgewirkt haben.

Der anonyme Brief eines angeblichen Liebhabers der Sojephine Martin ift nach feinen Ausführungen ein ges ſchicktes Machwerf der Familie Morand, verfaßt und abgejchieft, um die Gerechtigkeit irrezuleiten.

Der Staatsanwalt ſchließt mit dem Strafantrag. Er fordert die Todesftrafe für Morand, langjähriges Zucht- haus für Vacher und die Martin, geringere Freiheits- trafen für Frau Bacher und Frau Clergeot.

Der Bertheidiger Mr. Lailler nimmt für Morand das Wort:

„Bor allem muß ich die Gefchworenen warnen vor Vebereifer und DVoreiligfeit, die in diefem Proceß jchon eine traurige Rolle gefpielt haben. Man fuchte ven Mörder. Man fieht denjelben in jedermann. Die Vorunterfuchung wird auf der Straße ſowol wie in dem Cabinet des Richters geführt. Anzeigen werden in den Zeitungen veröffentlicht, noch ehe fie an die Staatsanwaltichaft gelangen. Die aufgeregte öffentliche Meinung Eritifirt fchonungslos Die mit der Unterfuchung betrauten Beamten, man tabelt und ihmäht, bis die Sicherheitsorgane, gebrängt und gejchoben, in ihrer Verwirrung ein Individuum aus der Menge der Beichuldigten herausgreifen und ausrufen: Heurefa! Wir haben ihn! Und die öffentlihe Meinung macht Chorus, deutet mitiden Fingern auf ihn und wiederholt jubelnd: Wir haben ihn!

„Wie liederlich ift diefe traurige Unterfuchung doch ge- führt worden! Protokolle und Documente fehlen und müffen in der Hauptverhandlung erft befonders vequirirt werben.

Der Broceß wider den Tageldöhner Morand. 339

Und welche Rolle fpielt jener famoje Schriftführer, dieſer Herr Labeſſe, der Zeugen aufftellt und zurücweilt, der diejenigen, welche die Dirne Joſephine Martin, mit der er in Beziehungen fteht, anflagen wollen, bejchimpft und geradezu bedroht! Welchen Antheil die öffentliche Meinung nimmt, die bereit8 verdammt, ehe das Gericht gejprochen, beweifen die ſtandalöſen Scenen, bie hier jtatt- fanden, als man die Angeklagten hereinführte!

‚er und was ift diejer fo viel angefeindete Morand? Er ift nahezu 50 Jahre alt, verheirathet und hat acht Kinder. Er gilt für einen tüchtigen Arbeiter. Der Staats- anwalt hat feiner Verwunderung Ausprud gegeben, daß Morand nicht öfter beftraft worden ift. Er mußte ihn al8 einen verworfenen Menſchen ſchildern, weil er ihn diejes grauenhaften Mordes ſchuldig findet. Aber die Thatjachen paffen chlecht zu dem Bilde, welches von ihm entworfen worden ift. Er foll brutal fein? ja, womit ift e8 denn bewiejen worden? Alles fürchtet ihn ja, warum denn, gegen wen hat er je feine jchwere Hand erhoben? Wann hat er je jelbft im Zorn, im Streit zu— geichlagen ?

„Aber Iofephine Martin hat ihn als Thäter bezeichnet. Wenn fie diefe Denunciation zurüdgezogen hätte, wie jo viele andere Ausfagen, die fie gemacht hat, wäre ber Staatsanwalt gewiß nicht mit einer Anklage wider ihn vorgegangen. Gene Denunciation der Martin ijt aber nicht8 anderes als ein Gewebe von Lügen.

„Die Dirne Martin erzählt, Morand habe ihr die Briefe an Vétard in die Feder dictirt. Das tft die erjte Lüge. Die hierfür gewiß claffiiche Zeugin Roſalie Mary hat uns gejagt, daß nur Frau Clergeot und Joſephine Martin in der Lage waren, dieſe Briefe zu entwerfen. Sie enthalten Thatjachen, die ihnen allein befannt gewejen

22?

340 Der Proceß wider den Tagelöhner Morand.

find. Die Divne Martin und die ehrenwerthe Frau Clergeot fannten ja Herrn Vetard, daß aber Morand ihn fannte, bat niemand behauptet.

„Die Dirne Martin hat Morand des Mordes be— ſchuldigt. Wann hat fie diefes gethan? Nicht etiva jofort, als fie fich zu einem Geſtändniß entjchloß, ſondern jpäter. Und wen Elagt fie gleichzeitig an? Bietre, den Freund Morand’s. Pietre beweift, vaß er unjchuldig tft an dem vergofjenen Blut. Darauf erklärt fie: Nicht Pietre, ſondern Bacher iſt Morand’s Helfershelfer gewejen! Herr Vetard it von einer Frauensperfon abgeholt worden. Joſephine Martin nennt, al® fie darüber befragt wird, die Frau Morand. Frau Morand aber kann es unmöglich gewefen jein. Als man der Iofephine Martin dies eröffnet, ftellt fie in Abrede, daß fie Frau Morand überhaupt genannt habe. Man muß e8 ihr aus den Protofollen beweifen. Dann befinnt fie fih. Sie beredet die VBellon zu einer falſchen Ausfage. Dieje ijt gutmüthig genug anzugeben, jie habe Herrn Betard abgeholt, gefteht indeß bald, daß fie in Joſephinens Auftrag gelogen hat. Nun erklärt Joſephine: «Ich jelbit habe Herrn Vetard auf Morand’s DBeranlaffung in meine Wohnung geführt.» Nach ven Ausjagen der Zeugen ift e8 freilich viel wahrfcheinlicher, daß ihre Schweiter, Frau Clergeot, die Freundin der Roſalie Mary, Herrn Betard beivogen hat ihr zu folgen. Und troßdem foll Joſephine Martin die claffische Zeugin jein, deren Ausſage über Menfchenleben entjcheivet! Diejen verlogenen Angaben joll man glauben! Erinnern Sie fich doch an die Unterrebungen zwijchen der Vellon und ver Joſephine Martin, an die Neuerung der lettern, die der an diejer Stelle al8 Zeuge vernommene Polizeicommiſſar berichtet hat: «Ich weiß, was ich zu jagen habe, ich werde immer daſſelbe wiederholen.» Wer ift e8, ver ihr dies

Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 341

eingegeben ? Vielleicht jener famoje Schriftführer, deſſen Rolle noch zu beleuchten ift, oder einer ihrer zahlreichen Liebhaber? Und welche Beweggründe für ihre falfchen Denunciationen, des Pietre, des Gizel, der Frau Morand und anderer, hat fie angegeben? Sie wollte dadurch ein Geſtändniß des Morand erzwingen!! Diejer Er- Härungsgrund ift Tächerlich albern. Aber die Staats- anwaltjchajt läßt fich daran genügen. Darf man fo mit Menjchenleben und mit der Hoheit der Gerechtigfeitspflege jpielen?...

„Frau Droin jagt aus, fie habe Morand in das Haus der Sofephine Martin eintreten fjehen. Warum hat fie das nicht gleich ausgejfagt? Sie erklärt: «Ich habe mich vor Morand gefürchtet.» Aber Morand war bereits 14 Zage lang in Haft, und es hieß, er würde freigegeben werden, als ihr Gedächtniß erwachte. Wer hinderte fie denn zu ſprechen, da fie doch mußte, daß Morand im Gefängnig ſaß? Ich will nicht behaupten, daß fie aus Feindſchaft wiffentlich faljches Zeugniß abgelegt hat. Ich nehme vielmehr an, daß fie einen Mann dort hineingehen ſah und fich nach und nach einbilvete, es fünne Morand jein, er glihe Morand, es war Morand! Wie leicht fönnte fie fi) irren! Es war eine dunkle Nacht und fie befand fich ihrer eigenen Angabe zufolge 30 Meter weit von der Perjon, die fie jah. Hätte fie wirklich Morand erfannt, fie hätte gewiß nicht gejchwiegen, ſondern jofort ihren Nachbarn und Freunden erzählt, daß Morand, ein armer Arbeiter, der feinen überflüjfigen Heller befitt, eine fäufliche Dirne beſucht habe.

„Erinnern Sie fich, meine Herren Gejchworenen, an die Brüder Mouillon. Als dieſe de8 Mordes an dem Uhrmacher Betard befchuldigt und verhaftet wurden, da meldeten fich in Joigny drei durchaus vertrauenswürdige,

342 Der Procek wider den Tagelöhner Morand.

ehrenhafte Leute, die vor dem Unterfuchungsrichter er— Härten, fie hätten die Mouillons am Tage des Verbrechens in Joigny herumfchleichen ſehen und doch waren dieje erwiejenermaßen in Dijon, alſo weit von diejer Stadt entfernt. Ein Zeuge ftand vor Gericht, der ihnen an ebendiefem Tage Wurft verkauft haben wollte, ein anderer hatte fie in ver Straße Tucri begegnet, ein britter machte fih anheischig, ihnen in das Geficht zu wiererholen, daß er ihnen in Joigny an dieſem Zage begegnet ſei und fie angerevet habe. Alle dieſe Zeugen jagten im beiten Glauben aus, und was fie ausfagten, war dennoch ent- ſchieden die Unmwahrheit.

„Srwägen Sie nun die fociale Stellung dieſer An- geflagten und bie der Landſtreicher Mouillon. Wären die lettern durch einen für fie glüdlichen Zufall nicht jofort in die Lage gefommten, ihre Anwefenheit in Dijon nachzuweifen, wer hätte ihren DBerficherungen angeficht® der Angaben von ehrenwerthen und unbefangenen Zeugen irgendwelchen Glauben beigemefjen? Sie fäßen wahr- icheinlich an Stelle Morand's und Vacher’8 auf der An- Hagebanf. Sie erjehen daraus, daß man ein vollfommen tadelfreier Zeuge und willens fein kann, die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu jagen und fich dennoch irrt. Vergleichen Sie damit die Aus- jage der Frau Droin, ganz abgejehen davon, daß dieſer Aussage Schon nach dem Gejege nur geminderte Glaub- wiürdigfeit zufommt, wegen ihrer Feindfchaft gegen Morand.

„Die Ausfagen der Frau Duffange und der Frau Ablon find an fich vollfommen unanfechtbar, allein fie beweifen rein gar nichts für die Anklage. Frau Ablon it jogar eine Entlaftungszeugin. Joſephine Martin hat erzählt, Morand trug Holzſchuhe, und dieſe Holzjchuhe jpielen ja noch eine weitere Rolle in der Anklage. Der

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 343

Mann aber, den Frau Ablon gejehen hat, trug Leber: ſchuhe, fie ſagte ausprüdlich: «grobgenagelte Leverjchuhe». Ein gewifjer Pernet, der vor dem Unterjuchungsrichter ald Zeuge vernommen, aber zu ber Hauptverhandlung nicht vorgeladen worden it, behauptete, Morand habe bereit3 am 6. Februar jeinem Opfer aufgelauert, er habe ihn abends zwifchen 8 Uhr und 8 Uhr 30 Minuten zur Dirne Martin fchleichen jehen. Aber Morand wies durch unanfechtbare Zeugen nach, daß er am 6. Februar in Billeneuve-fur-Monne gewejen iſt. Er fonnte unmöglich zugleich dort und in Joigny fein. Herr Pennet hat fich am 6. Februar geirrt, jollte nicht auch am 8. Februar ein Irrthum vorliegen können?

„Sp wenig dieſe Zeugenausfagen beweijen, jo wenig beweisfräftig find auch die Indicien, die man gegen Morand geltend gemacht hat.

„Zunächſt die Blutfleden des Tragforbee. Die Sad: verjtändigen haben im ganzen zwei Flecke in der Größe von 2 Millimeter gefunden. Waren e8 wirflih Spuren von Menjchenblut? Sie fünnen es nicht mit Beſtimmt— heit erhärten. Es iſt Säugethierblut, mehr ijt nicht feit- gejtellt worden. Und diejen Tragforb nennt der Staats- anwalt den biutenden Anflagebeweis! Wenn e8 aber wirklich Vetard’8 Blut gewejen fein joll, wie fam es, daß nur jo geringfügige, jo verjchwindend geringe Spuren fejtzuftellen waren? Die Erklärung, die Morand für dieſe Fleden gibt, find weit einleuchtender und logischer als jene des Staatdanwalts. Und dann, diefer Trag- forb diente nicht ihm allein. Er verlieh ihn oft. Er war acht Tage lang bei Frau Salmon. Hat man fich auch nur der Mühe unterzogen, nachzuforichen, ob er dort nicht zum Transport rohen Tleifches verwendet wurde?

„Und die Blutflede an ven Holzſchuhen. Morand er-

344 Der Procef wider den Zagelöhner Moranbd.

flärt, er leide oft an Najenbluten. Seine Kameraden und der Kerfermeijter bejtätigen feine Angabe. Erflärt dies die Flecken nicht vollfommen genügend? Wenn Morand im Blute feines Opfers gewatet hätte, e8 wären ganz andere Spuren zurüdgeblieben.

„Endlich die abhanden gelommenen Kleider, die Morand früher getragen und vielleicht verbrannt haben ſoll. Der Staatsanwalt hat darauf feinen befondern Nachdruck ge- legt. Ich kann aber diefe Frage nicht fallen laffen, ich fann dem Unterfuchungsrichter den Vorwurf nicht eriparen, daß er hinfichtlich diefer Kleider nicht jorgfam vorgegangen it. Warum hat er nicht jofort alle Kleiver des Angeklagten mit Bejchlag belegt? Es ift nicht gefchehen. Es ift auch nicht einmal verjucht worden, nachzuweijen, daß Morand blutbeflecte Kleider bejejjen habe und daß dieſe vernichtet worden feier. Man bat aber einen folchen Nachweis zu erbringen nicht verfucht, weil er eben nicht zu erbringen war. Und der unheimliche Geruch der verbrannten Sachen? Nun, Morand hat angegeben, was er verbrannt hat, und e8 liegt nicht der geringjte Anhaltepunft dafür vor, daß e8 etwas anderes gewejen wäre.

„Das große Mefjer Morand’3 hat man vorgefunden. Dan Hat es mit Beichlag belegt. Die Anklage aber fonnte e8 nicht brauchen denn die mifroffopifche Unter: ſuchung entdeckte fein Menjchenblut daran.

„Und wo iſt Ihr Alibi? fragt die Anklage, wo waren Sie denn? Ich war zu Haufe, lautet die Antwort. Die Anklage bezweifelt e8 und beruft ſich auf Frau Madeleine Salmon. Nun der Ausjfage der einen Frau Salmon jteht jene der andern Zeugin gleichen Namens gegenüber, und es ijt durchaus nicht erwiefen, daß Morand nicht nah Haufe fommen Fonnte, ohne von Frau Madeleine Salmon bemerkt zu werden.”

Der Procef wider ben Tagelöhner Morand, 345

Der Vertheidiger bejpricht die beiden einander wider- jtreitenden Zeugenausfagen in ber eingehenditen Weije. Ebenſo die Zettel, die Morand gejchrieben hat. Es find bie begreiflichen Aeußerungen eines Menfchen, der bie Beweiſe feiner Schulplofigfeit fammelt. Die Ausfprüche endlich, die ihm zur Laſt gelegt werben, find vollkommen nichtsfagend. Man müffe ihnen förmlich Zwang anthun, um ihnen einen verfänglichen Sinn unterzulegen.

„Und nun“ fo fährt er fort „va die Anklage entfräftet it, muß ich meinerjeits einige Fragen an Sie richten. Was joll denn das Motiv des Verbrechens ge- wejen jein? Die Abficht, Vetard zu berauben. Aber Morand befand fich in feiner beprängten Lage. Er ſowol wie feine Frau verdienten genug um zu leben. Gelonoth war nicht vorhanden. Er bejitt ein Häuschen zu eigen, das auf 3000 France gejchäßt ift, und ſchuldet auf daffelbe nur 1500 Francs. Es iſt feineswegs behauptet, geſchweige denn eriwiefen worden, baß er gelpbebürftig gewejen jet, daß ihn etwa Gläubiger gedrängt hätten: Man wird wol zum Mörder aus Haß, oder im Affect ohne weitere Vorbereitung. Jedoch um ein Mörder aus Habjucht zu werben, bedarf es einer längern Verbrecherſchule. Und obendrein ein Mord mit ſolchem Vorbedacht, folcher Ueber— legung aller Einzelheiten und Möglichkeiten! Und der— jenige, der alles geleitet, alles gethan haben foll, wo iſt ber Gewinn, den er davon gezogen hätte? Man hat bei Vetard mindejtend 2400 bis 3000 Franes geraubt, wo it Morand's Antheil hingefommen? Hat er in der legten Zeit vielleicht Schulden bezahlt oder auffällige Ausgaben gemacht? Oder fand fi außer etwas Fleiner Münze Baargeld bei ihm? Nichts davon. Man hat gut gejucht und doch nichts gefunden.

„Und die Organifation des Complots. Die Dirne

346 Der Proceß wider ben Tagelöhner Moranb.

Martin gibt an: Morand hat alles organifirt und vor- bereitet. Ia, warum denn? Wo haben die VBerabrebungen ftattgefunden? Morand ift niemals bei ver Martin ge- wejen, niemand hat ihn je dort gejehen, auch bie jcharf auslugenden Augen der Nachbarinnen nicht. Die In- ftrumente, mit denen die That verübt worden ift, wo find fie, in weifen Beſitz? Mit einem Hammer foll dem Vetard der Schädel eingejchlagen worden fein? Wo ift der Hammer? Bei wen wurde er gefunden? Die Sägen?... Sie find Eigenthum der Joſephine Martin, in ihrer Woh- nung wurden fie in Bejchlag genommen.

„Nein, Morand ift nicht ver Mörder. Aber wenn er es nicht ift, wer ilt e8 denn? Die Dirne Joſephine Martin weiß e8 wohl, fie weiß e8 jo gut, daß fie nur Eins fürchtet, nämlich daß man ben Mörder entvedt. Um das zu verhindern, beinzichtigt fie einen Unjchuldigen eines Ber- brechens. Man hat ihr zugeflüftert: «Hat die rächende Gerechtigfeit ein Opfer erhalten, fo ift fie befriedigt!»

„zweifeln Sie noh an der Wahrheit? Ich mag 28 nicht glauben. Laſſet das Recht walten, Ihr Gefchworenen, und fprecht den Uufchuldigen freil”

Der Bertheidiger NRemacle erhebt ſich und be- gehrt die DVertagung der Verhandlung für die nächjte Schwurgerichtsperiode.

Die Angeklagten Joſephine Martin und Morand er— klären ſich damit einverſtanden.

Der Vertheidiger Lailler unterſtützt das Verlangen ſeines Collegen.

Die Vertheidiger Savatier-Laroche (für Vacher) und Herold (für Clergeot) widerſprechen namens ihrer Clienten und verlangen die Durchführung des Verfahrens.

Der Staatsanwalt Spricht fich gleichfalls Dagegen aus und der Gerichtshof lehnt die Vertagung ab.

Der Proceß wider den Tagelöhner Morand. 347

Bertheidiger Savatier-Laroche erklärt für bie angeflagten Eheleute Bacher:

„Ich jchließe mich in der Hauptjache ven Ausführungen meines Collegen Lailler an. Die Angaben der Yojephine Martin find durch und durch erlogen und unglaubwürdig. Wenn aber diefer Zeugin nicht geglaubt werben barf, was fpricht noch gegen Bacher? Niemand hat ihn am Thatorte gejehen. Zwei luftige Saufbrüber jagen aus, fie hätten ihn am 8. Februar nicht zu Haufe angetroffen, aber andere gewichtigere Zeugenausfagen erhärten das Gegentheil. Das Alibi ift bewiefen. Nur entftellte Ge- ſprächsfragmente von zweifelhaften Werthe und vielfacher Deutung fähig bleiben noch übrig als Belaftungsmomente. Es iſt Fein Beweis gegen Vacher geführt worden, ver einen unbejcholtenen Mann um Ehre und Freiheit bringen fönnte. Gegen Frau Bacher vollends fpricht gar nichts. Die Reife nach Paris ift vollfommen aufgeklärt, die Aus- gaben, die fie gemacht hat, find in ihren Gewohnheiten begründet und nicht auffällig. Die Anfchuldigungen ber Bellon find fo in ihr Nichts zufammengebrochen, daß ſogar der Staatsanwalt darauf verzichtet hat, fie in feinem Plaivoyer zu erwähnen. Er hat fih nur an Joſephine Martin gehalten.‘

Für die Angeflagte Iofephine Martin läßt fich der Bertheidiger Remacle fo aus:

„Heute, im Laufe des Beweisfahrens, hat einer der Herren Gefhworenen verlangt, Joſephine Martin möge eine zujammenhängende Darjtellung der Vorgänge am Abend des 8. Februar geben. Das ift gejchehen. Joſephine Martin hat gefagt: Ich kenne Morand feit vielen Jahren. Ich ging oftmals in fein Haus. Im Monat Januar fam Morand eines Abends zu mir und fagte mir unter Lachen, er umd einer feiner Freunde beabfichtigten dem Vetard

348 Der Proceß wider der Tagelöhner Morand.

einen Schabernad zu fpielen. Der alte Knabe fei ein Mädchenjäger. Man müfje ihn daher durch einen Brief von weiblicher Hand anloden. Er würde ficher kommen, aber feine Schürze finden. Diejes Stelldichein wurde ein- gefävelt, aber Roſalie Mary fand fich nicht ein. Es wurden zwei andere Rendezvous ausgejchrieben; ob Vetard hingegangen ift, weiß man nicht, und wirb es auch nie mehr erfahren. Der $. Februar naht heran. Joſephine Martin begegnet Morand, der ihr einen Brief für Vetarb übergibt, fie trägt ihn hin. Joſephine Martin ahnte nichts Böſes, jonjt würde fie das Dpfer nicht durch ganz Joigny begleitet haben, jodaß fie von Jedermann gefehen werden fonnte. Sie führt ihn zu Morand, diefer ijt im Begriff in ihrem Hauſe eine Säge abzuholen, die fie ihm zu leihen verjprochen hat. Morand geht die Treppe hinauf und zündet eine Kerze an. Sofephine Martin folgt ihm. Vetard bleibt noch einen Augenblid auf ver Straße zurüd. Bald jedoch fommt er nad. Er ftolpert an den untern fchlecht beleuchteten Stufen. Morand empfängt Vetard cordial: «Da bift du endlich, alter Kameradn!» Man unterhält ſich über alferlei gewöhnliche Dinge. Aber Iofephine wird bei ihrer Mutter erwartet, fie entfernt fih. Als fie um 10 Uhr heimfehrt, ift das Entſetzliche bereits gefchehen. Und wen findet fie mit der Zerftüdelung der Leiche be- ihäftigt? Morand und Bacher. Hat fie gelogen, als fie diefe Einzelheiten angab? Gewiß nicht.‘ Bertheidiger Nemacle erörtert nun eingehend die innere Wahrjcheinlichfeit diefer Darftellung. Sein weiteres Plai- doyer wird zu einer fulminanten Anklage Morand’s, weit heftiger im Zone ald jene des Staatsanwalts, und mehr geeignet auf Die Gefchworenen einzumirfen, obgleich feine neuen Beweiſe vorgebracht werden. Die Ausfagen der Frau Droin und der Frau Madeleine Salmon find für

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 349

ihn die Angelpunfte der ganzen Verhandlung. Um bieje allein dreht fich nach jeiner Auffaffung pas Beweisverfahren.

Zur Bertheidigung ver Iofephine Martin fügt er noch bei: „Es ift wahr, ihre erjte Regung ging dahin, alles abzuleugnen, jogar die Briefe, die fie gejchrieben. Jedoch von Neue erfaßt, befennt fie nunmehr um jo aufrichtiger ihren Antheil an der That. Man verhaftet alle Mit- glieder ihrer Familie und ruft ihr zu: «Geſtehe, wer Detard zu dir geführt hat, oder alle deine Verwandten Ihmachten im Gefängnif.» Was follte fie thun? Sich ſelbſt anflagen, und dazu fehlt ihr der Muth. Da be- geht fie die Thorheit, Gabriele Vellon um ein faljches Zeugniß zu bitten. Dann bezeichnet fie Pietre als Mit- Ihuldigen. Sie hält ihn für einen vertrauten Freund Morand's und hofft, daß er fagen joll: «Ich war nicht dabei, aber Morand hat mit mir davon gejprochen!» ‚Um auf Morand’s verhärtetes Gewifjen einzumirfen, be- ſchuldigt fie fälfchlich feine Gattin! Ihre Hoffnung, daß Morand's Schuld ohne ihr Zeugniß an den Tag fommt, ‚wird nicht erfüllt, da entjchließt fie fich, die ganze und volle Wahrheit zu befennen.

„Worin bejteht die Schuld der Joſephine Martin?

„Sit fie eine Mörderin? Sie hat nicht gemorbet. Niemand hat behauptet, fie jelbit habe Hand an BVetard gelegt. Hat fie gejtohlen? Wer kann jagen, daß fie es war, die den Schlüffel aus Vetard’8 Taſche holte und ihn beraubte? Ich frage nochmals, welche Schuld ift ihr nachgewiejen ?

„Hat fie gemordet? Nein!

„Hat fie den Hinterhalt vorbereitet? Nein!

„Hat fie den Schlüffel entwendet? Nein!

„Hat fie die Werthiachen gejtohlen? Nein!

„Was bleibt alfo übrig? Sie hat es ſelbſt befannt.

350 Der Procek wider den Tagelöhner Morand.

Man hat ihr 100 France gegeben, damit fie jchweigen jolle, und fie hat diefe Summe genommen. Sie hat fich daburch ber Hehlerei jchuldig gemacht.“

Mit einem pathetifchen Appell an das Mitleid der Ge- Ihworenen für das gehette und bebrängte, leichtfinnige und leichtgläubige Weib‘, fchließt der Vertheidiger feine Rede: „Für die Hehlerei hat fie ganz gebüßt, fprecht fie frei!”

Bertheidiger Herold erwartet den Freifpruch für jeine Clientin, Frau Clergeot, deren Betheiligung an tem Verbrechen nicht nachgewiejen jei.

Die Verhandlung wird unterbrochen. Als der Präfident biefelbe wieder aufnimmt und die Angeklagten eben ven Saal betreten, ruft eine Stimme aus dem Zuhörerraum: „Habt ihr noch nicht genug gehört? Auf das Schafott mit Morand!” Diefe unverfchämte rohe Aeuferung wird vom Publiftum mit lautem Beifall aufgenommen.

Der Präfident befragt der Reihe nach die Angeflagten, ob fie noch etwas zu jagen haben.

Morand. Ich bin volllommen unschuldig!

Bacher. Ich bin unfchuldig. Ich habe nichts gethan.

Frau Vacher. Ich bin unjchuldig.

Sofephine Martin. Ich habe nichts mehr zu jagen.

Frau Elergeot. Ich habe nichts mehr zu fagen.

Die Gefchworenen ziehen fich zurüd, kehren jedoch nach überrafchend kurzer Frift zurüd. Das Verdict lautet:

Morand: Schuldig in allen Bunften, ohne Zulaffung mildernder Umftände.

Julius und Amalie Bader: Schuldlos der Theil- nahme am Morde, jedoch ſchuldig des Gefellichaftspieb- ſtahls mit dem erjchwerenden Limftande, daß biejer des Nachts in einem bewohnten Haufe verübt worden ift.

Sofephine Martin: Nicht ſchuldig der Theil- nahme an dem Morde und an dem Geſellſchafts—

Der Proceß wider ben Tagelöhner Morand. 351

diebſtahl, ſchuldig des einfachen Diebftahls ohne erfhwerende Umſtände.

Eugenie Elergeot: Nicht fchuldig.

Die Schatten des Abends waren tief gejunfen, einzelne Gasflammen erleuchteten den Schwurgerichtsfaal, als der Gerichtshof fein Urtheil verfündigte. Die Gefchworenen hatten Morand die mildernden Umftände, die Wohlthat des letten Zweifels verſägt, fein Los war flar. Er wurde zum Tode verdammt. Die übrigen Berurtheilten erhielten geringfügige Freiheitsftrafen zuerkannt.

ALS das Urtheil gefprochen war, richtete ſich Morand zu feiner vollen Größe auf. Gegen die Gejchworenenbanf gewendet, ven Arm drohendemporgehoben, ſchrie er mit lauter Stimme: „Mein Blut über euch! Ich bin unſchuldig!“

Diefelben Gefchtworenen, welche die mildernden Um— ftände ausgeichloffen hatten, traten fofort nah Schluß des Gerichtöverfahrens zufammen und verfaßten eine Ein- gabe an den Präfidenten ver Republif, in welcher fie von jeiner Gnade das Leben des zum Tode verurtheilten Morand erbaten.

Der Bertheidiger Pailler brachte aus zwei rein formalen Gründen die Nichtigkeitsbeſchwerde ein.

Der affationshof verwarf das Rechtsmittel. Der Präfident der Republik, Sadi Carnot, verwandelte die gegen Morand verhängte Todesjtrafe in zehnjährige Zubthausarbeit.

Ein krankhafter Zug macht fich in der Nechtiprechung ber franzöfiichen Gerichte mehr und mehr bemerflih, Die Urtheile der Gejchworenen find allerdings nirgends frei bon gewiffen Willfürlichkeiten, die fich dadurch erklären, daß die „Richter aus dem Volke“ nicht verpflichtet find, ihr Verdiet durch Gründe zu rechtfertigen; allein nirgends

352 Der Brocef wider den Tageldhner Morand.

treten die Uebelſtände der Gejchworenengerichte fo grell zu Tage als gerade in Frankreich. Jedwedes Verbrechen, auch das ſcheußlichſte, deſſen Verübung auf „Liebesleiden— ſchaft“ zurückgeführt werden kann, genießt nahezu Straf- freiheit, ſodaß die franzöſiſche Staatsanwaltſchaft ſchon ſeit einigen Jahren vorzieht, auch ſchwere Fälle als Ver— gehen zu behandeln und den Verbrecher vor das Zucht— polizeigericht zu ſtellen, damit er der verdienten Strafe nicht entgeht. Die Schwurgerichte laſſen ſich gar zu häufig durch Sympathien, Schlagworte und ſentimentale Modethorheiten beſtimmen. Den übelſten Ruf in dieſer Beziehung hat ſich aber die Jury im Departement der Seine, in Paris erworben, ſie entwickelt eine viel geringere Energie, als man bei einzelnen Aſſiſen der Provinz findet. Von politiſchen Parteiproceſſen ſehen wir hier natürlich

Dieſe allgemeine Beobachtung hat auch in dem vor— ſtehend berichteten Proceß eine traurige Illuſtration er— fahren. Die Hauptangeklagten waren eine leichte Dirne, ein: „kleines, zierliches Figürchen, ſchlank, bleich, mit großen, glänzenden Augen. Sie iſt brünett, die Züge ſtark accentuirt. Ihr Geſichtsausdruck iſt offenherzig, und angeredet ſchlägt ſie die Augen nieder. Die Stimme iſt von ſeltenem Wohlklang, einſchmeichelnd und gewinnend“. Im Gegenſatz zu ihr erſcheint auf der Anklagebank der von ihr denuncirte, rauhe und abſtoßende Mann: „ein herculiſch gebauter, ruhig blickender Menſch, mit unbe— wegten Zügen und düſterm Geſichtsausdruck“. Mit dieſer Perſonalbeſchreibung iſt von vornherein der Ausgang des Proceſſes, das Urtheil der Geſchworenen beſtimmt: die weitgehendſte, das Gerechtigkeitsgefühl empörende Milde für das Frauenzimmer, ſchonungsloſe Härte und uner— bittliche Grauſamkeit gegen den Mann.

Der Procef wider den Tagelöhner Morand. 353

Ganz abgejehen von den mannichfachen Gebrechen in der Vorunterfuhung, von der fonderbaren Einmiſchung des eine zweifelhafte Rolle jpielenden Schriftführers La— beſſe, deſſen Gebaren der Staatsanwalt in ſchonender Weiſe „unüberlegten Uebereifer” nennt, während er, aller- dings jehr „unüberlegt“, feinen Uebereifer nur dazu die Zügel jchießen läßt, um das Los der Hauptangeflagten zu erleichtern, um womöglich „das arme Ding‘, zu der er wahrjcheinlich auch in zarten Beziehungen jtand, die Unannehmlichkeiten einer Unterfucchungshaft und einer Hauptverbandlung zu erjparen; abgejehen von dem Briefe des anonymen Liebhabers, deſſen Entjtehung unaufgeflärt geblieben ijt, bietet das durchgeführte Beweisverfahren des Bedenklichen genug.

Joſephine Martin hat fich als ein durchaus verderbtes, verlogenes Gejchöpf erwiejen. Ihr halbes Geſtändniß enthält jo viele Widerfprüche und Ungereimtheiten, daß es ichwer begreiflich wird, wie eine Gejchworenenbanf, auch wenn fie aus Franzofen zufammengefett ift, demſelben Glauben jchenfen konnte. Ihre Mitwirkung an der Vor- bereitung zum Morde ift vollfommen klar nachgewiejen. Sie hat die That verhehlt, hat höchſt wahrfcheinlich an der Plünderung des Ladens activen Antheil genommen und, eingejtandenernaßen, Vortheil aus dem Verbrechen gezogen. Dennoch ergeht zu ihrem Gunften ein Verbict, welches einer Freifprechng gleihfommt! Morand das gegen wird, aufer von ihr, nur durch eine Zeugenausjage, jene der Frau Adolfine Droin, und durch ein Indicium, die Blutſpuren im Tragforbe, belaftet. Die Zeugenjchaft der Frau Droin ift im höchiten Grade fragwürdig. Sie ift ihm notoriſch feinpfelig gefinnt geweſen und hat ihrem Haffe ſelbſt im Gerichtsfaale unwillkürlichen Ausdruck gegeben. Die Blutſpuren im ZTragforbe aber find jo

XXI 23

354 Der Brocef wider ben Tagelöhner Moranb.

gering und fünnen fo verjchiedenartig erklärt werben, daß e8 äußerſt mislich erjcheint, darauf hin ein Menjchenleben der Guillotine zu opfern. Das cui prodest endlich ent- fällt auf ihn angewendet gänzlich. Auf das Zeugniß der feilen Dirne hin wird jedoch der Mann ohne weiteres ſchuldig geiprochen. Wenn fie gegen diefen und jenen offen- bar unbaltbare Denunciationen angebracht, fo hat fie die— jelben doch wieder zurüctgezogen; bei Morand aber blieb fie feft, alſo ift er der Mörder. Das ift die Logik ber Geſchworenen gewejen. Der Wiberjpruch, der darin liegt, daß Bacher, welchen die Martin gleichfall8 als am Morde betheiligt angejchuldigt hat, von der Anklage wegen Mordes (o8gejprochen worden it, ven weiſen Richtern von Aurerre macht diefer Widerſpruch feine Scrupel. Die Eheleute Bacher und Frau Clergeot find die Nebenperjonen ver Tragödie, ihr Schidjal kümmert die Gejchworenen nicht. Die ungleiche Behandlung der beiten Angeklagten Morand und Bacher fordert die jchärfite Kritik heraus. Wenn vie Geſchworenen das Zeugniß der Joſephine Martin für glaubwürdig hielten, mußten fie das Schuldig über Morand und Bacher jprechen. Die Losſprechung Vacher's jtempelt die Verurtheilung Morand's, da das Belaftungsmaterial das gleiche tft, zu einem Juftizmorde. Der Präfident ber Repubfif ift vielleicht Durch diefe Erwägung bejtimmt worden, die gegen Morand verhängte Todesſtrafe in eine verhältnif- mäßig geringe zeitliche Freiheitsſtrafe umzuwandeln. Ueber ven leichtfertigen Spruch, welcher zur Folge hatte, daß der Joſephine Martin eine faum nennenswerthe Buße auferlegt wurde, wollen wir nichts mehr hinzufügen. Der Proce und der Spruch der Gefchworenen beweiſt, wie tief bie fittliche Fäulniß in die franzöftiche Gejellichaft eingedrungen tit.

Drud von F. A. Brodhaus in Leipzig.

Der Neue Pitaval.

Neue Serie.

Bierundzwanzigfter Band.

Inundis Ü

u 93)

Der

Neue Pitaval.

Eine Sammlung

der intereſſanteſten Criminalgeſchichten aller Länder aus älterer und neuerer Zeit.

Begründet vom Criminaldirector Dr. 3. €. Hitzig und

Dr. W. Häring (W. Alexis). Fortgefegt von Dr. 9. Vollert.

0

Jene Serie. Th 2

Bierundzwanzigfter Band,

Leipzig: F. A. Brockhaus.

1890.

Ar. Hope 14, 1863

Vorwort.

Im 22. Bande des „Pitaval“ haben wir den Proceß gegen Johann von Weſel veröffentlicht. Er wurde wegen Ketzerei, nachdem ihm der Widerruf ſeiner der Kirche anſtößigen Lehrſätze abgepreßt worden war, zu lebenslänglicher Einſperrung im Kloſter verurtheilt und iſt in der Gefangenſchaft geſtorben.

Im 23. Bande unſers Sammelwerks haben wir den Proceß wider Johann Hus folgen laſſen, den die römiſche Kirche in majorem dei gloriam auf den Scheiterhaufen geſchickt hat.

Den 24. Band eröffnen wir mit dem von dem Herrn Archidiakonus Zuppke in Gera uns zugeſendeten Proceß gegen Galileo Galilei vor der Inquiſition in Rom. Die Acten dieſes Proceſſes ſind gedruckt, ſie beweiſen, daß die katholiſche Kirche zwei Jahrhunderte nach Johannes von Weſel und Johannes Hus, als es galt, eine ihr feindliche, wiſſenſchaftliche Lehrmeinung zu unterdrücken, ganz dieſelben Mittel angewendet bat

VI Vorwort.

wie in den Ketzerproceſſen des 15. Jahrhunderts. Der Ausgang des Proceſſes Galilei iſt Häglih, weil der Angeklagte den Muth nicht bejaß, jeine Ueberzeugung perjönlih zu vertreten, jondern auf jede Bedingung jeinen Frieden mit der Kirche machte und ſich jogar vor der Inquifition erbot, das Gegentheil von dem, was er früher gelehrt hatte, wijlenichaftlich zu bemeijen.

Es ift lehrreich, die drei Proceſſe miteinander zu ver: gleihen, und pſychologiſch jehr intereffant, die drei Männer Johann von Wejel, Johann Hus und Galileo Galilei zu ftudiren. Wie hoch fteht Hus über den beiden andern, wie tief fteht Galilei jogar unter dem ſchwachen Johann von Wejel! Und mie harakteriftiih ijt das Verfahren der Inquiſitoren und in Galilei’3 Falle das Verhalten des zmeideutigen Papſtes!

Den Proceß wegen Magie wider den Herzog Johann Friedrich von Weimar, der faſt gleichzeitig ſpielt, und den im Jahre 1888 verübten Mord an Donna Brigida in Merico, die im Rufe der Hexerei ſtand, haben wir angeſchloſſen, mweil es fih aud in diefen beiden Fällen um ſchwere VBerirrungen der Richter und der Rechtspflege handelt.

Der Mordverfuh des Malers Joſeph Johann Kirhner in Wien wird jehr verſchieden beurtheilt werden. Wir ftimmen in allen Stüden dem Schluß: wort des Herrn Generalconjuls Dr. Meyer bei, welchem wir diefen Beitrag verdanken. Er hat den Charafter des Angeklagten gewiß richtig beurtheilt, und auch darin

Borwort. VII

wird man ihm beitreten müſſen, daß die Strafe in feinem richtigen Verhältniß zu dem Verſchulden Kirch: ner’3 jtand. |

Der Proceß Benthien führt einen Mörder vor, der aus den unterften Schichten der menſchlichen Ge- ſellſchaft ſtammt und fih allmählid zur blutdürftigen Beſtie entwidelt hat.

Die ftraßburger Falihmünzerbande und Meineid oder Rechtsirrthum find zwei von einem Rechtsanwalt bearbeitete Proceſſe, beide charakterijiren die Zuftände im Eljaß.

Der in der neueften Zeit verhandelte Broceß wegen der Ermordung des Dr. med. Caſſan aus der Feder des Schon einmal genannten Herrn Generalconjuls Dr. Meyer in Wien erinnert an die franzöfiichen Proceſſe aus frühern Sahrhunderten, die der alte Ad— vocat PBitaval in feiner berühmten Sammlung be: arbeitet bat.

Der Panduren-Oberſt Freiherr von der Trenck iſt ohne Zweifel eine merkwürdige Perſönlichkeit. Von ſeinem Proceß iſt nicht viel zu ſagen, aber ſein Leben in der Gefangenſchaft, ſein Teſtament und ſein Tod verdienen auf Grund zuverläſſiger Quellen in Er— innerung gebracht zu werden.

Auch in dem Proceſſe wider die Carbonari in Italien, deren Führer der Graf Confalonieri war, iſt das Proceßverfahren nicht die Hauptſache, ſondern die genaue Schilderung des Spielbergs bei Brünn, auf welchem ebenſo wie der Panduren-Oberſt von der

VIII Vorwort.

Trenck auch der Graf Confalonieri und ſeine Genoſſen ihre Strafe verbüßt haben. Der Schriftſteller Deutſch in Brünn, der den Spielberg genau kennt, hat beide Proceſſe zu liefern die Güte gehabt.

Gera, im December 1890.

Dr. A. Bollert.

Inhalt.

Vorwort.

Die Procefje gegen Galileo Galilei vor der Inquifition in Rom. 1615/16. 16323 . 2...

Herzog Johann Friedrid von Weimar. Proceß wegen Magie. 1627 und 1628.

Donna Brigida. Mexico. Todtſchlag. 1888

Der Proceß wider den Maler Joſeph Johann Kirchner. Mordverſuch am Freunde. Wien. 1888 . .

Der Proceß Benthien. Mord. me 1889. 1890 . . a er

Die ftraßburger —— 1889

Meineid oder Rechtsirrthum? Eine Dorfgeſchichte aus dem Elſaß. 1889 . ;

Die Ermordung des Dr. med. Goffan. Mord. Frankreich. 1889

Ein Beitrag zu dem Leben * des Panduren-Oberften Franz Freiherrn von der Trend und feine Haft auf dem Spielberg bei Brünn, 1741—1749 . :

Ein Beitrag zu den Broceffen wider die Sarbensıi in Italien, 1820—1838

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Die Procefe gegen Galileo Galilei vor der Inguifition in Rom.

1615/16. 1632/33.

Ein großartiges Inftitut mit weifem Organismus und von welterrettender Wirkſamkeit jo hat unlängjt ber bonner Profefjor der fatholifchen Theologie, Schröes, die Inguifition genannt. Selten hat ein Urtheil jo aller Geſchichte Hohn geſprochen. Das Dogma foll die Ge- ihichte befiegen. Für den Katholiken ftedt ein Kern von Wahrheit in diefem Urtheil, und das ijt der, daß in den romanijchen Ländern wenigitend der Katholicismus feinen Beftand der Inquifition verdankt. Sie ift mit eiferner Strenge wider alle evangeliichen Negungen vorgegangen und bat fie in Feuer und Blut erjtidt. Die Kerfer find die Gräber der reformatorijchen Bewegung in Italien und Spanien geworden. Daß Italien noch Fatholifch ift, ver— danft es der Inguifition, wird als der Ausfpruch eines Papjtes überliefert. Alfo eine die katholiſche Kirche ret- tende Wirfjamfeit hat die Ingquifition in der That gehabt, und daß fie dabei weit ausjchauend verfahren, wird auch nicht geleugnet werden fünnen. Ob das aber mit „weiſem Drganismus‘ iventijch ift, mag billig bezweifelt werben, und eine welterrettende Wirkjamfeit ſchreiben wir nur

XXIV. 1

2 Die Brocejje gegen Galileo Galilei

Einem zu, dem Sohne Gottes, der fie als Haupt feiner Kirche im Himmel fort und fort ausübt. Ob ver Pro- feffor den Fatholifchen Theologen die Inquifition als Re— mebium wider die jocialiftiiche Sturmflut unjerer Tage hat empfehlen wollen? Dann gefallen uns ber „weiſe Organismus“ und die „welterrettende Wirkſamkeit“, die uns in den arbeiterfreundlichen Staatsgejegen entgegen- treten, doch beſſer. Es erjcheint aber nothwendig, unfer Geſchlecht dann und warn an die Greuel der Inquifition zu erinnern, damit diefes Inftitut nicht mit romantiſchem Schimmer umgeben und etwa von ihr das Heil in ben Wirren der Gegenwart erwartet wird.

Der Proceß, deſſen Bild die folgenden Blätter zeigen werben, weiſt zwar feine bejondern Greuel der Inqui— fitton auf, trägt aber, wie nicht unrichtig gejagt worden it, den Charakter der Barbarei, trägt venfelben um fo mehr, als e8 fich in demjelben nicht blos um die Unter- drüdung einer wifjenjchaftlichen Ueberzeugung, fondern auch um die Befriedigung perjönlicher Rachſucht handelt. Es it uns dieſes letztere beim Studiren dieſes Procefjes immer mehr zur Gewißheit geworden. Die Inquifition hat anerfanntermaßen ſolcher Rachjucht gedient, hat auf anonyme Denunciationen hin Anklagen erhoben unb Ur- theile gefällt. Daß auch die Einleitung des Verfahrens gegen Galilei und der traurige Ausgang defjelben folcher Rachſucht und nicht dem Eifer für die Ehre ver Kirche allein entjprungen ift, daß dieſer Eifer vielmehr Vor— wand, und daß Galilei felbft von ernfter Liebe zu feiner Kirche erfüllt war, wird die nachfolgende Darftellung er— geben.

Galilei war Verfechter der Kopernikanifchen Lehre; er hatte neue Stützpunkte für viefelbe gefunden; ihm war es zur unwiderleglichen Gewißheit geworden, daß nicht Die

vor der Inguifition in Rom. 3

Erde, fondern die Sonne das Centrum der Welt fei. Kopernifus hatte diefe Lehre nur hypothetiſch vorgetragen, indeß doch nur ſcheinbar. Er hatte nämlich, um jeglichen Widerſpruch von firchlicher Seite zu begegnen, in ber Borrede feines Hauptwerfes „De revolutionibus orbium coelestium“*) feine Anficht nur als Hypotheſe bezeichnet; er hatte darin gejagt, er könne fich gewilfe Erjcheinungen nicht erflären: wenn die Sonne fi um ihn drehe, je wolle er fich einmal um die Sonne drehen und zujehen, ob ihm nun die Sache Har würde. E8 war das jo gejchickt geſprochen, daß Bapft Paul IIL unbevenflich die Wid— mung des Werfes angenommen hatte. Intereſſant aber ift, daß nach neuern Forſchungen dieſe Vorrede nicht von Kopernifus, dem Fatholifchen Domherrn von Frauenburg, jondern von feinem Freunde Andreas Dfiander, dem be- fannten nürnberger Iutherifchen Theologen ſtammt. Dieſe hypothetifche Form rettete die Kopernifaniiche Lehre vor der Verurtheilung durch die Inquifition. Der protejtan- tiiche Theologe aber hat dadurch zugleich Beruhigung im eigenen Lager bewirken wollen, denn Melanchthon war ein jehr energifcher Gegner dieſer Lehre. Auch die Kirche der Reformation hat es erft lernen müffen, daß fie weder geocentrifch noch heliocentrifch, fondern theocentrifch, noch genauer chriftocentrifch zu lehren habe. Weder bie Erbe noch die Sonne, fondern Chriftus ift dem proteftantifchen Theologen der Mittelpunkt der Welt. Auf diefem Funda- mente jtehend kann er ruhig den Forſchungen der Natur- wifjenjchaft zujehen. Die Kirche der Reformation fteht unbefangen allen wiſſenſchaftlichen Reſultaten gegenüber; fie hat den fichern, objectiven Boden, das in Chriftt ge- offenbarte Heil unter den Füßen. Die römifche Kirche,

*) „Bon den Ummwälzungen ber Himmelsförper.‘ 1*

4 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei

jo oft als die einzig objective Macht gepriefen, iſt in Wahrheit viel größerer fubjectiver Willfür verfallen. Das infallible Papſtthum ſchlägt in fein Gegentheil um. Auch Galilei ift das Dpfer jubjectiver Willfür geworden, Gegen: wärtig aber ift fein Shftem, das im Jahre 1633 ver- dammt wurde, gejtattet. Schon 1757, unter dem gelehrten Benedict XIV., beichloß die Indercongregation: Nach Rückſprache mit Sr. Heiligkeit foll das Decret aufge: hoben werben, das alle Bücher verbietet, welche die Un— beweglichfeit der Sonne und die Beweglichkeit der Erde lehren.

Nichtsdejtoiweniger verweigerte im Jahre 1820 der Ma- gister sacri Palatii, P. Philipp Anfoffi, dem Kanonifus Joſeph Settele, Profefjor der Optik und Ajtronomie am römischen Archigymnafium, das Imprimatur für ein Buch, in dem er bie Kopernifanijche Lehre nicht als bloße Hypo— theje behandelte. Settele appellirte an den Papſt Pius VII., ber die Sache an die Eongregation des heiligen Offictums verwies. Dieje erklärte am 16. Augujt 1820, das Buch jet nicht zu beanftanden. Der Papft genehmigte biejen Beſchluß. Anfoffi machte auf Grund noch älterer De— crete weitere Bedenken geltend; die Carbinäle der Con— gregation der Inquifition aber erklärten, es jei in Rom ber Drud von Werfen, welche über die Bewegung der Erde und das GStillftehen der Sonne handeln, nach ber allgemeinen Annahme der modernen Ajtronomen gejtattet. Diejes Decret wurde am 25. September 1822 vom Papſte bejtätigt. Demnach hat Pius VII., der Wieperheriteller bes Jeſuitenordens, feine Vorgänger Baul V,, ver ben Stifter des Ordens Fanonifirte und Galilei wegen feiner Lehre verwarnen ließ, und Urban VIIL, ver ihn ben Jeſuiten zu Liebe verurtheilte, corrigirt. Immerhin eine glücliche Inconfequenz.

bor ber Inguifition in Rom. 5

Das Leben Galilei’8 und fein Proceß find oft der Gegenſtand wiffenichaftlicher Forſchung geweſen. Die erfte Biographie, von Viviani, einem der treueften Schüler und Berehrer Galilei’s, jchon im Jahre 1654 gejchrieben, ift erit im Jahre 1718 veröffentlicht worden. Aber wie er- jcheint darin Galilei? Er bereut fein Auftreten für die verurtheilte Lehre als ein Verbrechen, und er jchreibt jeine legten großen Werke, um ver Vorfehung für die Be- freiung aus ſchwerem Irrthum feinen frommen Dank abzu- tragen. Mehr war eben nicht erlaubt. Erſt 1775 be— richtete Frifi in einer Schrift über Galilei wahrheitsgemäß über feine Stellung zur Kopernifanifchen Lehre, alſo bald nach Aufhebung des Jeſuitenordens. Wenige Jahre darauf folgten die Biographien von Brenna und Targioni. Sie jtellten eine Folterung Galilei’8 in Abrede und jchlojjen das aus den Berichten des toscanischen Gefandten in Rom, Niccolint. Allein diefer Schluß tft nicht berechtigt, da der Gejandte nichts berichten durfte, und da auch Galilei über die Vorgänge jchweigen mußte. In unferm Jahr— hundert hat ein anderer italienischer Gelehrter, Giulio Libri, in feiner „Geſchichte der mathematischen Wiffen- ichaften in Italien” die beftimmte Behauptung aufgeftelli, daß Galilei gefoltert worden fei. Er argumentirt nicht unwahrjcheinlich aus dem fpätern graufamen Berfahren gegen Galilei. Das hatte das Gute, daß man fich in Kom entichloß, etwas aus den Procekacten zu veröffent- lihen. Dieſe waren im Jahre 1809 von den Franzofen nach Paris gebracht worden. Napoleon joll die Abficht gehabt haben, fie befannt zu geben. Entweder haben die ipätern Kriege oder fein eigenes Autoritätsbebitrfniß bie Ausführung verhindert. Sein Bibliothefar hatte fich einige Auszüge gemacht; aus dieſen hat Delambre in jeiner „Geſchichte der neuern Aſtronomie“ einiges mitge-

6 Die Proceffe gegen Galileo Galilei

theilt. Das war im Jahre 1820. Diefe Mittheilungen bewirften eine vollftändige Enttäufchung über Galilei. Nah der Reitauration hat die päpftliche Regierung fih lange vergeblich bei dem franzöfifchen Gabinet um bie Herausgabe bemüht. Dem angeftrengteften Bemühungen des Grafen Roffi, des franzöfifchen Geſandten beim Vati— can, gelang es erjt im Jahre 1846, die Acten für Rom zurüdzuerhalten. Pius IX. machte fie ver Vatican-Biblio- thef zum Geſchenk; im Jahre 1850 antwortete der Vor- jteher jeines Geheimarchivs, Marino Martini, auf Libri’s Angriffe mit feiner Schrift „Galileo e l' inquisizione. Memoriae’s torico-critich“. Doch war von der hifto- rifch-fritiichen Methode nur der Name geborgt; nur einige Bruchitüde wurden aus ven Acten wiedergegeben; das Ganze war eine ungeſchickte Apologie des Inguifitions- verfahrene. Dazu wurden die Acten wieder aus ber Bibliothef nah dem Geheimarchiv geſchafft. Erſt P. Theiner gejtattete einem klerikalen Sranzofen, Henri de l'Epinois, Abichrift von den Acten zu nehmen. Der Tranzofe konnte indeß nur flüchtig arbeiten, da er durch eine dringende Familienangelegenheit abgerufen wurbe. Er publicirte feine Documente in der „Revue des ques- tions historiques‘ (Paris 1867) unter der Ueberſchrift „Galilee, son proces, sa condemnation d’apres des documents inedits‘. Ihm folgte, drei Jahre fpäter, wieder ein Italiener, Gherardi, mit einer Schrift „I Processo Galilei reveduto sopra documenti di nuova fonte” (Florenz 1870). Der BVerfafjer hat wejentlich de l'Epinois benukt. Erſt 1876 hat fich ein Italiener, Berti, einst italienifcher Unterrichtsminijter, auf dem Zimmer des P. Theiner mit den Originalacten be- Ihäftigt. Aber auch diefe Ausgabe war unvolljtändig; fünf Documente fehlen ganz; von funfzig Echriftftüden

vor ber Inquifition in Rom. 7

wird nur furz der Inhalt angegeben. Auch die ganze Soliobezeichnung hat Berti weggelaffen. Gleichzeitig mit dem Franzofen und dem Italiener haben Deutſche ben Proceß behandelt, fo ver heidelberger M. Kantor in ber „Zetichrift für Mathematik und Phyſik“, jo Wohlwill im Jahre 1870 in einer Arbeit über die rechtliche Grund- lage des Procefjes, und im Jahre 1877 in einer umfang- reihen, von nicht gewöhnlichem Scharffinn zeugenden Monographie über die Frage, „ob Galilei gefoltert wor- den”. In demjelben Jahre fette e8 ein öſterreichiſcher Gelehrter, K. von Gebler, mit Hülfe der Botjchaft beim Cardinal Simeoni, demjelben, mit deſſen Hülfe Fürit Bismard feinen Rüdzug im Culturfampf begann, burch, daß ihm die volljtändigen Acten zur Dispofition geftellt wurden. K. von Gebler wollte ſich nur Gewißheit über die Echtheit oder Unechtheit eines für die Beurtheilung des Procefjes überaus wichtigen Documentes (e8 iſt das Document vom 26. Februar 1616; wir werben jehen, wie bedeutſam es ijt) verjchaffen. Da gewahrte er bie mannichfachen Abweichungen, Auslaffungen und Incorrect- heiten der bisherigen Ausgaben; fo reifte in ihm ber Ge— danke, einen Abdruck ſämmtlicher Schriftftüde mit biplo- matifcher Genauigkeit zu veranftalten. Sein Werk er- ihien unter dem Titel „Galileo Galilei und die Rö— mijche Curie” (Stuttgart 1876). Den Eindruck, iwel- hen der Proceß im Lichte dieſes Buches machte, hat der berliner Philofjoph E. Zeller in der „Deutſchen Rundſchau“ (Detoberheft 1876) treffend wiedergegeben; wir fönnen es uns nicht verfagen, hieraus einige Sätze mitzutheilen. €. Zeller jchreibt: „Die Gefchichte führt uns zahliofe Fälle vor Augen, in denen bie freie For— ſchung im Namen der Religion unterbrüdt oder beſchränkt wurde, einzelne und ganze Schulen wegen ihrer wifjen-

8 Die Procefie gegen Galileo Galilei

Ihaftlichen Anfichten oft bis aufs äußerſte verfolgt wur- den. Nur ein Glied in diefer langen Reihe wiljen- Ichaftliher Martergefchichten bildet ver Proceß Galilei's; und er fteht zudem an fchauernden Momenten, an plajti- icher Greifbarfeit der Conflicte, an Kraft und Größe ber handelnden Perjonen, an erjchütternder Gewaltjamfeit des Ausgangs hinter vielen ähnlichen Vorgängen zurüd. Der Held diefer Tragödie iſt feiner von jenen groß angelegten reformatorifchen Charakteren, die einer weltgefchichtlichen Aufgabe in unbedingter Hingebung dienen, die ihren Weg, nicht rechts und links blidend, mit rückſichtsloſer Ent- ichloffenheit verfolgen, die Hinderniſſe niederwerfen oder an ihnen zerjchellen. Bei Galilei finden wir nichts von alledem; bei aller feiner wiſſenſchaftlichen Größe liegen ihm doch von Anfang an gewiffe Rüdfichten gegen bie Macht, die fich feiner Forſchung in den Weg ftellt, im Blute; und als fich die Unverträglicheit der beiderjeitigen Ansprüche immer Elarer herausftellt, führt ihn dieſe Er- fahrung nicht zur energijchen Befreiung von jenen Rüd- jichten, fondern er läßt fich einfchüchtern, fucht ſich hinter zweibeutige Wendungen zu verfteden und kann fih am Ende einer entwürdigenden Verleugnung feiner Ueber— zeugung nicht entziehen. Auf der andern Seite haben wir aber auch bei feinen VBerfolgern zwar vie volle Bös— artigfeit, aber nicht die imponirende Kraft, die ftürmijche Leivenschaftlichkeit des religidfen Fanatismus; gerade bie mächtigjten unter benjelben machen vielmehr den Ein— brud, daß fie ihres eigenen Standpunftes nicht mehr ficher feien, daß ihnen ver Glaube an fich felbft und ihre Sade, das Einzige, was und mit der Unduldſamkeit des Vanatifers einigermaßen verjühnen kann, fehle, daß auch fie vem Conflicte, dejfen Gefahr und Schande fie ahnen,

vor der Inquiſition in Rom. 9

gern aus dem Wege gingen, wenn ſie es mit ihrer Stel— lung und ihrem Intereſſe zu vereinigen wüßten. So ſtoßen wir auf Halbheit da wie dort. Auf Galilei's Seite ift nur ein halbes Martyrium, auf feiten der Kirchengewalt nur ein halber Sieg, eine perfönliche Mis- handlung, feine Vernichtung des Gegners.“ So weit der Philofoph. Wir fügen dem nur Hinzu, daß die Wiljen- ſchaft überhaupt feinen Weberfluß an Märtyrern Rom gegenüber hat; fie hat je und je ihren Frieden mit Rom geichlofjen. Wir erinnern nur an Erasmus. Aber der Glaube, vie fides salvifica, hat die Kraft zum Martyrium gegeben und hat das Feld behalten. Die Sage hat Ga- filei mit dem Nimbus eines Märtyrer umgeben; als ſolchen gedachte ihn Mathilde Raven in einem Roman zu feiern. Dei ihren Vorftudien merfte fie, daß das un- möglich war; fo hat fie in ihrem zweibändigen Roman „Galileo Galilei‘ (Leipzig, F.A.Brodhaus, 1860) ein nicht ungetreues Bild von jener Zeit und von den in ihr wirkenden Perſonen entworfen. Nur haben wir wenig bon einem Roman gejpürt; doch iſt das unter Umjtänden ein Rob; hat fie Doch nicht weniger als 1376 Briefe aus jener Zeit durchſtudirt, um den nöthigen Stoff für ihren „Roman“ zu jammeln.

Wir gehen nunmehr zur Schilverung des Procefjes jeldft über; wir werden die nöthigen Mittheilungen über Form und Inhalt der Acten an geeigneter Stelle ein- jchieben; vorher aber noch einiges fagen über die Perjon Galilei's. Er wurde am 18. Februar 1564 zu Pija ge- boren, wo fich feine Aeltern vorübergehend aufhielten. Sein Bater war ein florentinifcher Edelmann, in der Mufit theoretisch gebildet und ein tüchtiger Mathematiker. In Florenz verlebte er feine Sugend. Der Knabe hatte die

12 Die Proceffe gegen Galileo ©alilei

Zeit, im Jahre 1624, bedrohte das franzöſiſche Parla- ment jede Abweichung von Ariftoteles mit der Todes— jtrafe. Die ganze Weltanfchauung ruhte auf Ariftoteles; jeine ethifchen, pſychologiſchen, phyſikaliſchen Grundſätze waren maßgebend. Sie galten als Stützen des kirch— lichen Lehrgebäudes.

Hier intereſſirt uns nur die Phyſik des Ariſtoteles. Die Welt iſt ihm der Inbegriff alles Veränderlichen. Dieſes Veränderliche iſt theils unvergänglich wie der im ewigen Aether ſchwimmende Firjternhimmel, theils ver— gänglich, wie alles, was man auf Erden unter dem Namen „Natur“ begreift. Der Himmel iſt das Verbindungs— glied zwiſchen dem vergänglichen Naturweſen und dem un— veränderlichen Urweſen, alſo dasjenige, wodurch letzteres auf die Natur einwirkt. Der Fixſternhimmel kommt einem Wejen nach dem Abjolut - Göttlihen am nächiten, Die Region der Planeten, zu welchen Sonne und Mond gehören, jteht ihm ferner, ijt aber der Wanpelbarfeit und dem Leiden entrüdt. Jeder der Planeten hat feinen uns bewegten Beweger; zuweilen ſpricht er auch von einer Seele der Planeten. Die fugelförmige Erde in ver Mitte des Alls fteht ftill; fie bildet das Centrum, ohne welches eine Kreisbewegung nicht denkbar ijt. Ihr Mittelpunft ‚it zugleich Mittelpunkt des Alls. Die Erde mit ihrer Atmosphäre ift die Region von Werden und Vergehen. Diefer ewige Wechjel geſchieht dadurch, daß die Geftirne, namentlich die Sonne, der Erde bald näher, bald ferner fommen. Der Zwed der ganzen Natur ijt ver Menjch, aus vergänglichem Leib und unjterblicher Seele beſtehend, fein Ziel die Glüdfjeligfeit, welche in erjter Reihe darin beiteht, daß die Seele das Gute denkt, wenngleich eine gewiffe Ausrüftung mit äußern Gütern auch nothwendig dazu it.

vor der Inguifition in Rom. 13

Dieje Ariſtoteliſche Phyſik hatte in der Kirche faft dog— matiſchen Werth. ALS man einem Jeſuitenprovinzial die Sonnenfleden zeigen wollte, erwiberte er, er habe zwei- mal den ganzen Ariftoteles vurchgelefen und feine Silbe gefunden, die auf Sonnenfleden fih auch nur deuten lafje, Si non e vero, e ben trovato. Die eudämoniſtiſche Theorie des Ariftoteles aber gilt immer noch in der katho— lichen Kirche. Das Chriſtenthum ift weſentlich Glück— ſeligkeitslehre. Nach der Schrift aber iſt Zweck der Schöpfung und Erlöſung das Lob der Herrlichkeit Gottes. Man leſe nur das erſte Kapitel im Epheſerbriefe.

Galilei hatte ſich alſo die Feindſchaft der Ariſtoteliker zugezogen; das ganze dogmatiſche Lehrgebäude war durch jein Zelejfop ins Wanken gerathen. Nichtsdeſtoweniger hätte man nicht gewagt, gegen ihn vorzugehen, wenn man nicht die Sache ins Religiöfe hätte hinüberjpielen Fünnen. Ihn blos der Verlegung der Ariftotelifchen Philofophie anzuflagen damit wäre man bei dem großen Anjehen, deſſen er fich erfreute, nicht durchgefommen. Die Refor— mation war doch nicht ſpurlos an der römiſchen Kirche porübergegangen. Luther Hatte nicht umfonft wider den „alten Heiden‘, den Ariftoteles, gewettert. So verdäch— tigte man Galilei, er griffe die Bibel an, er jete feine Weisheit an Stelle der geoffenbarten Wahrheit. Und merkwürdig Galilei felbft Tieferte feinen Gegnern dieſe Waffe in die Hand; er fuchte nämlich feine Anficht durch bie Bibel zu jtärfen, und dies z0g ihm den Vorwurf faljcher, traditionsfeindlicher Schriftauslegung zu. Er that dies in einem Briefe an feinen Schüler und Freund Cajtelli, ein Mitglied des Benedictinerordens, den dieſer in vielfachen Abjchriften verbreitete. Auf dieſen Brief bin wurde Galilei bei der Inquifition denuncirt. Er be- findet jih in den Acten als eins der eriten Documente;

14 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei

er umfaßt bei Gebler acht Drudjeiten. Wir theilen eini- ge8 aus dieſem Briefe mit. Zunächſt ſpricht Galilei darüber feine Entrüftung aus, daß man die Heilige Schrift in eine rein mwifjenjchaftliche Auseinanderfegung verflechte und ihr dabei gar das Recht der Enticheivung beimefjen wolle. Als guter Katholif erfenne er zwar bereitwillig an, daß die Heilige Schrift niemals lügen oder irren könne, doch gelte das feiner Meinung nach nicht von jedem ihrer Erflärer. Diefe müßten ja doch fonft manchen biblifchen Ausprud bildlich nehmen jo wenn von Gottes Glied- maßen oder von jeinem Zorn, von feinem Haß und feiner Reue die Rede jet warum wollten fie das denn nicht auch bei den Ausſagen der Schrift über das Verhältniß von Sonne und Erde? „Da aljo die Heilige Schrift an vielen Stellen eine andere Auslegung, als der Wortlaut icheinbar befagt, nicht blos geftattet, jondern geradezu ver- langt, fo jcheint e8 mir, es ſei ihr in mathematifchen Streitfragen der letzte Plaß einzuräumen. Denn die Heilige Schrift und die Natur beide fommen von Gott her, jene als vom Heiligen Geifte eingegeben, dieſe al8 die Ver— wirflihung göttlicher Befehle. In der Heiligen Schrift war es num nothwendig, daß fie, um fich dem Verſtändniſſe ber großen Menge anzubequemen, vieles fage, was den eigentlichen Sinn nur bildlich wiedergiebt; die Natur hingegen gibt fich, wie fie ift, nur ihren Gefegen folgend, mag man fie begreifen oder nicht. Deshalb muß, fo icheint mir, fein Werk der Natur, das uns entweder er— fahrungsmäßig vor Augen fteht, oder bie nothwendige Folge wiffenfchaftlicher Beweisführung ift, wegen dieſes oder jenes Satzes der Heiligen Schrift in Zweifel gezogen werden.” Weiter heißt es dann in diefem Briefe: „Weil zwei Wahrheiten fich offenbar niemals widerfprechen können, fo ift e8 die Aufgabe weiſer Ausleger der Heiligen Schrift,

vor der Inguifition in Rom. 15

fih zu bemühen, ven wahren Sinn ver Ausſprache dieſer letztern herauszufinden in Webereinjtimmung mit jenen Schlüffen, die fich enweder vermöge des Augenſcheins oder mittels ficherer Beweije ald gewiß ergeben. Da wir nicht mit Sicherheit behaupten können, alle Ausfeger jeien von Gott injpirirt, jo glaube ich, e8 wäre Flug daran ge- than, feinem die Anwendung von Sätzen aus der Heiligen Schrift zu geftatten, auf daß man nicht gewiſſermaßen verpflichtet wird, Behauptungen über na- türlihe Dinge im Glauben für wahr zu halten, von denen jpäter bie finnliche Wahrnehmung und durchichla- gende Beweife das Gegentheil darthun könnten.“ Galilei meint, die kirchliche Obrigkeit thäte am beiten, die Entnahme naturwiſſenſchaftlicher Lehrjäte aus der Heiligen Schrift zu verbieten, damit nicht die Autorität der legtern felbit darunter Schaden leide. Und nun fpricht er fich über die Heilige Schrift folgendermaßen aus: „Meiner Meinung nach hat die Heilige Schrift den Zwed, ven Menjchen diejenigen Wahrheiten mitzutheilen, welche für ihr Seelenheil noth- wendig find, und die eben, alle menfchliche Urtheilsfraft überjteigend, weder durch Wiſſenſchaft noch jonft, ſondern eben nur durch den Heiligen Geift mitteld Offenbarung zu gewinnen une darauf hin gläubig anzunehmen find. Daß aber diejer jelbe Gott, der uns Sinne, Berftand und Ur- theildvermögen gegeben hat, nun wollen jollte, daß wir diefe nicht brauchen und die dadurch erreichbaren Kennt- nifje auf anderm Wege erlangen jollen das zu glauben halte ich mich nicht für verpflichtet.‘

Galilei erläutert feine Meinung an Beifpielen. Er fommt infonderheit auf Joſua, Kap. 10 zu reden. Im fieg- reichen Kampfe mit den Amoritern bittet Joſua den Herrn um die Verlängerung des Tages, um die Feinde ganz ver- nichten zu können. ‚Da rebete Yojua mit dem Herrn

16 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei

des Tages, ba der Herr die Amoriter übergab vor den Kindern Israel, und ſprach vor gegenwärtigem Israel: Sonne, ftehe jtill zu Gibeon, und Mond im Thal Aja— Ion! Da ftand die Sonne und Mond ftille, bi8 daß fih das Volk an feinen Feinden rächte. Iſt dies nicht gefchrieben im Buche des Frommen? Alfo jtand bie Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen, bei— nahe einen ganzen Tag, und war fein Tag dieſem gleich, weder zuvor noch danach.“ (Sof. 10, 12—14.) alilei zeigt nun, daß, wenn die Sonne am Firmamente fejt- gehalten wurde, die Zageslänge abgekürzt wurde, alfo gerade das Gegentheil von dem erzielt wurde, was Joſua beabfichtigte. Ein volljtändiges Durcheinander der Natur hätte die Folge fein müffen. Er nimmt an, Gott habe vielmehr dem ganzen Weltenſyſteme eine zeitweilige Ruhe geboten, nach deren Ablauf dann alle Himmelsförper, fo in ihrem gegenfeitigen VBerhältniß nicht im geringjten ge— Itört, in alter Ordnung wieder zu Freifen begonnen hätten, Das Wunder leugnet demnach Galilei jowenig, daß er jogar für eine Steigerung vefjelben eintritt. Das Ber: hältniß von Bibel und Naturwifjenichaft aber wird in biefem Briefe an Cajtelli in geradezu muftergültiger Weife beiprochen. Seine Frömmigkeit ift eine unanfechtbare. Gegen das Ende des Jahres 1613 hatte Galilei dieſen Drief gejchrieben; die Aufregung war eine ungeheitere. Ein Dominicaner, Pater Caccini, polemifirte gegen ben Brief von der Kanzel. Am vierten Advent 1614 hielt er in der Kirche Santa-Maria Novella zu Florenz eine ge- harnijchte Predigt wider Galilei. Er legte feiner Predigt eben die Yofuaftelle zum Grunde; al® exordium aber wählte er das Wort aus der Himmelfahrtsepiftel (Apoftel- geſch. 1, 11): „Ihr Männer von Galiläa, was ftehet ihr und jehet gen Himmel?“ Die Anfpielung war mehr alg

vor der Inguifition in Rom. 17

deutlich; auch braftifche Gefchiclichfeit wird man dieſem exordium nicht abjprechen fünnen. Nur hatte der gute Pater vergefen, daß diefe Worte aus dem Munde eines Engels jtammen, welcher die ob der Auffahrt ihres Herrn trauernden Jünger tröftete. Die Rolle eines tröftenden Engels aber hat er nicht gejpielt, vielmehr Del ins Feuer gegoffen. Die Mathematik war ihm eine Erfindung des Zeufeld. AS ob von dieſem nicht alle Verwirrung auf Erden herrührt! Als ob die Schrift nicht Gott einen Gott der Ordnung nennt! Der Skandal war da; in ben gebildeten Kreifen war man empört; jelbft der Domini» canergeneral Maraffi war es in jo hohem Grabe, daß er ein Entjchuldigungsichreiben an Galilei ſchickte. Aber ber P. Caccini wußte fich zu helfen; er veranlafte einen andern Dominicaner, P. Lorini, Galilei bei der Inqui— fition zu denunciren. Auch diefe Denunctiation befindet fih in den Acten; am Schlufje verfelben wird P. Caccini zum Zeugen vorgejchlagen. Dies hatte eine Prüfung der Schrift Galilei's: „Geſchichte und Erflärung der Sonnen- fleden“, zur Folge. Diefe Schrift, fein Brief an Caſtelli, jo- wie ein zweiter Brief an die Großherzogin-Mutter, Chriftine von Lothringen, auf deren Bitten er fich noch weiter über Bibel und Naturwifjenfchaft ausfprach, bildeten die Grund- lagen, auf welchen die Feinde Galilei's die Anklage wegen philojophifcher und theologijcher Irrlehre wider ihn er- hoben. Die eigentlichen Macher waren wol die Jejuiten; die Dominicaner waren zunächſt nur worgejchoben.

In dem Briefe an Chriftine von Lothringen führt Galilei Folgendes aus: Die Theologie nennt fich die Kö— nigin der Wifjenjchaften. Dies fönne in einem boppelten Sinne gejhehen, entweder weil alles, was die andern Wiſſenſchaften lehren, in der Theologie enthalten fei und

XXIV. 2

18 Die Procefje gegen Galileo Galilei

erflärt würde, over weil der Gegenftand, mit welchem die Theologie fich beichäftigt, alle andern Gegenftände des pro- fanen Wiſſens an Würde und Wichtigkeit weit überragen. Das erjtere würden aber wol ſelbſt folche Theologen, die nicht ganz allen weltlichen Wiffens bar feien, gewiß nicht behaupten, weil doch niemand fagen fönne, die Geometrie, Altronomie, Muſik und Medicin würden in der Heiligen Schrift genauer und beſſer vorgetragen als in ben Büchern von Archimedes, Ptolemäus, Boccius und Ga- lenus. Es bleibe alfo nur die zweite Annahme übrig, und ba follte die Theologie, nur der Betrachtung ber göttlichen Probleme obliegend und ihrer hohen Würde eingedent, auf dem ihr zufommenven Eöniglichen Throne verbleiben und die niedern Wiffenfchaften, als die Seligkeit nicht betreffend, unbeachtet laffen. Und dann, fährt er fort, jollten auch nicht die Profefforen der ‘Theologie fich Die Autorität anmaßen, Decrete und Verordnungen in ge- lehrten Disciplinen zu erlaffen, deren Studium fie nicht obgelegen haben. Dies wäre gerade fo, al8 wenn ein ab- joluter Fürft, welcher in dem Bewußtſein, frei befehlen und ſich Gehorfam verjchaffen zu können, ohne die Arznei- funde oder die Baukunſt ftudirt zu haben, verlangen würde, daß man nach feinen Anordnungen fich curiren oder Ge- bäude aufführen folle, der größten Lebensgefahr für vie betreffenden Kranken und dem offenbaren Ruin für die refp. Baulichkeiten zum Troß. Noch bemerkt er, daß der Heilige Geift uns habe zeigen wollen, wie man zum Himmel ge- lange, nicht aber, wie die Himmel fich bewegten.

Damit hatte Galilei allerdings in ein Wespenneft ge- ſtochen. Seine Gegner ruhten nicht: fie fuchten e8 dahin zu bringen, daß er nach Rom citirt wurde. Allerhand bebrohliche Gerüchte famen ihm zu Ohren. Da beichloß er, feinen Feinden zuvorzuflommen, nach Rom zu gehen

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und feine Sache dort zu verfechten. Im December 1615 reifte er, mit warmen Gmpfehlungsfchreiben des Groß— herzogs verjehen, nah Rom ab. Wiederum fand er die ehrenvollfte Aufnahme. In den erjten, einflußreichiten Familien durfte er feine Lehren entwideln; allgemein ftimmte man ihm zu; das machte ihn ganz ficher. Am 6. Februar 1616 fchrieb er an den erften toscanifchen Staatsſecretär Picohena nach Florenz: „Meine Angelegen- beit ift, foweit fie meine Perſon betrifft, völlig beendigt; jämmtliche damit betraut gewejene Prälaten verficherten mir, daß man fich von meiner Chrenhaftigfeit und dem böjen Willen meiner Verfolger vollfommen überzeugt habe. Was das betrifft, könnte ich alfo nach Haufe zurüdfehren; allein mit meiner Rechtsjache hängt eine Frage zufammen, bie nicht blos mich, fondern alle jene angeht, welche feit achtzig Iahren entweder in Druckwerken, in öffentlichen Vorträgen, oder in vertrauten Unterhaltungen einer ge- wiſſen, Euer Gnaden nicht unbekannten Lehrmeinung bei- getreten find, über die man gegenwärtig ein Urtheil zu fällen ſich anſchickt. Ueberzeugt, daß mein Beiftand in dieſer jo recht eigentlich mein Forſchungsgebiet betreffenden Unterfuhung von Nugen fein dürfte, kann und darf ich mich nicht enthalten, daran theilzunehmen, indem ich da- bei der Eingebung meines chrijtlichen Gewiffens und meinem Eifer für die Fatholifche Sache folge.” Alfo der hoffnungsfühne Galilei; vierzehn Tage fpäter wurde das Urtheil gefällt.

Wir geben hier das Gutachten der Confultatoren nach den Acten. (Gebler, ©. 47, 48.)

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Süße, welche zu begutachten:

Gutachten, abgegeben im heiligen Officium der Stabt, Freitag, den 24. Februar 1616 in Gegenwart der unterjchriebenen theologischen Väter.

1. Die Sonne ift das Centrum der Welt und gänz- lich unbeweglih von Ort zu Drt.

Gutachten: Alle fagten, daß der erwähnte Sat thöricht und philoſophiſch abſurd und formell ketzeriſch ſei, weil er ausbrüdlich den Meinungen ver Heiligen Schrift an vielen Stellen wiberfpricht, nach der Wortbebeutung, wie nach der allgemeinen Auffaffung, wie nach dem Sinne der heiligen Väter und Doctoren der Theologie.

2. Die Erde ift nicht das Centrum der Welt und nicht unbeweglich, ſondern bewegt fich gänzlich um fich, auch in täglicher Umdrehung.

Gutachten: Alle fagten, daß dieſer Sat die gleiche Gel- tung empfange in der Philofophie, ſowie rückſichtlich der theologiijhen Wahrheit; zum mindeften jei er irrig im Glauben,

Petrus Lombardus Archiepus Armacanus fr. Hyacinthus Petronius sac.: Apost. Pal. Mag. :c.;

e8 folgen die Unterjchriften, im ganzen elf, darunter namentlich ein Yejuit, an achter Stelle: Bened.° Jus.”“= societatis Jesu. Zulett der Commiſſar des heiligen Officiums: fr. Jacobus Tintus socius R”i, Pris commissarius I. s'ti. Office.

Dies ift unzweifelhaft ein Driginaldocument, ba fämmtliche Unterfchriften vorhanden find.

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Wie ift man nun auf Grund diefer Gutachten gegen Galilei perfönlich vorgegangen? Die Acten enthalten hierüber nur unterjchriftslofe Annotationen. Sie folgen auch nicht unmittelbar auf das Gutachten, fondern bie nächite Foliofeite ift unbejchrieben, die folgende Seite ent- hält die erjte Annotation und die erjte Hälfte ver zweiten, während die im fpätern Proceffe entſcheidenden Worte auf dem nächjten Folio ftehen.

Die erjte Annotation lautet: Donnerstag, den 25. Februar 1616.

Der durchlauchtigſte Herr Kardinal Millini hat den ehrwürbigen Herren, dem Ajjeffor und dem Commiffar des heiligen Officiums angezeigt, daß, nachdem die Patres Theologen über die Behauptungen Galilei’8, des Mathe- matifer8, daß die Sonne das Centrum ver Welt jet und ohne Bewegung von Ort zu Ort, die Erde da— gegen fich bewege und auch in täglichen Umdrehungen um fich jelbft, ihr Gutachten abgegeben haben, Se. Heiligkeit dem Herrn Kardinal Bellarmin befohlen habe, den genannten Herrn Galilei vor fich zu rufen und benfelben zu ermahnen, die erwähnte Meinung aufzu— geben, und falls er ſich weigern würde zu ge— horchen, jolle ihm der Pater Commiffar in Gegenwart von Notar und Zeugen den Befehl ertheilen, ganz und gar von diejer Lehre abzuftehen und diefe Meinung zu lehren oder zu vertheidigen oder zu bejprechen; wenn er fich aber dabei nicht beruhige, jo fei er einzuferfern.

Diefe Annotation entipricht den wirklichen Vorgängen. Galilei ift von Bellarmin, dem großen Bekämpfer bes Proteftantismus, dem gelehrteften Theologen aus dem Jeſuitenorden, aus deſſen Hauptwerk „Disputationen über die Streitpunfte des chriftlichen Glaubens gegen die Ketzer

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biejes Zeitalter8‘ noch immer bie römijche Polemik jchöpft, verwarnt worden und hat ſich dabei beruhigt, ſodaß bie weitern Drohungen ansgejchloffen waren. Es mag dies auch in der liebenswürdigſten Weiſe gejchehen jein, da Bellarmin für feine Perjon und jeiner Gemüthsart nach nicht verfolgungsfüchtig war. Ließ er doch einft feinem Teinde Sarpi, dem venetianifchen Staatsmanne, ber die Republif mit Glück gegen die päpftlichen Anſprüche ver- theidigte, Warnungen vor Nachftellungen gegen fein Le— ben zufommen. Zudem war Bellarmin damals bereits 74 Sahre alt und lebte, gebeugt von den Schwächen des Alters, in frommen Andachtsübungen nur ber Vorbe- reitung auf feinen Tod. Apoſtoliſche Schlichtheit und Uneigennügigfeit rühmte man ihm nad. So wird Ga- lilei, äußerlich betrachtet, ſehr glimpflich weggefommen fein. An welchem Tage der Carbinal den Befehl ausgeführt, wilfen wir nicht. Welche Bewandtniß e8 mit ber ben folgenden Tag angebenden zweiten Annotation hat, wer- den wir unten fehen. Galilei berubigte ſich, und damit ſchien die Sache erledigt, foweit feine Perjon in Frage fam. So hat Galilei fpäter die Vorgänge jelbit darge- jtellt, und fo werben fie zum Ueberfluß noch durch eine im Jahre 1870 von Gherarbi in ber florenzer „Rivista Europea” veröffentlichte8 Geheimprotofoll aus den De— creten des römiſchen Inquifitionsoffictums bejtätigt. Das Protokoll Tautet: „Am 3. März 1616. Vom durchlauch— tigften Herrn Cardinal Bellarmin wurde zuerft berichtet, daß der Mathematiker Galileo Galilei ermahnt worden fei, die bis dahin von ihm feitgehaltene Meinung, vie Sonne jet das Centrum der Himmelsfugel und unbeweg- lich, die Erde hingegen beweglich, aufzugeben, und daß er jich dabei beruhigt habe; dann wurde das Decret der Congregation des Inder mitgetheilt, inwiefern die Schrif-

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ten des Nikolaus Kopernitus, des Diego de Stunica, des Paulus Antonius Foscarini verboten, rejp. juspenbirt werben; Se. Heiligkeit ordnete hierauf die Durch ven Ma- gister sacri Palatii zu veranftaltende Veröffentlichung biejes Verbots⸗ reſp. Suspenfationsurtheild an.‘

Aus dem zweiten Theile dieſes Protokolls erfieht man, daß die Gegner Galilei’8 ein jachliches Berdammungs- urtheil erreicht haben. Ehe wir dieſes, mit dem ber erfte Theil des Procefjes fchließt, mittheilen, müſſen wir noch die dazwiſchenſtehende Annotation, die im zweiten Pro- ceffe jo verhängnißvoll werben follte, hierherjegen. Sie folgt unmittelbar auf die Annotation vom 25. Yebruar:

Vreitag, am 26. defjelben.

In dem vom burchlauchtigften Herrn Cardinal ber wohnten Palaft, und zwar in deſſen Privatgemächern, hat derſelbe Herr Kardinal, nachdem vorgenannter Ga- lilei erichienen war, in Gegenwart des hochwürbigen Bru⸗ ders Michel Angelo Segnitius de Lauda vom Prediger- orden, des Generalcommifjars des heiligen Offictums, ben mehrgenannten Galilei ermahnt, daß er von dem Irrthum vorgedadhter Meinung ablafje, und gleich barauf und ohne Unterbrehung in meiner und ber Zeugen Gegenwart, im Beifein deſſelben vurchlauch- tigften Herrn Cardinals, hat der obengenannte Pater Commiſſar dem mehrgevachten, noch dort anweſenden und vorgeladenen Galilei im Namen Sr. Heiligkeit des Papſtes und der ganzen Congregation des heiligen Offi- ciums vorgejchrieben und befohlen, die obenerwähnte Meinung: daß die Sonne das Centrum der Welt und un- beweglich jei, die Erde hingegen fich bewege, ganz und gar aufzugeben und biejelbe fernerhin in feiner Weife feſt— zuhalten, noch zulehren, noch zu vertheidigen,

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in Wort oder Schrift, wibrigenfall® werde gegen ihn im heiligen Officium vorgegangen werben, bei welchem Befehle bejagter Galilei fich beruhigt und zu gehorchen veriprochen hat. Worüber verhandelt zu Rom wie oben, in Gegenwart berjelben Perjonen, Babino, Nores aus Nicofia im Königreich Chpern und Auguftin Mongredo aus einem Drte der Abtei Roſa im Bisthum Monte- Pulciano, Hausgenoffen des genannten burchlauchtigften Herrn Cardinals, als Zeugen.

Diefe Annotation hätte nur einen Sinn, wenn Ga— (tlet fich geweigert hätte, auf die Ermahnung Bellarmin’s einzugehen. Nach dem Zeugniß des Cardinals hat er das aber nicht gethan; fo ift der Verdacht fpäterer Fälſchung nicht ausgeſchloſſen. Mit den thatfächlichen Vorgängen kann fie fchlechterdings nicht in Einklang gebracht werben. Sie wird uns indeß noch weiter bejchäftigen.

Am 5. März erfchien das Decret, welches die Koper- nifanifche Lehre verdammte; ihm follte überall Geltung verfchafft werden. Ubique publicandum heißt e8 in ber Ueberſchrift. Es befindet fich in einem gebrudten Eremplar bei den Acten; e8 wurde aljo an alle Inqui— ſitionsbehörden gefandt. Im feiner Hauptftelle heißt es: „Und weil es auch zur Kenntniß der genannten Congre- gation gekommen ift, daß jene falfche, der Heiligen Schrift geradezu wiberjprechende Pythagoräiſche Lehre von der Beweglichkeit der Erde und der Unbeweglichfeit der Sonne, welche Nikolaus Kopernifus in feinem Werfe «Bon den Umwälzungen ver Himmelsförper» und Diego von Stunica in der Erklärung zum Buche Hiob vorgetragen haben, ſchon fich verbreite und von vielen angenommen werde, wie man aus dem geprudten Briefe eines Karmeliterpaters jehen kann, welcher ven Titel führt: «Sendſchreiben des ehrwürdigen Bater-Magifter Paolo Antonio Foscarint über

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die Meinung der Pothagoräer und des Kopernifus von der Bewegung der Erde und dem Stilljtande der Sonne und das Neupythagoräiſche Weltſyſtem, gedruckt zu Neapel von Lezzaro Scoriggio 1615», und worin bejagter Karıne- literpater zu zeigen jucht, daß die erwähnte Lehre von der Unbeweglichfeit ver Sonne im Centrum der Welt wahr jet und der Heiligen Schrift nicht widerfprechel jo glaubt die Congregation, damit eine derartige Meinung nicht zum Schaden ver katholiſchen Wahrheit weiter um fich greife, das Buch tes Nikolaus Kopernifus «Von der Ummälzung der Himmelsförper» und jenes Diego von Stunica zum Buch Job, jolange juspendiren zu müſſen, bis fie corrigirt werden, die Schrift des Karmeliterpaters Paolo Antonio Foscarini aber gänzlich zu verbieten und zu verbammen, und ebenjo alle andern Bücher, die dafjelbe lehren, zu verbieten, wie fie denn durch Gegenmwärtiges alle verbietet und verdammt, beziehungsweije fuspendirt.‘

(Bon den Büchern des Kopernifus und des Diego heißt es im Original „suspendendos esse, donec corTi- gantur“. Diego hatte in Hiob 9, 7 eine Beltätigung für das Kopernifanifche Syſtem gefehen; die Stelle jchil- dert die unbedingte Allmacht Gottes, ſodaß Luther's Ueber- jegung das Rechte trifft. Er fpricht zur Sonne, jo gehet fie nicht auf, und verfiegelt die Sterne. Diego hatte das abjolut gefaßt, fie gehet nicht auf, d. h. fie jtehet im Gen- trum des Als still. Von Foscarint heißt e8: omnino pro- hibendum utque damnandum; dann weiter: aliusque omnes libros pariter idem docentes prohibendos. Prout praesenti Decreto omnes respective prohibet, damnat, utque suspendit.)

Das war das Ende des eriten Proceffes. Man be- achte, daß das Kopernifanifche Hauptwerk nur bis zu feiner Correctur fuspendirt wurde. Mit diejer Eor-

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rectur wurde der Cardinal Gaëtani betraut, und das Res jultat derjelben war, daß das Kopernifanifche Syitem nad wie vor als Hypotheſe gelehrt werben dürfe. Als mathe matifche Unterftellung, deren Nützlichkeit evident, ſollte es ungehindert fortbeſtehen dürfen. Das iſt nach vier Jahren in einem Decret vom 15. Mai 1620 ausdrücklich ausge⸗ ſprochen. Damit find die Verpflichtungen, die Galilei perjönlich übernommen, klar bezeichnet.

Bald nah Erlaß des DecretS vom 5. März hatte Galilei eine Audienz bei Paul V., und dieſer überjchüttete ihn mit Sreumdlichkeiten. Wiederum ſtiegen faljche Hoff- nungen in ihm auf. Er jchmeichelte fich mit dem Ge— banken, vielleicht eine Zurüctnahme des Decrets bewirken zu fönnen; er verfocht noch immer eifrig feine Lehre, jo- daß der toscaniſche Geſandte an feine Regierung berichtete: „Galilei befindet fih in der Stimmung, mit ven Mönchen an Halsjtarrigfeit zu wetteifern und gegen Perjönlichkeiten zu fämpfen, die man nicht angreifen kann, ohne fich zu verderben; auch wird man in Florenz demnächft die Kunde vernehmen, daß er toller Weife in irgendeinen Abgrund gejtürzt iſt.“ Da berief ihn der Großherzog in ſehr ener- giſcher Weife zurüd. Er ließ ihm fchreiben, er folle den ihlafenden Hund nicht weiter reizen und biffigen Hunden am liebſten aus dem Wege gehen. Es gingen Gerüchte um, die ihm nicht gefielen, und die Mönche wären all- . mächtig.

Bon folhen Gerüchten mag auch Galilei manches zu Ohren gefommrn fein. Darum ließ er fich von Bellar- min vor feiner Abreife ein Zeugniß über den Ausgang des Procefjes ausftellen. Es war das jehr vorfichtig und für die fpätere Zeit wichtig. Freilich hat es ihm nichts genügt. Es befindet fich in einer doppelten Geftalt in den Acten, einmal in einer Abfchrift von Galilei, ſodann

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in der Originalhandſchrift Bellarmin’s. Behufs feiner Bertheidigung im zweiten Proceffe hat e8 Galilei beide— mal ber Unterjuchung führenden Commiffion eingereicht. Es jteht bei Gebler ©. 87 und 89; die Abfchrift hat nur einige unmejentliche Abkürzungen angewendet. Das Zeug- niß lautet:

Wir Robert Carbinal Bellarmin, da wir vernom- men, daß dem Herrn Galileo Galilei verleumderiſch angebichtet worden jei, in Unjere Hand Abſchwörung haben leiften zu müſſen und mit einer beilfamen Buße belegt worden zu fein, erklären, um Beftätigung bes wahren Sachverhalts erfucht, hiermit was folgt: vor- genannter Herr Galilei hat weber in Unfere noch in eines andern Hand, weder zu Rom, noch Unfers Wiffens an einem andern Drt, irgenveine feiner Meinungen oder Xehren abgejchworen, noch ift ihm irgendeine Buße auferlegt worden; e8 ift ihm nur die von unferm Allerheiligften Herrn abgegebene und von der heiligen Congregation des Inder zur Danachachtung befannt ge- machte Erffärung "mitgetheilt worden, laut welcher die dem Kopernifus zugejchriebene Lehre, daß die Erbe fich um die Sonne bewege, und die Sonne im Centrum der Welt jtehe, ohne von Oſt nach Weit zu rüden, ber Heiligen Schrift zuwider jei, und deshalb weder an ihr feftgehalten noch fie vertheidigt werben dürfe. Zur De- glaubigung deſſen haben Wir Gegenwärtiges eigenhän- dig gejchrieben und unterfchrieben am 26. Mai 1616,

wie oben Robert Cardinal Bellarmin.

Man beachte das non defendere ne tenuere. Alfo Galilei follte die Kopernifanifche Lehre nicht vertheidigen

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und nicht feithalten. Der buypothetifche Vortrag war und blieb erlaubt. Anfang Juni endlich fehrte Galilei nach Florenz zurüd, um mande Erfahrung und Enttäufchung reicher. Dies der erjte Act in dieſem Drama; ber zweite begann jechzehn Jahre jpäter.

——— lo

Dittern Gram im Herzen z0g fich Galilei ganz auf fein Studium zurüd. Auf feiner Villa in Florenz lebte er nur feinen wifjenjchaftlichen Beobachtungen und For- ichungen. Dieſe aber nur nach einem der Sache felbit fremden Mafitabe ver Welt übermitteln zu dürfen, war gerade für ihn, den durch und durch aufrichtigen Mann, nichts Leichtes. Solange Paul V. lebte, verhielt ſich Ga— lilei indeß ruhig. Unter feinem Nachfolger Gregor XV., der ganz in ber Reftauration des Katholicismus nach den eriten fFriegerifchen Erfolgen im Dreißigjährigen Kriege aufging, der in der Stiftung ver Congregatio de pro- paganda fide den aufßereuropäiihen Miffionen einen Brennpunkt von unberechenbarer Kraft jchuf und der wenig Sinn für gelehrte Streitigkeiten hatte, begann ſchon das Geplänfel. Doch offen trat Galilei erft unter Urban VIII. hervor, der, von der Machtitellung des Hauſes Habsburg nicht8 weniger als erbaut, den großen Weltereignifjen ab- gewendet, gelehrten Fragen zugänglicher war. Er war in erster Linie italienischer Fürft, dabei ein Mann von fehr großem Selbftbewußtjein. Es charakterifirt ihn, daß er, ald man ihm einen Einwurf aus den alten päpjtlichen Conftitutionen machte, erwiderte: „Der Ausspruch eine $ lebenden Papftes ift mehr werth als die Satungen von hundert verftorbenen.“ Das war ficher nicht im Sinne ber päpjtlichen Inftitution geſprochen. Was wunder,

por der Inguifition in Rom. 29

wenn von einem folhen Manne Galilei die Aufhebung des DecretS vom 5. März 1616 zu hoffen wagte, zumal er nicht ohne wiffenfchaftliche und künſtleriſche Interejfen war? Zunächſt ließ fich noch alles gut an; die fpätere ungünftige Wendung muß darauf zurüdgeführt werben, daß ſich der Papſt perfönlich von Galilei verlegt fühlte,

Galilei Tieß fich, geftütt auf des Papftes Wohlwollen, gleich nach feinem Regierungsantritte auf einen Streit mit den Jeſuiten ein. Es handelte fich dabei nicht um die frühern Streitpunfte, fonvdern um die Entjtehung ver Kometen, welche Galilei für bloße atmoſphäriſche Erſchei— nungen, für regenbogenartige Materie hielt, während fein jefuitiicher Gegner, P. Graffi, Mathematifprofeffor am römischen Colleg, in den Kometen wirfliche Himmels- förper jah. Der Jeſuit warf Galilei vor, daß feine Lehr— meinung auf dem jchlimmen Fundamente des Koperni— fanifchen Syſtems, das jeder Gottesfürchtige verabjcheuen müffe, beruhe. Der Funke hatte gezündet. Galilei re- plicirte mit einer, im jtiliftifcher Hinficht vielbewunderten, inhaltlich aber leidenſchaftlichen Streitjchrift er nannte darin P. Graffi einen Scorpione astronomico —, welche er Urban VII. widmete und der er den Titel gab: „I Saggiatore” Goldwage. Sie erjchten im Jahre 1623. Gleichſam auf einer Goldwage wollte er die Anſchauungen feiner Gegner wiegen und danach beurtheilen. Er weit auf der Goldwage nach, daß die Kopernifanijche Lehre, welche er als frommer Katholif für gänzlich unrichtig er- achtet und. vollftändig leugnet, in worzüglicher Ueberein- ftimmung mit ben telejfopijchen Entdeckungen jtehe, die im Gegentheile mit den andern Weltiyftemen durchaus nicht in Einklang zu bringen feiern. Man müſſe aljo, da die Kopernifaniiche Theorie verdammt, die Ptolemätjche angefichts der neuen Entdeckungen unhaltbar fei, nach einer

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andern juchen. Der Papjt hatte die Widmung des Werkes angenommen. Dergeblich bemübhten fich die Jeſuiten, ein Derbot der Goldwage burchzufegen. Urban urtheilte von Galilei: „fein Ruhm glänzt am Himmel, fein Ruf erhellt bie Erde, mit dem Verdienſt der Wiſſenſchaft verbindet er den Eifer wahrhafter Frömmigkeit“. Mehr kann man bocb nicht verlangen, und doch hat diefer ſelbe Urban zehn Jahre jpäter Galilei verdammt und aufs graufamjte ver- folgt.

As Galilei von diefen Gunftbezeigungen Urban’s hörte, eilte er wieder hoffnungsfreudig nad Rom, um auch für jeine Sache etwas zu erreichen, bie ihm jo an das Herz gewachſen war. Doc bei aller Auszeichnung, die ihm perjönlich widerfuhr, erlangte er nichts. Der Papft war ein grundfätlicher Gegner des Kopernikaniſchen Syſtems, und in den öftern und längern Aubienzen, bie er Galilei gewährte, fuchte er diefen von feiner Meinung abzubringen. Und merkwürdig, gerade dieſe Auszeich- nungen follten Galilei verderblich werden. Der Papit pflegte ihm folgendes Argument entgegenzuhalten:: „Gott iſt allmächtig und deshalb jeglich Ding ihm möglich; man jolf daher nicht behaupten, er habe etwas auf eine be- jtimmte Art eingerichtet, weil e8 nur fo und nicht anders zu den anberweiten Welteinrichtungen pafjfe; man barf Gott feine Nothwendigkeit auferlegen wollen. Gott kann jeine Zwede auf die verfchiedenjten Arten erreichen, und ſomit tft e8 ein Zweifel an der Allmacht, aljo Ketzerei, wenn man behaupten will, nur in einer bejtimmten Weiſe könne dies oder jenes erreicht werben, weil es jo gerade zu den mathematifchen Berechnungen paßt.“ Bon dieſem Argumente hat Galilei in feinem nächſten Werke Gebrauch gemacht; hier festen feine Feinde ein, um ihn zu ftürzen.

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An diefem Werke: „Dialog über die beiden Haupt- weltſyſteme, das Ptolemäifche und Kopernifanifche‘‘, jpäter oft unter dem Titel „Systema cosmicum“ aufgelegt, hat Galilei fünf Jahre feines Lebens gearbeitet (1624—29). Gegen das Ende des Jahres 1629 war es im mejent- lichen fertig. Der Drud bat fih mehr denn zwei Jahre verzögert. Er hat das Manufeript felbjt nach Rom ges bracht, um die Druderlaubniß zu empfangen. Sie wurde ihm vom Magister sacri Palatii, Riccardi, ertheilt mit der Maßgabe, eine Einleitung zu jehreiben, welche als Zwed bed Buches die Vertheidigung der Ptotemäifchen Lehre angab, und einen der Ptolemäifchen Lehre günftigen Schluß hinzuzufügen. Galilei that das, und nach man- cherlei Verhandlungen und Abänderungen wurde das Im— primatur gegeben. &8 ift nicht unwahrfcheinlich, daß dieſen Verhandlungen und Abänderungen der PBapft jelbft nicht fern ftand, denn Riccardi hat fich jpäter auf den päpft- lichen Privatjecretär berufen, viefer auf den Papft, und beide Männer haben ihre Stellen eingebüßt. Genug, das Imprimatur war ertheilt; formell war auch die Hhpo- theje gewahrt. Der Drud jollte in Rom ftattfinden. Da brach bier die Pet aus. Galilei erbat und erhielt auch vom Inguifitor in Florenz das Imprimatur. Diefer foll es mit den Worten ertheilt haben: „man müffe eigentlich den Autor um Veröffentlichung bitten, ftatt ihm Hinder— niffe in den Weg zu legen“. So erjchien das Buch mit doppeltem Imprimatur im Jahre 1632.

Der Inhalt ift furz der. Drei Männer beiprechen fih über die Haltbarkeit der beiden Weltanfchauungen. Zwei tragen die Namen von verftorbenen Freunden Ga- lilei's; der eine, Salviati, vertheidigt die Kopernikaniſche Lehre, der andere, Sagredo, neigt fich mehr und mehr der Kopernikaniſchen Weltanjchauung zu; der vritte aber, der

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den Namen Simplicius führt und bei dem Galilei nach dem ausbrüdlichen Zeugnifß des Werfes an den befannten Commentator des Ariftotele8 gedacht hat, ver- theidigt das Ptolemäiſche Syſtem und zieht hierbei be- jtändig den kürzern. Das Reſultat felbjt bleibt unent- ſchieden; Feiner erklärt fich für befiegt. Die drei Männer verabreben vielmehr eine neue Zujammenfunft zu weiterer Beiprechung.

Zur Drientirung jegen wir bie Vorrede und ben Schluß des Dialogs hierher. Die Vorrede lautet:

„Sn frühern Jahren wurde in Rom ein heilfames Edict befannt gemacht, welches, um gefährliche Nergerniffe in der Gegenwart zu vermeiden, der Pythagoräiſchen Mei— nung von der Beweglichkeit der Erde fchidliches Still- jchweigen auferlegte. Es mangelte nicht an verwegenen Behauptungen, dies Decret ſei nicht das Product ver- nünftiger Prüfung, fondern fchlecht unterrichteter Leiden— ihaften, und es erhoben ſich Protefte, daß in aftrono- miſchen Beobachtungen total unwiſſende Rathgeber nicht mit plöglichen Verboten ven jpeculativen Geijtern die Flügel bejchneiden dürften. Mein Eifer erlaubt mir nicht, zu jolchen verwegenen Klagen jtillzufchweigen. Boll- fommen unterrichtet von dieſer äußerſt Eugen Beftim- mung, entjchied ich mich dafür, als wahrhaftiger, auf- richtiger Zeuge öffentlich auf dem Theater der Welt zu erjcheinen. Ich war damals in Rom gegenwärtig, ich fand nicht allein Gehör, fondern auch Beifall bei den hervorragendjten Prälaten diejes Hofes, und nicht ohne vorhergehende theilweife Erfundigung bei mir erfolgte jpäter die Publication dieſes Decrets. Alles dieſes bewog mi, in meiner gegenwärtigen Arbeit den fremden Na— tionen zu zeigen, daß man von dieſem Gegenſtande in Italien, und bejonvers in Rom, fo viel weiß, wie bie

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Gelehrjamfeit jenjeit der :Alpen ſich wol niemals einge: bildet hat. Und indem ich alle das Kopernifanifche Syſtem betreffenden Speculationen zufammenfafje, bemerfe ich da— bei, daß die römische Cenſur vorher von allem Notiz ge— nommen hat, und daß von diefem Himmelsftriche nicht allein die Dogmen für das Heil der Seelen ausgehen, fondern ebenjo die finnreichen Erfindungen für das Ver— grrügen ber Geiſter.“

Das paßt nun freilich zu dem Inhalt der ‚Dialoge‘ wie die Fauft auf das Auge. Vielleicht wird man auch den Schalf nicht ganz abweifen fünnen. Aehnlich ver- hält e8 fih mit dem Schluſſe. Er lautet:

„Salviatt. Jetzt, da e8 Zeit tft, unfere Unterredungen zu enbigen, bleibt mir nur noch übrig, euch zu bitten, daß, wenn jpäter beim ruhigen Nachdenken über die von mir angeregten Fragen ihr Schwierigfeiten oder nicht gut gelöften Zweifeln begegnen folltet, ihr diejen Mangel entjchuldigen möget, jei’8 wegen ber Neuheit des Gedan— fens, der Schwäche meines Verſtandes, der Größe des Gegenftandes und endlich deswegen, weil ich von andern weder verlange noch verlangt habe, daß fie, was ich felbft nicht thue, einer Phantafie zuftimmen, bie man noch befjer eine eitle Chimäre oder ein glänzendes Baradoron nennen fönnte. Und obgleich Ihr, Signor Sagredo, Euch mehrere- mal mit großem Applaus von einigen meiner Gedanken befriedigt gezeigt habt, jo jchreibe ich dies doch theils mehr der Neuheit ald der Wahrheit diefer Gedanken, vorzüglich aber Euerer Höflichkeit zu, welche mir mit Euerem Beifall das Vergnügen hat verjchaffen wollen, das wir natür- ficherweife empfinden, wenn unſere eigenen Ideen Rob und Zuftimmung finden. Und wie Ihr durch Euere Liebens- würdigfeit mich verpflichtet habt, jo hat mir die Offenheit des Signor Simplicio gefallen. Auch die Standhaftigfeit,

XXIV. 3

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mit welcher verjelbe jo Fräftig und unerjchroden die Lehre jeines Meifters vertheibigt, hat ihm meine volle Zuneigung erworben. Und wie ih Euch, Signor Sagredo, Dan jage für Euere Freundlichkeit, jo bitte ich Signor Sim- plicio um Verzeihung, wenn ich zuweilen durch übergrofßen Eifer und entſchiedene Sprache ihn gereizt haben jolite; er fei überzeugt, daß es nicht aus böfer Abficht geſchehen ist, jondern nur, um ihm Gelegenheit zu geben, erhabene Gedanken vorzutragen, durch welche ich meine Kenntniffe bereichern könnte.

„Simplicio. Es bedarf diefer Entfchuldigung nicht, fie iſt überflüffig, namentlich mir gegenüber, da ich, gemöhnt an gejellige und öffentliche Disputationen, hundertmal gehört habe, daß die Disputanten nicht allein fich erhitten und fich gegenfeitig ärgerten, fondern auch in wirkliche In- jurien ausbrachen und zuweilen nahe daran waren, zu Thätlichkeiten überzugehen. Was nun die ftattgehabten Unterhaltungen betrifft, namentlich die lette, über vie Urfache der Ebbe und Flut des Meeres, fo habe ich fie wirklich nicht ganz aufgefaßt, aber nach ver, wenn auch ihwachen Idee, welche ich mir davon gemacht habe, be- fenne ich, daß fie mir viel finnreicher erſcheint als fo manche andere, die ich über dieſen Gegenftand gehört habe. Deshalb halte ich fie aber noch nicht für wahr oder entſcheidend; auch halte ich mir immer eine höchſt gebdiegene Doctrin, welche ich einjt von einer jehr ge- lehrten und hochgeſtellten Perfönlichfeit*) gelernt habe, und bei der man fich beruhigen muß, vor die Augen des Geiftes; und ich weiß, wenn ihr beide gefragt werbet: ob Gott in feiner unendlichen Macht und Weisheit Dem Elemente des Wafjers die abwechjelnde Bewegung, welche

*) Eben Papſt Urban VIIL

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wir an demfelben wahrnehmen, auf andere Weije ver- leihen fönne als dadurch, daß er das Gefäß bewegt, in welchem das Wafjer enthalten ift, jo jage ich, werdet ihr antworten, daß er dies gefonnt umd zu machen gewußt hätte in vielen, unjerm Verſtande ganz undenklichen Weifen; woraus ich unmittelbar fchließe, daß, dies angenommen, ed übermäßige Verwegenheit fein würde, wenn einer jeiner eigenen phantaftijchen Idee zu Liebe die göttliche Weisheit und Macht beichränfen und begrenzen wollte.

„Salviati. Wunderbar wahrhaft englifche Doctrin, mit welcher jene göttliche vollfommen übereinstimmt, welche, indem fie erlaubt, über die Conjtitution der Welt zu dis— putiren, binzufügt (wielleicht, vamit wir im Gebrauche ver menschlichen Geiftesfräfte nicht ermüden noch ftumpf wer- den), wir ſeien nicht da, um das Werf feiner Hände zu ergründen. Es dient alfo diefer von Gott erlaubte oder befohlene Gebrauch dazu, feine Größe zu erfennen und fie deſto mehr zu bewundern, je weniger wir fähig find, die tiefen Abgründe feiner unendlichen Weisheit zu durch— forjchen. |

„Sagredo. Und dies jet der letzte Schluß unferer piertägigen Unterhaltungen u. ſ. w.“ (Folgt noch der VBor- Ichlag einer neuen Zufammenkunft.)

ALS feinfinnig dialektiſcher Geift offenbart fich Galilei in diefem Schluß. Aber ohne Zweifel, ver Bapft konnte fich verlegt fühlen. Mag Galilei in gutem Glauben ge- handelt haben, politifch Flug war er nicht verfahren, troß aller fcheinbaren Correctheit. Die Jeſuiten hatten mit dem ihnen eigenen Scharffinn jofort den jchwachen Bunt herausgemittert; fie faßten den Papſt bei feiner verlegten Eitelfeit, fie juchten ihn zu überzeugen, Galilet habe ihn lächerlich machen, habe ihn in der Rolle des Simplicius verjpotten wollen, diefer Simplicius ftehe im ganzen Dialog

3*

36 Die Procefje gegen Galileo Galilei

als Einfaltspinfel da, der Name jet abfichtlich gewählt, ihm, dem Papit, fei die Rolle eines einfältigen Menſchen zugetheilt. Die Obrenbläferei verfing; mit hohen Herren ift nicht gut Kirfchen effen. Der Papit war auf Galilei im höchſten Grade aufgebracht; nur dies erflärt ung feine Hartherzigfeit gegen den Gelehrten. Man hatte ihm fer- ner vorgejpiegelt, das Imprimatur fei erfchlichen; wenig- ſtens figurirt dieſe angebliche Erjchleihung unter den officiellen Anklagepunften gegen Galilei. Urban beitellte zunächit eine eigene Commiffion zur Vorunterfuchung; fie jollte wol einen Anflagegrund ausfindig machen. Nach vier Wochen war fie mit ihrem Bericht fertig. Dieſer Bericht ift das erjte Actenſtück im zweiten Procefje; er umfaßt fünf Drudjeiten. Vorſorglich waren alle Freunde Galilei's von diefer Commiffion ferngehalten. Ihr Be— richt ftellt nun folgende Belaftungsgründe gegen Galilei zufammen. Der Berfaffer des „Dialogs“ habe:

1) Ohne Befehl dazu erhalten und ohne vorherige Mittheilung davon gemacht zu haben, das „Imprimatur“ auch des römijchen Cenſors neben das des florentinijchen auf den Zitel gejekt;

2) im Werfe jelbjt die Ptolemäifche Lehre in ven Mund eines Schwachfopfes gelegt; fie von dem Zuhörer der beiden Disputanten, der ihre Vorzüge arg ignorire oder ganz überjehe, nur ſchwach billigen laſſen;

3) oft fich Ueberjchreitungen der Grenze der Hypo— thefe erlaubt, theils indem er in bejtimmter Weife bie Bewegung der Erde, und den Stillitand der Sonne bes hauptet, theil® indem er die Beweije, auf welche Diefe Anficht ſich ftüßt, als überzeugend und nothwendig be— zeichnet oder die entgegenjtehende Meinung al® gänzlich unbaltbar erjcheinen läßt;

vor der Inguifition in Rom. 37

4) den Gegenftand als unentſchieden behandelt und fih jo angejtellt wie jemand, der fragt, ob er ver Veberzeugung ift, daß man um die Antwort verlegen ſein werde;

5) jene Autoren, welche der von ihm vertretenen Meinung entgegen find, verachtet, obgleich es gerade diejenigen find, deren fich die heilige Kirche am meiften bevient;

6) verberblicherweije behauptet, daß auch für ven göttlichen Geift die mathematischen Wahrheiten gewiffer- maßen gejegmäßige Wahrheiten jeien wie für den menjch- lichen;

7) für feine Meinung auch den Umftand geltend ge- macht, daß fich fortwährend Anhänger der alten Ptole- mätjchen Lehre der Kopernifanifchen Theorie zumendeten, nicht aber umgefehrt;

8) die Erjeheinungen der Ebbe und Flut des Meeres fälſchlich auf die Stabilität der Sonne und die Be— wegung ber Erde, was beides fich nicht jo verhalte, zurüdgeführt.

Eine geſchickte Zufammenftellung von Gründen hatte die Commiffion hierin allerdings zu Wege gebracht. Sie hatte aber jelbjt eine Ahnung davon, daß diefe acht Gründe nicht für ein ordentliches Gerichtsverfahren aus— reichen, denn fie jagt in dem Berichte, alles das jeien Dinge, welche berichtigt werden fünnten, wenn man fich von dem Buche, dem man dieſe Gunſt erweifen wolle, Nuten verſpräche. Alfo nach eigenem Geſtändniß der Commijfion könnten diefe Gründe nur zur Verwerfung des Buches führen, fall® fie der Autor nicht ändern wolle. Doch man war um den Hauptgrund nicht ver- legen; man hatte ihn nur bis zulett aufgefpart. Der letzte Abjchnitt des Berichtes lautet:

38 Die Procefje gegen Galileo Galilei

„Der Autor hat den im Jahre 1616 erhaltenen Be— fehl des Heiligen Offictums: daß er die oben bejagte Meinung: die Sonne fei das Centrum der Welt und un- beweglih, die Erde hingegen bewege fih, ganz und gar aufgegeben habe und an berjelben in feiner Weije weder fefthalten, noch fie durch Wort oder Schrift lehren oder vertheidigen dürfe, widrigenfall® gegen ihn im bei- ligen Offictum verfahren werde, bei welchem Befehle der— jelbe Galilei, Gehorſam verfprechend, fich berubigte, beim Nachſuchen der Druderlaubniß betrügerijcherweije ver- ſchwiegen.“

Hier haben wir alſo die Berufung auf die Annotation von Freitag, den 26. Februar 1616. Auf ſie hat ſich die Anklage und ſpäter die Verurtheilung gegründet.

Es iſt wol unzweifelhaft, daß nicht Galilei die Be— hörde, ſondern dieſe ihn auf einen erhaltenen Befehl auf— merkſam zu machen hatte. Wäre das omnino relinquere, das quovis modo docere aut defendere verbo aut seriptis actenmäßig vorhanden gemwejen, jo hätte man ſchon die „Goldwage“ nicht geftatten jollen, jo hätte man ihm das Imprimatur omnino verweigern müſſen, fo hätte man einen Druck quovis modo nicht geftatten bürfen.

Wie verhält es fich nun mit diefer Annotation? Wir haben ſchon oben gejagt, daß fie im Widerjpruche mit ber vom vorhergehenden Tage, mit dem Geheimprotofolf vom 3. März 1616 und mit dem Zeugniffe Bellarmin’s fteht. Im Jahre 1621 war dieſer geftorben, ſodaß er ein weiteres Zeugniß nicht ablegen fonnte. Wir werden weiter jehen, daß Galilei jelbjt nur von Befehlen weiß, welche Bellarmin ihm ertheilte, dagegen nichts von’ einer Ver— wendung durch den Pater Commiffarius Segnitius de Lauda. Mit unerjchütterlicher Conjequenz ftellt er es in

vor ber Inquiſition in Rom. 39

Abrede, irgendeinen andern Befehl erhalten zu haben als den des Carbinald. Sodann find in dem Protokolle auf- fallend die Worte successive ac in continenti „gleich darauf und ohne Unterbrechung‘. Was joll das? Erft mußte doch eine Unterbrechung, ein Widerſtand von feiten Galilei's ftattgefunden haben, ehe das jtrengere Verbot erlajjen werden fonnte. So liegt der Gedanke an eine jpätere Fälſchung nahe.

Wider eine folche macht aber Gebler Folgendes geltend. Die Aufichreibung vom 26. Februar beginnt auf derjelben Seite, auf welcher fich die vom 25. befindet, und beide zeigen genau dieſelbe Schrift und Tinte. Eine gleichzeitige nachträgliche Aufzeichnung ift dadurch ausgejchlofjen, daß bieje Seiten zweite Blätter zu ſchon vorhandenen Docu- menten find. Sodann trägt das Papier ſämmtlicher in Rom 1615—16 beim heiligen Officium niedergelegten Scriftftüde das gleiche Wafferzeichen, nämlich eine von einem Kreife umfchloffene Taube, während fich bafjelbe auf feinem Papiere aus jpäterer Zeit wiederfindet. Dieſes Zeichen erfcheint aber auf den Folios, worauf die Anno- tationen vom 25. und 26. Februar niedergeſchrieben find, ganz deutlich fichtbar. Endlich rühren noch andere Anno— tationen aus den Acten von 1616 aus berjelben Hand her, während dieſe Schrift in feinem Schriftftüde des jpätern Procefjes zu finden ift, ſodaß die Annotationen auch nicht nachträglich auf zwei leere Seiten hinzugefügt fein fönnen. h

Man wird fich dem Gewicht diefer Gründe nicht ver— schließen können. Andererſeits waren die Jeſuiten nicht fo plumpe Fälfcher, daß fie nicht für daſſelbe Papier, die— ſelbe Tinte, dieſelbe Handſchrift gejorgt hätten. Beltimmt von der Hand weijen wird man bie Fälſchung nicht kön— nen. Wohlwill und Kantor nehmen fie an.

40 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei

Der altkatholiiche Theologe Reuſch hat einen Mittel- weg eingejchlagen. Er hält das fragliche Actenftüd für ben Entwurf eines Protokolls, ven der Notar für ven Hall, daß Galilei von dem Commiſſar hätte verwarnt werben müfjen, im voraus fertig gemacht habe, ber aber nicht zur Verwendung fam, weil Galilei fi) ver Mah— nung bes Garbinal® Bellarmin fügte und darum jene Verwarnung nicht ftattfand. Diejer Entwurf des Pro- tofolls, welcher hätte vernichtet werben jollen, wäre 1632 unter den Acten der Inquifition gefunden worden und bona over mala fide als ein wirkliches Protofoll produ— cirt worden. In diefem Sinne bat fich Reuſch in feinem „zheologijchen Literaturblatt“, Jahrgang 1873, ſowie in einem in Sybel's „Hiftorijcher Zeitjchrift‘‘, Jahrgang 1875, veröffentlichten Vortrage über den Proceß gegen Galilei ausgeiprochen.

Damit ift aber das successive ac in continenti nicht zu reimen. Es bleibt der Verdacht ver Fälſchung be- ftehen. Gebler hat ein Uebriges gethan und bat fich an den Cardinal Simeont mit der Bitte gewandt, nachforjchen zu lafjen, ob etwa im Geheimarchiv ein Originaldocument über den Vorgang vom 26. Februar 1616 vorhanden fei. Unter dem 20. Juli 1877 hat ihm der Carbinal geant- wortet, daß ein jolches ganz und gar nicht exiſtire. Das aber ift gewiß, daß dieſe unterfchriftliche Annotation in feiner Weije als ein rechtlich gültiges Document verwendet werden durfte. Galilei Teugnete auf das bejtimmtejte, etwas davon zu willen; die Ausprüde erjcheinen ihm gänzlich neu (novissime), nie gehört (inaudite); man hätte ihm durch Nachweis feiner Unterjchrift vom Gegen- theil überführen fünnen. Man hat es nicht gethan. Ge— rade der wefentlichite Theil der Anklage, der auf Unge- horjam wider einen geiftlichen Befehl, muß als nichtig

vor ber Inguifition in Rom. 41

erjheinen; er ift auf Grund eines juriſtiſch durchaus werthlojen Papiers erhoben worden; ebenfo ijt die Ver- urtheilung allein auf Grund vefjelben rechtlich völlig nich- tigen Schriftſtückes erfolgt.

Am 22. September 1632 erhielt Galilei ven Befehl, nah Rom zu fommen und fich hier vor der Inquifition zu rechtfertigen. Er erjchraf und bat den Großherzog, fih für ihn zu verwenden. Galilei verfaßte das Schrei- ben jelbit; e8 hatte feinen Erfolg, Nun wandte er fich an einen Neffen Urban’s, den Cardinal Barberini; er bat, man möchte ihn wegen feines Alters (er ftand im 69. Lebensjahre) diefe peinliche Reife erlaffen, er gab alle feine Anfichten preis, er erbot fich, alle feine Manuferipte zu verbrennen, er betheuerte jeine Ergebenheit gegen bie Kirche, er war bereit, fich vor dem Inquifitor zu Florenz zu rechtfertigen. Auch das war vergeblih. Er follte nach Rom. Die rajende See wollte ihr Opfer haben. Er hätte fich flüchten können. Die Republik Venedig hätte ihn gewiß mit offenen Armen aufgenommen. Aber hat nicht dieſelbe Republif Giordano Bruno der römijchen In- " quifition ausgeliefert? Galilei war deß Zeuge gewejen. Das Schidjal dieſes Mannes mag ihm angftvoll vor der Seele gejtanden haben. In die norbifchen proteftantifchen Staaten zu fliehen, dazu war er zu fehr Italiener, zu jehr auch gläubiger Katholif, und dazu war er auch zu frank. Er litt an der Gicht; er fchidte ein ärztliches Zeugniß nah Rom und bat, man möchte ihm die Reife, wenigftens im Winter, erlaffen. Die Antwort war ein Befehl des Papftes an den Inquifitor von Florenz, Ga— lilei unterfuchen zu laffen und ihn eventuell gefangen in Eijen nah Rom zu ſchicken. Die Annotation hier— über in den Acten trägt dad Datum vom 30. December 1632. Sie lautet in der Hauptftelle aljo: „Sit er in

42 Die Procefje gegen Galileo Galilei

dem Zuftande, reifen zu können, foll er ihn gefangen und in Eifen gefchlofjen überführen; muß aber aus Rückſicht auf die Geſundheit und aus Gefahr für das Leben bie Ueberführung aufgefchoben werben, joll er ihn fogleich nach der Wiederherftellung der Gejundheit und nach Auf- hören ver Gefahr überführen.“ Dieſes Edict ift jedenfalls bezeichnend für die Stimmung des Papftes. Ob er darum Galilei jpäter vor der Tortur gefchügt haben wird, wie e8 M. Cantor ausſpricht, muß mindeftens als fraglich ericheinen. Wenn ein Mann auf flehentliche Bitten jo antworten kann, wird er jehwerlich jeinen jchütenden Arm über einen mishandelten Gegner gebreitet haben.

Am 20. Januar 1633 trat Galilei feine Reife nach Rom an; am 13. Februar traf er in der Ewigen Stadt ein. Er hatte zunächit fein Quartier beim toscanifchen Geſandten, Niccolint. Diefer rieth ihm, alles zu unter- ichreiben, was man nur immer von ihm verlangen würde. Galilei war entjchlofjen, dieſen guten Rath zu befolgen. Einen andern Rath des päpftlichen Neffen, fich nicht öffentlich fehen zu laffen, hatte er jchon befolgt. Zwei Monate ließ man ihn in Ruhe. Erſt am 12. April hatte er jein erſtes Verhör, nachdem er in ver erften Aprilwoche feine Wohnung nach dem Inquifitionspalaft hatte verlegen müſſen. Er wurde bier milde behandelt, durfte fogar in den weiten Räumen des Officiums pro- meniren. Für feinen Tiſch forgte nach wie vor der Ge- janbte.

Galilei hatte ein viermaliges Verhör zu bejtehen. Das entjpricht genau der Inftruction der Inquifitions- behörde. M. Cantor theilt in feiner Abhandlung über Galilei (‚„Zeitfchrift für Mathematif und Phyſik“, Leipzig 1864, ©. 187) mit, daß er in einem alten Bande ber heivelberger Univerfitätsbibliothef folgende Procefordnung

vor der Inquifition in Rom. 43

porgejchrieben gefunden habe. Sie ftammt von Pater Ludwig de Ameno, etwa 60 Jahre nach dem Proceß gegen Galilei: Man foll damit anfangen, daß man den Angeichuldigten vorlade, aber nicht etwa als einen An- gejchufpigten, fondern in allgemeinen Ausprüden, wie: jein Erjcheinen jei in einem gewiſſen NRechtshandel an dieſem oder jenem Tage erforberlich, er möge fich daher einfinden. Sat der Angeichuldigte fich gejtellt, jo wird ihm der Eid aufgetragen, daß er die Wahrheit fagen wolle, und ihm dann bie Frage vorgelegt, ob er nicht wiſſe, warum er vorgeladen jei. Ueberhaupt foll ver Richter dem Verlangen des Angeklagten, der etwa bie Klagefchrift zu jehen wünſcht, nicht Folge leiften, jondern darauf dringen, daß er ohne Kenntniß der Punkte, auf die e8 anfommt, antworte, denn, heißt e8, ‚wenn der Delinquent jchon zum voraus weiß, was man wider ihn geklagt oder ausgejagt hat, item wie die Beweife lauten, jo kann er ja gar leicht alle Aus- fagen und Anzeigen durch feine Antworten vereiteln”. In Bezug auf die einzelnen Verhöre oder Conſtitute, wie ber Kunſtausdruck lautet, ſchreibt Ludwig de Ameno vor, „im erften jolle man nicht über die allgemeinjten Fragen hinausgehen. Im zweiten Conftitute fommt der Richter auf die Hauptumftände des Verbrechens; im dritten erſt macht er dem Angeichuldigten beftimmte Vorhalte und droht ihm mit der Folter, wenn er nicht geftehe. Darauf findet die peinliche Frage*) in der Folterfammer jtatt. Umgeben von den Werkzeugen barbarijcher Erfindungsfraft wird der Angeklagte entfleivet und mit zufammengejchlof- jenen Händen vernimmt er noch einmal bie Frage, was er begangen. Das Formular diejes vierten Verhörs ent- hält die Worte: «weil du noch fo hartnädig in Verleug-

*) Das fog. examen rigorosum.

44 Die Proceffe gegen Galileo Galilei

nung der Wahrheit bleibft, jo ermahne ich dich nochmals, lege die Hartnädigfeit ab und befenne die Wahrheit, jonft wird man dich mit Torturen dazu zwingen.»*) Wiederum fagte man ihm: «Miewol du das Verbrechen wegleugneit, jo verlange ich von dir die Urfache zu wiſſen wegen bes Verbrechens, wegen welches du proceffirt bift.» Gibt auch jet der Angeklagte noch nicht die gewünfchten Antworten, jo jchreitet man wirklich zur Folter. Geißelung, wobei der Richter noch bejonders bejtimmt, ob fie mit einfachen Stridlein, oder mit eifernen Kettlein, oder mit Spik- gärten, oder Riemen vollzogen werden ſoll, Zuſammen— prejjen der Fußfnöchel, in die Höhe ziehen an den Händen, welches aber nicht über eine Stunde anhalten foll, Ver- jengen der mit Fett eingeriebenen Füße an einem Koblen- feuer, das find die freundlichen Mittel, mit denen man den Angeklagten zum Gejtehen zu bringen fjucht. Und wagt das unglückliche Opfer fpäter, feine vom Schmerz erpreßte Ausjage zu widerrufen, dann wird ganz einfach bie zeitweije unterbrochene Folter fortgejekt.

Der Proceß gegen Galilei ift ein getrenes Conterfei dieſer Vorjchriften, nur daß die allerlegten Stufen an ihm nicht vollzogen zu werden brauchten.

Das erjte Verhör ging am 12. April 1633 vor fic. Es umfaßt bei Gebler acht Druckſeiten. Der Inquifitor, ein perjönlicher Feind Galilei’8, den er durch Nichtachtung jeiner architeftonifchen Kenntniffe arg gefränft hatte, Vin- cenzo Mezzolani, jprach lateiniſch, während Galilei italie- nich antwortete. Das Protokoll ift von Galilet unter- ſchrieben. Zunächſt alfo ver Schwur, genau die Wahr: heit zu jagen. Dann die Frage, ob er den Grund feiner Vorladung wiffe oder vermuthe. Galilei erwiderte, er

*) Das jog. examen de intentione.

vor der Inguifition in Rom. 45

werbe vorgelaben fein, um über fein letterjchtenenes Buch Nechenfchaft zu geben. Den vorgelegten „Dialog“ aner- fannte er als fein Werl. Dann ging der Inquifitor auf ben Proceß von 1616 ein; ob und aus welchem Anlaffe Galilei damals in Rom gewefen fei. Diefer erwiderte, er fei aus eigenem Antriebe nach Rom gegangen, weil er gehört, man hege Bedenken gegen die Kopernifaniiche Lehre, und weil er habe wiffen wollen, was fich gemäß dem heiligen fatholifchen Glauben von diefer Materie zu halten gebühre. Weiter bringt der Inquifitor die Unter— rebungen zur Sprache, die Galilei damals mit mehrern Cardinälen der Ingquifitions-Congregation geführt habe. Galilei entgegnete, dieje Unterrebungen jeien von ven Car- pinälen zu ihrer eigenen Information gewünfcht worden. Nun fragte der Inquifitor nach dem Ausgange des da— maligen Procefjes, worauf Galilei erklärte, die Index— Eongregation habe entjchteden, die Kopernifanifche Lehre, als thatjächliche Gewißheit behauptet, widerjtreite der Hei- ligen Schrift; fie fei aber als Hhpotheje zuläſſig. Und nun jpist fi das Verhör allmählich auf die oben be- jchriebene Annotation vom 26. Februar 1616 zu.

Inquiſitor. Ob ihm damals der in Rebe ftehende Beſchluß mitgetheilt worden jei und von wen?

Galilei. Es wurde mir dieſe Entſchließung der hei- ligen Imder-Congregation befannt gegeben und zwar von dem Herrn Cardinal Bellarmin.

Inguifitor. Er möge berichten, was Se. Eminenz bezüglich des genannten Bejchluffes mitgetheilt habe, und ob diejer ihm noch etwas anderes darüber gejagt und was?

Galilei. Der Herr Carbinal eröffnete mir, daß die bejagte Kopernifanifche Meinung als bloße Unterftellung ftatthaft jei, fo in der Art, wie Kopernifus an ihr ge- halten habe, und Sr. Eminenz war e8 auch befannt, daß

46 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei

ich gleich Kopernifus jene Lehrmeinung nur fupponire; man erſieht das aus einer Antwort deſſelben Herrn Car- dinals auf einen Brief des Pater Paolo Antonio Fosca- rini, Provinzial® der Karmeliter, von welcher ich eine Abſchrift befite, umd in welcher e8 heißt: „Es fcheint mir, daß Euer Hochmwürden und ber Herr Galilei Flug daran thun, fich zu begnügen, unterjtellungsweije und nicht wie von unzweifelhaften Dingen zu ſprechen.“ Diefer Brief des Herrn Cardinals ift vom 12. April 1615 datirt. Im anderer Weije aber, d. h. mit Gewiß— heit behauptend, dürfe man jene Meinung weder fejthalten noch vertheidigen. (Das ne tenere, ne defendere.)

Inguifitor. Er möge erzählen, was im Monat Februar 1616 bejchloffen und ihm eröffnet worden ei.

Galilei. Im Monat Februar 1616 fagte mir der Herr Cardinal Bellarmin, daß, da die Meinung des Kopernifus in der Form bejtimmter Behauptung der Hei- ligen Schrift entgegen fei, man weder an ihr fefthalten, noch fie vertheidigen dürfe; daß man fie aber als Unter: jtellung auffafjen und in dieſem Sinne barüber fchreiben fönne. Uebereinftimmend befige ich ein Zeugniß von dem— jelben Herren Cardinal Bellarmin, ausgejtellt am 26. Mai 1616, worin er fagt, daß die Kopernifaniiche Anficht weder fejtgehalten noch vertheidigt werben dürfe, daß fie ber Heiligen Schrift wiberftreite, von welchem Zeugnifje ich hiermit Abfchrift vorlege.

Inquifitor. Db, als ihm obgemelvdete Mittheilung gemacht wurde, noch andere Perfonen zugegen waren und wer?

Galilei. Als der Herr Cardinal mir befannt gab, was ich betreſſs der Kopernifaniichen Anficht berichtet habe, waren einige Dominicaner-Patres anweſend; aber ich Fannte fie nicht, noch jah ich fie je wieder.

vor der Inquiſition in Rom. 47

Inguifitor. Ob ihm in Anweſenheit jener Patres von diefen oder jemand anderm ein Befehl über ebendiejen Gegenjtand ertheilt worden fei und welcher?

Galilei. Ich erinnere mich, daß die Verhandlung in folgender Weife verlief: Der Herr Carbinal ließ mich eines Morgens zu fich rufen und machte mir bie Eröffnung, man dürfe die Kopernifaniihe Meinung als der Heiligen Schrift widerjprechend nicht fejthalten noch vertheidigen. Es ift meinem Gebächtniffe entſchwunden, ob jene Dominicaner Patres früher da waren, oder ob fie erft fpäter famen; ebenſo wenig entfinne ich mich, ob fie gegenwärtig waren, als der Herr Cardinal mir fagte, daß man die bewußte Meinung nicht feithalten bürfe. Es fann fein, daß mir ein Befehl ertheilt wurde, ich folle die genannte Anficht weder fejthalten noch verthei- digen, aber ich erinnere mich nicht daran, denn es iſt dies eine Sache von mehrern Jahren.

Inguifitor. Ob, wenn man ihm vorlefe, was ihm damals gejagt und befohlen worden, er fich deſſen ent- finnen werde?

Galilei. Ich erinnere mich nicht, daß mir etwas anderes gejagt oder auferlegt worden wäre, noch weiß ich, ob ich mich an das, was mir damals gejagt wurbe, er- innern werde, jelbjt wern man mir e8 vorlieft. Ich be- kenne offen alles, deſſen ich mich erinnere, weil ich mir nicht bewußt bin, die mir gegebenen Borjchriften in irgend- einer Weife übertreten, d. h. die erwähnte Meinung von der Bewegung der Erbe und dem Feſtſtehen der Sonne vertheibigt zu haben.

Der Inquiſitor fängt nun von dem quovis modo docere, tenere aut defendere an und fügt hinzu, daß diejer Befehl vor Zeugen ertheilt fei.

Galilei entgegnet: Ich enifinne mich nicht, daR

48 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei

diefer Befehl mir von jemand anderm als mündlich von dem Herrn Cardinal Bellarmin eröffnet worden wäre, aber ich erinnere mich wohl, daß der Befehl lautete: ich bürfe nicht fejthalten und nicht vertheidigen; es kann fein, bag noch dabei gewejen iſt „und nicht lehren“. Sch er- erinnere mich deſſen nicht, auch nicht, daß die Beſtim— mung „in feiner Weiſe“ dabei gewejen wäre, aber e& fann fein, daß fie dabei war; denn ich habe darüber nicht weiter nachgedacht, nocdy mich bemüht, die Worte meinem Gedächtniſſe einzuprägen, da ich wenige Monate jpäter jenes hier vorgelegte Zeugniß des genannten Herrn Car dinals Bellarmin vom 26. Mai erhielt, in welchem fich die mir ertheilte VBorjchrift, jene Meinung nicht feſtzu— halten noch zu vertheidigen, ausgebrüdt findet. ‘Die bei- den andern Bejtimmungen, der bejagten Borjchrift, welche mir eben befannt gemacht wurden, „nicht zu lehren” und „in Keiner Weiſe“ habe ich nicht im Gedächtniſſe behalten; ich glaube, weil fie in dem bewußten Zeugniffe, auf das ich mich verlafjen und das ich zu meiner Erinnerung auf- behalten habe, nicht erwähnt find.

Inguifitor. Ob er, nachdem der bejagte Be- fehl ertbeilt worden fei, irgendeine Erlaubniß erhalten babe, das von ihm als jein Werf anerkannte Buch, wel- ches er auch jpäter habe druden lafjen, jchreiben zu bürfen?

Galilei. Nah Empfang des vorerwähnten Befehls habe ich nicht um die Erlaubniß nachgejucht, oben ge— nanntes Buch, das ich allerdings als mein Werf aner- fenne, jchreiben zu dürfen, weil ich nicht glaube, durch Abfafjung deſſelben irgendwie dem Befehl, die bewußte Meinung weder fejtzuhalten, noch zu vertheibigen ober zu lehren, entgegengehandelt, jondern dieſelbe vielmehr widerlegt zu haben.

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Zulegt fommt der Inquiſitor auf die Druderlaub- niß zu fprechen und fragt, ob Galilei bei dem Anfuchen um biefe Erlaubniß dem P. Magister sacri Palatii Mittheilung von dem oben beiprochenen, im Auftrage ber heiligen Inder-Congregation ihm ertheilten Befehle ge- macht habe.

Galilei. Bon dem Befehle habe ich dem P. Ma- gister sacri Palatii gegenüber nicht8 erwähnt, weil ich es nicht für nöthig erachtete; es ftiegen mir eben keinerlei Be- benfen auf, da ich durch jenes Buch die Meinung von der Bewegung der Erde und dem Stilfftande der Sonne weder feitgehalten noch vertheidigt habe, ich vielmehr in dieſer Schrift das Gegentheil der Kopernifanifchen Lehre erweife und zeige, daß die Gründe des Kopernifus Fraftlos und nicht entjcheidend find.

Daß Galilei gegen das Ende des Verhörd wider jeine Ueberzeugung rebet, iſt Har. Entweder that er das dem „guten Rathe‘ des Gejandten zu Liebe oder er war ihon halb und halb mürbe. Aber ebenjo Klar ift, daß der Ingquifitor nicht fichern Rechtsboden unter den Füßen hatte. Er fängt von Zeugen an; Galilei weiß nur von etlichen Dominicaner-Batres, deren Anwejenheit ihm eine zufällige zu fein jchien. Der „Befehl“ vom 26. Februar führt ven Pater-Commifjar des heiligen Officiums nament- (ih an, alſo eine eminent officielle Perjönlichkeit. Das hat man Galilei verheimlicht. So gewiſſenlos aber diefer in der Berleugnung feiner Kopernikaniſchen Weltanſchauung ericheint, fo gewifjenhaft verführt er darin, daß er zugibt, es könne ihm auch der Befehl des quovis modo docere ertheilt fein, nur erinnere er fich deffen nicht. Der ge- wiffenhafte Menſch thut aber Lieber ein Mehreres, ehe er fich der Möglichkeit eines Irrthums ausſetzt. Man beachte auch, wie während des Verhörs aus dem monere

XXIV. 4

50 Die Broceffe gegen Galileo Galilei

des Cardinals ein mandare geworben, aus der Verwar- nung ein Decret.

Das zweite Berhör, in dem man hätte veutlicher wer- den müſſen, fand am 30. April und zwar auf das eigene Verlangen Galilei's ftatt. Dffenbar wollte er feinen Feinden durch Fügſamkeit zuvorfommen. Er nahm fogleich das Wort und bielt eine Rebe, in welcher er das Be— fenntniß feiner Schuld darlegte. Sie ift zu charakteriftiich, als daß wir uns mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen fonnten. Sie lautet:

„Nachdem ich jüngft mehrere Tage hindurch über bie im Berhöre an mich gerichteten Fragen unausgejegt und angelegentlich nachgedacht habe, namentlich über jene: ob mir vor 16 Jahren vom heiligen Officium das Verbot ertheilt worden fei, die eben damals verdammte Lehre von der Bewegung der Erde und dem Stillitehen der Sonne in irgendeiner Weife weder feitzuhalten, noch zu verthei- digen oder zu lehren, kam mir der Gedanfe, meine ge- dructen Dialoge, die ich feit drei Jahren nicht wieder angejehen hatte, wieder einmal zu überlejen, um aufmerf- jam zu unterfuchen, ob mir vielleicht ganz gegen ven Willen aus Unbevachtfamfeit etwas in die Feder gefom- men wäre, weshalb der Leſer oder die Dbern mir nicht nur Ungehorfam im allgemeinen, jondern auch gewiffe Einzelheiten zum Vorwurfe machen könnten, bie zu ber Meinung führen müßten, ich hätte die Befehle der hei- tigen Kirche misachtet. Da e8 mir infolge der gnädigen Erlaubniß der Obern freigeftellt war, meinen Diener umberzufchiden, juchte ich mir ein Eremplar meines Wer- fes zu verfchaffen und begann, als mir dies gelungen, bafjelbe mit der größten Aufmerkjamfeit vurchzulefen und eingehend zu prüfen. Es erjchien mir faft, weil ich es jo lange nicht in Händen gehabt, als eine neue Schrift

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und wie von einem fremden Autor. Und in der That hat fie mir an mehrern Stellen den Eindruck gemacht, als habe infolge der Faſſung diejer Stellen der mit mei- ner Denfungsart nicht vertraute Lefer zu der Meinung fommen fönnen, die Beweife für den falfchen Theil, den ich zu widerlegen im Sinne gehabt, feien doch faſt mit mehr Nachdruck vorgetragen, als der Zwed, fie zu widerlegen, gejtatte. Namentlich werben zwei Argumente: das eine von ben Sonnenfleden, das andere von der Ebbe und Flut des Meeres, dem Leſer als jo beweisfräftig und überzeugend vorgeführt, daß es fcheint, als habe ver Berfaffer fie für entjcheivend gehalten und nicht für wider— legbar, wie es wirklich ver Fall war und noch ift. Ich war in einen meiner Abſicht völlig fern gelegenen Irr— thum verfallen, aber wie war das gefommen? Freilich joll man die Beweisgründe des gegnerifchen Theils, vie man wiberlegen will, auf das genauefte darjtellen, be— jonderd wenn man fich der Form von Rede und Wiber- rede bebient; man foll fie gewiß nicht vorfäßlich ab- ihwächen behufs leichterer Ueberwindung des Gegners, welchem fie in dem Dialog in den Mund gelegt find; allein mit diefer Erwägung war der Fehler, auf dem ich mich ertappte, noch nicht genügend erklärt; ver Fehler war, wie ich bei gründlicher GSelbftprüfung erkannte, baraus entiprungen, daß ich bei der Abfaffung des Buches mich ſchwach zeigte, wie jeder andere in gleichem Falle, der Behagen daran empfindet, feinen Scharffinn ipielen zu laffen und durch das Auffinden geiftreicher und plaufibel flingender, wenngleih im Grunde unhaltbarer Behauptungen fich gefchiefter zır zeigen al8 andere Men- ihen. Obgleich ich num mit Cicero jagen muß, «daR ich ruhmbegieriger bin als gut ift», jo würbe ich Dennoch, wenn ich die Beweisgründe für das Kopernifanische Syſtem 4*

52 Die Procejje gegen Galileo ©alilei

noch einmal darzuftellen hätte, fie ohne Zweifel derartig entfräften, daß fie auch jo Schwach erjcheinen follten, wie fie in Wirklichkeit find. Sch habe aljo einen Irr- thum begangen und zwar, wie ich eingejtehe, aus eitler Ehrbegier, aus reiner Thorheit und Unbevachtjamkeit. Das iſt ed, was ich ausjagen wollte und was mir beim Durchlefen meine® Buches in den Sinn kam.“

Man erſchrickt über dieſe Selbiterniedrigung und bieje Unwahrhaftigkeit Galilei's, der ſich hierdurch ſelbſt ver- nichtet. Man wird aber dem Individuum, das ſich ſo vergißt, weniger Vorwürfe machen dürfen als der Kirche, die ſich ſo etwas bieten läßt und die ſo etwas verlangt. Galilei glaubte ohne Zweifel, ſeinen Richtern wohlgefällig zu handeln. Wie traurig iſt doch dieſe Macht der rö— miſchen Kirche! Welch unheilvollen Einfluß übt fie auf die Seelen aus!

Das Verhör wurde gejchloffen. Galilei wurde abge- führt. Da drehte er fich noch einmal um und erklärte feine Bereitwilligfeit, nunmehr gegen SKopernifus zu ichreiben:

„zur größern Bekräftigung, daß ich die als unzu— läffig verdammte Meinung nicht für wahr gehalten habe noch fie jegt für wahr halte, bin ich bereit, noch einen weitern unzweifelhaften Beweis zu liefern, wenn mir bie erwünfchte Zeit und Gelegenheit hierzu vergönnt werben. Ein fehr günftiger Anknüpfungspunft bietet fich hierzu darin, daß in dem von mir herausgegebenen Buche die Perjonen, welche die Dialoge halten, ſich verabredet haben, nach einiger Zeit wieder zujammenzutreffen, um fich über andere naturwiffenjchaftliche Fragen zu bejprechen. Wenn mir bie Gelegenheit gegeben würde, ven Gejprächstagen noch einen oder zwei weitere «Tage» Hinzuzufügen, fo würde ich verjprechen, die zu Gunften ber bewußten fal-

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ſchen und verpönten Meinung angeführten Gründe noch- mals aufnehmen und fie auf die wirkſamſte Weife, welche mir der barmberzige Gott fchon eingeben wird, zu wiber- legen. Ich bitte deshalb dieſen hohen Gerichtshof, mir zur Ausführung diefes guten Vorſatzes behülflich zu fein.‘ Hier hat man das laudabiliter se subjecit in bejter Form. Es hat Galilei nichts genügt, ein Beweis, daß man unter allen Umftänden an ihm Rache nehmen wollte. Um fo jchlimmer aber ift das, weil aus Briefen, welche ber Bibliothefar der Familie Barberint im Jahre 1875 herausgegeben bat, erhellt, vaß gerade der die Unterjuchung führende Commiffar ihn vor dem Verhöre, am 28. April, zu dieſem felbftvernichtenden Befenntniffe veranlaßt hat unter der Vorſpiegelung, man würde dann Gnade vor Recht ergehen laſſen. Nur zu einer Erleichterung verhalf biejer 30. April dem Delinquenten: er durfte in das to8- canijche Gefanbtichaftshotel zurüdfehren; vorher mußte er jedoch befchwören, vaffelbe nicht zu verlaffen, mit feinem andern als mit den Bewohnern des Palaftes zu ver- fehren, jtrengites Stillfehweigen zu beobachten und, fo oft er vorgeforbert werbe, fi vor dem Tribunal zu jtellen. Im dritten Verhör, am 10. Mai, eröffnete ihm P. Mezzolani, daß ihm eine Frift von acht Tagen gewährt jet zur Einreichung einer Vertheidigungsichrift. Galilei hatte diejelbe bereit8 in der Taſche und überreichte fie dem Inguifitor. Er hatte Folgendes niedergefchrieben: „Befragt, ob ich ven ehrwürbigen P. Magister sacri Palatii von dem mir vor beiläufig jechzehn Jahren per: fönlich ertheilten Befehle unterrichtet hätte, laut Verord— nung des heiligen Offictums die Meinung von der Bewegung der Erde und dem GStilfftehen der Sonne weder fejtzu- halten noch zu vertheidigen, noch in irgendeiner Weiſe zu lehren, erwidere ich: Nein! Da ich dann nicht weiter

54 Die Broceffe gegen ©alileo Galilei

um bie Urjache gefragt worden bin, warum ich ihn nicht davon in Kenntniß geſetzt habe, jo fehlte mir vie Ge— fegenheit, mich näher über diefen Punkt zu erklären. Es erjcheint mir aber nöthig, dies nachträglich zu thun, um meine gute Abjicht zu erweifen, in der ich bei meinem Thun von Trug und Beritellung mich immer fern gehalten habe. Ich greife aljo bis zum Jahre 1616 zurüd. Cinige mir übelwollende Berfonen hatten das Gerücht verbreittet, ich jet von Sr. Eminenz dem Cardinal Bellarmin vorgeladen worden, um gewiffe, angeblich von mir gehegte Meinungen und Lehren abzuſchwören, hätte dies auch thun müſſen, wie mir denn auch noch eine Buße auferlegt worden jet. Ich jah mich infolge deſſen genöthigt, Se. Eminenz um ein Zeugniß zu bitten, in welchem ber Cardinal erflären möge, behufs welchen Zwedes ich vor ihn berufen gewejen jet. Sch erhielt das eigenhändig von ihm gejchriebene Atteft, deſſen Original ich hiermit überreiche. Aus dem— jelben ift Klar zu erjehen, daß mir blos angekündigt wurde: man bürfe die dem Kopernifus zugejchriebene Lehre von der Bewegung der Erbe und dem Stillftehen der Sonne weder fejthalten noch vertheidigen, daß mir aber außer biefem für alle gültigen Ausspruch irgendetwas anderes im bejondern anbefohlen worden wäre, darüber befindet fih in jenem Zeugniffe nicht die geringfte Spur. Da ich zu meiner Erinnerung dieſes authentiſche Zeugniß von der Hand bejjelben Mannes bejaß, der mir die VBorjchrift ertheilt hatte, jo habe ich nicht weiter über die Aus- drücke, welche bei der mündlichen Mittheilung des Befehls gebraucht wurden, nachgedacht, noch mich bemüht, fie im Gedächtnifje zu behalten, ſodaß die andern Beitimmungen außer dem «feithalten» und «vertheidigen», nämlich «zu lehren» und «in feiner Weife» mir vollftändig wie neu hinzugefommen und als nie gehört erfcheinen.” (Das do-

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cere und das quovis modo find im Manufeript mit großen Buchitaben gejchrieben, das quovis außerdem unter: jtrichen.) „Ich denfe, man wird meiner Verficherung Glau— ben jchenfen, daß mir im Laufe von 14—16 Jahren jede Erinnerung an jene Worte volljtändig entſchwunden ift, und dies um jo mehr, da ich, im Beſitze einer fo voll- wichtigen jchriftlichen Erinnerung, nicht nöthig hatte, fie im Kopfe zu behalten. Wenn man nun die genann- ten beiden Beitimmungen wegläßt und nur die beiden in bem vorliegenden Zeugnifje angeführten beibehält, jo bleibt fein Zweifel, daß die darin enthaltene Anordnung piejelbe fei, wie die durch das Decret der heiligen Eongregation des Inder erlaſſene Vorſchrift (sc. vom 5. März 1616). Dadurch aber fcheint e8 mir hinlänglich entjchuldigt zu fein, daß ich ven P. Magister sacri Palatii von dem mir perjönlich zugefertigten Befehle nicht in Kenntniß gejeßt habe, da ja derſelbe mit dem von der Inder-Congregation verlautbarten völlig gleich ift. Auch das wird man mir zugeben, daß ich, nachdem mein Buch feiner ftrengern Cenſur unter- lag, als der von jenem Inder-Decret geforderten, bemüht war, ed von jevem Schatten eines Makels zu reinigen, indem ich dafjelbe dem oberjten Inquiſitor“ (eben dem P. Magister sacri Palatii) „vorlegte, und das gerade in einer Zeit, wo viele den nämlichen Gegenſtand behandelnde Bücher einzig fraft jenes Decrets verboten wurden. Aus dem Gefagten glaube ich die feite Hoffnung jchöpfen zu dürfen, daß meine hochwürbigen und weiſen Richter von dem Gedanken: als habe ich wiſſentlich und vorjätlich die mir ertheilten Befehle überfchritten, ablaffen und viel- mehr erfennen werben, die in meinem Buche vorfommen- den Verftöße feien feineswegs verjtohlen und mit Hinter- liſt darin eingeführt worden, fondern fie jeien mir lediglich

56 Die Broceffe gegen Galileo Galilei

aus der Feder gefloffen, weil ich in eitelm Ehrgeiz jcharf- finniger habe erjcheinen wollen als andere Schriftiteller. Ich habe das bereit8 in meiner vorigen Ausſage befannt und bin bereit, dieſen Fehler wieder gut zu machen, wenn mir dies von den hochwürdigen Herren anbefohlen over geftattet wird. Schlieflich bitte ich um Berüdjichtigung des bemitleivenswürdigen förperlichen Zuftandes, in ben ih, ein Siebziger, durch den zehmmonatlichen Kummer und bie Bejchwerden einer langen mühjamen Reiſe in ver ſchlimmſten Jahreszeit gerathen bin, ſodaß ich auf den größten Theil der Lebensjahre, welche die frühere Be— ihaffenheit meiner Gejundheit in Ausficht jtellte, mol werde verzichten müfjen. Mein Vertrauen in die Huld und Gnade der hochwürdigſten Herren, meiner Richter, gibt mir den Muth zu dieſer Bitte. Mögen fie gütigit, angefichts jo vieler Leiden, bei dem hHinfälligen Greife, ber fich ihrem Schute unterthänigft empfiehlt, von der ganzen Höhe der verbienten Strafe abjehen.“

Man athmet bei diefer Vertheivigungsjchrift erleich- tert auf; endlich hat fich Galilei ermannt, zwar nicht zu einer fühnen, aber doch würdigern Sprache als bisher; jeine juridiſchen Motive find Elar und wahr; rechtlich ſtand die Sache jo, wie er fie auffaßt und darſtellt. Daß er noch eine captatio benevolentiae einfließen läßt, mag fih aus dem Gefühl der Furcht erklären, von der er nun einmal nicht los konnte. Manches wird auch auf die üb- lichen böflichen Formen amtlicher Eingaben zu jegen fein. Bon einem „Gewimmer‘ zu reden (wie es Fribolin Hoff- mann in jeiner „Gejchichte der Inquifition”, Bonn 1878, thut, deſſen Ueberjegung und Anführung der Actenftüde wir zum Theil gefolgt find), liegt wenigftens bei dieſer Vertheidigungsichrift feine Veranlaſſung vor.

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Das erjte Actenjtüd*) ift ein Hiftorifches Referat über den Verlauf der beiden Proceſſe bis zu diefem 10. Mai. Es wird an der Zeit fein, bier nach Gebler einiges über die Acten ſelbſt einzuschalten. Sie bilden heute einen ziem- (ih jtarfen Duartband von 22 cm Breite und 30 cm Höhe. Das Manufeript hat nicht weniger als 194 un- bejchriebene Seiten, theils Rückjeiten, theil® zweite Blätter von Documenten. Es läßt fich aber leicht finden, zu welchem Actenjtüde jenes weiße Blatt gehört. Im der Paginirung des Manuſeripts herrſcht die allergrößte Un- ordnung. Es gibt eine dreifache Numerirung. ‘Die alte Numerirung umfaßt ſämmtliche Actenftüde, die zum Pro- cefje vom Jahre 1616 gehören; fie waren in einem Bande des Archivs des heiligen Offictums erhalten, ver die Num- mer 1181 trug. Die Nctenjtüde des zweiten Procefjes (1632/33) müffen einem andern Bande jenes Archivs an- gehört haben, wie aus ihrer PBaginirung hervorgeht, die auf dem erften Documente, dem großen Bericht der zur Borunterfuhung eingefegten Specialcommiffion an ven Papſt, die Ziffer 387 aufweift. Als man nun die Acten der beiden Galilei'ſchen Procefje aus den zwei verſchiedenen Bänden heraushob und miteinander verband, wurde zur Erzielung einer fortlaufenden Pagination die alte Be— zifferung bes erjten Procefjes gejtrichen und viefelbe da— durch erjegt, daß man vom erften Folio des zweiten Pro- cefjes nach rüdwärts zählte und danach paginirte.

Hierzu fommt aber noch eine dritte Paginirung, die auf dem untern Rande des Papiers angebracht iſt, umd auf dieſe wird in der hiftorifchen Einleitung wiederholt bingewiefen; fie veicht aber nur fo weit als die Acten,

*) Das ganze Actenftüd enthält nicht weniger al8 131 Num— mern.

58 Die Proceffe gegen Galileo Galilei

welche von den Greigniffen bis zum 10. Mat handeln. Daher mag in biefer Zeit nach dem 10. Mai bis zum 21. Iuni (dem nächſten Verhöre Galilei’8) die Vereini— gung der Acten entjtanden fein, und zwar durch ven Ber- faffer der hiſtoriſchen Einleitung, der zugleich Dieje neue Paginirung beforgt haben mag. (Wir jegen Hinzu: zu ichnellerer Drientirung für ſich. Tinte und Charafter der dritten Numerirung jtehen in genauer Webereinftim- mung mit der zweiten Pagination. Iſt dieſes richtig, dann wird man auch Gebler darin zuftimmen müſſen, daß dieſe hiftorifche Einleitung für den Papft und bie Congregation abgefaßt fein mag behufs Feititellung bes Schlußverfahrens gegen Galilei. Das erklärt vollfommen das Tendenziöſe diefer Inhaltsüberficht, in der alles zu Ungunften Galilei’ zufammengeftellt iſt. Hier find bie Annotationen vom 25. und 26. Februar 1616 in Eins verſchmolzen. Schon die erjtere enthält das verfängliche quovis modo. Bellarmin ertheilt dem Galilei ven pre- cetto di lasciate e non tractare in modo alcuno di opinione dell immobiliatä del sole, della stabi- lità della terra. Das zweite hat nur an Stelle des relinquere ein deserere. Das vernichtende Selbjtbefennt- niß Galilei's aber vom 30. April hat der Auszug ganz, während feine Vertheidigungsichrift abgekürzt wiederge— geben ift. Offenbar follte Galilei dadurch doppelt belaftet ericheinen; auf der einen Seite fein völliges Geſtändniß, auf der andern jeine klare Rechtöverwahrung. In dieſe Zeit paßt alfo der Auszug ganz gut hinein. Auffallend bleibt aber immerhin, daß er an eriter Stelle in ven Ücten fteht. Das hat Wohlwill auf den Gedanfen ge— bracht, die Abfaffung dieſes Auszuges in die Zeit der Wegführung der Acten nach Paris zu verlegen. Er follte gewiſſermaßen die Inquifition vor der Welt rechtfertigen.

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Wohlwill jucht eine Beſtätigung in dem eriten Blatte, welches folgende Form hat:

Florentin: Vol. 1181. 33 Ex archivo S. Offij.

L Con (= contra)

Galileum Galilei Mathematicum.

Dem ex archivo will und da eine zu große Bedeu— tung beigelegt erjcheinen. Wermuthlich tragen boch alle Actenjtüde dieſes ex. Ganz unbeachtet wird indeß biefe fühne Combination nicht bleiben fünnen, zumal ein an— deres hiſtoriſches Referat über ven Proceß, 100 Yahre ipäter abgefaßt, als es fich um die Errichtung eines Dent- mals für Galilei in der Kirche Santa-Eroce zu Florenz handelte, das vorlette des ganzen Actenjtüdes, fih an jeiner richtigen Stelle befindet.

Wir neigen uns alfo der Gebler’ichen Anficht zu. Die Situng zur Beitimmung des Schlußverfahrens fand am 16. Juni ftatt und zwar in Gegenwart des Papjtes als geborenen Präfidenten der Congregation ber heiligen römi- ichen und allgemeinen Inquifition. In der Zwifchenzeit vom 10. Mat bis 16. Juni waren noch Gutachten eingeholt worden. Auch das war vorjchriftsmäßig. Die juriftifchen und theologischen Conjultatoren fpielten bei der Entjchei- dung der Ingquifitionsprocefje jogar eine jehr wichtige Rolle; Anklage, Beweisaufnahme und Vertheidigung wur- den ihnen zur Begutachtung vorgelegt. Die „Kanoniſten“ hatten über die Art des Verfahrens und über die Be— jtrafung des Angeklagten ihr Votum abzugeben; auch eine Anwendung der Zortur wurde nicht befchloffen ohne die Confultatoren. Die Anficht der Confultatoren kann durch den Befehl des Papites erjegt werden. Eine befondere

60 Die Procejfe gegen Galileo Galilei

Willensmeinung des Papftes fteht nicht in den Galilei’ ſchen Acten. Alfo müßten die Gutachten der Confultatoren in ihnen ftehen. Sie find auch da, aber nur die ber Theologen; die der Yuriften fehlen. Entweder hat man bie Gutachten der Yuriften beifeitegefchoben, weil fie Ga— (tet günjtig waren, oder man hat fie fpäter entfernt, weil fie, entgegengejegtenfall®, die Anwendung der Xortur empfahlen. Die theologijchen Confultatoren, die über vie Ketzerei zu entſcheideu haben, fommen in den Acten voll tändig zu Worte. Ihre Namen find: Auguftin Oregius, Melchior Inchofer und Zacharias Pasqualigus. Sie Iprachen fich ziemlich übereinftimmend aus; die Gutachten jelbjt find furz. So lautet das von Inchofer:

„Meine Meinung ift, daß Galilei das Stilljtehen oder die Ruhe ver Sonne als des geſammten Centrums, um welches fich jowol die Planeten als auch die Erde in ihren eigenen Bewegungen drehen, nicht nur lehrt und vertheibigt, jondern daß er auch der feiten An— ichliefung an diefe Meinung ſehr verbächtig jei und daß er fie daher feithalte.”

Um fo ausführlicher find die von allen drei zujammen- gejtellten Gründe für die Gutachten. (Rationes quibus ostenditur Galilaeum docere, defendere, ac tenere opinionem de motu terrae.) Dieje rationes füllen bei Gebler achtzehn Seiten. Die nächjten vier Folioſeiten aber find nach Gebler in den Acten weiße Blätter. Bei ven vielen weißen Blättern, welche die Acten enthalten, kann daraus in Anjehung der juriftiichen Gutachten nichts ge— ichlofjen werben. Jedenfalls ift ihr Fehlen bevenflich.

Auf Grund diefer Gutachten hatte die Sikung vom 16. Juni folgendes Rejultat:

„Hinſichtlich Galilei’, deſſen Sache oben erwähnt, befahl Se. Heiligkeit, ihn ſelbſt ob feiner Intention zu

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befragen, und ihn nach Androhung ber Tortur und nach, wenn er ausgehalten haben wird, vorhergehender Abihwörung (comminata ei tortura, et si susti- nuerit previa abjuratione) wirffam (de vehementi) in einer Plenarfigung der Congregation, des heiligen Officiums mit Gefängniß zu bejtrafen nach dem Gut- dünken ber heiligen Congregation. Er, dem auferlegt wird, fernerhin in gar feiner Weiſe fchriftlich oder mündlich die Bewegung der Erde und das Stillſtehen der Sonne und auch das Gegentheil zu behandeln, fällt unter Strafe zurüd.‘

Se. Heiligkeit befahl alſo das examen de intentione, befahl die Androhung der Tortur, befahl eine Abſchwörung in einer Plenarfigung der Congregation, befahl die Vers urtheilung zu einer Gefängnißitrafe, deren Dauer von dem Ermefjen der Eongregation abhängen folle, befahl nun das quovis modo tractare, auch die entgegengefegte An— fchauung joll nicht behandelt werben, alles bei weiterer Strafe wegen Abtrünnigfeit.

Wir müfjen jedoch bei dieſem Beſchluß noch etwas ftehen bleiben. Es ift hier noch Gewicht zu legen auf die Worte „et si sustinuerit‘. Einige Herausgeber ber Acten haben hier ac si sustinuerit, als wenn er fie (sc. torturam) ausgehalten haben würde. Dann würde in dem Beſchluß ausprüdlich die Folter ausgefchloffen fein; nur die Androhung follte ausgefprochen werben. Allein die Lesart et ift die richtige. Gebler hat fie, und ſie wird bejtätigt durch das zweite Hiftoriiche Referat der Acten in dem vorlegten Actenftüde. In ihm heißt es con comminagli la tortura e sostenendo. Dem: nach jteht das et si sustinuerit feſt. Wie ift das zu überfegen und zu verjtehen? Das Einfachite ift die Er- gänzung von eam sc. torturam. „Und wenn er ſie aus—

62 Die Procefje gegen ®alileo Galilei

gehalten haben wird.” Der Gevanfenfortichritt des De— cretS wäre: Androhung der Tortur, Aushalten verjelben, Abſchwörung. Die Anwendung der Tortur wäre da ftill- ſchweigende VBorausfegung. Ein ausprüdlicher Befehl zur Zortur fehlte. Das hat etwas Misliches. Darum muß zugegeben werben, daß das sustinere auf das „Androhen der Zortur‘ bezogen werden kann, auf ven eriten Theil der Zortur, die fog. territio realis*), während vie ter- ritio verbalis**) ver Zortur vorangeht. Es gab eine doppelte Art der Bedrohung mit der Tortur; die erjte, nur in Worten bejtehenp, mußte der Richter anwenden, ehe er zum examen rigorosum und de intentione fchritt; bie zweite, welche in Gegenwart der Folterwerkzeuge jtatt- fand, wobei der Angeklagte entfleivet, gebunden und in die Stellung gebracht wurde, die zur eigentlichen Folte— rung erforderlih war, hieß territio realis. Um biefe wird es fich hier handeln, denn nur bei ihr kann im Ernjt von einem sustinere die Rede fein, nicht aber bei der territio verbalis. So viel aljo jcheint gewiß, daß der erjte Grad der Tortur gegen Galilei bejchloffen worden ift; daß man auch mit der Ausführung nicht gezögert, wird die weitere Unterfuchung ergeben.

Am 18. Juni hat der Papit in einer Aubienz dem toscanifchen Gejandten, Niccolini, Mittheilungen von dem Beichluffe des 16. Juni gemacht und hat dabei hinzuge- fügt, er werde die Strafe in ber mildeſten Weiſe zur Ausführung bringen. Nur müſſe verbreitet werben, bie Strafverringerung fei auf Fürſprache des Großherzogs von Toscana erfolgt. Niccolini möge in biefem Sinne an feine Regierung berichten. Dies ift gejchehen. Daraus

*) Schredung durch Handlungen. **) Schredung durch Worte,

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bat M. Cantor den Schluß gezogen, daß des Papftes Zorn verflogen war, und daß er, ohne dejjen Einwilligung feine Zortur in Rom vollzogen werden durfte, wie denn jeder Bifchof zur Anwendung der Tortur innerhalb feines Sprengels feine Zuftimmung geben mußte, die Tortur jelbft verhindert hat. Man muß aber bei den Bijchöfen von Rom vorfichtig fein und feine voreiligen Schlüffe aus ihrer Freundlichkeit ziehen. Dan braucht ihnen dabei nicht gleich Heuchelei vorzumwerfen, objchon man in Nom ſtets Meiſter in der Verſtellungskunſt gewejen ift, und vieles durch die feineren, diplomatischen Formen zu verbeden ge- wußt hat.

Drei Tage jpäter, am 21. Juni, fchritt man zum vierten, dem letten Verhör, in welchem, wie wir oben durch M. Cantor gehört haben, das examen rigoro- sum abzuhalten war (während die territio verbalis, von der wir aber in biefem Procefje nichts hören, dem dritten Verhör vorbehalten war) und in welchem nach dem De— cret vom 16. Juni das examen de intentione, das ge- jteigerte examen rigorosum, vorgenommen werden follte. Dieſes Eramen wurde, wie jchon erwähnt, in Gegenwart der Folterwerkfzeuge abgehalten. Wir ergänzen e8 durch einige Angaben aus einem Werke, welches ein Repertorium der Inquifitionsgebräuche ift. Dieſes Werf heift „Sacro Arsenale vero Prattica dell’ officio della Santa In- quisitione”. Alfo die Praris der Inquifition wird darin mitgetheilt. Pasqualoni hat es herausgegeben; die erjte Ausgabe erjchien im Jahre 1625. Demnach haben wir in ihm ganz beitimmt die, Gebräuche zur Zeit unfers Procejjes. Seine Angaben beruhen auf ven Verordnungen der Päpite und der Congregation des heiligen Officiums zu Rom. Der erjte Abjchnitt handelt „vom Verhör des Angeklagten auf der Folter“ („Del modo d’ interrogare

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i Rei nella tortura‘). An der Spike dieſes Abjchnittes jteht folgender Satz: „Hat der Angeklagte die ihm zur Laft gelegten Vergehen geleugnet, und find dieſelben nicht vollftändig erwiejen, hat er dann in dem ihm für feine Vertheidigung bezeichneten Termine nicht® vorgebracht, was ihn rechtfertigt, oder durch feine Vertheidigung ſich nicht vollftändig von den Indicien gereinigt, bie fich gegen ihn aus dem Proceß ergaben, jo ift e8 nothwendig, zur Erlangung der Wahrheit gegen ihn zum examen rigo- rosum zu fjchreiten, da die Tortur gerade dazu er- funden iſt, den Mangel an Zeugen zu erjegen, wenn fie einen vollftändigen Beweis gegen den Angeklagten nicht erbringen fönnen. Was erhellt hieraus? examen rigo- rosum und Zortur werben ibentificirt. In diefem ganzen Abjehnitt werben, wie Wohlwill bezeugt (aus dem wir jelbftverftändlich jchöpfen), esamina rigorosa und esamina nella tortura gleichbedeutend gebraucht. Ferner macht Wohlwill darauf aufmerffam, daß in dem ſehr ausführ- lichen Regifter am Ende des Buches, das wol für ven praktischen Handgebrauch der Inquifition zuſammengeſtellt, das Wort „esamina rigorosa” fehlt, und daß alles, was das Buch darüber enthält, unter dem Artifel tortura oder examinare in tortura jteht. Auch nach dieſem „Sacro Arsenale” joll ver Richter zuvor mit der Tortur bedrohen, ehe er zum examen rigorosum ſchreitet. Die territio verbalis jteht demnach "außerhalb der Zortur, und es kann fich bei Galilei nur um die territio realis handeln. Außerdem war es Nechtöregel paria esse torturam et terrorem. Demnach werden wir uns das vierte Verhör nella tortura vorzustellen haben. Wie verlief e8? Das Protokoll in den Acten beträgt faum zwei Seiten. Ingquifitor. Ob er daran fefthalte und daran fejt- gehalten habe und feit welcher Zeit, daß die Sonne und

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nicht die Erbe das Centrum der Welt fei und die Erbe fih auch in täglicher Umbrehung bewege?

Galilei. Vor langer Zeit, d. h. vor der Entſcheidung ver heiligen Inder-Congregation, und ehe mir jener Be— fehl ertheilt worden war, blieb ich unentjchievden und hielt beide Meinungen, jene des Ptolemäus und die Koper- nifanifche für ftrittig, weil die eine wie die andere mit der Wirflichfeit ftimmen fonnte. Nach der oben erwähn- ten Entjcheivung aber hielt ich, von ber Weisheit der Dbern überzeugt, und alle Ungewißheit abwerfend, vie Meinung des Ptolemäus, das ift: Stillitand der Erbe und Bewegung der Sonne, für vollftändig wahr und uns zweifelhaft.

Der Inquifitor bemerkt ihm nun mit Recht, daß fich aus feinen „Dialogen“ die Vermuthung ergebe, er ſei An— hänger der Kopernifanifchen Lehre geblieben auch nad jener Zeit; er jolle offen die Wahrheit geftehen, ob er daran fejthalte over fejtgehalten habe.

Galilei. Was die „Dialoge“ anbelangt, jo habe ich fie nicht deshalb gefchrieben, weil ich die Kopernikaniſche Meinung für wahr hielt; ich habe vielmehr einzig in dem Glauben, für das allgemeine Beſte zu handeln, die na- türlihen und aſtronomiſchen Beweisgründe dargelegt, bie fih für die eine wie für bie andere Anficht vorbringen laffen; dabei war ich bemüht, zu zeigen, daß weder bie erftern noch die lettern, weder die für das Ptolemäifche noch die für das Kopernifanifche Syſtem entjcheidende Beweiskraft befigen, und man folglich, wenn man eimas Sicheres haben wolle, feine Zuflucht zu der aus höhern Lehren gejchöpften Entſcheidung nehmen müſſe; jehr viele Stellen der „Dialoge könnten hierfür zum Beweiſe dienen. Sch ſchließe alfo vor dem Nichterftuhle meines EEE

XXIV.

66 Die Proceffe gegen Galileo Galilei

daß ich nach der Entjcheivung der Obern die verbammte Lehre nicht feitgehalten habe, noch fie feithalte.

Der Ingquifitor bezweifelt die Nichtigkeit diefer Vor— jtellung und fügt hinzu, wenn er fich nicht entjchließe, die Wahrheit zu geftehen, werde man mit den geeigneten Rechtsmitteln gegen ihn verfahren. Das ift die Tor— tur, denn dieſe war nicht Strafe, jondern das anerkannte Rechtsmittel, um die Wahrheit zu erforjchen.

Galilei. Ich halte diefe Meinung des Kopernikus weder feft, noch habe ich an ihr feftgehalten, nachdem mir befohlen war, fie aufzugeben. Uebrigens habt ihr mich ja in Händen; thut mit mir, was euch gut dünkt.

Es folgt eine wiederholte Mahnung, die Wahrheit zu jagen, und es fchließt das Protokoll wie folgt:

Es wird ihm bebeutet, die Wahrheit zu fagen, font wird zur Tortur gejchritten werben (alias devenietur ad torturam).

Er antwortete: Ich bin da, um Gehorfam zu leiften, und habe, wie gejagt, diefe Meinung nach der erfolgten Entſcheidung nicht feitgehalten.

Und da in Ausführung des DecretS (in executionem decreti sc. vom 16. Juni) nicht anderes erlangt werden fonnte, wurde er nach gejchehener Unterfchrift nach feinem Plage (ad locum suum) zurüdgejchidt.

Jo Galileo Galilej ho deposto come di sopra.

Diefe Unterfchrift Galilei's ift, wie Gebler hervorhebt, im Unterſchiede von den andern Unterjchriften, mit auf- fallend zitternder Hand gejchrieben. Dies würde fich aus ver territio realis erflären. Iſt aber diefe in dem alias devenietur ad torturam zu finden? Mean hat darin nur die territio verbalis ſehen zu können gemeint und darum diefes Protokoll als im Wiberfpruche mit vem Decret vom 16. Juni ftehend bezeichnet und das, obwol e8 am Schluffe

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heißt „in executionem decreti”. Wohlwill erflärt daher den ganzen Schluß für gefälfcht; er bat nicht weniger als 30 Seiten hierüber gejchrieben; feine Darlegungen können überzeugend genannt werden. Wir heben nur das eine hervor, daß hier in dem Schluffe das impositum silen- tium sub iuramento fehlt, was fonft in allen mit Galilei angeftellten Verhören fteht. Diejes Protokoll hat die Aus- führung des examen de intentione nicht und doch redet nachher auch das Schlußurtheil von der Ausführung des examen rigorosum. Wir halten e8 indeß nicht für unmöglich, in dem devenietur ad torturam die territio realis zu finden. Man befand fich auf der Zortur und drohte num, fich unmittelbar zur Anwendung der Tortur zu wenven. Auch das „ich bin in euren Händen, macht mit mir, was ihr wollt“ läßt fchließen, daß man nella tortura war. ‘Das devenire wird bei Cicero z. B. in der Verbindung ad potestatem ejus gebracht, aljo in bie Gewalt jemandes gerathen. Man könnte darum devenire ad torturam überjegen, in die Tortur gerathen, d. h. bie fofortige Anwendung der Tortur. Allerdings den Eindrud wird man nicht los, daß hier am Schluffe des Protokolls nicht alles in Ordnung ift. Dahin gehört auch das „ad locum suum“. Man deutet e8 wol richtig auf das Haft- Iocal im Inquifitionsgebäupde. Db er aber in die frühern Gemächer zurüdgebracht oder ob er in den Kerker des Dffictums geworfen wurde, weiß man nicht. Das ad carcerem condemnandum in dem Edict vom 16. Juni läßt auf das letztere ſchließen. Sicher ift, daß er drei Tage im Gebäude der Inquiſition blieb.

Am 22. Juni wurde Galilei in die Dominicanerfirche Santa-Maria jupra Minerva geführt und ihm bier vor ven Carbinälen der Inquifition und vielen andern Prä- Iaten fein Urtheil verfündet. Der Wortlaut deſſelben ift:

5*

68 Die Brocefje gegen Galileo Galilei

„Bir (folgen bie zehn Namen) durch Gottes Barm- herzigfeit Garbinäle der heiligen Römifchen Kirche, Special-Inquifitoren des heiligen Apoftoliichen Stuhls für die Geſammtkirche.

„Da du Galilei, Sohn des Vincenzo Galilei aus Florenz, 70 Jahre alt, im Jahre 1615 bei dieſem heiligen Offictum angezeigt wurbejt, daß du die faljche, vielverbreitete Lehre: die Sonne bilde das Centrum der Welt und fei unbeweglih, und die Erbe bewege fih in täglicher Umdrehung, als eine wahre feithalteit; ferner, daß du einige Schüler habejt, welche du in diefer Lehre unterrichteft, daß du mit einigen Mathe— matifern in Deutjchland über dieſe Lehre eine Corre— ſpondeuz unterhalteft; ferner, daß du einige Briefe er- ſcheinen ließeft mit vem Zitel «Leber die Sonnenfleden», in welchen bu dieſe Lehre als wahr erflärtejt; und weil du auf die Einwürfe, die dir zu wieberholten malen aus der Heiligen Schrift gemacht wurden, burch Erflärung der Heiligen Schrift nah Deinem Sinne antwortetejt; und da eine Abjchrift eines in Briefform verfaßten Schriftſtückes vorgelegt ward, welches fich als ein von dir an einen frühern Schüler (P. Caſtelli) gejchriebenes herausitelfte, und du darin der Hypotheſe des Kopernifus anhängend, einige Säge gegen ven wahren Sinn und die Autorität der Heiligen Schrift aufnimmit:

„Aus allen diefen Gründen wollte das heilige Tri- bunal gegen die Ungehörigfeiten und Nachtheile, vie daraus entjpringen und zum Schaden bes heiligen Glaubens überhandnehmen, Fürjorge treffen, und es wurben im Auftrage unjers Herrn, des Papftes, und ihrer Eminenzen ber Herren Carbinäle dieſes oberften und allgemeinen Inquifitionsgerichtes von ben theolo-

vor der Inguifition in Rom. 69

giſchen Sachverftändigen die Behauptung von dem Still- jtehen der Sonne und der Bewegung der Erde fol- gendermaßen begutachtet:

„Der Satz: die Sonne fei im Centrum ber Welt und ohne Bewegung von Drt zu Ort, ift abfurb und philoſophiſch falſch und formell ketzeriſch, weil er aus- drücklich der Heiligen Schrift widerfpricht.

„Der Sat: die Erde ſei nicht das Centrum der Welt und nicht unbeweglich, fondern bewege fich, und zwar auch in täglicher Umprehung, iſt ebenfalls ab- jurd und philofophifch wie theologiich falſch und zum mindejten irrig im Glauben.

„Da e8 uns indeffen gefiel, mit Milde gegen dich zu verfahren, fo wurde in der am 25. Februar 1616 in Gegenwart unfers Herrn, des Papftes, gehaltenen Eongregation bejchloffen: Se. Eminenz ver Herr Car⸗ binal Bellarmin ſolle dir auftragen, die erwähnte faljche Lehre ganz aufzugeben und im Weigerungsfalle follte dir vom Commiſſar des heiligen Dfficiums der Be— fehl ertheilt werben, diefe Lehre zu verlaffen, weder andere darin zu unterrichten noch dieſelbe zu verthei- digen oder zu erörtern, und, fall® du dich bei dieſem Befehle nicht beruhigen würdeſt, folle man dich ein— ferfern. Behufs Ausführung dieſes Decretd wurde dir tags zuvor im Palafte Sr. Eminenz, des genannten Cardinals Bellarmin, nachdem du von ihm mit Milde ermahnt worden warft, von dem damaligen Herrn Com— mifjar des Heiligen Offictums in Gegenwart eines No- tar8 und vor Zeugen der Befehl ertheilt, daß du von der erwähnten falſchen Meinung gänzlich abjtehen mö- geft, und daß es bir in Zufunft nicht erlaubt jet, fie zu vertheidigen ober im irgendeiner Weile zu lehren,

70 Die PBroceffe gegen Galileo Galilei

weder mündlich noch jchriftlich; und al8 du Gehorfam verjprochen hatteſt, wurdeſt du entlafjen.

„And damit eine jo verberbliche Lehre gänzlich aus— gerottet werde und nicht weiter zum großen Schaben ber fatholiihen Wahrheit um fich greife, erjchien von der heiligen Congregation des Inder ein Decret, durch welches jene Bücher verboten wurden, die von ber oben bezeichneten Lehre handeln, und bieje lettere wurde für falſch und der Heiligen, Gottes Wort enthaltenden Schrift als völlig widerſprechend erflärt. Und als end— lih im leßverfloffenen Iahre zu Florenz dieſes Buch erichien, dejjen Titel zeigte, daß du der Verfaſſer des- jelben ſeieſt, da zugleich die heilige Congregation er— fahren hatte, daß durch den Drud des vorgenannten Buches die faljche Lehre von der Bewegung der Erbe und dem Stillitehen der Sonne täglid mehr Boden gewinne: jo wurde dieſes Buch forgfältig unterjucht und in bemjelben offenbar eine Webertretung bes er- wähnten DBefehles, welcher dir ertheilt worden war, gefunden, weil bu in bdemjelben Buche die erwähnte, ſchon verdammte und in beiner Gegenwart als ver- dammt erklärte Lehre vertheidigt hatteft, wenngleich du in biefem Buche dich bemühteft, durch verjchiedene Nedeformen die Meinung zu erweden, fie ſei von bir als unentjchieden und nur wahrjcheinlich gelaffen, was gleichfalls ein grober Irrthum ift, da eine Lehre gewiß nicht wahrjcheinlich fein kann, die bereits als der Hei- ligen Schrift wiberfprechend befunden und erflärt wor- ben ijt.

„Deshalb wurdeft du auf unfern Befehl vor biejes heilige Officium vorgeladen, wo du im DVerhör eiblich befannteft, das Buch fei von bir gefchrieben und in Drud gegeben worben. Ferner befannteft du, daß bu

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vor beiläufig zehn oder zwölf Jahren, nachdem dir ber mehrerwähnte Befehl ertheilt war, das ge- nannte Buch zu fchreiben begonnen habeft; ferner, daß du um Erlaubniß nachgefucht, vafjelbe zu veröffent- lichen, ohne benjenigen, die dir die Ermächtigung dazu gaben, anzuzeigen, daß dir befohlen worben fei, an biefer Lehre in Feiner Weiſe feitzuhalten, zu vertheidigen noch zu lehren.

„Du befannteft gleichfalls, der Inhalt des genannten Buches fei an vielen Stellen fo verfaßt, daß der Leſer bie für die faljche Meinung vorgebrachten Gründe eher für beweisfräftig und überzeugend als für wiberlegbar halten könne; zu deiner Entfchuldigung machſt du gel- tend, bu jeieft dadurch in biefen deiner Abficht ganz fern gelegenen Fehler gerathen, weil bu das Bud in Form eines Zwiegeſprächs abgefaßt habeft, und auch verleitet von dem natürlichen Wohlgefallen, das jeder an Icharffinnigen Erfindungen habe und das uns ver- führe, finnreiche und probabel klingende Reden jelbjt zu Sunften von falſchen Behauptungen zu erbenfen, um geiftreicher zu erjcheinen, als e8 die andern Leute find.

„Nachdem dir ein angemefjener Termin zur Ab- fafjung einer Schrift zu deiner Vertheibigung bewilligt worden war, brachteft du ein handjchriftliches Zeugniß vor, das du dir von Sr. Eminenz, bem Herrn Gar- dinal Bellarmin, verjchafft hatteft, um dich, wie bu jagteft, gegen die DVerleumdungen deiner Feinde zu vertheidigen, welche behaupteten, du habeſt abgejchworen und feieft von dem heiligen Officium mit einer Strafe belegt worden, In dieſem Zeugniß wird nun gefagt, daß du weder abgeſchworen habeft noch beftraft worden feieft, fondern man habe dir nur das von unferm Herrn, dem Papfte, gegebene und von der Congregation bes

72 Die Proceffe gegen Salileo Galilei

Inder veröffentlichte Decret zur Kenntniß gebracht, des Inhalts: dag die Lehre von der Bewegung der Erde und dem Stilfeftehen der Sonne der Heiligen Schrift zumwiberlaufe und deswegen nicht vertheidigt und nicht feftgehalten werben dürfe. Weil darin fomit feine Er- wähnung der zwei Bejtimmungen bes Befehls gejchteht, nämlich: fie auch nicht «zu lehren» und auf «feine irgendwelche Weife» zu vertheidigen und feftzuhalten, jo müfje man, fagjt du, annehmen, daß fie dir im Berlaufe von 14—16 Jahren aus dem Gedächtniß ent- fallen ſeien; infolge deſſen habeft du ven Befehl ver- ichwiegen, als du um die Druderlaubniß für das Buch nachjuchteft. Dies werde aber nicht von dir vorgebracht, um deinen Irrthum zu entjehuldigen, fondern damit er deinem eiteln Ehrgeiz, nicht deinem böſen Willen auf die Rechnung gejchrieben werde. Aber gerade dieſes Zeugniß, welches du zu deiner Vertheidigung bei— brachteit, hat deine Sache noch verjchlimmert, injofern e8 ausdrücklich darin heißt: die mehrerwähnte Lehre ei der Heiligen Schrift zuwider, und du trotzdem e8 wag— tejt, diejelbe zu erörtern, zu vertheibigen und als wahr- icheinlich darzuftellen. Ueberdies fpricht die von Dir mit Liften und Künften herausgelodte Erlaubniß Feines- wege zu beinen Gunſten, da bir dabei den bir aufer- legten Befehl nicht mittheilteft.

„Beil e8 uns aber fchien, daß du in Betreff deiner innerften Willensmeinung, die dur bei der Abfaffung des Buches hegteft, nicht die volle Wahrheit gefagt habeft, fo erachteten wir e8 für nöthig, zum peinlichen Verhör gegen dich zu fchreiten, in welchem bu (ohne irgenb- wie den Dingen, welche du bereits befannt haft und ben Folgerungen, die fich hieraus ſchon zur Beurthei- fung deiner Gefinnung ergaben, Eintrag zu thun),

vor ber Inquifition in Rom. 713

fatholifch geantwortet haft. Deshalb find wir nach Ein- fihtnahme und reiflicher Erwägung des in deinem Pro- cefje Borliegenden und nachdem wir deine oben ange: führten Bekenntniſſe fowol wie beine Entjchulpigungen, furz alles das, was im Verlaufe des Rechtsganges zu unterjuchen war, pflichtmäßig in Betracht gezogen haben, zu nachfolgendem Schlußurtheil gelangt:

„Unter Anrufung des allerheiligften Namens unfers Herrn Jeſu Chrifti, fowie der glorreichiten Mutter und unbefledten Jungfrau behaupten, verkünden, urtheilen und erklären wir durch diefes unfer Schlußurtheil, das wir, Recht fprechend, nach dem Rathe und dem Gut- achten der ehrwürdigen Lehrer der Theologie und ber Doctoren beider Rechte al8 unferer juriftiichen Bei— ftände, in biefem Schriftſtück niederlegen bezüglich der von uns verhandelten Frage und Fragen zwijchen Sr. Magnificenz Karl Sincerus, Dr. utriusque und Fiscal- Procurator dieſes heiligen Officiums eimerfeit3, und zwijchen dir Galileo Galilei andererſeits, der bu wegen bes hier vorliegenden, procefjualiich verhandelten Buches angeklagt, unterfucht, verhört und wie oben ge- ftändig warft, daß bu, vorgenannter Galilei, wegen deſſen, was fich im Procefje ergab und du felbjt wie oben gejtandeft, dich bei diefem heiligen Offictum ber Härefie jehr verdächtig gemacht habeft, d. h., daß du eine Lehre geglaubt und fejtgehalten haft, welche falſch und der Heiligen Schrift, vem Worte Gottes, zuwider ift, nämlich: die Sonne fei das Centrum des Weltalls und biejelbe bewege fich nicht von Oſten nach Weiten; dagegen bewege fich die Erde und fer nicht das Gen- trum der Welt, und es fünne dieſe Meinung für wahr- iheinlich gehalten und vertheidigt werden, nachdem fie doch als der Heiligen Schrift zumwiderlaufend befunden

74 Die Procefje gegen Galileo Galilei

und erflärt worten war; daß du infolge deſſen in alle firchlichen Cenſuren und Strafen verfallen ſeieſt, welche burch die heiligen Kanones und andere allgemeine ober befondere päpftliche Decrete über derartige Schuldige ausgejprochen und verhängt find. Won biejen wollen wir dich freifprechen, fobald du mit aufrichtiger Ge— finnung und ungeheucheltem Glauben die vorgenannten Irrthümer und Kebereien, jowie jeden andern der ka— tholifchen und apoftolifchen Kirche zumwiderlaufenden Irr⸗ thum nach der Formel, wie fie dir von und wirb vor- gelegt werben, abjchwöreft, verwünfcheft und verfluchſt.

„Damit aber dein jchiwerer und verberblicher Irrthum und Ungehorfam nicht ganz ungeftraft bleibe und bu in Zukunft vorfichtiger verfahreft, auch andern zum Bei— ſpiel dieneft und fie von vergleichen Vergehen zurüd- ſchreckeſt, ſo verordnen wir, daß das Buch «Dialog von Galileo Galileiv durch eine öffentliche Verordnung ver- boten werde, dich aber verurtheilen wir zu förmlicher Kerferhaft bei diefem heiligen Officium für eine nach unferm Ermefjen zu beſtimmende Zeitbauer und tragen bir als heilfame Buße auf, in den brei folgenven Sahren wöchentlich einmal die fieben Bußpfalmen zu beten, indem wir uns vorbehalten, die aufgeführten Strafen und Bußen zu ermäßigen, umzuändern, ganz oder theilweije aufzuheben.

„So fagen, verfünden und erflären wir bie unter- zeichneten Cardinäle.“

Es folgen die Unterjchriften; doch haben nicht bie zehn in der Ueberſchrift genannten alle unterzeichnet, ſondern nur fieben, die drei fehlenden find die von Francesco Barberini, dem Neffen des Papftes, von Gaspar Borgia und von Laudovico Zacchia. Ehre diefen Männern!

vor ber Inquifition in Rom. 75

Daß dieſe Schlußſentenz der Inquifition nicht zum Ruhme gereicht, dafür ift der befte Beweis, daß fie fich nicht in den Driginalacten befindet. Im dieſen folgt auf das Protokoll vom 21. Juni eine Annotation des Papftes pom 30. Juni, nach welcher diefe Schlußtenvenz und bie (unten folgende) Abſchwörung Galilei's allen päpstlichen Nuntiaturen und Inquiſitoren mitgetheilt werden follte. (In den Acten finden ſich die Empfangsbejcheinigungen von 34 Biſchöfen und Inguifitoren italieniiher Städte, ſowie von fünf päpftlihen Nuntien in andern euro- päiſchen Ländern.) Diefe Schlußjentenzen pflegten in ber Mutterfprache des Angeklagten abgefaßt zu werben; troß der vielen Copien ift nur eine in italienischer Sprache auf uns gefommen. Ein wiffenfchaftlicher Gegner Gali- lei's, mit Namen Polacco, hat fie uns in feinem „Anti- copernicus Catholicus seu de terrae statione et de solis motu contra Systema Copernicanum catholicae assertiones auctore Giorgio Polacco” (Venedig 1644) überliefert. Sie gilt als Abdruck eines Originaldocuments. Sieben Jahre fpäter hat Riccioli in feinem „Almagestum novum” den lateinischen Text der Sentenz publicirt, alſo ber an bie nichtitalienifchen Inquifitoren verjandte. Auf den Mittheilungen dieſer beiden Männer beruht unfere Kenntniß der Schlußfentenz. Man hat demnach in Rom ipäter ohne Zweifel das Gefühl des Unrechtd gehabt. Sehen wir und das Urtheil noch etwas genauer an.

Die Richter wiederholen zuerft nur die Anklagen und gehen über ven Einwurf des Angeflagten, daß ihm nicht noch ein ſpecielles Verbot gegeben, was er durch das Zeug- niß Bellarmin's erhärtet, mit Stillſchweigen hinweg, ja, ohne weiteres drehen fie das Zeugniß gegen ihn, da es ja die Kopernifanifche Lehre als ſchriftwidrig bezeichne und da er an biefer jchriftwidrigen Lehre feitgehalten. Das

76 Die Proceſſe gegen Galileo Galilei

Protofoll vom 26. Februar 1616 wird ohne Gewifjens- bedenken als juriftifche Waffe gegen Galilei benutzt. Diefe Schlußſentenz entjcheivet aber auch die Torturfrage. Sie hebt ganz bejonvers hervor, daß gegen Galilei zum exa- men rigorosum gejchritten fei, wie e8 Durch das Decret vom 16. Juni angeordnet war, worüber aber das Pro- tofoll vom 21. Juli ſchnell Hinwegeilt. Nach den Vor- Ihriften des „Sacro Arsenale” muß eine;notarielle Auf- zeichnung darüber gemacht werben, in welcher Weije ver Angeklagte gefoltert, beziehungsweife geſchreckt, worüber er gefragt und wie er geantwortet habe. Das Protokoll vom 21. Juni bat darüber nichts; wohl aber die Schluß- jentenz. Sie hat das verrätheriiche catholice respondere. Galilei hat Fatholifch geantwortet, d. h. er hat jede ketze— riihe Gefinnung geleugnet. Werner enthält diefer Pafjus der Schlußſentenz eine Claufel, die nur auf die Tortur angewandt wurde. Wir jegen den Pafjus hierher: „Cum vero nobis videretur non esse a te integram veri- tatem pronunciatum circa tuam intentionem, iudi- cavimus necesse esse venire ad rigorosum examen tui, in quo (absque praeiudicio aliquo eorum quae tu confessus es et quae contra te deducta sunt supra circa dietam tuam intentionem) respondisti catholice.”

Die Claufel „jedoch ohne irgenpwelches Präjudiz für bie von dir über deine befagte Intention befannten oder gegen dich bewiejenen Thatjachen‘ wurde nur in dem Berhör auf der Tortur angewendet. Das Verhör follte nämlich fich nicht auf Dinge erjtreden, deren der Ange- Hagte jchon vorher überführt oder deren er geftändig war. Der Gegenftand, über den das examen rigorosum ge- halten werden jollte, mußte ganz genau bezeichnet werden. Jede abjchweifende Befragung mußte daher unterbleiben;

vor der Inguifition in Rom. 17

aber auch jede nicht provocirte Neuerung des An- geflagten über andere Theile der Anflage als über vie, denen das examen rigorosum galt, follte verhindert oder in formeller Weiſe unwirfjam gemacht wer- den. Diefem Zwecke diente dieſe Claufel, und bie Richter orbneten fpeciell an, es jolle diefe Vernehmung bei jeder geeigneten Gelegenheit wiederholt reſp. als wiederholt betrachtet werden, ganz beſonders aber, wenn der Angeklagte entkleivet und angejchirrt unter der Folter- winde fteht und unmittelbar, bevor er in bie Höhe ge- zogen wird. Im der That, ein weifer Organismus! Die Anführung diefer Vernehmungsformel in der Schluf- jentenz beweijt zur Evidenz, daß man gegen Galilei zur Folter gejchritten ift.

Hierzu kommt noch, daß die Schlußjentenz auf die Gutachten der juriftischen Confultoren Bezug nimmt. Diefe find aber nicht in den Acten. Man wird feine Gründe gehabt haben, fie zu entfernen. Daraus geht hervor, daß es mit der Behauptung Gebler's, daß alle weißen Folien zweite Blätter zu vorhandenen Schriftjtüden find, feine abfolute Nichtigkeit nicht haben fan. Man bat aus den Acten einzelne Stüde entfernt, dieſelben aljo gefälfcht. Mit den Gutachten der juriftischen Conſultoren hat man e8 unzweifelhaft gethan; es wird bei dieſem einen male nicht geblieben jein.

Bemerkenswerth ift endlich noch die Gleichitellung des Herrn Chriftus und der glorreichiten Mutter und unbefledten Jungfrau Maria. Aus diefem lettern Prä- dicate ergibt fi wol, daß die Verfaſſer der Schluf- jentenz Jeſuiten waren, denn die Dominicaner waren heftige Gegner der Lehre von der immaculata con- ceptio. Erſt Pins IX. hat fie zum Dogma erhoben

78 Die Brocefje gegen Galileo Galilei

und damit den Dominicanern die bitterfte Kränfung zu— gefügt.

So viel über dieſe Schlußſentenz. Kniend Hatte fie Galilei, ver körperlich und geiftig niedergebrüdte Greis, anhören müffen, kniend mußte er feine faljchen, unfinnt- gen, der Heiligen Schrift zumiderlaufenden Meinungen abſchwören, kniend mußte er ſchwören, nie wieder über biefen Gegenftand zu jchreiben. Die Abjehwörung lautet:

„Ich, Galileo Galilei, Sohn des verftorbenen Vincenzo Galilei zu Florenz, 70 Jahre alt, perfönlich vor Gericht geftellt und Entend vor Ew. Eminenzen, ven hochwürdigſten Herren Cardinälen, Generalinquifitoren gegen bie Ketzerei in der ganzen chriftlichen Welt, die heiligen Evangelien vor Augen habend und mit den Händen fie berührend: ih ſchwöre, daß ich immer geglaubt habe, gegenwärtig glaube und mit Gottes Hülfe in Zukunft glauben werde alles, was vie heilige Fatholifche apoftolifche Römiſche Kirche fefthält, zu glauben vorftellt und Iehrt. Aber weil mir das heilige Officium von Rechts wegen durch Befehl aufgetragen hatte, daß ich jene faljche Meinung vollitändig aufgeben jolle, nach welcher die Sonne das Centrum ber Welt und unbeweglich, die Erde aber nicht Eentrum jei und fich bewege, und daß ich die genannte faljche Lehre weder fefthalten noch vertheidigen oder in irgendeiner Weiſe fchriftlih oder mündlich lehren dürfe; und weil ih, nachdem mir bebeutet worden war, bie genannte Lehre ftehe mit der Heiligen Schrift im Widerſpruch, ein Werf verfaßte und es druden ließ, in welchem ich diefe fchon verdammte Lehre erörtere und Gründe von großem Gewichte zu ihren Gunften vorbringe, ohne irgendeine abjchließende Löſung hinzuzufügen, jo bin ich demnach als der Härefie ſchwer verdächtig erachtet

vor der Inquifition in Rom. 79

worden, der Härefie nämlich, fejtgehalten und geglaubt zu haben, daß die Sonne das Centrum der Welt und unbeweglich, und die Erde nicht Centrum fet und fich bewege.

„Da ih nun Ew. Eminenzen und jedem katholiſchen Chriften diefen mit Recht gegen mich gefaßten ftarfen Verdacht benehmen möchte, fo jchwöre ich ab, verwünſche und verfluche mit aufrichtigem Herzen und ungeheucheltem Glauben die genannten Irrthümer und Ketzereien, ſowie überhaupt jeden andern Irrthum und jede Sekte, welche der genannten heiligen Kirche feindlich ift; auch ſchwöre ich fürbderhin, weder mündlich noch jchriftlich ewas zu jagen oder zu behaupten, was auf neue einen ähnlichen Verdacht gegen mich weden fünnte; im Gegentheil werde ich, wenn ich einen Ketzer oder der Ketzerei Verdächtigen antreffen jollte, ihn diefem heiligen Officium oder dem Inquifitor und dem Bifchofe des Drts, an dem ich mich befinde, anzeigen. Außerdem ſchwöre und verfpreche ih, alle Bußen zu verrichten, welche mir dieſes hei- lige Gericht ſchon auferlegt hat oder noch auferlegen wird. Sollte es mir begegnen, daß ich irgendeinem diefer meiner Verfprechen, Protefte und Eidſchwüre was Gott verhüten möge! zuwiderhandle, fo unter- werfe ich mich allen Bußen und Strafen, welche durch bie heiligen Kanones und andere allgemeine und be— jondere kirchliche Verordnungen gegen berartige Uebel- thäter beftimmt und verhängt find: fo wahr mir Gott helfe und die heiligen Evangelien, die ich mit meinen Händen berühre.

‚Sch, obengenannter Galileo Galilei, habe abgefchworen, das mir im Vorftehenden zur Pflicht Gemachte zu halten gelobt und zur Beglaubigung deſſen die vorliegende Ur- funde meiner Abſchwörung eigenhändig unterjchrieben und

80 Die Procefje gegen Galileo Galilei

fie Wort vor Wort gefprochen zu Rom im Minerva- Klojter heute am 22. Juni 1633. „Ich, Galileo Galilei, habe dieſe Abſchwörung wie oben mit eigener Hand unterzeichnet.‘

Auch diefe Abſchwörung befindet fich nicht mehr in den Acten; fie ift natürlich durch die Gegner Galilei's auf uns gefommen und durch die Ingquifition felbit. Hundert Jahre nach dem Tode Galilei's wurde zu Padua eine Gefammtausgabe der Werfe Galilei’8 veranftaltet; fie erſchien mit Firchlicher Drucderlaubnig. Den’, Dialogen‘ war aber das Urtheil gegen Galilei und jeine Abſchwörung porgedrudt. Eine Ausgabe in Bologna vom Jahre 1656 enthält die „Dialoge überhaupt nicht.

Schwerlich hat nach diefer Abſchwörung Galilei das e pur si muove gemurmelt. Die Sage hat e8 ihm an- gebichtet; biefe läßt ihn auch im Kerfer der Inguifition geblendet werden. Er wurde aber erjt in feinen aller- legten 2ebensjahren infolge eines Augenübels blind. Man ijt ficherlich nicht über die territio realis, über den erjten Grad der ZTortur, hinausgegangen. Dies wird noch be- jtätigt durch einen Brief von Galilei, in welchem er einem Freunde mittheilt, daß er am 15. Tage nach dem 21. Juni vier italienifche Miglien ohne Beſchwer zu Fuß zurücgelegt. Das find nun zwar blos anderthalb Weg- jtunden, aber doch immerhin für einen in dieſer Weife niedergetretenen Greis eine anftänbige Leiſtung. Ueber— haupt wurde man unmittelbar nach der Fällung des Ur- theil8 etwas milder, beprohte aber fpäter den Gelehrten dann umd warn mit der ganzen Strenge der Inquifition, ſodaß er, völlig eingejchüchtert, faum wagte, Bejuche an— zunehmen. Im Ingquifitionsgebäude blieb er nach ber Abſchwörung blos einen Tag. Der Papit verwandelte

vor ber Inguifition in Rom. 81

die Gefängnißitrafe in eine freiere Haft in der toscani- ſchen Gejandtichaft. Wir halten das indeß für einen übermüthigen Zug der päpftlichen Diplomatie. Der Ge- jandte wurde fo zum Gefangenwärter des heiligen Offi- ciums. Nach dem Willen feines Großherzogs reichte Ga- filei ein Gnadengeſuch ein; es wurde ihm gejtattet, ber Einladung jeines Freundes, des Erzbiichofs von Siena, Ascanio Piccolomini, zu folgen, jedoch nur unter der Be— dingung, daß er das Haus feines Gajtfreundes nicht ver- laſſe. Hier blieb er vom Juli bi8 December. Auf feine erneute Bitte erhielt er die Erlaubnif, in einer von ihm gemietheten Villa, im Kirchipiele Arcetri bei Florenz ge- legen, fich aufzuhalten, wenn er dort niemand einlade und empfange. Weiter aber erftredte ſich die Milde des Papjtes nicht. Die legten neum Jahre feines Lebens war Galilei ein Halbgefangener, unter der fteten Aufficht des Inguifitors von Florenz ftehend. Nur fein Sohn und jeine beiden Töchter, die Nonnen im Klofter San-Matteo zu Arcetri waren, weshalb er wol hierher wollte, durften zu ihm. Leider jtarb die ältefte Tochter, fein Liebling, bald darauf. Gern wäre er nun nach Florenz überge- jiedelt: er reichte ein Gejuch ein, weil er dort den Arzt beffer zur Hand habe. Die Antwort war, er möge der— artige Gejuche unterlafjen, jonjt werde man ihn nach Rom, in den wirklichen Kerfer des heiligen Officiums, zurüdbringen. Jeder, der das Leben und bie menjchliche Natur fennt, wird Galilei beipflichten, wenn er im Sabre 1636 an einen Freund fchreibt: „Sch erhoffe mir Feinerlei Erleichterung, und zwar, weil ich Fein Verbrechen be- gangen habe. Ich dürfte eriwarten, Verzeihung und Be— gnadigung zu erlangen, wenn ich gefehlt hätte; denn Fehler find e8, welche ven Fürften zur Ausübung von Milde und Gnade Anlaß geben können, während e8 fich XXIV, 6

82 Die Procefje gegen Galileo Galilei

gegenüber einem unschuldig Verurtheilten geziemt, bie ganze Strenge aufrecht zu erhalten, um zu zeigen, baß man dem Rechte gemäß vorgegangen ſei.“

Nur zeitweilig durfte Galilei während des Jahres 1638 in Florenz wohnen, nachdem jein Gefundheitszuftand ein derartiger geworden, daß er jteter ärztlicher Hülfe be- bürftig war. Berichtete doch der florentiniiche Inquifitor nah Rom, er wäre jo heruntergefommen, daß er mehr einem Leichnam als einem lebenden Menjchen ähnlich jähe. Auch hatte man ed in Kom mit Wohlgefallen bemerft, daß er eine Ehrengabe ter Generaljtaaten von Holland, eine prächtige goldene Halskette, welche ihm pie deutſchen Kaufleute zu Florenz überbrachten, zurüdgewiefen hatte. Seine Furcht vor der Inguifition war begründet; ber Inguifitor meldete hierüber nah Rom: „Galilei hat fich ftandhaft geweigert, die Sachen anzunehmen, jowol ven Brief wie die Gejchenfe, fei e8 aus Angft, dabei irgendwelche Gefahr zu laufen, in Anbetracht der War- nung, bie ich ihm fofort bei der erjten Nachricht der an— geblich bevorjtehenden Ankunft eines Abgejandten ertheilte ſei e8, weil er wirklich feine Methode der geographi- ſchen Längenmeſſung auf dem Meere nicht vervollſtändigen fonnte und fich auch nicht mehr in ber Lage befinbet, dies nachträglich zu thun, da er nun ganz blind und fein Kopf bereiter für die Würmer als für mathematische Studien iſt.“ Dieſe Nachgiebigfeit verjchaffte ihm einige Erleichterung; kaum hatte fich jedoch fein Zuftand etwas gebejjert, jo mußte er wieder nach Arcetri zurüd. Doc wurde ihm nun ein erweiterterer Umgang geftattet. Hier, in Arcetri, hat er feinen größten Schüler, Zonicelli, ge- bildet. Es ift jtaunenswerth, wieviel er noch unter dieſen unjagbar traurigen Umjtänden gearbeitet hat. Hier hat er jeine „Geſpräche über Mechanik’ gejchrieben, indem er

vor der Inguifition in Rom. 83

die Geſetze des Falles entwickelte. Nach feinen Anleitungen hat Hier fein Sohn das Modell zur erjten Penveluhr ausgeführt.

Der Tod brachte ihm Befreiung aus der Gefangen- ſchaft, brachte ihm Erlöfung von feinen entjetzlichen förper- lichen Leiden. Galilei ftarb, aufs treuefte von jeiner zweiten Tochter gepflegt, am 7. Sanuar 1642. Die In— quifition aber führte noch mit dem Todten Krieg. ALS ein noch unter ver Zucht des heiligen Officiums jtehender Keber durfte er nicht in. geweihter Erde bejtattet werben. Darum blieb ihm, dem größten Sohne feiner Familie, die Familiengruft verfchloffen; ohne alle Feierlichkeit wurde er in einem Nebenraume der Kirche Santa-Eroce zu Florenz begraben. Weder Grabmal noch Injchrift wur— den geduldet. Das folgende Iahrhundert hat auch Das nachgeholt. As man im Jahre 1734 Galilei in Florenz ein Grabmal errichten wollte, berichtete der Inquiſitor dies nah Rom. Am 16. Juni beſchloß das Heilige Df- ficium in feierlicher Sigung die Genehmigung, nachdem zuvor die theologifchen Beiräthe gehört worden waren, Die Acten im Procefje Galilei jchliegen mit folgender Entjcheidung *):

Die Herren Conjultoren waren der Meinung, e8 jolle dem Pater Inquifitor gefchrieben werben, er möchte der Errichtung eines Galilei-Denkmals fein Hinderniß in den Weg legen, möchte aber auch eifrig Sorge tragen, daß ihm die Infchrift mitgetheilt werde, welche auf dem genannten Denkmal angebracht werden foll, und möchte dieje der heiligen Kongregation berichten, damit biefe noch

*) Die Eminenzen billigten das Botum der Herren Conful- toren.

6*

84 Die Brocefje gegen Galileo Galilei

vor der Errichtung die ihr angemefjen erjcheinenden Be— fehle ertheilen könne.

So entbehrt das lange Actenſtück wenigſtens nicht des verſöhnenden Abjchluffes.

Am 12. März 1737 wurden unter Betheiligung aller Profefforen der Univerfität und vieler Gelehrten Italiens mit großer Feierlichkeit und Firchlicher Pracht die Ueber— reſte Galilei’8 aus ihrer bisherigen Ruheſtätte in das neue Maufoleum der Kirche Santa-Croce übertragen. Urban VIII. bat wahrjcheinlich fein Denkmal früher er- halten; fein Name wird wiljenfchaftlichen Forjchern und den römischen Klerifern ſtets befannt fein; der Name Galilei’8 aber erhellt, nach dem Zeugniffe Urban’s, vie Erde. Seine Erfindungen und Entdedungen haben ber Naturwiffenichaft ungeahnte Impulfe gegeben. Auf diejen beruht fein Ruhm, nicht auf feiner Vertheidigung ver Kopernifanishen Weltanjchauung. Dieſe Vertheidigung war nichts weniger als muth- und charaktervoll; ebenjo gewiß aber ift, daß Bosheit und Rachſucht die Haupt- rolle in dem Procefje gegen ihn geipielt haben, denn Ga- lilei hing feiner Kirche in treuer Liebe an. Erbat er ſich doch in feiner Gefangenschaft die Gnade, wenigjtens an den hohen Feiertagen in der benachbarten Kirche die Meffe hören zu dürfen! Und ein folder Mann ift bis aufs Blut gepeinigt worden! Welch ein Schade baburch ver Religion überhaupt zugefügt worden ijt, das entzieht fich alter menjchlichen Berechnung. Die „‚‚welterrettende Wirkſamkeit der Ingquifition ift in Wahrheit eine welt- vernichtende, denn fie hat das Fundament aller Welt: ordnung, den Glauben, im Intereffe der Eirchlichen Herr- ſchaft zerſtört. Der Atheismus in den romanifchen Ländern ift dafür Beweis genug.

Die Männer der Naturwifjenichaft, ver exacten For—

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ſchung, aber mögen nie vergefjen, was fie ber Kirche, der Reformation zu verdanken haben. Sie mögen ihr Werk treiben und die Geheimniffe der erjchaffenen Welt er- gründen; fie mögen fich aber hüten, überzugreifen in bie Welt der Erlöfung, ver Gnade; fie möchten fonjt den Aſt abjägen, auf dem fie fien. Die theologica regenitorum überläßt ihnen willig das Gebiet der Natur, kann es ihnen um jo mehr überlaffen, je mehr fie wurzelt in ber Dffenbarung, die in Chriſto Jeſu geworben. Die wahre Wiffenichaft führt nie von Gott weg, fondern ſtets zu ihm hin.

Herzog Iohann Friedrid von Weimar. (Proceß wegen Magie.) 1627 und 1628.

Die traurigfte Epoche deutſcher Gefchichte ift die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, jene Zeit, da die Hand des Bruders gegen den Bruder erhoben war und fchonungs- (08 in immerfort fich fteigernder rauher und wüſter Weije die vorhandene Cultur und ihre fpärlich entwidelten Reime zeritört wurden ad majorem dei gloriam! ... Un ſchätzbare Güter wurden vernichtet, der geiftige, fittliche und materielle Fortjchritt wurde auf faft zwei Sahrhun- derte hinaus gehinvert, die politische Ohnmacht herbei- geführt, die Bedeutung der Nation herabgedrückt, ihre Kraft zeriplittert, ihr Ehrgefühl abgeftumpft. Auf dem eigenen Boden ſah man gleichgültig den Fremden herr- ihen, ja man rief ihn fogar herein, um den Stammes- genojjen niederzumwerfen. In jener Zeit der Verrohung und der Verirrung ber Geifter blühte ver thörichtite Aber- glaube. Man nahm an, daß Deren und Zauberer bie ihwere Noth der Zeit über die Menjchen gebracht hätten, daß man Reichthum, Ehre und Macht, auf dem Wege

e Magie, ver Aftrologie und Alchemie ficher erreichen önne.

Herzog Johann Friedrih von Weimar. 87

Nicht nur die gedanfenlofe Menge, auch erlejene Geifter verfielen biefem Wahne Man fennt die Studien, die ber gelehrte Habsburger auf dem Kaiſerthrone, Rudolf IL, machte, al8 er in weltvergeffener Stille mit Tycho de Brahe am prager Hradſchin den Stein der Weifen fuchte, man weiß, daß der gewaltige Wallenftein das Geſchick aus den Sternen lefen und feine Weifungen von ihnen empfangen wollte. Ein Opfer diefes finſtern Hanges war auch ein reichbegabter Sproß tes herzoglich jachjen- weimarijchen Haufes, der einem tragiſchen Schidjale verfiel, weil er unvorfichtig mit dem Teuer fpielte.

Herzog Zohann von Sachſen (1570— 1605), ber Stammvater ded neuen weimarifchen Haufes, war in jungen Jahren geftorben und hatte feiner Gemahlin, der Fürftin Dorothea Maria, der Mutter der Erneftiner, die jchwierige Aufgabe Hinterlafjen, die unmündigen Söhne zu erziehen. Der äftefte, Johann Ernſt, übernahm, ſelbſt noch ein Süngling, 1615 die Verwaltung des Herzogthums im eigenen und im Namen jeiner unmündigen Brüder. Wenige Jahre danach, 1617, ftarb auch die Mutter, vie vermittelnde, ausgleichende Frau, deren liebevoller Zu- ſpruch zwijchen den ungleich gearteten, jungen, heigblütigen Fürjtenföhnen die Eintracht nothoürftig erhalten hatte. Unter den Brüdern entjtanden Mishelligfeiten, die fich fteigerten bi8 zu offenem Zerwürfniß. Inſonderheit ber fünfte Sohn des Herzogs Yohann, der im Jahre 1600 zu Altenburg geborene Herzog Johann Friedrich, ein mistrauifcher reizbarer junger Herr, fühlte fich zurüd- gejegt. Er hielt fich für den geijtig Befähigtiten jeiner Brüder, hatte eine ausgejprochene Neigung für die Wiffen- Schaft und verbrachte viele Stunden des Tages mit Lek— türe. Allein gerade ihm war die claffiiche Bildung, die feine ältern Brüder erhalten hatten, nicht zutheil geworben.

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Er erfannte nur zu gut die Lücken feines Wiſſens, Tegte aber den Mangel feiner Erziehung einer abfichtlichen Ver— nachläffigung von feiten feines älteften Bruders zur Laſt. Er entwidelte einen wahren Feuereifer, um durch jelbit- jtändiges Studium das Verſäumte nachzuholen. Da aber ‚bie leitende Hand fehlte, gerieth er bald im eine unge: junde myſtiſche Richtung, die fich verhängnißvoll für ihn geftalten jollte. Es z0g ihn zur Magie, zur Schwarzen Kunft. Ein italienischer Alchemift, der während einiger Zeit am Hofe zu Weimar lebte, erwedte bei dem fchon vorher zu unfruchtbaren Grübeleien neigenden Prinzen die Luft, durch geheimnißvolle Künfte in den Beſitz des Steined der Weijen zu gelangen. Wer den Stein ber Weiſen befaß, konnte nach dem bamaligen Glauben ver Menichen vie Herzen der jchönften, tugendſamſten Frauen zu heißer Liebe entzünden. Er ward hieb- und jtichfeit, fonnte fich unfichtbar machen, alle Gebrechen und Kranf- heiten heilen, fein Leben bis in das Unendliche verlängern und e8 in ewiger Jugend verbringen.

Herzog Johann Friedrich lebte indeß nicht blos feinen Studien, er verjtand auch den Degen zu führen und hoffte in der wilden, blutigen Zeit fih Ehre und Ruhm zu erwerben. Das Vorbild war der eigene Bruder, Her: zog Bernhard von Weimar, der jeinen Namen mit dem Schwerte in das Buch der Gefchichte in großen, unaus- Löfchbaren Zügen eingezeichnet hat. Im Jahre 1621 nahm Herzog Johann Friedrich, von einer Reife nach Italien heimgefehrt, bei feinem Bruder, dem Herzog Wilhelm, Kriegsdienſte. Diefer hatte e8 unternommen, für den Markgrafen Georg Trievrih von Baden-Durlach ein Heer zu werben. In der Schlacht bei Wimpfen focht der junge Prinz mit Auszeichnung. Nach der Verabichie- bung ber Truppen begab er fich nach Frankreich und in

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die Niederlande, ſodann im Vereine mit dem vor— gedachten Herzog Wilhelm zu dem Herzog Chriftian pen Braunfchweig und nahm an der Schlacht bet Stadtlohn (1623) theil. Dann trat er in bänijche Dienfte, zugleich mit feinen Brüdern Johann Ernit, bem älteften, ver Generalsrang bekleidete, und Bern hard, dem jüngften, ver gleich ihm vie Stelle eines Dberften zugewieſen erhielt.

Die beiden Brüder, Johann Ernjt und Johann Frieb- rich, ftanden fich ſchon damals feindjelig gegenüber. Der jüngere Elagte ven ältern an, daß er ſchuld fei an fei- ner lüdenhaften Ausbildung; biefer aber bejchwerte fich mit vollem Rechte über feines Bruders Mangel an Sub- orbination und erklärte deſſen Leidenfchaft für die heim— liche Kunſt der Magie für eine eined Fürſten unwürdige Berirrung. Johann Friedrich fekte auch im Lager das Studium der Magie fort. Er ftand infolge deſſen bei Dffizieren und Soldaten in dem Rufe eines Herenmeifters und Teufelsbeſchwörers. Am 20. September 1625 ent- ſpann fich beim Würfelipiele zwifchen dem Herzog Johann Sriedrih und dem Pfalzgrafen Chrijtian von Birkenfeld im Hauptquartier ver bänifchen Truppen zu Nienburg an ber Wefer ein Streit. König Chriftian IV. befahl dem Herzog Johann Ernjt, ald dem vorgefegten General ver beiven Prinzen, feinem Bruder den Degen abzuforbern. Diejer verweigerte ven Gehorfam. Nicht der König, der eigene Bruder wolle ihn vemüthigen. Er habe ven Degen jtet8 mit Ehre geführt, nur derjenige, der ihm die Schwert- band abhaue, jolle ihm den Degen nehmen. Vergeblich berief fich Herzog Johann Ernſt auf des Königs Befehl. Da fein Bruder trogig Widerftand leiftete, übermwältigte er mit Beihülfe zweier Offiziere den Wiperfpenjtigen, nahm ihm perjönlich ven Degen ab und brachte ihn in fichern

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Gewahrjam. Das Kriegsgefek beftraft aber eine folche Widerſetzlichkeit als Meuterei.

Der Dänenkönig verlangte von feinem meuteriſchen Dffizier eine Erklärung. Diefer gab an: Bei allem ichuldigen NRejpect vor des Könige Majeftät, der er gewiß nie zu nahe treten wolle, habe er doch gegen einen Affront, wie man ihm angethan, vepreciren müffen. Er ſei nicht wie ein Cavalier aus fürftlichem Geblüt, fondern wie ein Hund behandelt worden. Nicht gegen Sr. Majeftät Be- fehl, nur dagegen habe er fich verbefendirt, fein Edelmann dürfe ungeftraft fich Gleiches bieten lajjen. Es ſei um jo jchimpflicher, weil ein Bruder fich jo weit gegen ben an— bern vergeffen habe, Dies fei doppelte Schmach und Schande. Wolle der König feinen Tod, jo möge er ihm den Kopf vor die Füße legen lafjen, der Kriegsherr ge- biete wol über fein Leben, nicht aber über feine fürftliche Ehre und Reputation.

König Chriftian erkannte aus dieſer Antivort bie eigentliche Triebfeder des Widerſtandes. Er entjchied, daß der Berhaftete nicht vor das Kriegsgericht geftellt werben jolle, venn e8 handle ſich um einen Familienzwiſt, deſſen Beurtheilung ausschließlich ver Gefammtheit der ſächſiſchen Fürften zujtehe. Den Bericht, den der König anorbnete, erjtattete Herzog Johann Ernft in einer für feinen Bru- der abfälligen und deſſen Sache abträglichen Art. Er forderte zum Einjchreiten wider den unbotmäßigen Herzog Sohann Friedvrih auf, deifen Gebaren der Ehre des hochfürftlichen Haufes zumwiderlaufe.

Mittlerweile befand ſich Herzog Johann Friedrich unter der Obhut feines Anflägers im Lager zu Nienburg in ftrenger Haft. Wiederholte Verhöre wurden mit ihm abgehalten. Da der eine Hauptpumft der Anklage: Wider—⸗ fetglichfeit gegen den Befehl des Kriegsherrn, durch die

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Entjcheidung König Chriftian’s hinfällig geworben war, juchte man das Procefverfahren auszudehnen und jchon damals auf die Anjchuldigung zu erftreden: der Gefangene halte e8 mit dem „böjen Feinde”. Er wurde förmlich darüber vernommen: ob e8 wahr fei, daß er feine Seele dem Zeufel verjchrieben habe? Zuerſt wies Johann Sriedrich diefe Zumuthung mit Entrüftung von fih. Als man aber immer wieder darauf zurüdfam, und feine Ber- bindung mit dem Satan als öffentliches Geheimniß be- zeichnete, das im Lager von Mund zu Mund gegangen jei, da lächelte er höhnisch und begann mit feiner Kennt- niß der Schwarzen Kunft zu prahlen. Im richtiger Er- wägung der Wirkung drehte er ven Spieß um und drohte jeinen Brüdern, daß er fich, falls fie ihn nicht Löften, mit Hülfe feines hölliſchen Kumpans befreien, dann aber fürchterliche Rache an ihnen nehmen werde.

Das Mittel Half. Nach einigen Verzögerungen wurde Herzog Iohann Friedrich aus der Haft entlajfen. Er reichte jofort feinen Abfchied ein und ließ feine beiven Brüder, die mit ihm gedient hatten, Johann Ernſt und Bernhard, zum Zweikampf fordern. Beide lehnten es ab, jih ihm zum Kampfe mit tödlichen Waffen zu jtellen. Db die Ablehnung des Zweifampfes erfolgte, weil fie ihre Degen nicht mit dem eigenen Bruder freuzen wollten oder weil fie Furcht hatten vor feinen hölliſchen Praftifen, wiffen wir nicht. Herzog Johann Friedrich jah fich jo- mit außer Stande, feiner beleidigten Ehre ritterliche Ge- nugthuung zu fchaffen. Grollend zog er fich auf feine Befitungen im Thüringerwalde zurüd. Es waren dies die Herrichaften Ichtershaufen, Tambuchshof, Georgenthal und Reinhardsbrunn. Nah Weimar fam er nur zu— weilen des Nachts und verließ die Stadt vor Tagesgrauen, um mit feinem feiner Brüder perjönlich zufammenzutreffen.

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In dieſer Abgefchloffenheit reifte in ihm der Vorſatz, ſich gänzlih von feiner Sippe loszuſagen. Er ließ feinen Brüdern den förmlichen Vorjchlag machen, daß er allen Anfprücen auf fein väterliches Erbe entfagen wolle, wenn man ihm eine noch zu vereinbarende nicht allzu hoch ge- griffene Geldabfindung zufichern wollte. Herzog Johann Ernſt griff diefen Antrag mit Freuden auf und legte ihn dem Samilienrathe vor. Allein Herzog Wilhelm opponirte. Er wollte Frieden ftiften zwijchen ven ftreitenden Brüdern. Es gelang ihm dies indeß nur infoweit, als die Herzoge Sohann Friedrich und Bernhard fich verfühnten. Johann Ernft dagegen blieb allen Vorftellungen gegenüber unzu> gänglih. Er ftarb, ohne daß der Bruderzwiſt beigelegt worden war.

Johann Friedrich zog fich mit der Zeit immer mehr zurüd von allen Menſchen. Er fuchte die Einjamteit, verfehrte mit niemand, ſah ſogar feine Dienerjchaft nur, joweit e8 unumgänglich nothwendig war, und jchloß fich am liebften tagelang ein, mit feinen Büchern, Retorten und Phiolen. Tag und Nacht glühte die Eſſe, Tag und Nacht brodelte und fochte in den Schmelztiegeln eine ver- dächtige Maſſe. Wenn der Herzog nothgedrungen mit jremden Perfonen zuſammenkam, blieb er mismuthig und zerjtreut, entweder war er äußerſt wortfarg oder er braufte ohne fichtlichen Anlaß auf. Die faum verſtumm— ten Gerüchte über die verbammliche Urfache feines ge— heimnißvollen Treibens Tebten wieder auf. In immer weitere Kreife drang fein Ruf als Geifterbejchwörer, ber jeine Scele an Satanas dahingegeben habe, um bafür Macht und Reichthum einzutaufchen. Scheu wichen bie Bauern, denen er auf jeinen einfamen Ritter begegnete, bei jeinem Anbli zur Seite, und in Weimar waren über

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ihn die unheimlichiten Sagen im Schwange. Man mied und fürchtete den jungen Fürften.

Seine Brüder glaubten nicht länger fchweigen zu dürfen. Der Berruf, der ihn, einen Prinzen ihres Haus jes, traf, fiel gewiffermaßen auch auf fie zurüd. Sie er- wogen, wie fie dem Treiben des verbitterten Sonberlings jteuern fönnten, und famen auf den Gedanken, ihm die Nachricht von einem fenntnigreichen Adepten in den Nie- berlanden zufommen zu laſſen. Kaum hatte Johann Friedrich dieſe Botjchaft erhalten, fo verließ er fein jtilles thüringifches Aſyl, um den berühmten Mann aufzufuchen und perſönlich fennen zu lernen.

Er zog nidt aus wie ein Fürſt, fondern wie ein einfacher Edelmann. Sein Gefolge beftand aus etlichen Dienern. Er mußte fich einjchränfen, denn feine Einfünfte waren gering. Er bezog 7000 Gold— gulden jährlih, und von dieſer bejcheidenen Summe verjchlangen die alchemiftifchen Experimente mehr als die Hälfte.

Im Frühling 1626 ritt er durch Weftfalen und mollte von dort weiter in die Niederlande. Am 27. April fiel er bei LXippftabt in die Hände von fpanifchen Soldaten, bie dort im Hinterhalte lagen. Er weigerte fich zuerft, jeinen Namen zu nennen. Auf eindringliches Befragen gab er an, ein niederländifcher Rittmeiſter zu fein, der den Dienjt verlafjen habe und in feine Heimat nad) Har- lem zurüd wolle. Dieje unbeſtimmten Angaben erregten Verdacht. Die Spanier "hielten ihn für einen Spion und richteten demzufolge ihre Behandlung feiner Perſon ein. Diefe war begreiflicherweije rejpectlo8 genug. Da empörte fich jein fürjtliches Blut, und als ein Diener des Commandanten von Lippftabt ihm nicht mit gebührender Achtung begegnete, jtieß er ihm feinen Dolch in bie

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Rippen. Nun drobten die Spanier kurzen Proceß mit ihm zu machen. Er jah fich gemöthigt, Namen und Rang zu entbhüllen. Seine Brüder beftätigten feine Angaben und er ward freigelaffen, freilich erſt nach breimonatlicher Gefangenschaft. Die Reifeluft war ihm vergangen. Er fehrte in die Heimat auf fein Schloß in Schtershaufen zurüd.

Mit feinen Brüdern in offenfundigem Zwieſpalt, mit aller Welt zerfallen, unzufrieden mit fich jelbft, weil feine Erperimente mislangen und weil er ten Stein der Wei- jen durchaus nicht zu finden vermochte, laujchte er um jo begieriger den Nachrichten, die ab und zu von glüclichern Adepten zu ihm gelangten. Die bejchauliche Ruhe daheim wurde ihn läſtig. Zu Anfang des Jahres 1627 verlieh er jene Burg abermals und wandte fich nach Niederfachien. Er erreichte Nordheim, welches von den Truppen des Feldmarſchalls Tilly belagert wurde. Dort fiel er den Bor- poften in die Hände. Auch diesmal kam es zwifchen ihm und den Soldaten der Liga, denen er Auskunft über feine Perfon und feinen Reifezwed verweigerte, zu gereizten Auseinanderfegungen. Die Soldaten nahmen ihn troß tapferer Gegenwehr gefangen und brachten ihn zunächit auf die Feſte Erichsburg. Als fein Rang und Stand befannt geworben und ver Kurfürft von Sachen als das Haupt des Gefammthaufes von dem Vorfalle verftändigt worden war, wurde der Herzog nad Oldisleben an der Unftrut abgeführt. Dort aber blieb er unter ftrenger Bewachung.

Herzog Wilhelm veranlaßte, daß ſein unruhiger Bru— der zu Oldisleben, in den Hallen eines ehemaligen Kloſters, welches in den Beſitz der herzoglich ſachſen-erneſtiniſchen Linie gelangt war, feſtgehalten werden ſollte. Es ſcheint, daß die Brüder nunmehr endgültig von ſeiner Eigenſchaft

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al® Zauberer und Bejeffener überzeugt waren, denn von da an ift ihr ganzes Beſtreben darauf gerichtet, ihn des Umganges mit dem Böfen zu überführen. In jenem alten Klofter wurde ein förmlicher Kerfer eigens für ihn eingerichtet. Die ftrenge Bewachung verwandelte fich in enge Haft. Man fchien auzunehmen, daß man ihn da— durch vor der Zujammenfunft mit dem Satanas jchügen fönnte. Unter dem Commando eines Hauptmannes ftan- ven dreißig unerjchrodene, verläßliche und ungewöhnlich fräftige Neiterfnechte, die mit berechneter Sorgfalt aus— gejucht und für ihren beſondern Dienſt vereidigt wurden. Ihre Aufgabe war, den Kerker zu bewachen. Neun weis marifche Bürger wurden zur Aufficht über die Perjon und zur Bedienung des Gefangenen berufen. Auch biefe hatte man eigens in Eid und Pflicht genommen. Sie mußten Geheimhaltung alles deſſen geloben, was fie Verbächtiges und Gottloje8 in dem Benehmen des unglüdlichen Fürften beobachten würden, und waren zugleich ermächtigt, im Talle des Widerjtandes mit der Anwendung der jchärfjten Zwangsmittel und durch Gewalt den ertheilten Anordnungen Gehorfam und Er- füllung zu fichern. In der Wand des an das Zimmer des Herzogs jtoßenden Gemaches war eine Deffnung angebracht, durch die er Tag und Nacht beobachtet werden fonnte.

Dem Gefangenen wurde mitgetheilt, daß ein Beſchluß des Geſammthauſes Sachjen vorliege, wonach er wegen jeine® unchriftlichen Gebarens und feiner unfürjtlichen Gefinnung, die ihn vor Gott und der gefammten ehrbaren Welt compromittire, in ftrenger Haft gehalten werben ſolle, bis er fich gebefjert habe und reuig zur Erfenntniß feiner Sünden gekommen jei.

Herzog Johann Friedrich tobte in ohnmächtiger Wuth.

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Da er einſah, daß er ver Gewalt nur gewaltfam begegnen fönne, verfuchte er mit Hülfe einiger getreuer Diener, mit denen er Verbindungen angefnüpft hatte, aus feinem Kerker zu entlommen. Die eigentlichen Leibwächter wur- den überwältigt und gefnebelt, aber die Neitersfnechte, welche die äußere Wache bildeten, waren auf ihrer Hut. Die Diener des Herzogd wurden nievergemacht, er jelbit nach verzweifelter Gegenwehr verwundet und fejtgenom- men; der Fluchtverfuch war misglüdt.

Am 30. Mai 1627 wurde der Herzog in Ketten ge- fegt und jein fchönes, wallendes, blondes Lodenhaar ab— rafirt, weil er „den Teufel in den Haaren habe”. Alle jeine Betheuerungen und Borjtellungen blieben fruchtlos. Er richtete verjchiedene Eingaben an den Kurfürften von Sachſen als das Haupt feines Haufes. Sogar das lo— giiche Argument, daß er doch nicht hieb- und ftichfeft jein fünne, wie die Verwundung beweife, bie er erjt neuerlich Davongetragen, verfing nicht. Die Bitten, zu denen er fich fchließlich herbeiließ, waren vergeblich. Auch fein eid— fiche8 Verſprechen, in die Fremde ziehen und Fünftig nie wieder an feine Brüder irgendwelche Anfprüche machen zu wollen, half ihm nichts. Die harte Behandlung, welcher er ausgeſetzt blieb, regte den heißblütigen, jugend- lichen Fürften auf das äußerſte auf. Er befam fürm- liche Wuthanfälle. In einem berjelben zerbrach er mit fchter übermenjchlicher Kraft feine Stetten. Vielleicht war diefer Vorfall die Urfache, dag man ihm die Haare fchor. Wie bei Simfon fuchte man den Sit feiner Kraft in jeinen Locken. |

Herzog Johann Friebrih war deutſcher Neichsfürit. Seine Haft und das ganze Verfahren wider ihn war ohne Vorwiſſen des Kaifers eingeleitet worben und deshalb nad den Geſetzen des Reiches ungültig und unftatthaft.

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Es erklärt ſich indeß aus ber wilden gejeßlojen Zeit. Dem Vorgehen gegen ihn lag nicht etwa Uebelwollen oder Feindjchaft zu Grunde. Seine Brüder hielten fihb für verpflichtet zu ihren graufamen Mafregeln, denn fie glaubten feſt daran, daß er ein vom böfen Geifte bejeffener, verlorener Menſch jei. Mit Zuftimmung oder gar auf ausbrüdlichen Befehl des Kurfürften von Sachſen wurde der Herzog im November 1627 nad) Weimar geführt und dort in einen eigens für feine Auf- nahme erbauten Kerker gebracht. Der fürmliche Proceß, den man nun gegen ihn einleitete, entiprach ven allge- meinen Anfchauungen.

Ein Ärztliches Gutachten holte man nicht ein. Da- gegen wurde ber Gefangene ohne Rückſicht auf feine wiederholten Betheuerungen, daß er mit dem Teufel nichts zu jchaffen habe, mit fortwährenden Befehrungs- verjuchen gequält.

Es iſt aus den Acten nicht erjichtlich, zu welchem Endurtheile feine Richter gelangten. Vielleicht fchredte man doch im Hinblid auf den fürftlichen Rang des An- gejchuldigten vor der äußerjten Confequenz, der Verdam— mung zum euertode, zurüd.

Am 17. Detober 1628 fanden die Bebienjteten, welche den Kerfer betraten, den Herzog tobt. Er lag, mit dem Geficht zur Erde gefehrt, auf dem Fußboden. Ein Dold- ftoß in die Bruft hatte feinem Leben ein Ende gemacht. Ein Selbjtmord war ausgeichloffen. Es fand fich auch fein Dolchmeffer bei ihm vor. Es blieb unaufgellärt, wer fich troß der ftrengen Bewachung zu ihm einzu- ichleichen vermocht hatte. Die dffentlihe Stimme war rofch, jüber den Thäter einig. Der Teufel ſelbſt hatte den Teufelsbeſchwörer umgebracht und die ihm ver- fallene Seele geholt. Die Richter waren unmenfchlich

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oder folgerichtig genug, zu begehren, daß ber Leich— nam in einem Winfel in ungeweihter Erde verfcharrt werden follte. Dagegen fträubte fich aber ver Familien- ftolz feiner Brüvder. Sie liefen die Leiche des Herzogs Johann Friedrih in aller Stilfe, jedoch unter Bewah- vung des Anftandes begraben. Wo feine Beifegung er- folgte, wurde geheimgehalten und ift aus den Acten nicht erfichtlich.

Die Kerker, welche ver unglüdlihe Prinz in Oldis— (eben und in Weimar bewohnt hatte, wurden ver Erbe gleichgemacht. Für feine Diener forgte man in würdiger Weiſe.

Wir haben dieſe Tragödie aus der Geſchichte eines fürſtlichen Hauſes zur Darſtellung gebracht, weil ſie die Mittheilung über Hexenproceſſe im 21. Bande des „Neuen Pitaval“ in bezeichnender Weiſe ergänzt. Sie beweiſt, wie hoch und niedrig in jener traurigen Epoche unter demſelben Irrwahn litt, und daß die bedauerns— werthen Opfer des entſetzlichſten Aberglaubens in allen Ständen, auch den höchſten, anzutreffen waren. Kepler mußte den Schmerz erleben, daß gegen ſeine leibliche Mutter die Anklage der Hexerei erhoben wurde, und das edle ſachſen-erneſtiniſche Haus ſah ſich genöthigt, eins ſeiner Glieder dem fürchterlichen Wahne zu opfern. In jener Zeit geiſtigen Niederganges war eben niemand, mochte er noch ſo hoch ſtehen, gegen Angriffe wüſten Aberglaubens gefeit.

Es war im gegebenen Falle unnütz, längere Auszüge aus den Protokollen beizubringen. Sie unterſcheiden ſich in Form und Inhalt nur wenig von allen ähnlichen, der—

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artige Proceffe betreffenden Acten. Der gleiche traurige Ernft, mit dem die widerfinnigjten Dinge umſtändlich abgehandelt werden, die gleiche bornirte Verſtocktheit und auch die gleiche ehrliche Rechtsanſchauung auf jeiten ber Richter, die gleiche verzweifelte Unjchulpsbethenerung des Angeklagten, der damit niemand zu überzeugen und zu rühren vermag. Es iſt ein düſteres Blatt aus ber Chronik eines deutſchen Fürftenhaufes; allein wir glauben es unjerer Pflicht entjprechend, auch dieſes unſerm Werfe einzureihen.

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Donna Brigide. (Mexico. Todtſchlag.) 1888.

Sie war von Heiner Geftalt; wenn fie gebückt und verfrümmt an ihrem Krückſtabe heranfchlich, erichien fie geradezu zwergenhaft. Wirr hingen die ergrauten, unter dem grellrothen Kopftuche wie Schlangen hervorzüngeln- den Haare um das verfchrumpfte, welfe Geficht. Den zahnlojen Mund umfpielte fortwährend ein häßliches, höh— niſches Lächeln. Am auffallenditen an ihr blieben jedoch die zwar roth umränderten, aber noch immer feurig auf- bligenden Augen, vor deren jtechendem Blid ausnahms- [08 alle, der Alcalde nicht minder als der Pfarrherr Don Aguftin ſelbſt, ſcheu zurüdwichen. Wenn fie vorbeige humpelt war, jeufzte ein jeder erleichtert auf, jchlug fromm das Kreuz und lißpelte einen Segensſpruch zu Ehren ber Madonna.

Sie war fi ihrer Macht vollbewußt. Sie brauchte fie fhonungslos. Das ganze Dorf San-Joſéẽ de Tel huateclen war ihr unterthan.

Eiinſt ſoll auch fie jung und ſchön und begehrenswerth gewejen fein. Lange iſt's her. Donna Brigida war

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das Kind eines Hidalgo, der, fein edles blaues caftilia- nifches Blut Hintanfegend, eine „India“, eine Tochter der verachteten eingeborenen farbigen Raſſe, geliebt und jie als Gattin in fein Haus geführt hatte. Brigida war aufgewachjen wie die muntern Kolibris, die fich auf ben Zweigen der benachbarten Büfche wiegten. Wie dieje, begte ihr Köpfchen feinen andern Gedanken, als fich zu pußen und eine Sancioncilla zu trällern. Da war ein— mal ein Amerikaner vahergefommen, ein rothblonder, groß- gewachjener ſchlanker Burſche. Er bezeichnete fich als Ingenieur und gab vor, er wolle ven fürzeften Weg von Mexico nach Puebla auffuchen. Ob er den gefunden, weiß man nicht. Wohl aber fand er den Weg zu Bri— gida's Herzen und in ihr Kämmerlein. Eines Tages waren fie beide verſchwunden. In dem alten Haciendado erwachte der ſpaniſche Stolz. Er bejchuldigte mit harter Rebe feine Frau, daß ihr Blut fein Kind verborben. Er joll fie in einem Anfalle blinder Wuth erjchlagen haben. Mag fein. Es iſt lange her, und mit der Gerichts- barkeit dürfte es dazumal nicht zum beiten bejtellt gewejen jein. Vielleicht befchuldigte ihn auch nur ein böswilliges Gerücht, das dem alten Manne die letter Lebensjahre, bie er vereinfamt und vergrämt verbracht hat, verbitterte. Sein Anmwejen verfiel, feine Wirthichaft ging zurüd. Stüd um Stüd, ſowol Feld als Rind mußte verfauft werden, nur um jeine Bedürfniſſe, jo gering fie auch waren, zu deden. Als er ftarb, war nicht viel mehr übriggeblieben als jein Haus. Diejes, fich ſelbſt überlafjen, zerfiel nach und nach ebenfall8.

Da war eines Tages, man wußte nicht woher, Bri- gida wieder aufgetaucht. Sie war alt und abjtoßend häß— lich geworden. Lumpen bevedten ihren Xeib, und nur ber Heine, noch immer wohlgeformte Fuß, der unter ben

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Lappen, die fie al8 Kleider trug, hervorlugte, verrieth ihren einftigen Weiz.

Sie blieb im Dorfe und bezog das Häuschen des Vaters, welches nothdürftig ausgebeffert wurde, ſodaß es Wind und Wetter abhalten möchte. Dort lebte fie allein, nur umgeben von Katen, Eulen und anderm Lichticheuen Gethier. Getrodnete Schlangenhäute hingen von der Dede herab und jchlugen wol, wenn fie ein Windſtoß bewegte, den furchtfam zufammenfnidenden Bejuchern ins Gefiht. Es Frabbelte in allen Eden. Unter dem großen Keſſel erlojh niemals das Feuer. Was eigentlich darin brodelte, Eonnte fein Sterblicher ergründen. Ste war eine Here, das war gewiß.

Sogar Don Aguftin fürchtete fie und ging ihr aus dem Wege. Er fonnte ihr nichts anhaben, denn fie that äußerlich, als ob fie eine gute Chriftin wäre, ging alljonn- täglich zur Mefje und fam vor DOftern fogar um zu beichten. Was fie da dem frommen Manne erzählt haben mag! Er war ftet8 ganz verftört, als fie den Beichtjtuhl verließ, während ein unheimlich farbonifches Lächeln noch ihärfer als fonft um ihre Mundwinkel zuckte.

In kurzer Friſt war das Dorf ihr zinspflichtig ge- worden.

Sie fagte wahr, wußte für alle Gebreften Rath und fonnte die böfen Geifter beſchwören. In ihrer Küche fan- den fih Mittel für alles Weh. Nicht nur die jungen Mäpchen fchlichen zu ihr, wenn fie der Treue ihrer Lieb— haber mistrauten, nicht nur die jungen Frauen, deren Ehe nicht fofort im erjten Jahre nach Wunjch gejegnet war, nicht nur bange Mütter, die ihre leichtfinnigen Söhne auf Abwege gerathen jahen, auch die Männer des Dorfes famen zu ihr. Für Krankheit, für Dürre und Noth aller Art wußte fie Heilung und Hülfe. Sie mußten fommen,

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alle, alle. Ste beftand darauf, daß eine jede der funfzig Familien de8 Dorfes ihr Zins gebe. Die Summe der Peſetas, die jedes Familienhaupt zu erlegen hatte, wech— jelte nach der Kopfzahl feiner Angehörigen, feiner Pferde und Rinder. Zahlen mußten fie aber alle, fonit wehe ihnen!

Den Tribut hatte fie fich erzwungen durch die Drohung, wer ihr denſelben weigere, würde „beiprochen”. Dann würden jeine Kinder von Nafenbluten befallen, das fein Mittel ftillen könnte, fie müßten jterben.

Des Nachts beftieg die Here regelmäßig den Hügel wejtlih vom Dorfe. Im ungewiffen Scheine des Mond— Lichts jah man wol ihre Haare wie zudende Flammen um ihr Haupt flattern, jah fie mit dem Krückſtock ges heimnißvolle Zeichen in die Lüfte jchreiben. Im Angſt— gefühl erichauernd vernahmen jene, die pochenden Herzens fich neugierig herangefchlichen, daß ſie unverjtändliche Laute murmelte, oder in gellendem Aufichrei Flüche und Ver— mwünjchungen hervorſtieß.

Am Tage dagegen ſaß fie oft jtundenlang regungslos, ftieren Blickes vor fich hinftarrend, feine Anrede der Ant- wort würdigend, jtumm unb verfchloffen vor ihrer Hütte. Näherte man fich ihr zu folcher Zeit, dann hob ihr ftän- diger Begleiter, der fchwarze Kater, feinen Kopf, blitte aus jeinen grünen Augen den Störenfried mwüthend an und fauchte, ſodaß ein jeder bejtürzt zurüdwich.

Es war ein hübjcher Junge, das Pathenfind des Al— calden, der Bablo Sanchez. Ein milder Knabe, der, troßs- dem er faum fechzehn Jahre zählte, mit jedem Gaucho um die Wette reiten und den Laſſo jchleudern fonnte. Der Liebling aller, der Führer und Abgott feiner Spielgenoffen. Sogar die Mädchen des Dorfes, die doch fonft der un— reifen Jugend gern fpotten, bemerften ihn ſchon, und

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gar manch heißer Blick folgte ihm, wenn er ftolz aufge- richtet auf feurigem Roſſe durch die Straßen fprengte. Er war eines Tages mit einer Schar feiner Iuftigen Ge— führten an der Hütte der Donna Brigida vorbeigalopirt und hatte fie mit übermüthig fedem Scherzwort aus ihren: dumpfen Brüten aufgefchredt. Sie war aus ihrem Grü- bein aufgefahren, hatte die Hand wie beſchwörend aus— gejtredt und etwas gemurmelt, das niemand verjtand. Da ftrauchelte Pablo's Pferd, und er, ber befte Reiter des Dorfes, ftürzte fopfüber zur Erde. Blutüberjtrömt und bewußtlos trugen ihn die Kameraden im feines Vaters Haus.

Ihm konnte feiner mehr helfen als die Here jelbit.

Der alte Sanchez fam zu ihr gejchlichen und hob fle- hend die Hände. Er bot ihr wer weiß wieviel? Gie aber blieb unerbittlich, und der Knabe ftarb.

Scheuer denn je mieden die Dorfbewohner die Alte.

Nur der Alcalvde, Don Ramon Medina, faßte fich ein Herz. Der Tod feines Pathenkindes hatte ihn tief er- jhüttert. Er begab fich zu Brigida und jtellte fie zur Rede.

‚Barum bat Pablo fterben müſſen?“ frug er fie.

„Weil Sanchez feine Pflicht nicht erfüllte Weil er die Buße nicht entrichtet hat, die ich von ihm geheiſcht.“

„Und bift du denn die Herrin über und, daß bu gebieteft und wir dir gehorchen müfjen ?’

„SH bin es. Und um es bir zur beweijen, jo for- dere ih von nun an, daß du mir täglich eine Peſeta bringen und an meinem Namensfefte zehn blanfe Duros erlegen ſollſt.“

„Du rafeft wol? Vergiß nicht, daß ich hier Amtmann bin, daß ich dich in Haft nehmen und dich nach Merico

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vor das ftrenge Gericht führen kann. Und ich werde es thun zur Buße für deine verruchte That.‘

Die Augen der Alten jchoffen Blike:

„Verſuche es nur. Und an vemfelben Tage, an dem du Hand an mich zu legen wagft, wird dein Erftge- borener fi in Krämpfen winden, und wenn mich beine Häjcher vor den Richter fchleppen, magſt du, ein Finder- lojer Vater, gegen mich zeugen!“

Medina pralite entjett zurüd. Er war ein muthiger Mann, aber vor dem Heinen Weibe fürchtete er fich.

Haperfüllt und heimtückiſch jah fie ihn an.

„Sehe nur heim‘, zijchelte fie, „blide deinen Kindern ins Auge und wage e8 ferner, mir zu widerftreben. Sieh, ichon ift der erfte Kreis gezogen!’ Ihr Krüdjtod fuhr durch die Luft.

Da ſchnürte unendliche Angſt des Vater Herz zu— jammen. Im Geifte jah er feine blühenden Kinder von unnennbarem Weh erfaßt in gefpenftifcher Krankheit ver- ſchmachten. Dunfelroth quoll e8 vor feinen Augen.

„Pag die Madonna mir gnädig fein!” jtöhnte er auf. Im nächſten Augenblid ftaf fein Meſſer in Brigida's Kehle. In weiten Bogen ſchoß das Blut aus der Hald- ader, und lautlo8 brach fie zujammen. ...

Dann ging er nah Merico und ftellte fich dem Gericht.

In Merico richten feine Gefchiworenen über bie ſchweren Verbrechen. Man führte den Mörder vor ein rechtöge- lehrtes Richtercollegium. Allein auch die Juriſten ſprachen ihn frei.

Der Proceß wider den Maler Iofeph Johann Kirchner.

(Mordverfuh am Freunde Wien.) 1888.

„Schade um ven Kirchner. Er ift ein Talent, zweifel- (08, jedoch er zerfplittert feine Arbeitskraft. Siebzehnmal für fiebzehn verſchiedene illuftrirte Zeitungen dafjelbe Ding abzeichnen, das tödtet die Künſtlerſchaft.“

„Du haft recht. Sein eigenes Fünftlerifches Gewiſſen bäumt fich auch oft genug gegen dieſe erniedrigende, dem Ermwerbsteufel dargebrachte Huldigung.”

„sa, aber warum thut er e8 denn? Sind feine Ber- bältniffe derart verfahren? Er iſt Fein Spieler, er tjt fein Trinker, er hat, ſoviel ich weiß, feine große Familie zu erhalten. Er follte doch genug verdienen, um fich noch höhern Aufgaben widmen zu können.“

„Was willft du nur. Er ift fein Spieler zuge- geben. Er ift fein Trinker gewiß nicht. Selbjt im Freundeskreiſe weigert er fich, einen berzhaften Trunk zu thun. Er verabfcheut ven Wein, diefe herrlichite Gottes- gabe! ... Allein die Löfung des Räthſels ift nicht jchwer zu finden. Sie ift in der alten Polizeiregel zu juchen:

Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 107

Cherchez la femme! Das «ewig Weibliche» hat es ihm angethan. Er jchmachtet ftets in den Banden irgend— einer Schönen. Sein gutes Herz und fein jchwacher Wille find jeine Feinde. Einer Bitte aus weiblichem Munde, den er gefüßt, kann er nicht widerjtehen. Sein fünjtlert- ſcher Verfall und fein phyſiſcher Ruin, die beide ganz un— ausbleiblich eintreten müffen, fie find die Folgen feines nervöſen Temperaments, feines unbezwinglichen finnlichen Dranges und des Mangels an fittlichem Halt.’

„Armer Kerl!“ ...

So urtheilten die Colfegen über einen begabten Künſt— fer, ven Maler Joſeph Johann Kirchner. Allein ihr Achjelzuden, ihre Rathichläge, ihre Warnungen waren jtet38 von Sympathie für den Menfchen, ven talentvolfen Collegen begleitet. An einem Wintermorgen jtand in der Rubrik „Locales“ der Tagesblätter zu lefen: „An einem reichen Privatier, Herrn Karl Curio, ift ein Mordattentat verfucht worden. Der flüchtige Thäter wird verfolgt. Da die Polizei weiß, wen fie zu fuchen bat, jo ift es nur eine Frage von Stunden, bis fie jich feiner werfichern wird. Der Attentäter ift der «in weitern Kreifen befannte» Maler und Zeichner 9. J. Kirchner.”

Es Hang unglaubhaft. Dennoch war die Nachricht richtig. Kirchner wurde aufgegriffen und in Haft ge- nommen. ine erfledlihe Anzahl der romanbhaftejten Geſchichten durchflatterte die Spalten der Zeitungen. Die Unterfuhung ging ihren Gang und die Anklage wurde erhoben. Seine Freunde bemühten fich darum, ihm einen tüchtigen Anwalt zu fichern, und fanden dieſen in der Perfon de8 Dr. Edmund Benedikt, eined der ver— trauenswertheften und redegewandteſten der jüngern wie— ner DVertheidiger.

108 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirchner.

Die Hauptverhandlung wurde für den 18. Juni 1888 anberaumt.

Borfigender des Gerichtshofs war Landesgerichtsrath Guftav Ritter von Scharfen. Die Anflage vertrat der Subftitut des Staatsanwalts Robert Hawlath und als Vertreter des Privatbetheiligten erjchien Dr. Leo— pold Florian Meißner.

Die Anklage lautet: Joſeph Johann Kirchner, der bie Malerjchule für Landichaftsmalerei in Wien befucht hatte und für einen begabten Künjtler galt, erwarb fich, wenngleich von Haufe aus vermögenslos, als Zeichner für ifluftrirte Werfe und Zeitfchriften jährlich 4—6000 FI. Er war in Geldjachen von einer geradezu pebantijchen Genanigfeit, befand fich aber dennoch fortwährend und namentlih in letterer Zeit in Gelpverlegenheiten. Der Grund lag nicht jo ſehr in ſpecifiſch künſtleriſchen Paſ— jionen, als in feiner Xebensmweije überhaupt.

Im Yahre 1870 hatte er geheirathet, im Jahre 1876 fing er ein Verhältnig mit Marianne Röſſel an, im Jahre 1878 verließ er feine Frau und zwei Kinder und febte mit der Röſſel, die ihm in jüngjter Zeit ebenfalls ein Kind gebar, im Concubinat. Da er fih der Ber- jorgung feiner vechtmäßigen Familie nicht entjchlagen wollte, jevoch auch den Haushalt mit der Röſſel aus jei- nem Verdienſte bejtreiten mußte, gerieth ev 1886 in Wucherhände. Der Schulvdenftand war zwar nicht be- deutend, allein Kirchner fühlte ihn als eine drückende Laſt.

Seine Lage verjchlechterte fich ganz bejonders im Jahre 1887, weil er feine Stelle bei der „Neuen Illu— jtrirten Zeitung‘ verlor und infolge der Unftetigfeit jei- ner perfönlichen Verhältniſſe jowie des Abganges echt künſtleriſchen Schaffenspranges nach und nach alfe Arbeits- (ujt einbüßte.

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirdhner. 109

Im März 1887 trat er in intime Beziehungen zu Klara Curio, der Frau feines Freundes Karl Eurio,

Der letztere, ein reicher Privatier, hatte Kirchner im November 1886 fennen gelernt und ihm gern Eintritt in jeine Familie gejtattet. Als im Sommer 1887 die Familie Curio auf Reifen ging, bezog Kirchner Curio's Villa in der Hirfchengaffe Nr. 28 in Ober-Döbling (einem Vororte von Wien). Curio lud ihn im September nad) , jeiner Rückkehr ein, gänzlich zu ihm zu ziehen; er räumte ihm nicht nur zwei Zimmer in einem Nebengebäude der Dilla ein, ſondern gewährte ihm auch freien Tiſch. Kirch: ner nahm das Anerbieten mit Danf an und bemerfte jcherzend, ob Curio denn nicht eiferfüchtig auf ihn werden würde, worauf Curio erwiderte: „Er fee voraus, daß Kirchner als Ehrenmann die Gaftfreundjchaft nicht mis- brauchen werde.” Das hinderte aber Stirchner feines- wegs, mit der Frau feines Gaftfreundes in einem zu dieſem Behufe gemietheten Abjteigequartier nach wie vor heimliche Zufammenfünfte zu pflegen. Außerdem hatte er aber auch die Röſſel, welche Curio für jeine rechtmäßige Frau hielt, in nächfter Nähe, nämlich in Währing, Haupt: jtraße Nr. 19, einquartiert. Die Röſſel wußte von bem Berbältniffe zur Curio und hatte fich nur ausbebungen, daß Kirchner ihr zwei Abende in der Woche widme!

Am Samstag, 14. Januar 1887, ereignete fich Fol— gendes: Kirchner wollte abends mit Curio einen Masfen- ball bejuchen. Er fagte zu Curio, er werde eine Pelz. mütze auffegen und ven Claquehut unter dem Ueberrocke verwahren. Curio fand dies praftiich, holte fich einen Jägerhut, ſteckte aber dieſen in die Taſche und jegte ven Claquehut auf.

Es war 8°/, Uhr abends. Die beiven Männer gin- gen nebeneinander in den Garten hinab und wollten

110 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

den Weg durch die Gartenthüre in die Kreindlgaſſe (eine öde, meiſt zwifchen Gärten fich binziehende Straße) ein- ichlagen. Sie waren etwa hundert Schritte weit gegangen und noch ungefähr funfzig Schritte von der Ausgangsthür entfernt, da trat Kirchner an einer Wegenge, wo ber dort jtärfer mit Bäumen bepflanzte Theil des Gartens beginnt, zurüd und ließ Curio vorausgehen. In demjelben Augen: blide, die beiden Männer waren einander noch jo nahe, daß fie fich berühren Fonnten, erhielt Curio von rüdwärts bligjchnell mehrere Hiebe auf den Kopf, ſodaß ihm das Blut über das Geficht ftrömte. Mit dem Rufe: „Kirch: ner ermordet mich, zu Hülfe!“ wendete er fich rechts und lief gegen feine Billa zurüd. Dort angefommen jchrie er jeiner ihm entgegenfommenden Frau zu: „Klara, jchau mich an, wie mich Kirchner gefchlagen hat!“ und nad jeinem Revolver greifend fügte er hinzu: „Laßt mir den Kirchner nicht herauf, ich ſchieße ihn nieder!“

Frau Klara Curio brachte Waffer herbei, verließ aber dann ihren Mann und eilte in den Garten hinunter, an- geblih um Kirchner zu warnen. Zwiſchen beiden fand ein Zwiegeſpräch ftatt, höchſt wahrjcheinlich in ber im Erdgeſchoß gelegenen Wohnung Kirchner’s. Bald darauf jahen die Dienftleute einen Mann zum vorbern Shore hinausftürzen und unmittelbar darauf begab fich Frau Curio über die Freitreppe hinauf in ihre Wohnung.

Sie bemühte fich lebhaft, ihrem Manne vorzuftellen, dag Kirchner unmöglich der Thäter gewejen fein könne. Es wäre ihr faft gelungen, ihn zu überzeugen, denn Curio hatte den Attentäter nicht gejehen. Er hielt Kirchner für jeinen Freund und ahnte nicht, daß dieſer mit feiner Frau in vertrauten Umgange lebte.

Kirchner verbrachte die Nacht in verjchievenen Kaffee- häufern, ſchrieb Abjchiedsbriefe und verjchaffte fich am

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 111

nächjten Morgen einen Revolver, mit welchem er zuevft jeine Geliebte Marianne Röffel, dann deren Kind und ſchließlich fich jelbit erjchteßen wollte. Da fich die Röffel weigerte, bejchloß er, fie und das Kind im Schlafe zu tödten, wurde aber jchon am Nachmittage des 16. Januar in der Wohnung der Röffel, wo er fich die ganze Zeit über aufgehalten hatte, verhaftet. u

Er trat vor Gericht mit der fabelhaften Behauptung auf, daß nicht er, jondern ein „Unbekannter“, der fich zwijchen ihn und Curio „geſchoben habe”, ver Thäter gewejen jet. Freilich erklärte Kirchner gleich darauf jelbit, er ſei fich wohl bewußt, daß dieje Angabe feinen Glauben finden werde. In der That ift erwiefen, daß e8 damals im Garten nicht bejonders finjter war und daß Curio auf zehn Schritte vor fich genau ſehen konnte, aber nie- mand bemerkt hat. Die mäßig diden Bäume des Gar- tens bieten fein genügendes Verſteck, und der losgebundene, wachjame Hund hätte feinen Fremden unbeanjtandet im Garten belajjen. Ueberdies ift Kirchner’s mit einem Blei— fnopfe verjehener Stod am Orte der That gefunden wor— den. Frau Curio brachte denjelben bald nachher in vie Küche und zeigte ihn den Dienjtleuten mit den Worten: „An dem Stode ijt fein Blutfleck, es tft alfo ganz un— möglich, daß Kirchner meinen Mann gejchlagen bat.“

Der erjte Hieb, der gegen Curio geführt wurde, traf die Fever des Claquehutes. Er zerbrach dieſelbe und ichlug ein rundes Loch in den Hut, verlegte Curio aber nicht. Der Hieb war, wie die Spuren am Hute nach— weijen, fcharf gegen das Hinterhaupt gezielt. Der zweite Hieb jtreifte die rechte Schläfe und fuhr längs des Auges herab. Die Wunde hatte einen ziemlich jtarfen Blutver- (uft zur Folge, heilte aber in wenigen Tagen vollfommen, da weder ein Knochen verlegt war, noch eine Gehirn-

112 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

erihütterung eintrat. Ein dritter Hieb wurde von Curio, der inftinctiv ven rechten Arm erhob, aufgefangen. Die Anklage behauptet: der Bleiſtock Kirchner’s ſei ein zur That geeignetes Werkzeug.

Ueber die Motive der That hat die Unterfuchung ges nügende Aufflärung gegeben.

Daß es fich nicht um den Befiß der Geliebten han— delte, ijt Far, weil alle Umſtände dafür fprechen, daß Kirchner überhaupt feine tiefere Neigung zu Klara Curio empfand. Die Eheleute Curio find reich, Frau Curio befitt ein noch beveutenderes Bermögen als ihr Mann; die Einfünfte fließen aber nicht ihr, ſondern fraft der Verfügungen ihrer Aeltern ihrem Manne zu, welcher in Geldſachen jehr genau ijt und ihre Ausgaben ftreng über- wacht. Frau Curio hat dem Angeklagten nicht blos ihre Liebe gejchenft, Sondern ihm auch Geld gegeben: im Au— guft 1887 1000 Mark und fpäter einmal 150 Sl. Außer: dem bezahlte fie regelmäßig den Miethzins für das Abs jteigequartier, in welchem fie fich trafen, und auch klei— nere Beträge hat er von ihr erhalten, um dieſelben für fich zu verwenden.

Am 13. Ianuar 1889, einen Tag vor der That, gab fie ihm einen Schmud zum Verkaufen.

Kirchner hat jedenfalls den Plan gefaßt, ven Mann zu tödten, um fich zum Herrn über das Vermögen ver Frau zu machen.

Daß ihn derartige Gedanken bejchäftigt haben, beweiſt der Umjtand, daß er gerade in den letzten Wochen vor ver That nicht nur mehrfache Arbeitsaufträge ablehnte, jondern einmal geradezu äußerte: „Er werbe überhaupt nicht mehr zeichnen!“ und näheres Eingehen auf dieſe Aeuferung mit den Worten abwies: „Das ift meine Privatjache!”

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirhner. 113

Endlich wurde bei ihm gelegentlich der Verhaftung ein an Frau Curio gerichteter Abſchiedsbrief vorgefunden, in welchem er ihr Gift zur Verfügung ftellte, falls fie deſſen bedürfen follte. In diefem Briefe entichlüpft ihm gleich nach der Betheuerung, daß er nicht der Thäter jet, die bezeichnende Bemerkung: „Es ift das eben wieder einmal einer jener unglüdjeligen Zufälle geweſen, welche die Hügften Combinationen fcheitern machen.‘

Die Anklage geht dahin: „Joſeph Johann Kirch— ner bat am 14. Ianuar 1888 gegen 9 Uhr abends im Garten des Haufes Nr. 28 in der Hirjchengaffe in Ober- Döbling in der Abficht, ven Karl Curio tüdifcherweije zu tödten, dadurch eine zur wirklichen Ausübung führende Handlung unternommen, daß er demſelben mit einem Bleiſtocke mehrere Hiebe verfette; die Vollbringung des Verbrechens ift nur durch Zufall unterblieben. Joſeph Johann Kirchner hat hierdurch das Verbrechen des ver— juhten Meuchelmordes im Sinne des Strafgeſetzes begangen.”

Der Angeklagte wird vorgerufen. Kirchner ift ein mittelgroßer, fchlanfer Dann von 41 Jahren. Sein dich tes, an den Schläfen leicht ergrantes Haupthaar ift braum, fein Schnurrbart blond. Die Gefichtsfarbe ift bleich, vermuthlich infolge der über ihn verhängten Unterſuchungs— haft. Die Augen von unbeftimmter grau=blauer Farbe feuchten häufig auf. Seine Sprechweife ift haftig und von lebhaften Geberden begleitet. Er trägt einen brau— nen Sammtrod, nach der Art vieler Künftler, und eine nachläffigeelegant gebundene Kravatte.

Präfivdent. Was Haben Sie auf die Anklage zu erwidern?

Angeklagter. Ich glaube, daß es mir ſchwer fallen dürfte, eine zuſammenhängende Darſtellung des Sachver—

XXIV. 8

114 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

haltes zu geben, ich bitte daher Fragen an mich zu vich- ten. Im allgemeinen erkläre ich mich nichtjchulpig.

Präfident. Was können Ste uns über Ihre Her- funft und Ihr Vorleben mittheilen?

Angeflagter. Mein Vater war ein Möbelhändfer und Tapezierer. Im Jahre 1861 zog er fi vom Ge ihäft zurüd. Ich abfolvirte nach durchgemachter Volks— ſchule zwei Klaſſen der Unterrealfchule und Hierauf eine Privathandelsichule.. Die Abficht meines Vaters war, daß ich mich dem Kaufmannsſtande widmen follte, aber ih hatte feine Neigung für den gefchäftlichen Beruf. Dagegen zeichnete ich mit Leibenjchaft, ſeitdem ich einen Stift in die Hand nehmen konnte. Ich wollte Künjtler werden. Mit jchwerer Mühe erlangte ich die Zuftimmung meines Vaters und bejuchte dann 1861 und 1862 bie Hiftorienfchule, 1863 die Landſchaftsſchule der Akademie ver bildenden Künſte. Mein Talent wies mich auf das Landihaftsfah. Nachdem ich das Haus meiner Aeltern verlaffen und eine Privatwohnung bezogen hatte, ſchloß ich mich innig an die Familie meiner Wirthsleute. Die Zochter derjelben war ſehr gut gegen mich. Sch verliebte mich in fie, verfprach fie zu heirathen und erfüllte mein Verſprechen im October 1873. Nun galt e8 aber, für eine Familie zu forgen. Dies war mir als Maler noch nicht möglich. Ich verließ die Afademie und bewarb mic um eine Anftellung bei einem Banfinftitute. Es gelang mir nicht unterzufommen. Ich mußte aber eriwerben, um leben zu können, und fo warf ich mich auf die Illuftration.

Präfident. Wie haben Sie mit Ihrer Frau gelebt?

Angeflagter. Wie man es nimmt, gut oder auch nicht.

Präfident. Wie ift das zu verftehen? Gab es Scenen zwifchen Ihnen?

Der Procek wider Joſeph Johann Kirchner. 115

Angeflagter. Scenen nicht. Meine Frau kannte mein Temperament. Sie ift älter als id. Sie mochte wiffen, daß ein jüngerer Mann und Künftler nicht nach per Elfe eines Handwerfers zu mefjen if. Sie war auch meinen Neigungen gegenüber ftetS jehr nachfichtig.

Präfident. Das heißt wol, Sie waren Ihrer Frau nicht treu?

Angeflagter. Es war eine leichtfinnige Ehe, wie fie eben ein junger Menjch eingeht. Mean follte nicht fo jung heirathen.

Präfident. Wie hat fih Ihr Verhältnig mit Ma— rianne Röſſel entiponnen?

Angeflagter. Ich Habe fie auf einer Lanbpartie in Krems fennen gelernt und faßte eine wahre Leidenjchaft für fie. Meine Frau wollte mir dieſen Verkehr nicht erlauben und ftellte mir die Alternative: ich müßte ihr oder Marianne entjagen. „Wenn du fie nicht aufgibit, mußt du vom Haufe weg‘, jagte fie.

Präfident. Sie entichlofjen fich aber nur jchwer zur Trennung von Ihrer Frau?

Angeflagter. Unter heißen innern Kämpfen. Da meine Frau nicht nachgab, zog ih im Jahre 1878 mit der Röffel zufammen. Ich arbeitete viel und erwarb genng, um den Haushalt meiner Frau und den eigenen zu bejtreiten.

Präfident. Sie beichloffen das Jahr 1886 laut Shren eigenen Aufjchreibungen mit einem Schulvdenftand von 900 Fl. und haben ein Darlehn von 1500 31. auf- genommen.

Angeflagter. Das ift richtig, Doch weder etwas Er- ichredfendes noch Ungewöhnliches. Ich war Zeit meines Lebens Geld ſchuldig und habe gezählt, wenn ich gerade

8*

116 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

bei Kafje war. Meine Arbeit wurde jtetS gut honorirt und ich durfte immer wieder auf jolche rechnen.

Präfident. Wie haben Sie mit Marianne Röſſel gelebt?

Angeflagter. Ausgezeichnet.

Präfident. Wie fommt e8 denn, daß Sie die Röffel verlaffen haben, um zu Ihrer Frau zurüdzufehren?

Angeflagter. Es überfam mich zuweilen ein Heim— weh. Auch hat es hier und da Streit zwijchen Marianne und mir gejett. Dergleichen kommt wol überali vor. Trotdem lebten wir im bejten Einvernehmen. Ich muß gejtehen, daß mich mitunter ein unwiberftehlicher Drang erfaßte, durchzugehen, ich lief dann davon, ohne vecht zu wiffen wie und warum.

Präjident. Iſt Ihnen die Röſſel immer treu ge- blieben ?

Angeflagter. Gewiß nicht.

Präfivdent. Nun, jo gewiß ift das wol nicht.

Angeflagter. Doch. Ich habe Kenntnig von ihrer Untreue erhalten, war im höchften Grade aufgeregt und bin davongelaufen.

Präjident. Sie find aber zu ihr zurüdgefehrt. Ein fonderbares Verhältniß in der That!

Angeflagter. Ich habe ihr eben ven Fehltritt ver— ziehen.

Der Angeklagte erzählt nun, daß er einmal bei einer jolchen Flucht ohne Ziel und Zwed nach Leipzig gefahren jet. Ein andermal habe es ihn plößlich über- fommen, er müffe fort. Er ſaß gerade mit feiner Ge- liebten in einem Kaffeehaufe auf der Landftrafe und ift mit Zurüdlaffung feines Hutes und Ueberrodes fort- gelaufen. Wohin er »fich gewendet, vefjen weiß er fich überhaupt nicht zu entfinnen.

Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 117

Präfivdent. Sie waren wol fehr eiferfüchtig auf die Röſſel?

Angeklagter. Ja wohl, Herr Präſident.

Präſident. Sie haben ſogar einen Balken vor der Thüre anbringen laſſen, damit niemand hinein könne.

Angeklagter. Es war zwar ohnedies eine gute, feſte Thür vorhanden, aber beſſer iſt beſſer.

Präſident. Sie ſind einmal vom Weſtbahnhofe, wohin Sie ſich mit der Röſſel begeben hatten, um einen Ausflug anzutreten, plötzlich verſchwunden?

Angeklagter. So haben mir die Herren Gerichts— ärzte mitgetheilt. Ich weiß nichts davon. Sch kann mich dejfen nicht erinnern.

Präfivdent. Als Sie aus Heiligenjtadt, wo Sie zeitweilig mit der Aöffel wohnten, einmal plößlich ver- ſchwanden und über Nacht ausblieben, haben Sie, als Sie wiederfamen, Ihre Geliebte um Verzeihung gebeten. Wes- halb thaten Sie das, wenn Sie gar nicht wußten, daß Sie weggeblieben waren?

Angeflagter. Ich habe e8 doch durch Marianne erfahren.

Präfident. Sie baten nicht etwa deswegen um Verzeihung, weil Sie Ihrer Geliebten untreu geworben waren?

Angeflagter. Nein.

Präfident. Sie haben fie aber doch betrogen?

Angellagter. Betrogen? Nein. Herr Präfivdent fönnen Doch das nicht betrügen nennen.

Präſident. Alfo nennen wir e8 Untreue.

Angeflagter. Wie kann man nur von Untreue Sprechen in der Capitale ver Genußfucht!

Präſident. Die Verhältnifje einer Großftabt jchlie- Ben die Treue nicht aus.

118 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

Angeflagter. Aber man kann doch in meinem Falle nicht von Betrug, von Untreue fprechen!

Präfident Nun freilich, wenn man bevenft, daß Ihr Verhältniß zur Röffel überhaupt nicht auf morali- iher Baſis begründet war.

Angeflagter. Ich bitte jehr. Auch ſolche Verhält- niſſe entbehren der moralifchen Bafis nicht. Ich faſſe es in diefem Sinne auf. Nur wird diefe nicht durch das, was Sie „Untreue“ nennen, erjchüttert.

Präfident. Laffen wir diefe Erörterung. Seit wann war Ihr Fünftlerifcher Ruf begründet?

Angeflagter. Ob, ſchon fehr frühe. Ich erhielt bei einer Concurrenz den erjten Preis.

Präfident. Das ift richtig. Das war 1869 in Budapeſt. Sie haben Herrn Curio am 14. November 1886 kennen lernen. Wann find Sie zu Frau Curio in nähere Beziehungen getreten?

Angeflagter. Im März hat die Liebeserklärung itattgefunden.

Präfident. Hat Frau Röſſel darum gewußt?

Angefllagter. Ich habe es ihr lange abgeleugnet.

Präfident. Wo hielten Sie Ihre Zuſammenkünfte mit Fran Curio.

Angeflagter. In einem Abfteigequartier im Bezirk Mariahilf. Ich muß hier noch eine Bemerkung machen. Sch gebe zu, daß ich immer weibliche Geſellſchaft ſuchte, aber ich habe vorher niemals einer verheiratheten Frau nachgeftellt. Frau Curio war die erfte, mit der ich in nähere Beziehungen trat. Sie bezauberte mich zwar fofort, ich hätte es indeß nie gewagt, mich ihr ernftlich zu nähern, wenn fie mir nicht entgegengelommen wäre. Ich hätte nie ven Frevel begangen, ein Eheglüd zu zer: jtören. Als ich die Familie Curio fernen lernte, da gab

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 119

es fchon lange fein Eheglüd mehr zwiichen den Gatten. Sie gingen ein jedes feinen eigenen Weg. Ich will mich nicht beffer machen, als ich bin, doch diefes mußte ich conitatiren.

Präfident. Im December 1887 haben Sie zu Herrn Konody gejagt, daß Sie gar nichts mehr arbeiten würden.

Angeflagter. Das ift ein Misverſtändniß der An- Hage. Sch habe ihm nur gefagt, ich wolle nicht mehr zeichnen, das heißt, das Slluftriren genüge meinem künſt— leriſchen Bebürfniß nicht. Ich bitte nur zu bebenfen, welche peinliche Tortur es für einen Künftler ift, ſechs— undzwanzigmal hintereinander das Rathhaus abzeichnen zu müfjen! Das bringt einen zur Verzweiflung, zur Raſerei!

Präſident. Auch Herr Gauſe ſagte aus, daß Sie nur gearbeitet hätten, wenn es galt einen Auftrag aus- zuführen.

Angeflagter, Gewiß. Denn Arbeiten wie die er- wähnten fertigt man nicht aus Luft zur Sache, jondern nur ums Geld. Deshalb eben jagte ich, ich würde das Zeichnen ganz aufgeben.

Präfident. Geben Sie zu, von Frau Curio Geld angenommen zu haben?

Angellagter. Ia wohl. Ohne daß ich e8 verlangt habe, jchiefte fie mir 1000 Mark. Ste mußte eben, daß ih Schulden hatte. Ich Habe pas Geld als ein Darlehn betrachtet. Außerdem empfing ich von ihr ein Spar- faffenbuch mit einer Einlage von 157 Fl. und Beträge zur Bezahlung gemeinfchaftlicher Auslagen, wie des Ab- jteigequartiers, in dem wir zufammenfamen, auch für Wagen, die wir gemeinfam benutten u. dal. m.

120 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

Präfident. Wir gelangen nun zu der unter Anklage geftellten That. Wann verabredeten Sie mit Curio, den Masfenball zu befuchen?

Angeflagter. Samstag früh fagte mir Curio, er habe zwei Karten zum Masfenball in den Sophienjälen erhalten und begehrte, ich jolle ihn dahin begleiten. Wir jpeiften darum früher als ſonſt zu Abend. Es gejchah dies um 81/, Uhr.

Präfident. Sie fagten zu Curio, er brauche ven Revolver nicht, weil Sie ven Stod mitnähmen. Und die— jen Stod haben Sie oft als treffliche Waffe gerühmt!

Angellagter. Im gewöhnlichen Leben wägt man die Worte nicht jo ab, wie fie dann einem Angeklagten gegenüber ausgelegt werben können.

Präjident. Warum haben Sie gerade an jenem Abende die Pelzmüte aufgejegt und ven Claquehut unter den Rod genommen?

Angeflagter. Ich befürchtete Regen und wollte ven Hut jchonen.

Präfident. Sie gingen zufammen in den Garten hinab?

Angeflagter. Curio ging immer jehr rajch, und jo fam es, daß er bald vor mir war.

Präfident. Erzählen Sie, was num gejchah.

Angeflagter. Bei der erften Biegung links war mir Curio mindejtend anderthalb Meter voraus. Ob wir miteinander jprachen, weiß ich mich nicht zu erinnern. Dagegen weiß ich bejtimmt, daß es recht dunkel war. Plötzlich ſpringt, jchiebt fich oder wird gejchoben eine pritte Geftalt zwifchen uns beide. Diefe Geſtalt führt mit einem Injtrument einen Hieb auf Curio. Sch weiß nicht, woher dieſe Gejtalt fam. Sie war da wie aus dem Boden gejtiegen, fie mag neben oder Hinter dem

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 121

Baume hervorgekommen ſein. Ich ſehe ſie nur einen Hieb führen, ſehe wie Curio taumelt, einen Halbkreis be— ſchreibt und von der Geſtalt verfolgt wird. Plötzlich ſinkt Curio zu Boden, während die Geſtalt nach der entgegen— geſetzten Richtung hin verſchwindet. Ich war wie gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Hals war wie zu— geſchnürt. Ich wollte ſchreien, und brachte keinen Ton hervor. Einmal nur, ein einziges mal hatte ich daſſelbe Gefühl empfunden. E8 war in Bosnien. Auf dem Hein- wege von einem Feſte begriffen hörte ich unvermuthet in nächſter Nähe einen Schuß abfeuern. Da gerieth ich in einen ähnlichen lethargiſchen Zuftand, in welchem ich das Bewußtſein verlor und aus dem ich erweckt werben mußte. Als ich nach dem Attentate auf Curio wieder zu mir kam, jtürzte ich der Billa zu. Klara Eurio fam gerade her- unter und mir entgegen. „Was ijt gejchehen?“ rief fie, „mein Mann behauptet, vu hätteft ihn gejchlagen?”’ Da verlor ich den Kopf, ließ fie ftehen und eilte aus dem Haufe.

Präfident. Wie jah denn der geifterhafte Dritte aus?

Angeflagter. Er war Fleiner und fchmächtiger als ich, trug eine pie Pelzmüge und kam von links aus ber Gegend hinter dem Glashaufe.

Präſident. Da Sie das Attentat fozujagen ver- ichlafen haben, fo ijt Ihre nachherige außerordentliche Auf- regung jehr auffallend.

Angefllagter. Nach den Worten, die Frau Curio mir zugerufen hatte, erfannte ich, daß ich des Attentates bejchuldigt würde. Die jcheinbaren Gründe wirften er- drüdend auf mich, ich ſah ein riefiges Beweismaterial fih gegen mich aufthürmen und verlor die Geiftesgegen- wart. Wie berechtigt aber dieſes plößliche Angftgefühl war, geht doch daraus hervor, daß ich mich hier, auf

122 Der Brocek wider Jofeph Johann Kirchner.

biefem Plage befinde und mühſam gegen den Verbacht, der auf mir laftet, anfämpfen muß. Mir jchwebte es fogleich vor: Unterfuchung, Haft, Gott weiß von ivie langer Dauer! Dem befchloß ich zuvorzufommen. Ich wollte mich tödten, mich in die Donau ftürzen. Injtinc- tin wendete ich mich zur Augartenbrüde Da fiel mir ein, ich hätte Weib und Kind. Die durften doch nicht ohne Ernährer zurücdhleiben. Auch wußte ich nicht, was mit Curio gefchehen, ob er leicht, ob er jchwer verletzt war. Ich hoffte dies aus den Zeitungen zu erfahren. Die Nacht über irrte ich plan= und ziello8 umher, gegen Morgen ging ih in ein Kaffeehaus und nahm bie Früh— blätter zur Hand. Da ftand noch nichts darin. Wäre ein Mord gejchehen, fagte ich mir, jo wäre e8 doch jchon befannt. Aber wieder ftiegen Beforgniffe in mir auf. Ih ging zu einem Freunde und borgte mir feinen Re— volver. Dann begab ich mich in unfer Abfteigequartier, um bort vorhandene Frau Curio compromittirende Briefe zu verbrennen, und jchlieglich nach Haufe zu Mariannen. Ich ſchlug ihr vor, fie, das Kind und mich zu tödten. Sie wollte nicht. Da beichloß ich, e8 gegen ihren Willen zu thun. Aber ein fürchterliches Schlafbedürfniß überfiel mid. Ich legte mich Hin und fchlief ein. Ich fchlief noch, als die Polizei fam, um mich zu verhaften.

Präfident. Bei Ihrer Verhaftung wurden ſechs Briefe vorgefunden. Einer berjelben, an eine Verwandte gerichtet, lautet: „Liebe Marie! Ich theile Dir mit, bag wir alle, Marianne, ich und fogar die Edith ſchwer erkrankt find, ich muß jagen hoffnungslos.”

Angellagter. Dies follte eine Worbereitung ber Todesnachricht fein.

Präfident. Im zweiten Briefe an Herrn Ludwig Finke, Poftverwalter in Prefbaum, heißt es: „Trotzdem

Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 123

wir uns jehr lange nicht fahen, und fajt böſe aufeinander find, bitte ich Dich, meine Frau in der fchonendften Weife barauf vorzubereiten, daß ich Frank, jehr frank, daß ich gejtorben bin. Aus Gründen, die Du in den Zeitungen finden wirft, denke ich mich zu erfchießen. Sterben muß ber Menfch, es ift nur die Frage: wann? Erfülle mir die legte Freundespflicht.” Ein dritter Brief war an Herrn Eurio gerichtet. In demfelben jchreibt Kirchner: „Als fi die Geftalt zwijchen Sie und mich drängte, war ich unfähig, auch nur einen Laut von mir zu geben. Ich machte einige Schritte gegen Ihr Haus, wo mir Ihre Fran entgegenfam und mir zurief: «Mein Mann nennt Sie den Thäter'» Da kam mir das Bewußtfein, daß ich verloren fei, und deshalb entjchloß ich mich zum frei- willigen Ende meines Lebens. Der vorlette Brief war an den Gärtner Martin Grubitih: „Lieber Martin! Ich bitte Sie, beiliegenden Brief der Frau von Curio zu übergeben, jeboch jo, daß Herr von Curio nichts davon erfährt.” Eingejchloffen war ein Brief an Frau Klara Curio: „Sehr geehrte gnädige Fraul Ich erbitte es mir als eine Schickſalshuld, daß dieſer Brief in Ihre Hände gelange. Sie kennen meinen Handichar, ben ich ans Bosnien mitgebracht Habe. Mit diefem öffnen Sie gefälligjt meinen Kaften in Marietta's Wohnung. Dort werden Sie in Golpichlagpapier eingewidelt ein Glas- flacon finden, welches feit vielen Jahren nicht geöffnet wurde. Der Stöpfel wird fich nicht lodern lafjen; das Flacon muß alfo zertrüämmert werden. Nun bitte ich Sie, diefes Flacon jener Dame zu übergeben, bie ich Ihnen jo oft als die fchönfte, die ich fenne und als mein Glück bezeichnet habe. Die Hälfte, ja ein Drittel des Flacons wird genügen. Ich fage nicht, fie joll das Flacon be- nutzen, e8 fol ihr nur ein Mittel fein, wenn fie defjen

124 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

bedarf. Ebendieſer Dame, der jchönften und wunder— bariten Dame, ver ich das Glück meines Lebens danke, gehören auch zwei Verſatzſcheine. Diefe Liegen neben an— dern, bie mir gehören, neben dem Flacon in einer Mappe mit fchwarzen Gummibändern. Gern möchte ich noch haben, daß Sie erführen, daß ich wirklich und wahrhaftig nicht der Attentäter war. Es ift dies eben wieder ein- mal einer jener Zufälle, welcher die glüdlichiten Combina— tionen jcheitern macht! ... Weiter befindet fich in mei— nem Atelier ein auf Pappenvedel aufgeflebtes kleines Porträt. Ich bitte diefes abzureißen, es verbirgt Haare jener Dame, die ich über alles liebe. Und nun fage ich Ihnen Dank.” Ein berzlicher Abſchiedsbrief an die Röſſel jchließt mit ven Worten: „Nochmals einen Gruß an Dich, mit der ich jo glücklich geweſen wie nie zuvor. Gruß und Danf für alles, mein herrliches Weib!”

Der Vertheidiger Dr. Benedikt unterzieht nun— mehr den Angeklagten einem längern Verhör in Betreff jeines Geifteszuftandes. Kirchner antwortet nur zögernd. Es ift als ob er fich der Vorkommniſſe ſchäme. Doc muß er zwei Thatfachen zugeben. Erftens, daß er im Jahre 1878 aus Eiferfucht in förmliche Raſerei gerieth, an der Wahnvorftellung litt, ein gewiſſer Bertolini, ver angeblich der Frau Röffel nachftellte, wolle ihn umbringen. Diefer Gedanke ängftigte ihn fo, daß er eines Tags ohn- mächtig zujammmenjtürzte. Zweitens wurde der Ange- Hagte während eines Aufenthalts in Serajewo von ber firen Idee ergriffen, er habe einen Milttärarzt erjchoffen. Seiner Frau gelang es, wenn auch fchwer, ihn von biejen Wahnvorftellungen zu befreien. Jener Militärarzt lebt noch heute.

Bertheidiger. Ihr Vater hat an Delirium tremens gelitten, er war dem Trunke ergeben?

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 125

Angeklagter. Mein Vater hat immer nur mäßig getrunfen. Ich weiß es nicht anders.

Staatsanwalt. Sie haben fich diefes unglüdfeligen Beifpield wegen jahrelang des Genufjes aller geijtigen Getränfe enthalten?

Angeflagter. O nein, nicht dieſes Beifpield halber. Ich konnte nicht anders. Ich empfand einen Widerwillen gegen Alkohol in jeder Form, den ich nicht zu unter- brüden vermochte. Ich habe jahrelang an Kopfichmerzen gelitten. Zuerft Hatte ich das Gefühl, es ſchlinge fich ein eiferner Reifen um meinen Schädel und preffe meine Schläfen zufammen, dann war es mir, als müfje das Gehirn die Schäbelvede jprengen und hervorquellen, ichlieglich, und das war das Xergite, glaubte ich, eine fremde eijerne Hand greife mir in ben Kopf und zer- malme das Gehirn. Im Yahre 1878 Titt ich am meiften an dieſem Kopfweh, ſpäter ift e8 nur fporabifch wieder eingetreten.

Es wird nunmehr zur Zeugenvernehmung gejchritten.

ALS erjter Zeuge wird Herr Karl Curio. vorgerufen. Er ift das Bild eines räftigen bveutfchen Mannes: groß und breitjchulterig überragt er den Angellagten, ſodaß biefer neben ihm wie ein Knabe ausfieht. Curio erjcheint im jchwarzen, bis hinauf zugefnöpften Salonrod und ift auch jonft elegant gekleidet. Er fpricht mit lauter ſonorer Stimme, das Geficht dem Präfidenten zugewenbet, offen- bar vermeidet er es, Kirchner anzufehen.

Präfident. Wie find Sie mit Kirchner befannt ge- worden?

Zeuge erzählt, daß ein gemeinfchaftlicher Freund bie Bekanntſchaft vermittelt habe, und jagt, Kirchner fei ein äußerst liebenswürdiger Gejellichafter gewejen, ben er möglichft viel um fich haben wollte,

126 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

Präfident. Der Vorfchlag, zu Ihnen zu ziehen, ift von Ihnen ausgegangen. Hat Kirchner jofort ange nommen?

Zeuge. Ich kann mich darauf nicht befinnen.

Präjident. Hat Ihre Frau den Gedanken angeregt, Kirchner als Hausgenofjen aufzunehmen?

Zeuge. Das weiß ich nicht mehr.

Präfident. Haben Sie eine Ahnung davon gehabt, daß Kirchner zu Ihrer Frau in nähere Beziehungen ge- treten war?

Zeuge. Das habe ih für eine Unmöglichkeit ges halten.

Präfident. Hat fih Kirchner angeboten, Sie bei Ihren Vergnügungen zu begleiten?

Zeuge. Im der Kegel ging die Aufforderung bazu wol non mir aus. Einmal wollte er mich zu einer Gemjenjagd einladen. Dieſe Einladung war aber fo jonderbar, daß ich fie ablehnte. Es war im November 1887. Ich jollte Kirchner verfprechen, niemand zu ver- rathen, wohin wir fahren würden. Der Jagdeigenthümer, jo jagte er mir, dürfe nichts davon erfahren, daß wir bei ihm jagen würben. Dieſes Geheimthun erfchien mir bevenflich, und nach einigem Zögern fagte ich Nein,

Präfivdent (zum Angeklagten). Was fagen Sie Dazu?

Angeflagter (leife lächelnd). Es war ein Scher;.. Der plögliche Einfall eines Augenblides guter Laune.

Präfident. Erzählen Sie die Borgänge des 14. Januar.

Zeuge. Ich wollte wie fonft meinen Revolver mit- nehmen. Kirchner hielt mich davon ab und fagte, fein Bleiſtock genüge vollſtändig. Arm in Arm und feherzend gingen wir aus dem Haufe. Als der Pfad enger wurde,

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 1927

ging ich voraus. Auf einmal erhielt ich einen fürchter- fihen Schlag auf das Hinterhaupt. Zum Glüd brach fich dejjen Wucht an der Feder des Claquehutes. Dieſe bat mir, wie ich glaube, das Leben gerettet. Unwillkür— lich wandte ich mich nach rechts und erhielt noch einen zweiten furchtbaren Schlag. Das Blut floß über das Geficht. Ich konnte den Attentäter nicht erfennen. Ich flüchtete nach meinem Haufe zu. Zuvor hatte ich einen britten Schlag mit dem Arme aufgefangen. Kirchner ift nach meiner Meinung der Thäter gewefen. Meine Frau hat e8 mir zwar ausreben wollen, fie hat mich aber nicht irregemacht in meinem Glauben.

Präfident. Hat Ihre Gattin felbftändig über ihr Vermögen zu verfügen?

Zeuge. Wenn meine Frau Geld von mir verlangte, habe ich e8 ihr immer gegeben. Sie bezog von ihren Aeltern eine Rente von 13500 Mark.

Präfident. Zwifchen Ihnen und Ihrer Frau beſtand ein wechjelfeitige8 Zeftament. Haben Sie über vafjelbe einmal mit Kirchner gefprochen?

Zeuge. Davon weiß ich nichte.

Präfident. Hat Ihre Frau jemals die felbftändige Verwaltung ihres Einkommens verlangt?

Zeuge. Sa wohl, kurze Zeit vor dem Attentate. Sie wollte fich deshalb an ihren Vater wenden. Als Grund gab fie an, daß fie in ihren Ausgaben nicht controlirt jein wollte.

Präfident. Was veranlafte Sie, Kirchner für ben Attentäter zu halten?

Zeuge. Weil e8 fein anderer Menfch fein fonnte.

Präfivdent. Was hat Kirchner nach Ihrer Anficht mit dem Attentate beabfichtigt?

Zeuge. Das weiß ich nicht.

128 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

Präfident. Wollte er Sie nur verlegen oder tödten?

Zeuge Wer folhe Schläge führt, hat es auf das Leben des Bedrohten abgejehen.

Präfivdent. Glauben Sie, daß Ihre Frau von dem Attentate vorher wußte, das heißt, daß fie mit Kirchner einverjtanden war?

Zeuge (feſt). Das Halte ich für ausgefchlojjen. Wenn fie ſich von mir hätte ſcheiden laſſen wollen, jo hätte e8 ihr nur ein Wort gefoitet.

Präjident. Wie deuten Ste aber die Stelle in dem Briefe Kirchner’8 an Ihre Frau, daß fie ruhig fein könne, daß alles, was fie zu compromittiren wermöchte, ver: nichtet fei?

Zeuge. Da wird er wol Liebesbriefe meiner Frau darunter verjtanden haben.

Präſident. Sie halten aljo ein folches Einverjtänd- niß für vollkommen ausgefchlojjen?

Zeuge Für ganz ausgejchloffen.

Präfident. Haben Sie an Kirchner Zeichen von Geiftesftörungen irgendeiner Art bemerft?

Zeuge. Niemals. Im Gegentheil, er war immer ſehr gejcheit.

Präfident. Waren Ihre DVerletungen ſchwerer Natur.

Zeuge Die Heilung hat 8—10 Tage erfordert.

Bertheidiger Dr. Benedikt (zum Zeugen). Haben Sie mit Ihrer Frau gelebt?

Zeuge. Sa.

Vertheidiger Dr. Benedift. Ich meine ehelich- intim verkehrt? |

Zeuge Ich fühle mich nicht verpflichtet, darüber Auskunft zu geben.

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 129

Die Zeugin Gärtnersgattin Katharina Grubitſch hat das Stubenmäbchen Anna rufen hören: ‚Der Kirch- ner bat unfern Herrn erjchlagen.”” Herr Curio fchrie: „Laßt mir den Kirchner nicht herauf, ſonſt erſchieß' ich ihn!” Die gnädige Frau hat es ihm ausreden wollen, daß es der Kirchner geweſen ift.

Präfident. Iſt Frau Curio nach dem Attentat in ven Garten hinuntergegangen ?

Zeugin. Freilich. Die Gnädige hat mit dem Herrn von Kirchner gefprochen und dann oben den Dienftboten gefagt: „Der Kirchner wälzt fich dort beim Baum herum wie ein Narr.”

Staatsanwalt. Hat Frau Curio auch nachher über die That geiprochen ?

Zeugin. Ja. Sie hat gejagt: „Es wär’ beſſer gewejen, wenn er ihn ganz erjchlagen hätte.” (Be— wegung.)

Die Zeugin Anna Zöllner, Stubenmäbchen bei Frau Curio, wußte von dem intimen Verhältniffe zwifchen Kirchner und ihrer Herrſchaft. Befragt über die Be— ziehungen ver Eheleute Curio zueinander jagt fie aus: Ka, das hat ein jeder merfen müffen, daß die Gnädige den Herrn nicht mögen hat. Ich habe e8 auch gehört, wie fie nach dem Attentate ausgerufen hat: „Es ift ſchad', daß er ihn nicht ganz erfchlagen hat, wenn er ihn nur orbentlich getroffen hätte!‘

Therefia Grubitfch, die achtzehnjährige Tochter des Gärtners, bezeugt: Alle haben gewußt, daß Frau Curio eine Liebſchaft mit Herrn Kirchner Hatte. Nach dem Attentat brachte die Gnädige den Stod Kirchner's in die Küche, zeigte ihn den Dienftleuten und fagte: „Kicchner kann meinen Mann nicht gejchlagen haben, denn jein Stod ift nicht blutig.“

XXIV. 9

130 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

Dr. Karl Kohn, Gemeindearzt in Döbling, ift in der Nacht des 14. Januar zu Herrn Curio gerufen wor- den und hat denſelben umnterjucht und behandelt. Die Wunde war an fich eine leichte, ver Heilungsproceß ver- (tief normal, eine Gehirnerjchütterung war nicht eingetreten und Herr Curio nah 6—8 Tagen wwieberhergejtellt. Er hat pflichtgemäß die Anzeige erjtattet. Der auf dem Gerichtstifche Tiegende Stod Kirchner’8 ift nach feiner Ueberzeugung geeignet, die fraglichen Verletzungen hervor- zurufen.

Frau Curio ift nicht erfchtenen. An ihrer Statt kam ein Brief, München, ven 14. Juni datirt und von einem Herrn Janſen, Commerzienrath, unterfchrieben. Derſelbe befagt, daß Klara Curio feit ihrem Weggange von Wien an hochgradiger Erregung gelitten hat und nun an einer Nervenihwäche erkrankt iſt.

Demgemäß werden die Vernehmungsprotofolle aus ber Unterjuchung verlejen.

Klara Curio hat am 24. Januar ausgejagt: „Es ift richtig, daß ich mit Kirchner feit längerer Zeit ein intimes Verhältniß gehabt habe und daß wir häufig in Abfteigequartieren Zufammenfünfte hatten. Jedoch war vie legte Zufammenkunft drei Wochen vor dem At- tentate. (I!) Kirchner hat von mir Geld zur Bezahlung des Abjteigequartiers erhalten. Sonjt gab ich ihm leih- weise 1000 Mark. Am Freitag, 13. Ianuar, ſah ich bei Kirchner einen Brief mit der Handſchrift feiner Frau. Sch dachte mir, fie jchreibe ihm um Geld, auch war das Zimmer in der Waijenhausgaffe am 15. zu bezahlen in diefem Zimmer fanden unfere Zuſammenkünfte jtatt. Da erinnerte ich mich eines Schmudes, den ich fchon längſt verkaufen wollte; ich habe venfelben Kirchner mit der Bitte, ihn zu verkaufen, übergeben. Ich habe von

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 131

demjenigen, was fich am Abend des 14. Januar abgefpielt bat, feine Ahnung gehabt. Mein Dann und Kirchner gingen zufammen fort. Bald darauf fam mein Mann zurüd, um feinen Filzhut zu holen. Nach einigen Mi- nuten hörte ich die Slode des Haufes wieder. Mein Mann trat ein und fagte: «Klara, ſchau meinen Kopf an, wie mich der Kirchner gejchlagen hat» Er nahm feinen Revolver und jchrie: «Laß mir den Kirchner nicht herauf, ſonſt fchieße ich ihn nieder!» Ich habe ein Waſch— beden genommen und einen Schwamm, um das Blut abzu- waſchen. Ich fagte meinem Manne, er folle fo etwas von Kirchner nicht behaupten, er könne e8 nicht geweſen fett. ALS mein Mann verlangte, daß ich einen Arzt holen follte, eilte ich in den Garten und rief: «Gärtner!» «Kirch- ner!v Ich ſah eine menschliche Geftalt und erfannte, daß es Kirchner war. Was er that, weiß ich nicht. Ich war zu aufgeregt. Ich erinnere mich nur, gejagt zu haben, mein Mann wolle ihn erjchießen, er möge fich ſchleunigſt entfernen oder jo etwas vergleichen. Das Dienjtmädchen begegnete mir, fie ging zum Gärtner und ich Tief wieder zu meinem Mann.‘

Präfident. Zwei Zeuginnen haben geftern ausge- jagt, Frau Curio habe ſich nach dem Attentate in einer gelinde gejagt recht herzlofen Weife ausgebrüdt. Hieraus fönnte man fchließen, daß fie ihren Gatten haßte.

Angeflagter. Das war auch der Fall. Oft hat fie mir gegenüber geflagt: „Ich mag ihn nicht, ich fann nicht mit ihm leben!“

Der Präfident fchreitet nun zur Vernehmung der Gerichtsärzte.

Der Sachverftändige Dr. Doll gibt an: Der Blei⸗ knopf mit der elaſtiſchen Naht an des Angeklagten Stock macht dieſen geeignet, im Falle einer gewiſſen Gewalt—

9*

132 Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner.

anwendung jehr gefährliche Verlegungen herbeizuführen. Daß im gegebenen Falle eine außergewöhnliche Gewalt- anmendung ftattgefunden hat, läßt fich aus der Beichaffen- heit der Wunde nicht jchließen. Es ift anzunehmen, daß die Wucht der Hiebe durch äußere Umſtände abgejchwächt wurde; aus der Unruhe besjenigen, ber die Hiebe ge- führt, läßt fich erklären, daß der zweite Hieb fchief ge- fallen iſt.

Bertheidiger Dr. Benedikt. Konnte Kirchner, wenn er bei gefunden Sinnen war, glauben, daß biejer Stod geeignet fei, einen Menfchen zu töbten oder ihn mit einem Siebe bis zur Kampfunfähigfeit oder Bewußt- (ofigfeit zu betäuben ?

Sachverſtändiger Dr. Doll. Diefer Meinung fonnte er jein.

VBertheidiger Dr. Benedikt. Sind Sie, Herr Doctor, der Anfiht, daß ein Mann von der mittlern Körperkraft Kirchner’8 mit einem Schlage dieſes Stodes einen fräftigen Mann tödten fönnte ?

Sadpverftändiger Dr. Doll. Die Möglichkeit ift nicht ausgejchloffen. Auch ift e8 möglich, einen Mann durch einen folchen Dieb zu betäuben.

Präfident. Iſt mit dieſem Stode eine fchwere Körperverlegung ohne beſondere Gewaltanwendung möglich?

Sachverſtändiger Dr. Doll. Es bevarf jedenfalls der Energie und Kaltblütigfeit, um erfolgreich mit einer ſolchen Waffe anzugreifen, erjt in zweiter Linie eines größern Grades phyſiſcher Kraft.

Der zweite Sachverftändige Dr. Haſchek ſchließt fich in feinen Ausführungen dem Gutachten des früher ver- nommenen Dr. Doll an, hebt aber beſonders hervor, daß bei größerer Kraftanwendung der Hieb auch eine tödliche Wirkung hätte hervorbringen Fönnen.

Der Procek wider Joſeph Johann Kirchner. 133

Bertheidiger Dr. Benedikt. Gegenüber biejen Behauptungen, die meinem Clienten eine Kraft beimefjen, die derjelbe entſchieden nicht beſitzt, ftelle ich ven formellen Antrag, die Muskulatur des Angeklagten von den Ge- richtsärzten unterfuchen und prüfen zu laffen.

Präfident. Herr Staatsanwalt, find Sie mit die— ſem Antrage einverjtanden?

Staatsanwalt. Ich muß mich entſchieden dagegen ausiprechen. Der Angeklagte ift nunmehr feit fünf Mo— naten in Haft und infolge deſſen gewiß weniger kräftig als vorher.

Sachverſtändiger Dr. Doll. Ich muß wieber- holen, daß in erjter Linie die Energie des Willens zu berücdfichtigen tft, weit mehr als die fräftigere Entwide- lung der Muskulatur.

Präfident. Ich werde einen Gerichtsbejchluß ein- Holen.

Der Gerichtshof bejchließt, die von der Vertheidigung beantragte Beweisaufnahme nicht zuzulaffen, weil es für die Frage, ob der Verſuch eines Verbrechens vorliege, gleichgültig bleibt, ob der Angeklagte in der Lage war, _ die That auszuführen; weil die Annahme, daß die förper- liche Kraft des Angeklagten während einer fünfmonat- lichen Haft gelitten, berechtigt erfcheint, endlich weil die ſachverſtändigen Gerichtsärzte erklärt haben, daß jelbit ein minder fräftiger Mann bei entjprechenvder Handhabung des vorliegenden Stodes als Angriffswaffe durch einen Hieb einen Menfchen betäuben kann. Der Gerichtshof jtellt e8 jedoch den Gejchworenen anbeim, von ihrem Rechte, eine derartige Beweisaufnahme zu begehren, Ge— brauch zu machen.

Die Gefchworenen verzichten auf dieſe Beweisauf- nahme.

134 Der PBrocef wider Joſeph Johann Kirchner.

Die ald Zeugin geladene Frau Marianne Röffel iſt eine Dame von 35 Jahren, Hein, ſchmächtig, mit bligen- den jchwarzen Augen und tiefſchwarzem Haar. Sie fieht angegriffen und bleich aus, ihre Gefichtszüge find aber, wenn fie fich im Gejpräche beleben und eine leichte Röthe über ihre Wangen huſcht, einnehmend. Sie muß in früherer Zeit jehr hübſch geweſen ſein. Ihr Anzug ver- räth Gejchmad und eine gewiſſe Eleganz.

Frau Röffel fagt aus: Ich Habe Kirchner anläßlich einer Landpartie am 5. Juli 1876 kennen gelernt. Ich war verwitwet, alleinftehend und felbitändig. Wir fanden aneinander Gefallen und liebten uns bald herzlich. Mit- mir zufammengezogen ift Kirchner erjt im Jahre 1880. Ih wußte, daß er verheirathet war, und feine Frau wußte von feiner Liebe zu mir. Er ift wiederholt zu jeiner Frau zurücgefehrt und hat erjt dann definitiv mit ihr gebrochen, als fie darauf beftand, er müſſe fich zwi— ihen uns beiden entjcheiben.

Präfident. Haben Sie in dem Benehmen Kirch- ner's früher etwas Auffälliges bemerkt?

Zeugin. Das erjte mal ſchon im Jahre 1877. Er behauptete, ein Nagel laufe an ver Zimmerwand fpazieren. Zuerſt hielt ich e8 für einen fchlechten Spaß, als ich aber ſah, daß feine Züge verftört und feine Augen irre waren, erfannte ich, daß er Frank fein mußte. Kirchner war jehr eiferfüchtig; er bildete fich ein, man wolle gewaltjam in unjere Wohnung dringen und ihn ermorden, er hat Leute vom Fenſter aus gejehen, während niemand ba war. Im Jahre 1878 litt er befonbers an folchen Wahniveen. Er war auf einen gewifjen Bertolini eiferfüchtig und wähnte jih von dieſem fortwährend verfolgt. Dieje Perjon war aber ein Wahngebilve, jemand, der gar nicht erijtirt hat. So hat er mir am 9. Ianuar jenes Jahres unter ben

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 135

Zeichen heftigiten Entſetzens erzählt, Bertolini jet ihm nachgegangen und lauere ihm an der Hausthür auf. Kurze Zeit darauf ftürzte er in ber Küche ohmmächtig zufammen. Als er fich erholt hatte, verficherte er, Ber- tolini habe in einem Winfel der Küche geftanden und ein Mefjer bereit gehalten, um ihn zu erjtechen. Er habe es ihm aber entriffen und in den Leib geftoßen. Ich glaubte mich nicht berechtigt, Länger zu jchweigen, und habe da— mals Anzeige an die Polizei eritattet. Die Polizei hat auch eine ärztliche Unterfuchung veranftaltet, aber e8 wurbe feftgejtellt, vaß feine Geiſteskrankheit vorliege.

Präfident. Können Sie noch über ein auffallendes Vorkommniß berichten?

Zeugin. Kirchner ift einmal ohne irgendwelchen Grund aus einem Kaffeehaufe auf der Lanpitraße, wo wir beifammenjaßen, weggelaufen und mehrere Tage ver- ichollen geblieben. Als er zurüdfam, erzählte er mir, er habe fich, ohme zu wifjen wie, auf der Galerie des Carl- Theaters bei der Vorftellung einer Operette befunden und fich gefragt, wie er dorthin fomme. Dann jet er zu feiner Yamilie gegangen, als ob er niemals bort weggegangen wäre Ein andermal ijt er vor der Thür meines Schlaf: zimmers ohnmächtig umgefallen, weil er bemerft hatte, daß mir Briefe unter die Thürfpalte herein zugejchoben worden waren. Eines Tages fchrie er plößlich auf: es baue jemand mit einem Hammer auf ihn los. Er machte mir in wildejter Art die unerhörteiten Vorwürfe und Hagte viel über Kopfichmer;.

Präſident. Wuften Sie von Kirchner’8 Verhältniß mit Frau Curio?

Zeugin. Er hat mir ſelbſt davon gefagt.

Präjident. Kirchner ift nach dem Attentate zu Ihnen gefommen?

136 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

Zeugin. Am Sonntag, den 15. Ianuar, aljo am Tage danah, nachmittags zwijchen 2 und Y/,3 Uhr.

Präfident. In welchem Zuftande war Kirchner, als er zu Ihnen kam?

Zeugin. Er war fehr aufgeregt. Ich fagte: „Du fiehft aber derangirt aus!” Er antwortete: „Du wirft gleih hören, warum.” Er zog mid und das Kind an, fih und brach in heftiges Weinen aus. Dann erzählte er mir, er fei mit Curio fortgegangen, da ſei plößlich ein Menſch gelommen und habe wie ein Wüthender auf Curio [osgejchlagen. Er habe ſich nicht rühren können, es habe ihn wie ein Starrframpf überfommen.

Präfident. Sagte Kirchner, man werde ihn für den Thäter halten?

Zeugin. 9a. Er fagte, er fei allein mit Curio ge— wejen und fürchte, daß man ihn für ven Mörder halten fünne. Er warf fich angefleivet auf das Bett und lag eine Stunde wie todt. Dann erwachte er und jagte: „Jetzt bin ich vollfommen beruhigt. Das wüſte Leben, das nur dem Vergnügen dient, gebe ih auf. Es untergräbt die Geſundheit. Ich will arbeiten und wir beide bleiben beifammen.” Darüber war ih ganz glücklich.

Schriftjteller Balduin Groller, Chefredacteur ver „Neuen Illuftrirten Zeitung‘, wird als Zeuge vernommen. Er jagt aus: Ich kenne Kirchner feit 21 Jahren, ſeit jeiner Jünglingszeit. Er hat fich ſtets als vedlicher, ehrenhafter und in gejchäftlichen Beziehungen ſehr ge- wifjenhafter Mann erwiefen. Was feinen Geifteszuftand betrifft, jo muß ich hervorheben, daß er unter feinen Be- fannten für einen „Sonderling‘ galt, dem man abnorme Streiche zutraute. Ohne einen vernünftigen Grund mie: thete er in einem Jahre mehrere Wohnungen. Was

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 137

Efjen und Trinken anlangt, jo hatte er die wunderlichiten Gewohnheiten. Er trank häufig an einem Tage 15 bis 17 Zaffen ftarfen fchwarzen Kaffee, Fleiſch er fait gar nicht, und wenn es geſchah, nur Fleisch von großen Thieren; Geflügel überhaupt niemals. Er war ein fehr warmer Thierfreund. Der Gedanke, daß ein Thier feinet- wegen getöbtet werden könnte, quälte ihn förmlich. Ge— legentlich jagte er, wie zur Entjchuldigung! „Beim Ochjen trifft dies nicht zu.“ Ich Habe auf Grund meiner Be— obachtungen ſchon vor dem Unterfuchungsrichter Fein Hehl daraus gemacht, daß ich Kirchner nicht für normal und nicht für zurechnungsfähig halte.

Poftverwalter Ludwig Finke in Preßbaum: Kirch- ner und ich waren Schulfameraden, ich Fenne ihn genau und weiß, daß er nicht im Stande it, ruhigen Blutes irgendeiner lebenden Creatur wehezuthun. Aber er litt immer an Sonverbarfeiten. Ich kann nicht behaupten, daß er von Haus aus „ein Narr” gemejen iſt, aber Schrullen hatte er immer. Al junger Menſch von 17 Jahren hat er fih in eine Frau verliebt und jahrelang hat er fie mit begeijterten Blicken angejehen, aber jich ihr niemals genähert. Von Habjucht war er zeitlebens frei. Als Kirch- ner's Vater in ziemlich ungeorpneten Verhältniſſen jtarb, hat er alles, was vorhanden war, feiner Stiefmutter über- laffen und nur einige Andenken an fich genommen, bie feine 10 Fl. Werth befaßen. Er war ein wechjelnden Stimmungen unteriworfener Gemüthsmenfch und Fonnte icheinbar ohne Uebergang von der ſchwärzeſten Nieder- gejchlagenheit plöglich in die ausgelafjenjte Heiterfeit um— ipringen. Kirchner hat ein weiches Herz gehabt, jelbit Thieren gegenüber. Er hat einen auf der Straße von einem Streifwagen überfahrenen Hund, einen ganz gar- ftigen Köter, aufgehoben, in feinen Armen nach Haufe

138 Der Proce$ wider Joſeph Johann Kirchner.

getragen und fo lange gepflegt, bis das Thier wieder- bergeftellt war.

Schriftjteller Mar Konody: Ich kenne Kirchner jeit dem Jahre 1873. Ich habe in vemfelben ſtets einen verläßlichen Menjchen und Künjtler gefunden, dem ein gegebenes Wort heilig war. Im den legten Jahren fam etwas Sprunghaftes, Unftetes, ich möchte fast jagen krank— haft Erregtes in feinem Wejen zur Geltung, was mir früher nicht aufgefallen war. Ein Beweis feines eral- tirten Wefens und ber Unruhe, die in ihm gärte, war, daß er ohne ernitlichen Anlaß häufig feine Wohnung wechjelte, ich wiederholt verhältnifmäßig glänzend ein- richtete und die durch mühfame Arbeit bezahlte Einrich- tung bald darauf achtlos verfchleuberte.

Nunmehr wird Frau Friederife Kirchner als Zeugin vorgerufen. Es ift eine blaffe, hagere und ab» gehärmte Frau von 44 Iahren, ihre hohe Geftalt ift zwar ungebeugt, aber ihre Gefichtözüge tragen feine Spuren früherer Schönheit. Sie ift höchſt einfach geffeivet und macht den Einbrud einer Frau aus dem Fleinen Bürger- ſtande.

Präſident. Wie hat ſich Kirchner gegen Sie be— nommen?

Zeugin (unter hervorbrechenden Thränen). Immer, immer gut! Er war ſtets ſehr zartfühlend. Von dem Verhältniß zur Röſſel habe ich anfangs nichts gewußt. Erſt nachdem daſſelbe etwa drei Monate ſchon gedauert hatte, iſt mir durch eine auf dem Schreibtiſche zufällig liegen gebliebene Karte Kenntniß davon geworden. Es kränkte mich tief. Ich habe meinem Manne Vorſtellungen gemacht. Er ſchien bewegt, erklärte mir aber, er könne von der Röſſel nicht laſſen. Ich vermochte den Zuſtand nicht zu ertragen und verlangte von ihm, er müſſe ſich

Der Procef wider Joſeph Iohann Kirchner. 139

zwijchen uns entjcheiven. Da zog er zur Röſſel. Er unterließ e8 aber nicht, nach Kräften für mich materiell zu forgen. Er gab mir urjprünglic 70 Fl. monatlich und bezahlte ven Zins der Wohnung, im legten Jahre aber einigemale weniger, nur 50 Fl. und einmal jogar nur 40 3. Er hatte gewiß felbjt nicht mehr. Die Monats- raten hat er pünktlich gezahlt, bis zum legten Tage. Mehr: mals kam er, von der Röffel purchgehend, zu mir und ven Kindern zurüd. Er jagte mir dann immer, er könne ohne mich nicht leben.

Präfident. Dann fagte er aber auch, er könne ohne bie Röſſel nicht leben.

Zeugin. Sa, das fagte er, und ging wieder zu ihr zurück.

Präſident. Wie iſt Ihnen Kirchner überhaupt vor: gefommen ?

Zeugin. DO, er ift ein außergewöhnlicher Menſch.

Präfident. Meinen Sie damit, jo gejcheit?

Zeugin. Auch gefcheit. Aber, er war auch über- ipannt. Einmal hat er mir mitgetheilt, er habe in Bos— nien einen Menjchen umgebradht. Ich war ganz unglüd- lich darüber, und dann jtellte fich heraus, daß fich alles nur in jeiner Phantafie ereignet hatte.

Hierauf wird das Gutachten der Gerichtsärzte Dr. Hinterftoißer und Dr. Fritſch verlejen, deſſen Er- gebniß dahin geht:

Herr Joſeph Kirchner ift ein allerdings etwas ercen- trifch veranlagtes Individuum, welches in ben Jahren 1878 und 1879 an Zuftänden pſychiſcher Irritation ge- litten bat, mit Ausnahme jener Zeit und feither, jowie auch zur Zeit der Verübung des ihm zur Xaft gelegten Verbrechens als geiftesgeftört nicht bezeichnet werben kann.

140 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

An das Gutachten anfnüpfend erflärt Dr. Hinter- ftoißer: Die Aerzte hatten ihre Aufgabe in breifacher Richtung zu fuchen und zu unterjuchen; erftens: Haftet dem Angeklagten von Haufe aus eine ererbte Geijtes- abnormität an? Zweitens: Sind im Laufe jeines Lebens temporäre Geiftesftörungen conftatirt worden? und brit- tens: Haben ſich aus der Unterfuchung Anhaltspunfte ergeben, daß der Angeflagte zur Zeit der incriminirten Thathandlung fi in einem Zuftande der Geijtesver- wirrung befand?

Zur erften Frage konnten die Sachverftändigen raſch Stellung nehmen. Weder aus den Angaben der Zeugen, noch aus denen des Angeklagten ergaben fich beachten®- werthe Momente für die Annahme einer Geiftesfranfheit. Die von den Zeugen erhärteten Ercentricitäten Kirchner’s feine zahlreichen Liebjchaften, fein unftetes Wefen, jein häufiges Wohnungswechfeln u. ſ. w. find noch Feines- wegs Zeichen von Geiftesftörung. Niemand kann be- haupten, daß Kirchner fich feiner jeweiligen Lage nicht bewußt gewejen ift. Auch in dem Verkehr der Gerichts- ärzte mit dem Angeklagten ift nicht® hervorgetreten, was eine erbliche Geiftesftörung annehmen läßt. Kirchner ift eine moralifch veranlagte Natur, er hat im Sturme des Lebens dieſe moraliiche Empfindungsweife nicht ganz ein- gebüßt. In den Jahren 1878 und 1879 vang er mit fich felbjt, daher rühren die Erjcheinungen hochgradiger pinchiicher Erregung. Die von Frau Kirchner und Frau Nöffel mitgetheilten Ereigniffe, das oftmalige Entweichen und das darauf folgende Benehmen Kirchner’8 mußten bei ven Aerzten zuerft die Annahme hervorrufen, berjelbe fei ein Epileptifer. Sch betone, daß dies ber erjte Ein- drud war, die Unterfuchung jeboch hat denſelben nicht betätigt. Für Laien muß ich bier Hinzufügen, daß die

Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 141

Epilepfie in den vielfeitigiten Formen auftritt, nicht nur, wie wohl vielfach geglaubt werden mag, in Krämpfen und Convulfionen, jondern auch im zeitweiligen Ausfalfe des Bewußtjeins, beziehungsweije des Gedächtniffes, mögen bei dem erkrankten Individuum diefe Functionen immer hin ſonſt regelmäßig jtattfinden. Ich bin nun durch die Beobachtung des Angeklagten zu der Anficht gelangt, daß die Angaben, die Kirchner der Frau Röſſel über feine Bewußtlofigfeitszuftände gemacht hat, nicht auf Wahrheit berubten. Er will während biejer Anfälle Skizzen an- gefertigt und fich in fremden Gegenden herumgetrieben haben, ohne daß fein krankhafter Zuftand aufgefallen wäre und ohne daß man ihn angehalten hätte. Ich bin überzeugt davon, daß Kirchner wohl wußte, was er that, wenn er der Röſſel entwich. Die von ihm vorgefchütte Bewuptjeinsitörung war eine leere Ausflucht, um fein Entweichen der Röſſel gegenüber zu bejchönigen. Wenn aber auch Franke Illuſionen nicht bewiefen find, fo kann doch jein auffallendes Gebaren aus einer gewiffen Stö- rung des pſychologiſchen Gleichgewichts entfprungen fein. Es ijt darum die Möglichkeit nicht auszufchließen, daß der Angeklagte in den Jahren 1878 und 1879 piuchiich geſtört gewejen ift. Allein feitvem ift fein Anzeichen eines wiederholten berartigen Gehirnreizes aufgetreten und con- jtatirt worden. Auch im Moment der That, die dem Angeklagten zur Zaft gelegt wird, kann feine Bewußtjeins- ſtörung ftattgefunden haben, da er jelbft die Umftände vor und nach derjelben genau zu berichten weiß, bie That felbft aber, das heißt die Ausführung des Attentates durch Stodichläge richtig jo angibt, wie diejelbe verlief, und da— bei nur die eine Ausflucht vorzubringen im Stande ift, bie fich jofort als nicht ftichhaltig für jedermann darſtellt. Bon impulfiven Momenten fann bier nicht die Rebe fein.

142 Der Procek wider Joſeph Johann Kirdner.

Wenn es auch monftrös Elingt, daß ein fo hochbegabter, mit jo vielen ſympathiſchen Eigenjchaften ausgeftatteter Menſch ſich mit Mordgedanken getragen haben joll, jo muß dies boch angenommen werben. Es erübrigt nur bie Frage nach den treibenden Beweggründen, und fie löſt jih, wenn man bie höchft verfängliche Stelle in dem Driefe an Frau Curio von dem Mislingen der klügſten Eombinationen, die finanzielle Lage Kirchner’s, feine Hoff- nung auf Verjorgung durch feine Geliebte und die hoch- gradige finnliche Leidenschaft erwägt, unter deren Einfluß diefe beiden Menjchen ftanden. Dieſe Leidenſchaft bewog den Angeklagten fogar, der Frau Curio vorzujchlagen, daß fie fich vergiften follte! Mein Gutachten, welches dag Ergebniß längerer und eingehender Unterfuchungen und Beobachtungen ift, gipfelt in dem Schluffe: Kirchner ijt ein etwas excentrifch veranlagter Menjch, von Tebhafter beweglicher Phantafie. Urfprünglich moralisch, ift er durch übermäßige gejchlechtliche Ausjchweifungen in jeinem Wejen gelodert und erfchüttert, unficher und ſchwankend gewor- den, jedoch find bei ihm weber in ber Zeit vor 1878 noch nach 1879 Anzeichen feitgeftellt worden, bie ihn als unzurechnungsfähig ericheinen laſſen. Während der Zeit von 1878 und 1879 war mwahrjcheinlich eine blos tem— poräre pſychiſche Irritation vorhanden.

Ueber dieſe Ausfage des Sachverftändigen entjpinnt fich zwifchen dem Dr. Hinterjtoißer und dem Dr. Bene- dikt eine eingehende Debatte, die auf feiten des Verthei- digers mit dem Aufwande des größten Scharfjinns und weitgehendfter Sachfenntniß geführt wird. Wir bejchrän- fen uns darauf, das Weſentlichſte mitzutheilen:

Dr. Benedikt. Kommt e8 vor, daß bei einer tem- porär geiftesfranfen Perſon die Intelligenz, insbeſondere

Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner. 143

die Dialektik, joweit fie fih der Außenwelt gegenüber

äußert, unberührt bleibt?

| Dr. Hinterftoißer. In ganz bejondern Ausnahme: fällen ift dies wohl vorgefommen, aber im allgemeinen

iſt die impulfive Irrfinnshandlung nur als Symptom

eine8® im ganzen abnormen Geifteszuftandes zu be—

trachten.

VBertheidiger. Krafft-Ebing fagt, daß an derartigen Irrfinnigen nicht nur die Intelligenz erhalten bleibe, fon- dern daß jolche Irrfinnige fich gar oft der größten gefell- ichaftlichen Beliebtheit erfreuen. Er führt in feinen ein- ichlägigen berühmten Unterfuchungen Fälle gerade von Künftlern an, bei denen dieſes zutraf.

Sachverſtändiger. Mir ift e8 wohl befannt, daß Krafft-Ebing den Beitand temporären Irrſinns nur bei Geiftesfranfen anerkennt. Ich bin auch urjprünglich von der Anſchauung ausgegangen, Kirchner ſei ein Irrfinniger, und bin erjt allmählich nach Monate dauernden Beobach- tungen zu ber Weberzeugung gelangt, daß dieſe Woraus- ſetzung unrichtig war.

Bertheidiger. Geben Sie zu, daß eine zeitweilige Geiftesftörung bei Kirchner ftattgefunden hat ?

Sachverſtändiger. Wenn ich das vorausjeßen fönnte, jo müßte ich jagen, daß er geiftig erfranft war.

Bertheidiger. Sch bitte das zu protofolliren. Was jagen Sie zu dem Einjchlafen Kirchner’8 während einer Lection? zu feinem Ohnmachtsanfalle im Theater?

Sachverftändiger. Wenn man einmal im Burg— theater ohnmächtig wird oder während einer Lection ein- ichläft, fo ift dies noch fein Zeichen abnormer pſychiſcher Zuftände.

VBertheidiger. Sie geben aber zu, daß zeitweilige ©innestrübungen bei der epileptiichen Neuroje vorfommen?

144 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirchner.

Halten Sie nun eine derartige Störung bei Kirchner für ausgejchloffen ?

Sadverjtändiger. Müßte ich annehmen, daß das Attentat von einem Menfchen ausgeführt wurde, ber an epileptifcher Neuroje leidet, jo würde ich auch den Schluf machen, daß eine Sinnestrübung vorgelegen habe. Allein das Benehmen des Angeklagten nach der That wider: ipricht der Annahme, daß fich Kirchner bei der Aus- führung in einem Zuftande temporärer Sinnesvermwirrung befunden hat.

Bertheidiger. Sie ziehen Ihre Schlüffe, wie ich ichon wiederholt bemerfte, aus juriftiichen, nicht aus pinchiatrifchen Gründen. Wie erflären Sie die räthjel- hafte Abneigung Kirchner’8 gegen alle geijtigen Ge— tränfe?

Sachverſtändiger. Der conftatirte phyfiiche Wider: wille gegen Alkohol ift ein zufälliger, nicht auf Das Geiftes- leben des Angeklagten bezüglicher Umjtand.

Der zweite Sachverftändige, Dr. Fritſch, bejpricht ausführlich die Gründe, die ihn veranlafjen, vie volle Zurechnungsfähigfeit Kirchner’8 anzunehmen. Er fieht in dem Angeflagten einen etwas ercentrifchen, aber feinen geiſteskranken Menfchen. Das Benehmen Kirchner’s nad dem Attentate liefere dafür den beiten Beweis.

Auf Befragen des Vertheidigers, welcher auch bie Auseinanderjegungen dieſes Sachverftändigen einer ein- gehenden Kritif unterwirft, gibt derjelbe zu, daß geijtig erfranfte Individuen, welche an vorübergehenden Sinnes- trübungen leiden, ihre Gejchäfte fonft in normaler Weije zu erledigen im Stande find. Uebrigens können auch Epileptiler Handlungen begehen, für welche fie ver- nn find. Es gibt feinen Freibrief für folche

ranke.

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 145

Bertheidiger. Die Herren Gerichtsirrenärzte haben das Gutachten abgegeben, welches verlefen worden ift. Daffelbe zeigt meiner Anſchauung zufolge jo wejentliche Gebrechen, daß ich e8 als dem Geſetze geradezu wiber- Iprechend bezeichnen muß. Die Herren Sachverjtändigen haben fich nämlich für berufen erachtet, eine Aufgabe zu löſen, die weit über jene hinausgeht, bie ihnen geftelit war und ihnen nach dem Geſetze gejtellt werben durfte. Sie haben Dinge in den Kreis ihrer Erörterungen ge— zogen, über bie zu urtheilen fie nicht berufen find. Die Herren Sachverftändigen haben offenbar ihre perjönlichen, nicht fachmänniſch begründeten Anfichten über das Handeln des Angeklagten vor und nach der That zu einem Bilde formulirt und dieſes hinterbrein fich jachlich zu erflären geſucht. Die Sachverftändigen find befugt, auf alle Um— jtände eines ihrer Beurtheilung unterliegenden Falles Rückſicht zu nehmen, es ift jedoch nicht in ihrer Compe— tenz gelegen, die Frage der Schuld oder Nichtichuld des Angeflagten zu erörtern und zu entjcheiven. Sie jollten fi) darüber erflären, ob ber Angeklagte zur Zeit ber That geiftesgejtört oder gejund geweſen ift, und ob, ba er früher jchon einmal geiftesfrant war, auch diesmal eine Sinnestrübung ftattgefunden hat oder ftattgefunden haben kann. Im Widerfpruch mit der Strafproceßordnung haben fie aber ein Gutachten erftattet, welches der Ab- gabe eines Endurtheils durch die Aerzte gleichlommt. Ich jehe mich daher veranlaßt, zu verlangen, daß den Sach— verftändigen der ganze Fall noch einmal, jedoch nur hypo— thetiſch und mit Ausſcheidung aller zweifelhaften Umftände zur Begutachtung überwiefen werde. Eventuell beantrage ich die Einholung eines Gutachtens der medicinifchen Fa— eultät der Univerfität Wien.

XXIV. 10

146 Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner.

Staatsanwalt. Der Herr Vertheidiger Hat zwei Anträge geftellt: erftens auf Ergänzung des Gut— achtend; zweitens auf Einholung eines Gutachtend der wiener mebicinifchen Facultät. Ich fpreche mich gegen beide Anträge aus. Der erfte zielt dahin, daß die Aerzte von der Anklage ganz abjehen follen. Diefer Antrag tjt vollflommen unbegründet, denn die Sachverftändigen muß— ten aus dem Gejammtbilde der Perjönlichkeit des Ange— klagten und aus den thatfächlichen Momenten ihre Schlüffe ziehen. Der zweite Antrag ift nach der Strafprocekord- nung unftatthaft. Das Gejek bejtimmt die Fälle genau, in denen ein Obergutachten eingeholt werden foll: wenn in den Ausführungen der berufenen zwei Sachverjtändigen erhebliche Widerjprüche vorfommen, oder wenn deren Schluffolgerungen offenbar unrichtig find. Keiner von biejen beiden Fällen liegt vor. Ich bitte den hohen Ge— richtshof, die von der Vertheidigung gejtellten Anträge abzulehnen.

Der Gerichtshof bejchließt, die Anträge, gemäß ben Ausführungen der Staatsanwaltjchaft, zurüczumeifen.

Nah dem Schluſſe des Beweisverfahrend beantragt ber VBertheidiger die Zufußfrage: „ob der Angeflagte die That im Zuftande der Sinnesverwirrung verübt habe“. Der Staatsanwalt Spricht fich dagegen aus, Der Gerichts: hof jedoch beichließt nach kurzer Berathung, den Geſchwo— renen eine Hauptfrage auf verfuchten Mord, eine Zujat- frage auf die Tüde bei der Ausführung des Attentates und eine zweite Zufaßfrage, ob die That im Zuftande der Sinnesverwirrung verübt worden jet, vorzulegen.

68 folgt das Plaidoher. Staatsanmwalts-Subjftitut Hawlath recapitulirt nach einigen einleitenden Bemer— fungen die Ereigniffe bi8 zum Abend des 14. Januar und jhildert hierauf das Attentat. Nach feiner Ueberzeugung

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 147

ijt Kirchner der Thäter, er hält es für unmöglich, daß eine dritte Perfon fich zwijchen ihn und Curio gejchoben hat. Alle ven Mordverfuch begleitenden Umſtände, jein Stod mit dem Bleifnopf, den man dort fand, feine un- glaubwürdige Fabel von dem Unbefannten, der plößlich erjchienen fein foll, feine wunderliche Erzählung, daß er ganz plöglich in einen lethargifchen Zuftand verfallen jet, endlich fein Benehmen nach der That beweifen unwider- feglich die Schuld des Angeklagten.

Der Staatsanwalt jucht ferner darzuthun, daß Kirch— ner das Verbrechen vorbereitet habe, und rechtfertigt ſo— dann, weshalb die Anklage nicht auf Frau Curio erjtredt worden jei. Er fagt, er habe längere Zeit gejchwanft, aber doch endlich die Heberzeugung gewinnen müffen, daß jie zwar Mitwifferin, aber nicht Mitthäterin gewejen ſei. Sodann führt der Vertreter der Staatsbehörde aus: „Es ijt undenkbar, daß Kirchner die That nur aus Ab- neigung gegen Curio verübt hat. Mordgedanken waren ihm nicht fremd. Er ſelbſt hat angegeben, in Bosnien babe ihn die Luft erfaßt, einen Militärarzt, welcher ber Marianne Röffel die Cour machte, umzubringen. Er malte fich in feiner Phantafie die That mit allen Details jo lebhaft aus, daß er fih in den Gedanken hineinlebte und zeitweilig einbildete, er habe diefen Mord wirklich begangen. Im Jahre 1878 war Kirchner vielleicht geiftig irritirt, aber nicht geiftesfranf. Auch damals trug er fich mit Mordplänen gegen jenen Herrn Bertolini, über deſſen Perfjönlichfeit weiter nichts in Erfahrung gebracht worden ift. Nach dem Attentate gegen Curio wollte er jeine Geliebte Marianne Röffel und fein eigenes Kind im Schlafe ermorden. Das Attentat gegen Herrn Curio iſt ein verfuchter Meuchelmord. Es iſt die Frage der Zu- rechnungsfähigfeit des Angeklagten aufgeworfen worten.

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148 Der Procef wider Iofeph Johann Kirchner.

Dabei ift zu erwägen, baß wir es mit einer boppelten Bertheidigung zu thun haben. Der Angeklagte jelbit jagt: Ih bin nicht der Thäter, eine dritte Perfon hat das Verbrechen begangen. Sein Bertheidiger dagegen be hauptet: Kirchner hat die That verübt im Zuftande ver Sinnesverwirrung. Hierauf tft zu erwidern: Das Ur- theil der Gerichtsärzte muß für und maßgebend fein. Diejes Urtheil lautet: Kirchner hat vie That mit vollem Bewußtſein begangen. Die Irrenärzte, welche nur zu jehr geneigt find, geiftige Störungen anzunehmen, find eines Irrthums nach der andern Richtung hin nicht ver- dächtig. Wenn fie ein Individuum für geiftig geſund er- klären, ift dieje Diagnofe gewiß richtig. Wir müffen uns darüber Far werden, wie e8 möglich war, daß ein geijtig jo begabter Menſch wie Kirchner jo tief geſunken ift. Die Lebensführung des Angeklagten war bis zum Jahre 1878 tabelfrei, fie hat fih von da ab in abfteigender Linie be- wegt. Den erften Anftoß zu jeinem moraliihen Yalle erhielt er durch Marianne Röffel. Sie war es, die ihn jeiner Gattin und feinen Kindern entfrembete, und ihre Schuld wird nicht einmal wejentlich gemildert durch eine leivenschaftliche Liebe, denn fie hat Kirchner, mag es hier zugejtanden worden fein oder nicht, begründeten Anlaß zur Eiferfucht gegeben. Kirchner war ein Mann von muftergültiger Sparjamfeit und pebdantijcher Ordnungs⸗ liebe. Er zeichnete ſich aus durch eine bei Künftlern jel- tene Gewifjenhaftigfeit in Geldſachen und führte genau Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben. Als er das Verhältniß mit Frau Röffel angefnüpft hatte, bekam er jene Anfälle von Ermattung und Arbeitsjcheu, von denen wir gehört haben. Seine finnlichen Excefje zer- jtörten feine Gefundheit, raubten ihm aber auch den mo- raliihen Halt. Am 6. Juli 1878 fjchreibt er in jein

Der Proceß wider Joſeph Johann Kigchner. 149

Tagebuch: «Marianne zieht aufs Land. Ich bin allein.» Bon da ab beginnt der dunkle Theil feines Lebens. Die materiellen Schwierigfeiten häufen fich, denn es gilt, für einen doppelten Haushalt zu ſorgen. Er füngt eine Lieb— ſchaft an mit Frau Curio, und dieſe ift für ihn ein ein- trägliches Geſchäft. Er fpielt nicht blos die Rolle des Liebhabers dieſer Dame, fondern empfängt von ihr auch) jehr werthvolle praftiiche Beweife der Anhänglichkeit. Er wird in Eurio’8 Haufe vorzüglich verpflegt, noch beſſer als der Hausherr; Frau Curio gibt ihm aber auch hinter dem Rüden ihres Mannes Geld. Er läßt fich von ihr eine ganze Menge von Bebürfniffen bezahlen, ſogar das Reinigen der Wäfcheftüde und andere Kleinigkeiten. Eine Frau, die von einem Manne ausgehalten wird, ijt wol ſchon etwas Schmähliches, ein Mann aber, der fich von jeiner Geliebten ernähren und bezahlen läßt, jteht auf dem Gipfelpunfte der Schmach. Und auf dieſer Stufe war Kirchner angelangt. Er hatte feine Empfindung mehr für Ehre und Treue, für Männlichkeit und Selbftachtung. Eurio jollte aus dem Wege gejchafft werden, damit jeine Frau frei über ihr Geld fchalten und er feiner Luft ſchrankenlos fröhnen könnte.

„Wenn Sie dieſen Angeklagten für ſchuldig erkennen, meine Herren Geſchworenen, wird man nicht ſagen können, daß Sie eine Exiſtenz zerſtört haben. Wenn er die Strafe verbüßt hat, welche ihm kraft Ihres Verdicts auferlegt werben joll, wird er überall ein neues Leben der Arbeit beginnen können, denn die Kunſt hat überall ihr VBater- land, Vorher aber fordere ich von Ihnen, daß Sie der Schuld die Sühne folgen laffen, daß Sie die Hauptfrage bejahen, die Zufaßfragen jedoch verneinen follen.“

Nach einer kurzen Paufe nimmt der Vertheidiger das Wort. Dr. Benedikt jagt:

150 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirdner.

„Nach der aufregenden Beweisaufnahme und dem hef— tigen Meinungsjtreit der Parteien jtehen Sie vor ber ihwierigften Aufgabe, welche dem Richter gejtellt werben fann: der Enträthjelung einer geheimnißvollen Menjchen- jeele, ver Auffindung des tiefverborgenen Urjprungs von Wille und Schuld.

„An dem Tage, an dem die Verhandlung hier begann, hatte nur eine Perſon in dieſem Saale fchon zuvor bie Möglichkeit und die Gelegenheit gehabt, fich diefem Räth- jel zu nähern, wiederholt in langen Gefprächen ven Mann zu ſtudiren, der im zweiundvierzigſten Lebensjahre, nach zwanzigjähriger ftrebjamer und erfolgreicher künſtleriſcher Thätigfeit, unter der Anklage des Mordes vor Ihnen fteht. Diefe eine Berfon war der Bertheibiger. Der öffentliche Ankfläger ſchöpft das Bild der Perfon, deren That er zu verfolgen berufen ift, aus dem Stubium todter Acten, er fennt ven Mann, ven er anflagt, nicht von Geficht zu Geſicht. Erſt im Verhandlungsfaale tritt er ihm gegenüber, zu fpät, um das Bild, welches er fich von ihm ſchon zuvor entworfen hat, zu corrigiren. Der DVertheidiger fteht dem Angeklagten wejentlich näher. So jhwer e8 auch fein mag, in ein fremdes Geelenleben einen Einblid zu gewinnen, ſchon die erjte Unterredung mit Kirchner war für mich entfcheidend. Ich gefellte mid) von da an zu dem Kreife jener Freunde Kirchner’s, die mit jeltenev Treue und Innigfeit an ihm hängen, bie alle ohne Ausnahme den Gedanken, Kirchner fünne ein Verbrecher fein, entrüftet oder mit ungläubigem Lächeln zurücweifen. Der Mann, ver fo gut, jo wohlthätig, fe warmberzig in jahrelangem vertrauten Umgange fich ge- zeigt hatte, ver Mann, der feinen Wurm zertrat und einen kranken Hund auf den eigenen Armen nah Haufe trug, um ihn zu pflegen, ver um feinetwillen fein Huhn

Der Proceß wider Iofeph Johann Kirchner. 151

abjtechen ließ und fich Lieber mit Pflanzenkoſt begnügte, biefer Mann jollte ein Mörder fein! Sie haben eine Reihe jener ehrenwerthen Zeugen gehört feiner von ihnen hat auch nur ein Wort gegen den Angeklagten zu jagen gewußt!

„Auch in mir hat fich die Heberzeugung befeitigt, daß nicht Kirchner es geweſen ift, der einen Mordverſuch be- gangen hat. Mag feine Hand blindlings darauf zuge- ichlagen haben der wirkliche Menjch, der gejunde Kirch- ner wußte nichts davon.

„Man fieht oft in illuftrirten Zeitungen jogenannte Verirbilder. Ein mwüjtes Durcheinander von Strichen, in denen ber Blid ſich verliert, endlich aber fchließen ich die Linien zufammen, ein Bild tritt aus dem Rahmen hervor, zu dem bie ganze Zeichnung nur als Einleitung und Vorwand gedient hat. Einige Kleine geſchickt einge- fügte Striche genügen, um aus dem Gewirre der Linien bejtimmte Formen hervorgehen zu lajfen. Nehmen Sie dieje weg, fo bleibt nur die Frage übrig. So erjcheint mir die Anklage.

„Wirre Linien laufen durch das Leben aller Menjchen. Als man Kirchner’s Vergangenheit prüfte, ba zeigten ſich bei ihm die fraufen Linien der Sinnlichkeit, der gejchlecht- lichen Exceſſe, die zu vorübergehenver wirthichaftlicher Unordnung führten, an fich nur Eleine Fehler, die aber geſchickt gruppirt, zu einer grauenhaften Anklage fich zu— jammenbellten. So iſt das Verirbild des gemwollten, vorbebachten, worbereiteten und bewußten Mordes von dem öffentlichen Ankläger gezeichnet worden. Dieſe zerjtreuten, kunſtreich gefammelten Indicien fehen jich fürdterih an, allein eine genauere Unterjuchung zeigt, daß fie nicht zufammenftimmen und ſich wiber- Iprechen.

152 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

„Es ijt meine aufrichtige Ueberzeugung, daß wir einen kranken Mann vor uns fehen, daß ein planlofer Act im- pulfiven Wahnfinns da vorliegt, wo der Vertreter ber Staatsbehörde Abficht, Beweggrund und Vorbevacht ge- wittert hat. Zu dem verübten Verbrechen lag fein ver- nünftiger Grund vor. Die Momente, die in den Pro— ceß verflochten wurden, um Kirchner eines planmäßigen Vorgehens zu verbächtigen, find fünftlich hineingetragen. Die Ausführung des Attentats ijt eine jo unverjtändige, jo jelbjtverrätherijche und geradezu finbifche, daß fie einem Menſchen von fünf gejunden Sinnen gar nicht zugetraut werben kann, am wenigjten einem Manne von jo hervor» ragenber geiftiger Begabung, wie Kirchner e8 war.

„Zuerſt drängte fich der Verdacht auf, daß Kirchner, um Frau Curio von dem ihr läjtig und unerträglich ge- worbenen Gatten zu befreien, alſo aus leidenſchaftlicher Liebe und aus Mitgefühl zum Verbrecher geworben jet. Eine ſolche Auffaffung würde feinem Charakter eher ent- ſprochen haben. Allein die Staatsanwaltjchaft ließ dieſe Anficht fallen, weil fie fich überzeugte, daß Kirchner für Frau Curio nicht jene überwältigende Leidenjchaft empfand, bie eine ſolche That erklären würde. Die That aber war da. Sie mußte mit dem Thäter nicht nur in einen äußern, jondern auch in einen innern urfächlichen Zu- jammenhang gebracht werden, damit fie nicht von vorn— herein als eine unzurechnungsfähige Handlung erkannt wurde. Die Stodhiebe wurden deshalb zu einem Mord— attentate gemacht. Es wurden einige jener wirren Linien, beren ich früher gedachte, herangezogen; bie Gelvverlegen- beiten, in die Kirchner gerathen war, jollen der Beweg— grund zu der That gewejen fein. Dieje noch dazu unbe- deutenden finanziellen Sorgen wurden benugt, um ben Angeklagten zum Mörder aus Habfucht zu ftempeln.

» Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner. 153

„Kirchner, eine immer großmüthige und leichtlebige Natur, der jede Verpflichtung pünktlichſt einhielt, ſollte einen Mord aus den ſchmuzigſten Motiven vorbereitet und verſucht haben. Wenn die Staatsanwaltſchaft der— gleichen behauptet, jo ftellt fie eine Hypotheſe auf, die im Widerfpruche fteht mit der pſychologiſchen Entwidelung des Angeklagten, feinem ganzen Weſen, feinem Qempera- ment und jeinen geiftigen Fähigkeiten.

„Kirchner ftammt aus guter bürgerlicher Familie. Seine erjte Jugend hat er in behaglichen materiellen Berhältniffen verlebt. Sein Bater beftimmte ihn für den faufmänniihen Stand. Der fünftlerifche Trieb in ihm empörte fich gegen diejen aufgezwungenen Beruf. Unter freiwilligen Entbehrungen bezog er die Akademie der bil- denden Künfte und errang ben erften Preis. In den Sahren, in welchen er, mit einem jehr geringen Zuſchuß vom Xelternhaufe, faft darbend, doch erfüllt von idealem Streben, die Hochichule bejuchte, Ternte er die Familie des Wirthes nom Lobfowig-Keller kennen und trat zu biejer in nähere Beziehungen. Dort nahm er feine Mahl- zeiten ein und fand Credit, als diefer ihm am nöthigften war. Er ertheilte ven Töchtern Unterricht im Zeichnen, und in dem vielfachen ungeftörten Beifammenfein Enüpfte er ein intimes Verhältniß an mit der ältejten Tochter des Wirthes, einem um mehrere Jahre ältern Mädchen. Dem Vater gab er auf dem Sterbebett das Wort, feine Tochter zu heirathen. Er hat fein Verfprechen, welches ihm zur Feffel werden mußte, in männlicher Ehrenhaftig- feit eingelöft. Er ehelichte ein Mädchen, welches gänzlich unbemittelt und weber mit geiftigen Vorzügen, noch mit förperlichen Reizen ausgejtattet war. Seine Frau ftand an Bildung tief unter ihm. Das gegebene Wort war ihm aber heilig. Sie haben die Frau in Perjon vor fich

154 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

gejehen, und ich brauche nichts mehr hinzuzufügen. Kirch- ner brachte das größte und ſchwerſte Opfer. Er verzich- tete darauf, feinen Fünjtlerifchen Idealen nachzuftreben und, wie er es geträumt, ein großer Maler zu werden. Die fatale Nothwendigfeit, einen Hausſtand zu ernähren, zwang ihn, leichterm Erwerbe nachzugehen, und jo ward er Illuſtrationszeichner. Auch das väterliche Erbe hatte er feiner Stiefmutter überlafjen, vie ſonſt mittellos ver- blieben wäre. Und diefen Mann verbächtigt die Staate- anwaltichaft, das fürchterlichite Verbrechen aus Hab- jucht begangen zu haben!

„Es gelang ihm, in dem neuen, felbjtgewählten Berufe in kurzer Zeit einen Namen zu erwerben, ver weit über bie Grenzen Defterreich8 hinausging. Er war als Landichafts- zeichner zu einer Specialität erften Ranges geworben.

„Im Sahre 1876 lernte Kirchner eine Frau kennen, bie ebenjo jchön als Hochbegabt, geiftreich und gebildet und dabei tief unglüdlich war. Keine Perjon ift in diefem ichredlichen Drama härter getroffen worden als dieſe Frau, welche troß mancher fchmerzlichen Erfahrung mit unzerjtörbarer Liebe an Kirchner hängt. Die Tochter eines Mannes, der ald Staatsbeamter, als Schriftfteller und als Dichter in hervorragendem Maße Erfolg auf Erfolg gehäuft und ein dauerndes Andenken fich errungen bat, ſtand diefe Frau an Talent und Bildung, an Geift und Temperament Kirchner nahe, und fo geichah e8, wie mit naturgewaltiger Nothiwendigfeit, daß dieje beiden fich fans den und fich fo herzlich aneinanderjchloffen, daß ein Bund für das Leben daraus werben mußte. Und diejer Bund blieb fejt, troß der unfeligen Verirrung, die den Ange Hagten in die Arme der Frau Curio trieb.

„Ehe fich Kirchner entjchloß, feine Gattin zu verlaffen und ſich ganz mit feiner geliebten Marianne zu vereinigen,

Der Procef wider Iofeph Johann Kirchner. 155

hatte er ſchwere innere Seelenfämpfe durchzumachen. Er- ichöpft von Aufregungen und Seelenqualen, ein Spielball wiberjftreitender Gefühle und hin- und hergeworfen von Zweifeln über die Grenzen von Liebe und Pflicht, verlor er die Arbeitsluft und bie Arbeitsfähigfeit. Es ging ihm, dem verwöhnten Künftler, fo fchlecht, daß er und feine Ge— liebte zeitweilig auf Stroh fchlafen mußten. Dennoch hat er jeine pecuniären Verpflichtungen gegen feine Frau und feine Kinder pünktlich erfüllt. Die eigenen Entbehrungen achtete er nicht, ja er vermochte feine Geliebte zum Aufgeben ver gewohnten Behaglichkeit zu veranlaffen; aber die Frau, für die zu jorgen ihm die Ehre gebot, ließ er nicht varben. Als feine Energie wieder erwachte, änderten fich die VBerhältniffe raſch. Er erwarb reichlich, was er bedurfte. Im Kirchner lebten zwei Naturen. Er war ein fparfamer, Hleinbürgerlicher, ängjtlicher und pedantifcher Rechenmensch, der jeden Kreuzer jeiner Ausgaben auffchrieb, und dann wieder faufte er per- ſiſche Teppiche. und feltene Waffen, lud freigebig feine Freunde zum Abendeſſen, und dabei war folche Ebbe in feiner Kaffe, daß Marianne Röffel kaum zwei und drei Gulden zurüd- behalten fonnte, um die Ausgaben für den nächften Tag zu bejtreiten. Ein folder Dann macht fich feine Sorgen um bie Zufunft und wird gewiß nicht zum Raubmörder. Marianne Röffel hatte dem Angeklagten eine Häuslichkeit gejhaffen, in welcher er fich glücklich fühlte. Sie hatte ihm den Weg zur Anerkennung und zum künſtleriſchen Erfolge dadurch geebnet. Es hat mich fchmerzlich berührt, daß der öffentliche Ankläger für diefe arme Dulperin, weil fie in einer außerhalb ver jpießbürgerlichen Moral gelegenen Bahn Iebte, fo harte Worte gefunden hat. Nicht im Jahre 1878, fondern im Jahre 1886 brach in ber Geftalt des Ehepaares Curio das Verhängniß in das Leben dieſes Mannes herein. Das Ehepaar Curio

156 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirchner.

Mann und Frau waren die Dämonen, die Kirchner’s Leben zerftörten. Während die neunundzwanzigjührige, heigblütige, begehrliche Frau, welche nur neben, nicht mit ihrem Manne lebte, aber dennoch von ihm eiferfüchtig überwacht und in Eleinlicher Weife gepeinigt wurbe, in auflodernder Sinnlichkeit Kirchner ganz für fih in An— spruch nahm, zwang ihn dieſes Verhältniß, ven eigenthüm- lichen Xiebhabereien des Herrn Curio zu Dienften zu jein, das heißt, fein ftändiger Begleiter bei den fchalften und geift- lofeften VBergnügungen zu werben. Er mußte Masfenbälle bejuchen, auf denen die zweifelhaftefte Gejellichaft verkehrte, und bis zur Erichöpfung theilnehmen an dem Leben reicher genußfüchtiger Menjchen, die feinen Beruf haben.

„Herr Curio hatte feinen Hofmeifter verabjchiedet, er lud den Angeklagten ein, zu ihm zu ziehen, um fein Haus zu überwachen; er wollte ihn als feinen Genofjen nahe bei der Hand haben. Einen Wohlihäter Kirchner’s nannte ber Vertreter der Staatsbehörde den Herrn Curio. Nichts kann unrichtiger fein. Im Banne der neuen Leidenschaft opferte Kirchner feine Zeit, feine Arbeitskraft, feine Ein- nahmeguellen und feine Geſundheit. Er gerieth infolge deſſen in Geldverlegenheiten, und dieſe benugt ber öffent- liche Ankläger, um einen todbringenden Schlag zu führen. Er holt aus der Rüſtkammer die fchärffte Waffe heraus und brandmarft ven Angeflagten, indem er ihm die ver- ächtlichfte Bezeichnung zuwirft, die unfere Sprache fennt, er nennt ihn einen «ausgehaltenen Mann»! Wäre dies zutreffend, es wäre vernichtend; allein es ijt blos eine im Eifer der Rede gebrauchte Phraje.

„Kirchner hat niemals die Abficht gehabt, fich aus- halten zu laſſen. Er hat Herrn Curio vorgejchlagen, einen Theil der Hauszinsfteuer für die Villa zu tragen. Er befand fich in feiner Nothlage, er hatte Beftellungen

Der Proceß wider Joſeph Iohann Kirchner. 157

im Betrage von ungefähr 1000 Fl. und barüber zur Ausführung übernommen. Wichtig ift nur, daß er von Klara Curio das ihm angebotene Darlehn von 1000 Marf und ein Sparkaffenbuch über eine Einlage von 150 Fl. angenommen, und daß fie ihm, am Tage vor dem Un— glüf, einen alten Schmud übergeben hat, der verkauft oder verjegt werben follte. Werthvoll war dieſer Schmud nicht. Kirchner hat ihn für 40 Fl. verfegt.

„Die Anklage geht jo weit, zu behaupten, Kirchner habe Herrn Curio aus dem Wege räumen wollen, bamit Frau Curio freies Verfügungsrecht über ihr Vermögen erlange und deſſen Einfünfte ihm zuwenden könne. Allein biejen Punkt, welcher die Habjucht des Angeklagten be- weiſen joll, hat die ſonſt jo jorgfältig geführte Unterfuchung nicht Far gelegt. Frau Curio befaß fein eigenes Vermögen, jondern nur eine Rente, welche fie von ihren eltern für die Bebürfniffe des Haushaltes empfing. Der Staate- anwalt ijt der Anficht, diefe Rente habe nach dem Ab- leben des Gatten zu ihrer unbejchränften Verfügung ge- jtanden. Dies ift nicht erweislich. Ihre Aeltern konnten die Zahlung der Rente einstellen oder ihre Tochter zurüd- rufen. Das Ehepaar Curio lebte auf großem Fuße. Sie waren rei. Aber ihre Einkünfte bezogen fie zum größten Theil von dem Vermögen des Mannes, nicht von dem der Frau. Es mag fein, daß Klara Curio in Zukunft eine größere Erbichaft zu erwarten hat, bisher aber betrug ihre Rente nur 4500 Mark jährlich! ... Das ijt feine Summe, die einem Manne wie Kirchner hätte verlodend erfcheinen fönnen, das wird mir der Herr Staatsanwalt wol zugeftehen müſſen. ‘Der Angeklagte bat in jchlechten Jahren 5000 FI. verdient, in guten fat um die Hälfte mehr, und ihm traut man zu, er habe fich entjichlofien, ein Müßiggänger zu werben und mit Frau

158 Der Procef wider Joſeph Johann Kirchner.

Curio von ihrer Rente zu leben? Dieje Rente von 4500 Mark hätte ihn und Frau Curio, Frau Röffel und ihr Kind, feine Frau und feine Kinder erhalten, Kirchner hätte für die halbe Einnahme die doppelte Laſt überneh- men jollen, nur um nichts arbeiten zu müfjen? Wer joll das für möglich halten?

„Der Staatsanwalt folgert dies aus dem Umftande, daß Kirchner arbeitsunluftig geworben fei, und führt als Beweis dafür die flüchtig Hingeworfenen Aeußerungen des Angeklagten an, daß er künftig das Zeichnen aufgeben und nichts mehr arbeiten werde.

„Zugegeben, daß dieſe Aeußerungen wirklich gefallen find, wann hat je ein Künjftler, ein Dichter gelebt, ver nicht zeitweilig aus Enttäufchung, aus Unmuth an fi jelbjt gezweifelt, der nicht an einem Tage die Palette, den Stift weggeworfen und gelobt hat, nie mehr danad) zu greifen, und dennoch am nächiten Tage mit Feuereifer weiter an feinem Werfe fchaffte? Das find Stimmungen und Geelenzuftände, die jeder Künftler, auch der größte und bebeutendfte, durchzumachen verurtheilt iſt. Es liegt im Wejen der Kunft, in deren Banne er lebt und athmet, daß fie einmal ihren Jüngern als höchſtes Ideal vorjchwebt und dann wieder, mit Grillparzer's Worten, wie ein Büttel raſtlos durch das Leben peitjcht.

„Denn dies für ven abſeits vom Getriebe des Alltags- febens jchaffenden Künftler gilt, um wie viel mehr von jenem, ber im Dienfte des täglichen Brotes arbeitet. Sind jolche verzweiflungsvolle Gemüthszuftände bei einem Künftler nicht begreiflich, der dazu verdammt ift, das Rathhaus fiebenundzwanzigmal nacheinander zu zeichnen?

„And nun zur That jelbit. Noch heute liegt ein Schleier über den Greigniffen jenes Unglücksabends. Kirchner erklärt heute wie zuvor mit verjelben ruhigen,

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirhner. 159

unerjhütterlichen Beftimmtheit, daß nicht er, daß eine dritte Perſon zugefchlagen habe.“

Der Vertheidiger führt nun aus, die Bejchreibung, bie Kirchner von dem Vorgange gibt, laſſe auf eine Hal- Iucination des Angeklagten jchließen: „Wäre Kirchner bei klarem Verſtande gewejen und hätte er Herrn Curio aus bem Wege räumen wollen, jo würde eine unvernünftigere Art der Ausführung eines Mordanfalles nicht denkbar jein als die, einen Fräftigen Mann um 9 Uhr abends unmittelbar unter ven Fenſtern feiner Billa mit einem einfachen Bleiſtock nieverzufchlagen!

„Es war überhaupt nicht anzunehmen, daß ein kräf— tiger Mann wie Herr Curio auf den erjten Schlag tobt jein würde. Und trat der Tod nicht fofort ein, jo war der Angreifer verloren. Ein einziger Hülferuf mußte, wie es denn auch thatjächlich gefchehen ift, gehört werben und die Folge haben, daß Menjchen herbeieilten. Der Mörder mußte wiffen, daß der ihm an Körperfraft über- legene Curio fih zur Wehre fegen und daß er jofort er- griffen und überführt werden würde, Vor den Augen der Hausgenofjen ging Kirchner mit Herrn Curio fort. Bor jeinen Fenftern wollte er ihn nach der Annahme des Herrn Staatsanwalts erſchlagen!“

Der VBertheidiger bemüht fich, ven Beweis zu führen, daß die That verübt fei infolge eines Anfalls von Irr- finn auf epileptijcher Grundlage. Er wendet jich fcharf gegen die Gerichtsärzte, welche objectiv wol zugeben, daß jolche vorübergehende Störungen möglich find, daß Kirch- ner ein Neurotifer und vor Jahren geiftig geftört gewejen jet aber trotzdem behaupten, feine Zurechnungsfähigfeit bei dem Anfalle vom 14. Ianuar fei nicht zu bezweifeln. Die Aerzte haben als „Richter“ geurtheilt, nicht als Sachverſtändige. „Sogar die Fabel von der geplanten

160 Der Brocef wider Joſeph Johann Kirchner.

Gemsjagd ift won ihnen herangezogen worden, um ihre Anficht zu begründen. Ein Gejpräh, deſſen Wortlaut nicht zu controliven ift, das auf einen jener Scherze hinausläuft, wie. er unter Freunden leicht vorfommen fan, wenn man dem andern fein Jägerlatein auskramen hört, ein Wit, der dem trophäenlüfternen Curio eine ge— fahr- und mühevolle Jagd verhieß, eine Nederei ganz durchfichtiger Art fie jollte Stimmung machen, weil die Beweife nicht ausreichten. Die Strafproceßordnung liebt e8 nicht, daß mit «Uleberrajchungen» gearbeitet wird, und fie hat dazu gute Gründe, denn ber arglofe Gerichts- irrenarzt ift bier ftarf überrumpelt worden.

„Für jedermann, der Kirchner und feinen Abjcheu vor dem Blutvergießen, feine Weichherzigfeit fannte, liegt ber Gedanke nahe, daß wir e8 zu thun haben mit einem Act plötlicher Geiftesverwirrung. Kirchner's Borleben beweift, wie gegründet dieſe Vermuthung ij. Es liegt offenbar ein Fall des periodiſch wiederfehrenden ſoge— nannten circulären Wahnjinnd vor. Unfinnig und une logifh in der Ausführung, grundlos und im grellen Widerſpruche mit Kirchner’8 Art und Wejen läßt jich pie That des 14. Januar nur erflären und verjtehen als franfhafter Ausbruch eines gejtörten Nervenſyſtems.

„Ein Moment läßt uns am Schluffe dieſer peinlichen Unterfuhung aufathmen. E8 fehlt der blutigrothe Hinter- grund. Es iſt fein Opfer gefallen. Fürchterlich laftet der Borwurf der Blutihuld auf dem Angeklagten, aber ihn verfolgen nicht die Schatten des Erjchlagenen. Nein, wie ein Satyripiel nach der Tragödie ift es anzuhören, daß faum eine Woche nach dem «Mordverjuch» Herr Eurio auf dem Zouriftenfränzchen tanzt und in einer verjchwie- genen Nifche des Sophienjaales als Theilnehmer einer partie carrde mit Masken koſt.

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 161

„Durch nichts ift die kühne Hypotheſe ver Anklage von einer langjamen Depravation des Charakter des Ange- Hagten begründet.

„Kichner war vielmehr von jeher ein ehrenhafter, guter Menſch, der leider der Macht finnlicher Reize nicht energijch genug widerſtand. Die entjegliche Prüfung, ver er nunmehr unterworfen worden ift, wird ihn läutern, bie Schladen von ihm nehmen. Ein fchmeres, tiefes Leid bringt den Mann zur Erfenntniß jeines befjern Selbit.

„Geben Sie durch Ihr Verdict den Künftler Kirchner feinem Berufe, ven Menjchen Kirchner dem Leben wieder. Was er verfchuldet hat, das hat er tauſendfach gebüßt, e8 gehört vor feinen menfchlifchen Richterſtuhl. Morb- gedanken find feiner Seele jtetS fremd gewejen. Sprechen Sie ihn, der das einzige Opfer des Vorfalls am 14. Ja⸗ nuar it, von ber furchtbaren Anklage frei, die eine Ver- bindung von Krankheit und Zufall auf fein armes Haupt gezogen hat, und Sie werben ber Gerechtigkeit zum Siege verholfen haben.‘

In der Replif hält der Vertreter ver Staatsanwalt- Ihaft den Ausführungen des DVertheidigers, den er als einen Dilettanten auf dem Gebiete der Piychiatrie be— zeichnet, das Urtheil der fachverftändigen Gerichtsirren- ärzte entgegen. Er vertheidigt deren Gutachten als ein jachliches, wohlerwogenes und in feinen Schlußfolgerungen unmwiberlegliches. Der jchranfenlofe Egoismus und bie Verachtung aller moralifchen Sittengejege, die ber An— geflagte zur Schau getragen, würben durch eine Frei— iprechung nicht gebeffert werden. Ein Mordverſuch liege vor. Daß die jchredliche That nicht gelang, jei ein Zu- fall, der dem Angeklagten injoweit zugute fomme, als er nicht wirklich zum Mörder geworden jet. Für ben

XXIV. 11

162 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirdner.

Verſuch aber müfje er zur Verantwortung gezogen und beftraft werben.

Der Bertheidiger Dr. Benedikt entgegnet: ‚Der Staatsanwalt hat Ihnen, meine Herren Gejchworenen, gejagt, ich jei auf dem Gebiete der Piychiatrie doch nur ein Dilettant. Es mag fein, obgleich ich mich feit fünf- zehn Jahren eingehend mit den einschlägigen Studien befaffe. Aber unzweifelhaft ift, was das Geſetz vorjchreibt. Es verlangt, daß der Richter das Urtheil ſpricht. Mögen gelehrte Richter oder Geſchworene berufen fein, darüber zu entjcheiden, ob ein Angeflagter ver That, der man ihn verdächtigt, ſchuldig oder nichtſchuldig ift, ihnen allein jteht die Entſcheidung zu und nicht den Aerzten. Das Gutachten der Sachverftändigen zu prüfen, anzunehmen oder zu verwerfen ift Ihre Sache. Den Geheimnifjen des Gehirns gegenüber bleibt auch ver Arzt ewig ein Dilettant. Was in der verhängnißvollen Secunde in dem Gehirn eines Menjchen vorgegangen ift, in einem Gehirn, das unzweifelhaft zuvor fchon erfranft war, dieſes Geheimniß erforjcht Fein irdiſcher Geiſt. Die Sach— verſtändigen ſagen nur, es ſei nicht nachweisbar, daß der Angeklagte damals von einer Seelenſtörung überfallen worden ſei. Mehr können ſie nicht behaupten. Sie be— gründen aber ihre Vermuthung in einer Weiſe, die ihre Competenz überſchreitet, und in der die Aerzte immer Dilettanten bleiben werden.

„Es iſt Ihre Sache, als Richter Ihr Amt gewiffen- haft zu erfüllen. Wenn Sie zweifeln, wenn angefichts der Unfinnigfeit der That Ihnen Bedenken auffteigen und Sie fih an jene Irrfinnsfälle erinnern, von denen Ihnen die Gerichtsärzte erzählt Haben, dann begründet Ihr Zweifel allein ſchon die Verpflichtung zum Freifpruc. Laſſen Sie fich nicht verführen durch die Schlußapoftrophe

Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner. 163

des DVertreter8 der Staatsbehörde, als folle und werde ein Mann wie Kirchner durch die Arbeit im Zuchthaufe gebefjert und fein böjer Wille gebrochen werden. Kirch- ner ift fein arbeitsfchener Bagabund. Er ift ein Künft- ler, deſſen Ruf über die Grenze unfers Vaterlandes ges drungen ift, ein Künftler, der weit größere Werfe von bleibendem Werthe gejchaffen hätte, wenn ihm nicht ledig- lich die Sorge um die Erhaltung von Weib und Kind den Zeichenftift in die Hand gedrückt hätte. Kirchner, ein Mann, ver bis in die letzte Zeit eine Sahreseinnahme von 6000 Fl. bezogen hat, die er der eigenen Thätigkeit ver- dankte, der in dem Augenblide, als er fich bereit machte, in den Tod zu gehen, für die Bezahlung feiner Gläubiger bei Heller und Pfennig Sorge trug: dieſer Mann foll durch die Zwangsarbeit des Zuchthaufes gebefjert und er- zogen werben! Wohl hat er gejündigt und fich mannich- fach vergangen. Doch hätte er Aergeres verbrochen, als er wirklich gethan, das Fegfeuer dieſer dreitägigen Ver— handlung hat ihm Qualen bereitet, doppelt und dreifach gräßlich dadurch, dag nicht nur fein vergangenes Leben vor aller Augen durchgefiebt und burchgehechelt wurde, fondern auch dadurch, daß alles, was ihm lieb und theuer, verzerrt und herabgewürbigt worden iſt. Es war dies ein fchweres, ein übermenfchliches Leid. Damit ift reich- (ich gebüßt, was er gefehlt haben mag. Darum rufe ich Ihnen noch einmal zu: «Geben Sie den Künftler der Runft, ven Menjchen dem Leben wieder!» Sein ent- menſchter Böfewicht fteht vor Ihnen, ſondern ein Mann, der gejtrebt, gejtrauchelt und gebüßt hat. Laſſen Sie ihn nicht in der Kerfernacht verfommen, Im Zuchthaufe beffert man folche Leute nicht. Kirchner ift ein fchwacher, er iſt fein jchlechter Menſch. Ueben Sie Gerechtigfeit, iprechen Sie ihn frei!” 11*

164 Der Brocek wider Joſeph Johann Kirchner.

(Kirchner bricht in Thränen aus. Starke Bewegung im Auditorium.)

Der Präfident hält nun fein Rejume und übergibt den Gefchworenen die Acten. ‘Diefelben ziehen fich in ihr Berathungszimmer zurüd. Ihre Berathung währt nur breiviertel Stunde. Sie kehren in den Saal zurüd, und der Obmann verkündet das Verdict. Es lautet:

Hauptfrage (verfuchter Mord) einftimmig: Ja.

Erſte Zufagfrage (Tücke) einftimmig: Ja.

Zweite Zuſatzfrage (Sinnesverwirrung) zehn Stim— men: Nein; zwei Stimmen: Ja.

Zur Strafbemeſſung nimmt der Staatsanwalt das Wort und beantragt auf Grund des Wahrſpruchs der Geſchworenen die Anwendung des geſetzlichen Straf— ausmaßes von 10—20 Jahren ſchweren Kerkers. Als mildernd erkennt er nur das unbeſcholtene Vorleben Kirch- ner's an, als erſchwerend dagegen hebt er hervor die be— deutende Intelligenz des Angeklagten. „Seine Erziehung und ſein Umgang“, jagt wörtlich der Vertreter der Staats⸗ anmwaltichaft, ‚hätten ihn einer ſolchen That unfähig machen follen, denn er hatte ja zumeijt mit Berfonen ber bejjern, alſo auch der moralifchern Stände verfehrt. Sehr erjchwerend ift ferner, daß der Angeklagte vie Hand gegen den Gaftfreund in deſſen eigenem Haufe er- hoben bat.”

Der Vertheidiger jpricht fein tiefe® Befremden über den plößlichen Sinneswechjel des Staatsanwalts aus. In feinem Schuloplaidoyer hat derjelbe ven Ges ſchworenen „die tröftliche Verficherung‘‘ gegeben, der Ge- richtshof werde das Strafausmaß unterhalb des gejeß- lihen Strafiates bemeſſen, während der Staatsanwalt, nachdem die Verurtheilung wirflich erfolgt fei, nur noch erjchwerende Umſtände anerkenne. Die Intelligenz ift

Der Proceß wiber Zofeph Johann Kirhner. 165

durchaus Fein Erfchwerungsgrund, denn gebildete Men— jhen werben burch die Verbüßung der Freiheitsitrafen weit härter betroffen als ungebilvete Verbrecher. Zu be- achten ijt bei der Strafbemefjung, daß die Handlung des Angeklagten ganz ohne ſchädliche Folgen verlaufen, daß Herr Curio ſchon nach wenig Tagen jogar wieder tanz« fähig geweſen tjt.

Der Gerichtshof fpricht Joſeph Johann Kirch— ner bes Verbrechens des verfuchten Meuchelmordes jhuldig und verurtheilt ihn unter Anwendung bes auferorbentlichen Strafmilderungsrecht8 zu ſechs Jah— ren jhweren Kerkers. Es wurde fein Erſchwerungs— grund angenommen, als mildernd dagegen in Betracht gezogen bie Unbejcholtenheit Kirchner’8 und feine excen- trifhe Anlage, welche durch die ärztlichen Gutachten be- ftätigt wir.

Der Vertheidiger meldet die Nichtigkeitsbeſchwerde an. Eine Berufung gegen das Strafmaß ift nicht zu— fäffig, weil der Gerichtshof jelbjtändig unter die Straf- grenze des Geſetzes herabgegangen ift.

Die Verhandlung über die NichtigfeitSbefchwerbe, bei welcher wieder Dr. Benedikt den Angeklagten vertrat, endete mit der Abweijung ber Beſchwerde. Das oberite Geriht als affationshof erklärte: durch die Ver— fügungen des Gerichtshofes erjter Inſtanz jet feine Beitimmung der Strafproceßordnung verlegt und ben Geſchworenen in der Nechtsbelehrung des Präfidenten ausdrücklich mitgetheilt worden, es jtehe ihnen die Ent- icheivung über die Schuld oder die Nichtichuld des An- geflagten zu und fie feien an das Gutachten der Gerichts— ärzte nicht gebunden. Sie hätten vemnach ihr Urtheil in freier Würdigung der Beweiſe gefällt.

166 Der Procef wider Joſeph Iohann Kirchner.

Der Verurtheilte trat feine Strafe an. Er wurde in die Strafanftalt Stein an der Donau überführt. Doch feine Buße follte dort nicht von langer Dauer jein. Am 13. April 1889 ift er gejtorben.

Bald darauf meldete fich bei dem Oberſtaatsanwalt eine Dame. Berfchleiert und in tiefe Trauer gefleivet erichien Klara Curio und brachte die Bitte vor, e8 möge ihr gejtattet werden, am Grabe Kirchner’s eine ftille Andacht verrichten und ihm einen Denkſtein ſetzen zu dürfen. Ein menjchlicher, ein fajt verjühnender Zug.

Für feine Hinterbliebenen haben feine Freunde gejorgt.

Nicht nur in piychologifcher Hinficht ift dieſer Proceß merkwürdig, er iſt lehrreich auch im Hinblid auf die Ge- fahren der Judicatur durch Geſchworene. Es iſt ein Fall, der in einem jeden Lande, je nach der Nationalität ber zur Urtheilsichöpfung berufenen „Volksrichter“, einer grundverſchiedenen Auffaffung begegnen würde. Bor Tranzojen wäre Madame Curio fofett werjchleiert erjchie- nen, in pathetiichen Worten hätte der Vertheidiger von der Macht der alles befiegenvden Leidenjchaft der Liebe gerebet und ber wildernde Duft des Ehebruchs, ver romanhafte Anftrich der Verhältniffe hätten vermuthlich zur Freifprehung des Angeklagten geführt. In Italien, wo die Anſchauung, daß jeder Verbrecher feine That in geftörtem Geifteszuftande vollbringe, übermächtig ift, wäre ohne Zweifel der Irrfinn des Angeklagten angenommen und ihm die Unzurechnungsfähigfeit für feine Handlungs- weije zugejtanden worden. In England, zufolge der gro— pen Scheu, die man dort vor der pipchologifchen Zer:

Der Procek wider Joſeph Johann Kirchner. 167

gliederung der Motive hegt, hätte fich der gefunde praftijch- nüchterne Sinn des DVolfes an die Thatjache gehalten, daß eine unbeveutende Fförperliche Verlegung vorlag und nicht mehr. Wahrjcheinlich wäre der Fall gar nicht vor das Schwurgericht gelangt, der Bolizeirichter hätte fich für competent erklärt, aber auch die Geſchworenen wür⸗ den nimmermehr einen verjuchten Mord, jchwerlich auch nur einen verjuchten Todtichlag angenommen haben. Der Angellagte wäre wegen leichter Förperlicher Beſchädigung zu einer mäßigen Geldbuße verurtheilt und vielleicht wäre ihm vom Gericht befohlen worden, „ſechs Monate bins durch den Frieden der Königin nicht zu ſtören“. Nur Geſchworene deutſchen Stammes konnten eine Verurthei- lung ausjprechen, wie dies in Wien gejchehen ift. Der etwas philiftrds angehauchten bürgerlichen Moral war ein Menſch von dem Schlage Kirchner’8 von vornherein unfympathiih. Ein Mann, der von feiner Geliebten Geld annimmt und fich bis zu einem gewifjen Grabe von ihr erhalten läßt, ift nach diefer Anfchauung jo tief gejunfen und fo verächtlich, daß ihm jede Schanbthat zu— zutrauen if. Möge er durch das Zuchthaus gebefjert und geläutert werben!

Wir geftehen offen, daß wir die Anficht der Ge— ſchworenen nicht theilen. Für uns ift Kirchner weit mehr ein Unglüdlicher als ein Verbrecher.

Der Staatsanwalt fowol als der Vertheidiger haben in der Abficht, auf die Gejchworenen zu wirken, jeder in feiner Art weit über das Ziel hinausgefchoffen. “Der Staatsanwalt hat ein müßiges Geſpräch, eine launige Neckerei, wie e8 die Einladung zur Gemsjagb war, auf- gebaufcht, um den Angeklagten als einen hinterliftigen Gefellen darzuftellen, ver fich jehen lange vor dem Atten⸗ tate mit Mordplänen trug, er hat Einzelheiten, wie dem

168 Der Proceß wiber Joſeph Johann Kirchner.

befteliten Telegramm, dem Gefpräche über Revolver und Cylinderhut, eine Auslegung gegeben, vie uns gezwungen zu fein fcheint. Es war ihm darum zu thun, die Farben möglichit did aufzutragen. Der Vertheidiger dagegen hat alles auf eine Karte geſetzt. Indem er fich auf ben Standpunkt jtellte, der Angeklagte habe in einem Anfalfe von Geiftesjtörung gehandelt, verzichtete er auf jede an- dere Auslegung der Gefchichte des Attentated. Die Ge- jhworenen mußten entweder mit ihm den Angeflagten für wahnfinnig erflären oder bie Beweisführung des öffentlichen Anklägers gelten laſſen. Seiner mit Bered— jamfeit und Scharffinn verfochtenen Auffaffung ſtand in- deſſen das ſehr bejtimmte Gutachten der jachverftändigen Gerichtsärzte entgegen. Mögen dieſe in ihrer Motivirung auch über die Grenzen hinausgegangen fein, welche ihnen durch die Regeln ihrer Wifjenfchaft gezogen waren, in biefem Punkte waren fie zuftändig und ihr Urtheil maß- gebend.

Wir können in Kirchner weder mit dem Staatsan⸗ walt den grunbverberbten, chnifchen Mörder erbliden, noch mit dem Bertheidiger einen unzurechnungsfähigen Geiftesfranfen. Wir erflären uns feine That rein menfch- Gh, auf Grund der BVorgefchichte und der Natur des Angeklagten.

Kirchner war in hervorragendem Sinne, was bie ranzofen einen „homme & femmes“ nennen. In ber beutjchen Sprache fehlt ver bezeichnende Ausdruck hierfür. Sein ganzes Leben warb burch bie Beziehungen zum Weibe beftimmt, fein Einfluß auf alle Frauen, mit denen er zufammentraf, ſchien magiſch zu wirken.

Er bat feine Gattin fo jchwer gekränkt, ald man eine Frau in ihren beiligften Gefühlen verlegen kann. Er bat fie um einer andern willen verlaffen, er hat ihre

Der Procek wider Joſeph Johann Kirchner. 169

Liebe verſchmäht und ihr Jahre hindurch bewiejen, daß er für fie nur aus Pflicht umb nicht aus Neigung forgte. Dennoch hat fie in wahrhaft rührender Einfalt vor Ges richt erklärt, fie wolle nur ausfagen, wenn ihre Ausjagen ihm nüglich fein könnten!

Marianme Röffel war eim fchönes, vielumworbenes, geiſtvolles und hochgebilvetes Weib. Site jchloß fich ihm mit Leidenſchaft an, vergab ihm nicht nur mehrfache flüch- tige Untreue, fondern willigte in die Trennung, als er zu ihrer Rivalin Klara Curio z0g, wenn er ihr nur zwei Abende der Woche widmen wolle! Bor Gericht batte fie blos Worte der Liebe für ihn, jelbit als ihr vorgehalten wurde, Kirchner habe fie der Untreue be- zichtigt.

Marie Cziezek iſt ein ſchlichtes, im kleinbürgerlichen Lebenskreiſe aufgewachſenes Mädchen. Die Beziehungen Kirchner's zu ihr können, nach allem, was die Schluß- verhandlung zu Tage geförbert hat, nur flüchtige, vor- übergehende geweſen fein. Dennoch zögert fie nicht, da fie ihn in Geloverlegenheit weiß, ihr Kleines Erbtheil an— zubieten. Sie bejtimmt ihre gejchäftsunfundige Mutter dazu, das Häuschen, ihre ganze Habe, zu verſchulden, um ihm einen Dienft zu erweilen. Sie hat doch, wenn fie e8 früher nicht gewußt, inzwiſchen erfahren, wie bie Saden jtehen, mit welchen Frauen Kirchner gelebt hat, dennoch gilt im Gerichtsfaale ihr Gruß nur ihm, fie hat fein Wort des Bedauerns fir den pecuniären Berluft, den fie erleidet, fie befteht darauf, daß ihn auch nicht der geringfjte Vorwurf treffe.

Und Klara Curio ... Der Bertheidiger hat fie den Dämon genannt, der Kirchner’s Leben zeritörte, Und dieſer Vorwurf, jo hart er Flingt, ift gerechtfertigt. Sie iſt im Gerichtsfanle nicht erjchienen, fie hat es nicht

170 Der Proceß wider Joſeph Johann Kirchner.

gewagt, Zeugniß abzulegen, fie floh vor dem Schredniß ber öffentlichen Verhandlung. Aber als die Leiche Kirch- ner’s in kühler Erbe gebettet war, da hat fie fich ver- ftohlen herangejchlichen und hat an feinem Grabe geweint und gebetet.

Kirchner war eine phantafievolle, excentriſche Perjön- lichfeit. Sein Beruf und fein Temperament reizten ihn zu Ausfchweifungen, die auf ven nicht Fräftigen, nicht musfuldjen Körper zerftörend einwirken mußten. Webers dies ftand er nicht mehr in der eriten Yugenbfraft, er war über 40 Jahre alt, al8 er zu Frau Curio in intime Beziehungen trat. Diejes begehrenvde, heißblütige Weib nahm Beſitz von ihm Seele und Leib waren ihr verjchrieben. Wer mag ed ergründen, welche er- greifenden Scenen in ber verfchiwiegenen Kammer fich zwifchen ihnen abipielten. Mit welchen Worten mag fie ihm ihr Unglüc geklagt haben, an einen verhaßten Mann gebunden zu fein, während er, ber Geliebte ihre Herzens, nur heimlich, wie ein Dieb, fih zu ihr jchleichen dürfe! Und wenn fie, die Zeugenaus- jagen verfichern es übereinftimmend, nach dem Atten- tate wiederholt geklagt hat: „Warum bat er nicht beſſer zugejchlagen! warum hat er ihm nicht getöbtet!‘ jollte man da nicht annehmen dürfen, daß fie ihren Liebhaber, wer vermag e8 zu jagen wie oft, im über- wallenden Liebesraufch zugerufen hat: „Befreie mich doh von dem Menſchen! Gibt e8 denn gar fein Mittel, diefen Mann zu befeitigen!” Wir wollen damit nicht behaupten, daß Frau Curio mit folchen Nedensarten Kirchner bewußt zum Morde ihres Gat- ten aufgefordert habe, allein derartige Aeußerungen, im

- „Affeet gethban und im Augenblide von feiner Geite

ernft genommen, fie klingen oft nach und das raſche

Der Procef wider Joſeph Iohann Kirdhner. 171

Wort wird umgefeßt in die unbedachte That. Und dies, jo glauben wir, ift von feiten Kirchner’® ge— ſchehen. Es war ihm läftig und unerträglich, Herrn Curio auf feinen nächtlihen Gängen zu begleiten, er war müde, phyſiſch abgejpannt und heruntergefommen. Die Nachtruhe mußte er dem Manne opfern, dem er nur zu Willen ftand, meil er in den Banden ber Frau jhmachtete, feine Tage gehörten ihrem Dienfte. Die finnlihe Natur Kirchner’s, feine überreizten Nerven trieben ihn zu immer neuen Erceffen. Zwei Abende der Woche gehörten der Marianne wie viele Stun- den des Tages verbrachte er mit Klara Curio? Daß ihre diesbezügliche Angabe vor dem Unterfuchungsrichter unwahr ijt, daran zweifelt wohl niemand, doch wird jedermann begreifen, daß fie aus weiblihem Scham- gefühl die Wahrheit nicht angeben konnte. Kirchner hatte gehofft, durch ein Telegramm, das er fich be— ftelite, an dem fritifchen Abende fich freizumachen. Es mislang. Widerwillig, aufgeregt, erbittert folgte er Curio in den Garten. Da überfam es ihn. Sm jeinen Ohren klang der Seufzer der Geliebten: „Be— freie mich von dem Menschen!“ und in blinder Wuth, ohne die Tragweite feiner Handlung zu überlegen, ohne zu bebenfen, daß ein fo, finnlofer, mit jo unzureichenten Mitteln unternommener Angriff ſcheitern müſſe, bieb er auf den Ahnungslojen ein. Unbegreiflih, daß dieſer fih nicht zur Wehre fette und den weit jchwächern Gegner niederſchlug! Nach dem Attentat Hatte Kirchner den Kopf verloren. Sein ganzes Gebaren zeigt, daß er ſich anfänglich nicht Mar darüber werben fonnte, was er eigentlich gethan hatte. Als er zur Ruhe fam, als er in der Wohnung Mariannens in Schlummer ver- junfen war, verhafteten ihn die Drgane der öffentlichen

172 Der Broceß wider Joſeph Johann Kirchner.

Sicherheit. Das fchlecht erfonnene Märchen, welches er in der erjten Beftürzung vorbrachte und zu feinem Schaden fefthielt, Hat ihm vor den Gejchworenen großen Nachtheil gebracht.

Kirchner war unferer Anficht zufolge für feine That, wenn er fie auch im Affect beging, verantwortlich. Die Strafe aber, die ihm dafür auferlegt wurde, ftand außer Verhältnig zu feinem DVerjchulden. Leider vermag unfer Strafrecht nicht genügend zu indivibualifiren. ‘Der Leiter bed Zuchthaufes, in dem Kirchner jo bald enden follte, Gefangenhausdirector Müller, hat den Schreiber diejer Zeilen durch die Räume feiner Anftalt geführt und ihm werthvolle Aufjchlüffe über die Natur der Verbrecher, bie dort büßen, ertheilt. Er machte unter anderm auf- merffam auf einige verurtheilte Zigeuner. „Sehen Sie biefe armen Menſchen“, fagte er, „te find von ihren Richtern zu Freiheitöftrafen verurtheilt, aber in Wahr- heit zum Tode verdammt. Kein Zigeuner erträgt bie Zuchthausluft länger als einige Monate. Sie fterben am Mangel ver Freiheit. Wenn die Gejeßgebung die als unmenſchlich verpönte Prügeljtrafe für folche Xeute geftat- tete, jo wäre dies für fie einer Begnadigung gleichzuachten.“ Die feinfühlige, zarte Natur des Künftlers war ebenjo wenig im Stande, die Kerferluft lange zu ertragen. Er verhungerte bei der reichlichen, aber allzu derben Koft. Ein Zigeuner der Kunft, ijt er an der entzogenen Trei- beit gejtorben.

Der Proceß Kenthien.

(Mord. Hamburg.) 1889. 1890.

Es war am 8. April 1889, einem Montage, als mit Windesfchnelle das Gerücht einer entjeglichen Blutthat Hamburg durchflog. Ein Verbrechen, um jo gramfiger, da das Dpfer, ein zehnjähriger Knabe, Emil Steinfatt, Sohn eines auf dem Bauerberg zu Horn wohnenden Zinnwaarenhändlers, von vem Mörder in geradezu bejtia- liſcher Weiſe abgefchlachtet und verjtümmelt worden war.

Bol kindlichen Frohfinns hatte der Knabe am Nach- mittage des 7. April zwijchen 3 und 4 Uhr das Xeltern- haus verlaffen, um bei einem Gajtwirthe der Hammer- landftraße eine Beftellung zu machen, und bereit8 um 5%, Uhr fanden die auf einem Spaziergange durch die Horner Feldmark begriffenen Gehülfen des Rauhen Haufes, Hilsmann, Palm und Hoffmann, den noch warmen Leich- nam. Die bi8 auf den linfen Unterarm, welcher noch einen Feten des Hembärmels trug, völlig entfleivete Leiche lag in einem feichten Graben, welcher ſich unmittelbar neben einer kleinen mit Weidengebüjch und Heidekraut bewachjenen Anhöhe befindet, zu der von Wandsbeck her ein Feldweg führt.

174 Der Proceß Bentbien.

Bon Graufen gepadt ftarrten die drei jungen Leute das fich ihnen jo unvermuthet darbietende Bild eines vollbrachten Mordes an. Endlich ermannten fie fich, eilten in die ungefähr 1300 Schritt entfernte Rennbahn jtraße und erftatteten dem dort patrouillirenden Conſtabler Anders Anzeige von ihrem Funde. Hierauf fehrten fie zurüd in das Rauhe Haus. Der Eonftabler fuchte den Thatort auf, ihm fchloffen fich vier Knaben an: SHeit- mann, Behn, Rau und Biemann. Sie waren in ber Richtung vom Kugelfange des Schießplates des in Wands— beck garnifonirenden Hannoveriſchen Hufaren- Regiments Nr. 15 hergefommen und einem Manne begegnet, welcher in befchleunigter Gangart dem Kugelfange zuftrebte. Dies mußte der Weg fein, den der Mörder nach vollenbeter That eingefchlagen hatte, denn vom Schauplage des Ver— brechens führten Fußſpuren fie deuteten einen zier- lichen Stiefel mit befonders fpiten Abſätzen an ge= raden Wegs nach dem Kugelfange. Die Verfolger nahmen bie Fährte auf. Sie fahen denn auch bald in einer auf etwa 800 Meter geihätten Entfernung einen fie augen- Iheinlich gejpannt beobachtenden Menjchen ftehen, ver bei ihrer Annäherung fchnellften Laufes nach Jenfeld zu ent- floh, jpäter in den Barsbütteler Weg einbog und in ber bereinbrechenden “Dunkelheit verjchwand. Der Weg, ben der muthmaßliche Mörder nahm, war jumpfig, ſodaß bie Verfolger jede Spur verloren.

Conſtabler Anders veranlaßte die Benachrichtigung des Polizeibezirfsbureaus Borgfelde, und noch denjelben Abend wurde die Leiche von dem Diftrictsarzte im Beiſein des Polizeicommifjarius Sengebufch unterfucht. Die Klei- dungsstüde des Ermordeten lagen unter feinem Körper, Beinkleid und Unterhofe ftafen ineinander. Der Ober: theil des erftern zeigte veichlihe Blutſpuren, während

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Sade und Hemd in Bruft- und Haldgegend blutdurch— tränft waren. Als erwiefen war anzunehmen, daß ber Tod des Knaben auf gewaltſame Weife durch fremde Hand herbeigeführt worden und daß es fich um einen in tbierifcher Roheit verübten Mord handelte.

Der Verdacht der Thäterjchaft lenkte ſich auf einen Menſchen, den mehrere Perjonen kurze Zeit vor Auf- findung der Leiche in Gejellichaft des Knaben Steinfatt auf dem Wege nach dem Horner Moor gejehen hatten. Der Knabe war nachmittags zwifchen 31/, und 4 Uhr von feiner Mutter in die Hammerlandftrafe Nr. 180 belegene David'ſche Gaftwirthichaft gejchidt worden, um dort Bier zu beftellen. Als Begleiter nahm der Knabe den jechsjährigen Georg Borries mit. Nach der Ausjage des noch ſehr Fleinen und daher in feinen Angaben un- zuverläjfigen Kindes joll fich ihnen bei ver „Hohlen Rinne‘ ein Mann zugefellt haben. Derjelbe war in ihrer Ge- jellichaft, als fie um 4 Uhr vor der David’fchen Wirth- Schaft anfamen. Die Brüver Lehrer Adolf und Kaufmann Heinrich Claſen erwarteten um dieje Zeit ihre Schwägerin reip. Frau, welche im Magdalenenftift einen Beſuch ab- ftattete, und ftanden vor dem Haufe des David, als der von ihnen auf das bejtimmtejte wiedererfannte Kleine Borried mit dem Knaben Steinfatt won der horner Seite berüberfam. Während die beiden Knaben in das Wirth- Ichaftslocal traten, machte fich der in ihrer Begleitung befindliche und fie jet erwartende Mann an den Lehrer Claſen heran und jagte Plattveutich: „De Jungens könnt gern mit mie gahn un en Badet dregen für föftein Penn.“ Clafen, der von dem fremden Menjchen einen unheim— lichen Eindrud empfing und dem es auffiel, daß der Un- befannte gar fein Padet bei fich hatte, lenkte die Auf- merkſamkeit feines Bruders auf den fonderbaren Menſchen

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und äußerte fein Bedenken, daß die Kinder fi) in ſolcher Geſellſchaft befänden. Unterdeſſen famen die Knaben aus der David'ſchen Wirthichaft heraus und entfernten fich mit dem Manne nach der Horner Landſtraße zu. Der Heine Borries trennte fich fpäter von dem Fremden und Emil Steinfatt; diefe beiden wurden von der Witwe Koch und dem Gaftwirth Triepel nachmittags zwijchen 4 und 4"), Uhr am Ende des Horner Weges gejehen. Etwa an derjelben Stelle begegneten dem Mörder und feinem Opfer bie Knaben Hillmer und Eftein, welche ihren Schulgenofjen Emil Steinfatt beftimmt erfannten. Die Knaben Wil- heim und Emil Schmidt, Behn, Biere, Vorwerf und deſſen Bater ſahen Emil Steinfatt um 4!/, Uhr auf dem bei der Rennbahn die Verlängerung des Horner Weges bildenden Steindamm mit einem Manne um die Wette laufen und zwar nach der Richtung des Leichenfundortes. Einer der Knaben rief Steinfatt nah: „Wo wullt vu denn hen?” worauf der Fremde antwortete: „Wat geiht ju dat an?“ Bon da bis zur Stätte des Verbrechens beträgt die Entfernung fünf Minuten. Es durfte aljo als feftjtehend angenommen werben, daß die That von bem bis zulegt in Begleitung des ermordeten Kindes gejehenen Manne zwifchen 4, und 51, Uhr verübt worden war, denn um 54, Uhr hatten die bereits genannten Gehülfen des Rauhen Haufes die Leiche ge- funden.

Faſt alle Zeugen ftimmten in überrafchender Weije in der. Bejchreibung des Mörders überein. Er war etwa 22—25 Jahre alt, von mittlerer Statur, feine Haltung nicht ganz gerade, ſondern vornübergebeugt, fein Gang ihlotterig. Als befondere Kennzeichen wurden angegeben fahle Gefichtsfarbe, dünne Lippen, langgebogene Nafe, feiner brauner Schnurrbart, höher jtehende rechte Schulter.

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Der Mann trug einen bunfelblauen Rod, Iadet oder Veberzieher, ſchwarz und weiß geftreifte Beinkleider, einen Ihwarzen fteifen Filzhut mit rundem Dedel und Stiefe- fetten mit hohen Haden.

Die von der Staatsanwaltichaft in geigneter Form befannt gemachte Perjonalbeichreibung, verbunden mit einer ausgeſetzten Belohnung von 1000 Marf hatte den Erfolg, daß am 21. April, alfo 14 Tage nach ber That, durch den Eonftabler Heinrich ein Mann auf offe— ner Straße verhaftet wurde, deſſen Aeußeres fich mit dem veröffentlichten Signalement deckte.

Der Verhaftete war der am 21. Februar 1867 zu Bliesdorf, Kreis Lauenburg, geborene Schuhmachergeſelle Johann Adolf Chriſtian Benthien, genannt Ahrens, in Hamburg und Altona fünfmal wegen Bettelns und ver- botswidriger Rückkehr vorbeftraft.

Die über feine Vergangenheit gepflogenen Ermittelun- gen entrollten ein Bild größter fittlicher Verwahrlofung. Seine durch ein Krebsleiden im Geficht völlig verunjtal- tete Mutter hatte einen gewifjen Benthien als Vater des von ihr unehelich geborenen Knaben ausgegeben, doch ließ fih ein Verkehr deſſelben mit ihr nicht nachweiſen, viel- mehr herrichte im Heimatsdorfe des Verhafteten die all- gemeine Meinung, daß er gleich zwei verftorbenen Ge— ſchwiſtern das Dafein dem leiblichen Vater jeiner Mutter verdanfe. Diefer, ver Anbauer Ahrens, ftand im benf- bar fchlechteften Rufe eines arbeitsicheuen Trunkenboldes. Als der Knabe vier Jahre alt war, ftarb feine Mutter, Der Anbauer Ahrens nahm nun die Erziehung bes Ver— waiſten in die Hand, erfüllte indeß feine Pflicht in feiner Weile. Der Yunge joll diebifch, verlogen, graufam und verjchloffen geweſen jein, jich aber doch fo viel religiöſe Kenntnifje erworben haben, daß er jehr wohl Böſes vom

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Guten unterjcheiden konnte. Er war ber richtige Dorf- paria; paflirte irgendein jchlechter Streich, flugs wurbe er als Urheber bezeichnet. Sein verfommener jchmuziger Zuftand hatte zur Folge, daß ihm feine Altersgenofjen mieden. Er war entiweber allein ober er trieb ſich bei Kuhhirten umher. Als im Haufe feines Großvaters und einige Zeit danach in dem eines gewiſſen Dorenborf Feuer ausbrach, deutete das ganze Dorf mit Fingern auf ihn als den Branpftifter. Auch fogenannte Knicks (lebende, Wiefen nnd Felder abgrenzenb umfchließenpe Hecken) foll er angezündet haben. Mehrmals wurbe er bei Diebereien auf ber That ertappt und regelmäßig mit einer tüchtigen Tracht Hiebe beftraft. Auch als gefühl- loſer Thierquäler wird Benthien gejchildert. Er joll lebende Fröſche aufgehangen und zerjchnitten und ben Schweinen einer Frau Wörs die Ohren abzufchneiden verfucht haben. Nach der Confirmation trat der Junge in Dienft, hielt aber nirgends lange aus. Als 17jährt- ger Burjche fam er zu dem Schuhmacher Heß in Lübeck in die Lehre. Auch hier bewies er feine Unzuverläſſigkeit und Berlogenheit, zeigte jich ſchwer von Begriff, und fiel durch jein fonverbares Weſen auf. Nach beendeter Lehr⸗ zeit wendete fich Benthien nad Hamburg, wo er ein un- ftetes Leben führte, häufig die Wohnung wechjelte, ben Logiswirthen die Miethe ſchuldig blieb, fait nie arbei- tete, fondern fich einem echten Vagabundendaſein bingab. Nähern Berfehr Hat er in diefer Periode mit niemand ‚gepflogen.

Das war das aus dem Vorleben geſchöpfte Material, dem ber Unterjuchungsrichter gegenüberitand, als ihm ber Berhaftete zum erften Verhör vorgeführt wurde. Daß man fich bei der fittlichen Verkommenheit Benthien’s einer That wie der des Mordes an dem Knaben Steinfatt

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wohl verſehen konnte, war nicht zu bezweifeln, der Be— ſchuldigte leugnete jedoch mit größter Entſchiedenheit und einem nicht unbedeutenden Aufwande von Schlauheit, ſo⸗ daß der die Unterſuchung leitende Landrichter Dr. Sudeck vor einer recht ſchwierigen Aufgabe ſtand.

Den erſten Erfolg hatte er nach beinahe dreiwöchent— licher Arbeit, am 6. Juni, zu verzeichnen. Bis zu die— jem Zage hatte Benthien, trogdem ihm fast alle Zeugen als den Begleiter des ermordeten Knaben recognofeirten, entſchieden in Abrede geftellt, zur Eritiichen Zeit in ber Gegend von Horn oder Wandsbeck gewejen zu fein. Er behauptete, am 7. April feine Wohnung bei dem Schuh- macher Wulff am Billhorner Röhrendamm um 3%/, Uhr nachmittags verlafjen, fich nach dem Thurme der Nothen- burgsorter Wafjerwerfe, von da nach dem in unmittel- barer Nähe Tiegenden Meyer'ſchen Tanzſalon und hierauf nach dem Zollihuppen an der Elbe begeben zu haben, um mit feinem Logiswirthe zu fiſchen. Diefen habe er nicht getroffen, er jei deshalb nah Haufe gegangen und bajelbjt in der 10. Abenpftunde angefommen. ALS dieſe Angaben durch Zeugen, bejonders die Gebrüder Claſen, widerlegt wurden, änderte ver Angeklagte plötlich feine Zaftif, räumte ein, daß der von ihm verſuchte Altbibeweis der Wahrheit nicht entipreche, und fagte nunmehr aus: er jet allerdings am 8. April nach Horn gegangen, bort Arbeit zu juchen. Bereit früher habe er mehrmals bei Anftreicherarbeiten aushülfsweije mitgewirkt und deshalb auch bei einem Maler Koh in Hamm vorgejproden, allein nur defjen Ehefrau zu Haufe gefunden. Nun jei er noch bei einem zweiten Maler auf der Hammerland- ftraße gewejen, von welchem er zwar feine Bejchäftigung, wohl aber eine Taſſe Kaffee und einen Groſchen erhalten habe. Dann jei er nach Horn zu gewandert. Unterwegs

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habe ein ihm unbekannter Mann ihn aufgefordert, einen Koffer vom Hotel Marienthal Hinter Wandsbeck nach dem Hamburger Hof am alten Iungfernitieg zu trans portiren und fich einen Knaben als Hülfe mitzubringen. Auf der Hammerlanditrafe ſeien ihm zwei Knaben be- gegnet, die in einer Wirthichaft eine Beitellung ausrichten jollten. Er habe fie gefragt, ob fie ihn nach Marienthal begleiten und für 50 Pfennige einen Koffer tragen helfen wollten. Nachdem fie fich willig gezeigt, ſei er mit ihnen weiter gegangen. Nach einiger Zeit habe ver größere Junge ven Kleinen zurückgeſchickt. Aber auch der erjtere fei nur eine furze Strede mitgegangen, dann habe fich berjelbe von ihm getrennt, weil er feine Mutter um Erlaubniß fragen müfje. Nach etwa einjtündigem vergeblichen War- ten auf die Wieberfehr des Knaben ſei er bei Somnen- untergang wieder zu dem Maler Koch gegangen, habe jedoch abermals nur die Frau angetroffen, ſich auf den Weg nah Marienthal gemacht, port etwa eine halbe Stunde umſonſt auf den Unbefannten gewartet und ſei endlich nach furzer Einkehr bei einer Frau Zander auf dem Bauer- berg in Horn nach Haufe gewanbert.

Auf Verfügung des Unterfuchungsrichters wurde Ben- thien durch den Polizeifergeanten Hanſen herumgeführt, um bie betreffenden Leute, bei welchen er gewejen, und ven Plak, an dem er fi von dem Knaben GSteinfatt getrennt haben wollte, fejtzuftellen. Hierbei ergab fich, daß Benthien allerdings zwifchen 3 und 4 Uhr bei dem Maler Biedermann auf der Hammerlanditraße vorge- ſprochen und Kaffee nebjt Geld empfangen hatte. “Der Maler Koch ließ fich nicht ermitteln, jedoch wohnte in dem vom Bejchuldigten bezeichneten Haufe ein Maler Hanfen, bei dem Benthien möglichenfall8 . gewejen fein fann. Frau Zander, die fich übrigens fchon vorher als

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Zeugin gemeldet hatte, bejtätigte im wefentlichen feine Angaben.

Benthien ſtützte fich jetzt auf dieſe feine theilmeije bewiejenen Ausjagen und Teugnete nach wie vor bie Zhäterjchaft.

Bald waren jedoch weitere Indicien gefunven, bie ihn jchwer belafteten. Er wollte die dem Unterjuchungs- richter vorgebrachten Lügen über feinen Befuch des Wafjer- thurmes und im Meyher'ſchen Tanzſalon fowie feine an— gebliche Unkenntniß des kritiſchen Terrains damit ent- ichuldigen, daß er, wenn er fofort die Wahrheit gejagt hätte, den ungerechtfertigten Verdacht der Ermordung des Knaben Steinfatt nur noch mehr beftärkt haben mwürbe.

Das Hang nun- ganz glaubhaft. Ein bejchränfter, überdies von dem auf ihm laftenden Verdacht niederge- drückter und durch die ſchwebende Unterfuchung einge: ihüchterter Menſch Eonnte jehr wohl auf die Idee fom- men, jeden Umjtand, der auch nur entfernt mit der That in Verbindung zu bringen wäre, beharrlich abzumehren und jelbjt zwingenden Zeugenausfagen gegenüber zu leug- nen; bad wäre, wie gejagt, möglich geweſen. Nun wurde dem Benthien aber durch die Unterfuhung nach- gewiejen, daß er jene erjte Erzählung ſchon am Abenve des 7. April, als die Kunde von dem Morde noch gar nicht in weitere Kreife gebrungen war und fein Verdacht auf ihm Taftete, mit mehrern Zufägen feinem Logiswirth Wulff aufgetifcht hatte. Offenbar war ihm aljo bereits daran gelegen, fein Zufammenfein mit dem Knaben in Horn zu verfchweigen. Auch die erwähnten Zufäge find harakteriftiich für das Vertheidigungsſyſtem Benthien’s, denn fie betreffen ein weitere8 Indicium gegen ihn. Er erzählte Wulff, er ſei vom Meyer'ſchen Zanzjalon nad der Elbbrüde gegangen, in beren Nähe habe ein Kater

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geſeſſen, den er aus Erbarmen hatte mitnehmen wollen. Das Thier habe ihm jedoch die Hand zerkrallt. Hierbei wies er Wulff den rechten Handrücken, der mehrere breite und kurze, ganz friſche Kratzwunden zeigte. Wulff wollte jofort bemerkt haben, daß dieſe nicht von Katzenklauen, jondern von Fingernägeln herrührten. Auch eine bei Wulff wohnende Frau Hoffmann hatte die friſchen Ver— legungen am Tage nach dem Verbrechen gejehen. Beiver Ausjagen juchte Benthien dadurch zu begegnen, daß er die Kratzwunden fchon zwei Wochen vorher erhalten und den Zeugen gezeigt haben wollte.

Nach dem Sectionsbefund wurde die Blutthat mittels eines jcharfen Inftrumentes vollführt. Der Beſitz eines ſolchen am Eritifchen Tage wurde Benthien ebenfalls nach— gewiefen. Am 6. April Hatte er von Wulff deſſen Mieffer entliehen, um fich eine Glätte, ein Handwerkszeug der Schuhmacher, zu fchneiven. Als Wulff am Tage nad dem Morde jein Mefjer zurüdverlangte, bat der Bejchul- digte ihn dringlich, e8 noch behalten zu dürfen. Wulff hatte daffelbe mit Wachs eingejchmiert, um es vor Roſt zu jchügen, und nur eine kleine Stelle mittel8 eines Glas- ſcherbens von dem UWeberzuge befreit. Als ihm Benthien das Mefjer am 10. April zurüdftellte, war es in voll- fommen reinem Zuftande und ber Stahl zeigte verfchiedene Schrammen, die nach dem unter Eid abgegebenen Gut— achten eines Meſſerſchmiedes daher rührten, daß das Meſſer auf einem rauhen Steine gewett worden war.

Zu den rein objectiven Beweifen ift noch die Fußfpur zu zählen. Die von vem Mörder hinterlaffenen Fußſpuren find am Morgen des 8. April nochmald von dem Com⸗ miljarins Sengebujh, den Beamten Hanjen und Buſch, und auch bei der gerichtlichen Augenjcheinnahme genau gemefjen und Abprüde ſowie Ausfchnitte nach denſelben

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angefertigt worden. Uebereinſtimmend zeigten fie einen Heinen, etiva 23 Centimeter langen Stiefel, mit runden, unten jpigem, 3 Centimeter hohem Abſatze. Die Stiefel des Benthien und namentlich deren Haden deckten fich pollftändig mit den Spuren.

Diefen Ergebniffen find nach der Anklagejchrift noch folgende Indicien hinzuzufügen:

Als die Nachricht von dem Morde auh Wulff zu Ohren gelommen war und in beffen Wohnung erörtert wurde, ſprach Benthien fich in auffälliger Weile darüber aus. Unter anderm foll er bei biefer Gelegenheit ge- äußert haben: „Wer dreißig folcher Morbthaten voll» bracht Hat, wird unfichtbar; wenn fie dem angeblichen Mörder auch auf ganz freiem Felde verfolgt hätten, wäre er doch plöglich unfichtbar geworden!“

Einer Frau Scherner foll er bei einer ziveiten Ge— legenheit mitgetheilt haben, es fei doch nicht fo ſchlimm, ein Kind zu ermorden, Dauth (ver, irren wir nicht, im November 1888 den Spebiteur Hüljeberg ums Xeben ges bracht und beraubt hatte) habe eine viel fchlimmere That begangen. Der Mörder fei übrigens nicht nach Jenfeld, jondern nad Hinfchenfelde zu entflohen.

Dem Sohne diefer Frau Scherner foll Benthien am 9. April den Wunſch zu erfennen gegeben haben, er möchte wohl „Sad den Aufſchlitzer“ einmal fehen.

Am Nachmittage des 10. April endlich ift ver Be— ihuldigte in die Krügeret von Krudau gefommen und hat daſelbſt einen Schnaps getrunfen, die anweſende Wirthin fragend, ob denn der Mörder ſchon entdeckt jei. Als diejelbe. dies verneinte, foll er erklärt haben, ven Thäter ganz genau zu fennen. Er babe mit ihm zujam- men auf Steinwärber gearbeitet, wo ber Mörber zwei Heine Mädchen und einen polnifchern Arbeiter unfittlich

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attafirt habe. Er wolle mit der Anzeige aber noch ein paar Tage warten.

Der Termin zur dffentlihen Hauptverhandlung vor dem Schwurgerichte wurde auf ben 17., 18. und 19. Oc— tober feſtgeſetzt.

Dank der getroffenen Einrichtung, nur mit Einlaf- farten verjehenen Perfonen den Zutritt zu geftatten, waren vor dem Juſtizgebäude auf dem Holftenplage nur wenige Neugierige zu jehen, und auch einer Ueberfüllung des Zu- hörerraumes des großen Schwurgerichtsfanles war vor— gebeugt.

„Da e8 fich um eine Anklage wegen Mordes und ein zu erwartendes Todesurtheil handelt“, wir reprobuciren hier wörtlich den Bericht des Referenten der „Hamburger Reform‘, „bildet natürlich das jchöne und fogenannte ſchwache Gefchlecht mit der ihm angeborenen Schücdhtern- ‚beit und Sanftnuth die Mehrzahl des Publikums.”

Den Vorſitz ver Verhandlung führte Landgerichts- director Engel, die Anklagebehörde vertrat Oberſtaats— anwalt Dr. Hirsch, die Vertheidigung lag in den Hän— den des Dr. C. Augujt Schröder.

Der Angeklagte ift ein fchlanfer, mittelgroßer Menſch, mit jchmalem, bleichem Geficht, deſſen niedrige, im jchar- fen Winkel zurücipringende Stirn ſich unter dichten Ihwarzen Haar verliert, während ein kleiner hellerer Schnurrbart zwiſchen der ftarf gebogenen, das Antlig ge- wifjermaßen beherrſchenden Naſe und aufgeiworfenen Lip- pen fit.

Der auffallend hinkende Angeklagte blickt ziemlich kühl in den Saal. Die Frage des Präfidenten, ob er fich ſchuldig befenne, beantwortet er mit fefter Stimme: ‚Nein, mein geehrter Herr, was ich nicht gethan habe, habe ich nicht gethan, jo wahr ein Gott im Himmel iſt!“ Bei

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feiner Vernehmung macht er über feine Kindheit die be- reit8 früher erwähnten Angaben. Seinen angeblichen unehelihen Vater habe er nie gekannt, feiner Mutter fönne er fich nur ſchwach erinnern. Die ihm zur Lat gelegten Bergehen feiner Iugendzeit, die ihm zum Vor⸗ wurf gemachten Branpftiftungen bejtreitet er energiich. Die Heinen ihm vorgehaltenen Unregelmäßigfeiten gibt er unumwunden zu, doch will er niemals Thiere gequält haben. Bis zum 14. Jahre habe er die Dorfſchule be- jucht und gelernt, daß man nichts Böſes ausüben dürfe. Nach feiner Confirmation habe er auf verjchiedenen Stel- len gevient, ohne dem Leben eines Landmanns bejondern Geſchmack abgewinnen zu können. Er fei vom Pferde geftürzt und hinke feitvem, deshalb ſei er nach Lübeck gewandert, habe dort das Schuhmacherhandwerf erlernt und ſich 1885 nah Hamburg gewenbet. Schließlich ſei er Frank und fchwachfinnig geworben, da habe man ihn in jeinen Heimatsort gejchafft. Dort habe es ihm jedoch nicht lange behagt, er ſei wieder nach Hamburg zurüd- gekehrt. Im März 1889 fei er zu dem Schuhmacher Wulff auf dem Billhorner Röhrendamm, im April zu einem gewiſſen Wichter in der Reginenftraße gezogen. Letteres Logis habe er bis zu jeiner Verhaftung;bewohnt. Ueber jeinen Aufenthalt und jein Thun am 7. April wiederholt er die vor dem Unterfuchungsrichter abgegebene Ausjage, gefteht aber, während der Vorunterfuchung viel gelogen zu haben. Er fucht die vorgebrachten Unmwahr- heiten mit feiner Furcht, daß er noch mehr in Verdacht gerathen könnte, zu entjchuldigen. Auf Vorhalt des Prä- fidenten, daß er erft am 21. April verhaftet worden jet, jeine eingeftandenermaßen erfundene Gejchichte aber be- reit3 am Abend des 7. April dem Wulff erzählt habe, erklärt Benthien: er habe died „in der Dummheit‘ ge-

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than. Die Gejchichte von dem Kater und ven Kratzwun⸗ den habe er dem Wulff nicht an demſelben Tage, ſondern ſchon 14 Tage früher erzählt. Diefer müſſe fich irren, wenn er etwas anderes behaupte. Daß er immer ges leugnet, in der Wirthichaft ver Frau Zander gewefen zu jein, ſucht Benthien damit zu entkräften, daß er ven Ver—⸗ dacht gegen fich nicht habe beftärfen wollen.

Die Frage des Präfidenten, warum er den Aufenthalt bei der Frau Zander verjchwieg, als noch gar Fein Ver— dacht gegen ihn vorlag, beantwortete er, wie bereits früher, dahin: „das ſei in der Dummheit” gejchehen. Das Mefjer des Wulff habe er fchon drei bis vier Tage vor dem 7. April geliehen, um eine Schufterglätte zu ſchneiden, aber das dazu pafjende Holz nicht gefunden. Er habe das Meſſer gar nicht gebraucht und unbenugt in ber Hofentafche herumgetragen. Ueber die auf ber. Klinge vorgefundenen Schrammen vermöge er feine Erklärung zu geben. Die Kragwunden an feiner Hand feien zwei Wochen älter als der Mord. Der Angeflagte führt jie wieder auf ven Kater an der Elbbrücke zurücd, während vier weitere ganz gleiche Kratzwunden an feinem Leibe, deren Narben bei der förperlichen PVifitation am 29. April entdeckt wurden, durch den bejchädigten Hafen feines Hoſenriemens ver- urſacht worden feien. Sein auffälliges Hinfen rühre von dem Sturze mit einem Pferde ber.

Damit jchloß die VBernehmung des Angellagten und ver Gerichtshof trat in die eigentliche Beweisaufnahme ein. Außer ven Sachverftändigen waren 88 Belaftungs- und 19 Entlaftungszeugen gelaven.

Der erfte Zeuge, Eonftabler Anders, berichtete zu⸗ nächit die bereits befannten Einzelheiten bei Auffindung der Leiche. Er hat mit zwei Knaben und einem Arbeiter nebjt dejjen Sohn ven flüchtigen Menfchen verfolgt, ber

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jehr gut zu Fuß war und nicht hinkte. Er ift demjelben etwa 150—200 Schritte nahegeflommen und hat ihn jehr gehett, ſodaß er, der Flüchtling, ganz erſchöpft fein mußte. Auf Befragen des Vertheidigers befundete Anders, daß der von dem Entflohenen eingejchlagene Weg allerdings ein jehr ſchmuziger und jumpfiger geweſen fei.

Dr. Mingramm, Bolizeidiftrictsarzt, jchilderte den Leichenbefund. Als Zeuge am Thatorte anlangte, war es bereits dunkel und er mußte bei Katernenlicht operiren. Der Leichnam war durch Mefferjtiche völlig zerfleiicht. Die Verlegungen lieferten dem Zeugen ven klarſten Be- weis, daß das Verbrechen aus Luft am Morden vollbracht worden iſt. Eine anatomijche Kenntniß des menfchlichen Körpers ift nicht erforderlich, um die Gelenke jo zu treffen, wie fie durchichnitten waren. Die That muß mit einem ſcharfen Inftrumente ausgeführt worden fein. Ein Tafchen- meffer hält er nicht für geeignet. Auch das ihm vor— gelegte Wulff’jhe Meſſer fcheint dem Zeugen nicht groß und ſcharf genug zu fein, aber er will die Mög- lichkeit nicht beftreiten, daß dieſes Meſſer verwendet worden ijt.

Während der Zeuge bie VBerftümmelungen des Stein- fatt'ſchen Körpers bejchrieb, warf Benthien rajche jcheue Blicke in den Zufchauerraum.

Förster Otte, Polizeiverwalter in Bliesdorf, hat den Angeklagten ſtets für einen verfommenen Menſchen ge- halten, ver einer böfen That wohl fähig ift.

Lehrer emeritus Döpfe hat früher die Dorfichule zu Bliesdorf geleitet und den Angeklagten unterrichtet. Dieſer ift fein fchlechter Schüler gemwejen, aber verlogen, gegen Zureden abgeftumpft und verftellungsfähig. Zeuge hat ihm oft prophezeit: „Junge, Iunge, du nimmft ein jchlechtes Ende und ftirbft noch mal am Galgen!‘

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Der neunzehnjährige Landmann Otte hat ſelbſt gejehen, daß der Angeklagte lebende Fröſche zerſchnitt.

Der Hufner Körner hatte Benthien ein halbes Jahr als Yungen im Dienft, freute fich aber, als er ihn wieder [08 war. Der Angeklagte hat fich bei ihm einmal einen ihlimmen Fuß zugezogen, ſodaß er eine Zeit lang hinkte boch hat fich das jpäter wieder gegeben.

Der Yandmann Rethwiſch bat den Angeflagten ein Sahr als Kuhhirte bejchäftigt und ihn oftmals geprügelt; er hatte vom Großvater deſſelben Auftrag, ftrenge Zucht zu üben.

Der Holländer Greßmann ſchilderte ven Angeklagten als arbeitsjcheuen, lügenhaften und graufamen Menſchen, der eine Freude daran empfand, Thiere zu quälen. Er bat Benthien einjt ertappt, als diejer die Schweine in ihrem Kober mit einer Miftgabel blutig ftach.

Schuhmacher Heß aus Lübeck, der einftige Lehrherr Benthien’s, erzählt, wie dieſer ihn freiwillig aufgefucht und gebeten habe, ihn das Handwerk zu lehren. Zeuge hat von dem Angeklagten den Eindruck eine „dumm— ſchlauen“ Menfchen gewonnen. Beim Gehen fchleppte er das rechte Bein in hinfender Weile nad. Auf Befehl des Vorſitzenden mußte der Angeklagte mehrmals im Saale auf- und abgehen, was er in jehr flinfer Weiſe bejorgte.

Frau Sander, bei ver Benthien furze Zeit gewohnt hatte, charakterifirt ihn als „ungeheuern“ Lügner, den fie aber trogdem für dumm, ja öfters für geiftesjchwach gehalten habe.

Frau Müdenheim, bei der Benthien ebenfalls lo— girt hat, war nicht fehr erbaut von ihrem Einwohner, ber ihr unflug vorfam und allerlei Unfinn machte.

Ebenſo fprechen fich die Frauen Hanfen und Ilſen aus. Lestere namentlich betonte, daß Alles, was er ge-

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jagt, unwahr gewejen jei. Auch ihr wurde Benthien in Bewegung gezeigt; fie meint, daß er einen ähnlichen Gang immer gehabt habe.

Schuhmacher Reife, der Benthien drei Monate be- herbergte, jagt aus: er ſei ein unzuverläffiger Arbeiter gewejen, ver meift durch „Fechten“ feinen Unterhalt betritt.

Einer Frau Fride, aus deren Wohnung er ver- ihwunden war, ohne Miethe zu bezahlen, hat der An— geflagte, als fie ihn auf der Straße traf und zur Rebe jtellte, einfach erklärt, er fenne fie nicht und heiße nicht Benthien, fondern führe ven Namen Ahrens.

Bei der 74 Jahre alten Frau des Schuhmachers Martens, in deſſen Gejchäft er thätig war, beſchwerte fich der Angeklagte einmal darüber, daß er Hunger leiven müffe. Sie erwiberte ihm: wer efjen will, muß auch arbeiten. Da padte er die alte Frau an der Bruſt, warf fie zu Boden, ſteckte ihr das Halstuch als Knebel in den Mund und mwürgte fie, dann lief er davon. Der Vorgang ift damals der Polizei angezeigt worben, hat aber feine weitern Folgen gehabt.

Dr. Sthamer gibt einen Bericht über die Section ber Yeiche des Knaben Steinfatt. Es fanden fich folgende Berwundungen:

Horizontal über die Vorberfläche des Haljes eine acht Gentimeter lange Schnittwunde, durch welche das Unter- hautbindegewebe, die Fascie und ber linfe Kopfrüdenmugfel burchichnitten war.

In der Nähe des linken Schultergelenfes waren bie Weichtheile auf der Vorderſeite von der hintern Achſel— linie bi8 zum Schlüffelbein vollſtändig durchſchnitten, ebenfo die große Schlagaber und die große Blutader des Armes, Durch diefe Verwundung war der Arm fait ganz vom Körper getrennt.

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Eine vom Schwertfortiag bis zwei Finger breit ober- halb des Nabels vertikal verlaufende elf Gentimeter lange und drei Gentimeter breite, Elaffende Wunde. Im der Mitte verfelben war das Bauchfell in drei Centimeter Länge aufgejchlikt.

. Eine in der Mitte zwifchen dem Nabel und ver Schambeinfuge von rechts nach links gehende Wunde, durch welche ebenfalls das Bauchfell burchichnitten war.

Ein jehr tiefer Schnitt über dem rechten Hüftgelenf, ber ſämmtliche Weichtheile trennte und das Gelenf hinten und vorn geöffnet hatte. Durch diefe Verlegung war der rechte Dberjchenkel faſt ganz losgetrennt.

Cine oberflächliche, über die rechte Hälfte des Hoden- jades verlaufende Wunde.

Eine acht Gentimeter lange Wunde in derrechten Kniehöhle.

Vier Centimeter unterhalb der leßtern eine nach der Innenfläche des Unterſchenkels zu verlaufende vier Cen— timeter lange, zweieinhalb Centimeter breite, durch Haut- und Unterhautbindegewebe gehende Wunde.

Eine oberflächlihe Wunde auf ber Innenſeite bes rechten Oberſchenkels.

Eine in die Fascie dringende Wunde des rechten Unter: ichenfels.

Der Schnitt über den Hals ift im Leben, bie übrigen Wunden find im Tode beigebracht worden, ver Top ift zum größten Theil durch Verblutung, theilmeije aber auch durch Eritidung eingetreten. Bei der Yeichenöffnung haben fich überdies biutunterlaufene Stellen im Halje gefunden, bie auf gewaltjame Eingriffe mit der Hand hindeuten. Der Mörder muß noch nach der That mit unbegreiflihem Behagen in ven Wunden gewühlt haben, deshalb Liegt nach feiner, des Sachverftändigen, Ueber: zeugung ein Luftmord vor. Aus der Mehrzahl der Wunden

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ift das Blut mehr gequollen wie gejpritt, ſodaß ber Thäter bei einiger Borficht Blutfpuren an feiner Kleidung ver- meiden fonnte. Der Sachverjtändige hält es nicht für unmöglih, daß die aufgezählten Berlegungen von dem Wulff'ſchen Meſſer herrühren.

Der Gefängnißarzt Dr. Meyer hatte im Jahre 1885 Gelegenheit, ven Angeklagten zu beobachten, und kam da— mals zu der Ueberzeugung, derſelbe ſei ſchwachſinnig, nicht eigentlich unzurechnungsfähig, aber in der intellec— tuellen Entwidelung zurüdgeblieben, weshalb er ihn aus der Correctionshaft in feine Heimat ſchickte. Das auf feine damaligen Beobachtungen gegründete Gutachten ijt dahin zufammenzufaflen: Benthien ift criminalvechtlich für das verübte Verbrechen nicht verantwortlich zu machen, dba er einem unwiderſtehlichen Zwange aus jich heraus gefolgt iſt, deſſen Urſache in einem aus feiner organijchen Veranlagung, nicht aus der mangelhaften und vernach- läffigten Erziehung, entipringenden moralijchen Defect zu juchen if. Trotzdem hat er jo viel durch die Erziehung geivonnene Erfenntniß, bei Begehung eines Verbrechens, wie des vorliegenden, jehr wohl zu willen, daß unb was er für ein Verbrechen vollführe, aber er war jeiner orga- nischen Veranlagung nach nicht ftark genug, feinen Trieben zu wiberjtehen.

Es wurde fejtgeftellt, daß Sonnabend den 6. April, gegen 5 Uhr nachmittags, ein Mann, dejjen Beichreibung auf das Aeußere Benthien’s paßt, den in ver Rennbahn- ftraße fpielenden Knaben Steinfamp aufgefordert hat, ihm den Weg nach Jenfeld zu zeigen. Die binzulommenbe Mutter des Knaben unterjagte vemjelben jedoch, ven Fremden zu begleiten. Sie meint auch jegt, dieſen Mann in Benthien zu erkennen, nur habe verjelbe nicht jo jehr ge- hinkt. Der fleine Steinfamp erkannte den Angeklagten

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nicht wieder. Auch der zehnjährige Karl Jurs hat ven Angeklagten bereitd in den Nachmittagsjtunden des 5, und 6. April in der Gegend des Rauhen Haufes gejehen. Am lettern Tage hat Benthien verjucht, ihn an fich zu locken.

Am 7. April haben die zwölfjährige Johanna Söhrs, die gleichalte Emma Bethmann, der elfjährige Johannes Jurs und die beiden in demſelben Alter ſtehenden Knaben Heinrich Bethmann und Johannes Weſtermann, als ſie an der Hohlen Rinne und am Hohlen Wege in Horn ſpielten, einen unheimlichen Menſchen erblickt, der ſie be— obachtete und ſich an ſie heranmachen wollte. Sie alle bezeichneten Benthien als dieſen Mann.

Der Angeklagte beſtritt ganz entſchieden, jener Mann geweſen zu ſein, und behauptete nach wie vor ſeine völlige Unkenntniß der in Frage kommenden Gegend.

Der Polizeiagent Hanſen erhielt die Sache am Morgen des 8. Aprils zugewieſen und ſchilderte eingangs ſeiner Vernehmung die Augenſcheinnahme, nach der die That nicht am Fundorte der Leiche, ſondern auf der von uns bei Beſchreibung der Oertlichkeit erwähnten Anhöhe ge— ſchehen iſt, von welcher man einen ziemlich freien Anblick über die Heide hat. Blutſpuren führen von dort nach dem kleinen Graben. Die Perſonalbeſchreibungen des vermuthlichen Mörders haben merkwürdig übereingeſtimmt; es iſt nach ihnen der officielle Steckbrief entworfen worden. Als Benthien verhaftet und nach der Polizeiwache 19 ge— bracht wurde, hat der herbeigeholte Gaſtwirth Triepel den Angeklagten ſofort recognoſcier.. Der Zeuge Hanſen beſchrieb die Mühe, die er ſich gegeben hat, das von dem Angeklagten behauptete Alibi zu widerlegen, und die An— ſtrengungen Benthien's, ſich rein zu waſchen. Als er den Angeklagten einmal hinter ver Droſchke, mit der fie nach

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dem Thatorte fuhren, herlaufen ließ, äußerte Benthien, es fomme auf das Laufen an, und fing plößlich an zu binfen, während er dies vorher nie gethan hatte. Auch die von dem Polizeibeamten genommenen Fußabdrücke wurden im Laufe der Vernehmung dieſes Zeugen mit den von dem Angeklagten getragenen Stiefeletten ver- glichen. Nach der Vergleichung dedten ſich namentlich deren Abfäte genau mit ven Hadenabvrüden. Auf Wunſch des Vertheidigers wurde conjtatirt, daß allerdings bie Stiefel eines andern in dieſer Affaire VBerhafteten ebenfo genau in bie Fußſpuren gepaßt hatten. Nach der Anficht des Zeugen Hanſen ift ver Mord in der Weiſe vollbracht worden, daß der Angeklagte den Knaben von rüdwärts umfaßt, an fich gepreßt und in diefer Lage ihm den Hals durchichnitten hat, wobei das Blut nach vorn fprigte und den Thäter nicht beſudeln fonnte, während ver Knabe im frampfhaften Bemühen, fich aus der tobbringenden Umarmung zu befreien, vem Angeklagten die Kratzwunden auf der Hand beibrachte. Sergeant Hanfen tft der un- erichütterlichen Meinung, daß die Kraßwunden von ben Tingernägeln des ermordeten Kindes herrühren, trotzdem er dem DVertheidiger bejtätigen mußte, daß bei Perjonen, welche viel in Herbergen verfehren, fich oft Kratzwunden an den Händen finden. Abends 81/, Uhr wurde die Ver— handlung abgebrochen und am andern Morgen 10 Uhr fortgejegt.

Benthien hinfte in gleicher Weile auf feinen Platz und folgte der Verhandlung mit derjelben Ruhe, wie er fie tag8 zuvor gezeigt, ab und zu feinem Vertheidiger eine Bemerkung zuflüjternd, oder an einzelne Zeugen Fragen richtend, die auf eine nicht unbedeutende Dofis Schlauheit ſchließen ließen.

Als erfter Zeuge wurde der Knabe Ziemann ver-

XXIV. 13

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nommen, ber fih am 7. April mit anderen Knaben bei dem Kugelfange der wanbsbeder Hufaren aufgehalten hatte. Beim Nachhaufegehen hörten die Knaben durch einen Bruder des Rauhen Hauſes von bem verübten Verbrechen und eilten darauf ver Mordſtelle zu. Unter- wegs begegneten fie einem mittelgroßen, hagern Menfchen, der ihnen auffiel, weil er ſehr raſch Tief und augenjchein- lich abfichtlich das Antlitz abwendete. Derfelbe trug einen langen, dunklen Baletot. ALS er fpäter den verbächtigen Mann gemeinfchaftlich mit feinen Gefpielen und dem Con— ftabler Anders verfolgte, ſah er unter dem Node bes Tliehenven etwas Weißes, ohne jedoch unterfcheiden zu fönnen, ob dies das Futter ober vielleicht das Hemd war An jeine frühere Ausſage erinnert, daß er das helle Futter des Rockes erfannt habe, erwiderte der Knabe, er habe das Weiße für das Rodfutter gehalten. Den ihm in der Vorunterfuchung gezeigten Benthien’jchen Ueberzieher fonnte er nicht mit Beftimmtheit recognofeiren. Nach Haltung und Figur des Angeklagten glaubte er in demſelben eine Aehnlichfeit mit dem Berfolgten zu finden, viejer habe indeß einen anderen Hut getragen.

Die Knaben Barg, Heitmann und Behn fagten in ähnlicher Weije aus, nur wollte erjterer den vom An- geflagten getragenen Hut al8 den des Verdächtigen erkennen, und letterer behauptete, das Rockfutter fei hell gewejen, während der Baletot, mit dem Benthien bet feiner Ver— baftung befleivet war, mit dunklem Stoffe gefüttert ift. Sie find dem Berfolgten bis auf etwa Hundert Schritte nahe gefommen, haben aber nicht bemerkt, daß berjelbe hinfte oder eine jchiefe Schulter hatte.

Steinfatt, der Bater des ermordeten Knaben, be- fundete, daß fein Sohn etwa um 4 Uhr nachmittags zu dem Gaſtwirthe David gefandt worden jei. Der kleine Borries

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müffe fi auf dem Wege zu ihm gefunden haben. Bereits einige Wochen vor der Blutthat ift fein Sohn mit einem Fünfpfennigftüd nach Haufe gefommen, das er von feinem Lehrer erhalten haben wollte. Damals ift dem Knaben eingefchärft worden, von fremden Leuten auf der Straße fein Geld zu nehmen und fie nicht zu begleiten; leider ohne Erfolg.

Der ſechs Jahre alte Borried hat fi dem Knaben Steinfatt bei der Hohlen Rinne in Horn angejchlofjen. Später haben fie einen Mann getroffen, der mit ihnen ging, fie vor der David'ſchen Wirthichaft erwartete und ihn fchlieflih auf dem Rückwege fortſchickte. In dem Angeklagten erkennt er jenen Mann nicht wieder.

Der Kaufmann Heinrich Elafen fohildert die ſchon erzählten Vorgänge während des Wartens auf feine Frau in der Nähe des David'ſchen Wirthichaftslocale. Das Geſammtbild des Fremden war für ihn ein fo eigen- artiges, unangenehmes, daß er e8 nicht vergeffen Eonnte und fih am nächiten Morgen, als er dur ein Ertra- blatt von dem Morde unterrichtet wurde, fofort ber Polizeibehörde zur Verfügung ftelltee Er hat Benthien augenblidlich erfannt, als diefer ihm bei vem Unterjuchungs- richter unter einer Reihe anderer Häftlinge vorgeführt wurde. Allerdings mußte er auf Befragen des Ver— theibigers zugeben, daß ein anderer der Thäterſchaft ver- dächtig geweſener Mann ebenfalls große Aehnlichfeit mit dem von ihm am 7. April beobachteten Menjchen befefjen babe, jedoch erfennt er auch heute mit unumftöhlicher Gewißheit in Benthien jenen Fremden.

Die Zeugin Frau Koch hat einen Mann in Gejell- ichaft eines Knaben zur Eritifchen Zeit nach dem Horner Moor gehen jehen. Ihrer Meinung nach ift jener Mann unbedingt Benthien.

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Der Knabe Eftein hat ven ermordeten Steinfatt kurze Zeit vor der That mit einem Marne jehr fchnell über den Horner Steindamm wandern fehen. Der Fremde hat eine hohe Schulter gehabt und iſt ganz anders wie Ben- thien gefleivet gewejen, dennoch glaube er, diejer und jener jeien eine Perjon.

Der neunjährige Franz hat am 4. April mit feiner Heinen Schwefter und mehrern andern Kindern in der Rennbahnftraße geipielt und ift von einem hinfenven Manne mit einer hohen Schulter aufgefordert worden, gegen ein Entgelt von fünf Grojchen mit nad) Marien- thal zu gehen. Er und die andern Kinder haben fich jedoch geweigert. Der fremde Menjch ijt eiligft fort- gegangen, al8 ihre Mutter in die Nähe fam. Er wollte den Angeklagten wiebererfennen, dieſer aber bejtritt an dem betreffenden Tage in der Rennbahnſtraße geweſen zu fein. Ueber feinen Aufenthalt am 4. April wußte Ben— thien feine Auskunft zu geben. Im Laufe der Bor- unterfuchung behauptete er, diefen Tag bei dem Schuh: macher Starf verlebt zu haben, der, als folgender Zeuge vernommen, nur bejtätigen fonnte, daß Benthien vom 10. bi8 21. April bei ihm in Arbeit geftanden, und daß er ihn früher nicht kennen gelernt hatte. Schuhmacher Sunfe, über den gleichen Punft befragt, fonnte die An gaben des Angeklagten ebenfalls nicht bezeugen. Der Knabe Gierſe hat am Nachmittage des 7. April in ver Rennbahngegend mit mehrern Altersgenofjen gejpielt und gleichfall® Steinfatt mit dem fremden Manne gejehen, als beide dem Horner Moor zugingen. Er meint Benthien jei der Fremde geweſen, trage aber jett andere Kleider.

Gierſe's Gejpielen machten vdiefelben Angaben.

Der zur Zeit der Blutthat am Horner Wege wohnhafte Wirth Triepel fagte aus, er habe den ermordeten Stein-

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fatt am 7. April auf dem Wege von der Fijcherjtraße nach dem Rauhen Haufe getroffen. Der Knabe fei von einem Manne begleitet gemwejen, ven er auch heute zweifel- [08 als Benthien bezeichnen könne, da er biejem bei jener Gelegenheit feſt ins Geficht geblidt habe. ALS ver Angeklagte ihm am Tage der Verhaftung gegenüber- geftellt worden, ſei erſterer vor Beftürzung faft ohn— mächtig geworben.

Auch der Zeuge Vorwerk und deſſen Sohn haben das Opfer des Verbrechens und den muthmaßlichen Mörder am jelben Tage etwa fünf Minuten vom That: orte entfernt gefehen, und erkennen den Angeklagten wieder.

Diefer behauptet dagegen wiederholt feft und entſchieden, mit dem gemorbeten Knaben überhaupt nicht an jener Stelle gewejen zu fein. Es müſſe eine VBermwechjelung vorliegen.

Die in Horn am Bauerberg wohnende Frau Zander bat von dem Verbrechen noch am felben Abend um 7 Uhr Kenntniß erhalten. Gegen 10 Uhr betrat ein Mann völlig außer Athem ihre Wirthichaft und bat um etwas Eſſen. Da er jehr elend und berangirt ausjah, ver- abreichte fie ihm eine Taſſe Kaffee und Falte Kartoffeln, die er mit großer Gier verzehrt. Er machte ihr dabei die Mittheilung, daß er lange typhuskrank gelegen und erit aus dem Kranfenhaufe entlaffen je. Der Mann erzählte ferner, er jet Schuhmacher und wohne in ber Nähe des Wafjerthurmes. Die Zeugin, welche Erbarmen mit dem angeblichen Reconvalefcenten hatte, jchenfte ihm noch ein Stüd Sped und gab ihm den Kath, fich nicht in der Horner Gegend herumzutreiben; es jet eben ein Knabe über den Hals gejchnitten worden, da könne er leicht al8 ver That verdächtig arretirt werben, der Fremde wurde womöglich noch bläffer, eriwiderte aber nichts und

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entfernte fich. Als fie jpäter im ‚‚General-Anzeiger‘ las, daß ein Schuhmacher als des Mordes verdächtig inhaftirt worden fei, fiel ihr jener Gaft wieder ein. Sie meldete fich bei der Polizeibehörde und erkennt den ihr vorgeführten Benthien fofort und beftimmt wieder. Er hat an jenem Abende über einem Jacket einen Ueberzieher getragen und ſtark gehumpelt.

Der Angeklagte hatte bis zum 6. Juni lebhaft beftritten, jemal8 bei der Zeugin gewejen zu fein, und bei Gott dem Allmächtigen geſchworen, er habe Frau Zander nie gefehen.

Befragt, warum er diefen Beſuch fo hartnädig ges leugnet, gab Benthien zur Antwort, das müfje er rein vergeſſen haben.

Holzhändler Warnfe ift am 21. April auf dem Nachhaufewege dem Angeklagten begegnet. Da das Sig— nalement des vermuthlichen Thäters auf denjelben genau paßte, hat er ihn angeredet und gefragt, ob er ſchon von dem Morde in Horn gehört hätte. Benthien erblaßte und fing an zu zittern. Dieſe Wahrnehmungen bejtimmten den Zeugen, die Verhaftung des Verdächtigen zu veranlaſſen.

Der mit der Unterfuchung betraut geweſene Landrichter Dr. Suded fchilderte das Lügengewebe, in das fich der Angeklagte verjtridt hatte. Faſt bis zum Schluffe ver Unterjuchung ift er bei feinen unwahren Behauptungen bezüglich des Verweilens am fritifchen Tage geblieben. Er hat Benthien mit Angeftellten der Rothenburgsorter Wafferwerfe und Leuten aus Meyer's Tanzſalon confron- tirt, ohne daß auch nur einer von ihnen fich des An— geflagten zu erinnern vermochte, troßdem dieſer einen Aufjeher des Thurmes mit voller Beitimmtheit als den— jenigen bezeichnete, mit dem er fpeciell gefprochen habe. Weber die Gegenüberftellung mit ven Zeugen Claſen noch

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jene mit der Frau Zander und dem Zeugen Triepel haben einen beſondern Eindrud auf den Angeklagten gemacht. Er leugnete ſtets ftarr. Erſt am 6. Juni räumte er ein, mit dem Knaben Steinfatt in Berührung gekommen zu fein, fügte aber fofort hinzu: „Den Mord habe ich nicht begangen!” Dann hat er die Erzählung von dem Unbekannten vorgebracht, der ihn mit dem Koffertransport beauftragt haben fol. Benthien hat auf ihn den Eindrud eines nicht völlig normalen, eigenthüm- [ih veranlagten Menfchen gemacht, deſſen mangelhafte Erziehung die geiftigen Fähigkeiten möglichenfall® nicht voll ausgebildet habe; allein unzurechnungsfähig ift er ihm nicht erjchienen.

Der Schuhmacher Wulff, bei dem der Angeflagte etwa vier Wochen logirt hatte, theilte mit, daß biefer im Logis ſtets ein ruhiger, orventlicher Menfch gewejen jet, der allerdings wenig gearbeitet habe, weil ihm eine gründ- fiche Kenntniß des Handwerkes mangelte. Gelogen habe er jehr viel und oft, ſodaß der Zeuge ihn ſchließlich für ein verfommenes Subject hielt, das geiftig nicht fo ſei wie andere Menjchen. Wulff bezeugte dann bie früher erwähnten Thatſachen bezüglich des geliehenen Meſſers und der Kratzwunden.

Als er von dem Morde erfuhr, hegte er Verbacht gegen feinen Einwohner, unterjuchte feine Kleider, entdeckte aber feine Blutfpuren, und da Benthien überdies ſtets ruhig und kalt blieb, beruhigte er fich wieder. Der Ans geflagte habe ſtets den Fuß etwas nachgejchleppt, jeine jeßige Gangart jet indeffen eitel Verftellung.

Benthien antwortete auf die Frage des Präfibenten, wann er zuerft von ber Blutthat gehört, am Montag Abend durch Frau Hoffmann; als ihm vorgehalten wurde, ihon am Sonntag Abend duch Frau Zander von dem

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Verbrechen unterrichtet worden zu fein, entjchuldigte er fih mit Gedächtnißſchwäche.

Der Sacwverftändige, Meſſerſchmied Tauber, con- Itatirte als Reſultat feiner Prüfung des von dem An— geflagten geliehenen Wulff'ſchen Meſſers, daſſelbe müſſe auf einem groben Schleifſteine gewetzt worden ſein.

Dieſem Befunde gegenüber blieb Benthien bei ſeiner Ausſage, das Meſſer nur zum Zweckenputzen verwendet zu haben; über die Schrammen auf der Klinge konnte er eine Erklärung nicht geben. |

Frau Hoffmann befundet, daß der Angeklagte beim DBerlafjen feines Logis am 7. April einen Winterpaletot, graue Hojen, jpite Stiefel und einen runden Hut getragen habe. Kratzwunden an der Hand hat fie damals beftimmt nicht gejehen, wohl aber am nächiten Tage und als friiche erfannt.

Dem Fleinen Sohne der Frau Scherner hat Benthien gelegentlich erzählt, ev möchte wol einmal Jack den Auf- ichliger jehen.

Phyſikus Dr. Reinhard hat ven Angeklagten körper— lich unterfucht und die Narben an Hand und Leib con- ftatirt. Daß legtere von einer Riemenſchnalle herrührten, hält er für unmwahrfcheinlich, weil fie nach verjchiedenen Richtungen verlaufen und das Hemd zwifchen Hofe und Leib eine Schutzwand darftellt. Ob die Kratzwunden an der Hand von Menichennägeln oder einer Kate beigebracht worben find, hat er an den Narben wegen ber inzwiſchen verjtrichenen Zeit nicht genau beftimmen können, doch hinterlafjen Katzenkrallen tiefere, jchwerer heilende Wunden als Meenjchennägel, und er glaubt auch dem Alter ver Narben nah —, Benthien müfje die DVerlegungen von Menichennägeln erhalten haben. Dr. Reinhard erklärt ferner, das Hinken Benthien’s ift durch deſſen Körper-

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conftitution nicht bedingt, er hat aber die eine Hüftjeite höher als die andere gefunden, aus diefem Umſtande ift der jchlottrige Gang des Angeklagten herzuleiten, allein nicht das fimulirte Hinken, da Benthien bei demjelben das Gewicht auf den rechten Fußballen legt, während er gerade in dieſem den ihn zum Hinken veranlaffenven Schmerz verjpüren will. Er hat jett wieder das mehr- fache Hinken Benthien’8 durch den Gerichtsfaal genau beobachtet und bemerkt, daß der rechte Abfat des Benthien’- jchen Stiefels höher ift wie der linke.

Der Angeflagte meint, dann müſſe er wol den einen Abjag mehr als den andern abgelaufen haben. Ver— ſchiedene Haden an feinen Stiefeln jeien von ihm nicht angefertigt worden.

Frau Jürgens, deren Mann ein kleines Schneiver- geichäft betreibt, gab zu Protokoll, daß der Angeklagte am 9. April in ihren Laden gefommen und nach dem Preife einer Sommerhoje gefragt hat. Er ift aber vom Kaufe derjelben abgejtanden und hat fich mit ihr über ven Mord unterhalten, dabei äußernd, Menjchen, die fo etwas ver- üben fönnten, jeien gar feine Menjchen, ſondern mit Menſchenhaut überzogene Beſtien. Er hat auch über die ausgejegte Belohnung und davon geiprocden, daß fein Bruder altonaer Polizist jei, der jchon mehrfach Mörder enttedt habe. Auch über das Zeugniß des Heinen Borries hat er feine Meinung geäußert und vermuthet, derjelbe wäre unzuverläffig und man werde auf jeine Ausjage nicht viel geben. Schlieflich hat Benthien derart mwunperliche Reden geführt, daß fie angjt und bange geworben und ihrem Schöpfer gedankt hat, als fie von ihrem Manne abgelöjt wurde. Diefem hat Benthien dann vorgelogen, er müſſe behufs Anftellung im Zoologiſchen Garten neue Garderobe anichaffen.

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Arbeiter Fink hat den Angeklagten einmal bei ber horner Kirche getroffen. Derjelbe hat damals nicht gehinkt, nach dem Luiſenwege gefragt und unaufgefordert erzählt, er jet Schuhmacher und am NRöhrendamme wohnhaft.

Benthien war nicht im Stande, die Frage des Präfi- denten, was er am Luiſenwege gewollt habe, zu beantworten.

Die Wirthin Krudan erkannte im Angeklagten mit volliter Bejtimmtheit jenen Mann wieder, der am 9. April in ihre Wirthichaft gefommen und gejagt hat, ver Mörder jet ein ihm befannter Arbeiter bei Blohm und Voß, trage braune Schuhe und jei ein unfittliches Subject. ALS die Zeugin darauf erwiderte, davon müfje er Anzeige eritatten, jagte er, das wolle er fich einige Tage überlegen. Er hat erzählt, er habe ven Thatort mit einem wandsbecker Polizijten bejucht, und fich über die Zeitungsberichte ab- fällig ausgefprochen.

Der Angeklagte bejtritt auch jebt, jemal® bei ver Zeugin gewefen zu fein.

Zeuge Maler Biedermann beftätigte die Angaben BDenthien’s, am 7. April, nachmittags zwifchen 3 und 4 Uhr, bei ihm vorgefprochen zu haben.

Die Zeugen Körner, Müller und Frau Witte wollen den Angeklagten die Tage vor der Blutthat in ver Hammerlanditraße gejehen haben, jedoch hat fich damals noch ein anderer Mann mit Schlapphut durch Umher— jtreifen in berjelben Gegend verdächtig gemacht.

Der nach ihnen vernommene Zeuge Küders erklärt, Denthien habe einmal 24 Stunden bei ihm gearbeitet, aber jo mijerabel, daß die Arbeit nicht zu verwenden war. Er hat ihn darauf hin weggeſchickt und iſt von ihm bei dem gewerblichen Schiedsgerichte verklagt worden. Er bat Termin gehabt, und zwar zu einer Zeit, in welcher, wie der BVertheidiger conftatirte, der Zeuge Körner den

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Angeklagten auf der Hammerlandftraße gejehen haben wollte.

Dennoch hielt Körner feine Ausfage aufrecht, daß er den Angeklagten gerade zu jener Zeit, am 5. April zwijchen 10 und 2 Uhr, in der Nähe des Rauhen Haufes ge- ſehen habe.

Nach Beendigung diefer Zeugenvernehmung ftellte fich heraus, daß der vorgelabene Knabe Lundt zur Verhand- lung nicht erjchienen, jondern am Tage vorher aus ber Wohnung feiner Mutter verſchwunden war.

Der VBertheidiger beantragte, die Situng zu ver- tagen, bis der Knabe wieder aufgefunden fei.

Der Präfident bevauerte, fich darauf nicht einlaffen zu können. Wenn e8 verlangt werde, wolle er die Sigung bis nächſten Mittag aufheben und inzwijchen verjuchen, den Knaben polizeilich zu ermitteln.

Der Bertheidiger ftellte ven Antrag, eine Pauſe von zwei Stunden eintreten zu laffen, während welcher fich vielleicht conjtatiren ließe, ob der Knabe aufzufinden jet oder nicht.

Der Erflärung des Präfidenten zufolge war dies unmöglih, weil man fich erjt mit der Polizeibehörde Wandsbek in Verbindung fegen müffe, woſelbſt der Knabe wohne.

Nunmehr beantragte der Bertheidiger, die Lundt'ſche Ausfage aus den Acten der Vorunterfuchung zu verlefen.

Der Oberſtaatsanwalt widerfprach dieſem Antrage, dem der Gerichtshof indeß ſchließlich beipflichtete,

Den Acten nach find am 4. April Lundt und ein anderer Knabe in der Brauerftraße zu Wandsbek von einem fremden Menfchen aufgefordert worben, gegen eine Belohnung von fünf Grojchen einen Koffer von Marien- thal nah Hamburg zu tragen. Auf die Frage, wo der

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Koffer fich befinde, hat der Fremde erwidert: „Im Gebüjch!“ Die beiden Jungen haben fich dann geweigert, mitzugehen. Der mit dem Angeklagten confrontirte Yundt hat ganz fejt und entjchieven behauptet, dieſer fei der fragliche Mann feinesfalls gewefen.

Der als Zeuge vernommene Ortsvorjtand von Volks— borf, Maad, bemerkte am Tage nach der Blutthat mehr: fach einen verbächtigen, etiwa vierzigjährigen Mann, ver, wie er jpäter hörte, daſelbſt jeine Kleider gereinigt hatte.

Der Zeuge Möller aus demfelben Orte befundete, er wiſſe vom Hörenjagen, daß ein verbächtiger Menjch in einer dortigen Wirthichaft genächtigt und feine angeblich mit Blut befledten Kleider bei dieſer Gelegenheit ge- wafchen habe.

Dem Gaftwirthe Wendt aus Volfsporf war davon nicht8 Pofitives befannt. Der Verdächtige ſei bei ihm eingefehrt; mit Benthien ſei er bejtimmt nicht identijch.

Einem vom Vertheidiger geftellten Antrage gemäß wurde nunmehr der Fuß des Angeklagten nochmals einer Mefjung unterworfen.

Phyſikus Dr. Reinhard vervollitändigte jetzt fein im Yaufe der Verhandlung gegebenes Gutachten. Danach ift Benthien troß feines etwas jchiefen Beines befähigt, raſch laufen zu können. Hinfichtlich des geiftigen Zus ftandes Benthien's ift er der Anficht, daß eine pathologijche Geiftesjtörung nicht vorliege. Er hat ſich bemüht, eine geheime Geiſtesſchwäche zu entdeden, ohne daß ihm dies gelungen tft. Symptome, wie das Vorfichhiniprechen, das man bei dem Angeklagten wahrgenommen, find vielen durchaus normalen Menjchen eigen und involviren feine geiftige Schwäche. Auch Anzeichen einer erblichen Ver— anlagung zur Geiftesftörung find bei Benthien nicht zu Zage getreten, jedoch ift ihm eine einfeitige Bejchränftheit

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nicht abzufprechen, die ſich z. B. darin fundgegeben hat, daß er oftmals Infeften peinigte, was bei einem Menjchen in dem Alter Benthien’s nicht vorkommen follte. Er ift auch fein Trinfer geweſen, ſodaß die Annahme, der An- geflagte jei durch den Genuß von Alkoholismen momen- tanen Geiftesumnachtungen unterworfen, von ſelbſt weg- fällt. Der Schädel und die Gefichtsform Benthien’s zeigen zwar einigermaßen den Typus der Geiftesfchwäche, allein die Difformationen find nicht bedeutend genug, um feine Unzurechnungsfähigfeit zu conftatiren. Bei dem Angeklagten find Spuren von Geiftesftumpfheit vorhanden, aber er hat andererfeits, 3.3. während ver Gerichtsverhandlung, eine große Schlauheit und Pfiffigfeit bewiefen. Der Angeklagte befigt eine für feinen Stand feineswegs unbeträchtliche Bils dung und fann jehr wohl Elar unterjcheiden, was recht oder unrecht ift. Er ift im Vollbefite genügender Willenskraft und für feine Handlungen criminalrechtlich verantwortlich.

Gegenüber diefer Anficht erfärt der Gefängnißarzt Dr. Meyer, auf feinem bereits geftern vertretenen Stand- punkt verharren zu müſſen.

Damit war bie Beweiserhebung beendet; den Ge- jhworenen wurden die folgenden Fragen vorgelegt:

I. Hauptfrage: Iſt ver Angeklagte fchuldig, den Knaben Steinfatt am 7. April 1889 vorfäglich und mit Weber: legung getöbtet zu haben?

II. Hülfsfrage: Iſt der Angeklagte jchuldig, ven Knaben Steinfatt am 7. April 1889 vorfäßlich getödtet zu haben?

Es ergriff nunmehr der Oberftaatsanmwalt Dr. Hirsch das Wort zur Anklagebegründung und betonte zunächft, daß derjenige, welcher berufen fei, an der Verhand⸗ fung über ein Verbrechen wie das vorliegende teilzunehmen, anders über daſſelbe urtheilen müffe als ein Mann, ver die That aus der Ferne oder gar vielleicht nur aus

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graufig gefärbten Zeitungsreferaten fenne. Es ijt faum faßbar und das menfchliche Gefühl fträubt fich dagegen, an die Möglichkeit eines Mordes an einem wehrlojen, unfchuldigen Kinde zu glauben; iſt unbegreiflich, wie ein bislang ziemlich unbefcholtener Menſch zur Werübung eines jo abjcheulichern Verbrechens gelangen fonnte. Allein die Thatjache Liegt nun einmal vor und die Gefchworenen haben fich daher nur mit der Frage zu befchäftigen: ift die bier vorgeführte Perfon der Thäter? Der Ans geflagte hat ein verwahrloftes Leben Hinter fich, er wurde ſchon in feiner Jugend verborben und tft jegt ein Strolch. Aber damit ift noch nicht ausgefprochen, daß er auch ein Mörder werden mußte. Jeder Schritt auf der Bahn des Verbrechens kann der erjte fein. Niemand vermag in eine Andern Seele zu lejen, wie lange ber Keim bes Verbrechens in derjelben gelegen hat. Der Angellagte hat jest den erjten Schritt gethan, und dieſer ift ein recht ichwerer und verberblicher geweſen. Was in den letten Tagen vor der blutigen That vorgegangen iſt, deutet darauf hin, daß der Angeklagte ſich mit dem Plane des Verbrechens, wie er ed am 7. April vollbracht, ſchon lange herumgetragen hat. Der Redner will nicht darauf eingehen, daß DBenthien ſich oft und mit Vorliebe in jener Gegend herumgetrieben habe, das iſt ven Anwejenden befannt und durch Zeugenausfagen genügend erhärtet worden, jelbjt wenn man den Angaben ver verjchievenen Kinder nicht unbedingten Glauben fchenfen mag. Es genügt die Feititellung der Borgänge am 7. April an jich, um die Ueberzeugung zu gewinnen, daß ber Angeklagte und fein anderer der Mörder des Knaben Steinfatt ift. Denthien hat am kritiſchen Tage fi von 4 Uhr an in Geſellſchaft der Knaben Borries und Steinfatt befunden, er ift von Zeugen um 44, Uhr mit Ießterm allein in

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ver Nähe des Horner Moors gejehen worden, er ijt ferner nach Entdedung des Verbrechens von andern Zeugen als Thäter verfolgt und fpäter von faſt allen Zeugen auf das unwiderleglichſte vecognofeirt worden, und läßt fich feinen Spuren folgen bis weit über die That hinaus. Allerdings iſt niemand bei Ausübung der That zugegen gewejen, die Fußſpuren aber, die bei der Leiche gefunden und auf dem vom DBerfolgten eingefchlagenen Wege . be- obachtet worden find, entjprechen genau den Dimenfionen der Stiefel, die der Angeklagte noch heute trägt. Dieſe Identität der Fußfpuren ift mehr als Zufall, fie iſt ein höchſt wichtiges Glied in der Beweiskette. Wenn der Angeklagte leugnet, thut er dies in derſelben unberechtigten Weife, wie er früher jo manche Thatſache beharrlich in Abrede gejtellt hat, die er jpäter doch als richtig zugeben mußte. Er hat überhaupt nur in dem einen Punkte der Wahrheit die Ehre gegeben, daß er jet einräumt, er habe viel, jehr viel gelogen. Im allerhöchiten Grabe belaftet ven Angeklagten aber, daß er bereit8 zu einer Zeit, in der er noch gar Feine Veranlaſſung dazu hatte, jeinem Wirthe unwahre Angaben über jein Berbleiben gemacht, fich aljo gewilfermaßen ein Alibi zurechtgelegt hat. Er, der das Wulffiche Haus am Nachmittage wohl und munter verlaffen hat, iſt abends mit zerfratten Händen zurüdgefehrt, zu deren Erklärung er neue Lügen erfinden mußte. Diefe DVerlegungen erflären ich leicht, wenn man fich vor Augen führt, wie der Angeflagte bie That begangen haben dürfte. Die Schilderung des in folhen Dingen erfahrenen Polizeifergeanten Hanfen hat bier jedenfalls das Richtige getroffen. Aeußerſt verdächtig ift auch des Angeklagten Treiben nach dem Bekanntwerden des Mordes. Seine verjchiedenen Redereien über die That befundeten ein gewiſſes Bedürfniß, fich über diejelbe

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mitzutheilen. Was die Frage der Zurechnungsfähigfeit Benthien’s anlangt, in welcher die beiden Sachverftändigen verjchievener Meinung geweſen find, ift e8 nicht Sache der Staatsanwaltichaft, die Anficht des einen höher als bie des andern zu ftellen; die Geſchworenen müffer aber darauf aufmerkſam gemacht werden, daß fie in dieſer Be— ziehung nur auf ihre eigenen Wahrnehmungen angewiejen find. Diefe müffen mit zwingender Gewalt zu bem Refultate führen, dag Benthien fih im vollen Beſitze jeiner Willensfreiheit befand und befindet. „Und“, fuhr ber Oberjtantsanwalt fort, „das, meine Herren Ge ihworenen, bitte ich zu bebenfen: erflären Ste biejen Angeklagten für unzurechnungsfähig, jo verläßt er nad) Schluß der Verhandlung frei und ungehindert den Gerichts- jaal. Dann lafjen Sie die Beſtie wieder los und bringen wenn Sie jelbjt Väter find, werden Sie empfinden, was das heißt, Ihre und andere Kinder in Gefahr. Sie geben dem Angeklagten Gelegenheit, feine Verbrechen fortzufegen, denen die Kinder ſchutzlos preisgegeben jein werben!‘ Der Redner fommt zum Schluffe noch auf die Trage der Ueberlegung zu fprechen und betont, daß fie zu bejahen fein werde. Er richtet die Bitte an die Gefhworenen, die Hauptfrage mit Ja zu beantworten, dann falle die Hülfsfrage von jelbjt, dann werde das Verbrechen, welches tagelang die ganze Stadt in Auf- regung verjett habe, dem Gejege gemäß gejühnt werden.

„Es ift ein weitverbreiteter Irrthum“, begann Dr. Schrö- der jeine Vertheidigungsrede, „daß der Vertheidiger eine Art Mohrenwäiche zu Gunften feines Clienten zu voll- bringen und alles gutzuheißen habe, was derſelbe ge- than. Dies ift nicht Aufgabe der Vertheidigung, fie joll nur das Ihre thun, um alle während der Verhandlung befundeten Momente in das richtige Licht zu ftellen;

Der Procef Benthien. 209

alles den Angeklagten Belaſtende zugeben, aber auch in geeigneter Weile das Entlaftende zur Geltung bringen. Dieſe Pflicht ift in den Fällen um fo ernfter zu nehmen, in denen der Bertheidiger mit ven Richtern und Gejchworenen, mit der ganzen Bevölferung den Abjcheu gegen die That und den Thäter theilt.” Der Sache ſelbſt näher tretend, weiſt Dr. Schröder zunächſt hin auf die trübe, in jeder Hinfiht vernachläffigte Vergangenheit des Angeklagten, der unter den denkbar traurigiten Verhältniffen auf- gewachien ijt, wie das Thier des Feldes, ohne daß ein Menſch fih um ihn gekümmert, und ſtets als Sündenbod des gejammten Dorfes gegolten hat. „Trotz minutiöfejter Nachforſchung hat man indeß dem Angeklagten aus jener Zeit beftimmt nur nachweifen fönnen, daß er einmal Fröjche gequält hat. Wohin aber würde es führen, wollte man alle, die als Kind einmal einen Frojch getödtet haben, des Mordes verbächtigen? Der Angeklagte ift verlogen, träge und betrügerifch gewejen, eigentliche Gewaltthaten hat er nicht begangen. Den Indicien, die ihn belajten, ftehen eine ftattliche Reihe Momente gegenüber, welche unbedingt entlaftend wirken. Perfönlich glaube ich ven An- gaben der Zeugen Claſen und Zriepel abjolut, ich will auch noch die Ausfage des Zeugen Vorwerk gelten laſſen; damit bin ich aber auch am Ende mit den Angaben, welche mit Bejtimmtheit gegen Benthien zeugen. Sämmtliche Perſonen, welche den Angeklagten nach dem Morde ver- folgt haben wollen, find nicht in ber Lage gewejen, in der Dämmerung und der ihr folgenden Dunkelheit ven Mann genau zu erkennen. Sie haben nicht einmal das Gefiht des Fliehenden gejehen. Sie fünnen nicht als Recognofcirungszeugen gebraucht werben, um jo weniger, weil es fih um einen Menjchen handle, den man nur im flüchtigen Vorbeilaufen beobachtet hat. Die Ale XIV.

210 Der Proceß Bentbien.

fönnten allerdings gegen den Angeklagten ins Feld ge- führt werben, wenn in Wirklichkeit diefe Spuren genau feftgeftellt worden wären und ſich mit den Stiefeln des Angeklagten dedten. Dies ift nicht der Fall. Die Länge der Fußipuren ift 27 Centimeter. Die Fußlänge Benthien’s beträgt nach der im Laufe der Sitzung vorgenommenen Meffung 24 Gentimeter. Sie könne aljo unmöglich über- zeugenb gegen ben Angeklagten angewendet werden. Was bie Zügen betrifft, die mein Client am Abende des 7. April Wulff gegenüber vorgebracht hat, fo kann man aus ihnen nicht die Conjequenzen des Dberftaatsanwaltes ziehen, wenn man bedenkt, daß fie dem Gehirne eines geiftig ſchwachen Menjchen entiprungen find. Daß Benthien einen geiftigen Defect befitt, läßt fich nach dem Befunde des Sachver- jtändigen Dr. Meyer nicht bezweifeln. Der Phyſikus Dr. Reinhard hat ven Angeklagten gleichfalls als normal bezeichnet. Hatte er aber Wulff gegenüber die unwahren Angaben über den Aufenthalt am Eritifchen Tage gemacht, jo mußte er fie auch vor dem Unterfuchungsrichter auf- recht zu erhalten verfuchen, wollte er fich nicht fofort im höchſten Grade verdächtig machen. Da der Angeklagte an dem einen Beine leidet, wie auch Dr. Reinhard con- jtatirt hat, hätten die gefundenen Spuren eine ver: jchiedene Länge haben, das eine Bein hätte einen kräf— tigern Abdruck hinterlaffen müſſen ald das andere. Daß dies bei den aufgenommenen Spuren der Fall ge- wejen, ift nirgends dargethan. Viele Zeugen haben an- gegeben, daß der Angeklagte nie eigentlich gehinft habe, alle aber jtimmten darin überein, daß er jchlottrig ging und den einen Fuß nachichleppte. Jemand, dem ein folcher Vehler anhaftet, fonnte nicht fo ausdauernd laufen, wie der jeinerzeit verfolgte Mann gelaufen ift. Seine Schritte, jeine Sprünge hätten nicht von gleichmäßiger Kraft und

Der Proceß Benthien. 211

Länge ſein können. Der Schuhmacher Heß aus Lübeck hat erklärt, ſo wie der Angeklagte heute hinke, ſei er immer zu Fuß geweſen. Dieſer Zeuge hat doch jedenfalls Gelegenheit genug gehabt, die Gehweiſe Benthien's wäh— rend der ganzen Lehrzeit zu beobachten. Iſt es denn aber denkbar, daß ein hinkender Menſch mit einer Schnelligkeit und Ausdauer laufen kann, die alle Verfolger hinter ſich läßt? Die Frage, ob es möglich geweſen, mit dem vor- gelegten Mefjer die Verwundungen des Ermorbeten zu verurjachen, ſoll nur aufgeworfen werben, wichtiger ijt bie Thatjache, daß Feiner der Zeugen, welche ven Angeklagten noch am Abende der That fahen, erhebliche Schmuzſpuren an feiner Bekleidung bemerkte, obgleich er über mooriges, fumpfige8 Terrain gerannt fein follte. Berner ift der Umjtand von großer Bedeutung, daß fich an der Kleidung Benthien's nicht der kleinſte Blutfled gefunden hat. Die Sachverſtändigen haben erklärt, bei einiger Vorſicht fei es dem Thäter leicht möglich gewejen, fich von Blutfleden rein zu halten. Der mit kaltem Blute am Operations» oder Secirtiſche feines Amtes waltende Arzt mag das fünnen, aber nicht derjenige, der diefe That beging und fih gewiß in der furchtbarften förperlichen und feelijchen Aufregung befand, In einem folchen Zuftande foll ein Mörder fih in Acht nehmen, ja feine Ader zu durch fchneiden, aus welcher das Blut ſpritzen fünnte? Da der Angeklagte fich bei der Ausführung des Verbrechens nicht ausgefleivet haben kann und feine Kleider rein find von Blut, fo bleibt Feine andere Annahme übrig als die, es muß doch ein anderer Thäter vorhanden fein. Dafür fprechen auch die Differenzen in der Beſchreibung ver Kleider des angeblichen Mörders, und die Ausfagen der Zeugen, welche ven Angeklagten zu gleicher Zeit an ver— ſchiedenen Drten gejeben haben wollen. Das verlejene 14*

212 Der Proceß Bentbien.

Zeugniß des Knaben Lundt, dem am 5. April in Wands- bef ein mit der zwei Tage jpäter in berjelben Gegend geichehenen That jehr wohl in Verbindung zu bringender. Borfall pajfirt, entlaftet den Angeklagten und gibt zu venfen, denn der Mann, der ihn aufforverte, einen Koffer nach Hamburg zu tragen, ift Benthien nicht geweſen.“ Der Bertheidiger jpricht die Hoffnung aus, die Gefchworenen würden ſich davon überzeugt haben, daß viele Momente gegen die Schuld des Angeklagten ſprächen. Sollten fie fih dennoch zu einem Schuldig entjchliegen, jo möchten fie die Frage ber Ueberlegung in ernſtliche Erwägung ziehen. Don einer Ueberlegung könne der ganzen Art der Ausführung des DBerbrechens zufolge nicht wohl die Rede fein. Seiner Anficht nach müffe man jedoch jchließ- (ih zu dem Reſultate gelangen, beive Schuldfragen zu verneinen, weil der Angeklagte, habe er die That begangen, fih zur Zeit derjelben in einem Zuſtande Franfhafter Störung der Geijtesthätigfeit befunden habe, welche feine freie Willensthätigfeit ausſchließe. Das jet durch bie Aussagen aller Zeugen bewiejen, die mit dem Angeklagten längere Zeit in Verkehr gejtanden hätten, das habe in beftimmtejter Weife Dr. Meyer und in bedingter Weije auch Dr. Reinhard ausgefprochen. Der Bertheidiger bittet, zu bevenfen, fo jchlimm es auch fein würde, durch bie Freifprechung event. eine „Beſtie“ wieder loszu— lafjen, fo wäre es doch gewiß noch jchlimmer, einen Uns ihuldigen hinzurichten, nur damit die zur Beurtheilung vorliegende Blutthat gejühnt werde.

Nach einer kurzen Replik des Oberſtaatsanwaltes und Duplik des Vertheidigers, und nachdem der Präſident des Gerichtshofes die vorgeſchriebene Rechtsbelehrung in ein- gehendſter Weije ertheilt hatte, zogen fich die Gejchworenen in ihr Berathungszimmer zurüd,

Der Proceß Bentbien. 213

Nach einftündiger Berathung traten fie wieder in ben Saal und gaben durch ihren gewählten Obmann ben folgenden Spruch ab:

St der Angeklagte ſchuldig, den Knaben Steinfatt am 7. April 1889 vorfätlic und mit Ueberlegung ge= tödtet zu haben?

„sa mit mehr als fieben Stimmen.”

Der Oberjtaatsanwalt beantragte, gegen ben Ange: klagten die Todesſtrafe und dauernden Ehrverluft zu er- fennen.

Der Gerichtshof verurtheilte Benthien diefem Antrage gemäß und ſchloß damit die Verhandlung bereits am zweiten Tage, abends 10!/, Uhr.

Benthien hatte fowol den Epruch der Gejchworenen als auch das Todesurtheil äußerlich kalt und mit größter Ruhe vernommen, ebenfo wenig zeigte er, in feine Zelle zurüdgefehrt, bejondere Gefühlserregung, er jchlief bie ganze Nacht hindurch feit und tief.

Sein Vertheidiger legte unter dem 25. October Revifion ein, auf die jedoch im December vom Neichsgericht ein verwerfender Beſcheid erfolgte. Der Berurtheilte fette num bie legte Hoffnung auf ein Gnadengeſuch, das fein Bertreter dem hamburger Senat umterbreitet hatte. Allein der Senat beſchloß, daffelbe abzulehnen und der Gerechtigkeit freien Pauf zu laſſen.

In der Zwifchenzeit hatte Benthien wiederholt feine Unſchuld betheuert und auch am 15. Januar 1890, ale der Oberftaatsanwalt Dr. Hirſch im Beifein des Ver— theidiger8 Dr. Schröder, des Gefängnißgeiftlichen Paftor Ebert und des Oberinfpectors Kaempe dem Verurtheilten die DVerwerfung des Gnadengeſuches und ver für ven nächſten Tag angefetten Hinrichtung eröffnete, brach er in jcheinbar höchiter Verzweiflung in die Klage aus:

214 Der Proceß Benthien.

„Aber ih bin doch unschuldig! Ich habe es ja nicht gethan!“

Durch kein Zureden ſeitens des Oberſtaatsanwalts war er zu einem Geſtändniſſe zu bewegen.

In die ſogenannte Armenſünderzelle überführt, empfing er den Beſuch des Gefängnißgeiſtlichen, der ihn in ge— waltiger Erregung traf. Paſtor Ebert ſpendete dem Delinquenten geiſtlichen Troſt und knüpfte ein Geſpräch an, in deſſen Verlaufe Benthien um das heilige Abend— mahl bat. Der Paſtor Ebert erklärte ſich bereit, ihm das Sakrament zu ſpenden, wies ihn aber ernſt darauf hin, das Sakrament könne einem Menſchen mit einer Lüge auf dem Herzen nicht zum Segen gereichen. Er ſprach ihm als Seelſorger in das Gewiſſen und ermahnte ihn zu aufrichtiger Buße. Endlich ging er in ſich und erklärte: „Ich will es geſtehen, ich bin es geweſen!“

Als der überraſchte Gefängnißgeiſtliche ihn nach dem Beweggrund des Mordes fragte, erwiderte Benthien, er habe ſich ſtets unglücklich und von den Menſchen verſtoßen gefühlt und ſchon lange die Abſicht gehegt, ſeinem Daſein ein gewaltſames Ziel zu ſtecken. Schließlich habe ihn jedoch ein Rachegefühl gegen die geſammte Menſchheit erfaßt, und dieſem Gefühle ſei der kleine Steinfatt zum Opfer gefallen. Auf die weitere Frage Paſtor Ebert's, ob Benthien nicht auch zugeſtehen wolle, daß Wolluſt ebenfalls eine Triebfeder zur Blutthat geweſen ſei, gab der Delinquent nach einigem Zaudern eine bejahende Ant— wort. Die Ausführung der That ſchilderte er in der von dem Sergeanten Hanſen vermutheten Weiſe, nur habe er den Knaben nicht an ſich gedrückt, ſondern mit der Hand im Genicke von ſich gehalten und dann ſeinen Hals mittels des Wulff'ſchen Meſſers durchſchnitten. Die früher ge— machten Angaben bezüglich der an ſeiner Hand und am

Der Proceß Bentbien. 215

Leibe gefundenen Kratzwunden hielt Benthien dagegen aufrecht und hat fie nie widerufen.

Im Laufe des Tages bewahrte Benthien eine ziem- lihe Ruhe, er genoß von den gebotenen Speijen fajt nicht8 und jchien tiefe Reue zu empfinden, die fich be- jonders nach dem Empfang des heiligen Abenpmahls Bahn brach. Mehrfach ließ er den Wunfch vernehmen, bie eltern ſeines Opfers um Verzeihung bitten zu können, ein Berlangen, auf welches er indeß jchließlich verzichten mußte.

Er beichäftigte fich dann lange bis gegen 3 Uhr nachts mit Briefejchreiben an mehrere feiner Ber- wandten, dann legte er jich nieder und jchlief drei Stunden, aber in fichtlicher Unruhe. Die folgenden Stunden bis zur Erecution verbrachte er in Gejellichaft des Paſtors Ebert mit Bibellefen und Gebet.

Neun Minuten nach 8 Uhr morgens am 16. Januar 1890 betrat Benthien, der bei einer frühern Gelegenheit die Aeußerung gethan hatte, er habe während der zwei- tägigen Schwurgerichtsfigung nur gezittert, nicht verurtheift zu werden —, gejtütt von Dberinjpector Kaempe und Paſtor Ebert, völlig gebrochen und halb bewußtlos den als Richtplatz benutzten Hof des Strafjuftizgebäudes vor dem Holjtenthbor. Genau 10 Minuten nad 8 Uhr fiel das Beil der Guillotine. Der irdifchen Gerechtigkeit war genügt.

Die ſtraßburger Falſchmünzerbande. 1889.

Die Falfhmünzer Haben von jeher in bie Kategorie der „intereffanten‘ Verbrecher gehört und find als folche fowol im Bolfe wie von der Gejetgebung aller Zeiten befonder8 ausgezeichnet worden. Die Römer hatten in ihrer berühmten „Lex Cornelia de falsis“ ein Special- gejeg entworfen, in welchem feinem Namen nach vor allem bie Fälſchung als charafteriftifches Merkmal des Ber: brechen betont wurde. Das Mittelalter ftempelte das unbefugte Schlagen von Münzen zum „WMlajejtätsver- brechen“, indem es dabei vor allem die Münzhoheit des Kaijers, des Reiches und der Fürften im Auge hatte. Die „Carolina“, des Kaiſers Karl V. Peinliche Haldgerichts- ordnung, beftrafte die Falſchmünzer mit dem „Feuertode nah Gewohnheit und Satzung“, wie fich der Art. 111 dieſes Gejetbuches ausdrückt, und fügte hinzu: „die ihre Heuſer darzu wiffentlich Teihen, die felben Heuſer follen fie da mit verwürft haben.‘

Sp graufam find wir heutzutage nicht mehr. Auch ift es nicht mehr jo jehr das Vergehen gegen die Münzhoheit des Staates, welches der eigentlichen „Münzfälſchung“ im Sinne des modernen Strafrechts ihr befonderes Ge- präge gibt, als vielmehr das Untergraben ver Grundlagen

Die ftraßburger Falfhmünzerbande, 917

des Geldverfehrs, das Vergehen gegen ben öffentlichen Ere- dit und bie bem Gelde und ven öffentlichen Creditpapieren wefentlihen Formen. Das ift die herrichende Theorie. Ein weiteres, mehr für die Praris des täglichen Lebens in Betracht fommendes Moment ift der Umftand, daß dieſe Verbrecher jelten als Einzelne operiren, fondern in der Regel in Gemeinjchaft, in der criminaliftisch früher fo bebeutjamen Form der „Bande“. An ver Spite einer ſolchen Faljchmünzerbande fteht in der Kegel ein intelli- genter, geiftig mehr oder weniger hervorragender Menfch, ber feine Helfershelfer in ven verfchiedenften Klaffen der bürgerlichen Gejellichaft hat. Wenn er gejchieft und vor— fichtig iſt, macht er nicht jelbft alle die faljhen Münzen, Banknoten, Briefmarken, welche plöglich im Verkehr auf- tauchen, fondern bevient fi dazu wie auch zur Ver— breitung im Publikum in der Regel untergeorpneter Kräfte, welche ihn und den Meijter, felten im Stich lafjen oder verrathen. Es bebarf der ganzen Energie und eines nicht geringen Aufwandes von Scharffinn ſeitens der Polizei und der unterfucchenden Behörven, um ein jolches Falich- münzernejt auszuheben. Werben bie Thäter und ihre Gehülfen nur theilweife entvedt, fo bleibt die Gefahr für den Verkehr und ven Credit beitehen.

Ende der achtziger Jahre war in der Umgebung von Straßburg ti. E. eine Falfchmünzerbande in Thätigkeit, der auf die Spur zu kommen ber ftädtifchen Polizei und Landgensparmerie unendlich fchwer wurde. Bald hier, bald dort, bald dieffeit, bald jenjeit des Rheins tauchten zahlreiche falfche, in ver Regel ziemlich gut nachgemachte Fünf- und Zweimarkſtücke jowie Thalerftüde auf, ohne daß es gelang, ihre Entitehung zu ermitteln. Am 24. Februar 1889 wurde in Karlsruhe ein Mann feit- genommen, als er eine Wurft mit einem faljchen Thaler

218 Die ftraßburger Falfhmünzerbanbe.

bezahlen wollte. Diefer Mann war ein gewifjer Fried— rich Sutter aus Neudorf bei Straßburg. Nach anfäng- (ihem Leugnen gab er zu, falfche Thalerſtücke in Verkehr gebracht zu haben. Er wollte pas Geld von einem ihm dem Namen nach unbefannten Mann in Straßburg er- halten haben. ALS diefer „große Unbekannte“ entpuppte fih nach und nach ein gewiſſer Mijchfe, welcher bereits im Jahre 1885 wegen Fälſchung von Briefmarken zu 1, Sahren Gefängnig verurtheilt worden war. Damals hatte er ſich als Dffizier verkleidet in den Kafernen berumgetrieben, um vermöge feiner großen Gewanbtheit und feiner gefälligen Umgangsformen ohne erhebliche Schwierigkeiten die falfhen Marken an ven Mann zu bringen.

Wie er fpäter angab, fam er im Gefängniß auf bie Idee, nach feiner Freilaffung ſich auf das einträgliche Gewerbe der Falfchmünzerei zu legen und faljches Metall- geld anzufertigen; dieſen Gedanken begann er im Herbſt 1888 zur Ausführung zu bringen. Er faufte zu dieſem Zwede in einem 50-Pfennig-Bazar zu Straßburg Löffel aus jogenanntem Britanniametall, das Dugend zu 1 und 2 Mark, verichaffte jih Gips, machte davon einen Teig und ftellte durch Abdrücken echter Fünfmark-, Thaler-, und Zweimarkjtüde Formen her. Im diefe goß er das über einer Spirituslampe gejchmolzene Metall der gefauften Löffel. Die Infchriften und Verzierungen am Rande ver Sünfmarkjtüde und Thaler gravirte er zuerjt mit einer Nähnadel ein, fpäter ſchlug er fie mit Meffinglettern hinein, die er zu biefem Zwede angefertigt und bei feiner Feſtnahme noch im Befit hatte. Auf diefe Weife hat er in ber Zeit vom Detober 1888 bis zum März 1889 zahlreiche Fünfmarf-, Thaler-, und Zweimarfjtüde nach gemacht im Minimalwerthe von mindeftens 400 Mark,

Die ftraßburger Falſchmünzerbande. 219

und zwar etwa 50—60 Fünfmarfjtüde, 13 Thalerſtücke und eine unbejtimmte Zahl von Zweimarfjtüden. Hiervon gab er verjchievene Stüde im Betrage von etwa 120 Mark an Sutter, dieſer übernahm e8 das faliche Geld in Ber- fehr zu jegen, und verfprach die Hälfte des Gemwinnes an ihn abzuliefern. Ebenfo erhielt die Ehefrau Knebler von ihm Stüde im Betrage von etwa 20 Mark; 39 Fünf- marfftüde find in feinem Beſitz gefunden worden, und 1 Fünfmarkſtück hat er zu Stuttgart in Verkehr gebracht. Was aus den übrigen faljchen Stüden geworben ift, fonnte nicht ermittelt werden. Die von ihm zur Faljch- münzerei gebrauchten Werkzeuge find zum Theil in ber Wohnung des Sutter und eines gewifjen Belling gefunden worden. Mifchke und feine Leute hatten ihre Thätigfeit über das halbe Elſaß und das benachbarte Baden aus- gedehnt. Die faljchen Stüde trugen das Bildniß des Deutſchen Kaiſers, das Münzzeichen A. und die Jahres— zahlen 1874 und 1876. Die lebtern Stüde waren im Allgemeinen bejjer nachgemacht als die erjtern. Die Miſchung beftand aus Kupfer und Wismuth und nur wenig Zinn und Blei. Aus 5 der oben bejchriebenen Löffel find 14 Stüd falſche Fünfmarkjtüde hergeftellt worden, die den echten ungemein täufchend ähnlich jehen. Sie fühlen fich nicht fett an und der Klang unterſcheidet fih nicht von den echten Stüden. Das einzige Unter- ſcheidungsmerkmal zwifchen ven echten und unechten Stüden beftand darin, daß der Rand bei den faljchen Münzen fichtlich abgebreht oder gefeilt ift, einen bläulichen Schein und einige mangelhafte Prägungen zeigt. Der Guß auf den platten Seiten, auf den RER war vorzüglich gelungen,

Miſchke war ftolz auf feine gefälfchen Kunſtwerke. Er bielt e8 nach feiner Verhaftung unter feiner Würde zu

220 Die ſtraßburger Falſchmünzerbande.

leugnen und geſtand dem Unterſuchungsrichter ſchon im erſten Verhör Folgendes ein: „Ich bin der Falſchmünzerei ſchuldig. Ich habe falſche Fünfmarkſtücke, Thalerſtücke und Zweimarkſtücke gemacht. Einmarkſtücke, Zehnpfennig- ftüde und Zwanzigpfennigftüce nicht, auch Goldſtücke nicht. Nur in Straßburg in meiner Wohnung Ludwigsgaſſe 24 habe ich faljches Geld gemacht und zwar feit October vorigen Jahres, als ich ohne Stelle war. Als ich bei Schwarz be- Ihäftigt wurde, hörte ich auf, fing aber im Januar dieſes Sahres, als ich dieſe Stelle verloren hatte, wieder an. Ge— holfen hat mir niemand. Sutter hat auf meine Beranlaffung faljches Geld, welches er von mir erhielt, verausgabt und bie Hälfte des Erlöfes bezogen. Andere Mitglieder ber Familie Sutter habe ich nicht direct beauftragt. Sonſt ift niemand mitſchuldig. Der Frau Knebler, welche mir Geld geliehen hatte, habe ich den Betrag, im ganzen etwa 20—30 Mark, in falſchen Münzen zurüdgegeben, ohne ihr dies zu fagen. Wenn fie bie Stüde ausgegeben bat, wird fie nicht gewußt haben, daß fie faljch waren. Sch jelbft Habe in Straßburg und Umgegend fein faljches Geld ausgegeben, auch auf der Neife nicht; erft in Stutt- gart habe ich den Verſuch gemacht, durch DVermittelung des Hausburjchen, welcher mich verrathen hat, faljches Geld anzubringen. Ich bleibe dabei, daß ich außer Sutter, ven Bater, Feine Mitjchuldigen habe. Die übrigen Familien- mitglieder Sutter, außer der Elife und der preizehnjährigen Zochter, wußten um die Falfchmünzere. Die Ehefrau Sutter hat alles gethan, um ihren Mann abzuhalten. Meine Frau ift ganz unfchuldig, fie hat mich beftändig gewarnt und gebeten, mich nicht in das Unglüd zu ftürzen. Ich will jett auch zugeben, das ich verfucht habe, zwei falſche Zehnmarkſtücke zu machen, mehr wie zwei habe ich nicht gegoffen, die Färbung gelang nicht.“

Die fraßburger Falſchmünzerbande. 221

Die übrigen Angefchuldigten: Sutter, Vater und Sohn, und die Eheleute Knebler, ein gewijjer Robert Belling und deſſen Geliebte Amalie Elifabeth Gieler leugneten ihre Betheiligung an ver Falfchmünzerei. ALS aber der Unterjuchungsrichter die Sutter'ſche Wohnung, einen elenden Kellerverjchlag, einer eingehenden Befichtigung unterzogen und dabei einige jehr verbächtige zum Faljch- münzergewerbe dienende Werkzeuge gefunden hatte, bequemte auch Sutter fich zu folgendem Geſtändniß: „Ich geftehe jegt ein, daß ich von Mifchfe das von mir verausgabte faljche Geld erhalten habe. Miſchke hat es gemacht und zwar in feiner Wohnung. Nicht lange vor meiner Ver— haftung gab er mir ein Padet, welches anjcheinend eiferne Gegenftände enthielt, zur Aufbewahrung. Ich habe das— jelbe im Keller in meiner Wohnung vergraben. Ich fann den Ort nicht genau bejchreiben, werde ihn aber finden, fall8 Sie mich hinführen lafjen. Zweis bis drei- mal war ich zugegen, als Mifchke in feiner Wohnung Münzen goß. Er gebrauchte damals Gipsformen.

„Ich bin durch Geißer mit Mifchke befannt geworben, Ob dieje beiden miteinander gearbeitet haben, und ob Geißer überhaupt davon weiß, vermag ich nicht zu jagen. Meine Bekanntſchaft mit Mifchke erfolgte in folgender Weiſe:

„Geißer, der früher bei mir logirt hatte, führte mich eines Abends in die in dem von Mifchke bewohnten Haufe befindliche Wirthichaft. Dort erjchien Miſchke. Irgend— eine DBerabredung zwifchen Geißer und mir, mich mit Miſchke zufammenzubringen, hat nicht ftattgefunden. In der Folge traf ich noch ungefähr zwei- oder dreimal] mit Miſchke in derjelben Wirthichaft zufammen; erſt, bei einer ſpätern zufälligen Zufammenfunft in der «Kanone» war aber von falfchem Gelde die Rede. Wir famen überein,

222 Die firaßburger Falſchmünzerbande.

daß ich gegen Betheiligung am Gewinn von ihm Waljch- jtüde zur Verausgabung erhalten jollte.

„Miſchke hat das Metall in einem alten eifernen Eß— töffel auf einer Spirituslampe gejchmolzen. Er jtedte den Stiel des Löffels in ein kleines Loch an der Wand, das anjcheinend durch eine Stuhllehne Hinein- gedvrüdt war. Die Spirituslampe, von der Größe ver innern Handfläche und aus Weißblech angefertigt, jtellte er unter den Löffel auf ven Tiſch. Dies vollzog fich in der erften Stube der Mifchke’fchen Wohnung. Die Frau habe ich dabei nicht gejehen.“

Bezüglich der übrigen Angeklagten wurde Folgendes feſtgeſtellt:

Als Miſchke in der Knebler'ſchen Wohnung falſches Geld nachmachte, ſah ihm die Ehefrau Knebler genau zu, ſodaß ſie bald im Stande war, ſelbſt falſche Geldſtücke anzufertigen. Sie that dies im Januar 1889, indem ſie auf dieſelbe Weiſe wie Miſchke mindeſtens 30 Zweimark— ſtücke herſtellte. Da ihr die Herſtellung von Fünfmark— ſtücken nicht gelingen wollte, fertigte Miſchke im Februar 1889 19 ſolcher Stücke für ſie an. Die ſo gewonnenen Falſificate gab ſie aus, ebenſo wie Zweimarkſtücke, welche Miſchke ihr ſchon vor Weihnachten gegeben hatte und von denen ſie wußte, daß ſie falſch waren. Sie hat ihre Schuld eingeſtanden, ihr Ehemann dagegen hat alles be— ſtritten.

Sutter erhielt, wie oben bemerkt, im letzten Viertel— jahr 1889 von Miſchke eine Anzahl Fünfmark-, Thaler— und Zweimarkſtücke, von denen er wußte, daß ſie falſch waren, und gab die meiſten dieſer Stücke in Straßburg und Umgegend bei Geſchäftsleuten aus. So iſt er bei— ſpielsweiſe am 16. December in den badiſchen Dörfern Neumühl und Legelshurſt in etwa neun Wirthſchaften umber-

Die ſtraßburger Falſchmünzerbande. 223

gezogen, hat jedesmal eine Kleinigkeit verzehrt und einen falſchen Thaler in Zahlung gegeben, das herausgegebene echte Geld aber an ſich genommen.

Am 13. Februar 1889 begab ſich Sutter mit ſeinem Sohne Karl nach Grafenſtaden, um daſelbſt falſches Geld in Verkehr zu bringen. Während erſterer auf der Straße wartete, ging letzterer in zwei Geſchäfte, kaufte Kleinig— keiten und gab zur Bezahlung je ein ſalſches Fünfmark— ſtück hin; das herausgegebene echte Geld nahm er in Empfang. Hierdurch hat ſich nach der Anklage Karl Sutter der Beihülfe zu der von ſeinem Vater begangenen Ver— ausgabung falſchen Geldes ſchuldig gemacht. Er iſt geſtändig.

Am 8. März kam Miſchke, mit welchem Belling von früher bekannt war, in deſſen gemeinſchaftlich mit ſeiner Zuhälterin, der Angeklagten Gieler, bewohnte Behauſung und theilte demſelben ſowie der anweſenden Gieler die von ihm betriebene Falſchmünzerei mit, zeigte ihnen auch falſche Zweimarkſtücke. Miſchke hatte ſein Werkzeug bei ſich und bat den Belling und die Gieler, ihm in ihrer Wohnung die Herſtellung falſcher Münzen zu geſtatten. Sie waren damit einverſtanden. Hierauf hat Miſchke unter Benutzung einer von Belling und der Gieler zur Verfügung geſtellten Spirituslampe zwei falſche Fünfmark— ſtücke hergeſtellt, wobei beide zugegen waren. Dieſelben haben ſich hiernach einer thätlichen Beihülfe des Miſchke beit Ausführung der Falſchmünzerei ſchuldig gemacht. Sie find im Wejentlichen gejtändig. Bei einer in ihrer Wohnung vorgenommenen Hausfuhung wurden vor— gefunden: eine Kigarrenfifte mit Gips, ein eiferner Löffel mit Reften von Gipsteig, zwei Zinkſtückchen, das eine mit Gipsteig bejchmiert, und zwei Feilen. Miſchke feinerjeits gibt an, in der Belling’ihen Wohnung zwei Fünfmarkſtücke nachgemacht zu haben.

224 Die ftraßburger Falſchmünzerbande.

Dem Belling fällt außerdem zur Laft, daß er dem Miſchke, als derſelbe fih in Straßburg nicht mehr ficher fühlte und zu flüchten beabfichtigte, behufs befjern Fort— fommens einen Rod, eine Hofe und eine Arbeitsjchürze gab, auch denfelben während der Nacht vor dem Tage der Flucht (23. März 1889) in feiner Wohnung beher- bergte. Hierdurch hat er fich einer ftrafbaren Begünftigung ihuldig gemacht. Er ift auch in dieſem Punkte geftändig.

Bei der jchwurgerichtlichen Verhandlung, bei welcher namentlich der Hauptangeflagte Miſchke durch eine form⸗ gewanbte Selbjtvertheidigung den Eindruck eines fähigen und intelligenten, aber durchaus verfommenen Menfchen machte, waren die Richter nicht lange über die Schuld ber einzelnen Angeklagten im Zweifel. Mit Ausnahme des jungen Sutter und des Knebler wurden fie ſämmt— lich zu längern Freiheitsftrafen verurtheilt.

Meineid oder Redtsirrthum? (Eine Dorfgefhihte aus dem Elſaß.) 1889.

Es ijt feine Geltenheit, daß fich der Parteihader in einem Dorfe jo zufpigt, daß er jchließlich vor dem Straf- gericht feinen Austrag erhält. Die alte Gejchichte ver Montecchi und Eapuleti wiederholt fich alljährlich in kleinerm Rahmen in unjern Dorfgemeinden. Stehen das geiftliche und bürgerliche Oberhaupt des Dorfes, Pfarrer und Bürgermeifter, an der Spitze folcher Parteien, jo ift es fein Wunder, wenn fich die ſämmtlichen Eingefeffenen in zwei fcharf gejchievene Lager. jpalten. Drohungen und Beihimpfungen auf beiden Seiten find an ber Tages— ordnung, die gejchäftige Zunge gewerbsmäßiger Chrab- ſchneider findet ein reiches Feld ihrer verberblichen Thätig- feit und ſcheut jelbft nicht vor Lügenhaften Berichten an vorgejette Behörden und erweislic unwahre Behaup- tungen vor Gericht. Diejenigen, welche in den Strudel der Parteiwuth hineingeriffen werben, folgen blindlings dem „mot d’ordre“ ihrer Führer und erfahren meijt, wenn es zu fpät iſt, durch Schädigung an Ehre, Freiheit und Vermögen, daß fie nur Werkzeuge gewejen find.

XXIV, 15

226 Meineid oder Rechtsirrthum?

Aehnliche Zuftände herrſchten jchon feit etwa einem Sahrzehnt in dem Dorfe B., einer weder an Zahl ver Einwohner noch Reichthum bejonders hervorragenden Ge- meinde. Um jo üppiger wucherten vie alljährlich fich wiederholenden Fehden zwifchen der Partei ded Bürger: meiſters und der des Pfarrers. Ein Anhänger der eritern Partei, ver Gemeinderath R., war im Jahre 1889 durch ichöffengerichtliche8 Urtheil wegen Hausfriedensbruch und Deleidigung des Pfarrers zu einer Woche Gefängnif verurtheilt worden. Der Pfarrer hatte ven Sohn des Gemeinderathes nicht in den Kirchenchor aufnehmen wollen und ihn eines Tages während des Gottesvienjtes von der Drgelbühne entfernen laſſen aus Interefje für bie Kirchenordnung meinten die Anhänger des Pfarrers —; aus politiichem Parteihaß, der fi) vom Vater auf den Sohn vererbt, nach Anficht der Leute des Bürgermeijters und feiner Anhänger. Der Gemeinderat) R. hatte den Pfarrer wegen dieſes Vorgehens in dem Pfarrhaufe jelbit zur Rede geftellt, war dabei grob nach Bauernart aus- gefallen und hatte fich auf wiederholte Aufforderung des Pfarrers nicht entfernt. Deshalb feine Verurtheilung. Dem Beleidigten war die Befugniß zugefprochen worden, das Urtheil innerhalb 10. Tagen nach Rechtskraft auf Koſten des Angeklagten durch Anheftung an dem Gemeinde— haufe in B. zu veröffentlichen. In beiden Yagern in B. war davon die Rede, daß das Urtheil abgerifjen werden würde, wenn es ausgehängt werden folltee Am Abend des 18. Mai wurde durch den Gemeinbediener die Anheftung an einem unvergitterten Brete des Gemeinde— haufes vollzogen. Der Auftrag hierzu war ihm durch den Bürgermeifter 9. in feiner Wohnung gegeben worden. Dabei war auch der verurtheilte Gemeinderath zugegen. Ihm gegenüber machte der Gemeindediener, welcher jelbit-

Meineid ober Rechtsirrthum? 227

verjtändlich Anhänger des Bürgermeifter und Gegner des Pfarrerd war, die Bemerkung: „Sch würde es nicht hängen laſſen.“

Nach der Anheftung des Urtheils hatten zwei eifrige Anhänger des Pfarrers ſpät am Abend bei dem Schein einer Laterne den Inhalt gelefen. Bon oben foll dabei auf fie geipucdt worden fein; man wollte den Bürgermeifter al8 den Thäter erfannt haben. Um zu jehen, ob fich jemand während der Nacht an dem Urtheil vergreifen würde, ftellten fich die beiden Männer hinter das Thor des Ackerbürgers W. in einer Entfernung von etwa 12 Meter, dem Gemeindehaufe gegenüber, auf. Eine Spalte des Thores hielten fie zur bejfern Beobachtung offen.

Gegen 10%, Uhr fchlih fih ein Mann vorfichtig auf Soden an das Plafat und verfchmierte vaffelbe mit der Hand. Als fich einer der Aufpaffer durch ein Geräufch bemerkbar machte, verfchwand der Thäter eiligit. Die beiden Anhänger des Pfarrers verfolgten ihn eine furze Strede. Sie wollten troß der dunfeln Nacht den Gemeinderath R. erfannt haben, der anfcheinend allein Intereſſe an ver Ausführung diejes Streiches haben Fonnte. Allein Schon am andern Morgen theilte der Gemeinde- diener dem Bürgermeifter vertraulich mit, das Plakat habe er verjchmiert. Er ſei darüber ärgerlich gewejen, daß die Parteigenofjen des Pfarrer e8 noch am Abend mit Hülfe einer Laterne gelejen hätten.

Auf Grund der Erzählungen der beiden Anhänger des Pfarrers, welche am folgenden Tage gefliffentlich aus der Stube des Dorfbarbiers im ganzen ‘Dorfe verbreitet wurden, erftattete ein dem Bürgermeifter und bem Ge— meinderathe R. aufjäffiger Wirth, dem die Wirthichafts- conceſſion entzogen werben follte, durch ein vom frühern

15*

228 Meineid oder Rechtsirrthum?

Bürgermeifter verfaßtes Schriftſtück Anzeige gegen R. bei der Staatsanmwaltichaft. Beide, der Wirth und der ehemalige Bürgermeifter, waren Anhänger und intime Freunde des Pfarrers, jener aber bei der letten Gemeinde— rathswahl durch die Anhänger des jegigen Bürgermeifters geftürzt worden. Es iſt daher begreiflich, daß fich die befiegte Partei die willfommene Gelegenheit nicht entgehen laffen wollte, den Gegnern etwas am Zeuge zu fliden. Um zum Ziele zu gelangen, wurde fein Mittel gejcheut und die ganze Scala der Verleumdungen bis zum offen- fundigen Faljcheid durchlaufen, damit der Parteileidenſchaft Genüge gejchehe. Wir geben dieje Vorgefchichte des fpätern Meineidsproceſſes deshalb jo ausführlich, weil fich darin das Feinliche Intriguenſpiel widerfpiegelt, wie e8 leider oft auf unfern Dörfern an der Tagesordnung it.

Die erſte Verhandlung fand am 2. Juli 1889 vor dem Schöffengericht in Br. ftatt. Angeflagt war ver Gemeinde— rath R. auf Grund des $. 134 des Strafgeſetzbuchs, am 18. Mai 1889 zu B. eine öffentlich angefchlagene Be- fanntmachung (den Auszug aus jenem Urtbeile wegen Beleidigung des Pfarrers) böswillig verunftaltet zu haben. Als Belaftungszeugen erjchtenen die beiden oben erwähnten Anhänger des Pfarrers, als Entlaftungszeuge der Ge— meindediener M. Auch der Bürgermeifter war in ver Situng zugegen und felbftverftändlich mit ihm die halbe Einwohnerfchaft des Dorfes B. ald Zuhörer und Partei für und wider in diefer „cause celebre‘ ihres Heimat- ortes.

Nach voraufgegangener Vereidigung und wiederholter Ermahnung, ſich ſtreng an die Wahrheit zu halten, be— kundeten jene beiden, daß ſie in der fraglichen Nacht den R. ganz genau erkannt hätten und ihn auf ihren Eid als den Thäter bezeichnen müßten. Der Gemeindediener

Meineid oder Rechtsirrthum? 229

hingegen bezeugte gleichfall® auf feinen Eid, er habe von jeinem offenen Fenjter beobachtet, ob etwa in jener Nacht an der Gemeindetafel etwas Ungehöriges vorgenommen würde; er habe aber den Angeklagten nicht gefehen, ob- ſchon er ihn von feinem Poſten hätte jehen müffen. Außer- dem fagte die unvereibigt vernommene Ehefrau des N. aus, daß ihr Dann in jener Nacht um 10 Uhr zu Bett gegangen und nicht von ihrer Seite gefommen ſei. In Folge des Widerſpruches diefer Ausfagen erachtete das Schöffengericht ven Thatbeftand für nicht hinreichend auf- geflärt und fprach den Angeklagten frei. -

Die Staatsanwaltichaft legte gegen dieſes Urtheil Berufung ein, und in der Verhandlung vor der Straf- fammer des Landgerichts, zu welcher von beiden Geiten zahlreiche Zeugen geladen waren, erflärten bie beiden erjtgenannten wiederholt und aufs neue vereidigt, daß R. der Thäter fei, beftritten auch jeve Möglichkeit, daß fie jih in der Perjon deſſelben geirrt haben könnten. Der Gemeindediener gab zum Erftaunen des Gerichts die Er- färung ab: „Nun, meine Herren! um Ihnen die Wahr- heit zu fagen: ich bin e8 geweſen.“ Der Vorfigende rief ihm zu: „Dann find Sie ein ganz gewöhnlicher Lump.“ Die von der Staatsanwaltjchaft eingelegte Berufung wurde verworfen und gegen die beiden Belajtungszeugen jowol als den Gemeindediener Vorunterfuhung wegen Mein- eids eingeleitet: ihre Verhaftung erfolgte.

Der Fall war ein ganz abnormer. Auf der einen Seite die offenfundige und hartnädige Belundung einer falihen Thatſache unter Eid, auf der andern die nicht häufig vorkommende Selbftvenumnciation eines Zeugen. Waren beide Fälle als Meineid oder fahrläffiger Falſcheid zu behandeln? Bei der Hauptverhandlung, welche in der Situng der Straflammer vom 30. October 1889 jtatt-

230 Meineid oder Rechtsirrthum?

fand und zu welcher nicht weniger al8 29 Zeugen aus dem Dorfe B., darunter auch der Pfarrer und der Bürger- meifter, erjchienen waren, geriethen die Parteien beftig aneinander. Don Interefje für die juriftiiche Conftruction des Falles find die Ausführungen der Vertheibigung be= züglich des Angeklagten, Gemeindedieners M. Es wird darzuthun verjucht, Daß weder ein Meineid noch ein fahr- läffiger Falſcheid in biefem Falle vorliege, und Folgendes ausgeführt: Ein faljcher Eid fünnte nach zwiefacher Rich— tung conftruirt werden. Entweder nimmt man an, daß der Angeklagte in der zweiten Inftanz als Zeuge etwas be- eidigt hat, was nicht wahr ift, indem er fich fälfchlich des dem Schöffengerichte zur Aburtheilung vorgelegenen Ber: gehens ſelbſt bezichtigte, oder daß der Meineib in ber ersten Inſtanz dadurch geleiftet worden ijt, daß er eine That- jache, welche für die Beurtheilung jenes Straffalfes wejentlich war, wifjentlich verjchwiegen hat.

Der erjten Annahme fteht der Umſtand entgegen, daß M. bereit unmittelbar nach der Berunftaltung des Schrift- jtücfes, jedenfall® bevor deswegen eine Unterfuchung gegen R. eingeleitet war, ſelbſt erflärt hat, er fei der Thäter gewejen. Es ijt deshalb nicht anzunehmen, daß er dem R. zu Liebe fich ſelbſt diejer für ihn folgenjchweren Straf- that bezichtigt und dieſelbe fäljchlich vurch einen Eid be- fräftigt hat.

Der Annahme aber, daß M. ſich in ber erften Inftanz durch Berjehweigung eines wejentlichen Umjtandes eines Meineives fchuldig gemacht hat, jteht die Vorjchrift des Gejetes in $. 54 der Strafprocefordnung*) entgegen. Der

*) 8, 54 ber Strafproceforbnung lantet: „Jeder Zeuge Kann die Auskunft auf ſolche Fragen verweigern, beren Beantwortung ihm ſelbſt die Gefahr ftrafgerichtlicher Verfolgung zuziehen würde.“

Meineid oder Rechtsirrthum? 231

Geſetzgeber hat durch den Schuß dieſes Paragraphen Zeugen, welche fich nicht ſelbſt einer ftrafbaren Handlung bezichtigen, vor den Strafen des Meineids fichern wollen. Diejer Para- graph würde feinen Sinn haben und der von bem Geſetzgeber gewollte Schuß würde nicht vorhanden fein, wenn lediglich durch die Nichtausübung des Fragerechts feitens des vorfigenden Richters eine Verfolgung wegen Meineids in den feltenen Fällen, wo ein Zeuge fich nach- träglich ſelbſt denuncirt, eintreten könnte. Es iſt nach» gewieſen, daß bei der erſten Vernehmung des M. in der Sitzung des Schöffengerichts zu Br. vom 2. Juli 1889 die Frage, wer das angeheftete Urtheil verunſtaltet habe bezw. ob er ſelbſt der Thäter ſei, nicht an den Zeugen gerichtet worden iſt. Es lag auch, wie der vorſitzende Richter amtlich berichtete, keine Veranlaſſung zu einer ſolchen Frageſtellung vor. Denn durch die Ausſage des Zeugen und jetzigen Angeklagten M. war die Thäterſchaft des Gemeinderaths R. durchaus in Frage geſtellt, jeden— falls in ſo hohem Grade zweifelhaft geworden, daß der— ſelbe auf Grund dieſes Zeugniſſes freigeſprochen wurde.

Weſentlich anders würde der Sachverhalt ſein, wenn durch die Ausſage des Zeugen vor dem Schöffengericht der Angeklagte belaſtet und nun auf Grund dieſer Aus— ſage verurtheilt worden wäre. Der Umſtand, daß ber Zeuge durch Verſchweigung der Thatjache, dag er jelbit ber Urheber war, aus einem unverbächtigen ein ver— dächtiger Zeuge geworben ift, würde nur in dieſem Falle von Bedeutung fein. Denn wenn bie Freifprechung er— folgen mußte, weil der Zeuge unverbächtig war, jo hätte fie um jo mehr erfolgen müffen, wenn diefer Zeuge auf die Frage, ob er jelbft ver Thäter fei, die Auskunft verweigert und ſich dadurch ver That felbjt dringend ge= macht hätte.

232 Meineid oder Rechtsirrthum?

Wenn der Sat richtig ift, daß niemand fich jelbit einer ftrafbaren Handlung zu bezichtigen braucht, jo muß dies insbefondere in dem Falle Anwendung finden, wenn jemand wegen einer Strafthat ald Zeuge vernommen wird. Wenn der Zeuge auf eine Frage, deren Be- antwortung ihm jelbjt die Gefahr jtrafrechtlicher Verfolgung zuziehen fann, die Ausfunft verweigern darf, jo muß Dies nach befannten logischen Grundfägen um jo mehr gelten, wenn eine jolche Frage überhaupt nicht gejtellt wird. Die Folge würde jonft die fein, daß in allen Fällen ver ab- fichtlich oder zufällig unterlafjenen Frageftellung das Geſetz umgangen werben fönnte. Man nehme nur den Fall, daß bei einer Anklage wegen Ehebruchs an die Concubine des präfumtiven Ehebrechers als Zeugin die Frage nicht geftellt wird, ob fie den Beifchlaf mit demſelben vollzogen habe. Würde in dieſem Falle das Verjchweigen und nach- trägliche Zugeſtändniß diejes Umſtandes der Zeugin nach— träglich eine Anklage wegen Meineids zuziehen Fönnen ?

Die umgekehrte Schlußfolgerung, daß aus dem Wort- laute der Eidesformel: „nichts zu verſchweigen“, in Straf: jachen die Pflicht für den Zeugen hervorgehe, jelbjt wenn er nicht gefragt wird, oder gerade weil er nicht gefragt wird, auch ſolche Thatjachen zu befunden, welche ihm ſelbſt die Gefahr einer ftrafrechtlihen Verfolgung zuziehen fönnen, fteht mit den angegebenen Baragraphen im Wider: ſpruch. Es iſt auch nicht ohne weiteres anzunehmen, daß dem Zeugen die Erheblichfeit des Verſchweigens feiner Thäterſchaft für die Beurtheilung des Straffalles um- mittelbar bei feiner Bernehmung zum Bewußtjein gefommen ift und daß er wifjentlich die Unmwahrheit gejagt bezw. bie Wahrheit verfchwiegen hat.

Sollte es ſelbſt einem Zweifel nicht unterliegen, daß ber Zeuge die Erheblichkeit dieſer Thatjache erkannt Habe,

Meineidb oder Rechtsirrthum? 233

jo konnte er fich bei feiner Vernehmung immerhin fagen, baß er, weil er nicht varüber befragt worden war, darüber feine Auskunft zu geben brauchte, und wenn er darüber befragt worden wäre, die Ausfunft hätte verweigern bürfen.

Da alfo Lediglich durch die Unterlaffung der Frage- jtellung ver angebliche Meineid überhaupt zur Eriftenz gefommen ift und der Zeuge in der zweiten Inftanz, in der fichern Ueberzeugung, daß er fich dadurch der Strafe bes Meineivs nicht ausfegen würde, die ihn belaftende Aus» funft zur Aufklärung der Sache gegeben hat, fo ift eine nachträgliche Verfolgung deſſelben nicht gerechtfertigt.

Das Urtheil ftellte fich entjprechend den Ausführungen der Staatsanmwaltichaft auf den entgegengejeßten recht- lihen Standpunkt. Dies hatte die eigenthümliche Folge, daß der Gemeindebiener faljchen Eides wegen nach 88. 154 und 163 des Strafgefegbuchs werurtheilt, die beiven andern Angeklagten aber freigefprochen wurden.

Es heißt im Urtheil: „Auf Grund des Geftändnifjfes des M. und feines bald nach dem Vorfall andern Perjonen, insbeſondere auch dem Bürgermeijter gemachten Befennt- nifjes fteht objectiv feft, daß der Gemeindediener M. und nicht der zuerjt angeflagte Gemeinverath R. das öffentlich angejchlagene amtliche Schriftſtück verunftaltet, d. i. mit Ruß verfehmiert bat. Das eidliche Zeugniß der beiden erjten Angeklagten ift demnach unter alfen Umftänden ein falichee. Bei Ablegung dieſes wiederholten faljchen Zeug- nifjes haben dieſe Angeflagten jedoch das Bewußtſein und die Ueberzeugung gehabt, daß der von ihnen beobachtete Thäter eben jener Gemeinverath geweſen fei. Während ihnen bei ihrer erften zeugeneiblichen Vernehmung ver Gedanfe an die Möglichfeit eines andern Thäters über- haupt nicht gefommen ift, hat fie das Bekenntniß des M. bei der in der Berufungsinftanz wiederholten Ab-

234 Meineid oder Rechtsirrthum?

legung ihres Zeugniffes in ihrer Ueberzeugung nicht er- jchüttert, weil fie annahmen, M. fage die Unwahrheit, um dem R. zur Freifprechung zu verhelfen. Ihre Ueber⸗ zeugung ift, wenn auch eine irrthümliche, doch eine that- fächliche geweien. Eine ftrafbare Fahrläffigfeit kann darin nicht gefunden werden. Anders dagegen liegt die Sache beit dem dritten Angeklagten. Diejer iſt mehr wie jever andere Zeuge über ven Gegenjtand jeiner Vernehmung unterrichtet gewejen. Die Tragweite jeiner Wifjenjchaft zur Sache ift ihm nicht entgangen, fie hat ihn vielmehr gerade bejtimmt, fich als Zeuge anzubieten. Er iſt auch nach jeiner Beeidigung und inhaltlich der Eidesformel verpflichtet gewejen, die reine Wahrheit zu jagen, nichts zu verjchweigen, alfo hier, ven ihm bewußten Thäter zu nennen. Nur injoweit ift ihm durch den $. 54 der Straf- proceßorbnnung in ber legtern Richtung eine Vergünftigung gewährt, als er im gegebenen Falle die Nennung des Thäters mit Rüdficht auf die ihm felbft dadurch erwachjende Gefahr der Strafverfolgung verjchweigen durfte. Wie aus ber Beitimmung des 8. 55 1. c. hervorgeht, konnte die Aus- kunftsverweigerung auch birect, d. h. ohne daß bejonberes Befragen erfolgte, gejchehen. Allein feine Weigerung durfte feine jtilffchweigende, fondern mußte eine aus— prüdliche fein. Sein Zeugniß verpflichtete ihn, wenigitens anzugeben, daß er etwas zur Sache Gehöriges verſchweige, indem er zugleich die Gründe feiner Weige- rung mitzutheilen und eventuell (nach $. 55 der Straf— proceßordnung) glaubhaft zu machen hatte. Nur ein folches Zeugniß hätte die ganze, bie reine Wahrheit enthalten und wäre auch allein geeignet gewefen, dem urtheilenven Gerichte in dem wahren Lichte zu erfcheinen.

„Dem Angeklagten kann voller Glaube beigemeffen werden, wenn er verfichert, angenommen zu haben, daß

Meineid oder Rechtsirrthum? 235

er eine ihn jelbft belaftende Thatjache verſchweigen dürfe. wenn er nicht fpeciell danach gefragt werde. ‘Diejer ® Irrthum ift jedoch ein ftrafbar fahrläfjiger. Der Ans geklagte ift freiwillig al8 Zeuge erjchienen, um Aufklärung zu geben; er hat gejchworen die reine Wahrheit zu jagen und nichts zu verfchweigen. Bei eingehendem Nachdenken und genügender Umficht hatten ihm doch Zweifel über fein Verhalten aufiteigen müſſen. Es wäre feine Pflicht gewejen, bei Ablegung feines beeibigten Zeugniffes nicht nach eigenem Gutdünken zu handeln, ſondern bei britten, insbefondere auch bei dem DVorfitenden des Gerichts, Erfundigungen über das beabfichtigte abmweijende Ver— halten als Zeuge einzuziehen. M. ijt demnach, da er bei der gebotenen Vor- und Umficht den eingetretenen Erfolg wohl hätte vorausſehen können, fchuldig, am 2. Juli 1889 vor dem Schöffengeriht zu Br., einer zur Abnahme von Eiden zuftändigen Behörde, aus Fahr- läffigfeit den vor feiner Vernehmung geleijteten Eid durch ein falfches Zeugniß verlett zu haben: DBergehen gegen 8. 163 des Strafgejeßbuch®.

„Bei Ausmeffung der Strafe find die erregten Partei- verhältniffe in B., die eigenthümliche Yage des M. bei Ablegung feines Zeugniffes und weiter ber Umſtand mildernd in Betracht gefommen, daß er wenigftens in zweiter Inftanz den wahren Sachverhalt freimüthig angegeben bat; auf der andern Seite müfjen bie DBorjtrafen des Angeklagten und die Thatſache berücfichtigt werden, daß er fich al8 Zeuge geradezu aufgebrängt hat.“

In Erwägung diefer Umftände wurde der Gemeinde- diener unter Anrechnung eines Theiles der Unterfuchungs- haft zu einer breimonatlichen Gefängnißftrafe und durch ein weiteres Urtheil vom 1. Februar 1890 wegen ver Berunftaltung des öffentlich am Gemeindehaufe angehefteten

236 Meineidb und Rechtsirrthum?

Urtheils nach $. 134 des Strafgefeßbuchs zu einer brei- * wöchentlichen Gefängnißftrafe und ſämmtlichen Koften ver- urtheilt. So gerecht auch die zulegt erwähnte Verurthei- fung fein mag, fo muß man doch ganz und gar Juriſt fein, um ben fcharffinnigen Deductionen und logiſchen Unterjchei- dungen bes erjten Urtheils folgen und biefelben durchaus als triftig erachten zu können. Sollte da nicht doch ben Unfchuldigen die Strafe getroffen und die des Meineids wahrhaft Schuldigen zu Unrecht freigefprochen worden jein? Wir überlaffen vem unparteiifchen Leſer nach Kennt- niß des Falles die Entſcheidung.

Die Ermordung des Dr. med. Caſſan.

(Mord. Franfreid.) 1889.

Dr. Caſſan zählte 75 Jahre. Seit feiner Jugend in Aldi (Departement Haute-Garonne) anfäffig, Chefarzt des dortigen Hospital und ber Irrenanftalt, hatte er im Laufe langer Jahre für feine Thätigkeit mehr Anerkennung als Elingenden Lohn geerntet. Der alte Landarzt behielt bie Zare einer vergangenen Zeitepoche bei und machte Kranfenbefuche für einen Franc. Sein Einfommen, noch überdies beeinträchtigt durch die Unpünftlichfeit feiner Clientel, die, wie e8 auf dem flachen Lande oft üblich ift, fih zur Bezahlung Arztlichen Honorare nur wiber- willig verjtand, beruhte daher in den letzten Jahren zu— meift auf ven feſten Gehältern, die er auf Grund feiner vorgenannten amtlichen Stellungen bezog. Dr. Caſſan war wol auch Grunpbefiger; allein feine Grundftüde ge- währten nur einen geringen Ertrag. Seine Beſitzungen beftanvden aus einem Stabthaufe in Albi, welches er jelbit bewohnte, und einigen Weingärten „La Grave’, die jedoch jeit der Heimfuchung durch die Phylloxera arg vermüftet und ziemlich werthlos geworden waren. Ein Proceß

238 Die Ermordung bes Dr. med. Eaffan.

wegen einer ihm zugebachten Erbichaft im Betrage von ungefähr 20000 Frs. jchien fein Ende nehmen zu wollen. Sein Einfommen belief fih daher auf nur 6—7000 Fre. jährlich.

Seitven Dr. Caſſan verwitwet war, nahm feine Ge- mütheftimmung eine mehr und mehr hypochondriſche Richtung an. Sein Hausmwejen bejtand aus ihm jelbit, einer Haushälterin Philippine Siccard, ein Dienjtmädchen vom alten Schlage, welches mit energijcher Hand bie Wirthichaft führte, und einem Diener, der zugleich bie Geſchäfte des Kutſchers und Stallfnechts zu beforgen hatte. In der legten Zeit bekleidete Juſtin Durand dieſen Poſten, ein junger, hübſcher Burfche von fünfundzwanzig Jahren. Suftin vertrug fich nicht immer mit der alten Haushälterin, weil fie das Haus nach den Kegeln ſtrengſter Sparſam— feit regierte. Der alte Herr prüfte alle Rechnungen per— ſönlich auf das genauefte und rüdte mit dem für ven Haushalt nöthigen Gelde nur widerwillig heraus. Juſtin mochte fich nicht ganz mit Unrecht beflagen, daß ihm die Alte gar zu viele Faſttage auferlegte. Uebrigens galt er für anhänglich und treu und ſoll feinen Herrn, als diefer an den Dlattern erkrankte, aufopfernd und geſchickt gepflegt haben.

Dr. Caſſan hatte einen einzigen Sohn: Guftav. Diefer war in den Staatöbienft igetreten, zum Unterpräfecten von Argelies und Sainte-Affrique emporgeftiegen, erfranfte aber fchwer an der Lungenſchwindſucht und mußte infolge defjen ven Dienft aufgeben. In das väterlide Haus zurücgefehrt, nahm fein Leiden den vorausgejehenen töd— lichen Berlauf. Im Monat December 1887 ſchied er aus biefem Leben.

Die BVerlafjenichaft des Herrn Guſtav Caſſan bejtand in einer jungen Witwe, vier Kindern und aus Schulden, bie eine anfehnliche Höhe erreichten.

Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 239

Die Witwe, ein geborenes Fräulein Emilie Peyronnet de Berre, verlebte harte, traurige Zeiten. Sie und ihre Kinder aßen mit an dem fargbejegten Tiſche des Schwieger- und Großvater und waren fchußlos der üblen Laune des verbitterten Greiſes und der fich überhebenven, feifenven Haushälterin preisgegeben. Die junge Frau empfand es täglich, daß man ihr nur widerwillig das Gnadenbrot reichte.

Es kränkte fie tief, daß fie nicht als Herrin bes Haufes anerkannt wurde, jondern fich den Anordnungen der alten Wirthichafterin fügen mußte. Es war eine bittere Leidensſchule für die lebensluftige, hübiche Frau von faum fiebenundzwanzig Jahren, bie ſich nach den Freuden ber Gefelligfeit jehnte, gern pußte und ihre Toilette in ver reizendjten Weije zur Geltung zu bringen verftand. Die Abhängigkeit von dem vergrämten mistrauifchen, despotifch auftretenden Schwiegervater, welcher ihr jeden Pfennig porwarf, den er zu ihrem Lebensunterhalte verwenden mußte, wurde ihr immer unerträglicher.

Zuweilen, wenn der Drud gar zu arg wurde, ſetzte e8 heftige Scenen, die indeß regelmäßig damit endigten, daß die mittellofe junge Frau nachgeben mußte. Anfang April 1889 Fam es endlich doch zum Bruce. Der Doctor beichuldigte feine Schwiegertochter in harten Worten eines leichtfertigen Xebenswandeld. Er warf ihr vor, fie ver- lafje des Abends allein das Haus und unterhalte Be- ziehungen zu einem Offizier. Eine8 Tages war Frau Caſſan wieder ausgegangen und erjt nachts nach 12 Uhr heim- gefommen. Ihr Schwiegervater war aufgeblieben. Er em- pfing die junge Frau fehr barſch. Seine Frage, wo fie ge- wejen jet, beantwortete fie dahin, daß fie ven Abend in ver ihr befreundeten Familie eines verheiratheten Offiziers ver- bracht habe. Der Doctor zieh fie der Lüge. Es entjtand ein heftiger Wortwechfel, Frau Cafjan erklärte, fie könne

240 Die Ermorbung bes Dr. med. Caffan.

dieſes Reben nicht mehr ertragen, fie wolle lieber das Haus verlaffen und zu ihrer Mutter, ver verwitweten und ver- mögenslojen Mme. Peyronnet, nach Toulouſe zurückkehren.

Diefer Vorfag wurde am nächjten Morgen zur That. Gegen ven Willen des Großvaters, der feine beiden älteften Enfeljöhne zu behalten wünfchte, nahm feine Schwieger- tochter alle vier Kinder mit fih. Es folgten peinliche Auseinanderjegungen. Dr. Caffan fonnte ſich anfänglich nicht dazu entjchließen, feiner Schwiegertochter eine Rente auszufegen. Da fie aber ohne alle Mittel war und ihm die Erhaltung feiner Enkel gejetlich oblag, verjtand er jih endlich dazu, ihr jährlih 1500 Tre. zu gewähren, machte aber zur Bedingung, daß ihre beiden ältejten Söhne bei ihm bleiben müßten. Er drohte, daß er ihre die Vormundjchaft über die Kinder gerichtlich entziehen laffen und eine Forberung von 200C0 Frs., die ihm gegen ihre Mutter, Frau Peyronnet, zuftand, fchonungs- [08 eintreiben würde.

AS Frau Caffan dennoch zögerte, erflärte er: wenn fie nicht nachgebe, werde er feinen Grundbeſitz verfaufen, jein gefanmtes Vermögen in eine Leibrente verwandeln und jein Teftament jo abfaffen, daß ihr fein Pfennig vom Kapital zufalle.

Die Stimmung des alten Herrn verbüfterte fich immer mehr. Er klagte: „Ich habe meinen einzigen Sohn ver- loren; jett fehlt nichts mehr, als daß man mich felber umbringt.” „Dieſe Landſtreicherin“, fette er mit Be: ziehung auf feine Schwiegertochter hinzu, „wäre im Stante mich zu vergiften.“

Der Superiorin ber Schweitern, denen im SKranfen- hauſe und der Irrenheilanſtalt die Pflege oblag, gegenüber äußerte er wiederholt: er fürchte von den Händen feiner eigenen Schwiegertochter den Todesftreich zu empfangen.

Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 241

Um fich gegen einen plößlichen Angriff zu ſchützen, Tief er die Thür feines Schlafzimmersd von innen mit jchmiebe- eifernen Beſchlägen verjehen und außer dem Riegel auch) noch eine Sperrfette anbringen. In feinem Zimmer be- fanden fich mehrere jcharfgeladene Slinten. Alle Schlöfjer feines Haufes ließ er umändbern. Er gab als Grund an, daß feine Schwiegertochter mit einem zurüdbehaltenen Hauptichlüffel in das Haus dringen Fönnte.

Am Morgen des 1. Mai trat ein Ereigniß ein, welches den alten Mann tief erjchütterte und ihm fat die Be— finnung raubte.

Seine Haushälterin Philippine Siccard jtarb ganz plößlich, |

Am Tage zuvor hatte fie fih von Juſtin begleitet nach La Grave, dem kleinen Weingute in der Nähe von Aldi, begeben, welches dem Doctor gehörte. Nach dem aus einer Knoblauchjuppe, Eiern und Kartoffeljalat be- jtehenden Abendeſſen wurde die Alte von Krämpfen und Erbrechen befallen. Juſtin verbrachte die Nacht bei ihr als Kranfenwärter, er bereitete ihr Thee und leiftete ihr die erforderlichen Dienjte. Aber ihr Zuftand verjchlechterte fih immer mehr, und als der Morgen graute, war Philippine Siccard eine Leiche. Dr. Caſſan fagte: „Nun fommt die Reihe an mich! Sch jehe es wohl. Aber fie jollen e8 nur wagen! Ich werde fie zu empfangen wiſſen. Ich habe drei geladene Gewehre in meinem Schlafzimmer bereit. Sie werben ſchon fehen, mit wem fie e8 zu thun haben!“

Acht Tage fpäter wurde Dr. Caſſan ermorbet....

In der verhängnißvollen Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1889, um 1,2 Uhr nah Mitternacht, erjchien Yuftin Durand mit bleihen und verftörten Zügen, barhaupt, bloßfüßig, nur mit Hemd und Hofe befleivet, im Polizei-

XXIV. 16

242 Die Ermordung des Dr. med. Cajjan.

commiffariate von Albi und berichtete mit thränenerftickter Stimme: „Man bat meinen guten Herrn ermorbet! Das Bellen des Hundes hat mich gewedt. Erſchreckt fuhr ich in die Unterfleiver, al meine Thür unter einem fürchterlichen Schlag erbebte. Es war der Mörder, ver bei mir einzubringen fuchte, nachdem er meinen guten Herrn getöbtet hatte. Ich habe mich mit aller Wucht gegen die Thür gejtemmt; allein ſchließlich gab fie doch nach, und da hat mir der Uebelthäter mit feinem Mefjer einen argen Stich verſetzt.“ Juſtin Durand wies feine linke Hand vor, und man fah am Daumen eine ziemlich tiefe Schnittwunde. „Ich ſchrie laut nach Hilfe“, fuhr er fort, „va ließ der Mörder von mir ab und ergriff vie Flucht. Er verlor ſich alsbald in der menfchenleeren dunflen Straße. Es war Nacht, Fein Licht brannte, ich Tann feine Züge nicht genau ſchildern. Nur fo viel kann ich jagen, daß er einen Stoppelbart hatte. Sch habe bie furzen, harten Haare deutlich gejpürt, als ich um ihn abzuwehren in fein Geficht griff.“

Die Bolizei jowie die alarmirte Nachbarichaft begab fih auf der Stelle in das Wohnhaus des Dr. Caſſan, geleitet von Juſtin Durand, der an allen Gliedern zitterte und alle Augenblide zufammenzufinten drohte.

Man fand ven Greis tobt, fchon erfaltet, er lag auf dem Fußboden feines Schlafzimmers ausgejtredt, mit einem alten loſen Schlafrod befleivet. Die Schädeldecke war zertrümmert, die Kehle durch einen fürchterlichen Dolchſtoß durchichnitten, der rechte Daumen durch einen Schnitt faft ganz von der Hand abgetrennt.

Die Ermordung mußte nach dem Befunde nahe bei dem Bett ftattgefunden haben. An der Thür konnte man feine Spur eines Einbruchverfuches entveden. Die Sicherheitsfette war angehakt, nicht abgeriffen, der Riegel

Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 243

zurüdgezogen, nicht abgebrochen. Die geladenen Gewehre befanden fih auf ihren Plägen. Man nahm an, daß eine ihm befannte Stimme Einlaß begehrte, während ber Mörder im Vorzimmer wartete, und daß er fich, ſobald der alte Dann öffnete, auf ihn geftürzt und ihn mit Meſſer und Beil umgebracht habe.

Der Mörder Fannte offenbar die Hausgelegenheit. Der Schreibtiſch und ein Kaften, in welchem Dr. Caffan Geld aufzubewahren pflegte, waren durchwühlt. Man ſah ganz deutlich die Spuren einer blutigen Hand. Auch die Papiere, die auf dem Schreibtifche lagen, waren burcheinanderge- worfen. Auf dem Schreibtijche fand man einen Dietrich, den der Mörder aus Verſehen Liegen gelafien haben mußte. Die Läden der Tenfter waren regelmäßig verfperrt. Man hatte feinen Verſuch gemacht, fie gewaltfam zu öffnen.

Hatte man e8 mit Einbrechern zu thun, fo mußten e8 Leute von befonderm Schlage fein, denn bie golvene Uhr des Arztes fammt der fchweren goldenen Kette, und die Familienjuwelen, die er verwahrte, waren unberührt geblieben. Ja, noch mehr. In der Schreibtifchlade lagen offen vier Banknoten zu je 100 Irs. und ein geringerer Betrag in Münzen.

Der erjte Eindrud war, bier ift nichts von greif- barem Werthe geraubt worden. Was wurde aber ge- juht? Papiere? Ein Teftament....?

Die fpätern Erhebungen jchwächten indeß biefen Ein- drud ab und ließen vermuthen, ver oder die Raubmörder hätten mit Vorbedacht, um die Polizei und das Gericht irrezuführen, jene Werthgegenjtände abſichtlich zurüd- gelafjen. Die Hundert-Francsnoten waren unberührt ge- blieben, fehlten vielleicht Taufend-Francsnoten? Dr. Caſſan hatte wenige Tage vorher feinen Proceß gewonnen und ungefähr 21000 Frs. ausgezahlt erhalten.

16*

244 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan.

Wohlverjtanden: der Attentäter mochte von dieſem Um— jtande unterrichtet fein. Aber er täufchte fich, wenn er glaubte, daß er diefe Summe ald Preis für den Mord erbeuten würde. Dr. Cafjan hatte dem Notar Frenouls erklärt: er wolle fein Geld im Haufe behalten, er werbe 8000 Frs. bei dem öffentlichen Steueramte auf Staat$- rentenobligationen anlegen und 12000 Frs. zur Dedung der legten Schulden feines Sohnes verwenden. Aber war denn diejer Entjchluß vor der Ermordung auch zur Ausführung gelangt?

Die Unterfuhung führte zunächſt nicht zu pofitiven Ergebniffen. Unzweifelhaft war nur, daß ein gewaltfamer Einbruch nicht vorlag. Die Thüren, die Fenſter, die feit furzem umgeänderten Schlöffer, alles war unverlegt. Der Mörder mußte entweder ein Hausbewohner fein oder ein Hausbewohner mußte ihn eingelaffen haben.

Wer war der Mörder ?

Die allgemeine Stimme war darüber einig, der Name ichwebte auf aller Lippen. Jedermann Elagte Srau Emilie Caſſan, die Schwiegertochter des Ermordeten, an, die That begangen zu haben, und alle Welt war befriedigt, als ſchon zwei Tage nach der That die junge Frau in Zoulouje verhaftet wurde.

Der Unterfuchungsrichter hatte dem Drängen ber öffentlichen Meinung nachgegeben; aber er wußte recht gut, daß der Berbacht gegen Frau Caſſan fich auf jchwache Gründe ftüßte. Auf der Schwelle des Fußbodens des Schlafzimmers waren Abdrücke einer blutigen Fußſohle fejtgejtellt worden, aber fie deuteten auf den nadten Fuß eined Mannes. Die Zehen waren beutlich erfennbar. Im Stalle unter der Streu verjtedt wurbe ein großes, mit Menfchenblut beflecdtes Beil, im Schlauche des An- Itandsorts ein Langer antiker Dolch mit elfenbeinernem

Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 245

Griffe gefunden. Der Dolch zeigte ebenfalls Blutflede. Dr. Caſſan war der Eigenthümer dieſes Dolches. Er hatte fich dejjelben als Papiermeffer bedient.

Noch ein anderer überzeugender Umftand bewies, daß der Thäter im Haufe frei verfehren konnte. Es ift bereits erwähnt worden, daß Dr. Caſſan in feinem Schlafzimmer orei geladene Flinten bewahrte und daß diefe an Ort und Stelle aufgefunden wurden. Die Gewehre waren wirklich fcharf geladen, jedoch der Zünbftoff der Zünd— hütchen war entfernt, beziehungsweije die richtigen Zünd— hütchen durch taube erjett, Feins diefer Gewehre konnte in biefem Zuftande abgefeuert werden. Der Mörder hatte ſomit dafür geforgt, daß die Schußwaffen ungefähr- lich für ihn waren, und jein Verbrechen mit klugem Vor— bedacht vorbereitet.

Die Polizei hatte den Diener des Verftorbenen, Juſtin Durand, fofort in Haft genommen. Die Wunde an feiner linken Hand, die ihm der Mörder beigebracht haben jollte, machte ihn verdächtig. Auch Dr. Eafjan war an der Hand verlegt. Hatte der alte Mann vielleicht, um fich zu retten, in das Meffer des Mörders gegriffen, es feit- zuhalten gejucht und der Mörder ſich im Ringen um bie Waffe die Verlegung zugezogen ?

Man erinnerte jich des plößlichen Todes der alten Haushälterin. War fie auch ermordet worden, ftanden die beiden Todesfälle etwa in Zujammenhang?

Der Leichnam der Philippine Siccard wurde aus— gegraben und eine chemifche Unterjuchung der Eingeweide angeoronet. Die Sacverjtändigen fanden eine große Menge Arſenik. Sie war an Gift geftorben. Dr. Caſſan bewahrte in 2a Grave mehrere Padete auf, die eine arjenifhaltige Mifchung enthielten. Er gebrauchte fie bei jeinem Weinbau. Selbftverftänplich hielt er das Gift

246 Die Ermorbung des Dr. med. Caſſan.

beftändig unter Verſchluß, er allein bejaß den Schlüffel zu dem Kaſten, in welchen bie Padete lagen. Diejes Schloß war aufgefprengt. Wer hatte e8 erbrohen? Man erinnerte fih daran, daß Yuftin Durand den Abend vor dem Tode ber alten Haushälterin ganz allein bei ihr war. Er hatte fie gepflegt, fie war geftorben, ohne daß er einen Arzt berbeigerufen Hatte. ALS das Gericht den Ange— jchuldigten die fchweren gegen ihn vorliegenden VBerbachts- gründe vorhielt, entjchloß er fich nach längerer Ueber- legung zu einem erjten Geſtändniß. Er gab an:

„Der in meinem erjten Verhör bezeichnete Thäter, der unbefannte Mann mit dem Stoppelbart, ift ein Phantafie- gebilde. Ich felbit, Yuftin Durand, habe ven Mord— anfchlag durchgeführt. Jedoch nicht allein, ich hatte einen Helfer, einen Mitjchuldigen, oder richtiger eine Mit- ſchuldige Madame Caſſan!

„Seit vielen Monaten ſchon ist des Doctors Schwieger- tochter meine Maitrefje gewejen. Die gebrüdte und um- erträgliche Stellung, die fie im Haufe des alten Herrn einnahm, die nimmer endenvden Vorwürfe ihres Schwieger- vaters, die herrifchen Manieren der Haushälterin brachten fie außer ſich. Es mußte ein Ende gemacht, ver alte Knaufer, der Quälgeiſt mußte befeitigt werden. Sie brauchte einen verläßlichen, ftarfen Arm, um ihre Rach— jucht zu befriedigen, und mich, ihren Geliebten hatte fie dazu auserfehen. Mit allen Künften weiblicher Koketterie wußte fie mich zu umgarnen, burch die Gewalt ihrer Reize machte fie mich zu ihrem Sklaven. Sie war eine lodende Sirene, ein hübjches junges Weib, eine Dame von Welt, und ich ein armer Bedienter! Ich bin in ihrer Hand ein willenlojes Werkzeug geworden. Mit ihren Liebfofungen hat fie mich um Verftand und Ehre gebracht.

„An dem Tage, da Frau Caſſan das Haus ihres

Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 247

Schwiegervater verlaffen mußte, ift der Morbplan ent» ftanden. Ich zögerte indeß, denn ich ſchreckte zurüd vor der blutigen That. Frau Caſſan verfprach, fie werde mir bei der Ausführung zur Seite ftehen. Wir ver- abredeten, daß das Verbrechen in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai vollbracht werben ſollte. Frau Caſſan traf rechtzeitig ein in Aldi. Als Mann verkleidet hatte fie fih in der Mitternachtsftunde durch die ftillen verlaffenen Straßen der Stadt zum Haufe gejchlichen. Ich erwartete fie jchweigend am halbgedffneten Thore.

„Sie trat ein. Geräufchlos ftiegen wir beide hinauf. An der Thür des Schlafgemaches klopfte ich und rief: «Stehen Sie auf, Herr Doctor! Ein fehr dringender Fall! Es ift um Sie gejchieft worden!» Der Greis, der meine Stimme hörte, riegelte die Thür auf. Kaum war er auf die Schwelle getreten, da ftürzte feine Schwiegertochter mit dem gezüdten Dolchmefjer, welches fie von feinem Schreibtiiche an fich genommen hatte, auf ihn los und ftieß zu. Der Stoß war fo heftig, daß die Kehle des alten Mannes förmlich durchſchnitten war. Ich ſchauderte und rief: «Um Gottesbarmherzigfeit willen halte ein, halte ein!» Es war zu jpät. Erſchrocken wandte ich mich zur Flucht und ließ die Mörderin mit ihrem Opfer allein.’

Sp unmwahrjcheinlich dieſes Lügengewebe war, es fanden fich doch Leute, welche daran glaubten. Allein bald darauf ftellte die Unterfuchung feft, daß Frau Caſſan am 8. und 9. Mai in Toulouſe gewejen war. Um 2 Uhr nachmittags am 8. Mai conferirte fie mit dem Pfarrer der Kirche Saint-Corpin dafelbft, um 39, Uhr verpfändete fie im Leihhaufe ihre goldene Uhr, um 5 Uhr war fie bei ihrem Rechtsanwalt Mercadier und traf dafelbft mit dem Adoocaten Pajol zujammen. Um 6 Uhr verlieh fie ge-

248 Die Ermorbung des Dr. med. Caſſan.

meinjchaftlih mit Herrn Mercadier deſſen Kanzlei und machte einen Spaziergang, fie begegneten dem Kaufmann Dubedoul und plauderten mit ihm. Um 7 Uhr fpeifte Frau Caſſan in ihrer Wohnung und wurde hierbei von ihrem: Dienftmädchen Elodie NRieunier bedient. Nach ver Mahlzeit jpielte fie Klavier, einer ihrer Nachbarn hat das Spielen noch um 9 Uhr gehört. Hierauf ging fie zur Ruhe Am 9. Mai des Morgens um 6 Uhr ftand fie auf. Elodie Nieunier bezeugt, daß fie ihre Herrin ge- wet und ihr die Morgenchocolade gebracht habe. Um 10 Uhr vormittags bat Frau Caffan eine Nachbarin um den Schlüffel zum gemeinfchaftlichen Keller. Um 11 Uhr vormittags wechjelte fie in einer Mufifalienleihanftalt Notenhefte um. Am Nachmittage begab fie fich wieder zu Heren Mercadier und am Abend fpielte fie abermals zu Haufe Klavier. Erſt am 10. Mai vormittags erhielt fie, zunächft durch die Mittheilungen der Zeitungsblätter, Kenntnif von der Ermordung ihres Schwiegervaters.

Der Beweis des Alibi war glänzend geliefert. Frau Caſſan wurde in Freiheit geſetzt. Nun jchritt Yuftin Durand zu einer britten Erzählung:

Es ift wahr, er hat den Todesſtreich geführt. Er allein. Er hat feinen Dienſtherrn mit der Meldung ge- wet, daß um ein Recept geſchickt worden ſei. Als ver Greis öffnete, hat er ſich mit dem gezüdten Dolchmefjer auf ihn geworfen. Aber dies gejchah auf Befehl ver Frau Caſſan. Sie hat ihm Tag und Stunde des Ver— brechens genau vorgefchrieben, um ihr Alibi ficher nach— weijen zu fönnen, er hat ihre, ihm von Toulouſe aus zugegangenen Weifungen vollitredt.

Hätte Durand diefe Angaben zuerjt vorgebracht, fie hätten bei der aufgeregten, Frau Caſſan jo feindlichen Volfsftimmung für dieſe vielleicht verhängnißvoll werben

Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 249

können. Seine vorhergehenden Lügen aber machten auch diefe Ausfagen ſehr verdächtig. Er follte Beweife für jeine Behauptungen bringen und vermochte e8 nicht. Niemals ift irgendein vertraulicher Verkehr zwijchen Frau Caffan und ihm beobachtet worden. Sie behandelte ihn als Diener, war mit ihm nicht mehr. und nicht weniger freundlich, als in folchen Verhältniſſen landes- üblih if. Zu jener Zeit, da fie beide nad Durand's Darftellung über den Mordanſchlag verhandelt haben jollten, konnte fie, wie die Zeugen bejtätigten, mit ihm feine geheimen Zufammenfünfte abgehalten haben. Sie war damals in ZTouloufe.

Als Juſtin Durand merkte, daß feine Behauptungen eine nach der andern widerlegt wurden, entjchloß er fich zu einem neuen Geftänpniß, einem neuen Märchen. Diesmal iſt er unschuldig. Frau Caſſan allein hat das Verbrechen geplant und ihr Helfershelfer war Meifter Mercadier, der ehemalige Notar in Touloufe, ihr Ver— trauter, ihr Geliebter, der Mann, der ihr Alibi nach— gewiefen hatte. Mercadier hat fogar verjucht Yuftin Durand zu verführen. Es ift ihm mislungen. Darum hat er einen Dritten, eine Art Bravo gedungen, ber Mann mit dem rauhen Furzgeftugten Bart, der nachts eingedrungen ift fiehe die erjte Verfion. Und biefer Morpgejelle war e8 auch, der nach der Ermordung des alten Arztes es verjuchte, fich des Dieners zu entledigen, weil biefer zu viel von ver Sache wußte.

Aber wer hatte diefem Unbefannten das Hausthor . geöffnet? Die Thüren waren doch wie gewöhnlich ver- jperrt und Spuren von Gewalt an den Schlöffern nicht vorhanden. Der Dr. Caſſan hatte fich in feinem Schlaf- zimmer eingeriegelt und würde einem Unbefannten nicht geöffnet haben. Die Erzählung war unbaltbar.

250 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.

Yuftin begriff e8 raſch und gab eine fünfte zum beiten:

„Der Mörder ift nicht mit Gewalt in das Haus ge— brungen. Ich war benachrichtigt. Der Dämon in Weiber- geftalt hatte meinen Willen gebeugt. Ich habe ihm ge- öffnet. Wir find zufammen hinaufgegangen. An der Schlaf- thür habe ich gerufen unb mein Herr, ber meine Stimme erfannte, hat aufgemacht. Der Mann ſtand hinter mir im Dunkeln. Er jchlug zu und hat meinen Herrn gemorbet.‘

Nah dem Schluffe der Vorunterfuhung wurde gegen Suftin Durand Anklage erhoben, daß er den Dr. Caſſan und die Haushälterin Siccard ermordet und den erjtern beitohlen habe. Am 11. November 1889 fand in Albi die Schwurgerichtsverhandlung ftatt, den Vorſitz führte ber Gerichtsratb Garas. Die Anklage wird von dem Staatsanwalt von Zouloufe, Yaroche, perjönlich ver- treten. Die VBertheidigung hat ver Anwalt Ferrand von Zouloufe übernommen.

Frau Caffan Hat ſich als Civilpartei dem Strafver- fahren angefchloffen. Sie will Rechenfchaft für die Ver- leumdungen fordern, deren Opfer fie gewefen ift. ALS ihr Vertreter fungirt Mr. Bosredon.

Juſtin Durand ift ein hübfcher Burfche von 25 Jahren, gefchniegelt und pomabifirt. Die Haare trägt er in ber Mitte des Kopfes gejcheitelt. Der Schnurbart ift ge- pflegt, die blaue, mweißgetupfte Kravatte elegant gefaltet, der Hemdfragen umgejchlagen und gleich den Manfchetten von tabellojer Weiße. Seine Gefichtsfarbe ift eher bleich und fein Blid unjtet. Er fieht nicht wie ein Bedienter, weit eher wie ein Commis aus. Seine ganze ftußerhafte Erjheinung ift die eines vorortlichen Don Juan.

Das Auditorium ift überfüllt. Der Hintergrund des Schwurgerichtsjanles, der amphithentralifch anſteigt und

Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 251

durch eine Art weitmafchigen Gitter8 von dem eigentlichen Zubörerraume getrennt ift, wird durchwegs von Damen eingenommen.

Unter den 150 vorgeladenen Zeugen erregt die größte Aufmerkſamkeit begreiflicherweife die „Dame in Schwarz‘, Frau Caſſan.

Nah Verlefung der Anklagefchrift eröffnet der Präfi- dent die Verhandlung mit der Vernehmung des Ange— flagten. |

Präfident. Yuftin Durand, Sie find befchuldigt des Meuchelmorbes, begangen an Ihrem Dienftherrn, dem Dr. Caſſan, des Giftmordes an der Haushälterin Philippine Siccard und des Hausdiebſtahls. Sie haben fich in der Borunterfuhung vielfältige Widerfprühe zu Schulden fommen laffen.. Was werben Sie heute behaupten? Haben Sie ven Meuchelmorb allein verübt? Haben Sie der Haushälterin das Gift, an dem fie ftarb, beigebracht?

Der Angeklagte hebt mit theatralifcher Geberve eine Hand gegen das oberhalb des Gerichtähofes angebrachte Erucifir und fpricht mit pathetifchen Accenten:

„Ich ſchwöre vor Gott, den Richtern und allen Zu- hörern, ich bin unschuldig! Wenn ich im Laufe der Unter- juhung allerlei voneinander abweichende Erzählungen zum beiten gegeben habe, fo gejchah es, weil man mich während der Saft von allen Seiten gequält hat. Man hat mir fortwährend wiederholt, daß man mich, wenn ich die That nicht eingeftände, als verftocdten Sünder ficher auf das Schaffot ſchicken würde; ein Geftänpniß aber werde mein Leben retten. Ich wurde ängftlich und glaubte ed. Alle gegen mich erhobene Anklagen find unbegründet. Ich bin nicht der Menfch, ver falten Blutes einen Mord begeht, ich bin nicht der Undankbare, der feinen guten Herrn hätte tödten können.“

252 Die Ermordung bes Dr. med. Cajjan.

Präfident. Alfo Sie haben die That nicht begangen?

Angeflagter. Nein, Herr Präfident. Wohl hat mid) Frau Caſſan gedrängt und befchworen, ihren Schwieger- vater aus dem Wege zu räumen aber ich habe e8 ſtandhaft abgelehnt, ihr zu Willen zu fein, und fie hat darum einen gedungenen Mörder abgejandt, Dr. Caſſan zu töbten.

Präfident. Sie haben im Laufe der Unterfuchung jogar Herrn Notar Mercadier ald den Mitjchuldigen ber Frau Caffan bezeichnet. Halten Sie dieſe Angabe noch aufrecht ?

Angefllagter. Ich Habe damit nur die Wahrheit gejagt.

Präfident. Dr. Caffan hat gegen Ende des Jahres 1887 feinen einzigen Sohn Guſtav verloren. Geine Witwe und vier Kinder blieben nach dieſem Todesfalle bet Dr. Caſſan wohnen. Wie war das Verhältniß zwijchen Schwiegervater und Schwiegertochter?

Angeflagter. Das denkbar fchlechtefte.e Es gab fortwährend Zerwürfniſſe und Streitigkeiten, auch vor ben Kindern und Dienern, bei Tiſche und überall. Der Doctor warf feiner Schwiegertochter ihren Tiederlichen Lebenswandel vor und daR fie des Nachts heimlich das Haus verlaffe. Eines Tages fchimpfte er fie geradezu eine feile Dirne. Sie fchleuderte ihm eine Wafferflajche an den Kopf. Sie war überhaupt jeit jeher eigenfüichtig und hartherzig. Ihr Mann ift infolge ihrer nachläffigen Pflege geftorben.

Präſident. Mit diefen Behauptungen ſetzen Sie fih in Widerſpruch mit allen Zeugenausfagen, welche gerade die unermüdliche Opferwilligfeit der Frau in ber Pflege ihres Gatten betonten.

Angeklagter. Ich kümmere mich nicht um das, was

Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 253

die Zeugen angeben. Ich jage, was ich weiß. Dr. Eafjan glaubte, als er feinen Sohn mit ihr verheirathete, fie fei reih. As es fich herausftellte, daß er fich in dieſer Vorausjegung getäufcht hatte, war er gegen fie jehr auf- gebracht und ward es noch mehr, als er fich überzeugte, daß fie eine fchlechte Gattin war. Nach dem Tode des Herrn Guftav Caffan wurden die Beziehungen immer ichlechter. Frau Caſſan wurde im Haufe ärger behandelt als ein Dienftbote, ver Doctor richtete das Wort an fie nur um zu ſchmähen. Sie durfte den Salon nicht be- treten, und der alte Herr verweigerte ihr die wenigen Pfennige um Briefmarken zu faufen. In die Haus— haltung vollends durfte fie fich gar nicht mifchen. Er warf ihr jeden Ausgang vor. Die Beichuldigung, daß fie die Nächte außer dem Haufe verbringe, führte den Bruch herbei.

Präfident. Berichten Sie nur, was Sie jelbjt mit angehört haben.

Angeflagter. E8 war Anfang April. Der Doctor vertrat jeiner Schwiegertochter, als fie ausgehen wollte, den Weg. Ein lebhaftes Zwiegefpräch entipann ſich. Ich jtand unten an ber Treppe und hörte jedes Wort. „Sie werben mich nicht abhalten, auszugehen, wenn ich es will”, rief die junge Frau erregt, „ich bin feine Gefangene!” „Das mag fein‘, verjette der alte Herr, „aber dann werden Sie morgen auch fortgehen, um nicht wieberzus- fommen.” Dabei verjette er ihr einen Fauſtſchlag.

Präjident. Die in der Unterfuchung vernommenen Zeugen jagen über das Berhältnig zwijchen Frau Caſſan und ihrem Schwiegervater doch, wejentlic anders aus. Nach dem Tode ihres Gatten verblieben die Beziehungen zwijchen beiden roch lange recht herzliche. Erjt ſpäter find Zerwürfniffe entjtanden, die fich etwa einen Monat vor

254 Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan.

dem Verbrechen jo weit zufpikten, daß ein Bruch erfolgte. Diefer Bruch erwies fich als unheilvoll für die junge Frau. Der Doctor, grämlich und verbittert, hat Reden über fie geführt, welche eine Zeit lang die Beichuldigungen, welche Sie wider die Dame erhoben, glaubhaft erjcheinen ließen, Dr. Caſſan erzählte, feine Schwiegertochter habe ihn fäljch- lich bejchuldigt, fie gejchlagen zu haben, und fügte hinzu: „Ein Frauenzimmer, das derartige Lügen verbreitet, ift zu allem fähig. Sie ift im Stande mich umzubringen, mich zu vergiften.‘

„Angeflagter. Der Doctor hat behauptet, daß Frau Caſſan verfucht hat, fich vom Apotheker Gift zu verjchaffen.

Präfident, Die Haushälterin ift am 30. April vergiftet, der alte Herr am 8. Mai erjchlagen worden.

Angeflagter. Ich bin unfchuldig daran. Sch wäre nicht fähig dergleichen zu thun.

Präfident. Um wie viel Uhr haben Sie fich in der fritiichen Nacht niedergelegt?

Angeflagter. Ungefähr um halb 10 Uhr.

Präfident. Dr. Caſſan ift gegen Mitternacht er- morbet worden. Er hat feine Thür nur infolge ver Aufforderung einer ihm vertrauten Stimme geöffnet. Er bat es ſelbſt gethan, venn die Thür trug feine Spuren von Gewalt. Sie haben in der Unterjuchung, als Sie Ihren perjünlichen Antheil am Morde nicht Teugneten, die Angabe gemacht: „Sch habe dem Doctor zugerufen, daß man ein Necept eingefchicft habe, welches er prüfen ſolle.“ Einem andern, als feinem eigenen Diener, hätte er nicht geöffnet, denn er Dan: fich vor einem mörberifchen Ueberfalfe.

Angeflagter. Ema um 11 Uhr weckte mich das Bellen des Hundes. Ich ſtand auf, um nachzuſehen, was es denn gebe. Ich habe meine Thür aufgemacht und

Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 255

im Dunfel einen Dolchſtich in die Hand befommen. Ich ſchrie: „Zu Hülfe! zu Hülfe! man bringt mich um!“ Der Mörder wollte ein zweites mal wider mich ausholen, aber er ftolperte auf der Stiege und ſtürzte. Dann erhob er fih raſch und flüchtete. Ich zog das Nothdürftigſte an, verfügte mich zu meinem Herrn und fand ihn tobt.

Präſident. Die Gerichtsärzte haben fetgeftelit, daß die Wunde an Ihrer linken Hand von bemfelben fchnei- venden Imftrumente herrührt, mit dem der alte Herr er- ftochen worden tft. Er hat offenbar abwehrend nach ver Waffe gegriffen. Dadurch wurde er an ber Hand ver- wundet. Sie haben fich verlegt, als Sie fich wieder in ven Befit des Dolches ſetzen wollten.

Angeflagter. Das ijt nicht wahr.

Präfident. Ihre Kleider waren voll Blut.

Angeflagter. Ya wohl! Es war mein eigenes, aus der mir zugefügten Wunde fließendes Blut. Che ich wußte, daß mein Herr tobt war, wollte ich ihm aufhelfen, und habe mich auch hierbei mit Blut befledt.

Präfident. Das Blut rings um den Leichnam war geronnen. Die Leiche ift nicht bewegt worben, das haben die Gerichtsärzte feitgeftellt. Das Blut auf Ihren Kleidern ftammt aus einer Arterie und erklärt fich ganz gut durch den Blutftrom, der aus der zerichnittenen Halspulsader des Doctor hervorbrach. Ihr Linker Arm wies eine Narbe von jungem Datum, der Eindrud eines frampf- haft eingepreßten Daumennageld. Es war als ob Gottes Finger die Bezeichnung „Mörder! daraufgefchrieben hätte, Woher ftammt diefe Narbe?

Angeflagter. Ich Habe biefelbe gar nicht einmal bemerkt. Es war irgendeine unbeveutende, zufällige Beſchädigung.

Präſident. Sie haben früher behauptet, die Narbe

256 Die Ermordung bes Dr. med. Eaffan.

rühre von einem Bifje des Pferdes her. Das Thier iſt aber äußerſt gutmiüthig und hat niemals zuvor gebifjen. Sie haben e8 während der Unterfuhung fogar unter: nommen, das Pferd zu einem folchen Biß zu reizen. Es it Ihnen nicht gelungen. Sie haben das Thier nicht als Entlaftungszeugen benuten fönnen.

Sodann conjtatirt der Präfident, daß zwijchen ber Ermordung des Dr. Caſſan und der Anzeige Durand's bei der Polizei fajt zwei Stunden verftrichen find.

Angeflagter. Ich mußte die Nachbarn alarmiren und mich anfleiden, darüber vergeht die Zeit.

Präjident. Was hatten Sie an, als der „unbekannte Mörder” Sie in Ihrem Schlafzimmer überfiel?

Angeflagter. Nur die Unterhojfe.

Präjident. Aber auf Ihrer Hofe find Blutfleden constatirt worden.

Angeflagter. Dieſe habe ich mir geholt, als ich meinen Herrn aufheben wollte. Ich habe die Hofe an- gezogen, ehe ich in fein Zimmer hinaufging.

Präfident. Der Doctor hatte in feinem Zimmer geladene Flinten. Es waren Vorderlader mit Zünd- ſchlöſſern. Aus den aufgeſetzten Zünpdhütchen aber war der Zündftoff forgfältig entfernt, ſodaß man mit diejen tauben Kapfeln nicht Feuer geben fonnte. Geſtehen Sie zu, daß Sie die Yadung entfernten?

Angeflagter. Ob nein. Der Doctor jelbjt hatte diefe tauben Zündhütchen aufgejegt, damit die Kinder nicht zufällig ein Unglück anfteliten.

Der Bräfident fordert ven Angeklagten auf, er möge ven Tag bezeichnen, an welchem Frau Caſſan ihn auf- geforvert habe, ihren Schwiegervater zu ermorden.

Angellagter.. Es war am 28. April. Sie kam um die Sachen abzuholen, die fie bei ihrer überftürzten

Die Ermordung des Dr. med. Caſſan. 257

unfreiwilligen Abreife zurüdgelaffen Hatte. Sie über- bäufte mich mit Liebfofungen und beſchwor mich, fie von dem Alten zu befreien. „Meiſter Mercadier hat es mir . al8 die beſte Löſung angerathen”‘, jagte fie wiederholt. Präſident. Urfprüngli haben Sie fi wol ber Hoffnung hingegeben, daß Sie dadurch, dag Sie eine Unfchuldige Hineinzögen, Ihren Kopf retten würden. Setzt wollen Sie glauben machen, daß Frau Caſſan das Ver— brechen angeftiftet habe. Sie beharren aljo dabei, daß Sie zu verſchiedenen malen von Frau Caſſan aufgefordert worden find, ihren Schwiegervater zu bejeitigen?

Angellagter. 9a, denn es ift die Wahrheit. Nur weil ich e8 ablehnte, hat fie einen andern mit der Aus- führung der That betraut.

Präfident. Bleiben Sie dabei, daß Frau Caſſan Ihre Geliebte geweſen ijt?

Angeflagter. Ja wohl, und das Jahre hindurd). Sch weiß wohl, daß ich nur ein Bedienter bin und fie eine „Dame“ ijt, aber für folhe mannstolle Weiber gibt e8 den Unterjchied zwijchen Herrjchaft und Dienerjchaft nicht.

Präfident. Ob Frau Caſſan andern Perfonen gegenüber weibliche Schwäche gezeigt hat, weiß ich nicht, es gehört dies nicht vor dieſes Tribunal; daß fie aber in vertrauten Beziehungen zu Ihnen geftanden hat, ift ganz unglaubhaft. Alle Zeugen bejtreiten es.

Angellagter. Ach was, fie ift eine ganz liederliche Perjon. Wer fie wollte, konnte fie haben. (Bewegung im Auditorium.) Die Zeugen waren eben nicht babei, wenn jie mit mir allein war.

Der Präfident geht nun dazu über, den Angeklagten wegen ber Vergiftung ver Philippine Siccard zu ver- hören.

XIV. 17

258 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.

Angeflagter. Ich wußte gar nicht, daß fie an Gift gejtorben fein fol. Ich glaubte fie fei einem Krampfe erlegen.

Präſident. Die Haushälterin hat den ganzen 30. April allein mit Ihnen zugebracht und zwar auf dem Gute La Grave, welches dem Doctor gehörte. Sie ftavb am folgenden Morgen, und die Section der Leiche hat Arfenifvergiftung nachgewiefen. Dr. Augier hat aus- gejagt, daß die Dofis eine ganz ungeheuere geweſen ift und einen faſt augenblidlichen Tod nach fich ziehen mußte.

Angeflagter. Das fann richtig fein, aber ich bin unjchuldig daran. Sch habe niemals Arſenik gefehen und weiß kaum, was e8 ift.

Präfident.e Dr. Caſſan bewahrte Arfenif auf in La Grave zur Behandlung feiner Weinftöde. Es waren zwei Padete dort. Er hat in Ihrer Gegenwart davon in Heine Kügelchen gethan, um Ratten zu vergiften.

Angeflagter. Das war nicht Arſenik, ſondern Strychnin.

(Eine jehr fachliche Bemerkung von feiten einer Perfon, die Arjenik nie gejehen hat!)

Präftident. Der Reſt des vorhandenen Giftes be- fand fich unter Verfchluß auf dem Dachboden des Haufes in La Grave. Nach dem Tode der Siccard fand man das Vorhängefchloß abgeriffen und ven Kaften aufgebrochen.

Bertheidiger Ferrand. Die Section hat ergeben, daß die Siccard herzleidend war und jederzeit eines plöß- fihen Todes fterben konnte.

Präfident. Warum hat man fie nicht dieſes natür- lichen Todes fterben laffen!

Damit ift das Verhör des Angeklagten beendigt. Durand hat mit überrafchender Schlagfertigfeit geantwortet: Abwechjelnd frech und chnijch, wenn er von Frau Caſſan

Die Ermorbung des Dr. med. Caffan. 259

ſprach; höhnifch, wenn ihm die Frage unmwejentlich fchien ; ſehr entjchieden, wenn er ableugnen wollte; aber worfichtig und zögernd, wenn ihm die Frage verfänglich vorkam. Mit jcheinbarer Indignation und dann wieder weinerlich jentimental wehrte er die Anjchuldigungen ab. „Es ift entjeglich”‘, rief er, „daß man fich ſolche Sache fagen lajfen muß!‘ |

Der zweite Verhandlungstag beginnt mit der DVer- nehmung der Zeugen.

Emilie Caſſan, geborene Peyronnet de Berre, wird aufgerufen. Sie ift 27 Yahre alt, brunett, eher klein als groß, von fchlanfen, eleganten Glieverbau und voller Büſte. Ohne gerade biftinguirt auszujehen, hat fie doch regelmäßige Züge und eine einnehmende Phyfiognomie. Sie ift vielleicht Feine jchöne, aber jedenfalls eine hübjche Frau. Die Zeugin erfcheint vor dem erichtshofe in tiefer Trauer, langem Grepejchleier und jchwarzer Kaſchmirrobe. Sie gibt ihre Ausfagen mit klarer Stimme und nachbrüdlicher Betonung, doc anjcheinend ohne be- fondere Erregung ab.

Präfident. Durand hat behauptet, daß Sie vier Jahre lang feine Geliebte gewejen feien und daß Sie ihn zum Morde Ihres Schwiegervaters angeftiftet hätten.

Zeugin. Die Behauptungen diefes Menjchen find nieberträchtige Verleumdungen. Ich habe niemals mit ihm in vertrauten Beziehungen gejtanden.

Angeflagter. Das Weib Lüge!

Präfivdent. Schweigen Sie! Laſſen Sie die Zeugin ruhig ausreden.

Zeugin. Es iſt eine abjcheuliche Verleumdung! Niemals habe ich mich mit ihm eingelaffen, niemals! Sch habe ihn immer als Diener betrachtet und behandelt. Er

17*

260 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan.

kann e8 gar nicht wagen, mir ind Geficht zu jehen. (Sie wendet jich gegen ben Angeklagten.)

Durand (mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit). Dh doc, mein Schätchen.

Zeugin (erregt). Ich ſchwöre bei dem, was mir das Höchfte ift, bei dem Leben meiner Kinder, daß ich niemals bie Geliebte dieſes Menſchen geweſen bin. Es ijt eine abjcheuliche Verleumbung, daß ich ihn veranlaßt hätte, meinen Schwiegervater zu ermorden. Welches Intereffe jollte ich an dem Tode des armen alten Mannes gehabt haben?

Präſident. Durand gibt an, Sie jeien am 28. April nah Albi gefommen, hätten mit ihm eine lange Unter: redung gepflogen und ihm den Antrag geftellt, Ihren Schwiegervater zu bejeitigen. Er habe fich geweigert, und darum hätten Sie einen Fremden, Unbekannten gebungen.

Zeugin. Aber ich lebte doch mit ſammt meinen Kindern nur von dem Einkommen, das ich von meinem Schwiegervater erhielt. Ich ſchwöre, daß ich am 28. April mit Durand nicht allein geiprochen habe.

Präfident. Sind nah dem Tode Ihres Mannes Ihre Beziehungen zu Ihrem Schwiegervater getrübt ge— weſen?

Zeugin. Der Tod ſeines einzigen Sohnes hatte ihn tief erſchüttert. Er wußte wol auch, daß unſere Ver— hältniſſe ungeordnet waren, aber die Höhe des Schulden— ſtandes überraſchte und bekümmerte ihn. Er mochte glauben, die Schulden wären um meinetwillen gemacht worden. Wir hatten veshalb allerdings Mishelligfeiten, fie waren indeß nicht ernitlicher Natur. Ich verbrachte in der Regel die Abende mit meinem Schwiegervater, ichrieb nach feinem Dictat und copirte feine medicinijchen Berichte.

Die Ermordung des Dr. med. Eaffan. 261

Präfident. Anfang April aber hat Ihnen der Doctor eine Scene gemacht, weil Sie ſpät abends allein ausgingen?

Zeugin. Mein Schwiegervater war zu der Anficht gelangt, daß es ihn zu viel fofte, mich und die Kinder zu erhalten, und verlangte, daß meine Mutter hierzu beitragen folle. Ich habe Albi deshalb am 13. April verlaffen.

Präfident. Haben Sie Ihren Schwiegervater be- Ihuldigt, daß er Sie gejchlagen habe?

Zeugin. Niemals. Ich habe ihn jogar gebeten, mich wieder aufzunehmen; allein infolge von Zwijchenträgereien wollte er es nicht thun.

Angeflagter. Diejes verfluchte Weib lügt! Das DBerbrechen ift von ihr ausgegangen. Sie hat den alten Mann getödtet oder tödten laſſen. Jedes Wort, das fie fpricht, ift eine Xüge. Der Doctor hat fie fortgejagt, weil fie wie eine liederliche Dirne lebte. Er hat ihr einen Fauftichlag ins Geficht gegeben und fie eine 9... gejcholten. Er hat feine Schwiegertochter, fowie dieſe ihn nicht ausjtehen können.

Bertheidiger Ferrand. Sind Sie, Frau Caſſan, in der Zwijchenzeit vom 28. April bis zum 8. Mai nie- mals in Albi gewejen?

Zeugin. Doch, mein Her. Am 1. Mai. Ich fam ein zweites mal, um allerlei vergeſſene Sachen ab- zuholen und mit meinem Schwiegervater einige Geldfragen zu beſprechen. Es war der Tag nach dem Tode ver Bhilippine Siccard.

Präfident. Haben Sie geäußert. Wenn die Alte früher geftorben wäre, jo hätte fich alles anders geftalten fönnnen?

Zeugin. ch erinnere mich nicht, Dies gejagt zu haben, aber es entipräche meiner Anjchauung. Ich habe

262 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.

es immer ſehr bedauert, daß mein Schwiegervater mich nicht wieder zu fich nehmen wollte.

Bertheidiger Ferrand. Sind Frau Zeugin nie- mals des Nachts Arm in Arm mit Durand jpazieren gegangen?

Zeugin. Niemals. Ganz entjchieden niemals.

Bertheidiger Ferrand. Aber Frau Zeugin wer— den dagegen wol nicht in Abrede ftellen, daß Sie einen nächtlichen Bejuch bei dem Lieutenant Pradines abgeftattet haben ?

Zeugin. Das ift eine müßige Frage. Auf folche antworte ich nicht.

Vertheidiger Ferrand. Es gibt hier feine müßigen Fragen. Sch weiß, was ich ſpreche. E8 handelt fi um den Kopf eines Menfchen, ver Sie befchuldigt und ver behauptet, um Ihretwillen auf der Anklagebank zu figen. Iſt es denn nicht gerade wegen dieſes Beſuches, daß Dr. Caſſan Sie aus ſeinem Hauſe gewieſen hat?

Zeugin. Nein.

Vertheidiger Ferrand. Alſo Sie haben nicht als Ausflucht angegeben, daß Sie den Abend bei dem Hauptmann Robert, einem verheiratheten Offizier und Freund Ihrer Familie, zugebracht hätten?

Zeugin. Ja, das habe ich geſagt.

Vertheidiger Ferrand. Es war aber thatſächlich unrichtig.

Zeugin. Darüber habe ich Ihnen keine Rechenſchaft zu geben.

Verthe idiger Ferrand. Mit wem Haben Sie alſo den Abend zugebracht?

Zeugin. Darüber brauche ich nicht Rede zu ſtehen. Ich bin nicht als Angeklagte hier.

Vertheidiger Ferrand. Sie haben als Zeugin

Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan. 263

die Verpflichtung, hier die ganze Wahrheit auszufagen, auch wenn e8 Ihnen peinlich ift. Reden Sie alſo auf- rihtig. Sit e8 nicht wegen Ihrer Beziehungen zu dem Lientenant Pradines, daß Ste aus dem Haufe gejagt worden?

Zeugin. Nein, mein Herr. Uebrigens iſt Lieutenant Pradines ein alter Bekannter. Wir ſind aus demſelben Orte. Seine Schweſter und ich waren Schulfreundinnen.

Staatsanwalt. Iſt es richtig, daß Ihnen Lieutenant Pradines 1000 Frs. geliehen hat?

Zeugin. Ja. Ich bedurfte des Geldes zur Zahlung einer dringenden Schuld meines verſtorbenen Gatten.

Vertheidiger Ferrand. Und Ihre Beziehungen zu dem Herrn Lieutenant befchränften fich auf dieſe Geld» angelegenheiten ?

Zeugin. Ja wohl, mein Herr.

Vertheidiger Ferrand. Sie haben ihm alſo feine Xiebesbriefe durch das offene Fenfter in fein Schlaf- zimmer geworfen ?

Zeugin. Nein, niemals.

Hierauf wird der Gerichtsarzt Dr. Camil Bouffac vernommen. Er erjtattet Bericht über die Section ber Leiche des Dr. Caſſan und ſchildert fodann in dramatifcher Weije, wie das Attentat nach feiner Weife verlaufen jein muß, indem er einen Gensdarmen veranlafßte, die Rolle des Opfers zu übernehmen, und felbjt den Mörder fpielt.

Der zweite GerichtSarzt, Dr. Guyh, beftätigt die Schluß- folgerungen jeines Collegen. Im feinem Eifer hat er fich jogar zu einem merfwürdigen Experiment herbeigelafjen. Es ijt bereits erwähnt worden, daß Durand eine Haut- Ihürfung am linken Arme hatte. Die Anklage folgert, biefelbe jtamme daher, daß der Angegriffene im verzweifel- ten Rampfe um fein Leben durch einen heftigen Drud

264 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan.

mit dem Daumennagel fie verurjacht habe. Dr. Gun bat num von einem fräftigen Collegen einen nachhaltigen Drud an feinem Arme verjuchen lafjen, und die jolcher- geitalt von dem Daumennagel berrührende Verletzung entjprach jener, welche ver Angeklagte davongetragen hatte. Diefe Beweisführung iſt wahrhaft vernichtend für ben Angeklagten.

Die Verhandlung wird zur Vornahme des Local- augenjcheines unterbrochen. Der Gerichtshof jammt den Proceßparteien begibt fih, unter Zuziehung von Ber: trauensmännern aus dem Publikum, an die Stätte des Attentats. Dieſer in Albi noch unerhörte Vorgang erregt das ganze Städtchen. Die gefammte Bevölkerung it auf den Beinen. Es iſt nothwendig, die Juftizwachen zu verjtärfen, um Frau Gaffan, welche nach der Anficht der Menge die Schuldige ift und mit Schmähungen be- grüßt wird, vor thätlichen Angriffen zu jchügen.

Der Gerichtshof durchſchreitet mit feierlichem Ernit alle in Frage fommenvden Räumlichkeiten, das DVeftibule, das Arbeitscabinet und das Schlafzimmer des Dr. Caſſan. Durand, der zwifchen zwei Gensdarmen geführt wird, erflärt mit fefter Stimme, wo ver „unbefannte Mörder’ eingedrungen fein müffe und welchen Weg er genommen habe.

Es werden jodann verjchievene Zeugen über das Ver: hältniß zwijchen vem Dr. Caſſan und feiner Schwieger- tochter vernommen. Die Ausfagen jtimmen nicht überein. Etliche bezeugen, daß beide in feinplichen Beziehungen gejtanden haben, andere befunden, Dr. Caſſan habe fich bitter über bie junge Frau und ihren Lebenswandel aus- gejprochen, fich vor ihr gefürchtet und geäußert, daß fie ihn noch vergiften werde. Wichtiger ift als Zeugin Elodie Rieunier, das Stubenmädchen ver Frau Caſſan. Sie ijt eine hübſche Brünette von 19 Jahren, mit einem

Die Ermordung bes Dr. med. Eajfan. 265

allerliebjten Stumpfnäschen und bligenden jchwarzen Augen.

Präfident. Sind Sie die Geliebte des Yujtin Durand gewefen?

Zeugin (verihämt erröthend). Ja wohl, Herr Präfi- dent, ich geitehe e8.

Präfident. Glauben Sie, daß Frau Caffan gleich: falls jeine Geliebte gewejen ift.

Zeugin. Oh nein, das it nicht wahr. Sch hätte es ficher bemerfen müfjen, wenn etwas zwijchen ven beiven vorgegangen wäre. Mein Schlafzimmer jtieß an das ver Gnädigen. Ich hörte alles, was daneben gejchah.

Präjident. Lebte ver Doctor in gutem Einvernehmen mit Ihrer Herrichaft?

Zeugin. Nein, e8 gab öfters Streit.

Präfident. Wo hat Frau Eaffan ven 8. Mai, den Vorabend des Attentats, zugebracht?

Zeugin. Im Toulouſe. Ich Habe ihr jelbit das Abendefjen fervirt, war ihr um 10 Uhr beim Entkleiven behülflich und habe ihr am nächjten Morgen die Choco- lade gebracht, die fie im Bette zu fich nahm.

Präfident. Haben Sie jemals von Ihrer Herrin eine Aeußerung gehört, welche Sie darauf jchließen ließ, fie plane die Ermordung ihres Schwiegervater8 oder billige dieſelbe?

Zeugin. Niemals, ganz gewiß niemals.

Präjident. Iſt Durand ohne anzuflopfen in das Zimmer Ihrer Herrichaft gefommen?

Zeugin. Einmal ift er jo eingetreten. Frau Caffan hat ihn darüber fcharf zur Rede geftellt, und er hat e8 nicht wieder gethan.

Präfident. Glauben Sie wirklich nicht, daß er zu ihr in intimen Beziehungen ſtand?

266 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.

Zeugin. Oh! Er hätte es gar nicht gewagt, bie Augen zu ihr zu erheben.

Präfident Iſt er nicht einmal längere Zeit im Schlafzimmer Ihrer Herrin geblieben?

Zeugin. Die Gnädige war an biefem Tage un- päßlic und blieb zu Bette. Er brachte ihr das Diner hinauf. Das ift überhaupt das einzige mal, daß er mit ihr allein in ihrem Zimmer war.

Prüfident. Er behauptet aber, daß er vier Jahre lang ihr Geliebter gewejen ift.

Zeugin. Das wäre das erſte Wort, das ich davon erführe. (Sie wendet fich mit einer zornigen Geberde gegen den Angeklagten. Dieſer lächelt.)

Auguft Mercadier, ehemaliger Notar, ein behäbiger, rundlicher, älterer Herr mit felbjtgefälligem, zufriedenem Geficht und einem dünnen, Fed aufgewichiten Schnurr- bärtchen, fagt aus:

„Ich bin der gejchäftliche Nathgeber und Anwalt ver Frau Andoque, einer Tante der Frau Caſſan. Die letztere kam demzufolge, als fie ihres Schwiegerpaters Haus verlaffen hatte, gleichfall8 zu mir, um fich meines Rathes zu vergewiffern.“

Präjident. Wiſſen Sie, wo Frau Caſſan den Abend des 8. Mat zugebracht hat?

Zeuge Sie war in Touloufe. Gegen 5 Uhr nad: mittags fam fie in meine Kanzlei, wojelbft wir eine Be- Iprehung mit dem Advocaten Pajol hatten. Von dort find wir miteinander weggegangen. Wir haben gemein ichaftliche Freunde begegnet und begrüßt. Die Anklagen, die Durand gegen meine Perſon erhoben hat, find lächer- lich, ich brauche fie wol nicht zu beantworten.

Angeflagter. Frau Caſſan hat mir doch ſelbſt ge—

Die Ermorbung bes Dr. med. Caſſan. 267

ftanden, daß der Notar Mercadier ihr derzeitiger Xieb- haber und der geiftige Urheber des Verbrechens ift.

Präfident. Das ift doch eine beifpiellofe Infamie. Was in aller Welt berechtigt Ste zu der Annahme, daß. der Zeuge der Geliebte der Frau Caſſan geweſen ift?

Vertheidiger Ferrand Es iſt dies eine Ver— muthung, für die gewichtige Gründe ftreiten. Sie find wie vertraute Freunde miteinander jpazieren gegangen. Wir haben das von Herrn Mercadier ſelbſt gehört. Bit e8 denn ein Verbrechen, ver Liebhaber einer hübfchen jungen Frau zu fein? (Heiterfeit.)

Frau Andoque beftätigt, daß Durand von Frau Caſſan ſtets als Bedienter behandelt worden fei. Die Zeugin hat niemals etwas von vertrauten Beziehungen zwifchen ihnen bemerkt. „Und ich habe doch fcharfe Augen für folhe Sachen!” fügt fie hinzu. (SHeiterfeit.)

Angeflagter. Ich Lüge nicht. Das letzte Schäfer- ftündlein, das ich mit Frau Caſſan verbrachte, war am 28. April, an dem Tage, an dem fie nach Albi Fam, um ihre Effecten abzuholen.

Präfident. Sie bleiben aljo dabei, daß Frau Caſſan Sie an jenem Tage aufforverte, ihren Schwiegervater zu tödten, und um Sie hierzu zu bewegen, fich in Beweijen der Zärtlichkeit überbot ?

Angeflagter. Ich Habe e8 gejagt. Es ijt die Wahrheit.

Zeugin. Das nenne ich eine eiferne Stirn!

Zeuge Frenouls, Notar des Dr. Caſſan, beziffert den Werth des Vermögens des Arztes auf 70000 Fre.

Bertheidiger Ferrand. Wieviel Geld dürfte in der Nacht des Verbrechens im Haufe gewejen fein?

Zeuge. Oh, nur wenig. Ganz wenig.

Präfident. Er hatte aber doch nahezu 21000 Fre.

268 Die Ermordung bes Dr. med. Caſſan.

erhalten, und nach ven Angaben über die Verwendung des Geldes fehlt ver Nachweis über etwa 3000 Fre.

Zeuge. Bon ven behobenen 21000 Frs. hat er 12000 Frs. Schulden feines Sohnes bezahlt und 8000 Fr8. bei dem Steueramte für Rententitel hinter: legt. Er wollte fein Geld im Haufe haben. Sch glaube nicht, daß 1000 Fre. baare Münze vorhanden ge- wejen find.

Bertheidiger Ferrand. Ueber 400 Fre. find vor— gefunden worden.

Staatsanwalt. Durand hat vermuthlich nicht ges wußt, daß die 21000 Frs. nicht im Haufe waren, von der Behebung der Summe dagegen hatte er Kenntniß. Es war Stabdtgefpräch, daß Dr. Caſſan eine große Summe Geld empfangen hatte.

Zeuge. Das lektere ift ficher.

Die Sacverjtändigen, welche die chemijche Unter— juhung der Eingeweide der Pyilippine Siccard vorge- nommen haben, die Herin Franz Julius Augier und Dr. Eugen Ceſtan de Gaillac, erklären, daß diefe an Arjenikvergiftung geftorben ift.

Melanie NRoumegour, das Hausmädchen des Dr. Caſſan, fagt aus:

„In der Nacht des Attentates ift Iuftin Durand in Unterhofen und bloßfüßig mich zu weden gefommen. Er theilte mir mit, unfer Herr ſei ermordet und er felbit durch einen Mefferftich verwundet worden. Dann fiel er erichöpft, wie ohnmächtig, vor mir zujammen. Ich hatte zuvor nichts Verdächtiges gehört, auch der Hund hatte nicht gebellt. Ich bin vor das Thor gelaufen und habe Hülfe! Mörder! gerufen. Die Nachbarn find an die Fenſter gekommen. Durand wollte wegeilen, um vie Polizei zu holen, und zog an der Hausthür feine Hofe

Der Ermordung des Dr. med. Caſſan. 269

an. Ich Hatte ſolche Angſt und fürchtete mich fo ſehr, allein zu bleiben, daß ich ihn fefthalten wollte, als er fortging.“

Nah dem Schluß des Beweisverfahrens beginnt das Plaidoyer.

Die bemerfenswertheite Rede, die fich zumeilen zu wirflich rhetoriſchem Schwung erhebt, ift die des Ver— treterd der Civilpartei, Bosredon. Derfelbe jagt im MWejentlichen:

Es handelt fich für uns um feinen materiellen Schaden— erſatz. Es handelt fih um die Reinhaltung der Ehre einer jonjt fchutlofen Frau, um den ehrlichen Namen von vier unmünbigen Kindern, der befledt werden joll. Elende Berleumdungen haben Frau Caffan fchwer an Ehre und Freiheit bedroht, und nur der energijchen Führung ber Unterfuchung iſt e8 zu danken, daß dies dunkle Gewebe jo rajch zerriffen ward.

Der Anwalt erörtert die Gründe, die Juftin Durand und ihn allein al8 Mörder fennzeichnen. Er befchuldigt ihn des Diebſtahls oder doch des Diebitahlverfuchs, „weil er den erhofften Lohn für feine graufe That nicht gefunden habe”. Er wendet fich gegen die ſchnöde Be— bauptung, daß Frau Caffan die Maitreffe ihres Bedienten gewejen ſei, und daß fie ihn zum Morde verleitet habe. Er brandmarft die Verlogenheit des Angeklagten, feine wechjelnden und ſchwankenden Geſtändniſſe. Wie aber ift der Angeklagte auf den verruchten Gedanken verfallen, die Schwiegertochter feines Opfers anzufchwärzen? Das müßige Gejchwäß, ver leere Klatſch, der bis zu ihm in die Zelle gebrungen ift, hat ihm den fchlauen Plan ein- gegeben, durch Verleumdung einer dritten Perſon das eigene foftbare Leben zu retten. Einundvierzig Tage hat Frau Caſſan in der Unterjuchungshaft zugebracht, man

270 Die Ermordung des Dr. med. Caſſan.

bat ihre vertrautejten Angelegenheiten peinlich durchforſcht: aber ihre Unjchuld ift klar zu Tage getreten. Sie hatte feinerlei Intereffe am Tode ihres Schwiegervaters, ver fie und ihre Kinder erhielt. Sie bezog ein Einfommen, das zum großen Theile von den Ergebnifjen feiner Praris abhing. Nun da er tobt ift, bleibt fie faft mittellos zurüd. Die Habjucht allein hat Durand zum Mörder gemacht, er hat wahrfcheinlich 2300 Frs., deren Ber: bleib nicht anders zu erflären ift, am fich gebracht und an einem fichern Drt verborgen. Dazu hat er die zwei Stunden verwendet, die zwijchen der That und ber Ber- ftändigung an die Polizei verfloffen find. Es gibt für ihn feinerlei mildernde Umſtände, erjchwerend aber find jeine abjcheulichen Berleumdungen. Seine cynijche Haltung an biefer Stelle beweijt jeine abjolute Verworfenheit.

Der Staatsanwalt Laroche erörtert nüchtern und klar alle zwingenden VBerdachtsgründe und fordert bie Todesſtrafe, denn der Angeklagte verdiene fein Mitleid.

Der Vertheidiger Ferrand fucht in gejchidter Weife, ohne Frau Caſſan direct zu beſchuldigen, darzuthun, daß noch neue Zweifel in Bezug auf die Verübung des Ver- brechen bejtänden. Der Beweis, daß Dr. Caſſan be- jtohlen worden, jei mislungen, ein Beweggrund zu dem Morde fei nicht erbracht, e8 bleibe unficher, ob ein oder mehrere Thäter am Morde mitgewirkt hätten, und jeder Zweifel müfjfe dem Beichuldigten zugute fommen, eine Derurtheilung fei deshalb nicht gerechtfertigt.

Die Gejchworenen haben fich nach einftündiger Be— rathung über ihren Spruch geeinigt. Sie verneinen die Schuld des Angeklagten an dem Tode ver Philippine Siccard, bejahen fie jedoch in Betreff der Ermordung des Dr. Caſſan und des qualificirten Diebſtahls. Mil— dernde Umftände werben dem Verurtheilten nicht zuerkannt.

Die Ermorbung des Dr. med. Eaffan. 271

Durand bricht in Thränen aus und ‚ruft: „Mich Unjchuldigen verdammt man und die Schuldige läßt man laufen!‘

Der Präfivdent Garas verfündigt das Urtheil: Die Zodesitrafe.

Bei diefem Proceffe tritt wieder wie in Frankreich jo häufig ein angebliches Liebesverhältnig in den Vorber- grund. Hätte der Angeklagte neben feinem Cynismus und feiner Frechheit eine größere Erfindungsfraft be— jeffen, vielleicht wäre e8 ihm doch gelungen, fich durch die Verleumdung der an der That unfchuldigen jungen Frau zu retten. Aber feine Fabel war zu unglaub- würdig, feine Angaben wurden zu gründlich widerlegt. Er fing fih in ven Mafchen des Netes, welches er gar zu plump gejponnen hatte. Die Stimmung der Be— völferung wendete ſich urjprünglich ganz entjchieden wider Frau Caſſan, und es iſt ein wirkliches Verdienſt ber Unterfuhung, die Wahrheit an den Tag gebracht zu haben. Wir halten das Urtheil für ein gerechtes.

Ein Beitrag zu dem Leben und dem Procefe des Panduren-Oberftien Franz Freiheren von der Trenck und feine Haft auf dem Spielberg bei Brünn.

1741 1149,

Franz Freiherr von der Trend ift 1714 zu Reggio in Galabrien geboren. Sein Bater jtand damals dort als Faiferlich Föniglicher Oberftlieutenant in Garnifon, wurde aber fpäter nach Ungarn verjett. Der junge Trend beſuchte die Lateiniſche Schule der Jeſuiten in Dedenburg, und ſchon damals zeigten fich feine glänzenden Talente, aber auch feine böjen Anlagen und Eigenjchaften. Im 17. Lebensjahre trat er als Fräftiger, in allen Leibes— übungen geübter Jüngling in die öjterreichifche Armee ein. Aber nach Furzer Zeit quittirte er und nahm Kriegspdienfte in Rußland. Er war ein wilder Gefell, feine zügellojen Streiche zogen ihm eine Unterjuchung zu, er wurde des Landes verwiejen. Nach einer andern Mittheilung hatte er fich an feinem Oberſten thätlich vergriffen und wurde deshalb vom Kriegsgericht zum Tode verurtheilt. Es gelang ihm aber zu entfliehen und die öfterreichifche Grenze zu erreichen. Er ging nach Slawonien auf die ihm ge— hörende Herrichaft Pakracz und vertrieb fich die Zeit mit Reiten und Jagen und wüſten Drgien, die in dem Herren— haufe gefeiert wurden. Als der Defterreichiiche Erbfolge: frieg ausbrach, ftellte er der Kaiferin feinen Degen zur

Der Panduren-Oberft Frhr. v. d. Trend. 273

Verfügung. Maria Therefia war von Feinden umringt, fie nahm Hülfe an, wo fie ihr geboten wurbe, denn es handelte fih um den Beſtand der alten Habsburgiichen Monarchie. Trend erhielt die Erlaubniß, ein Freicorps in der Stärfe von 1000 Mann zu errichten. Die Leute drängten fich zu ihm, fobald er die Werbetrommel rühren ließ. Wählerifch war er nicht bei der Aufnahme; muthige, trogige Männer ließ er ohne weiteres Treue ſchwören, auch wenn fie mit der Yuftiz die bedenklichſten Conflicte gehabt hatten. So mancher Grenzräuber, dem es jchon an Hals und Kragen gegangen war, fand unter der von ihm enifalteten Fahne einen fichern Zufluchtsort. Es währte nicht lange, bis er die erforderliche Zahl von 1000 Dann beifammen hatte. Er marjchirte mit feinen Zruppen nah Wien und führte viefelben am 27. Mai 1741 der Raiferin vor. Sie hatte fich zu dieſem Behufe im Wagen vor die Fanoriten-Linie begeben und nahm eine Art von Parade ab. Das Corps war eingetheilt in 20 Freicompagnten, jede zu 50 Mann, nach jerbijcher Art trugen fie weite Ueberwürfe und rothe Kapuzen, fie jtarrten von Waffen aller Gattungen. Die Panduren begrüßten die Kaijerin mit den raufchenden Klängen ihrer Muſik, gaben Proben ihrer Gefchiclichfeit und Kampfes— weiſe und zogen dann in guter Ordnung vor dem Faifer- lihen Wagen vorüber. Maria Therefia verfolgte das jeltene und intereffante Schaufpiel aufmerkſam, befchenfte die Panduren reichlich und ließ einige derſelben ihrer Mutter, der verwitweten Kaiferin Eliſabeth Chriftine, vorjtellen. Am folgenden Tage z0g die ganze Schar, von Tauſenden ummwogt und angejtaunt, am Klofter der Sale- fianerinnen vorüber, um von ber Kaijerin Amalie Wilhel- mine, der Witwe Joſeph's J., ebenfalls befichtigt zu werben. ALS dies gejchehen war, lagerten fich die Banduren einige XXIV. 18

274 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceije

Stunden in der Vorſtadt Landſtraße, nahe dem St. Jo— bannis-Hospital. Am Abend fetten fie über die Donau und traten ven Mari nach Schlefien an. Dort gaben fie glänzende Beweife ihrer Eriegerifchen Tüchtigfeit. Viele Meilen weit jchwärmten fie im Rüden des Feindes, jie verbrannten die Magazine, fingen die Kuriere auf, be- unruhigten alle Transporte und verbreiteten überall Ver— wirrung. Nicht jelten haben fie Vorpoften überrumpelt, preußijche Offiziere aufgehoben und mweggeführt, während die Schilowache ruhig vor der Thür jtand, und ganze Hauptquartiere überfallen und zeriprengt. ‘Die Panduren pflegten jtet8 die Avantgarde zu bilden. Sie ftürmten unmiberjtehlich vorwärts und warfen nieder, was fich ihnen entgegenitellte.

Der Oberbefehlshaber der Armee, Graf Neipperg, erfannte die vortrefflichen Leiftungen diefer Truppen an, aber der Banduren-Dberft war dem ftrengen, methodijchen Manne durchaus unfympathiih. Trenck befaß eine Hohe, imponirende Geftalt und ein einnehmendes Weſen, auch eine gewiffe Bildung fonnte man ihm nicht abjprechen; aber die vorherrjchenden Züge feines Charafters waren unbändige Wilpheit, Grauſamkeit und Unbotmäßigfeit, die er auch jeinem Corps aufprägte. Trend hatte jtrengen Defehl, auf allen feinen Streifzügen nur gegen bewaffnete Feinde vorzugehen und nie an wehrlofen Menfchen Gewalt: thätigfeiten zu verüben. Aber der Dberjt gehorchte nie- mals. Reiſende Kaufleute wurden beraubt, Dörfer und Städte angezündet und geplündert. Die Banduren fannten weder Schonung noh Mannszucht und ihr Oberſt ging ihnen mit dem jchlechteften Beiſpiele voran.

Graf Neipperg überzeugte fih davon, daß Trend unverbejjerlich, und daß feine Art, den Krieg zu führen, mit der Ehre der Kaiferin nicht vereinbar war. Er nahm

des Banduren-Oberften Franz Frhrn.v. d. Trend, 275

ihm das Commando ab und übertrug bafjelbe einem fächfiichen Major Namens Menzel, welcher früher eben- falls in Rußland gedient hatte und der flawifchen Sprachen mächtig war. Als Trend fich weigerte, unter Menzel zu dienen, wurde er verhaftet und vor ein Kriegsgericht gejtellt; jevoch bald darauf aus dem Arreft entlafjen und in fein Commando wieder eingejekt.

Im Jahre 1742 focht Trend in der Armee des Feld— marſchalls Grafen Khevenhüller in Baiern. Durch einen fühnen Handftreich nahm er mit feinen Panduren das Schloß Diefenjtein an der Grenze von Baiern und Böhmen. Zufällig entzündete ſich ein Sad Pulver. Trend jtand in unmittelbarer Nähe, erlitt jehr jchmerzliche Brand— wunden und wurde zur Heilung berjelben nah Paſſau gebracht. Der Feldmarſchall benutzte dieſe Gelegenheit, über die Verdienſte des verwundeten Offiziers Bericht zu erſtatten und ſeine Beförderung zum Oberſtlieutenant von der Kaiſerin zu erbitten. Er zählte alle Waffenthaten Trenck's auf bis zu der Einnahme von Dieſenſtein und rühmte ſeine hohe militäriſche Begabung und ſeine außer— ordentliche Tapferkeit. Er verſchwieg dabei nicht, daß Trenck mit großer Härte verfahren ſei, ſo oft es ſich um Beute gehandelt, und daß er mehr als einmal eine über— mäßige Habſucht an den Tag gelegt habe, fügte aber hinzu, Trenck habe verſprochen, ſich in dieſem Punkte zu beſſern, und werde dieſes Verſprechen wohl auch halten, denn ſein Vermögen habe bereits eine beträchtliche Höhe erreicht. Er werde ſich doch endlich mit dem begnügen, was er beſitze, die Kaiſerin möge daher die beantragte Beförde— rung bewilligen, um ihn dadurch in ſeinem Unglück zu tröſten und ſeine Schmerzen zu lindern. Maria Thereſia erkannte zwar Trenck's Tapferkeit an, aber ſein groß— ſprecheriſches, rohes Weſen und ſein ausſchweifendes Leben

18*

276 Ein Beitrag zu dem Leben und bem Proceffe

waren ihr in hohem Grade zuwider. Sie wollte die Bitte bes Feldmarſchalls abſchlagen; aber mit Rückſicht auf den Unfall, den Trend erlitten hatte, entjchloß fe fich endlich doch, ven Wunsch Khevenhülfer’8 zu erfüllen, und bewilligte das Avancement.

Im Jahre 1745 leiftete Trend abermals gute Dienfte in dem Feldzuge gegen Preußen; aber jchon im folgenden Jahre endete jeine militärische Laufbahn. Er hatte fo viele und fo grobe Excefje begangen, daß er feftgenommen, vor ein Kriegsgericht geftellt und zu Tebenslänglicher Haft auf dem Spielberge verurtheilt wurde.

Gleich Hier jei bemerkt, daß die Panduren auch unter ihrem, neuen Commandeur die alte Tapferkeit bewiejen. Im Siebenjährigen Kriege bewährten fie den unter Trend erworbenen Ruhm und galten für die befte Truppe unter | der leichten öfterreichiichen Reiterei.

Der Proceß gegen Trend ift, ſoviel wir wifjen, actenmäßig bis jetst nicht veröffentlicht. Auch uns ftehen die Acten nicht zu Gebote, wir müſſen uns deshalb be- gnügen, die fich entgegengejegten Urtheile zu referiren. Die Gegner des Panduren-Oberjten behaupten: Bei dem Abſchluß des Friedens zu Füffen, der nach dem Tode Kaiſer Karl's VII., eigentlich aber nach dem bei Pfaffen- hofen erfochtenen Siege mit Maximilian Joſeph, dem Sohne Karls VII. erfolgte, fei das graufame und pflichtwidrige Benehmen Trend’8 zur Sprache gefommen und infolge deſſen das peinliche Verfahren wider ihm eingeleitet worden. Er habe zwar feine Unfchuld betheuert, aber mehrere todes— würbige Berbrechen ſeien bewieſen. Zweimal fei ver Procek nievergefchlagen und erwogen worden, daß er jeine Unthaten nicht in ruhigen, geordneten Zeiten, ſondern im Kriege, wo alle Leidenjchaften entfeffelt gewejen, verübt babe. Allein der rajende Menjch habe e8 durch jeine

des Banduren-Oberften Franz Frhrn. v.d. Trend. 977

eigene Schuld unmöglich gemacht, ihn zu fchonen, troßig feine Feinde herausgefordert, feinen beſten Dffizieren vie ihnen zufommenven Gelder ohne weiteres vorenthalten, mehrere derjelben in feiner Wuth meutchlerifch überfallen, ja jogar den nachher jo berühmt gemworbenen General Zaudon im Wiener Theater jo brüsfirt, daß eine heftige Scene entjtanden und das gefammte Publiftum alarmirt worden fei. Bor dem Sriegsgerichte, in den Verhören babe er fich jehr unwürdig betragen, fich durch ein ganzes Net von Angebereien retten wollen und andere Offiziere, insbejondere Laudon, in die Sache zu verwideln gefucht und dabei fo fchlau operirt, daß dieſe fich nur mit Mühe der gegen fie erhobenen Beichuldigungen zu erwehren ver- mocht hätten. Die Kaiſerin habe große Rüdjicht auf feine Dienjte und Tapferfeit genommen, nur aus diefem Grunde jet er nicht mit dem Tode bejtraft worden.

Trend felbft hat zu feiner Rechtfertigung eine Lebens— bejchreibung veröffentliht. Er prahlt in derjelben mit feinen Thaten und legt ein ftarfes Selbjtgefühl an ven Zag. Nach feiner Darftellung ift ihm bitteres Unrecht gejchehen. Er führt feinen Proceß zurüd auf Intrigue und Verfolgung feiner perjönlichen Feinde und Flagt über die ihm widerfahrene graufame Behandlung Er jagt: „Mein Kriegsrecht fing den 28. April 1746 an, nachdem ich den Tag zuvor von einem meiner Anfläger (Laudon) in dem Komöpdienhaufe angefallen worden war, ven ich aber, da ich gegen folche Leute den Degen zu ziehen nicht ge- wohnt bin, bei der Gurgel ergriffen und erwürgt haben würde, wenn nicht der Herr General von... . mich davon abgehalten hätte, Diefe Paſſage haben alle im Komödien— hauſe Anwejenvden, bei 400 Perjonen, angejehen, welches ich nicht wenig bedauere. Ich wurde gleich zu Anfang des Kriegsrechtes mit Arrejt belegt, wurde bei ven Händen

278 Ein Beitrag zu dem Leben und dem PBrocejfe

und Füßen kreuzweiſe gejchloffen und befam ven zweiten Zag darauf einen Lieutenant mit zwei Schildwachen und aufgepflanzten Bajonetten in mein Zimmer.”

Er erzählt weiter: „Man hat mich 12 Uhr nachts aus meiner in einem Wirthshaufe in der Kärnthner Straße befindlichen Wohnung in das Arfenal und von da in das Stodhaus gebracht und den linfen, von einer Kanonenfugel bleffirten Fuß, der damals noch nicht voll- jtändig geheilt, fondern geſchwollen war, in Eijen gelegt. Daburch ftieg die Gejchwulft fo, daß der wachthabende Offizier Mitleid empfand und Anzeige machte. Durch meine Freunde wurde die Kaiſerin von dieſer Behandlung in Kenntniß gefeßt, darauf nahm man mir die Feſſeln von dem Franken Fuße und der einen Hand ab. Nach 18 Tagen wurde ich in das Arjenal zurüdtransportirt und mir wegen Verfchlimmerung meines Franfhaften Zu— Itandes die fämmtlichen Eifen abgenommen. Die Kaiferin befahl die Reviſion tes Urtheils und ertheilte mir vie Erlaubnif, einen Advocaten anzunehmen.’

Am Schluffe heißt e8: „Zu bedauern bin ich, daß ih nicht alle excunable und nie erhörte Umftände, jo in meinem langwierigen Proceffe mit untergelaufen, aus erheblichen Urjachen dem geneigten Xejer fo vorlegen darf, wie ich e8 wünjchte. Sch fage nur, daß mich diefer Proceß bei 80000 Gulden gefoftet hat; meine Feinde haben ihr intentum erreiht. Sie haben mich zum Bettler und bei ber ehrlichen Welt fufpect gemacht, da doch die ganze ver- nünftige Welt und jeber, fo von mir gehört oder in Decaffionen gejehen, das unverfälichte Zeugniß werben geben müſſen, daß ich meiner allergnädigiten Souveränin als ein treuer Vaſall und Soldat jederzeit gedient, welches mir auch der geringfte Musfetier, ja fogar die Feinde jelbjt, gegen welche ich gefochten, mit befräftigen werben.”

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Eine wejentliche Stüge fand der Pandur während des Procefjes an jeinem Vetter Friedrich von der Trend, welcher gerade um dieſe Zeit in Wien angefommen war und mit Hülfe des Dr. Gerhauer in der Angelegenheit fo fräftig intervenirte, daß das ganze Kriegsgericht und der damals allmächtige Hoffriegsrath hätten caffirt werben müffen. Die Gegner Trenck's geriethen durch diefe Wen- dung in die Ärgjte Verlegenheit. Sie hatten von feinem Vermögen bereit8 über 80000 Gulden vertheilt und hielten infolge der verfügten Sequeftration feine ganze Habe in ihren Händen. Sie hatten ihn tief verlegt und kannten ihn gut genug. Sie fürchteten feine Rache, wenn er bie Freiheit wiedererlangen follte. Um diefer ihnen drohenden Gefahr vorzubeugen, mußten alle Hebel in Bewegung gejett werben, und fie blieben auch jchlieflich die Sieger.

Charakteriftiich für den Proceß ift der Umftand, daß Trend feines Verbrechens wider ven Staat angeflagt und überwiejen und folglich auch die Gonfiscation feiner Güter im Urtheil nicht ausgefprochen werben fonnte. Es hie vielmehr ausbrüdlich darin: „daß feine Güter in ber Berwaltung des von ihm gewählten Hofrathes von Kämpf und jeines Freundes Baron Pejacherich bleiben und ihm alle Jahre die Rechnung von feinen Beamten zugeſendet werben ſollte“.

Wer unparteiifch urtheilt, wird freilich nicht in Ab- rede ftellen fünnen, daß Wolluft und Geiz zwei Grund- züge in Trenck's Charakter waren. Dieje böſen Leiden— ichaften haben ihn zu fehr schlechten und jchmutigen Handlungen getrieben. Es fteht feit, daß er mehr als 2 Millionen Gulden durch feine Requifitionen, richtiger gejagt durch feine Plünderungen erpreßt hat und unerjätt- lich immer größere Summen an fich bringen wollte. Dazu war. ihm jedes Mittel recht. Aber auf der andern

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Seite darf man nicht vergefjen, daß er durch die brutale Art feiner Kriegführung ein Schreden der Feinde geworden it und große Erfolge für Defterreich errungen hat. Die Dberjten Trips, Menzel und Bärenklau haben da— mals auch nicht fanfter gewirthichaftet; aber fein Menſch hat fie zur Nechenfchaft gezogen, und Trend war ihnen an ruhelojer Thätigfeit bei Tag und bei Nacht, an Talent und an unglaublicher Kühnheit und Erfindungsgeijt weit überlegen.

AS Trend auf dem Spielberge anfam, war verjelbe für die Gefangenen in der That ein furchtbarer Ort. Die Sträflinge waren in unterirdiichen Kaſematten unter: gebracht, welche in der Tiefe die ganze ſüdweſtliche und norböjtliche Seite in doppelten Reihen untereinander ein- nahmen. Im den unterften Gängen, die von feinem Strahl des Tagesfichtes beleuchtet wurden, befanden fich die jogenannten Arrefte, von denen einer noch jegt zum Andenken erhalten ift. Es waren dies Zellen von Balfen und Pfoiten, die Höhe betrug acht, die Länge fieben, die Breite vier Schuh, die Eingangsthür hatte eine Höhe von nur drei Schuh. Im dieſe Kerfer wurden bie ſchwerſten Berbrecher geworfen und dort mit Ketten angejchloffen ; ihre Nahrung beitand aus Brot und Waffer. Erſt Kaiſer Leopold II. milderte im Jahre 1791 dieſe ſchaudervolle Strafe, indem er einen menjchlichern Kerkergrad für alle Gefangenen einführte.

Der Oberjt von der Trend hat mit diefen Räumen des Gpielbergs feine Bekanntſchaft gemacht. Die ihm angewiefene Zelle, die noch heute den Fremden gezeigt wird, beweift, daß die Regierung gegen den Panduren jehr rückſichtsvoll und Human verfahren iſt. Die Zelle ift für eime Perfon geräumig genug, fie bat einen guten Fußboden aus Holzbretern, einen ziemlich großen Kachel-

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ofen und genügendes Licht; die Wände waren gemeißt. Ein eigenthümliches Spiel des Zufalls fügte e8, Daß ungefähr drei Jahrzehnte zuvor der Durch feine jonderbaren Schickſale bekannte Barteigänger Graf Claude Aleran- der Bonneval viejelbe Zelle bewohnt hatte. Das Leben der beiden Soldaten war in vielen Stüden das gleiche; das eine wie das andere zeichnete fich aus Durch verwegene Abenteuer und graufame Streiche, aber ihr Lebensende war auffallend verſchieden. Bonneval ftarb als Paſcha in einem Pajchalif am Schwarzen Meere und Trend als Kapıziner. Wer Trend gekannt hatte und ihn dann auf dem Spielberge wieberfah, wo er feine Leidenschaften, ins— bejondere jeinen furchtbaren Zorn beherrfchen gelernt hatte, geitand voll Verwunderung, er habe geglaubt, einen ent- jeglihen Wütherich anzutreffen, und ftatt deſſen einen Mann von heiterm Anftande, vielfeitiger Bildung, ftolzer Würde und jchlagendem Wit gefunden. Trend fprach fieben Sprachen mit vollfommener Tertigfeit, er bejaß eine unglaubliche Xeibesitärfe, war abgehärtet gegen alle Strapazen und kannte feine Müpigfeit im Dienfte, die Kraft verfagte ihm niemals. Dazu zeichnete er fich aus durch einen hohen Wuchs und regelmäßige, jchöne Züge. Für alle militärifchen Dinge hatte er eine natürliche Anlage, man fonnte ihn einen geborenen Reiteroberften nennen, aber er hatte fich auch umfafjende Kenntniffe erworben und war in allen Kriegswilfenichaften zu Haufe. Seine löwenartige Tapferkeit wurde anerkannt von Freund und Feind. Er wäre ein Held geweſen, hätte er fich nicht bon feinen niedern Leidenſchaften beherrichen laſſen.

In der Gefangenſchaft bejchäftigte er fich mit Lektüre und ſchrieb die Gefchichte feines Lebens nieder, die im Jahre 1788 in Frankfurt und Leipzig im Drud erjchienen ift, aber das Ende feines Proceſſes und das Urtheil nicht

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enthält. Die Gefellichaft, die er auf dem Spielberg hatte, beitand Hauptfächlih aus Kapuzinern, fie nannten ihn einen Mann „in vivis nobis perquam addictus” und in ihrer Hauschronif rühmen fie ihn als einen „vir valde versatus ac singulari dexteritate”. Trend, den das monotone Leben und die Beraubung der Freiheit ſchwer brüdte, war jehr dankbar für jeden Zuſpruch und ſchloß fih gern an die Mönche an. Der noch immer junge Mann, der vormals die Religion .verachtet und verfpottet und in den bairifchen Feldzügen jo manches Klofter an— gezündet und geplündert hatte, bejchäftigte fich jest mit religiöfen Studien, er ging in fich, bereute feine Sünden und fuchte den Troſt der Kirche und Verſöhnung mit Gott. Man hat gemeint, ver Pandur habe fich verftelft und durch feine angebliche Umwandlung zeitliche VBortheile erringen wollen. Wir glauben dies nicht. Es ift pſycho— logiſch erflärlih, daß von der Trend in der Stille und Einſamkeit erichroden ift vor feinem eigenen befledten Xeben, und daß fein Gewiffen ihm Feine Ruhe gelaffen hat. Auf jeden Fall war er weicher, milder und zugänglicher ge- worden. Er erbaute an ber Kirche, die am Spielberge lag, eine Kapelle. Sie ijt zwar fpäter wieder zu welt— lichen Zweden benutt und die Wohnung des Mauthners geworben; aber im Volfsmunde heißt fie noch jet bie Trend - Kapelle. Kurze Zeit vor feinem Tode ließ er alle Offiziere der Feltungsgarnifon zu fich bitten und be- fannte in ihrer Gegenwart feine Fehler und die Verbrechen, für welche er gerechte Strafe leide und in feine jeßige traurige Lage gefommen jei. Er warnte die Kameraden unter Thränen vor ähnlichen Fehltritten und bat fie, feiner auch nach dem Tode zu gevenfen und für ihn zu beten. Es war ihm Ernft mit feiner Buße, er ftand am Rande bes Grabes und hatte von der Welt nichts mehr zu hoffen

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und nichts mehr zu fürchten, zu welchem Zwecke hätte er ein leeres Gaufelfpiel, wie man e8 genannt hat, aufführen follen ?

Das Teftament des Panduren-Oberſten darf wol auch als ein urfundlicher Beweis feiner Umkehr und Sin- nesänderung angefehen werden. Der Gejchichtichreiber Dr. Dudik jagt hierüber: „Man kann annehmen, daß fich das menfchliche Gemüth wahr und offen zeigt, wenn ber Menih dem letzten Pulsichlage entgegenhorcht, daß er, durchdrungen von ber Ewigfeit, mit der Welt abjchließend Worte fpricht, die den Stempel der Wahrheit tragen. Dies ift um fo gewiffer, wenn Schidfalsichläge dem Menſchen Zeit gelaffen haben zu dem Befenntniß, daß proben ein höheres Weſen waltet, deffen Auge über Welten und Völker, aber auch über den Pfaden jedes einzelnen geöffnet ift. Dies alles gilt von dem unglücklichen Pan— buren- Häuptling, daher Liegt feine Urfache vor, in bie Worte, bie wir in feinem Teſtamente lefen, Zweifel zu ſetzen.“

Die entgegengejette Auffaffung fpricht fein durch das Teftament freilich getäufchter und benachtheiligter Vetter Friedrich von der Trend fo aus: „Sein Proceß hatte ſchon viel gefoftet, fein Geiz, die verlorene Hoffnung, ven Verluſt zu erjeen oder noch reicher zu werben, brachten jeine habfüchtige Seele bis zur Verzweiflung. Seine Ruhmſucht kannte feine Grenzen und fonnte nicht beſſer befriedigt werben als dadurch, daß er als Heiliger jtarb und nach feinem Tode noch Wunder wirkte. Dahin ging jein Plan, denn er war einer der gefährlichiten Atheiften, er glaubte an fein Jenſeits und geftattete fich alles, weil er ein verborbenes Herz im Buſen nährte.“

Trend würde wahrjcheinlich jeine Freiheit erhalten haben, wenn er um Gnade gebeten hätte. Zu einem ſolchen Schritte war er jedoch zu ftolz und zu unbeugjam.

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Er behauptete feine Unſchuld und forberte nichts weiter als fein Recht. Diefe Hartnädigfeit Fam feinen mächtigen Feinden jehr gelegen, denn fie fürchteten fich vor feiner Rache.

Uebrigens ſollte ſeine Haft auf dem Spielberge nicht lange dauern. Nach ven Aufzeichnungen eines alten Kapu—⸗ ziners, welcher während feines ganzen Lebens von feinem Soldaten jo erbaut worden ift und feinen einen jo glüd- lichen Tod fterben ſah, wie den von der Trend, hörte der Pandur am 21. Februar 1749 in der Nacht eine wohlbefannte Stimme feinen Namen rufen. Gleich darauf wurde Trend vom Fieber befallen. Er erfuchte ven Pater- Guardian der Kapuziner, zu geftatten, daß nach feinem Tode jein Leichnam mit einem alten Habit befleivet und mit einem Steine unter dem Kopfe, ohne alles Ceremoniell in ber Kloftergruft beigefeßt würde.

Hierauf ſchickte er zwei Stafetten nah Wien zu jeinem Advocaten Dr. Perger und erfuchte ihn, ev möchte an allerhöchſter Stelle die Erlaubnig zur Grrichtung eines Zeftaments auswirken. Die Bewilligung hierzu wurde vor Ablauf von 24 Stunden ertheilt mit dem Bemerken, „daß Trend über fein Vermögen nad) Belieben bisponiren Fönne, weil Ihre Majeftät fich nicht das Geringſte vorbehalte”. Auch wurde ihm eröffnet, er könne fih eine Wohnung auf dem Spielberge ausfuchen. Erſt am 24. September machte Trend fein Zejtament in Gegenwart von fieben Zeugen. Es wurde an den Hof gejendet. Die Kaiferin Maria Therefia nahm Kenntniß bon dem Inhalte und wurde namentlich purch die Beſtim— mung überrafcht, daß einem von Trenck's Feinden ein Erbtheil zufallen ſollte. Das Tejtament erhielt die kaiſer— liche Beftätigung und Trend die Vergünftigung, fih in der Stadt Brünn eine Wohnung nehmen zu dürfen. Er

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wollte hiervon Gebrauch machen und in das Kapuziner⸗ flofter ziehen, aber am 4. Detober, dem Namenstage des heiligen Franciscus, ſchied er aus dieſem Leben.

Mährend der lebten vier Tage und Nächte waren bie Kapuzinerpatres Adjutus und Turibius bei ihm geblieben. „A. nostris dispositus pie moritur” fteht in der Haus- hronif. Seinem Wunfche gemäß wurde fein Leichnam mit der Kutte des Kapuzinerordens befleidet, am 7. October 1749 abends Halb acht Uhr von etlichen Gefangenen an das Brünner Thor getragen, hier auf einen Wagen gelegt und in Begleitung von vielen Offizieren und Soldaten zu dem Kapuzinerklofter geführt. Der Convent ver Mönche eriwartete ven Sarg vor der Pforte, die Laienbrüder trugen benfelben in die Gruft, und dort wurde er mitten unter den daſelbſt ruhenden Mönchen beigejet.

Eine ganz andere Schilderung von dem Ende des Pandurenführers gibt fein Neffe Friedrich von der Trend. Er berichtet: „Drei Tage vor feinem Tode, da er voll- fommen gejund war, ließ er dem Commandanten des Spielbergs melden, er wolle feinen Beichtvater nach Wien ichiden, denn der heilige Franciscus habe ihm geoffenbart, daß er ihn an feinem Namenstage um zwölf Uhr in vie Ewigkeit abholen würde. Man lachte und ſchickte ihm den Kapuziner, welchen er nach Wien abfertigte.

„Am Tage nach der Abreife des Beichtvaters fagte der Pandur: Nun ift meine Reife auch gewiß; mein Beicht- vater ift tobt und mir bereits erjchienen. Der Todesfall betätigte fich am nächjten Tage. Der Pater war wirklich gejtorben. Nun ließ er die Offiziere der Feitungsgarnifon zufammenftommen und fich als Kapuziner tonfuriren, in die Kutte einkleiden, legte feine öffentliche Beichte ab und hielt eine ftundenlange Rede, in welcher er alle aufforderte, heilig zu werben. Er jpielte den größten, aufrichtigiten

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Büßer. Dann umarmte er jeden einzeln, ſprach lächelnd von der Nichtigkeit ver Erbengüter, nahm feierlich Abſchied und fniete nieder zum Gebet. Eine Zeit lang jchlief er rubig, nachher ftand er auf und betete wiederum kniend. Um 11 Uhr mittags am 4. October nahın er die Uhr in die Hand und fagte: Gott Lob! die lette Stunde naht. Jedermann lachte darüber, denn man hielt e8 für eine Komödie. Plötlich bemerkte man, daß fein Geficht auf der linken Seite ganz weiß wurde. Er jekte ſich an den Tiſch, ftüßte die Arme auf, betete und jchloß bie Augen. Es jchlug 12 Uhr, er blieb unbeweglich fiten. Man redete ihn an, aber er antwortete nicht, er war tobt.

„Sm ganzen Yande verbreitete fich die Kunde von dem Wunder, daß der heilige Franciscus den Panburen in den Himmel geholt habe.

„Die Auflöfung des Räthjels ift aber folgende und nur mir allein gründlich befannt:

„Trenck war eingeweiht in das Geheimniß der joge- nannten Aqua Toffana und hatte beſchloſſen, feinem Leben ein Ende zu machen. Seinen Beichtvater ſchickte er nach Wien und gab ihm viele Koftbarfeiten und Wechjel mit, die er beifeitefchaffen follte. Damit ihn der Kapuziner nicht verrathen fünnte, mußte er in feinem Leibe eine Dofis Gift mitnehmen, und Trend, der die Wirkung defjelben genau kannte, wußte, wann fein Tod eintreten mußte. Er nahm hierauf ſelbſt Aqua Toffana und jpielte vie Rolle des Heiligen, um vereint dem St.-Crispin oder St.-Florian den Rang ftreitig zu machen. Da er auf Erden nicht mehr Reichthum und Macht erlangen fonnte, wollte er im Grabe angebetet werden. Er war gewiß, daß am feiner Gruft noch Wunder gefchehen würden, denn er hatte eine Kapelle erbaut, eine Mefje geftiftet und ven Kapuzinern 4000 Gulden vermacht.

des Banduren-Dberftien Franz Frhrn.v.d. Trend. 287

„So ftarb dieſer ganz beſondere Mann im 35. Lebens- jahre, welchem bie Natur feine Gabe, fein Talent verjagt hatte. Er war die Geißel der Baiern, der Schreden ber Franzoſen und hatte mit feinen verachteten PBanduren 6000 preußifche Gefangene gemacht. Er lebte ald Tyrann und Menjchenfeind und ftarb al8 ein heiliger Schurke.”

Das Teſtament des Banduren-Oberften, eine in vielen Richtungen intereffante Urfunde, wollen wir mittheilen. Es lautet wörtlich fo:

„Spielberg zu Brünn, 24. September 1749. Teſtament.

Im Namen der allerheiligſten und ungetheilten Drei— faltigkeit, Gottes, Vaters, Sohnes und des Heiligen Geiſtes. Amen.

Demnach ich nunmehro gar wohl erkenne, daß das Ende meines mühſamen Lebens nahe, die Stunde meines Todes aber ungewiß fei, aljo habe ich, nachdem ich meine arme fündige Seele mit ihrem Schöpfer vereinigt und zur Abreife aus dieſer Zeitlichkeit auf das möglichite zu- bereitet, auch von Allerhöchſtihrer Majeſtät meiner Aller- gnädigjten Yandesfürftin und Frau zur Verfaſſung eines Teſtaments die Allerhöchite Erlaubniß erhalten habe, anmit über das von meinen Eltern und auch von mir jelbft mit biutiger Arbeit und fteter Xebensgefahr erworbene Dermögen nachfolgend lettwillige Dispofitionen verfaffen und errichten lafjen und zwar:

8. 1. Da Gott der Allmächtige meine arme Seele bon meinem jterblichen Leibe abfordern wird, befehle ich biefelbe in die gnadenreichen Hände Jeſu Chrifti, ihres Erlöfers, in die Fürbitte der allerheiligften Jungfrau und Mutter Gottes Maria und des allerheiligiten Geiftes. Mein todter Körper aber foll, wenn Ihro Majeſtät bie

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Erlaubniß, um welche ich Allerhöchſtdieſelbe fußfällig bitte, allermildeſt ertheilen wird, zu ven W. W. F. F. Kapuzinern allhier in Brünn in ihrer eigenen Gruft, wo fie, die ver— ftorbenen Kapuziner, ruhen, ohne allem Gepränge, ganz fchlecht, wie eines andern armen Arreftanten Körper, bei— gefegt und zur Erbe beftattet, meine Leiche nur von ben allhier im Spielberg befindlichen armen Arreftanten be- gleitet und jedem derſelben gleich nach dem Leichenbegängniß ein Siebenzehner gereicht werden. Ingleichen

8. 2. Sollen unter die übrigen Armen vorberhand 200 Gulden vertheilt werben.

$. 3. Sollen zum Trofte meiner armen Seele gleich nach meinem Hinjcheiden und weiters, jobald es möglich ist, 600 heilige Meffen gelefen werden, wozu ich 300 Gul- ben vermache.

$. 4. Verordne ich allmöchentlich eine ewige Stift- mefje, welche bei ven W. W. F. F. Kapuzinern zu Brünn, woſelbſt ich begraben fein werde, alle Freitag von einem Priefter bemeldten Kapuzinerordens ewig geleſen und ge— halten werden joll, und follen von meinem Vermögen 4000 Gulden ficher und unaufheblich auf Verzinfung ans gelegt werden, wovon ich die abfallenden Intereffen jedes— mal den Kapuzinern zu Brünn als ein Almojen für ihre Quchmacherei, bejonders aber ein Almofen von 150 Gul- ven gleich nach meinem Tode abzureichen vermache.

8. 5. Vermache ich in die Feitungsfapelle allhier auf dem Spielberg zur Erbauung eines neuen Altars und jonften zur Ehre Gottes 3000 Gulden zu wenden.

8. 6. Legire ich 4000 Gulden und verorbne, daß hiermit in einem anjtändigen, von meinem unten ernann- ten Teſtamentsexecutor auszufuchenden Eleinen Stäbtlein oder Marktfleden in dem Erzherzogthume Dejterreich ein Spitalhaus für 30 Perfonen erbauet oder erfaufet und

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mit den Erfordernifjen eingerichtet werden foll. In dieſem Spital und Haufe follen bejtändig verarmte und bes Almoſens würdige und bedürftige Perſonen beiderlei Ge- ichlehts, nach von meinem Herrn ZTeftamentserecutor fünftig weiters zu machender Einrichtung und von mir mündlich erhaltenen Information verpflegt und unterhalten werben. Bor allem aber vorzüglich jollen diejenigen armen und bebürftigen Perjonen in dieſe meine Stiftung und Spital aufgenommen werben, welche fich legitimiren werben und fünnen, daß fie in der Stadt Cham oder im Sier- winfel oder an dem Fluß Iſer in Baiern, von dem lekten Kriege her, verunglüdt oder verarmt feiern. Die An- und Einnehmung diefer PBerjonen in das Spital foll jederzeit nach Gutbefinden meines verordneten Tejtamentserecutorg und wen er hierzu nach jeiner benennen wird, gefchehen. Zu ewiger Unterhaltung diejer meiner Stiftung aber ver- mache ich 30000 Gulden und bis dieſes Fundations- quantum unaufheblich ficher angelegt werben kann, joll der Betrag der hiervon abfallenden Intereſſen jährlich 1500 Gulden von den Einfünften meiner Güter hiezu angewendet und gereichet werben.

8. 7. Bermache ver Catharina Rotherin, einem armen Mägplein, ungefähr ein Jahr alt, um veswillen, weil ihr Vater in meinem jegigen Arrejt getreu und fleißig gedient und die Ungemac, meines Arreſtes mit mir übertragen hat, vergeftalten 4000 Gulden, daß die hievon abfallenden Intereffen ihrer Mutter infolange, als dieſes Mägplein von ihr chriftlich und gut erzogen wird, und fie ihr das Nothwendige erlernen läßt, abgereicht werden follen. Sollte aber mein ZTejtamentserecutor bei ihrer Mutter eine Ver- nachläffigung dieſes Kindes vermerken, fo mag berjelbe biefes auch anderwärts zur DVerforgung geben und bie abfallenden Intereffen dahin verabreichen. Wenn aber

XXIV. 19

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diefes Kind erwachien wird und dann eine anjtänbige Heirath oder geiftliche Standesveränderung mit Conjens meines Teftamentserecutord oder defjen, welchen dieſer an- jtatt feiner biezu verorbnen wird, überfömmt, jollen ihm, diefem Mägplein, auch das Kapital der 4000 Gulden verabfolget werben.

$. 8. Vermache ich des Herrn Baron Kotulinsky, k. £. Oberftlieutenant und Vicecommandanten am Spiel- berg, feinen it lebenden fech8 Kindern, wie auch bem- jenigen, welches feine Frau Gemalin noch unter ihrem Herzen trägt, zu einem Angedenken jedem 200 Dufaten, zufammen 1400 Dufaten.

8. 9. Vermache ich meinem beftellten Herren Doctor Perger für die mir getreulich und eifrig geleifteten Dienfte 6000 Gulden zu einer befondern Erfenntlichkeit und jollen auch diefe gleich nach meinem Tode ihm abgeführt werben. Seinen zween Schreibern, weil fie in meinen Angelegen- beiten viele Miühewaltungen gehabt haben, vermache jedem 300 Gulden, zufammen 600 Gulven, ebenfalls gleich zu bezahlen.

$. 10. Vermache ich dem Herrn Anton Beyer, welt- lichen Priefter und VBeneficianten auf dem Spielberge, daß er meiner in feinem heiligen Meßopfer und Gebete eingevenf jei, 100 Dukaten.

8. 11. Bermache ich dem Herrn Prodetzky, Platz— lieutnant am Spielberg, zu einem Andenken 100 Dufaten.

8. 12. Vermache ich dem Jakob Nodinger, Wacht- meifter-Lieutnant am Spielberg, 200 Gulben.

8. 13. Vermache ich dem Quirin Bonnes, Margue- ender am Spielberg, 600 Gulden, damit er mit den Seinigen meiner im Gebete eingevenf jet.

8. 14. Vermache ich dem geweſenen Hautboiften auf dem Spielberge, Peter Proller, und feinem Cheweibe zu-

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jammen 600 Gulden. Item dem gewejenen Gefreiten auf dem Spielberge, Peter Gruſchka, 100 Gulpen.

$. 15. Vermache ich meinem jegigen Bebienten Franz Ignitz 1000 Gulden und

8. 16. Dem ehemalig bei mir in Dienften geftandenen Jungen, Franzel genannt, der ist in Wien das Weißgerber- handwerk lernt, 500 Gulden.

8. 17. Bermache ich dem Franz Schmid, Profofen am Spielberge, 200 Gulden, und dem Franz Wejely, auch Profoſen allda, 100 Gulden.

$. 18. Erfläre und verordne ich, daß ich oder meine Erben von dem Herrn Oberjten Niklas von Lopreti nichts zu fordern haben, ſondern es follen vemfelben, nach Ins halt der von mir in Händen habenven Obligation, die annoch rüdjtändigen 6000 Gulden baldmöglichſt aus meinen Mitteln bezahlt werden, wie denn auch dem Herrn Doctor Gerhauer die ihm rechtmäßig annoch fchuldigen 1300 Gul- den bezahlt werben follen.

8. 19. Vermache ich dem Herrn Hoffammerrath von Kämpf zu einem Anvenfen mein fpanifches Rohr mit dem goldenen Knopfe, der ein Meerfräulein vorjtellt. Item dem Herrn Frauenberger, der E. k. Hoffriegsbuch- halterei Xeitofficier, vermache ich gleichfalls zu einem Andenken von meinem Gejchmude jo viel, als beiläufig 600 Gulden an Wert ift. Und weil

$. 20. Die Grundfefte eines jeden Teſtamentes bie Einjegung der Univerfalerben ift, aljo benenne und jete ich zu meinem Univerjalerben meines Vaters Bruder erft- geborenen Sohn, welcher vor zwei Jahren bei mir in Wien gewejen, jedoch dergeftalten und unter den aus- drüdlichen Bebingniffen, wenn diefer mein Better ben fatholijchen Glauben annehmen, fich in den öfterreichifchen Landen ſeßhaft machen und von einer fremden Potenz

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nicht Dienft nehmen over behalten wird. Im dieſem Falle jollen alle meine rechtmäßigen Paffivfchulden, wie auch bie in dieſem meinen Teſtamente verorbnieten Stiftungen und VBermächtniffe ohne die Falcidia oder andern Abzug richtig abgeführt werden. Und was über die Abführung berfelben annoch übrig bleibt, foll ver vierte Theil ihm, meinem vorbenannten Univerjalerben, zur freien Dispofition jein, die übrigen drei Viertheile der verbleibenden Ber- laſſenſchaft jollen ihm, meinem Erben, nur quoad usum- fructum zufommen, und ein ewiges Fidei commissum jein, folglich jedesmal auf des Erben und Beſitzers erit- geborenen Dejcendenten allein zum Genuß anheimfallen; doch daß jeder, fo ver Fatholifhen Religion nicht bei- gethan, oder in einer fremden Potenz Civil- oder Militär- bienften ſteht, dieſes Fidei commissums ganz unfähig, jein ſolle. Im Falle aber diefer mein Better unter vor— gejegten Bedingungen mein Erbe nicht fein wollte, oder nicht jein könnte, fo folle fein Bruder, der zweitgeborene Sohn meines Vatersbruders, mit feiner männlichen De— jcendenz, jedoch unter allen obigen Bebingniffen und Claufeln, mein Erbe und Fidei commissarius fein. Und wenn auch diefer mein Better obige Bedingniſſe nicht erfüllen, und auf obbejchriebene Art mein Erbe nicht fein wollte, jo ſubſtituire ich in ſolchem Falle zu meinem wahren Univerjalerben die oben gemachte Stiftung und Spital. Und follen ihnen beiden meinen DVettern und eingejetten eriten Erben von der ihnen gemachten Intimation meines und Dispofitivo zu Deliberirung nur ein Jahr ertheilet fein, nach deſſen Erfpirirung diefelben pro repudiantibus, meine gemachte Fundation aber als mein Erbe unabänder- lich gehalten werden follen.

8. 21. See und habe ich in meinen beftellten Herrn Doctor Perger allenthalben mein vollfommenes und fejtes

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Vertrauen, und dahero verorbne ich denfelben zu meinem Zeftamentserecutor, mit dem Erfuchen, daß er, Herr Doctor Perger, nach feiner mir befannten Redlichkeit, Eifer und Fleiß dieſen meinen legten Willen in allen Punkten auf das genauejte auszurichten beforgt fein ſolle.

8.22. Schließlich bitte ich Ihre k. k. Majeftät aller- unterthänigft, gehorfamft, fupfällig um Allerhöchſt Dero Schutz, Protection und Manutenirung diejes meines leßten Willens, und daß zur Habhaftwerbung der hierzu erforber- lichen Geldmittel meine Güter in Slawonien nad Thun- lichkeit zu verkaufen, bis dahin aber die Nutungen einzu- nehmen Allergnädigft geftattet werden möge. Wie ich denn auch beiden k. k. Majejtäten für die mir in meinem Leben großmüthig erwiejenen, überhäufigen Gnaben aller- unterthänigen, fußfälligen Danf erftatte, und in jener Welt meinen gnädigjten Gott, zu welchem ich zu gelangen hoffe, um ftete Aufnahme und Erhaltung der allerhöchiten faiferlihen Familie und des allerdurchlauchtigften Haufes von Defterreich unabläffig anruffen und bitten werde.

Mit diefem will ich gegenwärtig mein ZTeftament im Namen Gottes, gleichwie ich ſolches angefangen, auch be- ichloffen haben. Zu wahrer Urkunde habe ich dieje bei meiner vollfommen gejunden Vernunft nach meinem ganzen freien Willen gemachte leßtliche Dispofition mir von ben bierunter Gezeugten, jedoch denjelben und ihren Erben ap Nachtheil, zur Mitfertigung alles Fleißes erbeten,

Franz Iofeph Kotulinsky, Freiherr von Kollium, Dberjtlieutnant; Johann von Amadi, Oberftwacht meiſter und Platzmajor; H. von Wappenhofen, Hauptmann von Wolfenbuttel; Johann Konrad von Hagerer, Oberlieutnant von Wolfenbuttel; Mathias Kaſchi, Oberlieutnant von Wolfenbuttel; Karl Ema— nuel de Soldi, Oberlieutnant von Wolfenbuttel.“

294 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Brocefie

Nach einer vidimirten und dem Teftamente angehängten Abſchrift ertheilte Trend feinem Freunde, dem Doctor PVerger, folgenden Auftrag: „Mein lieber Herr Doctor Perger! Ich bitte und beſchwöre Sie, daß, wenn ich ge— jtorben fein werde, Sie bei Ihro Majeftät Audienz nehmen und vorftellen jollen, daß ich mit demjenigen, was Gott und meine allergnädigfte Landesfürſtin über mich ver- hängt haben, gar wohl zufrieden fei, ja, ich erftatte der— jelben für dieſes gnädige Urtheil, gleichwie für alle übrigen, während meiner Dienftleiftung häufig erwiejenen k. k. Gnaden unterthänigften Dank; denn hierdurch bin ich zur Erfenntniß Gottes und Wirfung meines ewigen Heils wunderlich gezogen worben. Und ich habe durch meine vielen und fchweren wider Gott begangenen Sünden all dieſes und noch ein mehres verdient. Jedoch zur letzten Gnade bitte ich von Ihro Majeftät, meiner grogmüthigen Monarchin, daß, wenn bei Hochberofelben angebracht iworben fein fjollte, als ob ich gegen Hochverojelbe eine ZTreulofigfeit begangen, oder zu begehen im Sinne gehabt hätte, Hochdieſelben folches als eine pure, unwahrhafte Erfindung halten möchten. Denn ich rufe ven gefreuzigten Gott, der in die Herzen der Menjchheit fieht und vor deſſen Nichterfturhle ich gar bald auch von meinen Gedanken werde Nechenjichaft geben müffen, zum Zeugen an, daß mir weder in meinem Glücke zur Zeit meiner Dienft- feiftung, noch auch in meinem Elende während dem Arreſte ein treulofer Gedanfe gefommen fei; fondern ich habe mir vorgeſetzt, wenn ich meines Arreftes annoch erledigt werben, und von allen meinen Vermögen nichts als einen Degen übrig behalten follte, ich folchen niemals anders als zu Dienften des Erzhauſes Defterreich gebrauchen würde. Deswegen will ich auch, daß jeder aus meiner Familie

des Banduren-OÖberften Franz Frhrn. v. d. Trend, 295

und fünftigen Erben dieſes Willens, oder meiner Erb- ſchaft unwürdig jein ſollte.“

Die Publicirung des Teſtaments fand am 13. October 1749 in Gegenwart des Doctor Perger ſtatt; allein die Durchführung der Beſtimmungen deſſelben ſtieß auf große Schwierigkeiten. Der Haupterbe Friedrich von der Trenck war ſehr unwillig und erklärte: „Mein Vetter hat ſeinen letzten Willen in hinterliſtiger Weiſe errichten laſſen. Er wußte, daß ich nach ſeinem Tode die Verlaſſenſchaft ſeines Vaters fordern und auch ſicher erhalten würde. Dieſer hatte bereits im Jahre 1723 die Herrſchaften Preſtowacz und Pleternitz in Slawonien aus ſeinem Vermögen erkauft, und noch bei ſeinen Lebzeiten brachte ſein Sohn die Herr— ſchaft Bafracz mit des Vaters Gelde an ſich. Dieſe drei Herrſchaften hatten daher direct überzugehen und der Pandur konnte hierüber ebenſo wenig verfügen, wie über die übrigen von ſeinem Vater ererbten Güter, Häuſer und Mobilien.

„Alles Vermögen, welches er ſelbſt erworben hatte, wurde adminiſtrirt; über 100000 Gulden waren ſchon im Proceſſe verloren gegangen, und weitere 63 Proceſſe und Forderungen waren gegen ihn bei Gericht anhängig.

„Nun wollte er aber auch Legate in der Höhe von 80000 Gulden machen. Wenn ich daher nach Wien gekommen wäre, meine avitiſchen Güter von ſeinem Ver— mögen weggenommen und mich um die gegen ſeine Maſſe eingeleiteten Proceſſe nicht gekümmert hätte, ſo wäre für die Legatare nichts übriggeblieben.

„Um dies zu vereiteln und mich noch nach feinem Ab⸗ leben unglücklich zu machen, errichtete er ein doloſes Tefta- ment, ernannte mich zu feinem Univerfalerben, that von dem Zeftamente feines Waters, welches ihm die Hände

296 Ein Beitrag zu dem Leben und dem Proceſſe

gebunden hätte, gar feine Erwähnung, machte Legate und Stiftungen, welche beinahe die Summe von 80000 Gulden erreichten, und fuchte fowol durch feinen bußfertigen Tod wie auch die Aufnahme folgender Beftimmungen: 1) daß ich die Fatholiiche Religion annehmen; 2) feinem andern Herrn al8 dem Haufe Dejter- reich dienen follte; 3) daß die ganze Verlaffenichaft, ohne das väterliche Bermögen auszunehmen, zu einem Fideicommiß gemacht wurde, den Schuß der Monarchin für das Teftament zu erlangen.

„Hieraus erwuchs mein ganzes Unglüd, und mich in daffelbe zu ftürzen, war feine eigentliche Abjicht; denn furz vor feinem Tode fagte er dem Baron Kotulinsfy, Dicecommandanten des Spielbergs: «Setzt jterbe ich mit dem Vergnügen, daß ich meinen Better noch nach meinem Zode hicaniren und unglüclich machen kann.»“

Zur Ordnung der Verlaſſenſchaft des Panduren hatte die Kaiferin Maria Therefia ein eigenes Handbillet er- lafjen, welches lautete: „Man foll des Trends legten Willen auf das allergenauefte vollziehen, die Abhandlung bejchleunigen, und den Erben in allen feinen Rechten Ihügen.” Die Angelegenheit wurde einer eigenen Come miſſion übertragen, bejtehend aus dem Fürften Trautjon als Präfidenten; vem Grafen Hardegg und den Hofräthen von Hüttner ind Schwandtner von ber Yandes- regierung ; den Hofräthen von Koller und Nagy von der ungarischen Kammer; ven Hofräthen von der Mard und Stadler vom Hoffriegsrath und Kriegscommiffariat ; dem Hofratd von Kämpf von der Rechnungsfammer; legterer hatte mit dem Actuar Frauenberg die Abmini- jtrationsrechnung zu führen.

Im Jahre 1750 fam Friedrich von der Trend wegen der Erbſchaft nah Wien. Nach Prüfung der Sachlage

des BPanduren-Oberften Franz Frhrn. v. d. Trend. 297

beichloß er, die Erbichaft abzulehnen und auf das jpiel- berger Teſtament zu verzichten. Er verfchaffte fich eine bidimirte Copie des Teſtaments, welches der Vater des Panduren, der ihm Jahre 1743 als Commandant und Dberft zu Leutſchau in Ungarn geftorben war, in feiner Eigenihaft als ungarifcher Cavalier und Gutsbefiter errichtet hatte und worin er den Sohn feines Bruders jeinem eigenen Sohne jubjtituirte, fall8 diefer ohne männ- lihe Erben mit Tode abgehen jollte. Dieſes Tejtament war von dem Domkapitel der Zips verfaßt, von fieben Domberren unterjchrieben und von dem Balatin Grafen Palffy ratificirt. Mit diefem Documente erfchien Friedrich von ber Trend perjönlich vor dem Judicium Delegatum, welchem die Regulirung der Berlafjenichaft übertragen worden war, und erklärte, daß er den Nachlaß des Ban- buren nicht verlange, die Procefje und Legate nicht über- nehme, und nur das Vermögen feines Oheims, beftehend aus den drei Herrichaften Pafracz, Prejtowacz und Pleter- nis, Kapitalien und Mobilien auf Grund des vorgelegten Zejtamentes fordere. Bor allem wurde verlangt, daß er den Bedingungen des legten Willens zufolge zum Katholi- cismus übertrete. Dieſer Schritt machte ihm nicht viel Serupel, er jagte in feiner chnifchen Weile: „Es war ein- mal bejchloffen, ich ſollte römijch-Fatholifch werden. Was war zu thun? Ich war fchug- und hülflos. Durch ein Geſchenk erhielt ich von einem Pfaffen ein Atteftatum, daß ich mich befehrt und dem verfluchten Lutherthum abge- ihworen habe. Ich blieb aber, was ich war, und fonnte mich auch für Millionen nicht entjchließen, zu glauben, was der Bapft will, daß ich glauben fol. Für Geld und Fürften- gunft mache ich auch fein Heuchler- noch Gaukelſpiel.“ Friedrich von der Trend fam trotzdem nicht weiter. Das Judicium Delegatum erkannte zwar feine Ansprüche

298 Ein Beitrag zu dem Leben und bem Proceffe

auf die drei jlawonifchen Herrichaften als vollfommen gerechtfertigt an, und referirte auch in diefem Sinne an die Raiferin Maria Thereſia; aber die Monarchin fchrieb eigenhändig zurüd: ‚Der Kammerpräfident Graf Graffal- fovich nimmt e8 auf fein Gewiſſen, daß dem Trend bie Güter in Slawonien nicht in natura gebühren. Mean jolle ihm alfo die Summam emtitiam und inscriptitiam baar herauszahlen, auch alle erweisliche Meliorationes gut machen, und die Güter bleiben der Kammer.’

Mit diefer Faiferlichen Entjcheivung war die Angelegen- heit beendet und alle Hoffnung Friedrich’8 von der Trend zu Grabe getragen. Die ihm zugewiejene Erbichaft belief fih auf 76000 Gulden, womit er die Herrichaft Zwern- bach in Defterreich faufte.

Um Friedrich von der Trend einigermaßen zu ent- ihädigen, ernannte ihn die Kaiſerin um die Mitte des Sahres 1752 zum überzähligen Rittmeister im Regimente. Nachdem er auf einer Reife in preußiiche Gefangenjchaft gerathen war und auf Befehl Friedrich's II. in Magdeburg eine vieljährige harte Gefangenfchaft auszuftehen hatte, verjchaffte ihm im Jahre 1763 die dfterreichiiche Regierung nicht nur die Freiheit, jondern überhäufte ihn auch mit Wohlthaten. Der unruhige Kopf endete fein Dafein im Jahre 1794 in Paris, wo ihn Robespierre als einen angeblichen Gejchäftsträger fremder Mächte guillotiniren ließ.

Aber nicht blos dem Univerjalerben wurden die an— geführten Schwierigfeiten in den Weg gelegt, auch bie Auszahlung der Heinen Legate erfolgte nicht jogleih. Wie erwähnt, hatte der Panduren-Oberft den brünner Kapu— zinern ein Kapital von A000 Gulden zur Anfchaffung von Wolle für Ordenskleider und zur Anfertigung der Kleider gejchenkt; allein diefe Schenkung wurde vom Fiscus

des Banduren-Oberften Franz Frhrn.v.d. Trend. 299

angefochten, und erſt durch eine Entſchließung der Kaiferin Maria Therefia vom 8. Februar 1753 der Bezug ber jährlichen Intereffen von 200 Gulden erlaubt. Auch die Widmung eines Kapitals von 3000 Gulden zum Bau eines Altars in der fpielberger Kapelle wurde angefochten, und erjt im Jahre 1753 befahl die Kaiferin Maria The- refia, daß von biefem Kapitale 500 Gulden nebit brei- jährigen Intereffen auf den Altar, der Reſt aber auf eine Mepitiftung für ven Verftorbenen veriwendet werben follten.

Unter den hinterlafjenen Aufzeichnungen des Panduren— Oberſten fand man die Grabjchrift, welche er wenige Tage vor feinem Ende für fich jelbft gemacht hatte. Sie lautet:

Hier unter diefem Stein

Liegt Trendens Aſche und Bein Begraben und bebedt

Seynd einige, die dies leſen, Der euer Freund geweſen

Hat feinen Fall ermwegt.

Die Kunft, recht treu zu fterben Rumb und Ehr zu erwerben So ſage nur, der da will, Daß Trendens Aiche und Bein Ruht unter diefem Stein

Ganz milde fanft und ftill.

Stehet ftill, ihr Sterbliche, bier ruhet euersgleichen,

Der mit euch allen ift aus einem Zeug gemacht;

Eucd geht es ebenfo, den Armen wie den Reichen,

Dieweil ihr felbft die Straf mit auf die Welt gebradt.

Lift, Neid, Berleumbung, Haß und Begierd zu meinen Sachen Hat diefes Grabimahl mi in Elend ftiften machen,

Doch könnt der Ajchen mein dies Recht noch mwiberfahren, Daß e8 wie Sofrates feine Unfchuld derfft verwahren;

Ah, derfft nah meinem Tod nur meine Unſchuld jagen: „Hier liegt der treue Trend, wie Sofrates, begraben.“

300 Der Banduren-Oberfi Franz Frhr. v.d. Trend,

So würd' mein’ Kaiferin aus meinem Tod einjehen, Daß Unrecht, fo mir ift von meinen Feinden g'ſchehen. Da liegt, der reden muß, was er zubor gemwefen;

Du aber, Wanderer, ſäumb' nicht an dieſer Stell, Hüt' dich vor Menſchen Lift und bet’ für meine Seel.

Der Kapuziner-Convent machte zu biefer Grabjchrift folgenden Zufag:

Hoc sibi in fine relicto monumento obiit in suis tristissimis miseriis Fran. Seraph. L. B. de la Trenk Deus det illi suam sanctam pacem

Et lux perpetua luceat ei.

Ein Beitrag zu den Proceſſen wider die Carbonari in Italien.

1820 1858.

Nach dem Sturze des Kaifers Napoleon I. wurde auch in Italien die Reftauration durchgeführt. Der greife Papit Pius VII. fehrte nah Rom zurüd und ftellte das geijt- liche Regiment wieder her. König Ferdinand IV. 309 unter dem Schuße öfterreichifcher Truppen in Neapel ein, und der alte König von Sardinien, Victor Emanuel, ein geiftig befchränfter Mann, verließ die Inſel Sarbinien, auf welche er fich zurückgezogen hatte, und fette in Pie- mont und Savoyhen, ähnlich wie der Kurfürft von Heſſen, alles wieder auf den alten Fuß, als wenn feine Regierung niemal® unterbrochen worden wäre.

Schon früher hatten fi namentlich im Königreich beider Sicilien geheime Gefellfchaften gebildet, die fich Carbonari, Köhler, nannten und das Land vom Joche der Franzofen unter dem König Murat befreien wollten. Sie waren ftraff organifirt, befaßen Statuten, verjchtedene Grade und einflußreiche Leute, namentlich aber niebere Geiftliche und Soldaten drängten fich zur Mitgliepfchaft.

Nach der Rejtauration wurde das Programm geändert. Die Sarbonari waren Gegner der reactionären Regierung.

302 Ein Beitrag zu ben Proceſſen

Die Einführung freier conftitutioneller Formen, die Auf- bebung der Privilegien des Adels und der hohen Geiftlich- fett und in jpäterer Zeit die Herftellung eines einigen Italiens waren die Ziele, die fie erreichen wollten.

Im Jahre 1820 erhob fich in Spanien das Volk und zwang den abjoluten König, die Conftitution vom Jahre 1812 zu proclamiren und damit in die Reihe der conjti- tutionellen Staaten wieder einzutreten. Auch dort war ein geheimer politiicher Bund, der fich die Freimaurer nannte, die treibende Kraft gewejen. Ihr Erfolg jpornte die Carbonari in Italien zur Nachfolge. Ein Lieutenant rief am 1. Juni 1820 an der Spike einer Schwadron die „Eonjtitution” aus. Der Brand verbreitete fich durch das ganze Land; ber geängjtigte König, der nicht einmal feinen Generafen trauen fonnte, gab den Miniftern den Abſchied, erfette fie durch freifinnige Männer und ver- fündigte die ſpaniſche Conftitution von 1812 als das Grundgejeß des Landes. Dieſe Verfaſſung paßte freilich nicht für die Zuftände und das Volk Neapels, aber fie war damals das Panier, um welches ſich die Carbonari jammelten. Die Armee und das Volk und auch der Hof nahmen die Tarben des bis dahin jtreng verbotenen Geheimbundes: fchwarz, roſa und himmelblau, an, und am 1. Detober wurde vom Könige das Carbonari-Parlament in Neapel feierlich eröffnet.

Es ift befannt, daß auf Metternich’8 Betrieb die Grof- mächte Dejterreih, Preußen und Rußland auf den Eon- greffen in Troppau und Laibach befchloffen, die Revolution in Neapel mit Gewalt zu unterbrüden. General Frimont marjchirte mit 60000 Mann Dejterreicher über die Grenze des Königreichd. Die Neapolitaner leifteten faum Wider- ftand, die Truppen liefen faft regelmäßig auseinander, ehe es zum Kampfe kam, die Häupter der Carbonari

wider die Carbonari in Italien. 303

ergriffen die Flucht; am 24. März 1821 zog der General in Neapel ein, und nun begann eine maßloſe Reaction. „Das Volk wurde entwaffnet, jeder Verdächtige verhaftet. Hinrichtungen und Güterconfiscationen richteten graujame Berheerungen in den wohlhabenden und gebildeten Klaffen an, Jetzt holte König Ferdinand die Rache nach, die er bei feiner erften Wievereinjegung in Neapel geſpart hatte“, berichtet ein zuverläffiger conſervativer Gejchichtichreiber. AS Defterreich feine Streitkräfte aus der Lombardei nach Neapel geſchickt Hatte, brach in Piemont eine mili- täriſche Revolution aus. Auch hier waren die Carbonari thätig gewefen. Ein Oberſt brachte am 9. März 1821 in der Feſtung Aleffandria auf die ſpaniſche Eonftitution von 1812 ein Hoch aus, und Soldaten und Volk fielen ihm zu. Der König trat die Regierung an feinen Bruder Karl Felix ab, der in Modena lebte, und die Regentjchaft an einen entfernten Verwandten, Karl Albert, Prinz von Carignan. Diefer erjchten mit der breifarbigen Fahne auf dem Balfon des Schlofjes in Zurin, war aber vor- fichtig genug, fich nicht weiter mit der Revolution zu engagiren, ertheilte vielmehr einer Deputation, die zu dem neuen König Karl Felix gefchidt wurde, den Auftrag, dort zu melden, daß er die Bewegung entſchieden mis- billige. Als der Pöbel den öſterreichiſchen Gejandten aus der Stadt jagte, verließ der Prinz von Garignan das Land. Die Armee fpaltete fih, ein Theil derſelben trat auf die Seite der Defterreicher, und fo hatte General Bubna leichtes Spiel. Als er mit einem anfehnlichen Zruppen- corps heranzog, hatten die Rebellen nicht ven Muth, eine Schlacht anzunehmen. Sie Löften fih auf und Zurin wurde von dem General ohne Widerſtand befegt. Der König wollte nichts mehr wiffen von der Regierung, fein Bruder Karl Felix, ebenfalls ein ſchwacher, Finderlofer

304 Ein Beitrag zu den Procejjen

Greis, ergriff die Zügel des Regiments und behielt bis zum Jahre 1823 eine öfterreichifche Befatung im Lande.

In der Lombardei hatten fi) die Carbonari troß der wachſamen dfterreichifchen Polizei ebenfall® ausgebreitet, und auch ein zweiter Geheimbund, die Adelfia, der aus Tranfreih ftanmte und den Königemorb prebigte, juchte Anhänger und Boden zu gewinnen. Schon im Jahre 1819 waren verſchiedene Perfonen wegen hochverrätheriicher Umtriebe verhaftet, proceffirt und zum Tode verurtheilt worden. Aber der Kaiſer von Defterreich ließ Gnade walten und verwandelte die Todesftrafe in mehr oder minder lange Kerferitrafen.

Am 29. Auguft 1820 erfchien auf Faiferlichen Befehl eine Bekanntmachung, in welcher auf die Zwede ver ge— heimen Gejellichaften hingewiejen und vor der Mitglied- ſchaft ernftlich gewarnt wurde. Es war umjonft, noch in bemfelben Jahre wurde eine Verſchwörung in Mailand entdeckt, an deren Spite ber Graf Luigi Porro Lamber— tenghi ftand. Es gelang ihm, fich der Verhaftung durch rechtzeitige Flucht zu entziehen, aber er wurde in contu- maciam fchuldig gejprochen und mit der ZTobesitrafe belegt. Seine Genofjen, etiva dreißig an der Zahl, wur- den theils zum Tode, theils zu Arreititrafen verurtheilt. Der Kaifer fette auch in diefem Falle an die Stelle ver Todesſtrafe jchweren Kerker in der Dauer von ſechs bis zu zwanzig Sahren.

Trotz dieſer abjchredenden Erempel bejtanden die Geheimbünde in der Lombardei weiter, die Zahl ihrer Mitglieder vermehrte fich jogar, namentlich dic‘ «mont organifirte ich fejter und befjer al8 vorher. S zrenze den Namen „Gejellichaft der erhabenen, vollkommenen Meiſter“ (Societa de sublimi maestri perfetti) an. Die oberfte Leitung des Bundes hatte ihren Sit in Genf

wider die Carbonari in Stalien. 305

und nannte ſich das „Große Firmament“; unter ihr ftanden die „Synoden“ und die „Kirchen“, die Vereinigungen des Bundes in einzelnen Städten und Provinzen Italiens.

Das anerfannte Haupt der Carbonari in ber Lom— bardei, die nicht iventifch waren mit den Angehörigen ver Adelfia, aber doch in gleicher Weiſe wie dieſe eine Revo— lution herbeiführen wollten, war im Jahre 1821 der Graf Confalonieri.

Schon etliche Jahre zuvor hatte die Umſturzpartei in Mailand einen revolutionären Straßentumult angejtiftet, defjen Opfer der damalige Finanzminijter Prina wurde. Der Graf hatte jeine Hand dabei im Spiele, man maß ihm die Schuld an dem vergoffenen Blute bei. Er fand ſich deshalb veranlaßt, eine längere Reiſe anzutreten. Er begab fich nach England und Franfreich, befreundete fich dort mit den Führern der Oppofition und fehrte erſt nach einem Jahre nach Mailand zurüd. Die Erinnerung an die Ermordung des Minifters Prina war indeß noch immer lebendig, man machte ihn von neuem bafür ver- antwortlid. Er veröffentlichte nun eine im Ausland gedruckte Schrift, in welcher er die Theilnahme an jenem Verbrechen entjchieden zurückwies, aber feine politischen Grundfäge ziemlich offen ausſprach. Er befannte, daß bie Unabhängigkeit Italiens das höchite Ziel feiner Wünſche, und rühmte fich, daß er niemals ein ergebener Diener ber Regierung geweſen jei und auch in Zukunft feine Unabhängigkeit fich bewahren werde. Sein Haus wurde ber Mittelpunkt der unzufrienenen Elemente, und er jelbit

corp8 . rbindungen an mit den gleichgefinnten Männern Schlai : heilen Italiens. Im November 1820 kam er

im ernem piemontefiichen Freunde in VBigerano zufammen,

um zu bejprechen, wie man die Herrichaft Defterreiche

brechen fönne, im December deſſelben Jahres reijte er XXIV. 20

306 Ein Beitrag zu den PBrocefjen

nach Florenz zu gleichem Zwecke. Es wurbe ausgemacht, daß der Marſch des üfterreichifchen Heeres gegen bie Rebellen in Neapel das Signal fein follte zu ber allge- meinen Revolution in Italien.

Im Januar 1821 erhielt er eine Einladung nad Zurin, fonnte derſelben jedoch Feine Folge geben, weil er krank wurde. Er fchidte al8 Stellvertreter feinen vertrauten Freund Joſeph Pecchio dorthin und diefer berichtete ihm nah jeiner Rückkehr: Alle Parteigenoffen in Piemont hätten fich für die ſpaniſche Conftitution ausgejprochen. Die geheimen Gefellichaften breiteten fich immer weiter aus und ftänden untereinander in der engjten Verbindung. Die Truppen in Piemont würden zur feſtgeſetzten Zeit ſich empören und den alten König zwingen, bie ſpaniſche Eonftitution anzunehmen. Für den Fall feiner Weigerung jeten bereit Vorkehrungen getroffen. Gleich nach dem Ausbruch der Revolution folle ein bedeutendes Truppen— corp8 in die Rombarbei geworfen werden. In Norbitalien müffe aus Piemont und ven öfterreichiichen Provinzen ein neuer, nach dem Mufter Spaniens conjtitutioneller Staat gebildet werben. Pecchio überbrachte die Statuten des Bundes und den in lateinifcher Sprache abgefaßten Aufruf, durch welchen die in der Lombardei ftehenden ungarifhen Zruppen für die DVerjchworenen gewonnen werben follten.

Der Graf EConfalonieri berieth nun eifrig mit jeinen Genofjen in Mailand. Er händigte einem gewifjen Phi- lipp Ugoni 4000 Livre ein, um mit dieſem Gelbe an einem noch zu beftimmenben Termine einen Volksaufſtand in Mailand in Scene zu fegen. Einem thätigen piemon- tefifchen Emifjfar, welcher zu ihm Fam, gab er genauen Aufihluß darüber, was in der Lombardei zu Gunften ver gemeinjchaftlichen Sache gejchehen fei und noch gejchehen

wider die Carbonari in Italien. 307

werde. Einem Abgejandten aus Parma ertheilte er In— ftructionen, wie man fi dort verhalten folle. Er be- theiligte fich an einem Complot gegen ben commandiren- den öſterreichiſchen General in der Lombardei, den man ermorden wollte, weil man feine Tapferfeit und Energie fürchtete.

Mit jeinem Freunde Pecchio, der mit Geld verjehen im März 1821 wieder nach Piemont gefchieft wurde, und mit dem Marcheje Beningno Bofft aus Turin unter: hielt Confalonieri eine regelmäßige Eorrefpondenz, um in allen Stüden Hand in Hand zu arbeiten.

Der jehon genannte Philipp Ugoni ging nach Brescia, um daſelbſt einen Aufftand vorzubereiten, und fehrte im März 1821 mit feinem Freunde Tonelli nah Mailand zurüd. Beide referirten über den Stand der Dinge und empfingen mündlich von Confalonieri Anweifungen wegen des Vorgehens in Brescia. Er entwidelte ihnen ven Plan und die Organifation der Italienischen Conföperation, las ihnen eine Schrift darüber vor und forderte fie auf, ſich hiernach zu richten.

Confalonieri war e8, der neue Mitglieder in das Complot aufnahm. Er traf Vorbereitungen zur Organi- firung einer Nationalgarde und forgte für genügende Waffen. Ya e8 wurde fogar die Einführung einer pro- viforiichen Regierung berathen und feftgejegt: ‘Die Junta in Mailand follte eine Hülfsjunta für diejenige fein, welche mit dem Ausbruch der Revolution in Turin in das Leben treten würde, und Pecchio follte beiden Junten angehören, damit ihre Wirkſamkeit eine einheitliche bleibe. Die oberfte Behörde wurde in fieben Sectionen eingetheilt: für bie auswärtigen Angelegenheiten, das Innere, den Krieg, bie Suftiz und Gefetgebung, die Finanzen, die öffentliche Sicherheit und ven Cultus. Man wählte die zur Xeitung

20*

308 Ein Beitrag zu ben Procefjen

diefer Sectionen bejtimmten Perſonen und die Secretäre. Der Vorfig in diefer Junta wurde ohne Widerfpruch dem Grafen Confalonieri eingeräumt. Im Augenblide des Einrüdens piemontefiiher Truppen jollte ſich die Junta der höchiten Gewalt bemächtigen und ganz Italien revo— Iutioniren.

Die Ereigniffe gingen zu langjam für Confaloniert’s Wünſche. Er verabrevete deshalb mit dem Marcheje Pallapvicini, einem Mitverfchworenen, daß dieſer fich nach) Piemont begeben und vafelbft den Ausbruch der Bewegung bejchleunigen folle. Bet näherer Ueberlegung wechjelte jedoch Confalonieri feine Meinung. Er über: zeugte fich davon, daß eine mit jchwachen Kräften unter- nommene Expedition die Pläne gänzlich vereiteln mußte. Er warnte daher bald nach der Abreiſe Pallavicini's Ichriftlich vor Uebereilung und rieth, da bie öſterreichiſchen Truppen foeben zufanmengezogen würden, mit einer jtarfen Armee in der Lombardei aufzutreten. Er werde für gute Aufnahme und Verpflegung Sorge tragen.

Auch mit den italienischen Flüchtlingen in Genf und in Sranfreih knüpfte Confalonieri Beziehungen an, fur; er war unermüdlich thätig, um den Boden zu unter- wühlen, und al® er von dem Ausbruch der Revolution in Piemont Runde erhielt, traf er mit dem verabjchiebeten General de Meefter, der ſchon früher einmal in eine Verſchwörung verwidelt gewejen, aber vom Kaifer be- gnadigt worden war, alle Veranjtaltungen zu einem Auf- Itande in Mailand.

Allein die Polizei hatte jchon feit geraumer Zeit ein wachſames Auge auf ihn und feine Partei gerichtet. Sekt ihritt fie ein. Der Graf Confalonieri, ver Marcheje Pallavicini und viele Genoffen wurden gefänglich ein—

wider die Carbonari in Italien. 309

gezogen. Der Exrgeneral de Meeſter, Pecchio und andere hatten fich durch eilige Flucht gerettet.

Einige Zeit nachher machte die Polizei noch einen wichtigen Bang. Alerander Philipp Andryane von Paris diente in den Hundert Tagen ald Adjutant des Generals Merlin, welcher ein Schwager feines Bruders war. Nachdem die Bourbonen ven Thron beftiegen hatten, fehrte er in das Privatleben zurüd, Er gerieth in Schulden, follte deshalb in Arreſt gejett werben, verließ Paris und begab fih nach Genf. Hier lernte er den toscanischen Flüchtling Buonarotti fennen. Sie jchloffen Freundſchaft. Buonarotti unterrichtete den Franzofen in Mufif und italienischer Sprache und warb ihn an für die revolutionäre Bartet.

Andryane hielt fich drei Jahre in Genf und der Um— gegend auf, machte mitunter geheimnißvolle Reifen nach Paris, die politiiche Zwecke verfolgten, und ging dann nach Stalien, um auch hier ven Boden zu unterwühlen. Er hatte Inftructionen, welche ihm vorjchrieben, welche Orte er befuchen jollte, und Briefe an bejtimmte Perfonen, mit denen er jich in Verbindung zu ſetzen hatte. In Bellin- zona und in Lugano hatte er Beiprechungen mit bort lebenden piemontefifchen Flüchtlingen, und auch in Mai— fand verhandelte er mit etlichen gleichgefinnten Männern. Die dortige Polizei fand fich veranlaßt, jeine Papiere zu unterfuchen, und ftellte dadurch feft, daß er ein Emiffar des unter dem Namen „Erhabene, vollflommene Meiſter“ befannten Geheimbundes war. Das Große Firmament in Genf Hatte ihn beauftragt, den Bund in Italien auszu- breiten, dajelbjt neue „Kirchen“ und neue „Synoden“ zu ftiften und diefe an das Centrum in Genf anzufchließen. Don dort jollten fie dann weitere Befehle erhalten, um neue Ummwälzungen in Italien und den Sturz ber Re—

310 Ein Beitrag zu den Brocejjen

gierungen zu erreihen. Man hatte ihm den Grad eines „außerordentlichen Diafons‘ beigelegt, um ihn mit einer größern Autorität anszurüften. Aus den in Beichlag genommenen Papieren ergab fich, daß die Mitglieder des Bundes die Religion abſchwören und fich eiblich ver- pflichten mußten, alle phyſiſchen, intellectuellen und pecu— niären Kräfte der Verbreitung des Bundes zu widmen, und den bern pünftlichen und blinden Gehorſam zu leijten.

In den höhern Graden feierte man vier Feſte, die fich an Gevenktage der franzöfiihen Revolution anjchloffen, und in dem Programm hieß e8: Dem Volke ſei Unwillen und Haß gegen die Fürften und die Geiftlichfeit einzu- flögen, e8 müſſe zur beftigften Erbitterung gegen die Geiftlichfeit gereizt werden. Beim Ausbruch einer Revo- Iution ſolle man das Volk plündern und feine Hände in das Blut der Adeligen und der Priefter tauchen laſſen, damit e8 dadurch feit an die revolutionäre Partei gebunden werde. Die Errichtung der conjtitutionellen Monarchie jei nicht der wahre, fondern nur der nächte Zwed, bie gänzliche Zerjtörung aller Monarchien und die Einführung der Republik jei das eigentliche Ziel.

Die Unterjuchung gegen den Grafen Eonfalonieri aus Mailand und Genofjen und gegen Mlerander Philipp Andryane aus Paris wurden getrennt geführt. Eine Specialcommiffion in Mailand war damit betraut.

Am 27. Auguft und am 9. October 1827 fällte der Iombarbijch-venetianijche Senat des oberſten Gerichtshofs in Verona das Urtheil: Friedrih Graf Eonfalonieri, Peter Borjieri, Georg Marcheſe Pallapicini, Cajetan Eaftillia, Franz Freiherr von Areſe, ſämmtlich aus Mailand, Andreas Tonelli aus Coccaglio in der Provinz Brescia und Alerander Philipp An-

wider die Carbonari in Italien, 311

dryane aus Paris wurden des Hochverraths für ſchuldig erflärt und zum Tode durch den Strang verurtheilt, gegen neun Angeklagte, unter ihnen Joſeph Pechio und Jakob Philipp de Meefter aus Mailand, die flüchtig geworben waren, erfannte das Gericht in contumaciam ebenfalls auf Todesſtrafe, acht Angeklagte wurden von der Inftanz entbunden, aber ſolidariſch als haftpflichtig für den Erjak der Proceffoften erklärt, ein Angeflagter wurbe frei- geiprochen.

Der Kaiſer befahl kraft höchſter Entjchliegungen vom 19. December 1823 und 8. Januar 1824, e8 follten die Todesſtrafen wider die in Haft befinplichen Inculpaten nicht vollſtreckt, ſondern in fchwere, auf dem Spielberge bei Brünn zu verbüßende Kerferftrafen verwandelt werben. Die Kerferjtrafe ward für Confalonieri und Andryane auf Lebengzeit, für Borfieri, Pallavicini und Caſtillia auf 20, für Zonelli auf 10, für Areſe auf 6 Jahre feſtgeſetzt.

Der Gnabenact wurde fo motivirt: „Wenn Seine Kaiferlich Königliche Apoftoliiche Meajeftät ſich bewogen gefunden haben, die gegen überwiejene DBerbrecher aus- gefprochene, nur allzu gerechten Urtheile ſelbſt hinfichtlich jener Verurtheilten, welche die Strafe am meijten ver- dient hatten, zu mildern, jo war dieſer Entſchluß des Monarchen auf das Gefühl feiner eigenen Kraft und der Feſtigkeit des Staatsgebäudes gegründet. Bei ber Treue der Völker, welche fie gerade an den Orten, wo die Verſchwörung wirken follte, in der entjchiedenften Weije an den Tag gelegt hatten, konnte das Unternehmen nur mit dem Verderben ver Schuldigen enden; unerjchütter- ih find aber die Regierungen, welche auf folcher Gewähr: leiftung ruhen.”

Der Graf Eonfalonieri und feine ſechs Leidensgefährten wurden auf den Spielberg gebracht und daſelbſt eingeferfert.

312 Ein Beitrag zu den Procefjen

Wir fennen bereits die Gefängniffe aus dem Proceffe wider den Freiherrn von der Trend, aber e8 ift doch von Inter⸗ effe, das Urtheil eines Franzofens Namens Remacle zu hören, welcher im Auftrage feiner Regierung im Jahre 1838 den Spielberg befuchte. Er berichtet: „Wir betraten nicht ohne Erjchütterung die Zellen der Gefangenen. Die Heinfte hat nur 4 Fuß 50 Zoll in der Breite und 6 Fuß 50 Zoll in der Tiefe. Ein Feldbett mit einem dünnen Strohfad und einer wollenen Dede für jeden Gefangenen nimmt einen großen Theil des Raumes ein. Das Fenſter beginnt 6 Fuß über dem Boden und hat eine Deffnung von 2 Fuß. Alle Kerfer werden fieben Monate im Jahre mit Defen geheizt. Die Kerfer im Erdgeſchoß haben bie bejondere Eigenfchaft, daß eine eiferne Stange mit einer daran hängenden 3 Fuß langen Kette an der Mauer befeftigt if. Bor dem Erlaß ver Ffaiferlichen Verord— nung, welche ven jchwerjten Kerfergrad abjchaffte, wurden die zu biefer Strafe verurtheilten Unglüclichen am Abend mittel ihres eifernen Gürtels an dieſe Kette gejchloffen, ſodaß fie ſich kaum auf ihrem harten Lager ausitreden fonnten, Wenn die Marter ihnen ein ftarfe8 Gefchrei auspreßte, ftopfte man ihnen eine fogenannte Mund— birne, d. h. eine burchlächerte, mit Pfeffer angefüllte eiferne Hohlfugel in den Mund, welche ihre Pein auf das äußerſte fteigerte. Es befanden fich im Jahre 1838 auf dem Spielberge noch zwei Gefangene, welche ben ichwerjten Kerfer ausgeftanden hatten: einer 18, ber andere 20 Sahre lang. Der erftere war ftarf und gefund, ver zweite dagegen an allen Gliedern lahm. Setzt ift die Strafe diefelbe für alle Gefangenen, nämlich der fchwere Kerfer, die Dauer aber iſt verjchieven.

„Die Sträflinge müffen im Sommer um Y,5 Uhr, im Winter um 6 Uhr aufftehen. Nach dem Gebet wird zur

wider die Carbonari in Italien. 313

Unterfuchung ihrer Feſſeln gejchritten, hernach werben fie in die Werfftätten geführt, dort wird jeder einzelne vor Beginn der Arbeit noch einmal unterfucht. Der Gefangene erhält jeden Tag 1'/, Pfund Brot. Um halb 11 Uhr wird bie Mittagsmahlzeit gehalten, fie bejteht aus 2 Seibeln Suppe und 2 Seideln Gemüfe fir den Mann. Nach ber Mahlzeit ruhen fich die Leute in den Höfen eine Stunde lang aus, Die Arbeit wird jedem nach feinen Kräften zugemefjen. Wer viefelbe nicht vollbringt, wird beitraft. Am Sonntag ruht die Arbeit, aber auch die Erholung in den Höfen fällt weg. Nach dem Gottesbienfte, an welchem alle teilzunehmen haben, bleiben die Gefangenen müßig in ihren Zellen.

„Die Aufficht ift jehr ftreng. Diejenigen, welche fich gut führen und das Vertrauen der Beamten erivorben, werden Zimmerväter und Zimmermütter. Obgleich mehr als zwanzig jugendliche Gefangene, die das 20. Xebens- jahr noch nicht erreicht haben, vorhanden find, fehlt es an einer Schule.

„Der Spielberg ift jetzt fein ftrengeres Gefängniß für jchwere Verbrecher als andere gleichartige Anftalten. Für Leute von Bildung, für politische Verbrecher, für einen Silvio Pellico und einen Maroncelli freilich ift dieſer Aufenthalt ſchrecklich. Unterhalb der Kerker, die jekt benußt werben, gibt e8 noch eine zweite und unter dieſer noch eine dritte Reihe, an welche man nicht ohne Grauen benfen fan. Ein unterirdifcher Gang führt zu der zweiten Reihe, je vier Zellen, von denen jede Raum hat für 15 bis 20 Mann. Bor etwa fünf Jahren fchloß man hier noch Räuber und Mörder ein, jet werben fie nur noch jelten auf kurze Zeit belegt, als außerordentliche Strafe für Vergehen gegen die Hausordnung. Früher haben mehreremale Sträflinge ſich in die Tiefe hinein-

314 Ein Beitrag zu den Proceffen

zuwühlen und zu entkommen verfucht. Von dreißig bis vierzig Verjuchen find indes nur drei geglüdt, und ein Sträfling wurde wieder ergriffen, ehe er unten am angelangt war.

„Im Jahre 1794 ſaß ein Franzoſe Namens Drouet aus Varennes, Mitglied des Nationalconvents, auf dem Spielberge. Er machte aus den Beſtandtheilen ſeines Bettes ein Seil und ließ ſich durch das Fenſter in die Tiefe, fiel aber und brach ein Bein. Man ergriff ihn und brachte ihn zurück in die kaum verlaſſene Zelle. Zwei Jahre ſpäter erhielt er die Freiheit, er wurde gegen die Tochter Ludwig's XVI., die Herzogin von Angouleme, ausgewechielt.

„Beſagte Kerker tragen ven Namen «Franz I». Der Gang unter der Erbe fällt jäh ab und führt dann zu dem jchredlichiten Theile des Spielbergd, der unterjten Stufe der Kerfer, 34 an der Zahl, welche fich 60 Fuß tief in der Erde befinden und «Maria Therefia» genannt werden. Nur ein einziger iſt übriggeblieben, gleichfam al8 Andenken an die Unmenfchlichfeit früherer Zeiten. Es ift ein aus Balken beftehendes enges Behältniß mit einer Heinen verjchloffenen Deffnung zum Einfchieben ber Nahrung. Unten befindet fich eine größere verſchloſſene Deffnung, durch welche der DVerurtheilte hineingebracht wurde. Kein Tageslicht, Feine frijche Luft kann eindringen. Der bevauernswürdige Bewohner ſaß oder jtand in jeinem Käfig und war mit einer jchweren Kette angejchlofjen. Das fürchterliche Koch war dunfel und feucht. Dreimal in der Woche erjchien ein Gefangenwärter und brachte das zur Friftung des Lebens nothwendige Brot und Waſſer. Die Gefangenen wurden in der Regel jchnell erlöft von ihrer Bein, denn länger als ſechs Monate hielt es jelten ein Menſch aus.“

wider die Carbonart in Italien. 315

Remacle knüpft an feine Schilderung folgende Bemer- tungen: „Frankreich bat ſchon im 16, Jahrhundert dieſe hölliſchen Gefängniffe, welche man ben Stalienern und Engländern nachgemacht hatte, abgeſchafft. Deutjchland hat fie bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts beibehalten. Seit funfzig Iahren ift die Strafgefeßgebung in Frank— reich jo gemilvert worden, daß fie faft einen Theil ihrer Wirkſamkeit verloren hat. Defterreich hatte noch vor fünf Jahren feine unterirdifchen Kerfer. Ein edler, gefühlvoller Italiener, Silvio Bellico, welcher das Dpfer feines heißen Patriotismus geworben ift, hat bie fchredlichen Leiden des Spielbergs ſelbſt erdulden müffen. Er hat diefelben mit einer gewandten Feder und im Tone eines gemäßigten Unwillens in chriftlicher Ergebenheit vor der Welt aufgedeckt, um die Regierung zu größerer Milde zu bewegen, beſonders gegen diejenigen Gefangenen, denen man nur politiiche Vergehen, Ueberjpanntheit, voreilige Aenferungen ihrer Gedanfen vorzuwerfen hat. Man be- geht eine tyrannijche Graufamfeit, wenn man diefe Menſchen den gemeinen Verbrechern gleichjtellt und fie wie dieſe behandelt.

„Wahrſcheinlich hat man die Verbeſſerung der Lage der Gefangenen auf dem Spielberg den edeln und doch ſo energiſchen Klagen des berühmten Italieners zu danken. Nun wird ihnen ein wenig Stroh nicht verſagt, ſie er— halten täglich ein halbes Pfund Brot mehr. Am Sonn— tage können fie ein wenig Fleiſch und in der Woche mit- unter eine Mehlipeife genießen. Der Spielberg tft jekt den Sträflingen nicht Tebensgefährlicher als andere öjter- reichiſche Gefängniſſe. Ja er ift fogar, wie es fcheint, ein recht gefunder Aufenthalt. Das beweijen die mir vorgelegten Sterblichkeitsfiften, welche ich als richtig und wahrheitögemäß vorausjegen muß.“

316 Die Brocefie der Carbonari in Italien.

Wir fügen hinzu: Die Hausorbnnungen ber Strafe anftalten in Defterreich machten allerdings in jener Zeit, da Silvio Pellico und der Graf Eonfalonieri ihre Strafe verbüßten, feinen Unterjchied zwijchen politifchen und ge= meinen VBerbrechern. Die Behandlung war vielmehr nach dem Gefeß die gleiche. Aber die verurtheilten Carbonari haben fich über ihre Haft auf dem Spielberge nicht zu beffagen gehabt. Unter dem damaligen Gouverneur von Mähren und Schlefien, vem Grafen Anton Friedrich Mittrowsfy, der ein großmüthiger Förderer der Yite- ratur und Kunſt war, mwurbe die größte Humanität ge— übt. Den Gefangenen, von denen wir jett reden, wurde zum Beiſpiel Lektüre geftattet, ja man beitellte ihnen jogar der italienifchen Sprache mächtige Priefter für Gottesdienst und Seelſorge. Erft als fie die ihnen ge- währten Bergünftigungen misbrauchten, um nach außen Verbindungen anzufnüpfen, wurde wieder ftrenge Zucht und Aufficht eingeführt. KB |

Ein einziger von den gefangenen Carbonari ftarb auf dem Spielberge, die übrigen wurden nach längerer oder fürzerer Strafdauer begnadigt. Im Jahre 1836 wurden die leßten der in die Verſchwörung von 1821 verwidelten alten Berbrecher auf Befehl des Kaifers in Freiheit gejegt.

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Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

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