Pädagogische Studien

HARVARD UNIVERSITY

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GRADUATE SCHOOL OF EDUCATION

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Pädagogische Studien

Neue Folge

Herausgegeben

von

Dr. W. Rein

Pro/msor an der Univertität tu Jma.

XII. Jahrgang

Verlag von Bleyl & Kaemmerer (Paul Th. Kaemmerer.)

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Inhaltsverzeichnis

des XII. Jahrganges (1891).

A. Abhandlungen.

1. Prtf. Dr. W. Rein, Rembrandt ab Erzieher S. 1 15

3. A. Lomberg, Sachrechnen (Fortsetzung u. Schlufs) . . . . 16— 32

und 65— 73

3. K. Bodenstein. Zum „System" im Geschichtsunterricht . . 129—146

4. Semlnardirector Dr. R. Steide, Zur Anwendung der Formal-

stufen im Religionsunterricht 193 205

B. Mitteilungen.

1. H. 6ro8«e, Fr. Wilh. Lindner ein Vorläufer der Kulturstufen- idee. — P. Zillig, Die Vereinigung von Freunden der Pädagogik Herbart-Zillers in Unterfranken. Vom griechi- schen Schulwesen. Herbart in Amerika. J. Tews, Der erste deutsche Lehrertag in Berlin. A. Lomberg, Verein für Herbartische Pädagogik in Rheinland und Westfalen. Von der Benderschen Erziehungsanstalt in Weinheim a. d. Bergstrasse Aus „Lichtenbergs ausgewählten Schriften".

Die Unterrichtsverfassung der preufsischen Gymnasien

vom 12. Januar 1816. Thrändorf, Selbstanzeige . . . 32 58 3. H. Grosse, Fr. Wilh. Lindner ein Vorläufer der KuTturstufen- idee. Job. Trfiper, Zum Kampf um die Schule (Fortsetzung).

Seminarkonferenz zu Barby. Der X. deutsche Kongrefs für erziehliche Knabenhandarbeit in Strafsburg. Zeit- schrift für den evangelischen Religionsunterricht. Die HI. Hauptversammlung des allgemeinen deutschen Sprach- vereins. — Finanzminister Miquel, über die Schutfrage. Die Volksschule in Frankreich und Deutschland. Prof. Dr. Gastav Teichmüller, Pädagogiaches Prof. Dr. Eucken, Fragen der Schule Fragen der Zeit. Ober die Aus- sprache des Griechischen in unseren Gymnasien. Ge- meinschaftliche Sitzung der Zweigvereine Altenburg, Halle,

Jena, Leipzig zu Weissenfeis. Herbart in Amerika . 73 125 3. F. Hornemann, Der deutsche Einheitsschulverein im Jahre 1890.

Dr. Rod. Menge, Lehrgänge und Lehrproben aus der Praxis der Gymnasien und Realschulen 6. Dehio, Die Schulreform und das Auge H. Chili, Die Mittelschulen in Preufsen. J. L Jetter. Die Herbartsche Pädagogik in Württemberg. - F. W. D. Krause, Begehren und Wollen. Die Pädagogische Vorbildung der Kandidaten für das höhere Schulamt in Baiern. Herbartverein in Eisenach.

Oster-Programme 1891. Aus dem Pädag. Universitäts- Seminar zu Jena. Dr. Beyer, Hauptversammlung des Vereins für Knabenhandarbeit. Job. Trfiper, Zum Kampf

um die Schule (Fortsetzung) 146—188

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- IV -

4. R. Biirkner, Baumgarten, Evangel.-soziale Streitfragen. - Dr. B Maennel, Zur Litteratur des Naturgeschichtsunter- richts. - Neue Bahnen. E. Sohotz, Ist die Unkenntnis der neuesten Geschichte ein besonderes Merkmal der deutschen Jugend? Neudrucke pädagogischer Schriften. Stichlina, Aus 53 Dienstjahren. H. Chili, Verbreitung der Knabenhandarbeit in Deutschland. H. Chili, Zwangs- erziehung verwahrloster Kinder in Preufsen. Joh. Trüper, Zum Kampfe um die Schule (Fortsetzung). - 23 Haupt- versammlung des Vereins für wissenschaftl. Pädagogik . S. 205—245

C. Beurteilungen.

t. Otto Fischer, Leben, Schriften und Bedeutung der wichtigsten

Pädagogen bis zum Tode Pestalozzis (Eisenhofer) . . . 58 60

2. Fr. W. D. Kraute, Die Kant-Herbartsche Ethik (O. Foltz) . 60— 63

3. Dr. Max Schilling, Quellenlektüre und Geschichtsunterricht

(Dr. Göpfert) ,, 63 64

4. Dr. Joh. Barchudariao, Inwiefern ist Leibnitz in der Psychologie

ein Vorgänger Herbarts (O. Foltz) 126—128

5. Dr. Albert Schwegler, Geschichte der Philosophie im Umrifs

(H. Grofse) 188—189

6. Ernst Lüttge, Adolph Diesterweg in seiner Bedeutung für die

Hebung des Volksschullehrerstandes (F. Hollkamm) . . ,, 189 190

7. Franziskus Hähnel, Einer für Alle (F. Hollkamm) 190— 191

8. Otto Bismarck, Das Kartenzeichnen und Kartenskizzen für den

Unterricht in der Erdkunde (Maennel) , 191 192

9. Höhlbaum, Das Buch Weinsberg (Ziegler) ,, 192

10. Kurt Adelfels, Das Lexikon der feinen Sitte (Bliedner) . . ,, 245 247

11. Wartenberg, Lehrbuch der lateinischen Sprache als Vorschule

der Lektüre (Haupt) 247 248

12. Gast Frdoh. Pfisterer, Pädagogische Psychologie (Eisenhofen) 248—252

D. Anzeigen.

1. Moderne Kunst 64

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Pädagogische Studien

Neue Folge.

Herausgegeben

ron

Dr. W. Rein,

Profwar a. <i. Uuiwnitüt Jena. XII. Jahrgang. Erstes Heft

Inhalt:

A. Abhandlungen: i. Prof. Dr. W. Rein, Rcmbrandt als Erzieher. 2. A, Lombcrg, Sachreehnen .'Fortsetzung).

B. Mitteilungen: i. H. Grosse, Fr. Wilh. Lindner ein Vorläufer der Kulturstufenidee. 2. P. Zill ig, Die Vereinigung von Freunden der Pädagogik Herbart-Zillers in Unter franken. 3. Vom griechischen Schulwesen. 4. Herbart in Amerika. 5. J. Tcws, Der achte deutsche Lehrertag in Kerlin. 6. A. Lomberg. Verein für Herbartischc Pädagogik in Rheinland und Westfalen. 7. Von der Benderschen Erziehungsanstalt in Weinheim a. d. Pergstrasse. 8. Aus ,, Lichten- bergs ausgewählten Schriften". 9. Die Unterrichtsverfassung der preussischen Gymnasien vom 12. Januar i8H>. 10. Thrändorf, S< dbstanze ige.

C. RenrtellniiKen: i.Otto'Fischer (Eisenhofer). 2, Fr. W. D Krause (Foltz). 3. Dr. M. Schilling (Göpfert).

D. Anzeigen: Moderne Kunst.

Dresden.

Verlag von Bleyl A Kaemmerer <p««i Tfc. Kmmmmr.)

IMt.

'fr. )

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pirtage giftet Örrlag s. filtql 4 fiatmmtrcr <}>. tl). «atmmttf r) in Drrrtrn.

(Ileue ) herausgegeben von pcofejfor Dr. $P. gUitt in 3«na.

preis bes einjelnen §eftes: m. 20 pf.

Drrjeidjmö oer gröjlrren 3Lbt)anMnna,eu Her bereits erfdpenenen

Jahrgänge.

3ab,rgang 1880.

$eU L Dr. S. v. Sa Itwürf, Dber1$u(rat in ftarMrufte »oufieau* Stellung »«bogogtl unb in bfr <Bri$iditr bet »to<.goglf. w IL Dr. ttiftarbStaube, Stbulblreftet in «ifena*. Ulf tuIrurbiftorifaVii Stufen im Unter- ria>t bei Solttfcftule.

. Ul. 9. *. Sfraet, Cberleljrer am Mnigl. ßebrertnueu; Seminar in Drrtben. Dotbtetb unb bie Äfaffenfeage.

IV. Dr. «arl S. 9uft in «ltenburg. Die Sfu$ptogie im 8ei>er>6eminar. «in »ertrag jur «ulbilbung ber SWmiflenfAaften.

3abrgang 1681.

fceft I. Dr. Ibranbort , Seminartefcrer in «uerbod» i. S., ftrittifte Setradmingen über bie „Run* tatectoe."

U. C. gl« gel in 64odm>ife. über bie metaptoflfa,e «runblage ber Sfuc$olo«te fterbart«. in. Dr. «. ». Sairmflrr.-CberWulrat in ftttrWtufc. Die TOufterfdjute in öruffel. («om

pdbagogHiten R<mg«6 1880). IV. Dr. IB. Mein, Aber bie Organisation ber ßebjerbilbung in Deutid>lanb. Borrrag Behalten

auf ber Semtnarleftterberlommlung w Berlin im $erbfl 1881.

9aftrgana 1882.

fcfft I. Dr . « . »liebner, «ifena*. Serfuflj einer fcmcentratian be« litterarurtunMtdRm Unter» tiefet 8.

n. 3. $etm, Semtnarbireftor in 6d,w«bad>, Uber ben smufifunterrtAt an ben Sefeterbilbuna,« «nftalten.

Iii. 1. w. 1 11 ni t , iLDerif ijrcr ui notptMi, »ium wn<aictt9uinfvnrt5t auf ben ©ennnart'it.

t. D. Steiner ib., Über bie Soncenttation be* Untectidjt*. « IV. Dr. W. Sd»iUina, Die fabago«« «afebott* in ibm etbifdVn. reli^i?* ^ tmb 9fttd>o(ogvid)en

iÖcbctt t uriii

, Jahrgang 1883.

4ft I. 1. Dr. ZferÄnborf, Die Rtrdie unb ber Aeltgiontunrerritfit bet <ft)ietung«fd>ule. 2. ffi.

«eil, Überfidjt Ober bie beutige ^artogutobje . II. Retter $. fBinjer, 3ft bie $etmattunbe ein felfrfianbiger Untrtricbttgegenftanb ?

8. Ctto tB. Ben er, bie «aturhmbe im erjiebenben Unterriat. III. 1. «. cjeinetfe, bie »Übung be« ttngefftbU. - 3. Dr. «Jofert, Über bie SRetftobe be«

gcpgraptjif rticrt Unterrid)t«. , IV. Dr. ©. »ein, «inige Semerrungen ju bem «eferat be« ©erm Dr. grid: 3n wie weit finb

bie fterbart*, BiOer^ StoDfdjen bibaft. «runtfd* für ben Unterd«t an ben ^dberen €*ulen

ju bcrwerren?

3ab.rgang 1884.

Wt I. *orn in Drfoö, bie «atbematit in ben 8el>rerbtlbung«anftalten. II. 3<Kig, ein neuer SBerfud», bie »äbagogif al« JBtfienjcJjaft &u populariffereu. ID. Dr. S. »ubinftein, Über Soiaru« „Beben ber Seele." - 8. « Stiel. SrÄttoroHonen

au« ber matbcmattfcbfii Weoaratiliif IV. Dr. 3ufl, jur «infü^rung in 8»0*t« ötwr.

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A. Abhandlungen. L

Rembrandt als Erzieher.

Besprochen von W. Rein in Jena.

Ein sonderbares Buch; anziehend und abstofsend, aufregend und abspannend, fesselnd und ermüdend. Durch und durch sub- jektiv, formlos, maniriert, reich an phantastischen Gebilden, voll paradoxer, verwegener, übertriebener Urteile, daher oft Anlafs gebend zu allerhand Ärgernissen. Dabei in nicht wenigen Partieen überzeugend, beinahe hinreifsend , dicht daneben Darstellungen, aus denen man den Ton einer geistvoll geschriebenen Bierzeitung zu hören meint. In einem nervösen Zeitalter geboren predigt es zwar Ruhe, macht aber den Leser selbst nervös, sobald derselbe versucht, mehrere Seiten nach einander zu lesen. Das Buch kann nur in homöopathischen Dosen genofsen werden ; sonst sättigt es den Menschen in einer Weise, dafs Überdrufs, ja beinahe Ekel sich einstellt. Ist es die Fülle der Gedanken vielleicht, die ein längeres Verweilen schwächlichen Geistern verbietet ? Oder #ist Stil und Deduktion so gekünstelt, dafs selbst stärkere Naturen sich abgestofsen fühlen? Though this be madness, yet there is method in it, kann man mit Polonius sagen. Und diese Methode ist aufreibend. Nicht jeder kann das fortwährende Zerren an seinen Gefühlen bald hierin, bald dorthin vertragen, nicht jeder mag die Sprünge vom Hundertsten ins Tausendste längere Zeit mitmachen. Dazu reicht bei vielen Atem und Spannkraft der Muskeln nicht aus. Dann ist die Verdammnis nahe : Ungeniefs- bares Zeug; weg damit. Was gut ist in dem Buch, ist schon gesagt, und besser. Also schweigen wir lieber.

*) Leipzig, Hirschfeldt 1890. 19. Auflage.

Pädagogische Studien. I. J

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Andere aber schweigen nicht, sondern verkünden laut, wie sehr sie sich abgestofsen fühlen durch schroftc Urteile, durch die grelle Beleuchtung, unter welche so vieles gerückt erscheint. Der gläubige Katholik fühlt sich verletzt durch die Verherrlichung Luthers und verschreit das Buch als ein Werk des Antichrists. Der orthodoxe Protestant ereifert sich an der Zeichnung des grofsen Nazareners. Der Professor, dessen Weg übrigens (nach einem Zitat) mit Gemeinheit gepflastert sein soll, steht der Emporhebung des Künstlers mindestens skeptisch gegenüber ; der moderne Künstler aber stöfst sich an der Verdunkelung seiner Sterne, Piloty, Makart u. a. ; der Amerikaner ärgert sich an der wegwerfenden Art, womit die gesamte amerikanische Bildung betrachtet wird; Holländer und Däne schrecken gleichmäfsig vor den Umarmungen des Pangermancn, der von den vereinigten deutschen Staaten träumt, zurück; der Preufse, besonders der Berliner, wie auch der Venetianer, werden sich höflichst bedanken, aber die Urteile des Verfassers als einseitig zurückweisen kurz, wer bleibt denn übrig, dem das Buch, welches so viele wunde Punkte aufreifst und so viele schmerzende Stellen zurückläfst, un- bedingtes Wohlgefallen einflöfst?

Aber darauf hat es der unbekannte Verfasser gewifs auch gar nicht abgesehen. Wo scharfe Pfeile treffen, pflegen Schmcrzens- schreie zu ertönen. Wo der Finger in offene Wunden gelegt wird, stellen sich keine Lustgefühle ein. Wegwerfenden und gänzlich absprechenden Urteilen gegenüber würde der Verfasser wahrscheinlich ruhig lächelnd auf die 19. Auflage zeigen. Er hat den Erfolg für sich. Was das bedeutet, weifs man ja in unsrer Zeit zur Genüge, und in unserem Land, wo man bekanntlich die Bücher zu leihen, nicht zu kaufen pflegt. Doch woher der Erfolg? Das Werk ist allerdings sehr billig; beinahe 20 Bogen in guter Ausstattung für 2 Mark ! Aber die Billigkeit allein dürfte den Erfolg kaum rechtfertigen: oder wäre der geistige Verfall unseres Volkes bereits so weit vorgeschritten, dafs es seine Bücher nach der Elle kaufte? Eher schon könnte man annehmen, dals die glänzende Darstellungsweise, der vornehme, pikante, oft epi- grammatische Stil, das lebhafte Kolorit der Sprache die Käufer anzo^. Aber auch die blendende Form dürfte kein ausreichender Grund sein; es sei denn, dafs unser Volk schon daran gewöhnt wäre, an der glänzenden Aufsenseite sichs genug sein zu lassen. Nun, dann sind es vielleicht die grundgescheiten Gedanken, die feinen Beobachtungen, die grofse Belesenheit und die merkwürdige Besehenheit des Verfassers, welche das Publikum zum Kauf an- regte? Vielleicht auch der pikante Titel, der einen Künstler als Erzieher empfiehlt, welchen man bislang von dieser Seite her noch nicht kennen gelernt hatte? Oder gereichen die überscharfen, schneidigen Urteile, die anerkannte Gröfsen über sich ergehen

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lassen müssen, der lästersüchtigen Masse zu besonderer Freude? Dies alles mag mitgewirkt haben aber erklärlich wird die Thatsache dadurch nicht. Das Buch mufs einen besonderen Kitt an sich tragen. Und so ist es. Dieser Kitt ist das Blut. Das will sagen, dafs die nationale Begeisterung des Verfassers, die vielleicht nicht frei von Überspanntheit ist, nationalen In- stinkten und Unterströmungen Ausdruck giebt, welche das Volk tiefer bewegen, als die glatte Oberfläche ahnen läfst. Und weiter will es sagen, dafs das Gefühl der Unzufriedenheit, ein dunkler Drang nach Änderung, verbunden mit der klaren Überzeugung von der Hohlheit manches Bestehenden nach Deklamationen zu greifen auffordert, die den Ausblick auf ein neues glücklicheres Dasein eröffnen. Der mystische Zug, der das Buch durchströmt, trifft auf verwandte Stimmungen in der Volksseele. Die gesell- schaftlichen Ideen, welche die Zeit beherrschen, spiegeln sich in dem Werke wieder. In dem Zeitalter sozialer Triebkräfte steht zwar der Individualismus i. a. nicht hoch im Kurs und stark aus- geprägte Persönlichkeiten ecken genugsam an, aber sie werden auch, falls sie nur Grofses leisten, auch grofsartig geehrt, oft mehr, als nötig, so dafs, wenn es so weiter geht, im Reich bald ganze Alleen von Bildsäulen berühmter Männer ihre Schatten werfen. Auch der Verfasser beugt sich willig vor den Gröfsen in Harmonie mit dem Zeitgeist, der wiederum Gedanken an ein kommendes künstlerisches Zeitalter starke Sympathicen entgegen bringt. Sollte allerdings die letzte Münchener Kunstausstellung als ein Vorläufer desselben sich vorstellen, so dürfte ein Gebet nicht als Lästerung erscheinen, welches in dem Wunsche gipfelt, mit Blindheit geschlagen zu sein, wie Piglheims glückliche Blinde, die sich durch das blühende Mohnfeld tastet, ahnungslos, welch' schreiende Pracht sie umgiebt.

Doch der Erfolg des Buches? Wir leiten denselben, kurz gesagt, im wesentlichen davon ab, dafs es trotz aller Mängel, die ihm anhaften, Gedanken und Stimmungen Ausdruck giebt, welche die heutige Gesellschaft bewegen. Man darf sich nicht, wundern, dafs ein Erzeugnis, welches die ausgeprägtesten Züge der Gegenwart an sich trägt und in ganz bewufster Weise ihnen Ausdruck giebt, so günstige Aufnahme bei ihr findet.

Betrachten wir zunächst das Äufsere, die Form. Das Inhalts- verzeichnis ist allein schon geeignet, gelinden Schwindel zu erregen. So ziemlich alles, was zwischen Himmel und Erde sich bewegt, er- scheint hier wohl oder übel zusammengepackt : Mystik, Akustik, höchste Mathematik, Politik, Historik, Musik, Taktik berührt sich mit Individualismus, Archaismus, Bildungsaristokratismus, Spezialismus, Hypnotismus, Spiritismus und dieses wieder mit Abschnitten, die in buntem Wechsel darbieten : Musikalisches, Christliches, Platt- deutsches, Urprcufsisches, Klassisches, Japanisches, Nordwestliches,

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Deutsch-griechisches, Südnördliches, Helldunkles, Zimbrisches, Er- zieherisches, Physiognomisches, Männliches und Weibliches. Be- sondere Besprechung erfahren Rembrandt, Winkelmann, Zola, Darwin, Kepler, Ihering, Dubois-Reymond, Mommsen, Leonardo, Wagner sowie die Paare : Bild und Buchstabe, Musen und Museen, Künstler und Professor, Schiller und Preufsen, Goethe und Kotze- bue, Berlin und Nordamerika, Deutschland und Berlin, Rembrandt und Berlin, Holland und Preufsen, Symmetrie und Rythmus, Shak- speare und Rembrandt, Luther und Lessing, Lessing und Rem- brandt, Luther und Goethe, Propheten und Professoren, Luther und Erasmus, Epigonen und Progonen, Faust und Hamlet, Kunst und Preufsentum, Athene und Brunhild, Bau und Musik, Kaiser- tum und Christentum, Holland und Griechenland, Mann und Masse, Blut und Gold u. s. w. Nimmt man noch dazu Blutmischung, Achsendrehung, Verholländerung, Abtönung, Zweierlei Holländer, Dreierlei Kunst, Preufsichc Geister, Lichtwirkungen, Volksseele, Hellmalerei, Friede, Genie, der heimliche Kaiser, Körperpflege, Erbfeind, Blut und Wiedergeburt so wird man begreiflich finden, dafs ein gelinder Schrecken den Leser befallt, welcher das Buch aufschlägt. Und die ganze grofse Speisekarte wird in fünf Schüsseln aufgetragen: I. Deutsche Kunst, 2. Deutsche Wissenschaft, 3. Deutsche Politik, 4. Deutsche Bildung, 5. Deutsche Menschheit. /\ber in jeder Schüssel steckt alles; und die Dar- bietung selbst giebt auch die Fünfteilung auf ; abschnittlos wird der Leser von Anfang bis Ende durchgejagt. Warum diese Form- losigkeit? Wo die deutsche Volksseele ganz unbefangen auftritt, sagt der Verfasser, tritt sie formlos auf. Wie bei Goethe die naiv-unrcgelmäfsige Form sich zu einer kunstvoll-unrcgelmäfsigen gestaltet, so will des Verfassers Form, wie es scheint, von innen nach aufsen, nicht von aufsen nach innen sich verdichten.

Und wenn weiter der Verfasser wünscht, dafs die deutsche Bildung etwas weniger Form und etwas mehr Farbe bekäme, und meint, dafs sie mit der Farbe auch Seele bekommen würde, so wünschen wir umgekehrt, sein Buch möge etwas an lebhaftem Kolorit einbüfsen, dafür aber an Form gewinnen. Der Deutsche soll nach dem Verfasser zum Übertreiben geneigt sein, sei es aus Gewissen- haftigkeit, sei es aus Mangel an Sclbstbeschränkung. Dies sei der barbarische Zug in seinem Charakter. Diesen Zug verleugnet auch der Verfasser nicht. Das Buch konnte nur in Deutschland ge- schrieben werden. Die unerläfslichen individuellen Vorbedingungen zu jedem geistigen Prozess treffen vollkommen zu ; und doch ist das Ganze mehr geistreich als wahr. Das Individuelle wird hier zu einer formellen Übertreibung, so dafs etwas weniger innere Wärme und etwas mehr Lessingsche Kälte dem Ganzen nur nützen könnte. Und zwar schon bei dem Index. Doch wollen wir nicht zu viel aus dem Verzeichnis folgern. Es hiese sonst

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vielleicht : sapiunt ex indicibus, d. h. ich hätte meine Weisheit aus dem Register und nicht aus dem Buch selbst.

Aber wie der index schon vielfache Wiederholungen aufweist, so noch mehr die Ausführung. Was man dem gesprochenen Worte verzeiht, sieht man dem gedruckten nicht nach. So er- wünscht die Wiederholung bei der Rede sein mag, um bestimmte Gedanken recht nachdrücklich in die Vorstellungswelt der Hörer hinein zu drücken und die dazu gehörigen Nervenbahnen recht gehörig auszufahren, so lästig wirkt in dem Buche die Wieder- holung. Und dabei setzt sich der oft vorgetragene Gedanke noch nicht einmal fest, da er in immer neuer Beleuchtung gesehen, von so viel mitschwingenden Vorstellungen begleitet wird, dafs schliefslich ein magisches Helldunkel entsteht, welches den Bildern einen gewissen Reiz verleiht, den Köpfen aber höchst gefährlich ist. So würde Rembrandt, der Meister des Helldunkels in der Farbe, als Erzieher in den Händen des Verfassers nur zur Warnung dienen. Der Gesamteindruck des Buches wird für die meisten Leser kein andrer sein können. Die Masse der Farben, die der Verfasser aus seinem Pinsel hinwirft, sind nicht kunstvoll abgetönt, wie es Rembrandt in seinen Bildern so meisterhaft zeigt; sie sind nicht konzentriert und unter scharfer Beleuchtung zu stimmungsvoller Gesamtwirkung vereinigt, wie es der grofse Niederländer versteht. Die Palette des Verfassers ist so reich, wie die des Holländers; aber er bleibt an dem Farbenbrett hängen, während letzterer daraus sein Kunstwerk gestaltet. Und endlich so formlos das Ganze erscheint, so ist es doch zugleich so stark maniriert. dafs es die Verspottung geradezu herausfordert. Sie ist ja auch nicht ausgeblieben. Besonders hervorstechende Merkmale des Stils sind die oft wiederkehrenden Wortspiele und Etymologien, welche die Lachmuskeln erregen und öfters kaum ernst zu nehmen sind, das Aneinanderreihen berühmter Namen wie das Aufreihen edler Perlen an einer Schnur und vor allem die Einführung Rembrandts gerade da, wo man nicht an ihn denkt. E^s erinnert dies an den Hanswurst im Volkstheater, der wie ein deus ex machina immer da erscheint, wo er am wenigsten er- wartet wird. Schopenhauer sagt einmal, dafs eine gefafste Hypo- these Luxaugen verschaffe für alles, was etwa zu ihr passen könnte. Das trifft ohne Zweifel auf unsern Verfasser zu. Denn es grenzt beinahe ans Wunderbare, welche Gedankenbeziehungen die Hypothese »Rembrandt, der Erzieher des deutschen Volkes« in ihm wachgerufen, welche Assoziationen dadurch veranlafst, wie seine ganze Vorstellungswelt in dieser Idee ihren Hauptknoten- punkt findet.

So wäre also doch ein Mittelpunkt vorhanden; das zerstreute Licht wäre an einer Stelle vereinigt, von wo wie in Rembrandts

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Meisterwerken die Lichtwirkungen und Reflexe bis in die zartesten Abtönungen hinein wirken ?

Dies nötigt uns nun, dem Inhalt des Buches unsere Auf- merksamkeit zu schenken. Dabei lassen wir die Hypothese, aut welcher das Ganze beruht, einstweilen aus dem Auge ; sie möge auf ihre Zuverlässigkeit, Möglichkeit und Brauchbarkeit hin am Schlüsse kurz berührt werden.

Wo von Erziehung die Rede ist, da wird man immer an das Streben, ein Besserwerden hervorzurufen, denken. Und wirklich fafst der Verfasser nicht nur das Besserwerden einzelner Indivi- duen ins Auge ; nein er will wie Fichte eine Umänderung der Nation vornehmen, nur allein von innen heraus, nicht durch die Allgewalt des Staates. An diesen glaubt der Verfasser in Wahrheit nicht; er wendet sich an weniger greifbare, aber darum nicht minder wirksame Mächte ; an die tiefen Unterströmungen, welche die Ge- sellschaft durchfluten und ihre Entwicklung bestimmen.

Wer aber bessern will, mufs vor allem die vorhandenen Zu- stände deutlich vor Augen haben. Hier liegt nun die Gefahr nahe, dafs der Weltverbesserer nicht klaren Blickes dieselben mustert, sondern durch eine schwarz gefärbte Brille sieht. Und unser Verfasser, der bebrillte Augen nicht leiden mag, greift selbst dazu. So wird der Hintergrund seines Gemäldes ein aufser- ordentlich düsterer, von dem sich dann das Gerüst mit den Figuren, welche die Heilmittel verkaufen, allerdings wirkungsvoll abhebt - aber auf Kosten der Wahrheit.

Denn welches Gemälde der gegenwärtigen Kulturzustände in Deutschland entwirft er? In seinem Gehirn spiegeln sich die- selben in folgenden Zügen: Die heutigen Deutschen stehen unter dem Einflufs einer falschen Kultur, das militärische und politische Leben ausgenommen. Das geistige Leben ist dem Verfall preis- gegeben. Die Wissenschaft ist ohne schöpferische Kraft und Herz, verknöchert in Doktrinarismus und Spezialismus. In der Kunst macht sich ein Plebejertum als Brutalismus geltend. Überall Mangel an epochemachenden Individualitäten. Keine Architektur, keine Philosophie. Der Begriff und die Bcthätigung echter Vornehmheit fehlt durchgängig. Und dieser Mangel ist ein wesentlicher, denn er schliefst den eines feineren geistigen Lebens in sich. Reiner Wein und reine Bildung sind jetzt in Deutschland selten ge- worden. Das Denken ist durchweg spezialistisch und das Fühlen durchweg materiell Die heutige deutsche Bildung wendet sich an den Verstand; sie ist seelenlos; zentralistisch und international, verstandesmäfsig und gelehrt, antiindividuell, darum römisch. Die Deutschen als Volk genommen, sind stark ; aber wohlerzogen nur teilweise und fein noch weniger. Denn ihre Bildung ist unecht, und das Unechte ist nie fein. Der geistige und gemütliche Ge- halt der jetzigen deutschen Gesellschaft ist bedeutend zurück ge-

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gangen ; sie hat sich veräufserlicht ; man verlangt materiell weit mehr und leistet ideell weit weniger als noch vor 40 Jahren ; Fach- gespräche, Vergnügungssucht, mündlich ausgetauschte Zeitungs- lektüre überwiegen. Das Plebejcrtum ist obenan ; es äufsert sich in der Kunst als Brutalismus, in der Wissenschaft als Spezialis- mus, in der Politik als Demokratismus, in der Bildung als Doktri- narismus, gegenüber der Menschheit aber als Pharisäismus.

Dieser Verfall des deutschen Lebens schreibt sich her vom Jahr 1870. Der gewünschte, erwartete geistige Aufschwung trat nicht ein. Dies erklärt sich teilweise aus dem belastenden Druck, den eine lediglich nach Aufsen gerichtete Thätigkeit stets auf das Innere eines Menschen oder Volkes ausüben mufs. Das periklcische Zeitalter begann 50 Jahre nach der Schlacht bei Marathon; so lange wird auch Deutschland warten müssen, ehe es einer neuen Hochblüte des Geisteslebens entgegen sehen kann. Inzwischen gilt es, den Boden dafür frei zu machen. Jetzt ist die Zeit der Pflugschar ; die Ernte kommt später.

So schwarz also der Verfasser die gegenwärtigen Zustände schildert, so hält er sie doch nicht für hoffnungslos. Nein; das moderne deutsche Geistesleben hat sich noch lange nicht aus- gelebt. Aus der geistigen Mifs Wirtschaft mufs und wird das heutige Deutschland herauskommen. Und woher die Hülfe? Aus sich selbst. Auf die eigenen Urkräfte mufs zurückgegriffen werden. Die zer- stückelte moderne Bildung mufs sich wieder zum Ganzen abrunden; Gliederung, nicht Zergliederung, mufs die Losung der kommenden Zeit sein. Individuell in der Kunst, organisch in der Wissenschaft, rythmisch in der Politik soll sich das Leben des deutschen Volkes entfalten. Die jetzige deutsche Bildung bedarf einer Wiedergeburt ; Wiedergeburt kann nur stattfinden nach den Prinzipien der Geburt und diese nur nach den Prinzipien der Persönlichkeit. So kann die sinkende Bildung wieder zu einer steigenden werden.

Die Bessern in der Nation blicken auch bereits nach neuen Zielen aus, oder da es sich um Persönlichkeiten handelt, nach neuen Führern. Dante, dem Dichter der Hölle, würde das hastige und hitzige Treiben unserer Gegenwart als ein treffliches Mittel zur Veranschaulichung infernaler Zustände gedient haben. Verglich er doch einst das Treiben seiner Unterweltsgeister mit demjenigen der zahllosen Arbeitermassen im Arsenal von Venedig. Er be- leuchtet dadurch die soziale Frage von heute mit dem Lichte der Hölle. Aber wie Dante durch die dunkeln und glühenden Tiefen des Jenseits nur mit Hülfe eines kundigen Führers, des einge- borenen Vertreters einer angeerbten Bildung, Vergils sich durch- fand, so soll sich der heutige Deutsche durch den Schwall und Drang und Dampf einer falschen Bildung hindurcharbeiten unter der Führung eines künstlerischen Bildungsträgers. Und der sei Rembrandt.

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Will sich der Deutsche dem geistigen Elend der Gegenwart entziehen, so bieten sich ihm als Heilmittel an: Bescheidenheit, Einsamkeit, Ruhe, Individualismus, Anstokratismus, Kunst all dies ist in Rembrandt verkörpert. Nicht ohne Kampf lassen sich die genannten Güter erringen; insbesondere werden Kunst und Wissenschaft sich darüber auseinandersetzen müssen, welcher von ihnen die Herrschaft im deutschen Geistesleben zukommt.

Dem Verfasser ist dies in keiner Weise zweifelhaft. Wie ein roter Faden zieht sich durch das ganze Buch der Gedanke : Das wissenschaftliche Zeitalter ist vorüber, jetzt kommt das künst- lerische; der Professor hat abgewirtschaftet, jetzt erscheint der Künstler ; das papierne Zeitalter ist dahin, jetzt Rückkehr zur Farbe, zur Einheit, zur Freiheit, zur künstlerischen Weltanschauung. Das Volk der Forscher soll sich verwandeln in ein Volk der Künstler. Die Überlegenheit künstlerischer Bildung über gelehrte ist offenkundig. Der Künstler steht dem Herzen des Volks weit näher als der Gelehrte und darum vermag er weit erzieherischer auf das Volk einzuwirken, als der Gelehrte. Der Künstler ist Mensch, der Gelehrte eine Mumie. Die kulturhistorische Ent- wicklung durchläuft nach des Verfassers Meinung drei Stadien : Aus der Vogelperspektive des 18. Jahrhunderts ist eine Frosch- perspektive geworden; aus dieser soll sich die menschliche Per- spektive entwickeln. Idealismus, Spezialismus, Individualismus be- zeichnen den Fortschritt.

Und noch in anderen Wendungen kehrt bei dem Verfasser der Dreischritt wieder : Naives Zeitalter, wissenschaftlich-bewufstes, künstlerisches oder naiv bewufstes. Oder: Ritterzeit, Professoren- zeit, Menschenzeit. Der Deutsche hat sich militarisiert; er mufs sich nun auch zivilisieren. Das deutsche Volk soll eine schöne Familie bilden, die den höheren menschlichen Interessen dient. Das Menschliche gehört überall an die Spitze, sonst ist die Kultur nicht frei.

Die Aufgaben, welche der Verfasser der modernen Erziehung stellt, sind damit i. a. umschrieben, aber keineswegs erschöpft. An mehreren Stellen werden dieselben noch genauer formuliert.

Der Erzieher hat einen dem katholisch-kirchlichen advocatus diaboli entgegengesetzten Beruf; er ist der Anwalt der bessern Natur im Menschen. Dies gilt vom Volkserzieher so gut wie vom Einzelerziehcr. Die eigentliche Aufgabe aller Erziehung soll sein , den Menschen dasjenige mit vollem Bewufstsein und möglichster Überlegung thun zu lehren, wozu das Beste und Eigenste und Tiefste seiner Natur ihn ohnehin schon instinktiv treibt. Individualismus und Anschauung gehören hierzu; dies darum das nächste Ziel, das der Erziehung vorschweben mufs. Will man die deutsche Bildung auffinden, so hat man den Spuren der Geschichte, wie des Volkscharakters zu folgen. Das-

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jenige Volk hat den gröfsten Vorteil über die andern, welches aus seiner eigenen Vergangenheit am meisten lernt. Wie aber Selbsterziehung die beste Erziehung ist, so ist auch die Erziehung, welche ein Volk sich selbst durch seine grofsen Männer ange- deihen läfst, die beste Volkserziehung. Die Wissenschaft fuhrt in ihrem letzten Grund auf den Menschen: der Mensch auf das Sittliche. Christus ist der reine Mensch. Das Christentum prak- tisch ins tägliche Leben zu übertragen, wird immer eine Haupt- aufgabe des Deutschen bleiben. Und das deutsche Volk wird beim Christentum beharren müssen, so lange es keine bessere Grundlage für sein geistiges Dasein besitzt. Bis jetzt ist dies nicht der Fall. In Christus hat sich die Natürlichkeit zu völliger Selbst- losigkeit und die Vornehmheit zu völliger Erhabenheit gesteigert. In dem persönlichen Charakter, in dem persönlichen Wollen, in der persönlichen Leistung Christi liegt der Schwerpunkt. Also auch hier entscheidet die Persönlichkeit, die Individualität. Die Stellung, die der einzelne zu Christus einnimmt, ist der Prüfsteiin für seinen Menschenwert, für seinen Charakter. Die Bildung des Charakters aber steht im Vordergrund. Gesundheitspflege, Kunstpflege, Charakterpflege sind die drei Gebiete, auf denen sich die innere Entwicklung des künftigen deutschen Reichs zu voll- ziehen hat. In dem Charakter ist das Sittliche das Herrschende. Wenn die geschichtliche deutsche Vergangenheit die Bildungs- schule für die Zukunft sein soll, mufs das ethische Moment offen an die Spitze gestellt werden.

So willig wir diesen Gedanken folgen, so wiederspruchsvoll scheint uns die Zuspitzung derselben, das ideale Heilmittel in einem Künstler, in Rembrandt, zu suchen. Die Kultur des Schönen soll die Rettung bringen, während die Liebhaber des Schönen so- wohl im Denken als Handeln nicht selten durch den Geist der Frivolität. Oberflächlichkeit und Spielerei sich hervorthun? Und Rembrandt selbst?

Doch lassen wir dies noch; denn ehe wir verstehen, wie der Verfasser dazu gekommen, gerade ihn an die Spitze seines Reform- planes zu stellen, ist es notwendig, die treibenden Gedanken des Ganzen in noch schärleres Licht zu rücken.

Das gröfste Problem der Gegenwart ist nach dem Verfasser, den so gewaltig klaffenden Rifs zwischen Gebildeten und Un- gebildeten zu überbrücken. Damit berührt er die soziale Frage. Mittelst der bisherigen Bildung lasse sich dieselbe nicht lösen. Nur wenn der Volksboden seine schöpferischen Tiefen aufthue, könne neues geistiges Leben in Deutschland erblühen. Nur von unten nach oben kann gebaut werden, nur von innen nach aufsen. Vorschriften, Versuche, Muster von aufsen her helfen zu nichts ; nur aus der Erde kann ein Baum entwachsen. An den Geist der deutschen Erde mufs sich die neue Bildungsepoche halten. Das

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ist das mystische Element in ihr. Dies aber ist notwendig; denn das, was man Intuition nennt, ist für die höchsten wissenschaft- lichen Leistungen nicht nur förderlich, sondern sogar unentbehrlich. Was der Spezialismus getrennt hat, kann der Mystizismus wieder verbinden. Die deutsche Wissenschaft hat das innere Schauen zu sehr vernachlässigt; sie mufs sich demselben wieder nähern.

Und ebenso kann die Kunst des mystischen Elements nicht entbehren. Eine auf äufsere wie innere Anschauung gegründete Bildung ist die beste Volkserziehung. Anschauung steht höher als Erkenntnis; aller Glaube ist innere Anschauung. Die konkrete und die abstrakte Geistesthätigkeit des Menschen kreuzen sich in einem Punkt, in der Kunst. Religion ist Kunst, der höchste, innerlichste Grad von Kunst. Jede schöpferische Bildung ist eine künstlerische. Diese dem Erdboden entstammende Kraft ist die höchste irdische Kraft, die es giebt. Darum mufs der Kunst der erste Platz innerhalb des deutschen Geisteslebens zugeschrieben werden. Die Künstler sind die Propheten, die Vertreter einer Herzensbildung gegenüber den Gelehrten, welche einer blofsen Verstandesbildung huldigen. Was innerlich ersten Ranges ist, hat auch äufserlich den Ton anzugeben, das deutsche Herz. Nur eine Bildung und eine Kunst, welche das deutsche Herz als höchste Autorität anerkennt, kann dem innern Leben der Deutschen eine glückliche Zukunft verbürgen. Hier ist der Puls des geistigen Lebens.

Also zurückgehen, zurückgreifen auf die eigenen Urkräfte. Die tiefste Seite des deutschen Wesens ist aber der Individualis- mus. Das eigentlich Dauernde im Leben eines Volkes sind nur die festen wiederkehrenden Züge seiner Individualität. Man wird am ehesten auf das Volk erziehlich einwirken, wenn man ihm die einzelnen Züge seiner Individualität selbst vorhält. Das oberste aller Gebote heifst für den Erzieher: individualisieren. Deshalb müssen auch für die verschiedenen Lebensalter eines Volks oder der Menschheit verschiedene Erzieher und verschiedene Erziehungs- methoden gefordert werden. Dafs jeder nach seiner Weise selig werden soll, ist ein echt deutscher Grundsatz ; er fafst kurz und gut den Grundzug alles deutschen Wesens zusammen, den Individua- lismus. Individualität haben, heifst Seele haben. Die Individualität eines Menschen ist seine Seele; hier ist der springende Punkt, von dem alle künstlerischen Bestrebungen ausgehen müssen. Denn die Bedeutung aller Kunst liegt im Persönlichen. Die Deutschen sind das vorzugsweise individuelle Volk: aber der Gang der mo- dernen Bildung hat die individuellen Züge verwischt, darum ist die gesamte Bildung verbogen und herabgezogen. Losungswort: Rückkehr zum Individualismus.

Und der Führer auf diesem Wege kann kein anderer sein als der Künstler, welcher die ausgeprägteste Individualität besitzt.

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Das ist Rembrandt. Darum ist er das Ideal für die nächste Zeit, für das gesamte deutsche Geistesleben der Gegenwart. Aber es kann sich dabei nicht etwa um Nachahmung seiner Kunstübung handeln , sondern um prinzipielle Nachahmung seiner Kunst- gesinnung. Sein Vorbild bedeutet Rückkehr zur Natürlichkeit, zur Bescheidenheit, zu nationaler Individualität und Volkstümlichkeit, zu künstlerischer Ausbildung des ganzen Lebens und der Wissen- schaft. Rembrandt ist Mystiker, subjektiv, individuell und frei. Er hat alles, was den Deutschen jetzt fehlt. Er ist auch eine antiphilologtsche Erscheinung; daher für überphilologische Aus- schweifungen recht zu empfehlen als ein wirksames Gegenmittel. So wird er zum Erzieher der Erzieher. Caesar non est supra grammaticos aber Rembrandt soll es entschieden sein. Lessing war der Sturmvogel der kritischen und litterarischen Periode, in der wir uns noch befinden; Goethe ist der Sturmvogel der pro- duzierenden und künstlerischen Periode, der wir entgegen gehen. Und das Muster für sie bleibt Rembrandt.

In ihm kommt der Geist der höchsten Individualität zur Er- scheinung; er bedeutet den höchsten und reinsten, freiesten und feinsten Ausdruck des volkstümlichen deutschen Geistes. Soll derselbe sich wieder auf sich besinnen, so mufs er auf denjenigen Künstler schauen, in dem auf allerschärfste Weise die künstlerischen Tugenden ausgeprägt erscheinen, welchen der Deutsche der Zu- kunft nachstreben soll.

Nun wird niemand leugnen, dafs Rembrandt eine ungemein ausgeprägte Künstlereinscheinung ist; ob aber von solcher Be- deutung, wie der Verfasser sie ihm beilegt dies ist mindestens zweifelhaft. Die Würdigung Rembrandts durch den Verfasser ist vielfach neu und überraschend; stets geistvoll und von glühender Begeisterung für den Künstler getragen, hervorgegangen aus ge- nauester Kenntnis seiner Werke, verbunden mit feinstem Ver- ständnis für das Wesen der Kunst. Die begeisterten Rembrandt- darlegungen haben gewifs viele veranlafst, die Werke des Künstlers eingehend zu studieren. Ein grofser Erfolg. In der Rembrandt- Litteratur wird demnach für die vorliegende Schrift immer ein ehrenvoller Platz gesichert sein. Ob aber darüber hinaus? Die gesunden Gedanken sind vielfach so eingewickelt, so übertrieben vorgetragen, mit so vielem Entlegenen phantastisch verbunden, dafs es nicht leicht ist, den Kern derselben herauszuschälen.

Was ist das Ergebnis des Ganzen diese Frage drängt sich immer wieder auf. Wo von Erziehung und von Reform derselben die Rede ist, will man mit Recht ein bestimmtes, greifbares Programm. Die geistvollen Wendungen blenden zwar, aber befriedigen nicht auf die Dauer. Allerdings bleibt der Verfasser auch hierin wieder sich selber treu. Ihm ist das Programm der Programmlosigkeit künstlerisch und politisch das Beste, was es giebt. Er folgt eben

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Cromwells Wort : Der kommt am weitesten, der nicht weifs, wo- hin er geht. Dies scheint ihm eine wahre Leuchte, kein Irrlicht, wie es andern vorkommen könnte. Sein Held ist also Parcival, der reine Thor, der in sich Versunkene, der Unerfahrene, der das stille Heimatsgefühl und den dunkeln mächtigen Trieb in die Ferne noch ungeschieden in sich trägt und aus dem Waldesdüster hinausreitet, er weifs nicht wohin. Das Helldunkel, das ihn um- giebt, bleibt sein ganzes Leben über ihn ausgebreitet, das Hell- dunkel, das so oft sich einstellt, wo Tiefe der Empfindung und äufsere Beschränkung gegenübergestellt wird einer weiten Aussicht in eine Welt voll Pracht und Farbenglanz, von Ereignissen und Thaten. Ihn, den Parcival, müfste der Verfasser folgerichtig an die Spitze stellen; er zeigt den Grundzug des deutschen Wesens am besten, am reinsten. Werdet alle reine Thoren, das mufs das Losungswort der künftigen Deutschen werden. Man braucht nicht zu lachen; die Sache ist ernst genug. Wäre die Mehrzahl des Volkes auf dem Wege ihr Bildungs- Ideal in raffinierten Be- rechnungsmaschinen zu sehen, so wäre das angegebene Stichwort am Platz. Ob es freilich etwas helfen würde? Wenn die Un- befangenheit verloren und die Unschuld dahin ist wie will man das Entschwundene zurückrufen, das in dem Augenblick unerbitt- licher Weise dahin sinkt, in dem das Auge für die Dinge dieser Welt aufgethan wird? Welch innerer Widerspruch: Ein ebenso berechnender, als bewufst vorgehender Schriftsteller will sein Volk zur Unbefangenheit zurückführen, dabei aber selbst nicht wissen, wohin der Weg führt!

Doch eine tiefgehende Anregung zum Nachdenken über Ziele und Wege der Volks- wie der Einzelerziehung gegeben zu haben, dies Verdienst wird niemand dem unbekannten Verfasser ab- sprechen wollen. Manches Positive, was er bringt, ist übrigens schon Besitz der neueren Erziehungswissenschaft: die Betonung der Gesundheit auf physischem und geistigem Gebiet; die Pflege der Individualität und das Hochhalten des Persönlichen; die Sorge für die künstlerische Erfassung des Lebens; das Entgegenwirken gegen den übertriebenen Wissenskultus und gegen alles trockene Registrieren und Spezialisieren; das Hervorheben der Gemüts- bildung gegenüber der rein verstandesmäfsigen Auffassung; der Fortschritt vom Konkreten zum Abstrakten und von hier aus wieder das Herabsteigen zum Einzelnen, und anderes.

Dafs dies alles aber auch einmal von einem Laien sub specie aeterni vorgetragen wird, in einer ohne Zweifel geistvollen Art, kann gewifs nur willkommen geheifsen werden. Fast möchte man im Interesse der Sache wünschen, dafs die Darstellung weniger bestechend wirkte; denn überraschende Einfälle, treffende Zitate, Bilder, reiche Vergleiche jagen einander förmlich. Die Belesenheit des Verfassers ist eine ungemein grofse, seine künstlerische An-

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schauung eine umfassende und durchweg selbständige ; seine wissen- schaftliche Bildung anfechtbar, wohl reich und vielseitig, aber nicht auf strengem Wahrheitssinn beruhend. Venedig, eine deutsche Kolonie, diese Darlegung ist z. B. ein wahres Nest von Phantasterei! Überhaupt ist der Enthusiasmus des Verfassers grofs. Der Deutsche beherrscht nach ihm als Aristokrat bereits Europa; als Demokrat Amerika, es wird nicht lange dauern, bis er als Mensch die Welt beherrscht. Denn der Deutsche schickt sich jetzt wieder einmal an, Epoche zu machen unter dem Wahlspruch : Sei Mensch.

Dieser deutefzweifellos auf den Einflufs Goethes hin, wie die Entstehung des Buches überhaupt mit innerer Wahrscheinlichkeit auf eine Anregung Goethes, der eine kurze Abhandlung, Rem- brandt als Philosoph, schrieb, zurückzuführen ist. Ja, fast möchte man sagen, dafs der Titel des Buches mit vielleicht gleichem Rechte »Goethe als Erzieher« lauten könnte. Jedenfalls würde er weit weniger Widerspruch erfahren, denn der Künstler Goethe steht zweifellos höher, als der Maler Rembrandt, wenn letzterer vielleicht r.uch dem Geist der Erde näher steht, als der Dichter des Faust, dessen erzieherischer Einflufs unbestritten ein gewaltiger ist, nicht blofs auf den Verfasser des vorliegenden Buches.

Daher wäre vielleicht eine kleine Achsenverschiebung, die der Verfasser ja so sehr liebt, bei seinem Werke am Platz. Ihm sind verschiedene Achsen bekannt, da er verschiedene Gegenpole kennt. Gegenpole sind immer durch eine Achse verbunden. In dem einen Fall heifst die Achse: Philosophie als Kunst. Die Achse der echten deutschen Bildung führt von Bismarck durch Rem- brandt zu Shakespeare. Vom Zenith bis zum Nadir reicht die Weltachse. Der Mensch, als ein aufrechter Bindestrich zwischen Himmel und Erde, ist der Abschnitt einer solchen Weltachse. Die bisherige europäische Bildungsachse reicht von Griechenland bis Niederdeutschland, von Homer bis Shakespeare, von Phidias bis Rembrandt. Die beiden Pole des niederdeutschen Wesens, Kunst und Politik sind in der Ähnlichkeit zwischen Lenbachschen Skizzen des Bismarckkopfcs und Rembrandtschcn Selbstportraits sichtbar- lich durch die Achse der äufscren typischen persönlichen Er- scheinung verbunden. Die Achse der deutschen Bildung mufs nun jetzt eine Wendung vornehmen; sie mufs sich auf die Nord- see richten. Jede grofse Achsenverschiebung im Dasein eines Volkes bedeutet einen Akt der Wiedergeburt. Ein Organismus lebt nur dadurch, dafs er wächst ; und er wächst nur dadurch, dafs er stetig innere Achsenverschiebungen erfahrt. Wenn eine Achse sich verschiebt, so kreuzt sie sich selbst ; so streitet sie mit sich selbst ; daher ist kein Wachstum ohne Ausein- andersetzung des betreffenden Organismus mit sich selbst zu denken. Auf das vorliegende Werk angewendet: Hätte dasfelbe, einem Organismus vergleichbar, insofern es mit jeder neuen Auf-

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läge, wenn nicht äufserlich, so doch innerlich zunehmen konnte, mit jedem neuen Erscheinen eine Achsenverschiebung, d. h. eine Wiedergeburt vorgenommen, so wäre es in einem grofsartigen Wachstum begriffen vielleicht dazu gekommen, die Drehung an Rembrandt vorbei zu einem gewaltigeren Pol zu nehmen.

Denn wie sehr die Hypothese »Rembrandt der Erzieher des deutschen Volkes« anfechtbar ist, braucht nicht gezeigt zu werden. Eine eingehende, vorurteilsfreie Analyse seiner Werke würde dies bald lehren. So wunderbar seine Portraits sind ich erinnere nur an das Bild des Rabbiners im Berliner Museum in seine biblischen Bilder mufs, wenige ausgenommen, erst viel hineingetragen werden, ehe sie so erzieherische Wirkungen von sich geben können, wie der Verfasser meint. Allerdings er- innere ich mich eines tiefen Eindrucks, den ein Christusbild von Rembrandt auf mich machte, und der insofern für mich charakteristisch wurde, als er mir die Kunst der Alten und der Neuesten in hellem Lichte zeigte. Das Rembrandtsche Bild war kleinsten Formats; bequem mit zwei Händen zuzudecken. Der Gekreuzigte, die einzige Figur des Bildes, hob sich wirkungsvoll vom dunkeln Gewölk ab, das hinter dem schräg abfallenden Hügel heraufzog. Keine Effekthascherei; es war, als müfste es so sein; darum der Eindruck überwältigend in Einfachheit und Erhaben- heit des Vorgangs. Die Tiefe der Empfindung, die das Kunst- werk erschuf, geht bald auf den Beschauer über und ruft jene innere Stille hervor, in welcher das wahrhaft Grofse uns unmittel- bar zu berühren scheint: Die Höhe von Golgatha mit dem Ge- kreuzigten ein Wendepunkt in den Geschicken der Menschheit und ein Höhepunkt in der geistigen Entwicklung der Völker. Nie ist in mir das Gefühl von der weltumfassenden Bedeutung dieser Stätte so stark gewesen, als bei der Betrachtung des kleinen Bildes dagegen eine bekannte moderne Darstellung mich bis ins Innerste erkältete. Diese, einige Meter Leinwand einnehmend, zeigt in phantastischer Darstellung, das Kreuz in Wolken gerichtet, wie der Todesengel sich überbeugend dem Gekreuzigten die Seele vom Munde küfst. Hier Dekoration, Effekthascherei, innere Un- wahrheit — dort Wirklichkeit, Wahrheit, Leben, ein Stück von der Seele des Künstlers. Da fühlen wir in der That, wie sein Blick auf das Ganze der Welt gerichtet ist, wie er Himmel und Erde, den Menschen und die Landschaft, das Leblose und das Lebendige in gleichem Mafse umfafste.

Und so hätte der Verfasser doch Recht? Ja und nein. Immer wieder empfangen wir dieselben Eindrücke. Es geht uns mit dem Buch, wie mit manchen Personen. Einmal fühlen wir uns von ihnen aufs stärkste angezogen, das andremal können wir nur mit Abneigung, ja mit geheimen Ingrimm ihrer denken, ohne uns des Grundes recht bewufst zu sein. Das eine Mal hören wir in dem

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Werke die Stimme eines Weisen, das andere Mal will es uns scheinen, als spräche ein nicht ganz Nüchterner zu uns und es überkommen uns Gefühle ähnlich wie im Schlosse zu Herrn- chiemsee, wo der Gehirnzwirn des unglücklichen Königs an Wänden und Decken plastisch in Erscheinung getreten ist.

Nur mit gemischten Gefühlen können wir uns von dem Werke verabschieden. Es übt somit eine ähnliche Wirkung aus wie die Musik Wagners. Und das erscheint nicht wunderbar, weil es aus der Gegenwart geboren, von deutschem Geist getragen, innerlich mit allen bedeutenden Erscheinungen der Gegenwart sich berührt. Sein Leitmotiv ist Rembrandt, der deutscheste der deutschen Künstler. Dieses Leitmotiv kehrt unter den mannigfachsten Variatio- nen wieder ; es klingt überall an, es wird bis zur Ermüdung tot gehetzt. Eine Masse von Tonmitteln ist in Bewegung gesetzt, um den Hörer nicht zur Ruhe, den Leser nicht zum Atmen kommen zu lassen. Beides, Buch und Musik, überreizen die Nerven und reizen zum Widerspruch. Bei beiden hat man den Wunsch: etwas weniger Blech und weniger Getöse, mehr Ruhe, mehr Ein- fachheit, Klarheit und Durchsichtigkeit. Zu viel Kopf und zu wenig Herz wirkt nicht erquickend; aber umgekehrt wirkt zu viel Herz und zu wenig Kopf abschreckend. Die Tumbheit mag im Frühjahr gut sein, aber wir haben doch nicht das ganze Jahr hin- durch den Lenz. -

Mit einem Widerspruch, so scheint es, mufs ich schliefsen. Er erklärt sich aus dem alten Satz : Wo viel Licht, da pflegt auch starker Schatten zu sein, in Personen, in Bildern und in Büchern. Welches von beiden hier vorherrscht; ich will dies nicht ent- scheiden. Das Rembrandtsche Helldunkel umfliefst meine Stim- mung; andere fühlen vielleicht die Lichtwirkung überwiegen, während die dritten im Bewufstsein von den starken Schatten- seiten des Buches nicht fassen können, dai's man sich so eingehend mit ihm beschäftigen und soviel Worte über dasfelbe machen kann. Deshalb ist es Zeit die Feder hinzulegen sonst nimmt man auch noch an dem Rezensenten Ärgernis.

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II.

Sachrechnen.

Von A. Lomberg in Elberfeld. III.*)

Damit ist aber der Kreis der Sachgebiete noch keineswegs abgeschlossen. Es fehlt noch das ganze Gebiet der rein theore- tischen Kenntnisse, der geschichtlichen, geographischen und natur- kundlichen Lehren. Auch diese Dinge haben ein Anrecht darauf, in das Rechnen hereingezogen zu werden. Die Zahlen bringen nämlich die sachlichen Verhältnisse jener Wissensgebiete in schärfere Beleuchtung und vertiefen und läutern die Einsicht. Die Aus- nutzung dieser Stoffe für die Zwecke des Rechnens empfiehlt sich um so mehr, als der gleichzeitige Sachunterricht schon die Klar- stellung des Thatsächlichen bewirkt und das Interesse für die Sache lebhaft geweckt hat. Die sachunterrichtlichen Aufgaben finden also empfänglichen Boden im kindlichen Geiste und be- dürfen, um erfafst, verstanden zu werden, keiner weiteren Er- läuterungen. So entsprechen sie vollauf den Anforderungen, welche an schulgcmäfse Rechenaufgaben zu stellen sind. Das Kind findet sich im Gewände der Aufgaben sofort zurecht, sein Blick bleibt frei und offen und richtet sich gcradeswegs auf das Ziel. Erscheint dagegen die Einkleidung der Zahlen in dunkler Gestalt, so wird die Auffassung des Sachlichen schief und ver- worren sein, Unmut wird rege, der Geist kann sich nicht frei bethätigen und läfst die Flügel fallen, ehe das Ziel erreicht ist.

Es möge uns nunmehr ein Gang durch die verschiedenen sachunterrichtlichen Lehrfächer zeigen, in welcher Weise dieselben sich für das Rechnen ausnutzen lassen, und wie durch die Heran- ziehung derartiger Aulgaben die Zwecke des Sachunterrichts ge- fördert werden. Wir beginnen mit der

Naturkunde.

Sie ist diejenige Disziplin, bei welcher das Rechnen den engsten Anschlufs findet. Die Mathematik bildet ja die formale Seite der Naturwissenschaften. »Zahl, räumliche Gestalt und Be- wegung, diese mathematischen Grundformen, kommen in der That bei allen Naturgegenständen und Naturerscheinungen vor, und diese können nicht scharf und deutlich aufgefafst werden, wenn nicht zugleich gezählt, gemessen und gewogen wird.«**)

*) I. u. II. in Heft IV. 1890.

*•) Zill er, Allgemeine Pädagogik. 2. Aufl. S. 220.

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Auch die Naturgesetze, welche eine Menge gleichartiger Natur- erscheinungen zu einer Einheit zusammenfassen, werden auf Mafs und Zahl zurückgeführt, und in mathematische Formeln gebracht, weil diese den Gesetzen einen weit bestimmteren und übersicht- licheren Ausdruck geben als es die blofsen Worte vermögen. So stehen denn Mathematik und Naturwissenschaften in engstem Zu- sammenhange. Ursprünglich waren sie auch gar nicht als ge- sonderte Betrachtungsweisen vorhanden, wie denn noch jetzt bei jüngeren Kindern die mathematischen Vorstellungen den natur- kundlichen vollständig beigemischt sind und erst allmählich sich von diesen abheben. Es liegt also im Wesen der Sache tief be- gründet, wenn wir das Rechnen an die Naturkunde anzuschliefsen suchen. Herbart sagt in diesem Sinne: »Die mathematischen Studien vom gemeinen Rechnen bis zur höheren Mathematik hinauf müssen sich der Naturkenntnis und hiemit der Er- fahrung anschliefsen, um Eingang in den Gedankenkreis des Zög- lings zu gewinnen. Denn auch der gründlichste mathematische Unterricht zeigt sich als unpädagogisch, sobald er eine abge- sonderte Vorstellungsmasse für sich allein bildet.« Fragen wir zunächst bei der

Physik

an. Wir finden des Stoffes die Menge; denn fast jedem Kapitel läfst sich eine mathematische Betrachtung abgewinnen. Freilich können die Aufgaben immer nur einfacher Art sein, da der physi- kalische Unterricht der Volksschule sich des gelehrten Apparates entschlagen mufs und auf die streng wissenschaftliche Betrachtung nicht eingehen darf. Aber es ist auch nicht nötig, dafs verwickelte Aufgaben gesucht werden ; je einfacher sie sind, ein desto gröfserer Gebrauch kann von ihnen gemacht werden. Zum Rechnen bieten Anlafs: die Wirkungsweise der einfachen Maschinen, die Ein- richtung der aus diesen Maschinen aufgebauten Apparate wie Krämer-, Schnell- und Brückenwage, Flaschenzug, Wasserrad, Schrotleiter, Schraubenpresse, ferner das Kapitel vom spezifischen Gewicht, die Pendelgesetze, die Lehre vom Luftdruck, das Baro- meter, die Geschwindigkeitsgrade der Fortbewegung, die Aus- dehnung der Körper durch die Wärme, die verschiedenen Thcrmo- meterscalen. Wir geben zur Erläuterung einige Beispiele:

1. Eine Last von 100 kg wird von einer Kraft, die 12,5 kg beträgt, im Gleichgewicht gehalten. Wie lang ist der Lastarm, Avenn der Kraftarm eine Länge von 75cm hat?

2. Mittelst eines Flaschenzuges, der in jeder Flasche 3 Rollen hält, soll eine Last von 1200 kg gehoben werden. Welche Kraft ist dazu erforderlich, wenn jede Rolle 6 kg schwer und zur Über- windung der Reibung noch der Kraft, welche der gesamten Last das Gleichgewicht hält, notwendig ist?

Pätla«ogi*cht Studien. I. 2

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3. Eine Landstrafse steigt auf je 100 m Länge um 5 m. Welche Kraft mufs angewendet werden, um eine Last von 3000 kg bergan zu fahren, wenn die Überwindung der Reibung eine Kraft von '/*o der ganzen Last verlangt?

4. Durch den Strom allein wird ein Schiff in der Sekunde 1,5 m weit getrieben, aber der Wind, welcher gegen den Strom geht, hält das Schiff um 0,4 m in der Sekunde zurück. In welcher Zeit legt das Schiff 20 Meilen zurück?

5. Der Brunnen auf der Festung Königstein ist 190 m tief. Wie lange fallt ein Stein, ehe er das Wasser erreicht?

6. Ein Pendel vollendet in 3 Sekunden 4 Schwingungen. Wievielmal so lang ist ein Pendel, welches in 3, i1/, Sekunden eine Schwingung macht?

7. Das spezifische Gewicht des Goldes beträgt 19, das des Kupfers 9. Wieviel wiegt ein Zwanzigmarkstück im Wasser, wenn das Gewicht desselben in der Luft 8 g beträgt?

8. Das spezifische Gewicht des Quecksilbers ist 13,6. Wie hoch ist die Wassersäule, welche dem Druck der atmosphärischen Luft das Gleichgewicht hält?

9. Ein Knabe, dessen Puls in der Minute 80 mal schlug, zählte zwischen Blitz und Donner am Anfange des Gewitters 15,. nach einiger Zeit 5, später 25 Pulsschläge. Welches war in jedem Falle die Entfernung des Gewitters?

10. Wieviel Grad Reaumur sind 30 0 C, und wieviel Grad Celsius sind 30 ü R?

Wie aus allem ersichtlich, erfüllen solche und ähnliche Bei- spiele auf beste den Zweck, die entwickelten Lehren zu illustrieren und einzuüben.

Spärlicher fliefst der Rechenstoff, welcher der

Chemie

zu entnehmen ist. Das hat seinen Grund in der engen Begrenzung,, in welcher in der Volksschule dieser Unterrichtszweig zu halten ist. Immerhin finden sich einige Gelegenheiten, wo das Rechnen mit Erfolg einsetzen kann. Zu rechnerischer Behandlung bieten besonders die chemischen Verbindungen und Mischungen Anlafs. Einige Beispiele mögen dies beweisen:

1 . Die atmosphärische Luft besteht aus 79 °,0 Stickstoff und 21 °/o Sauerstoff. Wieviel von jeder Luftart ist in unserem Schul- zimmer enthalten?

2. Das Schiefspulver ist ein Gemenge von 75 Raumteilen Salpeter, 10 Raumteilen Schwefel und 15 Raumteilen Kohlen. Wieviel von jedem Stoffe sind in 550 kg Pulver enthalten?

3. Glockenmetall besteht gewöhnlich aus 77% Kupfer, 21 °/o Zinn und 2 °/0 Antimon; wieviel von jedem Stoffe enthält die aus französischem Geschützmetall gegossene Kaiserglocke im Dom zu Köln, die 2500kg wiegt?

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4. Die Kupfermünzen bestehen aus 95 *'/0 Kupfer, 4 °/0 Zinn und 1 °/0 Zink, die Nickelmünzen aus 75 °/0 Kupfer und 25 °/0 Nickel; wieviel von jedem Stoffe ist in einem Zweipfennigstück, von denen 3 Stück 10 g, und in einem Zehnpfennigstück, von denen 4 Stück 20g wiegen, enthalten?

5. Durch das Glühen im Kalkofen verliert der kohlensaure Kalk seine Kohlensäure, die n/5{5 seines Gewichts ausmacht. Wieviel gebrannten Kalk erhält man demnach aus 200 kg kohlen- saurem Kalk?

Ergiebig an Rechenstoff ist besonders das Gebiet der

beschreibenden Naturwissenschaften.

Ein naheliegendes Beispiel aus der Botanik, das eine grofse Zahl von Variationen zuläfst, führt Dörpfeld an. Er sagt: »Die Kinder fassen gewöhnlich zuerst nur für diejenigen Pflanzen ein Interesse, welche sich durch ihre farbige Blumenkrone bemerklich machen. An den Dolden, die auch durch ihre steife, sperrige Gestalt sich nicht empfehlen können, gehen sie daher meist teil- nahmlos vorüber. Erst wenn sie auf die Eigentümlichkeit des Blütenstandes aufmerksam gemacht werden, fangen sie an, diese Pflanzen etwas respektvoller anzusehen. Nun mufs aber auch noch die Zahl hinzutreten; denn die Form des Blütenstandes fordert geradezu zum Zählen auf. Da zählt man auf einem Zweige etwa 20 Hauptdoldenstiele, auf einem dieser Stiele etwa 18 Stielchen zweiten Grades, macht also in Summa auf dem einen Zweige (durchschnittlich gerechnet) 20x18 = 360 Blüten. Besitzt nun die Pflanze etwa 8 Zweige, so geben das insgesamt 8 X 360 = 2880 Blüten. Wie reifsen die Kinder die Augen auf, wenn solche Zahlen herauskommen ! « *)

Wir geben noch einige andere Beispiele:

1. Die Tucheier Heide umfafst 16 Forstreviere; in jedem Reviere sind in diesem Jahre (1889) etwa 300 hl Maikäfer ge- sammelt worden. Wieviel Maikäfer wurden in der ganzen Heide zusammengebracht, wenn auf 1 1 450 Käfer zu rechnen sind?

2. Ein Maulwurf mufs täglich im Durchschnitt 20 Engerlinge zu seiner Sättigung haben. Wieviel Engerlinge vertilgt ein Maul- wurf, wenn er vom I. März bis zum 1. November auf dem Felde thätig ist?

3. In dem Nistkästchen eines Stars befinden sich 5 Junge; jedes derselben braucht täglich im Durchschnitt 50 Raupen zu seiner Sättigung. Nun dauert die Fütterung der Jungen rundweg 30 Tage. Wenn nun jede von diesen 7500 Raupen täglich nur eine Blüte abfrifst, um wieviel Früchte würden uns dann jene Raupen in den 30 Tagen bringen?

*i Dörpfeld, Grundlinien zur Theorie eines Lehrplans, Seite $2.

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4. Der Kartoffelkäfer zeichnet sich durch eine ganz ausser- ordentlich starke Vermehrungskraft aus. Jedes Weibchen legt etwa 900 Eier; in 4 Wochen haben sich aus diesen Eiern voll- ständig entwickelte Käfer gebildet. Berechne die Abkömmlinge dieses jungen Geschlechts, und nimm dabei die Hälfte der Käfer als Eierleger an! Berechne weiter auch die Nachkommenschaft des dritten Geschlechts !

5. Die Menge Honig, welche eine Biene bei einem Ausfluge heimbringt, nennt man eine Bienentracht. 240 solcher Bienen- trachten liefern I g Honig. Wieviele Bienentrachten gehen auf ein Liter Honig, welches 1250g wiegt?

6. Die Bienenkönigin legt täglich etwa 1800 Eier. Wieviel Eier legt sie in der Zeit vom 1. Mai bis zum 15. Juni?

7. Der Cocon des Seidenspinners liefert einen Faden, der eine Länge von 800 m hat. 400 solcher Cocons geben ein Kilo- gramm Rohseide. Wie lang wird der Faden sein, der diesem Gewicht entspricht?

8. Man nimmt an, dafs eine Eiche 500 Jahre leben kann. Stellen wir uns vor, dafs sie in dieser Zeit 5omal Früchte trage und jedesmal 500 Eicheln liefere; wieviele Früchte erhielte man dann von dem einen Baume? Jede dieser Eicheln hat die Anlage, wieder ein solcher Baum zu werden. Zu wievtclen Bäumen würde sich nun eine Eiche in der 2. Abstammung vermehren?

9. Die Blutmenge eines Erwachsenen bildet ungefähr den 13. Teil seines Körpergewichts. Berechne darnach die Blutmenge eines Menschen, der 71,500 kg wiegt?

10. In einer Sekunde legt der Mensch im Schritt 1,25 m, ein Schnellläufer 7,1 m zurück. Wieviel mal so grofs ist die Ge- schwindigkeit einer Brieftaube, die in derselben Zeit eine Strecke von 27 m, und die einer Schwalbe, die in einer Sekunde 67 m zurücklegt?

Unserem vorgesetzten Ziele gemäfs haben wir in dem letzthin ausgezogenen Rechenstoff nur die rein theoretische Anschauungs- weise der Natur berührt. Eine andere Betrachtungsweise war in der hergebrachten Unterrichtspraxis nicht üblich. Nun macht sich neuerdings, angeregt durch Ziller und Beyer, eine Reform- bewegung im naturkundlichen Unterrichte geltend. Stärker als alle anderen Methodiker des naturkundlichen Unterrichts haben diese Männer den Gedanken betont, dafs es mit der rein theo- retischen Betrachtung nicht sein Bewenden haben könne, sondern dafs auch umfassende B etrachtungen volkswirtschaftlicher Art aufzutreten hätten. Es liege in diesen das bildendste Moment, die wesentlichste Seite der schulgemäfsen Naturbetrachtung. Beyer hebt in seiner Schrift: »Die Naturwissenschaften in der Erziehungsschule«, den Begriff der Arbeit geradezu als den Grund- begriff des naturkundlichen Unterrichts hervor. Der Unterricht

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solle, so verlangt Beyer, in erster Linie die Beziehungen der Natur zum Menschen klarlegen, er solle Aufschlufs geben über die Mittel und Kräfte, durch welche sich der Mensch die Be- dingungen für seine Existenz und für das Gelingen seiner Thätig- keit verschafft und sichert. Beyer nimmt daher nur solche Ob- jekte in unterrichtliche Behandlung, welche in volkswirtschaftlichem Sinne bedeutungsvoll sind.

Mag in Zukunft auch einiges aus diesen Forderungen ge- strichen werden, so werden wir doch fernerhin d -j m Gedanken volle Beachtung schenken müssen, dafs der naturkundliche Unter- richt mehr als bisher praktisch zu gestalten sei, dafs er insonder- heit volkswirtschaftlichen Belehrungen Spielraum gestatten müsse. Es wird ins Auge gefafst werden müssen, dafs alles das, was das Erwerbsinteresse des Menschen herausfordert und worauf sich darum dessen Mühen und Schaffen richtet, das nächste Anrecht darauf hat, unterrichtlich klar gestellt zu werden. Manche Lieb- linge der seitherigen Praxis werden in Wegfall kommen müssen, um geräumigen Platz demjenigen zu machen, das wegen seiner Bedeutung für die menschliche Arbeit einen gerechtfertigten An- spruch auf unsere Kenntnisnahme hat. Es wird nicht mehr gut- geheifsen werden können, dafs im Unterricht, wie es seither geschah, die Unkräuter des Ackers mehr kultiviert werden als die Nähr- und Nutzpflanzen desfelben.

Doch warum nehmen wir Anlafs, den Ziller-Bey ersehen Reformgedanken ins Licht zu rücken? Wir wollten zu erkennen geben, wie durch die Verwirklichung der uns notwendig erschei- nenden Reform der Gedanke des Sachrechnens eine ungemein grofse Förderung erhält. Voraussetzung für ein fertiges Sachrech- nen ist der Einblick in die sachlichen Verhältnisse der Aufgaben. Die sachlichen Belehrungen dürfen nicht kurzerhand dem Rechen- unterricht zugewiesen werden, denn dieser würde dadurch mit einer Überfracht belastet, die ihn nicht vom Flecke brächte. Die Klarstellung des Sachlichen ist vielmehr zum grofsen Teile Aufgabe des Sachunterrichts. Die Lehrfacher müssen aufeinander Bezug nehmen; denn in der gemeinsamen Arbeit liegt die erhöhte Wirk- samkeit derselben. Es könnten nun die volkswirtschaftlichen Be- lehrungen, die wir bei den Aufgaben über den Haushalt, die Land- wirtschaft, die Handwerke und Gewerbe und das Verkehrswesen angeführt haben, zum grofsen Teile dem naturkundlichen Unter- richt zugewiesen werden. Wir erhielten dadurch eine breite und feste Grundlage, auf dem das Sachrechnen sich mit Erfolg ent- wickeln könnte. Die Hindernisse in der Auffassung würden ver- mieden, der sachliche Inhalt der Aufgaben käme jedem Schüler sofort zur Einsicht, ued das Nachdenken könnte sich ohne weiteres auf das Verhältnis der Zahlen zu einander werfen.

Wie die Sache freilich jetzt steht, kann der Rechenunterricht

vor der Hand noch nicht auf eine solch weitgehende Unterstützung rechnen. Er mufs sich begnügen mit dem, was der Naturunter- richt für das Sachrechnen gegenwärtig leistet, und das ist ja, wie wir gesehen haben, immerhin eine dankenswerte Beihilfe; im Übrigen aber mufs er die noch fehlenden Kenntnisse aus der Volks- wirtschaft auf eigene Hand beitreiben.

Mit der Naturkunde nahe verwandt ist die

Geographie.

Sie beschreibt die Erdoberfläche und hebt besonders deren Be- ziehungen zu dem Dasein und Wirken der Menschen hervor. Um genaue Schätzungen vorzunehmen, bedarf sie überall' der Zahlen. Es giebt kein geographisches Objekt, das sich der zahlenmäfsigen Behandlung entzöge. Der Schulunterricht mufs, um klare Vor- stellungen zu erzeugen, einen umfassenden Gebrauch von solchen Zahlen machen. Freilich ist mit der Zahl an und für sich die dazugehörige Gröfsenvorstellung noch nicht gegeben. Es ist ein Irrtum zu glauben, dafs mit den Angaben : der Mont Blanc erreicht eine Höhe von 4800 Meter, die Halbinsel Arabien ist 50,000 Quadrat - meilcn grofs, der Äquator hat eine Länge von 5400 Meilen die Sache klargestellt sei. Der Schüler merkt sich solche Zahlen zwar schnell und kann auf Befragen auch die richtigen Antworten geben. Aber das blofse Einstimmen in die Worte und Sätze des Lehr- vortrages ist keineswegs die Bürgschaft dafür, dafs der Unterricht verstanden, zum geistigen Eigentum geworden ist. Die blofsen Zahlen sind dem Schüler nicht viel mehr als leere Wortschälle. Es gilt ein Verfahren anzuwenden, durch welches man sie mit einem bestimmten Inhalte füllt. Man wird auf die bekannten Gröfscnvorstellungen der Heimat zurückgreifen müssen. Sie bilden die Mafse für alles Fremde und Entlegene. Rechnend mufs fest- gestellt werden, in welchem Verhältnisse diese zu den Gröfsen- verhältnissen entlegener Gebiete stehen. Somit ist das geographische Rechnen von höchster Bedeutung für den Unterricht und sollte darum in aller Sorgfalt gepflegt werden.

Das geographische Rechnen hat mit der Heimat einzusetzen. Nach allen wesentlichen Richtungen hin mufs diese rechnend durchdacht werden. Die blofse Anschauung thuts nicht, die Zahlen müssen heran, und es mufs gerechnet werden. Da ist zunächst die Höhenlage der heimatlichen Berge und Thäler, über welche die Schüler genau orientiert werden müssen. Wir geben ihnen die Aufgabe : Der Fahrdamm der Wallstrafse in Elberfeld liegt 143 m, das Landgericht 148 m, der Döppersberger Bahn- hof 156 m, die Elisenhöhe auf der Hardt 219 m, der höchste Punkt des Nützenberges 261m, des Kiesberges 284 m und des Hahner- berges 322 m hoch. Berechne den Abstand sämtlicher Höhen- punkte von der Wallstrafse, von der Elisenhöhe, vom Hahnerberge aus ! Bestimme ebenso den Abstand je zweier aufeinanderfolgender Punkte ! Die gefundenen relativen wie auch die angegebenen ab-

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soluten Höhen verwerten wir später bei der Betrachtung entlegener Hochflächen, Bergspitzen und Tiefebenen. Die Berechnung ist hier um so mehr am Platze, als die Vorstellungsthätigkeit die Kinder auf diesem Gebiete vollständig im Stiche läfst.

Eine gleiche Berücksichtigung wie die Berg- und Thalhöhen verdienen die Höhen hervorragender Gebäude. Der weithin sichtbare Tölle-Turm im Barmer Walde hat eine Höhe von 25 m; sein Fufspunkt liegt 325 m über dem Meeresspiegel. Wie hoch ragt die Spitze desselben über das Meer empor? Der Turm der zweiten retormierten Kirche zu Elberfeld ist 65,60 m hoch, die Türme der benachbarten Laurentiuskirche haben eine Höhe von 47,80 m. Um wieviel werden sie von den Kölner Domtürmen überragt, die eine Höhe von 156 m haben?

Um einzusehen, wie das Bergische von der westfälischen Grenze an bis zum Rhein hin abgedacht ist, berechnen wir das Gefälle der heimatlichen Flüsse, insbesondere der Wupper. Wir haben folgende Zahlen nötig: Quelle der Wupper 359m, Hückeswagen 248 m, Beyenburg 201m, Isländerbrücke zu Elber- feld 143 m, Sonnborn 131m, Burg 93 m, Leichlingen 54, Ein- mündung in den Rhein 36 m. Hückeswagen und Burg sind zwei Städte an der Wupper, die in gerader Linie nicht ganz I 8/4 Meilen von einander entfernt sind; durch Berechnung läfst sich feststellen, dafs sich der Wupperspiegel zwischen diesen Städten um 155 m senkt. Auch die Krümmungen unseres Flusses fassen wir ins Auge. Die gerade Entfernung von Hückeswagen bis zur Mündung beträgt nur 30 km, der Lauf der Wupper aber beträgt auf dieser Strecke 83 km. Wieviel Kilometer entfallen auf die Krümmungen ? Wie oft ist die gerade Strecke in der Länge des Flufslaufs ent- halten? Wieviel beträgt das Gefälle der Wupper durchschnittlich auf 1 km?

In den Kreis des heimatskundlichen Rechnens mag auch der jeweilige Wasserstand der Wupper gezogen werden. Die er- forderlichen Zahlen sind dem »Täglichen Anzeiger« zu entnehmen; besser noch ist es, wenn ein stadtkundiger Knabe beauftragt wird, sie auf dem Pegel an der Isländerbrücke abzulesen und dann der Klasse mitzuteilen. Wir warten für Rechnungen dieser Art am besten die Zeit einer Hochflut ab, weil dann die Augen der ge- samten Jugend aut die Wupper gerichtet sind. Es ergeben sich dann Aufgaben wie folgende: Die Wupper hatte in den Tagen vom 7. bis zum 12. Januar 1888 zu Eberfeld Wasserstände von 0,64; 0,85; 1,10; 1,30; 1,10; 0,95 m. Berechne das Steigen und Fallen des Flusses! Das Interesse ist jetzt auch empfanglich für die Wasserstände des Rheins; denn das Kind hört erzählen von Überschwemmung und Wassersnot. Wir nutzen dieses Interesse für die Zwecke des Rechnens aus und stellen Aufgaben wie folgende: Der Rhein hatte in den Tagen vom 7. bis 12. Januar

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1 888 zu Düsseldorf Wasserstände von 2,20; 2,07; 2,29; 2,93; 3.50; 3,68 m. Um wieviel ist der Strom jedesmal gestiegen oder gefallen?

Zum Gegenstand des Rechnens bieten sich aus der Heimats- kunde weiter die Entfernungen zwischen den einzelnen Ort- schaften an. Die erforderlichen Zahlen lesen wir auf den Schul- wanderungen von den Wegweisern und den Nummersteinen der Landstrafsen ab. Eine Aufgabe dieser Art ist folgende: Auf dem Hatzfelder Wegweiser steht geschrieben: Nach Witten 23,6 km, nach Elberfeld 4,8 km, nach Barmen 3,2 km. Wieviel Zeit braucht man, um diese Strecken zu durchwandern, wenn man in einer Stunde 4 km zurücklegt?

Anlafs zu heimatskundlichen Berechnungen bietet besonders die Eisenbahn. Einige Beispiele mögen dies zeigen: Die Eisen- bahnstrecke von Elberfeld nach Düsseldorf ist 27,6 km lang, die Strecke von Elberfeld nach Deutz ist 16,9 km länger. Wie lang ist diese? Ein gewöhnlicher Eisenbahnzug legt in einer Minute 450 m zurück. In welcher Zeit fährt ein solcher Zug von Elber- feld nach Düsseldorf? In welcher Zeit von Elberfeld nach Deutz? Ein Schnellzug legt in einer Minute 850 m zurück. Wieviel Zeit gebraucht er zu einer Fahrt durch die vorhin angegebenen Strecken? An Fahrgeld wird für die Strecke eines Kilometers für die erste Wagenklasse 8, für die zweite 6, für die dritte 4 und für die vierte 2 Pfg. angerechnet. Was werden demnach die betreffenden Fahrkarten für eine Reise a) nach Düsseldorf, b) nach Deutz kosten? Die Rückfahrkarten sind um die Hälfte teurer. Wie- viel werden sie kosten? - Wie teuer würden die oben ange- gebenen Reisen mit der Post sein, die für die Strecke eines Kilo- meters 10 Pfg. berechnet; Auf dem Bahnhof Elbcrfeld-Döppers- berg kamen im Jahre 1886: l 097 897 Personen an, und es fuhren von dort 1072 041 Personen ab; wieviel sind das durchschnittlich täglich? Die Pferdeeisenbahn von Elberfeld nach Barmen be- förderte im Jahre 1 886 : 4 444 447 Personen ; wieviel also durch- schnittlich täglich? Es wurden im Jahre 1887 aus Elberfeld 6523382 Briefe, 817 711 Packcte und 76556 Briefe und Packete mit Wertangabe abgesandt. Wieviel Briefe und Packete waren täglich zu befördern? In ähnlicher Weise kommen wir auch auf den Güterverkehr zu sprechen: Ein Kohlenhändler aus Elber- feld erhält aus Dortmund einen Doppelwaggon (200 Ztr.) Kohlen, welcher an der Zeche 85 M. kostet. Für die Beförderung wird auf den preufsischen Staatseisenbahnen für die Strecke eines Kilo- meters 2,20 bis 2,60 Pfg. berechnet; dazu kommt die Abfertigungs- gebühr, welche für die Strecke von 10 km 80 Pfg., für eine Strecke von 11 100 km 90 Pfg. beträgt. Nun ist Dortmund von Elber- feld 45 km weit entfernt. Wie teuer wird dem Händler a) der Doppelwaggon, b) ein Zentner Kohlen? Wie teuer mufs er den

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Zentner verkaufen, wenn er 2O°/0 daran verdienen will? Nicht selten kann auch die Höhenlage der Eisenbahn in Rechnung ge- zogen werden. Die Schienen auf der Sonnborner Eisenbahnbrücke liegen 152,35 m über dem Meeresspiegel, der mittlere Wasser- stand der Wupper hat hier eine Höhe von 131,30 m. Wie hoch fahren die Eisenbahnzüge über der Wupper hinweg? Die Bergisch-Märkische Eisenbahn steigt von Erkrath bis Hochdahl steil den Berg hinan. Das untere Ende der schiefen Ebene da- selbst ist 53,55 m, das obere Ende 136,90m hoch. Wie grofs ist die Steigung?

Zahlenmäfsig liegen in der Heimatskunde weiter die Ein- wohnerzahlen der Städte vor. Um uns ein Bild von dem Aut- schwung und raschen Wachstum der heimischen Stadt zu ent- werfen, geben wir dem Schüler folgende Einwohnerzahlen: Elber- feld hatte 1810: 18783, 1820: 22508, 1830: 30279, 1840: 39384, 1850: 48801, 1860: 54002, 1870: 69x29. 1880: 93600 und gegenwärtig zählt es 1 2 5 000 Einwohner. Wir berechnen den Zuwachs in den einzelnen Zeiträumen und suchen festzustellen, in welcher Zeit sich die Stadt verdoppelt, verdreifacht, vervierfacht hat. Die Einwohner scheiden sich nach den einzelnen Konfessionen, deren Verhältnis wir in möglichst kleinen Zahlen auszudrücken suchen. Zum Vergleiche mit allem ziehen wir die Bevölkerungs- zahlen der Nachbarstadt Barmen heran.

Eine eigentümliche Beleuchtung erhalten die früheren Jahr- hunderte, wenn wir auf das Alter der heimatlichen Städte eingehen. Zur Stadt erhoben wurde Elberfeld im Jahre 16 10, Barmen 1808, Solingen 1374, Lennep 1276, Ronsdorf 1745, Wülfrath 1827, Düsseldorf 1288. Wie alt sind die einzelnen Städte? Ordne sie nach dem Alter! Welches ist die älteste, die jüngste Stadt? Um wieviele Jahre ist Lennep älter als jede der übrigen bergischen Städte?

Es ist ferner in der Geographie gebräuchlich, die Gröfse der Länder, Meere, F lufsgebiete, Gebirgssysteme in Quadratmeilen anzugeben. Soll sich das Kind bei solchen An- gaben etwas rechtes denken, so mufs immerfort Bezug aut die ihm nächstliegenden Verhältnisse genommen werden. Die Gröfse der entlegenen Gebiete mufs durch Vergleichung gewonnen werden. Wir beginnen also mit dem heimatlichen Kreise, dem Stadtkreise Elberfeld, der von einem seiner hochragenden Berge überschaut werden kann und dem Kinde die Vorstellung von einer halben Quadratmeile gewährt. Wir stellen ihn vergleichend zusammen mit den Nachbarkreisen, dem Stadtkreise Barmen, der fast ebenso grofs ist, dem Kreise Mettmann, der 41,, Quadratmcilen zählt, dem Kreise Solingen, der eine Gröfse von 5% Quadratmeilen hat, endlich dem Regierungsbezirk Düsseldorf, der 99 Quadrat- meilen grofs ist. Dieser ist uns dann der Mafsstab, mit dem wir

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die Rheinprovinz messen, die Rheinprovinz aber dient uns als Grundmafs für das deutsche Reich. Wie hier so stützen wir in allen Dingen den geographischen Kenntnisbau auf den tragfesten Untergrund einer wohlangelegten Heimatskunde. Die Zahlen und Aufgaben, die wir in den Unterricht hereinziehen, werden die geographischen Lehren in einem Mafse durchsichtig machen, wie es die blofsen Worte nie vermögen.*)

Noch auf eine reichhaltige und wichtige Partie des heimats- kundlichen Unterrichts mufs aufmerksam gemacht werden, die für das Sachrechnen von nicht minder hoher Bedeutung ist als die oben berührte topographische Heimatskunde; wir meinen die Ge- sellschaftskunde. Leider wird sie zu gunsten der Gegend- beschreibung erheblich vernachlässigt in unseren Schulen. Aber in immer weiteren Kreisen kommt man zur Erkenntnis, dafs Be- lehrungen dieser Art unumgänglich notwendig sind und ein wesent- liches Glied der Volksbildung ausmachen. Schon Comenius ver- langte, dafs den Kindern der Blick in die soziale Ordnung des Lebens eröffnet werde. Neuerdings ist es besonders unser bergischer Landsmann Dörpfcld, der mit Nachdruck diese Forderung er- hebt. In seinem »Repetitorium des naturkundlichen und huma- nistischen Realunterrichts < giebt er einen Abschnitt über den sozialen Organismus der Arbeit, der das dringend Notwendige enthält, und der, wie von Sachkennern, so jüngst noch von Provinzialschulrat Kannegiefser in Kassel, zugestanden wird, vor- züglich gelungen ist. Dörpfcld gliedert das gesellschaftliche Leben nach den Begriffen Landesschutz, Rechtsschutz, Gesundheit, Wohl- stand, Bildung, Seelenheil, bespricht dann näher die Arbeiten für den Wohlstand, die Volkswirtschaft, und wendet sich endlich zu einer eingehenden Betrachtung der verschiedenen Gesellschaften, insbesondere der bürgerlichen Gemeinde und des Staates. Es liegt auf der Hand, dafs Unterweisungen solcher Art die beste Unter- lage für das Sachrechnen geben, dafs sie förmlich zu rechnerischen Untersuchungen hindrängen und also den Geist des Kindes in die denkbar günstigste Stimmung für den Rechenunterricht versetzen.

Wir können diesen Abschnitt nicht beschliefsen, ehe wir nicht auch einen Blick in dasjenige Gebiet der Geographie geworfen haben, welches wegen seiner vielen und engen Verknüpfungen mit der Mathematik sogar den Namen von dieser angenommen hat, nämlich die mathematische Geographie. Nirgendwo hat sich die mathematische Betrachtungsweise so ergiebig erwiesen, als in diesem Wissenszweige, nirgendwo ist selbst dem Laien die Fruchtbarkeit und Tragweite der mathematischen Abstraktion so ersichtlich, wie gerade hier; sie vermag ihm, wie Willmann**)

*) Vergl. Lombcro, 125 Rechenaufgaben für das 4. Schuljahr im An- schlufs an den geographischen Unterricht. Evang. Schulb!.. 1S89. Heft 6 u. 8. **) Willmann, Pädagogische Vorträge. 2. Aufl. S. 106.

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sagt, eine »Ahnung von der Bedeutung der mathematischen Exaktheit« zu geben. Ist es nicht ein erhebender Gedanke, dafs der menschliche Geist in seiner Entwickelung zu einer solchen Stufe der Vervollkommnung fähig ist, dafs er die fernsten Himmels- bahnen mit der strengsten Genauigkeit abmessen kann?*) Die mannigfache Gelegenheit zu rechnerischen Übungen, die durch den Unterricht in der Himmelskunde gegeben ist, sollte von jedem Lehrer reichlich genutzt werden. Während uns die Distanzen zwischen der Erde und den Himmelskörpern in die gröfsten Zahlen- räume hineinführen, weist uns das geographische Gradnetz, welches die Erde und den Himmclsraum überspannt, auf die geographischen Ortsbestimmungen hin. Eine schier unerschöpfliche Anzahl wirk- lich praktischer Probleme läfst sich diesem Gebiete abgewinnen; überhaupt werden wir in die Lage gesetzt, Rechnungen in allen vier Spezies, in Dezimalen und Brüchen, in Proportionen und Gleichungen ausführen zu lassen. Es unterliegt keinem Zweifel, dafs durch solche Berechnungen die mathematisch -geographische Einsicht eine Förderung erhält, die durch nichts anderes auf- gewogen werden kann. L eicht wäre es, eine Sammlung geeigneter Aufgaben vorzuführen. Wir enthalten uns indes aller näheren Ausführungen, da wir in der glücklichen Lage sind, auf ein Buch hinweisen zu können, das allen Ansprüchen gerecht wird; wir meinen das »methodische Lehrbuch der mathematischen Geographie« von Heckenhayn, Schul Inspektor in Koburg, das allein 217 solcher Aufgaben aufführt.

Es erübrigt nun noch, beim

Geschichtsunterricht nach* Rechenstorr anzufragen. Der Unterricht in der Geschichte steht unmittelbar im Dienste der Gesinnungsbildung; er hat es mit dem Wollen und Handein des Menschen zu thun und unterwirft dasselbe der ethischen Beurteilung. Es hat den Anschein, als ob hier kein Stoff zum Rechnen vorliege; denn an Gedanken und Gesinnungen haftet nichts Mathematisches. Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, dafs die einzelnen geschichtlichen Erzählungen auch eine Menge durchaus konkreter Materialien mit sich führen, die sich auf die natürlichen Bedingungen des Geschehens beziehen. Wir lernen die Bedürfnisse, Einrichtungen, Zustände und Arbeits- probleme der vergangenen Zeiten kennen. Es wäre verkehrt, wenn der Unterricht diese Momente ignorieren wollte. Er bliebe in seiner Wirkung um einen wesentlichen Teil verkürzt. Denn das innige, wohlgcsicherte Verständnis der vorgeführten Willens- verhältnissc und die charakterstärkende Erwärmung unseres Herzens im Ethischen verdanken wir zu einem nicht geringen Teile der ausführlichen Darlegung des Hintergrundes der Geschichte. Auf

*i Nahlowsky, Allgcm. Ethik. S. 126.

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ihm gewinnen die geschichtlichen Personen erst wahres Leben und wahre Gestalt. Die kulturhistorischen Momente sind es oft ganz allein, welche der Aufmerksamkeit die Pforten öffnen und Sinn und Gemüt für den ideellen Gehalt einer historischen Begebenheit empfänglich machen. Wir verlangen darum die genaue Klarstellung dieser Momente.

Die besondere Form, in welcher diese das äufsere Gerüst der Handlung bildenden Stoffe erläutert werden, wird verschieden sein; sie wird sich richten nach dem jeweiligen Charakter derselben. Bald ist das kulturhistorische Anschauungsbild, bald der Hinweis auf die verwandten Zustände der Gegenwart am Platze; wo es sich aber um Mafs-, Wert- und Gewichtsbestimmungen handelt, da wird das Rechnen die besten Dienste leisten. Die veralteten Mafse, Münzen und Gewichte müssen in moderne umgerechnet werden, und der Schüler mufs diese Überführung selbst vollziehen. Ebenso sind den allgemeinen, ott in grofsen Worten einherschreitenden Kulturschilderungen bestimmte Zahlen gegenüberzustellen, und es mufs damit gerechnet werden. Dadurch wird der schweifenden Phantasie, die sich so gern über Zahl und Mafs hinwegsetzt, ein Zügel angelegt; die Gedanken bleiben der Wirklichkeit nahe, und der geschichtliche Stoff gewinnt an Klarheit.

Die Stoffe des Gesinnungsunterrichts liegen im Bereiche teils der biblischen, teils der profanen Geschichte. Sollen nun Rechen- aufgaben auch an die biblische Geschichte angeschlossen werden? Die gebräuchlichen Rechenbücher weisen sie von sich. Es scheint also, dafs die Sache keine Anerkennung findet. Viel- leicht empfindet manches Gemüt auch eine innere Scheu, die profane Arbeit des Rechnens an solch heiligem Stoffe vorzunehmen. Aber wir meinen, dafs uns in der biblischen Geschichte die Zahlen oft vor die Füfse gelegt würden, und dafs die mannigfaltigen biblischen Raum-, Gewichts- und Wertangaben die rechnerische Behandlung geradezu verlangten. Das Kind soll sich bei Angaben dieser Art doch etwas rechtes vorstellen; das kann es aber nur dann, wenn es sie auf die ihm geläufigen modernen Anschauungen überträgt. Die Umrechnung ist um so nötiger, als die in der Bibel gebräuchlichen Bezeichnungen »Elle, Pfund, Mafs. Scheffel, Pfennig, Groschen« etwas ganz anderes bedeuten, als die Kinder darunter sich vorzustellen gewohnt sind.

Wir geben ihnen also Aufgaben wie folgende:

1. Die Arche Noahs war 300 Ellen lang, 50 Ellen breit und 30 Ellen hoch. Wieviel macht das nach unserem Längenmafs, wenn die Elle gleich 48,4 cm zu setzen ist?

2. Abraham begrub sein Weib Sarah in einer Höhle, die er für 400 Sekel Silber von Ephron, dem Hethiter, gekauft hatte. Wieviel kostete dieselbe nach unserem Gelde? ( I Sekel = 2,60 M.;

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beachte bei der Ausrechnung, dafs das Geld damals einen achtmal so hohen Wert hatte wie heute).

3. Die fromme Ruth las aut dem Felde bei einem Epha Gerste; später erhielt sie von Boas noch 6 Mafs Gerste zum Ge- schenke. Wieviel ist das nach unseren Trockenmafsen? (1 Epha = 3 Mafs, 1 Mafs = 6,5 1).

4. Zur Einrichtung der Stiftshütte sind verwendet worden: 20 Zentner 730 Sckel Gold, 100 Zentner 1775 Sekel Silber, 70 Zentner 2400 Sekel Erz. Wie schwer war dieses Metall nach unserem Gewicht, und welchen Wert hatte das zur Stiftshütte ver- wandte Gold und Silber? (1 Zentner hatte 3600 Sckel und wog 58,932 kg; sein Wert in Gold betrug 135,000 M. und in Silber 7800 M ).

5. Goliaths Panzer wog 5000 Sekel, das Eisen seines Spiefses war 600 Sckel schwer; wieviel ist dies nach unserem Gewichte?

6. Salomo mufste täglich zur Speisung haben 30 Kor Semmel- mehl und 60 Kor anderes Mehl. Wieviel ist dies nach unserem Gewichte? (1 Kor 200 I). Wieviel Personen konnten an seinem Tische gesättigt werden, wenn man auf eine Person täglich durch- schnittlich 2 Eiter rechnet?

7. Salomo gab dem Könige Hiram während der siebenjährigen Bauzeit des Tempels jährlich 20,000 Kor Weizen und 20 Kor ge- stofsen Ol; dazu kamen später noch 120 Zentner Gold. Wieviel ist dies nach unserem Mafs und Geld?

8. Das eherne Meer im Vorhofe des Tempels mafs 2000 Bath. Wieviel Hektoliter sind das, wenn I Bath gleich 20 Liter zu setzen ist?

9. Zu Kana in dem Hause, wo die Hochzeit gefeiert wurde, standen 6 steinerne Wasserkrüge, und es gingen in jeden 2 3 Mafs. 1 Mafs ist gleich 39 1. Wieviel Hektoliter und Liter fafsten demnach die Krüge?

10. Der barmherzige Samariter gab dem Wirte 2 Groschen. Wieviel ist dies nach unserem Gcldc, wenn 1 Groschen gleich 65 Pfg. zu setzen ist? Für einen Groschen erhielt man dazumal Lebensmittel auf 6 Tage; für wieviel Tage hatte der Samariter den Wirt im Voraus bezahlt? *)

Das rechnerische Durchdringen des geschichtlichen Stoffes empfiehlt sich in gleicher Weise für die Profangeschichte. Wir werden solche Aufgaben wählen, welche historisch bedeutsame Stoffe behandeln. Wir bestreben uns, die auf diesem Gebiete so üppig sprossenden hochstelzigen Ausdrücke möglichst fernzuhalten, und bringen dafür die Gröfsenverhältnisse in scharf begrenzte Zahlen. Zur Berechnung eignen sich besonders die Gewinne oder

*) Vcrgl.: Jetter, Bibl. Rechenaufgaben. Praxis der Erziehungsschule. Bd III, S. 86.

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Verluste eines Staates bei einem Kriege, die Brandschatzungen eroberter Städte, die Kosten für die Anwerbung und Verpflegung eines stehenden Heeres, die in früheren Jahrhunderten übliche Beschwerung der Stromschiffahrt durch die verschiedenen Bicncn- zölle, die Belastung des hörigen Bauers durch den Zehnten, die Hand- und Spanndienste, die Zinshühner und Zinseier und den Wildschaden, die Beschwernisse des früheren Postverkehrs, die Vorteile der vermehrten Landstrafsen und Kanäle. In allen diesen Dingen müssen die Zahlen herbeigeholt werden; sie geben immer mehr Licht als die blofsen Worte.

Wir lassen nachstehend nun einige Aufgaben über den dreifsigjährigen Krieg folgen, die uns die Kricgsfuhrung und beispiellose Verwüstung des vaterländischen Bodens zahlenmäfsig vor Augen führen sollen.

1 . Im Geschichtsunterricht kommt der Satz vor : Der Kaiser war oft nicht imstande, den Soldaten den Sold auszahlen zu lassen. Da liegt die Frage nahe, was denn zu jener Zeit die Verpflegung eines gemeinen Soldaten kostete. So erhalten wir die Gelegenheit, mit folgender Aufgabe einzusetzen: Zur Zeit des dreifsigjährigen Krieges bekam ein gemeiner Kriegsknecht monatlich 4 Gulden, ein Musketier monatlich 10 Gulden Sold. 300 Gulden hatten da- mals soviel Wert wie gegenwärtig 666 Thaler. Wieviel nach unserem Gelde betrug die Löhnung jährlich? Was kostete dem Kaiser ein Fähnlein Soldaten, das 1 5 Musketiere und 300 Gemeine zählte ?

2. Im Unterricht wird ferner Wallensteins Prachtliebe und fürst- liche Hofhaltung erwähnt. Das giebt uns Veranlassung, folgende Aufgabe rechnen zu lassen: Zu Wallensteins Hofstaat gehörten 46 Heerwagen je zu 6 Pferden, 46 Kaleschen je zu 4 Pferden, 7 Leibkutschen je zu 6 Pferden, dazu noch 1 20 Reitpferde. Wie- viel Pferde waren danach täglich zu unterhalten? Wie hoch beliefen sich die Atzungskosten, wenn wir für das Pferd täglich 1,25 M. ansetzen ?

3. Im Lehrtext kommen ferner die Sätze vor: Wallenstcin stellte ein Heer auf, das nach einem grofsartigen Kontributionssysteme in den Ländern, wo es stünde, sich selbst erhalten sollte. Er ist der gröfste und furchtbarste der Bandenführer des Krieges. Wir illustrieren diese Sätze durch folgende Aufgabe : Die Stadt Schwerin in Mecklenburg mufste innerhalb 4 Tage aufser der Verpflegung der Truppen für Wallensteins Hothalt liefern: 6 Ochsen, 16 Kälber, 60 Hammel, 48 Lämmer, sämtlich gut und feist, dazu 50 Gänse, 120 alte und junge Küken, 20 Paar Tauben, 30 Schock Eier, 2000 Commifsbrotc, 90 Tonnen Bier, 44 Schock frische Fische, 120 Pfd. Stockfisch und noch vieles andere. Stelle nach den jetzigen Preisen die Rechnung für diesen Küchenzettel auf!

4. Bei der Zerstörung Magdeburgs kommt die Rede auf das ent-

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setzliche Blutvergiefsen der entmenschten kaiserlichen Kriegs- scharen. Wir schliefsen folgende Aufgabe an: Bei der Zer- störung Magdeburgs bleiben von 35 000 Einwohnern nur 5000 am Leben. Wieviel Prozent der Gesamtbevölkerung wurden ermordet?

5. Es wird im Lehrvortrage den Schülern weiter gesagt: Der dreifsigjährige Krieg hatte Deutschlands Wohlstand völlig ver- nichtet; nicht allein, dafs die feindlichen Heere sich auf Kosten des Landes unterhielten, es schleppten die ausländischen Heer- führer auch Berge von Reichtümern in ihre eigenen Taschen. Hier ist der Punkt, mit folgenden Rechenbeispielcn einzusetzen : 1 . Der schwedische Graf Königsmark war, als er nach Deutschland kam, blutarm, hat aber so viel geraubt, dafs er seiner Familie eine jährliche Rente von 975 000 M. nach jetzigem Geldwert hmtcrliefs. Welches Kapital hat er aus Deutschland geraubt, wenn wir einen Zinsfufs von 5°/0 annehmen? 2. Die Mark Brandenburg berechnete schon 1630 den Schaden, den sie an Abgaben und Leistungen für das fremde Heer erlitten, auf 29 Millionen Thaler. Wenn das Kapital erhalten geblieben wäre, wieviel Zinsen hätte das Land bei dem damals üblichen Zinsfufse von 6°/0 gehabt?

6. Der Unterricht berührt ferner den Rückgang der Bevölkerung. Wir stellen dies zahlenmäfsig fest nach folgenden Angaben: Die Grafschaft Henneberg hatte im Jahre 1631 noch 60000 Einwohner, im Jahre 1648 war diese Zahl auf 18000 herabgesunken; Böhmen sank von 3 000 000 auf 800 000, Württemberg von 400 000 auf 50 000, die Pfalz von 500 000 auf 48 ooo, Augsburg von 90 000 auf 6000, die Stadt Löwenberg in Schlesien von 6500 aut 200, Berlin von 25000 auf 600, ganz Deutschland von 17 Millionen auf 4 Millionen. Wieviel Prozent betrug die Verminderung der Be- völkerung in jedem einzelnen Falle?

7. In gleicher Weise wird der Notstand der Landwirtschaft er- wähnt. Es heifst da: Die Äcker lagen verödet da; es fehlte an Saatkorn und Zugvieh. Güter, die vor dem Kriege 2000 Gulden wert waren, wurden nach demselben für 70 bis 80 Gulden ver- kauft. Wir stellen fest, um wieviel sie im Preise gesunken waren, und was jene Summen nach dem heutigen Geldwerte betragen.

8. Das Lehrgespräch lenkt sich endlich noch auf die mächtige Gestalt des grofsen Kurfürsten. Kraft des von ihm geschaffenen stehenden Heeres übte er auf die Friedensverhandlungen zu Münster und Osnabrück einen solchen Einflufs aus, dafs er seinen Staat, der bis dahin 1472 Quadratmeilen zählte, um 533 Quadratmeilen ver- gröfserte. Wir rechnen, aus, wie grofs Brandenburg nun war, um wieviel Prozent es sich vergröfsert hatte, und in welchem Ver- hältnis es zu dem jetzigen Königreiche Preufsen stand.

Wir sind am Ende unseres Streifzuges durch die verschiedenen Sachgebiete. Wir wurden von dem Streben geleitet, den Rechen- aufgaben einen bedeutungsvollen und würdigen Inhalt zu geben;

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derselbe sollte nicht als willkürliche Einkleidung der Zahlen er- scheinen, sondern den thatsächlichen Verhaltnissen entsprechen. Mit besonderem Eiter durchforschten wir diejenigen Vorstellungs- gebiete, welche der anderweitige Unterricht zu bearbeiten hat. Unsere Mühe blieb nicht ohne Erfolg. In jedem Stolilkreise fanden sich zahlreiche Partieen, aus denen das Rechnen sich die kräftigsten Antriebe und Stützen holen konnte, ja es that sich sogar die Mög- lichkeit auf, das gesamte Rechnen dem Sachunterricht unterzu- ordnen. Voraussetzung war dabei freilich, dafs der naturkundliche Unterricht einer Reform im Sinne des volkswirtschaftlichen Ge- dankens unterzogen würde. So lange diese Reform noch nicht durchgeführt worden ist, kann von einer solchen umfassenden Konzentration der Lehrfächer noch nicht die Rede sein. Aber abgesehen davon kann schon jetzt ein weitgehender Anschlufs des Rechnens an den Sachunterricht hergestellt werden. Ganze Gruppen von gehaltvollen und interessanten Aufgaben können sich aus der Mitte der sachunterrichtlichen Fächer erheben. Es ist in erster Linie Sache der Bearbeiter von Rechenbüchern, die nötigen Zahlen aufzuspüren und sie für den praktischen Gebrauch bereitzustellen.

(Srhlufs f«..lgt;-.

(Im 4. Heft S. 21 j. Z. io v. u. bitten wir zu b«. richti^ r. : physiologischen in psycholog.; S.2H.Z.4 v. u. Individualitätsw arme in Indiv.duaütätssphäre).

B. Mitteilungen.

1. Fr. Wilh Lindner ein Vorläufer der Kulturstufenidee.

Von 11. Grosse in Halle a. S

Dr. thcol. Friedrich Wilhelm Lindner, ordentlicher I'rofessor der Katechetik und Pädagogik an der Universität und Lehrer an der Bürger- schule zu Leipzig*), ein namhafter Pädagog, wurde geboren den u. De- zember 1779 in Weida. Er besuchte die Zeitzcr Stifts- und Kloster- schule, wo ihm als Primaner der Rcctor Müller bei Vakanzen oft Wochen und Monate lang in den unteren Klassen Lehrstunden übertrug, wodurch seine Neigung zum Lchrfache Nahrung erhielt. In Leipzig studierte er

*i VrI. Hergangs »rädagogischc Kc.il-Encykliip.'iJie« a Aull. nUy»; II. Hand S. 215 ff und Konvcrs;uion*-Lcxikon von Bruckhau», Leipzig; djjl. »Lexikon der Pädagogik» von ¥. Sander.

2. Aufl. (1ÖJJ9). l>ie .Eticyklopiidie des rcs. En.- 11. Uiilcrrichtswe-icns« von Scbmid erwähnt Lindner (fclcjjcntlich einmal H. IV, S. 956 fr. i j. AulI.L Einen liesonderii Artikel ül>er Lindner sucht man in der 2. Aufl. vergeblich. Auch G. A. L'uidners »Encykl. Handbuch der Krziehungs- kundc« (2. u. 3. Aull. Wien) übcri-chr Fr. Wlii. Liudncr. Von item in Ltipsig lebenden Verwandten unsere* Auturs, Prof. 1. , habe ich nient* Weiteres in Eriahrunj; bringen können.

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anfangs hauptsächlich Philologie und später besonders Theologie. Nach Vollendung seiner theologischen Studien und Prüfungen begann er seine pädagogische Laufbahn in dem Tillichschen Institut in Leipzig als Mit- arbeiter an demselben. Bei Eröffnung der allgemeinen Bürgerschule in Leipzig (1804) wurde ihm die Stelle eines Hilfslehrers an derselben über- tragen; 1806 erhielt er (unter Direktor Gedike) die Stelle eines konfir- mierten ordentlichen Lehrers. Im Jahre 1808 habilitierte er sich als Privat- docent der Philosophie und Pädagogik an der Universität Leipzig durch Verteidigung seiner Schrift: »de methodo genetica in utroque genere institutionis, cum inferiori tum altiori adhibenda, dissertatio philosophico- paedagogica.« Nachdem Lindner ehrenvolle Rufe nach Basel, Königsberg und Stettin abgelehnt hatte, wurde er auf Empfehlung der philosophischen Fakultät 1815 ausserordentlicher Protessor der Philosophie*), im Jahre 1825 erhielt er auf Empfehlung der theologischen Fakultät die ordentliche Professur der Katechetik und Pädagogik. Beim Antritt dieser Nominal- professur hielt er eine lateinische Rede: de methodo soeratica limitanda in institutione catechetica, und schrieb eine dissertatio theologica-paeda- gogica: de finibus et praesidiis artis paedagogicae secundum prineipia doctrinae christianae. (Leipzig 1826 Reclam). Im Jahre 1826 erhielt er von der theologischen Fakultät zu Königsberg die theologische Doktorwürde. Einen Ruf nach Dorpat lehnte Lindner ab. Seit der Zeit, vorzüglich seit 1833, wurde er mehrmals aufgefordert, eine Schulratsstelle in Prculsen an- zunehmen, er konnte sich aber nicht entschliefsen, sein engeres Vaterland zu verlassen. Um die Organisation der Leipziger Bürgerschule hat er sich viele Verdienste erworben; sein Plan zu einer zweckmäfsigen Organisation des gesamten Schulwesens in Sachsen (1828) kam aber infolge der Er- eignisse des Jahres 1830 nicht zur Ausführung.

Lindner suchte die Pädagogik als Wissenschaft auf das Haupt- prinzip des Christentums zu gründen. Seine seit 1808 öffentlich gehaltenen pädagogischen Vorlesungen **) teilte er wie »ein dankbarer Schüler von ihme in Hergangs En«yklopädie II, 216 berichtet in sechs Abschnitte; im ersten gab er eine geschichtliche und kritische Übersicht der pädago- gischen Hauptrichtungen bei den namhaften Völkern vor und nach Christi Geburt; im zweiten die Geschichte der Bemühungen, die Pädagogik zur Wissenschaft zu pestalten; der dritte enthielt die theoretische Pädagogik, der vierte die Didaktik, der fünfte die spezielle Methodik nebst der Lehre von der Disziplin, der sechste die Anleitung, alle Arten von Schulen zweck- mäfsig zu organisieren und zu verwalten. Prof. Lindner lehrte: 1) Man hat bisher das Ganze der Erziehungslehre noch nicht zur selbständigen Wissen- schaft erheben können, sondern hat ihr Wesen entweder philosophisch

•) Lindner war also ein Amtsvorgänger Zillers. •*) Nach einer Angabe im »Ailg. Bacher-Lexikon« von Heinsius III. Teil (1835;!, deren Richtigkeit ich bi» jeut nicht bestätigen kann, erschienen Lindners »Pädag. Vorlesungen« in Leipzig iftoS, a. Aufl. 1810, und die »Statuten der pädagogischen Gesellschaft nebst einer Einleitung (Iber das Ziel der wahren Pädagogik und den Mitteln dafür« 1619 (Leipzig). Ich habe diese beiden Werke bis heute jedoch nicht erlangen können. Vielleicht diene diese Not» dazu, dafs einer oder der andere Leser über dieselben Auskunft giebt.

Pädagogische Studien. I. 3

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konstruiert (Kant, Fichte, Sendling, Herbart, Hegel) oder ihr auf empirischem Wege ein selbständiges Gebiet angewiesen mit seinen eigenen, von keiner andern Wissenschaft erborgten Grenzen. 2) Eine Wissenschaft (im strengea Sinne des Wortes) bleibt für die Erziehungskunst ein Ideal, sowie sie selbst ; sie wird nie zu einem Systeme werden, das im strengen Sinne Philosophie ist. 3) Das Prinzip für die Erziehungswissenschaft kann kein selbständiges (apriorisches), sondern mufs ein aus dem Christentum, der Völker- pädagogik, entlehntes sein. 4) Das Christentum, die göttliche Er- lösungsanstalt, ist die wahre Pädagogik der zu erziehenden und zu bildenden Menschheit, daher mufs auch das oberste Prinzip des Christentums das Prinzip aller und jeder Pädagogik sein. 5) Das Prinzip des Christentums: »Du sollst Gott deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (Matth. 22,27) mufs auch das Prinzip der Pädagogik für jedes christliche Volk sein. •)

Lindners Bedeutung als Didaktiker und Methodiker beruht sodann darauf, dafs er es gewesen ist, der die genetische Methode als die vorherrschende für alle Lehrgegenstände empfahl; darauf haben bereits Pestalozzi (ausgewählte Werke, von Mann herausgegeben III. B. S. 371)**), Gräfe (Allgemeine Pädagogik)***) und P a 1 m e r in Schmids Encyklopädie IV. B. S. 95b hingewiesen. Nachdem er die genetische Methode mehrere Jahre praktisch geübt hatte, empfahl er sie Öffentlich in seiner Habilitations-

•t Von diesem Standpunkte au« hat er die Freimaurerei beurteilt; er gedachte nie nach christlichen Grundsätzen umzugestalten. Ali man auf seine Ansichten nicht einging, schied er au« dein Bunde aus und »chrieb das Buch: »Mac Ben ac, er lebt im Sohn, oder das Positive der Freimaurerei- (Leipiig, 1617, 3. Aurl. 1819, mehrfach überbeut ">. l.indncr toll sich dadurch viele Feinde unier den Freimaurern gemacht haben.

( her die organisch-genetische Methode, ihren Zweck und ihre Naturgemäfsheit sagt Pestalozzi 1 Niederer ri in der Rede: -Iber die Idee der Elementarbildung« t, 1800, 2 Aufl. 1831) J$. b »Sie die von mir bezweckte Erziehungsweise} ist und soll elementarisch und als Ele- liientarmeihode organisch-genetisch sein.

Icii nenne die Methode o r g an i s c h - genetisch Im Gegensätze gegen den Begriff einer historisch-genetischen, weil dieser Begriff zu der Ansicht führen könnte, als müsse die Entwicklung und der Unterricht alle die Umwege, Krümmungen und Verirrungen durchlaufen, oder wenigstens, mehr oder minder darstellen, um zur Wahrheit und Selbständigkeit iu gelangen, die das Menschen- geschlecht, wenn es blofs nach »einem empirischen Gange ins Auge gefafst wird, durchlaufen hat. [Über diesen Hauptpunkt haben die Forderungen und Ansichten der neueren Pädagogik vorzüglich zu grofsen Mils\ crstfliidnissen und Fehlgriffen Anlafs gegeben. Am offenbarsten wurde dieser Mifs- verstand in dein Widerspruch, der Ober die Elemente, d. h. die absoluten Anfangspunkte der Bildung und des Unterrichts entstund, iu der wunderlichen Trennung, die man da in die kindliche Natur, o ier vielmehr als durch das reine Auffassen und Festhalten jener Anfangspunkte in ihr ent- stehend, »ich hineindachte, und in der Art, wie man die Geschichte au» diesem Gesichtspunkte mit ebenso unhistorischcin als unpädagogischem Geiste ins Auge fafste und erklärte. Man »ehe darüber und über den Begrifi Methode auch - Lindner, Tiber die historisch-genetische Methode, Leipzig bei Griiff,« ein aus einer umfassenden Anschauung hervorgehendes Werk, in dem sioh eben nach unserer Überzeugung der Empirismus vom Organismus, das rein faktische vom pädagogischem Prinzip noch nicht genug geschieden hat. Übrigens »chlielit der Begriff des Organischen den des Genetischen und Historischen schon wesentlich in sich, so wie der Begriff des Historischen, rein gefafst. mit .lein des Genetischen zusammenfällt!. Vgl. Pestalozzis Ausgewählte Werke von Fr. Mann III. Band {3 Aull. 1884) S. 371.

»l»«:r genetische Lehrgang oder die genetische Methode spielt seit Pestalozzi und sei Lindners Dissertation .de methodo historicagenetica etc.« eine bedeutende Rolle in der Pädagogik. (Gräfe a a- 0. 11, S. 193; vgl. 194 u. »07).

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schrift: »Dcmethodo gcnetica etc.« (1808); diese Schrift erschien auch deutsch unter dem Titel: >Über die genetische Methode.«*) Ihm ist die genetische Methode diejenige, welche einen Gang nimmt, der möglich gleich ist dem Gange, in welchem wir die Gegenstände des Unterrichts selbst entstehen und sich allseitig entwickeln und gestalten sehen, sie versetzt die Kinder so in den Gegenstand, dafs sie mit dem innern und äufsern Auge zusehen, wie er entsteht, sich entwickelt und vollendet ; sie ist so veranschaulichend, dals sie den ganzen Menschen bethätigt und fesselt« **). Lindner wurde auf diese Methode durch Bacos Organon geleitet; dieser spricht von einer initiativen Methode, die darin besteht, dafs sie vor unserm innern und äufseren Auge das Leben in der Wissenschaft und Kunst, im Denken und Handeln durchscheinen läfst. Er machte mit dieser Methode zuerst Versuche in Elementarklassen, später versuchte er sie in allen Gegen- ständen des Unterrichts, und der Erfolg übertraf seine Erwartung. Der erste, der nach ihm Notiz von der genetischen Methode genommen hatte, war der Dichter und Schulmann Vofs, der bei der Beurteilung des bayerschen ersten Schulplanes (von Wismayr) sie empfahl ***). In der neueren Zeit hat sich Dicsterwegf) ihrer vorzüglich angenommen (Hergang a. a. O. II, 218). Auch Magert!) hat sich lange und eingehend mit dem Problem beschäftigt.

Lindner wollte die genetische Methode angewendet wissen in allen Lehrformen, in den dialogischen und akroama tischen ; für den Elementar- unterricht empfahl er die historisch-genetische, für den folgenden Unter- richt die erotematisch-genetische und für den höheren Unterricht die akroamatisch - genetische ; das Genetische bleibt das Vorherrschende. Im Geiste der genetischen Methode hat Lindner selbst mehrere Disziplinen bearbeitet. Er wendete diese Methode zuerst auf den Religionsunterricht an [Conversationslexicon (1815), Aufsätze in Guts-Muths pädagog. Zeit- schrift und in Tzschirmers Mcmorabilien] , dann behandelte er den Gesang- unterricht nach derselben in der Leipziger Musik-Ztg. 1805, in Guts-Muths pädg. Zeitschrift 1810, in seinem weit verbreiteten Musikal. Jugendfreund,

*) Beide Schriften sind sehr sehen. l>ie Kgl. Bibliothek Berlin, die Hof- u. Staats- Bibliothek München, die Universitäts-Bibliotheken zu Leipzig, Halle, Berlin, Güttingen, Breslau, Bonn, München, Prag, Wien, Bibliothek der Comenius-Stiftung in Leipzig, Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle u. a. besitzen kein Exemplar davon, wie Verfasser durch bez. Anfragen festgestellt hat. An den genannten Orten sind auch Lindner» >Päd. Vorlesungen« und die »Statuten der päd. Gesellschaft etc.« nicht vorhanden.

**) Hergang a. a. O. II, S. »i8. ♦••) Jen. Allg. LlttcratnrZi'itang, April 1806. Vgl. Joh. Heinrich Vofs von Herbit II, 9«; Vofs «Ob Schulmann in „Deutsche Bl. f. erzieh. Unt." 1889, No. 12—20; Kritische Blätter von Vofs IT, Gl; Her bar U PKd. Schriften von Willmann II, 14«; Paulsen, (ieschlchte des gelehrten Unterrichts S. 448.

f) Oer bedeutendste Verfechter der genetisch entwickelnden Methode, welche er «llc „elemen- tsrhuhe" nennt, ist Die st er weg. Er sagt: „Die Einsichten, die Wissenschaften sind dein Lernen- den nicht zu goben, sondern er Ist an veranlassen, dafs er sie finde, sich selbstthätlg Ihrer be- mächtige. Diese Lehrmethode ist die beste, freilich auch die schwierigste, dio seltenste. Nicht das Vollendete, Fertige gehört vor die Lernenden, sondern diu einzelne, das Word ende" (siehe O. A. Lindner, Encyklop. Handbuch etc. S. 311.

ff) K. W. Mager, uie genetische Methode des sehulrnüfslgen Unterrichtes in fremden Sprachen und LUieratnren, nebst Darstellung und Beurteilung üer analytischen und synthetischen Methoden (ZUrlch, 1S46).

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4 Hefte, Leipzig 181S ff. und in der Schrift: »Das Notwendigste und Wissens- werteste aus dem Gesamtgebiet der Tonkunst für den Unterricht und die Selbstbclehrungc (Leipzig 1839, Vogel). Über den Unterricht in der Geo- graphie schrieb Lindner in Guts - Muths »Bibliothek der pädagogischen Litteratur« 1806: Beiträge zu einer bessern und zweckmäfsigen Methode für den geographischen Unterricht (Bd. I. 265)*); schon 1805 beabsichtigte er einen Schulatlas in der Form des Stielerschen herauszugeben. Im Geiste der genetischen**) Methode bearbeitete er auch den Unterricht in der Natur- beschreibung, in der Arithmetik (vgl. die 2., besonders die 3. Auflage von Tillichs Lehrbuch der Arithmetik 1836) und in der deutschen Sprache (vgl. pie kleine Sprachlehre, die der 2. Aufl. der »Mustersammlung aus deutschen Klassikern« Leipzig 1827, 2 Bände angehängt wart. Der bekannte Prof. Max Wilh. Götzinger, der eine Zeit lang Famulus bei Lindner war (später wandte er sich Herbart zu)***), wurde durch Lindners Vorlesungen über die Methodik des deutschen Sprachunterrichts, die er hörte, für die Thätig- keit auf diesem Gebiet gewonnen. Den Geschichtsunterricht für Schulen hat Lindner nach christlichen Grundsätzen bearbeitet und erteilt f)-

Was Lindners theologische Wirksamkeit anbelangt, so hat er sich seit 1825 vorzüglich der praktischen Theologie gewidmet, indem er aufser den Vorlesungen über Pädagogik , Didaktik und Methodik und aufser den katechetischen Übungen noch Vorlesungen hielt über Pastoraltheologie in ihrem ganzen Umfange, über populäre Dogmatik, praktische Exegese, Apologetik, christliche Altertümer, über die Geschichte der Apostel und über die Reformation. Sein Werk über »die Lehre vom Abendmahl nach der Schrift« (Leipzig 1831) wurde im ganzen sehr beifällig aufgenommen, erfuhr aber auch abweichende Heurteilungen.

Was uns vcranlafst, auf Lindner und sein Werk über die genetische Methode hier zurückzukommen, ist bereits in der Überschrift angedeutet worden. Lindner gebührt das Verdienst, das Prinzip der kultur- historischen Stufen wir sehen dabei ganz ab von der Ausprägung derselben durch Ziller in seiner Schrift »Die historisch -genetische Methode« klar und deutlich ausgesprochen zu haben. Diese Thatsache wurde bis jetzt übersehen, weil Lindner der Vergessenheit fast anheim ge- fallen ist. Prof. Vaihinger hat in seiner trefflichen Schrift: »Naturforschung

*) Vgl. „Genetische (historisch-genetische) Methode in Hergang* PXd. Real-EncTklopadle I. B. (1851, S. Anfl.) S. 759.

*♦) Vgl. Mager: Die genetische Metbode dei schul maTsigen Unterrichte in fremden Sprachen u. Litt. etc. Gräfe a. a. 0. 8. 193. Walts, Allg. Pädagogik (9. Aufl. von WUlmano) 8. 330. 0. A. Llndnere Enoyklop. Handbuch der Ersiehunjskunde S. 808 ff. Will manu, Didaktik I, 78 u. II, 8. 847 ff.

•••) Vogel. Rcal-BUrgereohule 1859, 1 u. 2; Schwei«. Blatter für er«, ünt. VIII. (1889 90), Ko 7, S. 881.

t) Da« Konversatlons-Lealkon der Gegenwart (Leipalg, 1840, B. III, S. 3«) sagt ron Lindner: „Jede öffentliche Prüfung, welche er in der Bürgerschule su halten hat, wird als eine praktische Anleitung aar Anwendung der genetischen Methode betrachtet, und die Lehrer, die ihm suhören, bilden sich mehr oder weniger nach ihm. Seine öffentlichen Prüfungen sind die besuchtesten, sein didaktisches Talent fesselt Alt und Jung; dies müssen selbst seine Gegner bekennen."

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and Schule *) nachgewiesen, dafsder Grundgedanke der kultur- historischen Stufen ein Gemeingut der besten und be deutendsten Geister Deutschlands ist. Wir finden die Idee der Analogie zwischen der individuellen und der generellen mensch- lichen Entwickelung bei den Litteraturheroen Lessing, Herder, Goethe und Schiller, bei den Philosophen Kant, Fichte, Sendling, Hegel, A. Co mte, beiden Pädagogen Rousseau, Pestalozzi, Fröbel, Diesterweg, vor allem bei Herbart, Ziller und seinen Schülern, bei den klassischen Philologen F A. Wolf, Niethammer, Dissen, Lübker, bei den Theologen Clemens von Alexandrien, Augustin, Schleiermacher und endlich bei den Darwinisten Huxley, Herbert Spencer. G. Jäger u. a. Den von Vaihinger genannten Pädagogen kann sich auch Fr. Wilh. Lindner anschliefsen.

Der Forderung, dafs die Gesinnungsstoffe auf jeder Stufe dem Ver- ständnis des Kindes entsprechen, wird auf naturgemäfse Weise dadurch genügt, dafs man jene Stoffe im allgemeinen in derselben Reihe auftreten I ä f s t , in der sie die aufeinanderfolgenden Hauptstufen in der kulturgeschichtliche n Entwickelung der Menschheit zum Ausdruck bringen **). In diesem Sinne sprechen wir von einer kulturgeschichtlichen Ent- wickelungsreihe der Gesinnungsstoffe ***) und berühren den bedeut- samen Gedanken, dafs der Einzelne die Hauptstufen der abgelaufenen menschlichen Kulturen t Wickelung, nur zu- sammengezogen und verkürzt, durchzumachen hat. Goethe sagt in den Gesprächen mit Eckermann : >Wenn auch die Welt im Ganzen vorschreitet, die Jugend mufs doch immer wieder von vorn anfangen und als Individuum die Epochen der Weltkultur durchmachen.« Und bei Lindner finden sich folgende Stellen. S. 44: »Jeder einzelne Mensch rauls in eben der Stufenfolge zur vollkommensten Religion [zur Ver-

•) Xaturforscnung und Schule. Eine Zurückweisung der Angriffe Preyers auf da« (ryuinjuinin vom Standpunkt« der Entwickelnngslehre. Ein Vortrag in der S. allg. Sltaung der 61. Versammlung deutsch. Naturforscher und Ärzte an Köln am 22. Sept. 1888 gehalten von Dr. H. Vaihinger, a. o. Professor dar Philosophie an der Universität Halle. KSln und Lelptig, Albert Ahn 1889 <XI1 u. 64 S.).

*•) Capeslus, Die hauptaachl. Forderungen des eis. Unterrichts (1887) S. 18. *•*) Litteratur aur Frage der kulturhistorischen Stufen: Herbart, Päd. Schriften v. Willmann I, »84, 291, 844, 4*6 ff., 439 ff., 677; II, 260, 470 ff.; Zill er Grundlegung (5i. Aufl.) S. 165 f. u 4M ff,; Ders. : Allg. Pädagogik (2. Aufl.) 146 ff., 191 ff., S. 216 ff., 242 ff; Zlller-Bergner, Materialien sur speziellen Pädagogik (1886) 8 . 20 f.; Ziller, Jahrbuch des Vereins f. wie«. PKd. IV, 178 ff., VI, HS f., XIII, IIS ff. nebst Erläuterungen X11I, 66 ff.; Willmann, Die Odyssee; Derselbe, Der elementare Geschichtsunterricht; Staude, iMc kulturhistorischen Stufen „In PHd. Studien" 1880, 2. Heft, 1881, 2. H«ft, 1884, 2 Hoft; Rein, Pickel und Scheller, Theorie und Praxis des Volks- schulunter. I, (4. Aufl.) 8. 2 ff.; SallwUrk, Üeclnnnngsunterricbt und Kulturgeschichte (1887); Rein: Uealnnungsunterricht etc. in „Päd. Studien" 1888, 2. Heft; Staude das. 1888, 3. Heft; t. Sali wtirk In „Rbeimache Blätter" 1888, Hoft III u. 1889, Heft V; Capestus, Oeaamtentwiekelung uad Einsalentwickelung iu Jahrbuch d. V. f. wlas. PKd." 1889, B. 21, 8. 117ff.; Preyer, Natur- forschung und Schule (1887), Vaihinger s. o. ; Haufe, Die natürliche Ersiehung 1880; Wlgge und Martin, Die Unnatur der modernen Schule (1888); Holtsch, Bewegungen der Gegenwart auf p*d. Gebiet (1889..

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ehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit] erzogen werden, in welcher die ganze Menschheit nach und nach heraufge- bildet worden ist. Jeder Mensch ist der Repräsentant des Ganzen, und das Ganze der jedes Jndividuums.« S. 81: »Was die Menschheit im Grolsen überall so einstimmig deutlich ausgesprochen hat, mufs auch bei jedem Individuo angewendet werden. Die Nachkommen müssen gleichsam von neuem ihre Bildung beginnen das, was als Stoff für diese Bildung gebraucht wird, mufs die Nachkommen in eben der Form wieder ansprechen, in welcher es die Vorfahren aus- sprechen.« S. 86: >Ich habe mir den Gang der Erziehung der Individuen aus der Geschichte der gesamten Menschheit geschöpft . . . Eine klare An- sicht der Kultur der ganzen Menschheit und ein sorgfältiges anhaltendes Erforschen des Ganges derselben giebt den Erziehern weit mehr Ausbeute, als alle die Erziehungsschriften, die immer und ewig sich nur mit dem Ein- zelnen beschäftigen, ohne sein Verhältnis zu dem Ganzen genauer erwogen zu haben. Das Ganze ist mir durchaus die Multiplicierung der Individuen, und die Individualität die Division der Totalität; alle Teile haben die Form des Ganzen, und das Ganze vergegenwärtigt die Form der gesamten Teile.«

(Schtufs folgt.)

2. Die Vereinigung von Freunden der Pädagogik Herbart- Zillers in Unterfranken.

Seit bald einem Jahre besteht in Unterfranken eine Vereinigung de* Freunde von Herbart-Zillers Pädagogik.

Der Gedanke an eine solche Vereinigung wurde schon länger gehegt. Aber in die Wirklichkeit wurde er erst durch den verdienten Hauptlehrer Steinmann in Kitzingen hinüber geführt, indem derselbe gelegentlich der vorjährigen Versammlung der unterfränkischen Lehrer in Würzburg alle der Pädagogik Herbart-Zillers zugethanen Kollegen zu einer besonderen Besprechung einlud, aus welcher die erwähnte Vereinigung hervorging.

Die Vereinigung bekam folgende Einrichtung. Es wurde eine all- gemeine Verbindung geschaffen, welche die Anhänger der Pädagogik Herbart- Zillers in ganz Unterfranken umfassen soll. Innerhalb dieser weiteren Ver- bindung wurde aber die Bildung kleinerer Gruppen ins Auge genommen, welche die Strebensgenossen an demselben Orte oder doch in nachbar- licher Nähe aufnehmen sollen. Beiderlei Vereinigungen sollen durchaus freie sein. Nichts anderes soll deren Angehörige zusammen führen und zusammen halten, als der erziehliche Eifer.

Als Aufgabe schwebt 1. vor die geistige Durchdringung der Voraus- setzungen von Herbart-Zillers Pädagogik wie dieser selbst von bestimmten individuellen Entwickelungen ans und 2. die Bethätigung von Ober-

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legungen zur Anwendung der genannten Pädagogik unter g egeb enen festen Verhältnissen.

Von Jahr zu Jahr sollen aus dieser grofsen Aufgabe gewisse Arbeits- gebiete genau abgesteckt werden. Es besteht der Plan, nach einander die Ethik, die Psychologie, die allgemeine Pädagogik und die Methodik vor- zunehmen. Die letztere soll den Brennpunkt aller Bemühungen ausmachen. Den Studien sollen keine »leicht fafslichen« Schriften, sondern die »Quellen« oder doch gediegene wissenschaftliche Werke zugrunde gelegt werden. Vorläufig soll im Jahre eine Zusammenkunft der Mitglieder der gröfseren Vereinigung stattfinden; jene der kleineren Gruppen sollen so oft, als es ihnen Verhältnisse und Umstände erlauben, mit einander arbeiten. Die Gruppen sollen sich in den Gegenstand, der jeweils zur Beschäftigung aus- ersehen ist, möglichst vertiefen. Auf der Jahresversammlung dagegen soll nur über die Kernpunkte der Sache verhandelt werden, wobei die Absicht hauptsächlich auf Klärung und Ausgleichung etwa von einander abweichender Auffassungen zu richten ist.

Für das erste Jahr war, in Angemessenheit zu dem angedeuteten Arbeitsplan, Nahlowskys Ethik zur Durcharbeitung in den Gruppen gewählt worden. Als Unterlagen für die Auseinandersetzungen auf der Jahresver- sammlung sollten dienen: i. die Wertschätznng, 2. die Charakteristik der Einzelideen und 3. die Charakteristik der gesellschaftlichen Ideen. Es sollen darüber kurze Leitsätze von eigens dazu bestellten Vertretern ge- geben und diese Leitsätze dann eingehend erörtert werden.

Die erste Jahresversammlung fand denn nun auch heuer am zweiten Pfingsttage dahicr im Hauger Schulhause statt. Sie war gut besucht, ein- zelne Teilnehmer waren von weiter Ferne hergekommen, auch hatten sich Gäste aus dem hiesigen Lehrerkreise eingefunden. Die Besprechungen er- streckten sich auf die Wertschätzung, die innere Freiheit und das Wohl- ergehen ; der übrige Teil der Unterlagen konnte leider nicht erledigt werden. Ich deute aus den Besprechungen die folgenden Fragen an: Wo- durch wird bei der relativen Wertschätzung und wodurch bei der absoluten der Wert festgestellt? Woher stammt eine jeder Giebt es ein unwandel- bares Schöne und Gute? Worin ist das Werturteil vom Erkenntnisurteil verschieden, worin berührt es sich mit ihm? In welcher Beziehung stehen absolute Wertschätzung und innere Freiheit, relative Wertschätzung und innere Unfreiheit zu einander? Wie gelangt der Mensch zum sittlichen Begriff? Giebt es nicht eine Anlage für die Erkenntnis des Guten? Ge- fällt nicht schon ein einzelner Ton?

Welches sind die Stufen in der Entwickelung zur inneren Freiheit? Innere Freiheit logische Freiheit psychische Freiheit? Welche Be- deutung hat die innere Freiheit für die Harmonie des Sittlichkeitsstrebens? Kann die Selbstliebe den Anfang in der Entwickelung zum Wohlwollen bilden? Welches ist der psychologische Zusammenhang von Wohlwollen, innerer Freiheit und Willensstärke?

Für das zweite Jahr wurde, abermals nach dem gebilligten Plane, das Studium von Ballauffs Psychologie für die Gruppen beschlossen. Auch sind

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sogleich die Unterlagen für die Verhandlungen der nächsten Johannisver- sammlung festgesetzt worden.

Ich hege die Hoffnung, dafs bald auch in den übrigen Kreisen Bayerns solche Vereinigungen, wie die nun in Unterfranken bestehenden, gegründet werden, ja dafs noch über das Land hin eine Verbindung unter den zahl- reichen Freunden der Pädagogik Herbart Zillers, zum Segen der bayerischen Schulen, entstehe.

Würzburg, 15. August 1890. P. Zillig.

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3. Vom griechischen Schulwesen.

Eine Mitteilung aus Athen.

>Es ist in der That lange Zeit, dafs ich Ihnen, hochg. Herr Prof., nichts über unser Schulwesen, besonders über das Volksschulwesen, meinem Ver- sprechen gemäfs, mitgeteilt habe. Der Grund davon ist, dafs ich über das letztere nichts erfreuliches zu melden hatte.

Eine kurze Blütezeit, die unsere Volksschullehrerseminare gehabt haben, und besonders das Seminar in Athen, nahm nach dem Jahre 1884, als Herr Prof. Papamarkos zum Direktor des athenischen Seminars ernannt worden war, schnell ab, um sich zuletzt in einen ganz abnormen Zustand umzu- wandeln. Auf welche Weise dies zu Stande gebracht worden ist, erklärt die den Lesern der »P. Studien« schon bekannte Denkschritt des Herrn Dr. Them. Michalopulos an den griechischen Kultusminister „/legi xijg xaraordofiog tov iv ^d-^vaig didaoxaktlov" tvtofivijfta. (S. Pädag. Studien 1890, S. 189).

Wenn es dem Herrn P. mit der Direktion des Seminars so sehr mifs- glückte, so scheint unser Marineminister und interimistische Kultusminister Herr G. Theotokis gedacht zu haben, dafs er sich als Gesetzgeber und Reformator unseres Schulwesens auszeichnen könnte. Zu diesem Zwecke ernannte er im vorigen Herbst Herrn P. zum Direktor des gesamten griech. Volksschulwesens. Dabei mufs, wenn nicht die Wahl, so doch die gute Absicht des Herrn Ministers entschieden gelobt werden.

Einige Monate darauf, d. 24. Dez. 1889, brachte in der That der Herr Kultusminister in die Kammer nach einer begeisterten Rede 9 Gesetzent- würfe ein, deren 7 vom Herrn P. geschrieben, die Reform des Volksschul- wesens zum Zwecke hatten.

Bei allen den Mängeln unseres jungen Staatswesens und bei dem leider in allen Ländern der Erde immer vorhandenen Vorrat von Leuten, die sich irren, sollen Sie doch nicht glauben, dafs bei uns jede unglückliche Idee auch ungehindert zu ihrer Verwirklichung gelangen kann.

Zur Ehre meines Landes erwähne ich, dafs nicht nur angesehene De-

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patirte aus allen Parteien, selbst aus der Regierungspartei, sich sofort gegen diese Gesetzentwürfe erklärt haben, sondern auch unter den Gelehrtenkreisen, die in Athen sitzende »Gesellschaft für Wissenschaft« und ebenso der »Griechische Lehrerverein« zur Prüfung derselben besondere Kommissionen gebildet haben, die sich alle einstimmig dahin äufserten, dafs die betreffenden Gesetzentwürfe sowohl in wissenschaftlicher als auch in praktischer Hinsicht kein gesundes Werk seien und dafs also deren Genehmigung von der Kammer statt eines Fortschrittes einen sicheren Rückgang in unserem Schulwesen bedeuten würde.

Andererseits ernannte die Kammer eine aus 24. Deputirten bestehende Kommission mit der besondern Aufgabe, über den Wert der Gesetzent- würfe Bericht zu erstatten. Diese Kommission, präsidiert vom Abgeordneten Herrn Steph. Skuludis, ersuchte den >Griech. Lehrerverein« Vertreter aus seiner Mitte zu senden, um die Meinung des Vereins über die Gesetz- entwürfe auseinanderzusetzen. Der Verein wählte zu diesem Zweck sechs seiner Mitglieder*). Aufser diesen wurden zu den Diskussionen ebenfalls der Seminardirektor in Athen**) und zwei Universitätsprofessoren***) ein- geladen.

In mehreren Sitzungen und in Anwesenheit des Herrn Kultusministers wurde nun vorigen Januar und Februar über die Bedürfnisse unseres Schul- wesens diskutiert und viele wertvolle Meinungen darüber ausgetauscht. Herr P. hat seine Vorschläge zwar mit Wärme, leider aber durch sachlich zu schwache Argumente verteidigt. Dabei hat es sich in deutlicher Weise gezeigt, wie weit die Gesetzentwürfe davon entfernt waren, einer gesunden Jugenderziehung dienlich sein zu können. Unter den vielen, welche sich an den Diskussionen beteiligten, war nur einer, Herr Professor Pantazides, der für die Gesetzentwürfe gesprochen hat.

Der »Griech Lehrerverein« überreichte nach den Debatten der Kammer- kommission auch schriftlich seine Meinung, in einem Bande, welcher den Titel trägt: ,,/VtD/ia/ ror tE)J.rivr/.ov didaaxaktxoi Iv't.köyov ntQi tiüv ixnatötvTixwv Nofwayriiiov"*)- Desgleichen hat Herr Professor Chr. Papadopulos eine leider bis jetzt noch nicht veröffentlichte Denkschrift an die Kammerkommission gegen die Gesetzentwürfe gerichtet, wie auch Herr Seminardirektor Papasotiriou an den Kultusminister selbst.

•) Herrn Prof. Tbeod. Papadttnitrakopnlos, Verfasser des bekannten Werke«: I16QI TlQGtf OQÜg Tl%« «XAlJWX/^ ylu>OUl]Z, Herrn Gvmnaalaldlrektor Papanastasi ou , Herrn PrW&tdocenten G. Derbos, Herrn Prof. Bl. Skordella Ft. Seminardirektor In Tripoll«, Herrn P. Oekonomos Fr. Direktor d. Volksschule« Im Ministerium, u. Herrn Dr. Them. Mlchalopaloa. ••) Herrn Dr. G. Papasotlrloo. •••) Der ehrwürdige Professor der Philosophie Herr Dr. Chr. Papadopulos und der Prof. für griech. Philologie Herr Dr. S. Pantasldes, der aueh padag. Vorlesungen halt.

f) Der erste Teil dieses Buches (aueh in Separatabdruck erschienen) (ström tiyinnosUMiroktor

entwtlrfe; der aweite (ebenfalls in Separat« hdrnck erschienen anter dem Titel: Tlt 7ltQl jJldaOXU/LltlUV TIOV UQQ^VtüV NofÄOöyiÖlCt n. s. f.) vom Herrn Dr. Them. Hicha- opulos, Referent Uber die auf Lehrerseminare «ich besiehenden Gesetzentwürfe, und der dritte vom Hern» Prof. Oekonomo«. Referent Uber die auf Volksschule etc. bezüglichen Gesetzentwürfe.

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Nach allem dem wurden die berühmten Gesetzentwürfe selbst von der Regierung verlassen, somit in aller Stille begraben. Der sonst geistreiche Kultusminister hat sich mit Demütigung vor seinen Kollegen in einer seiner besten Unternehmungen hart getäuscht gesehen, auf die er die sichersten Hoffnungen gesetzt hatte.

Eben aber, weil ein solches das Ende der in Rede stehenden Gesetz- entwürfe gewesen ist, halte ich es nicht mehr für zweckmäfsig, dieselben im einzelnen zu besprechen. Sonst finden Sie auch die Erörterung in der oben genannten „l yc-juat tot tKjj,iivrAoi öidua^ah/LOi 1t Xkuytn . . ." Auch ist in der Zeitschrift ,t'.li}i viC (Band II, Heft 2) der »Gesellschaft

für Wissenschaft« ein sehr lesenswerter Aufsatz erschienen über den von den das Gymnasiumwesen betreffenden und wie es lautet, vom Herrn Prof. Pantazides verfafsten Gesetzentwürfen zu gering geschätzten Wert des Lateinischen, geschrieben vom Professor der lateinischen Philologie an der Universität Herrn Dr. Sp. Bassist

4. Herbart in Amerika.

Es wird ohne Zweifel die Leser der Studien interessieren, etwas über die Fortschritte zu hören, welche die Hcrbartsche Pädagogik in den letzten Jahren in Amerika gemacht hat. Vor fünf Jahren hörte man dort von Herbart so gut wie nichts. Prof. De Garmo, dessen Name schon seit Jahren in dem Mitgliederverzcichnis des Vereins für wissenschaftliche Päda- gogik als der einzige Vertreter des Vereins in Amerika gestanden hat, war der erste unseres Wissens, welcher den Versuch machte, dieses System dort zu verbreiten. Er veröffentlichte im vorigen Jahre ein kleines Buch, betitelt »Wesentliche Züge der Methode« *). In diesem Buche versucht De Garmo Herbarts Lehre von den formalen Stufen wiederzugeben. Die beiden anderen Grundideen der neueren Didaktik, Kulturhistorische Stufen, und Konzentration, berührt er nur beiläufig.

Das zweite Buch, welches sich die Darlegung der Herbartschen Prinzipien zur Aufgabe macht, ist die in diesem Jahre erschienene Arbeit von Dr. Charles Mc. Murry. Dieselbe ist betitelt: »Wie man zu unter- richten hat« **). Nach einer kurzen Darlegung der Hauptideen in Herbarts Didaktik, illustriert der Verfasser dieselben an einigen Beispielen aus der Naturkunde und dem Sprachunterricht. Am Ende folgt eine Übersetzung aus Prof. Reins »Das erste Schuljahr«.

•} EnentUU of Metbod. D. C. Hcttb A Co. Ntw-York vm. ••) How to couduot th<? Reoiutlon. E. L. Kellogg H. N«w-York, 18»0.

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Das dritte und bis jetzt das letzte erschienene Werk derart ist gleichfalls ein kleines Buch. Es ist von Dr. Th. B. Noss, Seminar- direktor in California, Pennsylvania, und führt den Titel »Umrifs der Psy- chologie und Pädagogik«*).

In erster Linie ist dieses Buch für den Gebrauch in des Verfassers eigener Klasse bestimmt. In demselben findet man mehr Anregung zum selbständigen Nachdenken als eine Darlegung von fertigen Prinzipien. In dem zweiten Teil, welcher von Hermann T. Lukens geschrieben ist, be- findet sich eine kurze Zusammenstellung der Hauptpunkte des Herbartschen Systems. Dies ist der Hauptsache nach das Material von Prof. Reins Vorlesungen über »die psychologische Grundlage des Unterrichtsver- fahrens« in den Fortbildungskursen für Lehrer, gehalten in Jena September 1889.

Ein gröfseres Werk, welches sich aber nur beiläufig mit der Herbarti- schen Pädagogik beschäftigt, ist das Buch von Dr. Klemm**). Weil nun dasfelbe für, weitere Kreise bestimmt ist, und in einer anerkannten guten Folge (International Education Scries) vom Haupte des amerikanischen Kultusbüreaus herausgegeben ist, verdient es besondere Beachtung. Der Verfasser hat Theorie und Praxis der Herbartischen Schule in den Franckeschen Stiftungen in Halle kennen gelernt. Es findet sich nun weiter im 24. Hefte von >L ehrproben und Lehrgänge« von Dir. Frick, eine Obersetzung des betreffenden Kapitels, nebst einer Berichtigung der Mifsverständnisse, welche in dem Buche vorkommen. Das Buch ist auch im 4. Heft »Praxis der Erziehungsschule« von Direktor Just be- sprochen worden. Dr. Klemm giebt in seinem Bericht als Beispiele eine Lektion in der Botanik, eine in der Naturbeschreibung, eine im Gesinnungs- unterricht, und eine in Sprachunterricht wieder. In der Theorie hebt er das Prinzip der Konzentration ganz besonders hervor, ohne von den formalen oder den kultui historischen Stufen ein Wort zu sagen. In seinem Urteil über das System sagt er »Aufrichtig gestanden bezweifle ich, dafs die Herbartsche Schule wirklich im Stande ist, uns das Rezept zu einer so- fortigen Verbesserung unsere r> Schulen zu bieten, aber gerne gebe ich zu, dafs wir bedingungslos für die Annahme ihrer Grundsätze eintreten könnten, wenn alle unsere Lehrer so wären wie die vorzüglichen Lehrer, die ich in den Franckeschen Stiftungen in Halle habe unterrichten hören.«

Unter allen den genannten Werken wird vielleicht das letzte sich der gröfsten Verbreitung freuen.

Ausserdem ist das Interesse an der Pädagogik Herbarts in Amerika jedenfalls im Zunehmen begriffen. ***) Noch aber fehlt es an einem grund- legenden Werke, welches die Theorie so wohl wie auch die Praxis in ein- gehender Weise darlegen sollte.

*) OutliOM of Piycbology and Podagogy. Susrenaon and Joater. Pituburgh, 1890. **) European SctiooU, or what mw In th« achooli of Germany, Franc«, Auatrla and Swltxer- Und. Bjr L. R. Klamm Ph. D. New- York 1889.

•♦*) 8. naaordinga Dr. Hall, Notea of th« German achool. 189«.

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5. Der achte deutsche Lehrertag in Berlin*).

Von J. Tews in Berlin.

Über den achten deutschen Lehrertag ist schon eine solche Unsumme von Berichten mehr oder weniger objektiver Natur und von Beurteilungen mit mehr oder weniger Parteieingenommenheit veröffentlicht worden, dafs wir diesen Äufserungen nicht noch eine gleichartige hinzufugen wollen. Es soll vielmehr einzig und allein unser Bemühen sein, die Erscheinungen auf dem Lehrertage selbst und seine bereits hervorgetretenen und wahr- scheinlich zu erwartenden Folgen einer ruhigen und, soweit dies überhaupt möglich ist, gänzlich parteilosen Besprechung zu unterziehen.

Auf dem achten deutschen Lehrertage waren ca. 60000 deutsche Lehre r ordnungsmäfsig, d. h. durch die in den einzelnen Vereinen Deutsch- lands gewählten Abgeordneten vertreten. Wenn man nun die Zahl sämt- licher Volksschullehrer im deutschen Reiche auf 100 105000 annimmt eine Statistik liegt nicht vor, aber wenn Preufsen mit 60 Proz. der Be- völkerung des deutschen Reiches (28,3 Mill. von 46,7 Mill.) im Jahre 1886 56000 Lehrer hatte, so kann die Gesamtzahl, auch bei Berücksichtigung der ungünstigeren preufsischen Verhältnisse, nicht weit über 100000 an- genommen werden so war in Berlin zweifellos die Mehrheit der deutschen Lehrerschaft vertreten und allem Anscheine nach wird die Mehrheit, die sich auf den deutschen Lehrertagen vertreten läfst, demnächst noch eine erheblich stärkere werden. Wenn ferner an der Versammlung 4000 Lehrer aus allen Gauen des Vaterlandes persönlich teilnahmen, so darf wohl behauptet werden, dafs ein recht grofser Teil der Lehrerschaft an den dort beratenen Gegenständen ein erhebliches aktuelles Interesse hat. Diese Thatsache ist wichtig, denn es unterliegt wohl keinem Zweifel, dafs nur derjenige mit seinen pädagogischen Vorschlägen und Anregungen auf dem nächsten Wege zur allgemeinen Beachtung gelangt, der diese Organisation zu benutzen weifs. Keine andere Schöpfung, keine päda- gogische Zeitschrift reicht so weit, als die Organisation des deutschen Lehrertages und des deutschen Lehrervereins. Wir würden es lebhaft be- dauern, wenn sich die Führer auf dem Gebiete der Pädagogik dieser That- sache verschliefsen und es versäumen, oder gar verschmähen würden, zu den Lehrervereinen Beziehungen anzubahnen, um hier ihre Ideen und Resultate zum Ausdruck zu bringen, zum Wohl der Schule und des Lehrer- standes.

In den Vereinen, besonders in den gröfseren, werden wenige be- deutungsvolle Gedanken geboren. Die eigentliche Geburtsstätte der reformatorischen Gedanken ist die Studien- oder die Schulstube.

•) Vwgl. hlerro: Evangel. Scbulblatt von Dörnfeld, Augnstheft 1880 : Lernt, denn Ihr seid ge- warnt Ton A. Rade. Ferner : Grabt, Dr. Dltte* ror dem Urteil angesehener Pädagogen. Deutucbe Lehreraeltong MS n. «W.

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Aber die Vereine geben dem in die Tiefe gehenden Forscher wie dem ge- schickten methodischen Arbeiter oder dem talentvollen praktischen Päda- gogen Gelegenheit, durch das lebendige Wort seine Genossen für seine Ideen zu gewinnen, zu hören, wie seine Bestrebungen von der grofsen Menge beurteilt werden, sie bieten Gelegenheit, andere Versuche und Er- fahrungen entgegenzunehmen und dementsprechend entweder mit wertvollen Hilfskräften verbunden weiter zu arbeiten, neue Agitationsmittel aufzusuchen, oder auch wohl nach reiflicher Überlegung einen Gedanken als einen Irr- tum abzustofsen. Die Lehrervereine sind die eigentlichen pädagogischen Schulen für die im Amte befindlichen Lehrer, und wenn jemand an ihnen vorüber gehen wollte, so wäre das ebenso lächerlich als die Mühen bei seinen religiösen Übungen zu vermeiden.

Dafs für den diesjährigen Lehrertag Berlin als Versammlungsort ge- wählt wurde, geschah in Rücksicht auf die Wirksamkeit Adolf Dicster- wegs hierselbst. Und man darf auch wohl, ohne sich einer einseitigen Beurteilung schuldig zu machen, behaupten, dafs die Versammlung unter dem Banner Diesterwegs sich entfaltete. Mag man dies auf der einen Seite für eine erfreuliche, auf der andern Seite als eine betrübende Thatsache bezeichnen, immer ist es ein Zeichen geistiger Erhebung, wenn sich ein Stand seiner grofsen Angehörigen lebendig erinnert und ihr Andenken ehrt. Freilich darf diese Verehrung nun nicht so gedacht und geäufsert werden, als sei man mit Leib und Seele Jünger des Gefeierten, denn dann würde sich die jeweilige pädagogische Richtung zwar nicht nach dem herrschenden Winde, aber nach dem Festkalender der einzelnen Jahre richten und je nach dem mit einer Hundertjahrsfeier darin auftretenden grofsen Vorfahren wechseln. Wenn man grofse Tote ehrt, so erinnert man sich gern ohne kleinliche Kritik ihrer Thaten und Verdienste, ohne die Gefeierten in Denken und Handeln nun in jeder Beziehung zum Muster zu nehmen. Es erscheint notwendig, dies auch der Berliner Diesterwegfeier gegenüber zu beachten. Wer daran teil genommen hat, wird allerdings darüber nicht im Zweifel sein, dafs unter den heimgegangenen Pädagogen Diesterweg dem Herzen der deutschen Lehrer vielleicht am nächsten steht. Trotzdem darf man auch bei den Teilnehmern keineswegs eine gleiche Zustimmung zu allen Grundsätzen Diesterwegs annehmen. Wer das thut und gethan hat, mufs niemals Feste ähnlicher Art mitgefeiert haben. Es würde unseres Erachtens eine arge Zerrüttung unseres nationalen Lebens bedeuten, wenn man einem grofsen Sohne unserer Nation nur dann seine Verehrung dar- bringen könnte, wenn man mit ihm in allen Punkten einverstanden wäre. Dann hörte das nationale Leben auf, und es gäbe nur noch ein Partei-, ein Kastenlebcn.

Eine ganz andere Frage ist es, ob in Berlin der rechte Mann die Tribüne bestiegen hat, um Diesterwegs Mahnen zu feiern. Wenn eine Festfeier den Zweck hat, einen Toten in idealer Verklärung den Feiernden zu zeigen, ihn abgetrennt von dem Streit der Meinungen des Tages zu schildern, das an ihm hervorzuheben, was alle anerkennen, das Abgeklärte, Bleibende, so hat Dittes seine Aufgabe schlecht oder gar nicht

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erfüllt. Handelt es sich an einem solchen Tage aber darum, den Helden in realster Gestalt vor die Hörer hinzustellen, seine grofsen Wahrheiten und Irrtümer, sein Geistesbrausen und seinen Herzschlag fühlbar zu machen, den grofsen Menschen, wie er leibte und lebte, auf eine Stunde aus dem Grabe hervorzuholen, so konnte kein besserer als Dittes berufen werden. Wer sich den Worten des 60 jährigen Kämpfers nicht absicht- lich vcrschlofs, wurde hingerissen von dem Feuer der Begeisterung, und wir haben Männer mit ergrautem Haare, die sonst in einer ganz andern Geisteswelt leben, gesehen, wie ihnen die Thränen in die Augen traten. Der unbeschreibliche Jubel, der die Rede Dittes begleitete, galt nicht dessen Gedanken, sondern dessen machtvollem Bekenntnis, dessen, was er an Diestcrweg als wahr und echt glaubt erkannt zu haben, und es erscheint völlig ungehörig, nun hinterher jedes Dittessche Wort als ein Bekenntnis des deutschet Lchrertages oder gar der deutschen Lehrerschaft hinzu- stellen.

Wir lassen es völlig dahin gestellt sein, wie die Diester wegfeier sich hätte gestalten sollen, in jeder Form wäre sie wirksam möglich gewesen, Realismus und Idealismus erscheinen uns wenigstens in dieser Beziehung nicht als unverträgliche Gegensätze, sondern nur als zwei un- gleichartige Kinder derselben Mutter, der Kunst, und es kommt vielmehr darauf an, wie die eine oder die andere Form gehandhabt wird, als dafs man sich zu einer oder der andern bekennt.

Dittes hat sein grofses Ideal, Diesterweg, nicht gefälscht, er hat aller- dings seinem Bilde vielfach einen Rahmen gegeben, der für einen Teil der am pädagogischen Leben Beteiligten störend ist. Ob er damit wohlge- than hat, wissen wir nicht, denn die moderne Schule zählt auch viele »Freunde«, die ihren Namen mit Unrecht tragen; das mag man vielleicht auf Anhänger und Gegner Dittes in gleicher Weise anwenden können.

Neben der Diesterwegfeier, den auch durch einige andere Veran- staltungen, durch eine von Lehrer Risch gedichtetes und Lehrer Ziegler komponiertes Festspiel, durch Gesänge des >Berliner Lehrer - Sänger- bundes«, durch einen eindrucksvollen Festakt am Grabe Dicstcrwcgs, noch hervorgehoben wurde, traten die übrigen Arbeiten des Lehrer- tages merklich zurück, wenn auch die Tcilnehmerzahl sich annähernd aut derselben Höhe hielt.

Was die Verhandlungsgegenständc selbst anbetrifft, so kann man eine Bemerkung nicht unterdrücken. In dem angenommenen Programm fehlten die didaktischen und speziell pädagogischen Gegenstände ganz, selbst die Sc h ul o rg a nisation wurde nicht ge- streift, und es traten lediglich Themen auf, welche die Aufgabe der Schule im Allgemeinen, besonders aber die Schu lvcrl assung und die recht- liche und Standes rechtliche Lage des Lehrerstandes behandeln. Der Gründe für diese Erscheinung mögen mehrere sein. Es mögen zu- nächst die eigentlich didaktischen und pädagogischen Fragen in grofsen Versammlungen schwer zu behandeln sein. Oder sollte die Lehrerschaft dafür nicht das nötige Interesse besitzen ? Diese Anklage wäre unseres.

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Erachtens völlig unangebracht, denn wer einen umfangreichen Vereins- kalender, wie ihn beispielsweise die >Preufs. Lehrerzeitung« bringt, täglich durchsieht und Tag für Tag die Berichte aus den Lokal-, Kreis-,. Gau-, Provinzial- uud Lande s'vercinen liest, bemerkt, dafs die Verhandlungsgegenstände in überwiegender Zahl der eigentlichen Schularbeit entnommen sind, dafs also in den Arbeitsstuben, der Vereine die Pädagogik in ihrer vom öffentlichen Leben abgeson- derten Form eine ausgedehnte Pflege findet. Wenn indessen auf den. Lehrertagen, und auf dem letzten mehr als je, die Stellung der Schule und des Lehrerstandes zu anderen Faktoren des politischen und gesellschaftlichen Lebens fast ausschliefslich zum Ausdruck gebracht wurde, so erscheint uns das als ein sehr deutlicher Fingerzeig, dafs in dieser Beziehung vieles zu bessern ist, und ferner wird dadurch deutlich genug gezeigt, dafs unbe- friedigende Verhältnisse imstande sind, einen Stand seinen eigentlichen Aufgaben zu entfremden und ihn auf die Bahn des Kampfes für äufsere Stellung und Anerkennung zu drängen.

Die deutschen Lehrertage mit ihrer imposanten Teilnehmer- zahl wenden sich in erster Linie an die Öffentlichkeit, und wer das Leben und Streben in den Einzelvercinen kennt, weifs, dafs die deut- schen Volksschulpädagogcn der Nation auch in speziell pädagogischer Hin- sicht manches bedeutsame Wort zu sagen hätten, was jetzt ungesagt bleibt, weil man mit den eigenen Angelegenheiten zu sehr beschäftigt ist.

Die lautesten Wünsche der Lehrerschalt lassen sich in zwei. Forderungen zusammenfassen : Gröfsere Gehälter und gröfsere Rechte. Die ersterc Forderung ist auf dem Lehrertage kaum gestreift worden, während die letztere sowohl in den Verhandlungen über die Küster- fragc als auch über die Schulsynoden, ja auch in dem Vortrage über die sozialen Aufgaben der Schule zum Ausdruck kamen, allerdings nicht ab- gesondert, aber im Rahmen der betreffenden Materie mit sehr wahrnehm- barer Betonung. Es sind lediglich standesrechtliche und pädagogische Gründe, welche die Lehrerschaft veranlassen, gegen niederen Kirchen- dienst, geistliche Schulinspektion und Schulvorstände, in denen der Lehrer nicht vertreten ist, zu Felde zu ziehen. Man hat in den Besprechungen des Lehrertages im Parla- mente, in Versammlungen und in der Presse diesen "Wünschen einen politischen und kirchlichen Charakter aufzudrücken gesucht. Das heifst die Bewegung absichtlich oder unabsicht- lich verkennen. Wenn die Berliner Versammlung, die sich, so weit die blofsen Teilnehmer in Betracht kommen, nicht die Vereinsabgeordneten, immerhin vorwiegend aus den am weitesten nach links stehenden Elementen des Lehrerstandes man zusammengesetzt haben, über rein politische oder kirchliche Dinge ein Urteil abgegeben hätte, so möchte dies besonders in kirchlicher Beziehung nicht sehr freisinnig und in politischer Hinsicht nichts weniger als radikal geklungen haben. In jenen Forderungen vereinigen sich heute aber alle bewufsten Glieder des Lehrerstandes ohne Rücksicht auf kirchliche und politische Stellung, von dem äufsersten linken bis zum

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äufscrstcn rechten Flügel, alle haben erkannt, dafs die standesrechtliche Stel- lung des Lehrers eine unbefriedigende und damit zugleich die Lage der Schule eine ungebührlich unfreie ist. Man darf dreist behaupten, dafs die- jenigen Glieder des Lehrerstandes, die jenen drei Forderungen nicht zu- stimmen, entweder in rein persönlichen Interessen aufgehen oder über Schulverfafsungsfragen niemals nachgedacht haben. Es ist deswegen durch- aus unzuläfsig, jene Angelegenheiten mit religiösen und kirchlichen, sowie mit politischen Fragen zu vermengen. In der deutschen Lehrerschaft steckt ein reicher Schatz von Religiösität, von Idealismus und nationalem Sinn, so dafs durch Vergröfserung ihrer Rechte in keiner dieser Beziehungen der Schule irgend welche Gefahr erwachsen kann. Wohl aber würde nach Erledigung dieser dringenden Wünsche die eigentlich pädagogische Arbeit auch auf den grofsen Versammlungen wieder mehr in den Vordergrund treten. Und das thut dringend not. Die Nation hat ein Recht zu ver- langen, dafs eine Vereinigung von 60000 Volksschullehrern über die bren- nendsten Zeitfragen der nationalen Erziehung ein wohl er- wogenes Urteil abgiebt. So haben weite Kreise es z. B. bedauert, dafs der Lehrertag sich mit der Frage der hauswirtschaftlichen Ausbildung ärmerer Mädchen nur in einer Nebenversammlung beschäftigen konnte. Hier giebt es Arbeit, hier ist unser Platz, und es wird hohe Zeit, dafs wir nicht, wie ehemals die aus der Verbannung heimkehrenden Juden, in der einen Hand den Hammer und in der andern das Schwert halten, sondern dafs wir an- fangen können, friedlich zu bauen, zu pflanzen, zu pflegen. Der Arbeit ist viel und der Arbeiter wenige. Und wenn diese wenigen noch durch äufsere Verhältnisse abgelenkt und durch unangemessene Beschäftigung und Stellung in ihrer wesentlich auf der Autorität sich aufbauenden Arbeit behindert werden, so vermag die Schule ihre sozialpädagogischen Aufgaben nicht zu lösen und der Lehrer aufserhalb der Schule nicht denjenigen fordernden und Einflufs auszuüben, den alle weiterblickenden Pädagogen von ihm fordern.

Hätte der achte deutsche Lehrertag auch nichts weiter gethan, als diese Thatsachen wiederum Tausenden vors Gewissen gestellt, so könnte man ihn nicht als unfruchtbar bezeichnen. Aber er hat auch mehr als das geleistet. Er hat in einem der Verhandlungsgegenstände (die Aufgaben der Schule gegenüber der sozialen Frage) die nächsten Ar- beiten, in aller Nüchternheit und Sachlichkeit, welche der Schule bei der Auflösung des grofsen Fragezeichens der Gegenwart zufallen, gekenn- zeichnet. In den Nebenversammlung en sind wichtige pädagogische und didaktische Fragen verhandelt worden. Vor allem aber hat der natio- nale Gedanke wiederum einen wahrhaft grofsartigen Ausdruck erhalten. Wenn der Schwabe dem Mecklenburger, der Bayer dem Schleswiger und der Pfälzer dem Ostpreufsen seine Rechte entgegenstreckt und alle sich eins wissen in der Arbeit für das Gedeihen der jungen Generation im Reiche, so fiiefst dieser Geist von den Erziehern auf die Erzogenen über, und die deutschen Lehrertage haben nicht nur pädagogische und schulpotitische, sondern auch eine hohe nationale Bedeutung.

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Schreitet die Schule vorwärts, so wird auch von den deutschen Lehrer- tagen vieles verschwinden, was den rein idealen Pädagogen heute stört. Eins wächst mit dem andern und durch das andere. Da(s das mit beiden Teilen geschehe, das ist unser Wunsch und unsere Hoffnung.

6. Verein für Herbartische Pädagogik in Rheinland und

Westfalen.

Die n. Hauptversammlung des Vereins, zu welcher etwa 130 Teil- nehmer erschienen waren, fand am 26. Juli d. J. im »Deutschen Kaiser« zu Elberfeld statt Der Verein, der sich zum gröfsten Teile aus den Herbart- kränzchen des Bergischen, des Märkischen, des Niederrheins und der unteren Ruhr zusammensetzt, unter denen er einen regen Austausch der Gedanken zu vermitteln sucht, ist in erfreulichem Wachstum begriffen ; die Zahl seiner Mitglieder beträgt gegenwärtig 235, und weitere Anschlüsse stehen noch zu erwarten.

In seiner Bcgrüfsungsrede wies der Vorsitzende, Herr Rektor Horn (Orsoys auf die Zeitumstände hin, die gegenwärtig besonders die Hoffnung belebten, dafs die Art der Herbartischen Schulauffassung in unseren Schulen bald mehr Raum finden würde als seither, nämlich t) die sozialen Verhält- nisse, welche die Schule als Erziehungsanstalt dringend forderten, 2) der Berliner Lehrertag, der die Frage nach der Organisation des Schulwesens in Flufs gebracht habe. Der Vortragende ging sodann zu seinem eigent- lichen Thema über : Die pädagogische Bedeutung der Flügeischen Schrift: Die Sittenlehre Jesu. Aus seinem Referate heben wir folgende Gedanken hervor:

1. Der Versuch, die ethischen Lehren Jesu als etwas Selbständiges zu betrachten, erregt bei manchen Anstofs. Wenn Lotze im Mikrokosmus in dem »dem religiösen Leben« gewidmeten Abschnitt sich anschickt, die Lehre Jesu einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen, so hebt er damit an zu erklären, dafs die Lehre der christlichen Kirche es nicht verstattet, den Inhalt, der durch Christum offenbart ist, von dem Glauben an den geschichtlichen Vorgang zu trennen. Worin ist der Grund dieser Abneigung zu suchen? Allerdings weist die Ge- schichte Erscheinungen auf, die wohl von einer Trennung der verschiedenen Sekten des sittlich-religiösen Lebens warnen können. Es hat Zeiten ge- geben, wo das rationale, andere, wo das ethische Element, andere, wo die

Pädagogische Studien. I. 4

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Rechtgläubigkeit so vorwog, dals das christliche Leben schwer darunter litt. Wir werden ebenso wenig den räsonnierenden oder den sittenstrengen Rationalismus als die mönchische Beschaulichkeit oder orthodoxe Recht- gläubigkeit als die wahre Darstellung christlichen Lebens anerkennen. Daraus folgt indes aber keineswegs das Verbot jeder getrennten Betrachtung. Dieses wird noch besonders daraus gefolgert, dafs man kurzerhand die Existenz einer für sich seienden Sittlichkeit bestreitet, wobei man sich auf das Wort stützt: >\Vas nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde.« Dem- gegenüber ist ein grofses Verdienst Flügels, dafs er nachweist, dafs auch Jesus eine selbständige Ethik vorausgesetzt hat.

Doch nicht nur eine gesonderte Behandlung der ethischen Momente ist zu fordern, sondern ebenso der metaphysischen, der psychologischen und der im engeren Sinne religiösen. Es entspricht diese gesonderte Be- trachtung einem unabweisbaren Bedürfnis, dessen Vorkommen die bedenk- lichsten Kolgen haben kann. Nach der Natur unseres Geisteslebens können wir gar nicht anders, als dahin streben, das metaphysische, ethische, psychologische und religiöse Material, was uns durch Unterweisung und Erfahrung zukommt, zusammenzufassen zu einem widerspruchslosen Ganzen. Es ist nicht anzunehmen, dafs es Menschen giebt, die nicht in ihrer Weise philosophische Metaphysik, Psychologie und Ethik treiben, die sich z.B. nicht Gedanken machen über das Wesen Gottes und sein Verhältnis zu uns, über den Einflufs des Leibes auf die Seele und umgekehrt, über ihr Denken, Fühlen, Wollen und seine Beziehungen, über den Zusammenhang dessen, was sie für recht und unrecht halten. Wollen wir nun als Lehrer diese Thätigkcit in die rechte Bahn lenken, so müssen wir 1) selbst richtige metaphysische, psychologische etc. Einsicht haben und 2) die in unserm Unterricht vorkommenden einschlägigen Elemente so behandeln, wie dies im Hinblick auf ihre spätere Verarbeitung erforderlich ist. Man lernt die einzelnen Gebiete aber nur kennen durch eine gesonderte Behandlung.

2. Es läfst sich nicht verkennen, dafs die christliche Erziehung in unseren Tagen es sehr nötig hat, dafs ihr auch das von Jesu dargestellte sittliche Ideal ernstlicher vor Augen gestellt und ihr die Aufgabe, dem nach- zustreben, ins Gewissen geschoben werde. Denn wie geht's heute? Weil keiner ist, der Gutes thut, auch nicht einer, und so keiner aus dem Gesetz gerecht wird, weil im Gegenteil nach übereinstimmender Schriftlehre vor Gott nur eine Gerechtigkeit aus dem Glauben gilt, so bemüht man sich, die Anbefohlenen auf dem kürzesten Wege zu Christo, dem Heilande, zu bringen. So rühmen sich Kinder und Erwachsene ihres Gnadenstandes, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, was es heifst : »in Christi Tod getauft sein.«

Für den sündigen Menschen führt der Weg zu Gott durch die Bufse; der Wert der Bufse aber ist abhängig von dem sittlichen Ideal, an dem ich mich messe; und so ist auch die Qualität des Glaubens durch die Sittlich- keit bedingt. Wie wir uns den glaubensstarken Apostel Paulus nicht denken können ohne den sittlich ernst ringenden Saulus, so auch nicht den Glaubens-

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helden Luther ohne den mit Aufbietung aller Kraft nach Gerechtigkeit strebenden Mönch.

Wo das Gesetz nicht als Zuchtmeister zu seinem Recht kommt, da erhält es auch nicht sein Recht in der Heiligung. Es ist eine ebenso traurige wie weitverbreitete Erscheinung in der Christenheit, dafs man sich des Verdienstes Christi in einer Weise tröstet, als ob nun alle Verpflichtung zum Ablegen der Sünde aufgehoben sei. Der Tod ist nach dieser Theorie der rechte Heiland ; mit dem Leibe wird auch alles Sündliche ab- und die Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi angelegt, wie etwa ein Kleid gewechselt wird. Wie der Schächer am Kreuz noch rechtzeitig die Gnadenhand Jesu ergriff und eingehen durfte in die ewige Seligkeit, so kommt es auch hier für uns alle nur auf dieses Ergreifen und Festhalten an; das Christo- ähn- lich-werden, Vollkommensein wie der Vater im Himmel, das kommt ohne unser Zuthun, ist Gnadengabe.

Dafs diese Anschauung durchaus nicht schriftgemäfs ist, bedarf keines Beweises; sie ist nichts weiter als eine grobe Selbsttäuschung und eine Konsequenz der Anschauung, die auch ohne Gesetz glaubt zu Christo kommen zu können.

Wer auf seine Mitmenschen religiös einwirken möchte, der sollte dies zunächst sittlich thun. Der gemeinsame Boden ist die allgemeine Ethik. Deshalb weist Zahn in seinem Buche über die natürliche Moral darauf hin, dafs es nicht wohlgethan sei, dafs die christliche Liebcsthätigkeit so manche Gebiete für sich in Anspruch genommen hat, wo alle, die ein Herz für ihren Nächsten haben, zur Mithilfe sollten eingeladen werden. Es ist unverkennbar, dafs in den letzten Jahren das allgemeine Urteil über die christliche Lebcnsbethätigung, z. B. über äufsere und innere Mission, die Fürsorge für Arme und Kranke, ungleich freundlicher geworden ist, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich die Veranlassung hierzu in der stärkeren Betonung des sittlichen Moments bei Handelnden wie Urteilenden suche. Mancher ist zu Christo gekommen, weil er sah, dafs Christus nicht nur der schönste unter den Menschenkindern ist, sondern auch sich ähnlich werden läfst die, so an ihn glauben.

3. Die sich rasch folgenden Lehrbücher der systematischen Zoologie, Botanik etc. beweisen deutlich, dafs jeder Fortschritt in der Erkenntnis des Einzelnen auch eine Änderung des Systems notwendig macht. Könnte es nicht mit der philosophischen Ethik ähnliche Bewandtnis haben? Die Ethik hat in der Person Jesu ein Ideal, zu dem die Vergangenheit kein Gleiches bot und die Zukunft keines bieten wird. Gelingt es ihr, dieser Persönlich- keit gerecht zu werden, sie unserem Verständnis näher zu bringen, so be- sitzt sie darin eine Legitimation, wie ich sie nicht besser denken kann. Ich weifs nicht, ob andere Schulen den Versuch gemacht haben, die Sitten- lehre Jesu übersichtlich und zusammenhängend nach ihrem System darzu- stellen; das aber kann ich sagen, dafs mir die Lehre Jesu durch Flügels Arbeit verständlicher geworden ist.

Wenn nun die Herbartische Ethik auf rechtem Wege ist, so kann es für ihre Schüler kein besseres Fürderungsmittel ^eben, als *ich zu vertiefen

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in das schönste aller Menschenkinder. Es wird sich schwerlich feststellen lassen, wie weit H e r b a r t seine praktische Philosophie aus der Betrach- tung des Bildes Jesu gewonnen hat; wer aber in nachchristlicher Zeit sich ein Verständnis schaffen will für das religiös-sittliche Leben, der mufs zurückkehren zu seiner klassischen Periode, und das ist die Zeit Christi und der Apostel.

Aach ein Bedenken inbezug auf die Vollständigkeit der Herbartischen Ethik möchte ich nicht verschweigen. Die Religion ist nach Flügels Buch ein Motiv der Sittlichkeit. Ist sie nicht noch mehr? David betet um einen freudigen Geist, Jesus spricht zu Nikodemus von einer Wiedergeburt aus Wasser und Geist, ohne die das Reich Gottes nicht zu schauen und ohne die nicht hineinzukommen ist, und er redet von dem Kommen des Geistes, der ihn verklären werde. Das Wesen unsers und alles Seins ist uns ver- borgen. Sollte nicht von Gott in das ihm ergebene Gemüt eine erneuernde Lebenskraft ausgehen können, die auch das sittliche Sein verklärt und so in einem gewissen Sinn zu einem neuen Lebensprinzip wird?

4. Noch eines speziellen Dienstes, den Flügels Schrift zu leisten ver- mag, will ich hier gedenken. Es ist eine alte Streitfrage, ob die in den verschiedenen Perioden der Hcilsgcschichtc zur Darstellung kommende sittliche Anschauung dieselbe ist oder ob die Geschichte einen Fortschritt oder endlich nach einem schweren Rückgang ein oft unterbrochenes und gestörtes Fortschreiten aufweise. Nach dem öffentlichen Recht schützt Unkenntnis nicht vor der Strafe bei Übertretung eines Gesetzes, es sei denn im Falle der Unzurechnungsfähigkeit. Sonst aber gilt: AVer da weifs, Gutes zu thun, und thut es nicht, dem ist es Sünde.« Die verschiedenen Verhältnisse, unter denen die Menschen aufwachsen, bedingen ein so ver- schiedenes Mafs der Bildung nach Einsicht und Gemüt, dafs es ungerecht sein würde, sie alle nach demselben sittlichen Mafs messen zu wollen. Be- trachten wir nun die verschiedenen Zeiten nach ihrer Rückwirkung auf die Sittlichkeit, schätzen wir diese Rückwirkung z. B. in der Patriarchenzeit nur nach dem Einflufs, den die Vielweiberei, die Hörigkeit, die Eigentums- verhältnisse haben mufsten, so ist es aufser Frage, dafs manches in den verschiedenen Zeiten nicht das sittliche Mifsfailen auf sich ziehen konnte, was nach Änderung der Verhältnisse getadelt werden mufste.

Erscheint es hiernach ohne Frage, dafs die Geschichte der ver- schiedenen Perioden verschiedene Beurteilung verlangt, so glauben andere dennoch eine Gleichwertigkeit annehmen zu sollen, weil derselbe Gott vom Anfange der Tage sich der Menschen angenommen und ihnen seinen Willen offenbart hat.

Flügel hat nun nachgewiesen, dafs Jesus eine unabhängige Ethik voraussetzt, und darnach ist sie überhaupt für die heilige Geschichte an- zunehmen. Ist es hiernach richtig, die Einzelerscheinungen aus ihren Zeit- verhältnissen heraus sittlich zu beurteilen, so ist es auch weiter geboten, die von Aufsen kommenden gesetzlichen Anordnungen, ebenso die An- kündigung von Lohn und Strafe dementsprechend zu behandeln. Die Heils- geschichtc ist eine Erziehungsgeschichte. Da kann es nicht auffallend er-

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scheinen, dafs bei beginnender besserer Einsicht diese durch von aufsen kommende gesetzliche Anordnungen unter Ankündigung von Lohn und Strafe geschützt wird.

Wendet man bei der Schätzung der Einzelpersönlichkciten den von Jesu in dem Gleichnis von den verliehenen Pfunden gebrauchten Mafsstab an, wonach der Wert des Einzelnen von der bewiesenen Treue in der Ver- wendung der verliehenen Gaben abhängt, so ist es sehr wohl zu verstehen, dafs Abraham für alle Zeit als der Vater der Gläubigen gepriesen werden kann, weil er durch vollkommenes Eingehen in den göttlichen Willen, soweit er ihn nach dem damaligen Stand der sittlich-religiösen Entwickelung kennen konnte, für immer vorbildlich sein wird.

So handelt es sich also bei der Vorführung jeder Persönlichkeit um ein Doppeltes : um die sittliche Beurteilung des Thuns und um ihre Schätzung. Bei der sittlichen Beurteilung wird immer das Geringere neben dem Vollkommeneren mifsfallen, die Gebrechen können aber in der Schätzung schwinden, und die Persönlichkeit kann trotz ihrer hohen Wert haben, wenn sich ihre Fehler mit einer gewissen Notwendig- keit aus ihren Verhältnissen ergeben.

5. Wollte man Flügels Gedanken verfolgen, so müfste man nicht nur die sämtlichen in der Schule zur Behandlung kommenden Aussprüche Jesu, sondern auch die biblischen Geschichten auf ihre Zugehörigkeit zu den fünf Ideeen ansehen. Nicht, als ob hiernach eine Einteilung versucht werden könnte davon würde schon der Umstand abmahnen, dafs wohl jede Ge- schichte zu verschiedenen Ideen gestellt werden mufstc wohl aber könnte diese Gruppierung gute Dienste thun für die Gewinnung der Lehre und für die Anwendung. Dem alten Zahn ging es in seinem Unterricht immer um die Sicherheit in den Elementen. Auch in neuerer Zeit ist ernstlich darauf hingewiesen worden, dafs wir namentlich im Religions-Unterrichte viel zu hohe Dinge treiben, dafs es sich vielmehr darum handele, sichern Grund zu legen in sittlicher und religiöser Beziehung. Nun giebt es für die Sittenlehre schwerlich etwas Elementareres als die fünf Ideen; auf diese immer hinzuweisen, sie zu vertiefen und fest zu machen, sie ins Leben der Kinder einzuführen, das erachte ich als unsere Aufgabe.

Dafs man dabei nicht von der Idee der inneren Freiheit, Vollkommen- heit reden darf, versteht sich von selbst, Die Form, unter der sie ein- zuführen wäre, müfste gesucht werden. Vielleicht eigneten sich dafür kurz gefafste Lehrsätze. Alle Gebiete des Gesinnungsunterrichts müfsten sich übereinstimmend an dieser Arbeit beteiligen, und wie vom Religionsunter- richte zu ihnen, so müfsten auch umgekehrt von ihnen zu jenem Brücken geschlagen werden, wodurch die zusammenhängenden Vorstcllungsmassen und Gefühle zur einheitlichen Wirkung kämen. Im Religionsunterricht würde menschlicher geredet werden, und bei profanen Stoffen würde der Schüler durch die innigere Verbindung den Eindruck gewinnen, dafs es überall heiliges Land giebt, wo nur ernst religiös-sittliches Leben ist.

Das Schulleben ist ein ärmliches Übungsfeld ; doch wo die Schule noch einen Schulbezirk hat und eine lebendige Beziehung besteht zwischen Schule

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und Interessentschaft, da fehlt es nicht an reicher Gelegenheit, das Wissen immer wieder in Thun umzusetzen, die jugendlichen Kräfte anzuleiten, nicht nur Hörer des Wortes zu sein, sondern auch Thäter.

Der sich an den Vortrag anschliefsenden mehrstündigen Besprechung lagen folgende Leitsätze zu Grunde :

1) Das Buch bietet dankenswerte Anregung, sich über die verschiede- nen Aufgaben des Religions-Unterrichts, namentlich über die religiöse und ethische, Klarheit zu verschaffen.

2) Es zeigt, dafs eine gesonderte (darum noch nicht abgetrennte» Be- handlung der ethischen Momente im Religions-Unterricht notwendig ist, wenn a) das Gesetz ein Zuchtmeister auf Christum werden, b) die durch Christum geschehene Erlösung die rechten Früchte bringen soll.

3) Wie die philosophische Ethik dem Religions-Unterricht gute Dienste leistet, so dient umgekehrt der Reltgions- Unterricht ihr als Probierstein und wesentliches Förderungsmittel.

4) Flügels Buch ist ein treffliches Hilfsmittel für die Behandlung der biblischen Geschichte. Es hilft nicht nur zum Verständnis der Geschichten aus den verschiedenen Zeitaltern, es leistet auch guten Dienst für die Be- handlung der Einzelgeschichte, namentlich für die Stufe des Systems und der Methode.

5) Wie es eine einheitliche Gestaltung des Gesinnungsunterrichts er- leichtert, so regt es zu der Frage an, ob es nicht wohlgethan sei, dieser Einheitlichkeit durch eine einheitliche Terminologie inbezug auf die sittlichen Verhältnisse Ausdruck zu geben.

Für die Weihnachts-Konferenz wurden Themata vorgeschlagen wie: Ackermanns Schrift: Die formale Bildung, Der geographische Unterricht, Die freie Schulgemeinde, Die Rechte der Familie an der'Schule. Es wurde dem Vorstande überlassen, das Nähere zu bestimmen.

Elberfeld. A. Lomberg.

7. Von der Benderschen Erziehungsanstalt in Weinheim

a. d. Bergstrasse.

Es wäre ohne Zweifel eine höchst interessante und äufserst lohnende Arbeit, zu zeigen, welche Förderung die Erziehungswissenschaft aus den privaten Erziehungsanstalten gewonnen hat. Reiche Ausbeute hierfür würde auch die Bendersche Erziehungsanstalt in Weinheim gewähren, welche seit dem Jahre 1829 besteht und seit dem Jahre 1832 in einer grofsen Anzahl von Programmen Zeugnis ablegte von dem gesunden, reichen Leben, das in der Anstalt herrschte und für die Entwicklung der Pädagogik

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von Bedeutung wurde. Wir erinnern nur an die Namen Finger, Frese- nius, Stoy und zählen folgende Programmarbeiten auf: Finger, Ober die Elementarklassc. 1837.

Ober geometrischen Unterricht. 1839. Über naturgeschichtlichen Unterricht. 1844. Stoy, Über deutschen Sprachunterricht in den ersten 6 Jahren. 1842. Fresenius, Über mathemathischen Unterricht. 1847.

Unsere Einführung in den geographischen Unterricht. 1850. K. Bender, Ober das Turnen. 1838.

Über das Reisen der Knaben. 1845.

Unsere Reise im Sommer 1859. H. Bender, Über das Arbeiten der Knaben in der Werkstätte. 1846. Gilbert, Zwei Winterabende in der Anstalt. 1849. \ Langsdorff, Bilder von unserer Reise in den Harz. 1851. Birnbaum, Über Zeichenunterricht. 1857 etc.

8. Aus ^Lichtenbergs ausgewählten Schriften".

(Leipzig, Reclam).

»Es war eine Zeit in Rom, da man die Fische besser erzog, als die Kinder. Wir erziehen die Pferde besser. Es ist doch seltsam genug, dafs der Mann, der am Hofe die Pferde zureitet, Tausende von Thalern zur Be- soldung hat, und die, die demselben die Unterthanen zureiten, die Schul- meister, hungern müfsen.« (S. 204).

»Er hielt sehr viel vom Lernen auf der Stube und war also gänzlich für die gelehrte Stallfütterung.« (S. 193).

»Er kann die Tinte nicht halten, und wenn es ihm ankommt, jemand zu besudeln, so besudelt er sich gemeiniglich am meisten.« (S. 192).

»Unter die gröfsten Entdeckungen, auf die der menschliche Verstand in den neuesten Zeiten gefallen ist, gehört meiner Meinung nach wohl die Kunst Bücher zu beurteilen, ohne sie gelesen zu haben.« (S. 191).

»In jedes Menschen Charakter sitzt etwas, das sich nicht brechen läfst, das Knochengebäude des Charakters; und dieses ändern wollen, heifst immer, ein Schaf das Apporticren lehren.« (S. 94).

»Der allzuschnelle Zuwachs an Kenntnissen, der mit zu wenigem eigenen Zuthun erhalten wird, ist nicht »ehr fruchtbar. Die Gelehrsamkeit kann auch ins Laub treiben, ohne Früchte zu tragen. Man findet oft sehr seichte Köpfe, die zum Erstaunen viel wissen. Was man sich selbst er-

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finden mufs, läfst im Verstände die Bahn zurück, die auch bei einer andern Gelegenheit gebraucht werden kann.« (S. 44).

»Man sollte doch unterscheiden lernen zwischen dem, was ein Mann selbst gedacht hat, und dem, was einer abschreibt.« (S. 17).

9. Die Unterrichtsverfassung der preussischen Gymnasien

vom 12. Januar 1816.

VI.

IV.

III.

II.

I.

i Jahr

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i Jahr

> Jahre

a Jahre

3 Jahns.

1.

2

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; .

2

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6

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4

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- : 5

5

7

7

s.

Geschichte und Erdkunde . .

3

3

3

3

3

3

(Erdk.) (Geich.)

i

6.

Mathematik und Rechnen . .

6

6

6

6

6

6

7-

Naturwissenschaften ....

2

2

J 2

2

2

2

8.

3

3 1

I 2

2

9-

Schreiben

4

4 i -

1

Im ganzen

32

32

32

32

32

32

Damit wolle man die Lehrpläne vom Jahre 1882 vergleichen!

10. Selbstanzeige.

Der Religionsunterricht auf der Oberstufe der Volks- schule. Präparationen nach psychologischer Methode von Dr. Thrändorf. i. Teil: Das Leben Jesu und der zweite Artikel. Dresden. Bleyl und Kämmerer. 1890.

Darf man bis ins Einzelne ausgeführte Präparationen veröffentlichen? Ich selber habe früher die Frage einfach mit Nein beantwortet, aber die Beobachtungen an der Übungschule haben mich nach und nach auf andere

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Gedanken gebracht. Wenn unsre jungen Leute das Seminar verlassen, so sehen sie sich mit einem Male in die Notwendigkeit versetzt in den ver- schiedensten Fächern des Volksschulunterrichtes zugleich praktisch thätig zu sein, da ist es denn bei 32 und mehr Stunden in der Woche fast un- möglich, dafs sie sich mit einem Schlage für alle Unterrichtsstunden gründ- lich durchdachte methodische Praparationen schaffen können. Jeder der länger im Amte steht und es mit seinem Berufe ernst nimmt weifs, wie lange es dauert, bis man seinen Präparationen die Form gegeben hat, die das pädagogische Gewissen einigermafsen befriedigt, sollen nun unsre jungen Kollegen immer wieder von vorn anfangen und mit ihren Klassen dasselbe Lehrgeld zahlen, was wir zahlen mufsten? Ich dächte schon die Rücksicht auf die Kinder legte uns die Pflicht auf, dem nachwachsenden Lehrer- geschlecht möglichst bald zu einer gesunden Praxis zu verhelfen. Aber, wirft man mir vor, der Faule wird deine Präparationen als Ruhcpolster benutzen und auf eigenes Streben verzichten. Hier möchte ich mit einer Gegen- frage antworten: Was wird denn der Denkfaule ohne solche Präparationen machen? Ich fürchte, er wird sich sehr bald mit sehr unvollkommenen Präparationsentwürfen begnügen und den Schaden trafen die Kinder. Das gestehe ich offen: Mir graut bei dem Gedanken, dafs mein Buch in die Hände solcher Mietlinge kommen sollte, die da meinen, nun sei ihnen die Arbeit abgenommen. Ich bin aber der guten Zuversicht, dals der bei weitem gröfstc Teil derer, die mein Buch benutzen werden mich nur als Mitarbeiter oder Handlanger ansehen wird, der einen Teil der Arbeit ab- nimmt, damit der andere Teil um so besser gethan werden kann. Dieser andere wichtigste Teil besteht in der Anpassung an die individuellen Ver- hältnisse der Schule, in der der betreffende Kollege arbeitet.

Dals ich das, was etwa Gutes an meinen Präparationen ist, den beiden Meistern Herbart und Zillcr verdanke, brauche ich den Lesern dieser Zeit- schrift wohl nicht besonders zu versichern. Die höchst verdienstlichen Arbeiten des Herrn Direktor Staude verdrängen zu wollen ist mir nicht in den Sinn gekommen, vielmehr würde ich es am liebsten sehen, wenn man meine Präparationen neben den Staudeschen benutzte, denn so wäre der Benutzende am besten vor Einseitigkeiten bewahrt. Der Unterschied zwischen uns beiden besteht darin, dafs ich aus meinen Einheiten auf Grund des 2. Artikels und der Lutherschen Erklärung einen speziali- sierten Katechismus herausgearbeitet habe. Aufscrdem bin ich in der methodischen Handreichung etwas weiter gegangen, in dem ich nicht nur die Hauptfragen (Konzentrationsfragen), sondern auch eine ziem- liche Menge von Spezialfragen angegeben habe. Das möchte ich nicht so verstanden wissen, als ob diese Spezialfragen stets in dieser Weise ge- stellt werden müfsten, vielmehr wünschte ich, dafs immer zunächst eine Gesamtantwort auf die Hauptfrage vom Schüler gefordert wird, an die der Unterricht dann berichtigend und weiterführend anzuknüpfen hat. Erst wenn diese Antwort auf die Hauptfrage ausbleibt, und das wird bei Schülern, die früher katechetisch unterrichtet wurden, anfangs häufig geschehen erst dann sind diese Spezialfragen anzuwenden.

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Dafs meinem Versuche schon deshalb, weil er in dieser Form der erste ist, noch viele Mängel anhaften werden, glaube ich wohl, ich hoffe aber, dafs eine gründliche und sachliche Kritik mich in die Lage setzen wird, es künftig besser machen zu können. Ob ich den Lehrern mit meiner Veröffentlichung einen Dienst erw iesen habe mögen die entscheiden, die mein Buch in der Praxis benutzt haben.

Dr. Thrändorl.

C. Beurteilungen.

L

Otto Fischer, Leben, Schriften und Bedeutung der wichtigsten Päda- gogen bis zum Tode Pestalozzis übersichtlich dargestellt. Ein Lern- buch für Examinanden. Gütersloh, C. Bertelsmann 1889. 8". VII. 219 S. Pr. 3 M.

Vorliegende Schrift soll das Studium des pädagogischen Schrifttums, namentlich vom Jahre 1500 ab, er- leichtern. Demgcmäfs hat der Ver- fasser versucht, »möglichst genaue Gliederungen der pädagogischen Schriften, eine zusammenhängende, gedrängte Darstellung ihrer Kernge- danken und meist auch einige Hin- weise auf ihren Wert zu geben. > Dies seien die Momente, welche bei pädagogischen Prüfungen mit zu den Hauptforderungen gehörten. Zur Erlangung der 'Sicherheit im Wissen« soll das vorliegende Buch als Hilfsmittel dienen, und der Ver- fasser glaubt, damit einem thatsäch- lich gefühltem Bedürfnisse entgegen- zukommen. Wir unsererseits können dieses Bedürfnis nicht anerkennen. Denn abgesehen davon, dafs zu dem vom V erfasser angeführten Zwecke verschiedene Hilfsmittel existieren, sind wir der Ansicht, dafs nur die selbst erarbeiteten Gliederungen und Inhaltsangaben wirklichen Wert be- sitzen. So liegt die Gefahr nahe,

dafs die in gutem Glauben unter- nommene Darstellung, hauptsächlich da sie sehr weitläufig angelegt ist, einer bequemeren Vorbereitung auf die Examina Vorschub leistet und zu einein Wissen verhilft, das nicht länger vorhält, als die Prüfung dauert.

Wir geben in nachstehendem zu- nächst eine Gliederung des Buches. Vorausgeschickt sind einige einlei- tende Bemerkungen über die Be- deutung der historischen Pädagogik. Hie: wären eher einige Worte über Begriff, Auffassung und Litteratur, sodann auch über die Quellen der Geschichte der Pädagogik am Platze gewesen.

Der 1. Hauptteil (S. 2—28) ist dem Erziehungs- und Unterrichtswesen vor Christus gewidmet, während der 2. umfangreichere (S. 29 216) die Zeit nach Christus umfafst

Vor Christus: A Die Pädagogik des Heidentums.

1. DicGriechcn: Die dorische Erziehung in Sparta die jonische Erziehung in Athen berühmte griechische Pädagogen (Pythagoras, Sokratcs, Plato, Aristoteles)

2. Die Römer: Das Familien- leben das Schulwesen be- rühmte römische Pädagogen tSeneca, Quintilian).

y Die alten Deutschen: das Familienleben.

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B. Die Pädagogik des Judentums.

Nach Christus: A. Die Zeit von Christus bis auf Luther.

I Die altchristliche Päda- gogik (bis zu Kar! d. Gr.): Jesus Christus die Apostel die Schulen in den ersten christ- lichen Jahrhunderten Basilius d. Gr.-- Chrysostomus Hiero- nymus — Augustin Kloster- schulcn Kirchenschulen.

II. Die Pädagogik des Mittel- alters (von Karl d. Gr. bis Luther) :

Karl der Grofse Alkuin Hrabanus Maurus das Schul- wesen im nachkarolingischen Mittelalter. B. Die Zeit von Luther bis jetzt:

I. Luther tS. 46—50; Mclanch- thon Bugenhagen Zwingli

Calvin Trotzendorf - Sturm

Die Jesuiten (S. 57 60) Baco Ratkc (S. 62—71) Comenius (S. 71—91) Herzog Ernst der Fromme Spener Francke Fönclon (S. 101 106).

II. John Locke i'S. 106 1091 Rousseau (S. 109—121) Base- dow (S. 122— 130) Salzmann 13« bis 144} Campe Rochow (S. 147— 154) Pestalozzi (S. 154 bis 2i 6).

Warum das Buch gerade mit Pesta- lozzi abschliefst, ist uns unerklärlich. Es ist dies, wie es scheint, dieselbe Schrulle mit der Wilhelm Schcrer seine Geschichte der deutschen Lit- teratur mit Goethe abgeschlossen hatte.

Unstreitig die schwächste Partei des Buches ist die Darstellung der Zeit vor Luther. Ungenaue Angaben, veraltete Anschauungen, die sich zumteil längst als Sagen und Mythen erwiesen haben, u. dgl. lassen ver- muten, dafs sich der Verfasser ganz im Fahrwasser der Geschichts- schreiber der Pädagogik alten Styls bewege. Das Todesjahr des Pytha- goras z B ist falsch bestimmt; er starb nicht 470 v. Chr. sondern etwa 505—495 v. Chr. Weiter bringt der Verfasser noch die durch nichts auf- recht zu erhaltende Vermutung grofser Reisen des Pythagoras nach dem Orient als Thatsache. Desgleichen

ist ihm der pythagoräische Bund »eine dorisch-aristokratische Gesell- schaft« ; diese kurze Bezeichnung könnte die irrtümliche Auffassung des pyth. Bundes als eines rein poli- tischen Vereines zur Folge haben; vielmehr ist er zunächst durch die ethisch reformatorische Tendenz ge- kennzeichnet; dafs er dann auch zur politischen Reform hinneigte, erklärt sich zur Genüge aus der damaligen Zeitlage.

Auch die Darstellung der plato- nischen und aristotelischen Lehren zeigt manche Unklarheiten und Mängel. Bei Aristoteles wird unter den Lehrfächern die Musik vermifst. Gerade über sie ergeht sich Aristo- teles sehr ausführlich. Hätte der Verfasser auf diesen Punkt mehr Gewicht gelegt, so wäre ihm die schiefe Behauptung (S. iS), dafs die griechische Erziehung dii Herzens- bildung vernachlässigt habe, nicht unterlaufen Dort (Pol. VIII, 5. 7), wo Aristoteles von der vierfachen Bestimmung der Musik redet, er- wähnt er ihren Einflufs auf Gemüt und Charakter: sie erzeugt das \ !hi$ noutv, sie dient zur »Reinigung« (/M^ciQtft^). Auch die tiefe Einsicht des Aristoteles in das Wesen der Erziehung, die sich darin ausspricht, dafs Kunst und Bildung das der Natur Mangelnde ( T<) uooiü.ü t ov 11^ rpt'oeitg) ergänzen solle, durfte sich der Verfasser nicht entgehen lassen.

Auch die Sophisten erfahren eine nicht genügend objektive Beurteilung. Dem .^i'uvixov %{)tlu(in.oi1 }n-f^>v

üvÜ-Qio.i (V folgt die recht unglück- liche Erläuterung- »Hiermit meinten sie jedoch nicht das allgemeine Wesen des Menschen, sondern seine subjektive Meinung.« Auch die Be- hauptung, dafs sie auf die griechische Erziehung höchst verderblich ein- gewirkt hätten, dürfte nicht so ganz zutreffend sein. Sie haben im Gegen- teil ein nicht geringes Verdienst an dem Stande der allgemeinen Bildung in Athen, indem sie »oinc Fülle all- gemeinen Wissens unter das Volk geworfen«, eine Reihe sprachwissen-

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schaftlicher Untersuchungen be- gründet und das allgemeine Interesse für viele wichtige Fragen erregt haben.

In der Darstellung der Quintilian- schen Pädagogik findet sich der Satz: »Ziel der Erziehung ist der gute Redner« (!).

Je näher wir der Neuzeit kommen, desto mehr läfst sich ein Zurück- gehen auf die Oucllenschriftcn er- kennen. Einzelne Kapitel, z B. über Ratke und Comcnius sind mit grofser Umsicht bearbeitet.

Zum Schlüsse noch ein Wort über die jedes Kapitel beschliefscnden »Beurteilungen«. Abgesehen davon, dafs sie mitunter mit der syste- matischen Darstellung der Haupt- gedanken in keinem Zusammenhange stehen, zeigen sie so recht, wie wenig geeignet der fast katechismus- artige Vortrag einer historischen Materie ist Indem dieses Zwitter- ding zwischen Lehrbuch und Repe- titorium das Fazit mit den Kate- gorien »Vorzüge« und »Mängel« zieht, thut es bisweilen den pädagogischen Lehren Gewalt an; so bezeichnet die »Beurteilung« Salzmanns als »Mangel«: »Speziellen Unterricht in der christlichen Religion ver- langte er erst nach dem 12. Jahre des Jünglings.«

H J. Eisenhofer. II

Die Kant-Herbartsche Ethik. Kritische Studicvon Fr. W.O. Krause, Gotha. Thienemanns Hofbuchhand- lung. 1889. 1,80 M.

Die vorliegende Schrift zerfallt in fünf Abschnitte. In den vier ersten Kapiteln liefert der Verf. eine Dar- stellung und Kritik der Ethik Kants und Herbarts. Im letzten Teile (S. 131 1 58) will er »bezüglich des Aufbaues eines Systems der Ethik positive Aufstellungen zum Vorschlag bringen.« Sein Endurteil über die Ethik Herbarts lautet (S. 128): »F.inc leicht und sicher verwend- bare Bestimmung des Guten mufs zweifellos

1. so klar und einfach sein, dafs sie von jedem Menschen ver-

standen werden kann, auch von dem auf niedriger Stufe geistigen Er- kennens stehenden,

2. mit den wirklichen und realen Verhältnissen des Lebens rechnen und darf sich nichts für ihre Zwecke gerade Pas- sendes konstruieren. Nach meiner Überzeugung aber leistet die Herbartschc Bestimmung des Guten weder das eine noch das andere, und deshalb kann ich sie nicht für die richtige halten.« Wir beschränken uns dein gegenüber auf die Bemerkung, dafs He rba rteinc philosophische Ethik schreiben wollte, dafs kein Verständiger ihm das Recht dazu bestreiten wird, dafs demnach selbst- verständlich nicht jeder Mensch ihn verstehen kann, dafs endlich seine Ethik in ihrer Anwendung auf die »wirklichen und realen Verhältnisse des Lebens« zu den fruchtbarsten Resultaten führt. Wenden wir uns nunmehr zueiner kurzen Besprechung der »positiven Aufstellungen« des Verfassers.

Der Verfasser hält es für unum- stöfslich sicher, dafs seit Kant ein Fortschritt auf dem Gebiete der Ethik nur insofern noch eintreten kann, als klar und bestimmt, vor allem aber unanfechtbar die Frage beantwortet wird: »Welcher Wille ist der gute5« In der »Freu- digkeit vollständiger Überzeugung« giebt er die Antwort kurz dahin : »Der freie vernünftige Wille ist der gute.« Er will nur diesen Satz erläutern und begründen, indem er erstens untersucht, welchem Willen diePrädikate »frei« und »vernünftig« zuerkannt werden müssen, und zweitens den Nach- weis führt, dafs der so und so bestimmte freie und vernünf- tige Wille auch wirklich der gute sei.

Welchem Willen also müssen die Prädikate »frei« und »vernünftig« zuerkannt werden? Der Verfasser sagt (S. 132): »Der Mensch ist ein Doppelwesen, halb Tier, halb Engel;« »zwei Seelen wohnen in seiner Brust;« er sieht »ein anderes Gesetz

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in seinen Gliedern, das da wider- streitet dem Gesetze in seinem Gc- müte«. . . . >Als Basis für meine Gedankenentwicklung stelle ich darum den nicht zu bestreiten- den, weil von der Erfahrung ge- gebenen und durch sie getragenen, alseine allgemeine Thatsache des menschlichen Bewufstseins auch allgemein giltigen Grundsatz auf, dafs sich am Menschen zwei in vollkommenem Gegensatz stehende, nie in einander über- gehende und deshalb deutlich trennbare Seiten unter- scheiden lassen. Nach dereinen Seite gehört der Mensch der natür- lichen, nach der andern der geistigen, der intelligenten Welt an. In der znvörderst genannten Welt herrscht der Zwang, in der andern die Freiheit.« Obgleich der Verfasser seinen »Grundsatz« für einen nichtzube streiten den hält, müssen wir ihm doch schon hier w idersprechen. Eine allge- meine Thatsache ist der Gegen- satz zweier Naturen im Menschen durchaus nicht. Was weifs ein un- schuldiges Kind von dem Gesetze in seinen Gliedern, das da wider- streitet dem Gesetze in seinem Ge- müte? Nichts, schlechterdings gar nichts. Sorglos und unbekümmert, nicht berührt von der leisesten Ahnung eines Widerstreits der beiden Seelen, die in Fausts Brust wohnen, lebt es in glücklicher Harmonie mit sich selbst dahin. Kinder sind doch aber auch Menschen sozusagen ; und wer wollte behaupten, dafs alle erwachsenen Menschen (die Wilden nicht zu vergessen !) den Kampf zwischen Pflicht und Neigung, idealem Wollen und Naturtrieb aus eigener Erfahrung kennen ?Die »zwei Seelen« sind nicht eine ursprüngliche Mitgift der menschlichen Natur, sondern ein Ergebnis der Erziehung und Bildung ; wäre die Erziehung allmächtig, so würden unsere Zöglinge wie mit Faust ausrufen : »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!« Und inwie- fern stehen dann die geistige (intelligente) und die natürliche Welt in vollkommenem Gegen- satze zu einander! Herrscht im

Gebiete des Geistes schranken- lose Freiheit, vollkom- mene Willkür? Vollziehen sich die geistigen Vorgänge nicht auch nach bestimmten Gesetzen? Können wir denken, fühlen, wollen, was wir wollen? So gar fest scheint uns demnach die Basis der Gedankenentwiklung des Ver- fassers nicht gerade zu sein. Doch hören wir ihn weiter.

»Beide Welten bemühen sich, dem Menschen für sein Entschliefsen und Thun Anstofs und Richtungsangabe zu erteilen. Je nachdem nun die Bemühung der einen oder der andern von Erfolg begleitet ist , befindet sich der Mensch entweder im Zu- stande des Gebundenseins an die Natur oder in dem der inneren Freiheit.... dem Menschen ist die Möglichkeit gegeben, sich über die Natur zu erheben, sich selbst zu bestimmen . . . Dieser Zustand des Gelöstseins vom Natur- zwange, dieser Zustand des durch- sich-sclbst-bestimmt-seins ist die innere Freiheit. S. 133. 135. Der Verfasser meint, sein Begriff der inneren Freiheit stimme überein mit der ersten praktischen IdeeHcr- barts; das ist aber ein Irrtum. Mit der Beherrschung der natür- lichen Begierden allein ist es nicht gethan, es kommt auf die Motive an, durch wrlchc das Streben nach der Zügelung derselben bestimmt wird. Bei H e r b a r t geht dies Be- streben aus dem Entschlufs hervor, der besten Einsichtgcmäfs zu leben, und darum ist die innere Freiheit, die er im Auge hat, eine Tugend. Der Verfasser aber übersieht, dafs man auch aus selbst- süchtigen , verwerflichen Beweg- gründen seine Begierden im Zaume halten und sich selbst be- herrschen kann. Der Ausdruck »innere Freiheit« bezeichnet bei ihm nur eine psychologische Fähigkeit, die als solche noch keine Würde für sich beanspruchen darf. Wer im stände ist, sich selbst zu beherrschen, braucht deshalb nicht gut zu sein, sondern kann sich nach ethischer kücksicht in einem Zustande grofscr Unfrei-

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heit befinden.« (Vgl. Allihn, Allg. Ethik. S. 97 ff).

Der Verlasser fährt fort (S. 136): >Das Etwas, welches die innere Freiheit in die Wirklichkeit treten läfst, ist der Wille. Eine weit- läufige Erörterung darüber, was der Wille sei, ist hier nicht an der Stelle. Kurz sei folgendes gesagt: Ich kann nicht, wie die Herbartianer es thun, den Willen für eine A r t des Begehrens halten, nämlich für eine solche, die z u r Bethätigung strebt. Nach meiner Auffassung zeigt jede Vorstellung, die zum Be- gehren wird, das Streben zur That hin. Das aber, was aus dem Menschen heraus unter Umständen das Be- gehren hindert, zur That zu werden, ist eben der Wille. Dieser begehrt nichts und hat nichts Gleichartiges mit dem Begehren.« Dafs die »Her- bartianer« den Willen für eine Art des Begehrens halten, ist richtig ; allein welcher Herbartianer erblickt die Eigenart des Willens in der Thatsache, dafs derselbe zur Bethätigung strebt? Welcher Herbartianer hat jemals in voll- ständiger Verkennung der allerersten Anfangsgründe jeder Theorie des Begehrens vergessen, dafs jede Be- gierde zur > Bethätigung« strebt, dafs also dies »zur Bethätigung streben« unmöglich das unterscheidende Kenn- zeichen des Willens sein kann ? So viel uns bekannt ist, erklären alte »Herbartianer« der Willen für ein Bekehren, welches mit der Vor- aussetzung der Erreich- barkeit des Begehrtensich verbindet. Wie lauten doch die klassischen Worte Herbarts in der Allg. Pädagogik ? »Eine Aufregung ohne Bestimmtheit, ein blofses Sich - Hinneigen zu einem Gegenstande, ohne die Voraussetzung, man werde ihn erreichen, mag Begierde heifsen, oder Verlangen. Wer da spricht : Ich will !-dcr hat sich des Künftigen in Gedanken schon be- mächtigt; er sieht sich schon voll- bringend, besitzend, geniefsend. Zeigt ihm, dafs er nicht könne- er will schon nicht mehr, indem er auch versteht.« (Vgl. Herbart.

W. X. S. 127). Vermutlich ist der Verfasser zu seinem sonderbaren Mifsvcrständnis durch die Erklärung Herbarts verleitet worden: »Die That erzeugt den Willen aus der Begierde.« Und was soll man gar zu der Behauptung sagen, der Wille habe nichts gleichar- tiges mit dem Begehren? Der Wille strebt also nicht über die Gegenwart hinaus, hat kein Ziel, will demnach nichts? Und dieser nichtswollende Wille soll die »innere Freiheit in die Wirklichkeit treten« lassen ? Das ist dem Rez. zu stark, und er hält sich nicht für verpflichtet, den Ausführungen des Verfassers noch weiter im Einzelnen nachzu- gehen. Der Fortschritt der Unter- suchung mag durch folgende Sätze kurz bezeichnet werden.

»Die unablösbare Eigenschaft des Willens ist die Freiheit.« 1 36. »Aller Wille ist vernünf- tig«. 137. »Der Wille ist die Ver- nunft selbst, soweit sie thätig in das natürliche Vorstellungsgetriebe eingreift . . . Die Freiheit der Vernunft ist eine Thatsache des menschlichen Bewufstseins und bedarf aus diesem Grunde keines Ursprungszeugnisses.« 138. »Die Wesen>eigentümlichkcit des Ver- nünftigen ist die Rücksichtnahme, das Wohlwol len « 14t. Wer dem- nach überhaupt etwas will, der ist nach der Ansicht des Verfassers frei, vernünftig, wohlwollend, gut. So einfach hatte sich gewifs keiner von unsern Lesern die Be- antwortung der erwähnten Frage ge- dacht: »Welcher Wille ist der gute?« Wir alle waren bisher der Meinung, es gebe auch einen bösen Willen, der unbeschadet seiner ethischen Verwerflichkeit doch alle Merkmale eines echten Willens an sich trage.

»Das Wohlwollen ist das Auf- gehen in der Gesamtheit und ein unter diesem Gesichtspunkte stehendes Sich-hingebcn an das einzelne Glied, auch an sich; denn in dem eben entwickelten Sinne kann man ebenso gut gegen sich wohlwollend sein, als gegen andere, was H er ba rt bekanntlich

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bestreitet« . (Wir bestreiten das eine ; Wohlwollen gegen sich selbst nennt man sonst Ei ge nlieb e) 142. »Wenn alles aus dem Gebundensein an die Natur Hervorgehende böse ist, sind wir dann nicht gezwungen, Böses zu thun? Nein. Ein Begehren und Thun an sich ist weder böse noch gut; die eine oder die andere Eigen- schaft giebt ihm allein die Ge- sinnung, aus der es hervorgeht. Ein Beispiel map das zeigen. Das Aufnehmen von Nahrung ist sowohl dem unvernünftigen, als auch dem vernünftigen Menschen notwendig. Im Begehren und Aufnehmen der Nahrung liegt weder etwas Böses, noch etwas Gutes. Wie benimmt sich aber das unvernünftige Wesen im Zustande des Hungers, und wie das vernünftige? Der unvernünftige Mensch steht wie das Tier unter dem Naturzwange Er wird also in jenem Zustande das Aufnehmen von Nahrung als das an sich Wich- tige empfinden, dem er alles Minder- kräftige unterordnet und zu dessen Erreichung er die Mittel rücksichts- los wählt und so vernunftwidrig, böse handelt. Rez. mufstc, als er diese Worte las, unwillkürlich an sein zweijähriges Töchterchen denken, das ganz offenbar das Auf- nehmen von Nahrung als das »an sich Wichtige« empfindet, dem es alles »Minderkräftige« (z. B. die Lust am Spiel) unterordnet, und zu dessen Erreichung es die Mittel rücksichts- los wählte, so rücksichtslos, dafs es zuweilen mit dem Händchen in den Teller hineingreift. Und deshalb soll ich mein Kind fiir böse halten? Ich soll ihm zürnen, als hätte es eine Sünde begangen? Das ist denn doch eine geradezu ungeheuer- liche Zumutung. So rächt sich an dem Verfasser die Gleichsetzung der psychologischen mit der sittlichen Freiheit. Der ver- nünftige Mensch fühlt das stark auf- tretende Bedürfnis der Nahrung auch. Er wird sich aber demselben nicht überlassen, sondern seine Vernunft befragen, ob er ihm entsprechen dürfe. Diese sagt ihm, dafs er in Rücksicht auf die Erhaltung seines Körpers Nahrung aufzunehmen habe.

Er wird die Mittel zur Stillung seines Hungers vernünftig wählen und so gut handeln.« 146. An solchen Anschauungen gemessen, mag ein alter Geizhals wohl als ein trefflicher Mann erscheinen; denn er wird nur essen, weil es zur Erhaltung des Lebens notwendig ist; er wird die Mittel zur Befriedigung seines Nahrungsbedürfnisses nicht rück- sichtslos, sondern jedenfalls mit Rücksicht auf seinen Geldbeutel wählen und darum - gut handeln; Genug, der Verfasser bekundet ein ernstes und redliches Streben ; seine Gesinnung ist vortrefflich; dafs es ihm aber gelungen wäre, in seinen Anschauungen über die Grundlagen der philosophischen Ethik zur Klar- heit durchzudringen, können wir nicht zugeben.

Eisenach. O. Foltz.

III.

Quellenl ktüre und Geschichtsunterricht.

Eine pädagogische Zeit- und Streit- frage. Erörtert von Dr. Max Schilling, Oberlehrer. Berlin 1890. R. Gaertners Verlagsbuch- handlung. Hermann Hcyfelder. SW. Schönebergerstrafse 26. Gr. 8. 48 S.

Es mehren sich die Anzeigen, dafs man in neuster Zeit dem Geschichts- unterricht eine erhöhte Teilnahme schenkt. Der Grund hierfür kann nur darin gefunden werden, dafs die bisherige Methode , nach welcher man auf den Schulen es handelt sich in erster Linie um die höheren Schulen Geschichte treibt, als un- zulänglich empfunden wird.

Da es nun nicht jedem so ohne weiteres möglich ist, die zugehörige Litteratur sich zu verschaffen und zu studieren, um volle Klarheit zu erlangen, so ist es gewifs ein Ver- dienst des Verfassers, in dem vor- liegenden Büchlein diejenige Frage eingehend und klar erörtert zu haben, die wohl als eine der Hauptfragen in dem Streit über die Methode des Geschichtsunterrichts angesehen wer- den kann.

Der Inhalt zerfällt in drei Teile: 1. Geschichtlicher ( erblick. 2. Ge-

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Sichtspunkte, nach denen die Quellen- lektüre zu würdigen ist. 3 Didaktische Behandlung der Quellenicktüre.

Bei einer zweiten Auflage würde der Verfasser sich vielleicht ent- schliefsen, den auf S. 44 fehlenden >Vortrag des Lehrers« einzufügen, um so eher, da er selbst die Lücke zu fühlen scheint. Erst dann wird man sich völlig klar darüber werden

können, wie er sich das Verhältnis des Vortrags zu seiner Art, Ge- schichte zu lehren, denkt. Dafs auf S. 8 in der Mitte das Wort »nicht« überflüssig ist, während es auf S. 31 fehlt, und dafs hier der Ausdruck »Mangelan Zeit« unlogisch gebraucht ist, wird der Verfasser selbst schon bemerkt haben.

Eisenach. Dr. Göpfert.

D. Anzeigen.

Moderne Kunst. Illustrierte Monats- schrift mit Kunstbeilagen in Meister- holzschnitten. Monatl. 1 Lieferung. Pr. 1 M. Kerlin, Richard Bong. Von diesem Werk liegen uns zwei Lieferungen vor. (Jahrgang IV, 1 u. 2). Darnach stehen wir nicht an, dasselbe warm zu empfehlen. Der Inhalt der Hefte ist ein aufserordent- lich reicher, die Vervielfältigungen sind sehr gelungen, zumteil künst- lerisch vollendet. Um einen Begriff von der Reichhaltigkeit der Hefte zu geben, sei der Inhalt der beiden vorliegenden kurz skizziert. Von gröfseren Blättern finden sich : B 1 a a s,

Rosina; M. Stone, In Liebe; E che na, Simson u. Delila; Knaus, Reigen; Makowski, Der Zar wählt die Braut; Maffei, Kämpfende Auer- hähne; Lieck, Liebestraum; Garn- b a , Der Kufs ;Sicmiradzki, Phryne in Eleusis; Tejedor, Die Taufe; Anderscn-Lundby, Früher Win- ter ; Martens, Traumbilder ; B r i d g - man, Sommerabend. Daneben im Text, welcher aufser Novellen, li- terarische und kunstgeschichtliche Darlegungen bringt, eine Reihe klei- ner Holzschnitte, die sich der ge- schmackvollen Gesamt- Ausstattung würdig einfügen.

Druck von G. Fat« in Naumburg a. ».

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Jnbagogifdjfv Orrlog ö. ßlrqU' fiofmrafrfr(>. 5:i).iQfmmfrer) in Breden.

3al»rgan<J 1885.

jpcft I. 0rabS, ffemetlungen ju beut Vuffate beS Seminarlebrcr» Sdincoet Soburg, „Der

« II. Dr H. (Mpfert, ftrtbtfertigung einiget pabagogif<bet (Bebanten flitlrr*.

III. i.gtrb Senn, Stwi pdboooflildK Wnflft»friamtnlunfl«t 8. Dr. ftatt 3uft, Die (»tnetaU

Detfammlung be« «errin* füt »iftrnfcbaftlid>r «abagogif *u «fingften 1885 in balle o. 6. . IV. l. Dt. ©. Wetn, tfemertungen *u ber S4tift be» $erm <£. » SaOroürf: $anbel unb

©anbei bet pabag. 6d)ule $etbarH «. Tbfob. «Sogt, *r bie Witglirbet be« «etein«

für nriffenldiaitl. ^abagogit. a. Dr. S <b n n b e r Entgegnung.

3ttbrgang 1K8*

$eft I. 1. *. £e{cf)te. Die etbifae uub dftbrtifcbe Bebeutung M lurnen*. H. Dr. «liebner, S. 5*. Stoa unb bat päbagogifdK UniPrtfuatafrminar. . II. Dr «aber, Die Wctftobe ttbtißi.

CU. 1. $tof. Dr Wenge, Die Anfänge be« 2atein'Unterri<ftt« in Seyta 2. Sbr. Ufer,

Über bie Seirung bon Konferenzen bee SebrerfoHegtum« M rv. «. «I6dner«8db»ig, 8u Düte«' ffritif ber «etbarrfdjen $äbagogtt.

^abrgang 1887.

fceft I. (Stabe, «ermag bet S»eligion»unterrid)t ber beiben erften S4wl|abtr iftne «runblage

für bie ftttlifrteligiofe ©Übung \u bieten ? II. $tof. Dr. Wenge, ber beutle »inbeit«f<tiutoetem. fcr'uno Warnnel. übet Den affo=

dietenben Straftet bet ttrbtunbe. III. C. ftolb, difenaib. Übet batftrDenbrn Unterti^t. . IV. Dr. fcotlenbadi, ber tteftenuntftriät im erften Scbuljatjr

;lobrgang 1888.

£eft I. Dr. Waller, ttameniu«. ein Spftematitet in bet ^abagogit. U. $r«f. Dr. tö. Mein, (Befinnungounterrtajt unb fculturgddn«bte.

III. Dr. 9i. Staube, Kritifdy «emetfungen ju ben Oauptpunften ber o SaQroürf icben ©d>tift

, 9efinnung<untettid)t unb ftulturgefdjtdue." IV. 91. 6 4> ofmann, Soffen, bft Keltgionfuntrttidlt in gebliebenen Säulen uaä ben Ö.

tßangemann'färn Stfttiften.

3abtgang 1889.

£«ft I. $. <9rab#, ßut aefrtplantbeotie mit «ejtebung auf bie «olWdiule I. 1. $rof. Dr. 33. Sein, Strt nntei Scminarbucb. II. «botf «u»»e, 8ut tBunbtjdpn «pperjeption«le&te. III. 9. $idel, SRocb, einmal ba* SSeimatlftbe Seminarbudj.

IV. $. 9iol(ec$ot)eneiä)e, Die Selbftdnbigtett ber Scbule inmitten pon Staat unb »tobe.

3abtgang 1890.

$eft I. (Stab«, »tiiit einiget «orfälftge jut fiebtplantefotm. U. «bolf «übe, 8u« «pperjeption. IIL Cbuatb b. jpattmann. Rann bet $effimi«mul er^teb.!»* roirlen ? ,, IV. l. Dr. «. «ille, 4>etbart* Crjiebungfvfl auf feinen perftfliebenen trntwirfluiiglftufen. 2. «. ßombetg, @a$recbnen.

Neu eingegangene Schriften.

Alge, Leitfaden f. d. ersten Unterricht im Französischen. 2. Aufl. St. Gallen

Jetter, Erzieh. Unterricht. Altenburg, Pierer.

Mass, Zeittafel der Geschichte der Pädagogik. Weimar, Krüg«r.

Baumgartner, Lehrgang der engl. Sprache. Zürich. Füssli.

Steokel, Zwei Posthefte. Halle, Schroedel.

Schwatm, Sohulliederbuch. Breslau, Becher.

Müller, De viris Ulustribus. Hannover, Meyer.

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Dr. M. Murry. Herbert. Spencers Krziehungslehre. Gütersloh. Bertelsmann.

Sprockhoft Schul-Naturlehre. Haunover. Meyer.

Janke. Gmndriss der Schulhygiene. Hamburg u. Leipzig, Voss.

Dörpfeld, Gesellschaftsknnde. Gütersloh, Bertelsmann.

Magnus. Deutsche Geschäftsaufsätze. Halle. Sehn »edel .

Lattmann Eine ausgleichende Losung. Gottingen, Vandenhoeck n. Ruprecht.

Mittenzwey, 40 Lektionen über Gesetz.-skunde uml Volkswirt schaftslehre.

Gotha, Belnend. Steger. M Lebensbilder. Halle. Sehroedel.

Meyer. Lesebuch der Erdkunde für Schule u. Haus. H Bde. (iotha, Behren*!. Ehrke, Au* Deutschlands grosser Zeit. Magdeburg, Klotz. Krüger. Kirchengeschichte. Leipzig, Badeker. Falßke-FÖrater. Religionsbuch. Halle, Sehroedel.

Stecket, Einrichtung der Brief« u. amtl. Schrift .-tu« kV. Halle. Schroedel.

Dörpfeld, Repetitorium d.-r Gesellschat'tskumle. Gütersloh, Bertelsmann.

Bräutigam. Der Elementarkurs. Weimar, Krüger.

Sallwürk. Das Staatsseminar für Pädagogik. Gotha, Behrend.

Juling. Das Gymnasium Hannover. Mey.r.

Perthes. Die Notwendigkeit einer durchgreifenden Umgestaltung unseres Schulwesen*. Gotha. Perthes.

Sprockhoffs Physik für Volksschulen. Hanover. Meyer.

Triiper. Die Schule und die sozialen Fragen. 2 Hefte. Gütersloh, Bertels- mann.

Schuster, Lehrbuch der Poetik. Halle. Mühlmanti.

Pädagog. Sammelmappe. 12'». i:U Heft. Leipzig, Sigismund u. Volkening. Lattmann-Müller. Grieth. Übungsbuch. Güttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht. Lattmann-Müller.. Kurzgefaßte lat Grammatik, Güttingen, Vandenhoeck n.

Ruprecht.

Alumneumaerinnerungen. Von einem alten Krenzschüier. Leipzig, Fr. W. Grunow.

Hauffe. Benekes Psychologie. Borna-Leipzig. Jahnke.

Geyer, Der deutsche Aufsatznnterricht. Hannover. Meyer.

Piel, Lehrgang für den Gesangunterricht, V Aufl. Düsseldorf, Schwann.

Aua aller Welt. Nlustr. Jugendschrift. Stuttgart. Glaser,

Thrändorf. Der Religionsunterricht. 1. Teil. Dresden, Kämmerer.

Langenberg, Meine Erinnerungen an Diesterweg. Frankfurt. Diesterweg.

Richter. Diesterweg* Wegweiser. 6. Aull. Frankfurt. Dieaterweg.

Kohl, Griechisches Übungsbuch. Halle. Waisenhaus.

Florin. Teil-Lesebuch Davos. Richter.

Florin, Die Unterricht I. Behandlung von Schillers W. Teil. Davos, Richter. 6uter60hn, Zur Methodik des fremdspr. Unterrichts. Karlsruhe, Braun. Rein. Pädagogik im Grundriß. Stuttgart. Göschen.

Diesem Hefte Hegen 3 Prospekte über Verlagswerke der Kesselringschen Hofbuchhandlung in Frankfurt a M.. von Emil Roth in Gießen und Franz Vahlen in Berlin bei, welche wir geneigter Beachtung empfehlen.

1>ie Verlagsbuchhandlung.

* I>m -k von G. l'Ktz :n Naumburg ». S.

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Pädagogische Studien.

Neu e F o 1 g e.

Herausgegeben

von

Dr. W. Rein,

Professor 41. il. Unii-uxität Ja,«.

XII. Jahrgang- Zweites Heft.

Inhalt:

A. Abhandlungen: A. l.ombcrg, Sachrechnen (Schlufs).

B. Mitteilungen: i. H. Grosse, Fr. Wilh. Lindner ein Vorläufer der Kulturstulenidee. 2. Joh. Trüper, Zum Kampf um die Schule (Fortsetzung). 3. Seminarkonterenz zu Barby. 4. Der X. deutsche Kongrefs für erziehliche Knabenhandarbeit in Strafsburg. 5. Zeit- schrift für den evangelischen Religionsunterricht. 6. Die III. Haupt- versammlung des allgemeinen deutschen Sprachvereins. 7. Finanz- minister Miqucl über die Schulfrage. S. Die Volksschule in Frank- reich und Deutschland. 9. Professor Dr. Gustav Teichmüller, Pädagogisches. 10. Professor Dr. Eucken, Fragen der Schule Fragen der Zeit. 11. Uber die Aussprache des Griechischen in unseren Gymnasien. 12. Gemeinschaftliche Sitzung der Zwcigvcreine Altenburg, Halle, Jena, Leipzig zu Weifsenfeis. 13. Herbart in Amerika.

C. BenrteUniigeii : Dr. Barch u dar i an. (0. Foltz-Eiscnach.)

Dresden.

Verlag von Bleyl & Kaemmerer

(Paul Th. Kaomnierer.)

1991.

r. :

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paönaofxifdyrr »erlog d. flltnl & fiartnmrrrr (J). &%. ftormmerrr) in Drr&ftrn.

XXIII, 3afy:bucfj bes Vereins für u?iffmfdjaftlid^c pdbaqo^tf.

Die 2IbfyanMungen öes 25. 3<*t?rbudj ftnfc tor Heirjenfolge nadj folgende :

I. Xtyrähberf, präparationen für bte öelfanblung ber Seit ber Jlnfflatung.

II. leupfer, Das Hedmen im 3u>eiten Sdroljaln-.

III. $«u6mann, Bemerfuugen IPilf'fdjen Arbeit im 2\. 3aforbu4>.

IV. WilP, ^ufaQ 3n Dorfteb,enben 23emer?ungen.

V. 2Bilf, Allgemeine nnb befonbere 8emerfungen jum Unterrid>t in ber Algebra.

VI. ^oüfamra, feln-pfan ffir einfaa>e Dolfsfdjulcn auf ber örunblage bes 5iflerfd>en febrplanfyflems.

VII. Xbeober m%tt, peflalo33i nub t>erbart.

^täpaxafioncn für ben ^fjofiß-^lntemd)!

in 3Wßs- iinb pttfcCfdjufen.

ZTadj fjerbart'fdjen (Srunbfatjen

bearbeitet

Don

§J. <£onvab>

»ieal|«uHe^rcr in St. fflaflrn.

I. Ccil:

iflcdjanik nnb Akuftik.

preis: Hl.

Der Derfaffer, n>eld?er lange /$ett am ^iller'fct?cn Seminar in £eipjig als (Oberlehrer tfyätig n>ar, be3Ctdjuct biefe präparationen als einen Perfudj, fcjerbart« giüerfdje <Brunbfä$e allgemeiner Hatur, oorncbmlid? bie 3bec ber ^ormalfrnfen, ffir ben pb.yftfanterrid^t nutzbar 3U machen. EPir tnüffen ben Perfudj als einen fel?r gelungenen be3eid?nen unb glauben, baß ein Untcrridjt nadf foldjen Porbtlbern oon einem fnr feinen (Segenftanb erfüllten £eb,rcr erteilt, olme ^rucifel bas 3ntercffe bes Sdjfilers mädjtig anregen, bcnfelben im fdjarfen Denfcn ftdjtlicb förbem unb ib,m bas IDarum t»on Rimberten von pbyftfalifajen (Erfdfeinungen, roooon er täglid) geuge ift, in befriebigenber XUeife erflären wirb.

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A. Abhandlungen.

Sachrechnen.

Von A. Lomberg in Elberfeld. IV.*)

Dafs die Konzentration der Lehrfächer in Wahrheit eine pädagogische Heilsidee ist, dafs sie als eine allgemeine Bedingung für die erziehliche Kraft des Unterrichts betrachtet werden kann, das ist schon oft ausgesprochen worden und wird gegenwärtig auch in immer weiteren Kreisen erkannt. Schon Comenius sagt: »Es kann nichts gediegen sein, als was in allen Stücken zusammen- hängt.« Und von Goethe haben wir das schöne Wort: »Beim Wissen kommt alles auf den Zusammenhang an.« Herbart aber, der die psychologische Beweisführung dafür antrat, spricht: »Die Vorstellungsmassen sollen einander stets durchdringen; was ein- zeln stehen bleibt, hat wenig Bedeutung, c Und in Beziehung zu unserem speziellen Thema sagt er: »Der pädagogische Wert des gesamten mathematischen Unterrichts hängt hauptsächlich davon ab, wie tief er in das Ganze des Kreises der Gedanken und Kenntnisse eingreife.« Dafs das Rechnen sich dem in allen diesen Sätzen ausgesprochenen Konzentrationsgedanken auch fügt, glauben wir zur Genüge nachgewiesen zu haben.

Betrachten wir nunmehr in Summa den unterrichtlichen Vor- teil, der aus dem nachbarlichen Verkehr des Rechnens mit dem Sachunterricht für beide Teile erwächst. Schon mehrfach wurde hervorgehoben, dafs der Vorteil des Sachunterrichts vor allem darin besteht, dafs die sachlichen Verhältnisse bestimmt und deutlich werden. Die allgemeinen Vorstellungen erhalten in den Zahlen und Berechnungen feste Stützen; die superlativischen Ausdrücke, die in den Köpfen der Kleinen oft so bunte Deutung erfahren, werden auf ein genaues Mafs gesetzt. Dörpfeld sagt

*) L u. II. im 4. Heft 1890, III. im 1. Heft 1891

Pädagogische Studien. U.

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in diesem Sinne: »Durch das Hineinleuchten der Zahlen werden die betreffenden Verhältnisse klarer, anschaulicher. Es ist ein eigentümliches Ding um die Zahl: es wohnt ihr eine eigenartige Leuchtkraft bei. Bei den Zahlen hört nicht nur wie man zu sagen pflegt die »Gemütlichkeit« auf, sondern auch das Nebeln und Schwebein ; sie bringen Klarheit, Bestimmtheit.«*) Ein nicht unwesentlicher Vorteil besteht ferner auch darin, dafs die sach- lichen Vorstellungen immerfort reproduziert und dadurch fester eingeprägt werden.

Noch gröfser aber sind die unterrichtlichen Vorteile für das Rechnen. Es ist im allgemeinen von durchschlagender Bedeutung, mit welchen Gefühlen das Kind an die Lösung einer Aufgabe herantritt. Je fremdartiger und ungewohnter ihm die Einkleidung der Aufgabe erscheint, desto gröfser dünkt ihm die Beschwer des Rechnens, und desto unsicherer geht das Schlüssebilden von statten. Erblickt es dagegen in dem sachlichen Inhalte der Auf- gaben gute, alte Bekannte, die ihm vielleicht irgendwo schon ein besonderes Interesse abgenötigt haben, so kann man sicher sein, dafs sich die geistigen Kräfte in aller Energie regen werden, und dafs das Nachdenken gcradeswegs zum Ziele fort- schreitet. Dies wird am meisten der Fall sein bei den sachunter- richtlichen Aufgaben. Der Schüler empfindet eine freudige Hin- gabe an den Stoff und eine lebhafte Neigung, sich mit demselben zu beschäftigen ; er fühlt sich gefesselt, er rechnet mit Lust und Behagen, zumal er ein Resultat erwartet, dafs seine Einsicht noch vermehren und klären wird. Die Zahlen, die ihm ohne den sach- lichen Hintergrund gleichgültig sein würden, nötigen ihm nun ein lebhaftes Interesse ab; das im Sachunterricht bereits erworbene Kapital geistiger Kraft wuchert fort und trägt doppelte Zinsen. Die Folge wird sein, dafs das Interesse für das Rechnen über- haupt gesteigert wird. Eine solche Wirkung sollte sich kein Er- zieher entgehen lassen.

Ein weiterer Vorteil der Verknüpfung liegt darin, dafs die allgemeine Nützlichkeit des Rechnens stärker hervor- tritt. Die sachlichen Aufgaben legen dem Schüler dar, dafs es sich beim Rechnen um eine wichtige Angelegenheit und unent- behrliche Kunstübung handelt. Die Überzeugung von diesem Werte verleiht dem Rechnen Dauer im Geiste. Die formalistisch- leeren Aufgaben dagegen verleiten den Schüler zu der Meinung, es sei das Rechnen weiter nichts als eine witzige Spielerei, die man später vergessen und mit den Kinderschuhen hinter sich werfen dürfe. Sie schaffen eine blofs mechanische Fertigkeit, die für das Leben von keiner Bedeutung ist. Aber wir müssen praktische, anstellige Köpfe heranbilden. Darum ist mit dem

*) Dörpfeld, Grundlinien zur Theorie eines Lehrplans. S. 79.

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formalistischen Wust aufzuräumen; die nackten Zahlen müssen ein- gekleidet werden. Es ist immer im Auge zu halten, dafs nur der Sach- rechenunterricht den Namen des wahrhaft pädagogischen Unterrichts verdient. Th. Wiget sagt über ihn: »Die Kinder lernen nicht nur rechnen im arithmetischen Sinne, sie lernen auch rechnen in dem Sinne, wie man das Wort braucht, wenn man sagt: Der ver- steht zu rechnen. Erst durch die Verknüpfung des Rechnens mit dem übrigen (sachlichen) Gedankenkreise vermag dasselbe wahr- haft praktisch zu werden, erst dadurch erhalten die Zöglinge Be- griffe von Werten, von Erträgen u. s. w., in denen später für jede Berufsart der Impuls liegt, nicht durch blofses Glauben und Meinen, sondern durch Berechnung sich zu orientieren^*)

Ein weiterer Vorteil der Verknüpfung liegt darin, dafs das Rechnen mannigfaltiger und belebter wird. Das ein- tönige, immerwährende Kaufen und Verkaufen von Kattun, Zanella, Öl, Seife u. drgl., welches in manchen Rechenbüchern einen so breiten Raum einnimmt und sich mit jedem neuen Kapitel wiederholt, ermüdet auf die Dauer den Geist und befördert die Langeweile. Die sachunterrichtlichen Aufgaben bringen in diese Einöde eine erfrischende Abwechselung. Eine andere Folge wird sein, dafs die Rechenfertigkeit erhöht wird, denn *die Wirksamkeit einer Vor- stellungsmasse wächst mit ihrer Ausbreitung und mehrfachen Ver- knüpfung.« **) Man sage also nicht, der Rechenunterricht werde durch die Behandlung sachunterrichtlicher Aufgaben i elastet, er wird in Wahrheit dadurch gehoben.

Eng damit zusammenhängt ein ethisches Moment. Der Rechen- unterricht steht in dem Rufe, dafs er dem nacktesten Nützlichkeits- prinzipe huldige und das Kind vorzeitig in eine seiner Natur wider- sprechende Anschauungsweise hineinzöge. Dieser Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt. Denn in der That ist in dem herkömmlichen Schulrechnen übermäfsig viel die Rede von Gewinn und Verlust, von Verdienst und Handel, von Zins und Kapital, von Provision und Dividende. Als der bekannte Provinzial-Schulrat Landfermann einst bei Gelegenheit der Visitation einer Realschule dem Rechen- unterricht beigewohnt hatte, brach er in die Worte aus: > Immer Geschäft, immer Geld! Bieten sich nicht auch andere Objekte der Berechnung dar? Dieses einseitige Hervorkehren des Geldes ist geradezu unsittlich; es sieht ja aus, als ob der Rechenunterricht des Geldes wegen da sei, so unverschämt treten die Geldforderungen in den Vordergrund.« Wird das Rechnen zu einem wesentlichen Teile an den Sachunterricht angeschlossen, so sind wir in die Lage gesetzt, die Geldrechnungen angemessen zurück- zudrängen.

*} Bündner Seminarblätter, Bd. V, S iSS. **) Herbart. Päd. Schriften. Ausfj. v. Willmann. TV. II, S. 607.

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Auch noch nach einer anderen Richtung hin macht sich ein ethischer Einfiufs geltend. Das Prinzip des Sachrechnens ist die Thatsächlichkeit in den Verhältnissen und die Genauigkeit in den Zahlen. Die Berechnungen stützen sich auf vorliegende Bedürfnisse, selbständige Erfahrungen, zuverlässige Angaben und statistische Erhebungen. Ausgeschlossen sind die beliebigen und zufälligen Zahlen und die fingierten Verhältnisse, an denen die gebräuch- lichen Aufgabensammlungen so über die Mafsen leiden. Immer bleibt das Rechnen dem Anschauungskreise des Kindes möglichst nahe. So geht ein höherer Zug der Wahrheit durch das Rechnen, der seine Wirkung auf die sittliche Wahrhaftigkeit schon ausüben wird.

Als letzte erfreuliehe Folge des Wechsel Verkehrs zwischen dem Sach- und Rechenunterricht führen wir an, dafs durch den- selben der Zusammenhang, die Einheit des Gedanken- kreises befördert wird. Die verschiedenen geistigen Be- thätigungen des Kindes haben denselben Beziehungspunkt, und alle Gedanken richten sich auf ein Objekt. Es wird dadurch eine Geschlossenheit der Gedanken hervorgerufen, die notwendig ist, wenn sich das innere Leben energisch regen soll. Heterogene Vorstellungen dagegen hemmen sich in ihrer Wirkung und ver- flachen die geistige Thätigkeit.

Alles in allem die sachunterrichtlichen Aufgaben schliefsen eine solche Fülle des Anregenden und Bilden- den in sich, wie sie anderweitig nicht anzutreffen ist. Es ist das Rechnen darum soviel wie möglich aus seiner isolierten Stellung herauszuheben und dem Konzen- trationsgedanken dienstbar zu machen.

V.

Es entsteht für unsere Untersuchung nun noch die Frage, wie sich nach dem Prinzipe des Sachrechnens das Lehr verfahren im Rechenunterricht zu gestalten hat.

Wie alle Lehrstoffe, so ist auch der Stoff des Rechnens in eine Reihe methodischer Einheiten einzuteilen. Die Aufeinander- folge derselben richtet sich nach den einzelnen Zahloperationen, nicht aber nach dem Fortschritt des Sach Unterrichts. Das hängt mit dem streng stufenmäfsigen Entwickelungsgange des Rechnens zusammen, nach welchem jede vorangehende Übung die Grund- lage für die nachfolgende abgiebt. Daraus geht eine Beschränkung für die gliedliche Verbindung der in Betracht kommenden Lehr- fächer hervor. Die Klarstellung sachlicher Verhältnisse mit Hilfe des Rechnens kann immer nur innerhalb des schon durchgearbeiteten Zahlgebictes vorgenommen werden, und die Berechnung mufs auf- geschoben werden, sobald der Schüler für die auszuführenden Operationen die erfordertliche Anleitung noch nicht erhalten hat.

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An der Spitze der methodischen Einheit steht als Unterrichts- ziel eine angewandte Aufgabe, welche den Charakter und den Umfang der ganzen Einheit bestimmt und darum von grundlegen- der Bedeutung für dieselbe ist. Ihrem sachlichen Inhalte nach ist sie dem Sachunterricht oder dem eigenen Erleben und Erfahren des Schülers entnommen. Die konkrete Fassung derselben trägt dazu bei, dafs der Schüler sich das Ziel in aller Deutlichkeit denken kann; der mit lebhaftem Gefühle entgegengenommene sachliche Inhalt derselben aber bewirkt, dafs das Interesse geweckt und der Untersuchungseifer angespornt wird. Sie hat den Vorzug vor jeder abstrakten Zielaufstellung; denn Ankündigungen, wie etwa folgende: Wir wollen heute lernen, wie man Dezimalbrüche mit einander multipliziert! verlaufen matt und wirkungslos bei den Schülern.

Die erste Arbeit, welche der Unterricht nun zu vollenden hat, ist die Lösung der grundlegenden Aufgabe. Analyse und Syn- these teilen sich gleichmäfsig in diese Arbeit. Die Analyse hat zunächst die in Betracht kommenden sachlichen Verhältnisse zu verdeutlichen. Oft sind dabei die persönlichen Erfahrungen zu wecken, oft auch die Ergebnisse des anderweitigen Unterrichts ins Bewufstsein zu rufen. Die Klarstellung des sachlichen Hinter- grundes der Aufgabe ist um so nötiger, als den sachlichen Be- ziehungen die logischen Gründe für die vorzunehmenden Zahl- operationen anhaften. Die Besprechung aber mufs sich in engen Grenzen halten; sie hat nur das Wesentliche hervorzukehren und darf nicht den Charakter des Sachunterrichts annehmen. An die sachliche Analyse wird sich in den meisten Fällen eine formale anschliefsen. Diese fafst das Verhältnis der Zahlen ins Auge und setzt die zur Lösung der Aufgabe erforderlichen rechnerischen Operationen, soweit sie dem Schüler schon geläufig sind, in Be- reitschaft. Sollen die Schüler z. B. in die Berechnung der Quadrat- wurzeln eingeführt werden, so haben sie sich zunächst zu ver- gegenwärtigen, dafs sie aus einer ansehnlichen Reihe von Zahlen, nämlich den Quadratzahlen, die Quadratwurzeln schon vom Ein- maleins her kennen oder doch leicht aufspüren können; sie werden bei einigem Nachdenken sodann zu der Erkenntnis kommen, dafs bei allen anderen Zahlen das Erraten aufhören mufs, und dafs hier ein besonderes arithmetisches Problem vorliegt. So empfinden sie eine Lücke in ihrem seitherigen Wissen, die schwebenden Punkte der neuen Lektion springen deutlich hervor, und das alles giebt ihnen die Nötigung, sich mit dem Probleme näher zu befassen.

Nachdem auf diese Weise durch die Analyse ein der Erfassung des Neuen günstiger Bewufstseinsinhalt bewirkt worden ist, bringt die Synthese die Darbietung des Neuen. Die Hindernisse, welche sich der Lösung entgegenstellten, werden beseitigt, und diese selbst wtrd zum Ziele geführt. Vor allem ist darauf zu

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achten, dafs bei der Gewinnung des Neuen die Schüler zur vollen Mitarbeit, zum Selbstfinden und Selbstbeurteilen herangezogen werden. Der Lehrer hat nur anzuregen und Fingerzeige zu geben, wenn sie auf falsche Fährte geraten. Zum Behufe der Einprägung ist sodann das Verfahren der Lösung in eine knappe und durch- sichtige Form zu bringen und mehrfach zu wiederholen. Ist dem Schüler das Ganze geläufig geworden, so geht die Synthese zu ähnlichen Aufgaben über, die unter dasselbe Lösungsverfahren fallen. Die Zahlen werden mehr und mehr abgeändert, wogegen die sachlichen Verhältnisse nur in gewissen Grenzen variieren.

Allmählich findet dann ein Übergang von der Synthese zur Assoziation statt. Die Auflösung gut gewählter Aufgaben wird noch eine Weile fortgesetzt; aber es wird nun auch das Augen- merk auf die Gleichheit des Verfahrens gelenkt. Auf diesem Wege erhält der Schüler zuletzt einen Überblick über das Gemein- same der einzelnen Fälle, und es entsteht in ihm die Überzeugung von der Gesetzmäfsigkeit und Allgemeingültigkeit des Verfahrens. Er ist nun soweit gefördert, dafs er die neue Rechenregel selbst- thätig aufstellen kann.

Auf der Stufe des Systems handelt es sich um die völlige Heraushebung des Begrifflichen und Gesetzmäfsigen, welches bei der Assoziation noch mit den Einzelfällen behaftet ist. Von diesen mufs es sich scharf unterscheiden; es mufs als das Allge- meine, als die Rechenregel erkannt werden. Die begriffliche Fassung erfolgt in kurzen und knappen Sätzen. Es empfiehlt sich, die entwickelte Regel auch schriftlich zu fixieren und ihr die grundlegende Aufgabe als Musterbeispiel, als Typus für eine ganze Reihe von Aufgaben beizufügen. Der Schüler gewinnt dadurch nach und nach gewissermafsen eine Rechengrammatik mit Bei- spielen.

Es bleibt nun noch als letzter Schritt bei der Bearbeitung des Stoffes die Anwendung des Gelernten übrig, und in ihr ruht der Schwerpunkt des Rechenunterrichts. Der Schüler mufs den Beweis ablegen, dafs die gewonnene Einsicht wirklich in sein völliges geistiges Eigentum übergegangen ist. Zu diesem Zwecke sind ihm zahlreiche Aufgaben vorzulegen , an denen er seine geistigen Kräfte zu erproben hat. Die Übung mufs so lange fort- gesetzt werden, bis ein gewandtes und trefflicheres Können er- reicht ist. Anfanglich bildet die Regel den festen Stützpunkt für die zu entwickelnden Lösungen; sie tritt bei fortgesetzter Übung aber mehr und mehr in den Hintergrund, bis sie endlich ganz aus der Helle des Bewufstseins verschwindet und den Rang der mit- schwingenden Vorstellungen einnimmt. Der Lehrer möge dieses Verhältnis beachten; er lasse nicht immerfort nach Regeln rechnen; es hiefse dem Geiste Fesseln anlegen, wollte man ver-

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langen, dafs sich das Kind bei allen Operationen zunächst die Regeln vorstellte.

Die zu lösenden Aufgaben sind verschiedenen Sachgebieten zu entnehmen; doch müssen in erster Linie immer die Stoffe aus dem Sachunterricht herangezogen werden. Die einzelnen Auf- gaben sind nach ihrer sachlichen Verwandtschaft gruppenweise zusammenzustellen, und es ist darauf zu sehen, dafs dabei die früher erlernten Fertigkeiten immer wieder Anwendung finden. Eine reichhaltige und nach richtigen methodischen Grundsätzen bearbeitete Aufgabensammlung vermag auf dieser Stelle die besten Dienste zu leisten. Freilich leiden die in unseren Schulen ge- bräuchlichen Rechenbücher fast allesamt an demselben Fehler, der es verschuldet, dafs der sachliche Inhalt der Rechenaufgaben bei den Schülern so wenig Beachtung findet. Dieser Fehler besteht in der bunten Aufeinanderfolge der einzelnen Übungen. Die Auf- gaben sind aus allen möglichen Gedankenkreisen durcheinander gemengt, und fast mit jeder nächsten Aufgabe wird das Kind in ein neues Sachgebiet geführt. Vom Preise der Fleisch waren springt man über zur Schneiderrechnung, von der Gartenmiete gehts auf die Einwohnerzahlen, von den Futterkosten einer Kuh auf die Geschwindigkeit eines Schnellzuges. Ein solches Durcheinander ist dem Streben nach Konzentration aufs äufserste entgegnngesetzt. Die Gedanken werden notwendig zerstreut, statt gesammelt. Es kommt keine Klarheit in die Köpfe; der Stoff der Aufgaben er- scheint dem Kinde als eine völlige Nebensache. Soll es in dieser Beziehung besser werden, so mufs an die Stelle des bunten, ver- worrenen Sachalierleis eine wohlberechnete Einheitlichkeit in den Aufgabengruppen treten. Die Übungsbeispiele innerhalb einer methodischen Einheit sind nach ihren sachlichen Beziehungen zu ordnen, und es mufs mit Fleifs darauf gehalten werden, dafs auch der sachliche Inhalt der Aufgaben beachtet wird. Überhaupt mufs die Ausnutzung der Sachgebiete nach einem wohlerwogenen Plane geschehen; jedem Schuljahre ist ein bestimmtes Pensum zuiuweisen. Dann ist die Möglichkeit gegeben, dafs der Gedanke des Sach- rechnens zum vollen Durchbruch kommt.

Die Stufe der Anwendung ist nun auch die Stelle, wo Auf- gaben in reinen Zahlen auftreten können und sollen. Es empfiehlt sich, sie eng an die eingekleideten Aufgaben anzuschliefsen und aus diesen abzuleiten. Sie werden dann zum Teil noch getragen von den sachlichen Verhältnissen jener, und der Schüler weifs, wo Übungen dieser Art hingehören und welchem Zweck sie dienen. Sie dürfen aber nicht gehäuft auftreten; niemals darf das Rechnen stunden- oder gar wochenlang rein formalistischen Übungen nach- gehen. Es giebt nichts Langweiligeres, Abspannenderes für den Geist, als eine schier unendliche Reihe nackter Rechenaufgaben ; sie sind in Wahrheit eine Geifsel für die Kindesseele. Möge

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der Lehrer doch immer bedenken, dafs das praktische Leben keine Aufgaben in leeren Zahlen kennt.

Damit sind unsere Ausführungen abgeschlossen. Wir haben darzulegen versucht, welche Bedeutung dem Prinzipe des Sach- rechnens innewohnt, und wie sich dessen praktische Durchführung gestaltet. Wir forderten die planmäfsige Ausnutzung der Sach- gebiete für alle Stufen des Rechenunterrichts und traten dadurch in Gegensatz zu der hergebrachten Praxis, die auf den sachlichen Inhalt der Rechenaufgaben oft gar keinen Wert legt. Nach unserem Dafürhalten liegt also das Bedürfnis einer Umgestaltung des Rechenunterrichts vor. Die lawinenartig sich auftürmenden Zahl- massen der abstrakten Aufgaben sind aus unseren Rechenbüchern zu entfernen, die dürftigen Umhüllungen und die täuschenden Masken vieler scheinbar eingekleideter Aufgaben genügen auch noch nicht, es mufs Platz geschaffen werden für methodisch be- arbeitete Sachrechenaufgaben.

Wir verkennen nicht, dafs mit einer solchen Reform zahlreiche Schwierigkeiten verbunden sind; aber wir dürfen sie nicht zum Vorwande nehmen, die Hände in den Schofs zu legen; denn was schwierig durchführbar ist, ist darum nicht weniger notwendig. Es mufs sich ein reger Sammeleifer entfalten, der die einzelnen Sachgebiete auf ihre Verwendbarkeit für das Rechnen prüft. Bei rechter Sorgfalt wird man Material zur Genüge finden, ja er- staunt sein über die Fruchtbarkeit der Idee. Was der Verwirk- lichung der Reform aber besonders im Wege steht, das ist die in weiten Kreisen verbreitete Meinung, der Rechenunterricht sei das leichteste Lehrfach der Schule und das best bestellte Feld der Pädagogik, und die daraus abgeleitete Behauptung, man könne sich der Mühe entschlagen, für dieses Fach noch besondere Studien zu machen, zumal ja das Rechenbuch über alle Fälle sichere Aus- kunft gej^e und als Krückstock die besten Dienste leiste. Wir wollen mit dieser verkehrten Anschauung nicht weiter ins Gericht gehen, sondern zum Schlüsse nur noch einmal hervorheben, dafs alle Mühen und Opfer, welche die Pflege des Sachrechnens er- fordert, hundertfach aufgewogen werden durch die grofsen Vor- teile, die der Unterricht gewinnt, und durch den reichen Segen, der angesammelt wird fürs Leben.

Zusammenfassend können wir das Ganze nochmals in der Form folgender Leitsätze vorlegen:

1 . Das Rechnen ist auf allen Stufen an bestimmte Sachgebiete anzuschliefsen.

2. Eine solche Anlehnung entspricht dem Wesen des Rechnens, denn alles Rechnen ist eine Arbeit des Denkens, welches der Stütze konkreter Anschauungen bedarf; sie wird ferner verlangt

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vom Interesse, das ursprünglich nur an den Sachen haftet und von diesen auf die Zahlen übertragen werden mufs; sie wird drittens gefordert durch die Rücksichtnahme auf die Anwendung des Rechnens im praktischen Leben, welches nirgendwo mit nackten Zahlen operiert.

3. Der sachliche Inhalt der Rechenaufgaben darf nicht als eine zufällige und beliebige Einkleidung der Zahlen erscheinen, sondern mufs den thatsächlichen Verhältnissen entsprechen.

4. Der Rechenunterricht mufs seiner praktischen Bedeutung wegen seinen Stoff vorzugsweise dem Arbeitsgebiet des Menschen entnehmen, nämlich dem Haushalt und der Werkstatt, dem Markt und dem Kaufladen, der Handelswelt und der Landwirtschaft, der Gemeinde- und der Staatsverwaltung.

5. Das Konzentrationsprinzip fordert, dafs ein wesentlicher Teil der Rechenaufgaben auch dem Sachunterricht (Naturkunde, Geographie, Geschichte) entnommen werde.

6. Eine solche Konzentration kommt beiden Teilen zu gute; die sachlichen Verhältnisse werden durchsichtiger, das Rechnen aber gewinnt an Interesse und Mannigfaltigkeit.

7. Durch den Wechselverkehr zwischen dem Sach- und dem Rechenunterricht wird ferner die Einheit, der Zusammenhang des Gedankenkreises befördert.

8. Die einzelnen methodischen Einheiten im Rechenunterricht sind durch grundlegende Aufgaben, die ihren Stoff einem be- stimmten Sachgebiete entnehmen, einzuleiten.

9. Es ist darnach zu streben, dafs in den einzelnen Aufgaben- gruppen sachliche Einheitlichkeit herrsche.

B. Mitteilungen. I. Fr. Wilh. Lindner ein Vorläufer der Kulturstufenidee.

Von H. Grosse in Halle a./S. (Fortsetzung. S. Päd. Studien, 1. Heft 1891.)

Nun mag ein genauer Auszug aus Lindners Werk über die historisch- genetische Methode folgen.*) Wenn derselbe umfangreicher ist, als es für den nächsten Zweck nötig erscheint, so möge als Grund dafür der Umstand gelten, dafs Lindners Buch sehr selten und so gut wie unbekannt ist. Dasselbe führt den Titel :

•) Dafs wir mit unserer öflfentlichung Zitier nicht etwa des Plagiats beschuldigen wollen, sei absichtlichen Mifsverstlndnissen gegenüber besonders hervorgehoben. Es zeigt sich auch Wer wieder, welch tiefblickender Geist Ziller war!

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„Über die historisoh-geoetlseliB Methode. Ein Beytrag zur Ver- besserung und Vereinfachung des Unterrichts sowohl in höhern, als niedern Schulen, als Einladungsschrift zu den von Ostern 1808 zu haltenden sowohl theoretischen, als auch praktischen, pädagogischen Vorlesungen von Friedrich Wilhelm Lindner, Doctor und Privatlehrer der Philos. und Pädagogik an der Universität zu Leipzig, und ordentl. Lehrer an der neuen Bürgerschule daselbst. Leipzig, 1808 bey Heinrich Gräff (XVI u. 88 S.). Lindners Werkchen zerfällt, wenn man von der Vorrede (S. V— XVI) und der Einleitung (S. 1— 14) absieht, in drei Abschnitte: 1) Begriffs- bestimmung einer historisch-genetischen Methode (S. 15—56). 2) Welchen Nutzen hat diese Methode? Ist er überwiegend gegen den der vorhandenen? (S. 57 72).*) 3) Nähere Begriffsbestim- mung dieser historisch-genetischen Methode (S. 73 88).

Zur leichteren Orientierung des Lesers stellen wir einige Be- merkungen über den Gedankengang Lindners voran.

Lindner geht aus von der Natur. Die Natur zeigt uns alles als werdend, lebendig, wachsend, sich entwickelnd. Lindner zeigt das speziell am Pflanzenleben und erinnert mit Vorliebe an den Baum, der aus dem Keim, wurzelnschlagend herauswächst, und sich in Asten und Blättern ent- ^ faltet. Dieses biologische Gesetz des Werdens, Wachsens und Sich-Ent- wickelns wendet er auf das Geistesleben an, speziell aber auf das Werden des menschlichen Geistes im Kinde. Es zieht daraus die Konsequenz: Unterrichten und Erziehen mufs das natürliche Werden des mensch- lichen Geistes leiten. Deshalb dürfen die Unterrichtsstoffe nicht blofs einfach dem Kinde gegeben werden, sondern sie müssen in ihm werden und wachsen ; die Unterrichtsstoffe müssen in der heranwachsenden Generation selbst allmählich heranwachsen und allmählich anschliefsen ; man darf dem Kinde das Wissen nicht als ein Fertiges geben, sondern mufs es selbst in ihm entstehen und wachsen lassen.

Auf die Frage, wie dieser Forderung am besten genügt werde, ant- wortet Lindner: Die Unterrichtsstoffe müssen im Kinde so werden und wachsen, wie sie frü her selbst geworden und gewachsen sind. Der historische Entdeckungs- und Entwickelungsgang einer Wissenschaft ergiebt also auch im allgemeinen den einzuhaltenden Unterrichtsgang. Jede Wissenschaft mufs entsprechend ihrem eigenen kulturhistorischen Werde- gang im Zögling wiederholt werden und so in ihm also allmählich heran- wachsen. Die Reihenfolge des Lehrinhaltes mufs sich also nach jenem kultu rhistorischen Gange richten. Dies nennt Lindner die historische Methode.

*) Wie der Verfasser S. 73 seines Buches bemerkt, hat er von S. 15 bis an das Ende der Abhandlung von seiner Methode mehr eine Entwickelung eine Erklärung derselben ia Beispielen su geben, als den Begriff selbst su bestimmen, versucht. Er sagt S. 74: »Um vielleicht manchem verständlicher su sein, hätte ich das von S. 1$ bis ans Ende Vorgetragene lieber Er- klärung die ser Methode durch Beobachtungen und Bey spiele nennen sollen: oder Aufsählung aller der Beobach tungen und Erfahrungen, welche in mir diese Methode begründeten.«

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Nun ist Lindner ferner der Anschauung, dafs dieser historische Gang im Werden einer Wissenschaft im Grofsen und Ganzen der natürlichen Entwickelung des Zusammengesetzten und Höheren aus dem Einfachen und Niederen entspreche. Was die Menschen historisch zuerst gefunden hätten, sei auch sachlich das Erste und Einfachste; und was dann in natürlicher, logischer Entwickelung aus diesem Ersten und Einfachsten herauswächst, das haben die Menschen auch historisch in der sachlich-richtigen Reihen* folge gefunden. Diese sachliche Reihenfolge , welche vom Einfachen wiederum zum Zusammengesetzten, Höheren geht, nennt Lindner die genetische Methode.

In diesem Sinne also spricht Lindner von der historisch-gene- tischen Methode.

Lindner hat nun damit noch einen anderen dritten Gedanken- gang verquickt, den er nicht immer streng von den beiden anderen scheidet, wie überhaupt seine Darstellung an manchen Unklarheiten und Inkonsequenzen leidet. Er sagt nämlich: So wohl das Studium der Kindes- natur als auch das der Kulturgeschichte ergebe, dafs der Menschennatur auf ihren früheren Stufen die historisch-dramatische Einkleidung aller Stoffe am meisten zusage. Am Anfang des Unterrichts müsse daher der Lehrer möglichst alles, was er zu geben habe, in eine dramatisch belebte Erzählungsform kleiden. Bei allen Völkern sei am Anfang ihrer Ent- wickelung die Überlieferung der Stoffe in solcher historisch und dramatisch belebter Form erfolgt und daher gefalle diese Form auch am besten der Kindesnatur. Die Anwendung dieses Prinzips führt aber wiederum auf jenen ersten Gedanken zurück, dafs der Stoff den Kindern nicht als ein Fertiges gegeben werden soll, sondern der Lehrer soll durch Erzählung, wie die Menschen im Laufe der Zeiten zu jenem Wissen gekommen sind, den Stoff vor den Augen und vielmehr der Seele des Kindes selbst wachsen lassen.

Nachdem dies vorausgeschickt ist, wird der Leser in dem folgenden wörtlichen Auszuge leichter die verschiedenen durcheinander gehenden Fäden auseinander halten können.

Aus der >Vorrede< (S. V XVI) heben wir folgende Sätze hervor.*)

»Dafs es nur eine einzig wahre Methode geben mufs, vermöge welcher sowohl alles Endliche, als auch Unendliche erzogen wird, diefs ist mir zu deutlich geworden, als dafs ich mich scheuen sollte, diefs hier öffentlich zu bekennen. Ein Gott hat Alles geschaffen, und Alles von ihm Geschaffene wird nach einem und demselben notwendigen Gange erzogen seiner Bestimmung näher gebracht zu seiner Vollkommenheit erhoben. Die Form, nach welcher alles Geschaffene sein Leben beginnt und vollendet, ist nur eine und dieselbe, ewig unveränderliche; allein, das in dieser Form Leben beginnende, Lebende und Leben endigende ist ver- schieden; verändert aber dadurch nie die Form im Ganzen. . . . (S. VIII). Diese Urform, diese Urmethode, diese einzig wahre Grundregel

*) Orthographie ist beibehalten. E* wurde das Exemplar der Stadtbibliothek tu Leipiig (Katalog der Politischen Bibliothek 8. a6 No. 1638) benutzt, dessen Mitteilung dem Herrn Oberbibliothekar Dr. Wust mann Verdankt wird.

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mufs gefunden werden , und ist diese so ergriffen , dafs in ihr sich die ge- samte Erziehung rein und klar abspiegelt, so ist und mufs sie zur einzigen, nothwendigen erhoben werden. Nennt man nun diesen aufgefundenen Gang alles Lebendigen Methode, so mufs man zum Unterschiede alle jene vielen Bemühungen, diese von Ewigkeit her immer nur geahndete Ur- methode in irgend einer Form zu verwirklichen, nicht mehr Methoden, sondern Manieren oder Art und Weise nennen, durch welche man diese Methode darstellen will . . . (X). Es mufs eine einzig wahre Ur- methode einen Urtypus alles Erziehens geben, zu dem sich alle bisherigen und zukünftigen Bemühungen verhalten, wie die Strahlen zur Sonne. Ist diefs nicht zu leugnen, so darf man freylich auch alle jene vorgeschlagenen Wege nicht Methode selbst nennen, sondern nur mehr oder minder hellleuchtende und erwärmende Strahlen jener Urmethode. Es ist nun ganz natürlich, dafs die Kopien dem Originale (die Manieren der Methode) entweder ähnlicher oder unähnlicher sind. Je mehr nun eine vor- geschlagene Manier der Urmethode selbst gleichkommt , je treuer und natürlicher sie dieselbe verwirklicht, desto leichter ist die Gefahr, diese Manier für die Methode selbst zu halten (XIII). Dals ich selbst von dieser Gefahr nicht frey gewesen bin, beweist der Titel dieses Versuches. Auch ich glaubte, wie alle meine Vorgänger, durch vielseitige Beobachtungen und Erfahrungen geleitet, endlich einen Weg, einen Gang in der Erziehung wahrgenommen zu haben, welcher mehr als die übrigen, die Eigentüm- lichkeit der wahren Urmethode in sich verwirkliche welche durch seine gröfsere Ähnlichkeit der einzig nothwendigen Methode mehr verwandt sey, als die bis jetzt für allgemein gültig erklärten. Zum wenigsten glaube ich, dafs durch keine bis jetzt vorgeschlagene Manier die Individualität weniger beeinträchtigt, ja vielmehr ganz frey erhalten wird, als durch diesen historisch- genetischen Gang. Denn nur hier wird alles das, was der menschliche Geist von Ewigkeit her geschaffen hat (alle Künste und Wissenschaften) als Produkt behandelt (S. XIV). Alle Wissenschaften und Künste werden hier , als Pflanzen , entsprossen aus dem menschlichen Boden , betrachtet, von deren jeder, wenn sie auf dem frischen Boden (das ist jede neue Gene- ration) soll noch einmal wachsen, zuerst der Saame in den Boden eingestreut werden muls. Jede neue Generation ist ein neuer frischer Boden, auf welchem jede Wissenschaft, jede Kunst als Pflanze wachsen mufs. Die Individualitäten in der Erziehung heilig zu achten, war (nach Lindner) längst die Hauptansicht Piatos ; in unseren Zeiten ist dieser Grundsatz vorzüglich von Schwarz, Herbart und Jean Paul wieder in An- regung gebracht werden.» (S. XV).*)

*) Lindner beruft sich hier auf Her hart, aber nicht hinsichtlich seines Prinzips der historisch-genetischen Methode, was tu beachten ist. S. 37 heifst es aber : »Diese Art des Vortrags (die historisch-genetische Methode) ist das einzige Mittel, die Individualität aller Zöglinge zu achten (was Herbart so nerzlich wünscht und iwar mit Recht).« Vgl. besonders Herbarts >Briefe über die Anwendung der Psychologie auf die Pädagogik (s. auch das Register in der Willmannschen Ausgabe). Desgl. Ziller: Grundlegung zur Lehre vom erziehenden Unter- richt (a. Aufl. von Prof. Vogt) % ao, S. 467 ff. und »Allg. Pädagogik« (2. Aufl. von Just) g 7—10.

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Aus der »Einleitung« (S. i -14) erscheint uns folgendes beachtenswert. »So wie sich viele Menschen sagt der Verf. S. 3 bey der Pflege des Pflanzenreichs in der Zeit des Keimens des ersten Werdens wenig oder gar nicht um die Pflanze bekümmern, ebenso sorglos sind Erzieher und Eitern gegen die Keime des Menschengeschlechts. Nur dann erst, wenn die Verkrüppelung der Äste sie zwingt, daran zu denken, glauben sie, dafs es Zeit sey, zu ziehen . . . Ergreife ich den Keim und pflege diesen, so erlange ich dadurch einen Einflufs auf den ganzen Baum. Werfe ich aber meine Sorge und Pflege auf irgend einen Ast, und wenn er auch ein Hauptast wäre, so wird der ganze Baum demohngeachtet meinen Wünschen nicht entsprechen können, denn alle Verbesserungen von oben und von den Seiten (das war bis jetzt unsere ganze Er- ziehung) können nichts bewirken, weil sie von jeher nichts bewirkt haben . . .*) Wir finden, dafs die älteren Erzieher zugleich Kenner der heilbringenden Natur waren (der Erzieher Chiron im Homer war zugleich Arzt). Es kann also nicht anders seyn, sie müssen die Natur abgelernt haben, dafs alles seine Zeit hat, dafs das Erste, folglich Einfachste der Grund aller künftigen Möglichkeiten, und dafs das Vielfache, Zer- streute, wenn man es zum Ersten erhebt, der Grund aller künftigen Un- möglichkeiten ist. Das Werdende, Lebendige der Natur und ihre Mufenfolge leitete sie auch, da sie überhaupt mehr Ehrfurcht gegen sie fühlten, als wir, ihren Gesetzen zu gehorchen ... So bald man sich von der Natur entfernte, so entzog man sich auch ihrem bildenden Einflüsse, und weg war die Liebe, die Natur in seinem Kreise nachzuahmen . . . \S. 10) Geleitet von den Ideen redlicher und braver Männer, welche hier und da schon bekannt worden sind, und geführt von meiner eigenen An- sicht der Natur, und gedrängt und gezwungen von der Vorbildung der Menschheit, der Folge einer verkehrten Erziehung im Allgemeinen, wage ich es, mein Zeitalter liebevoll mit Muth und Kraft und eigner Aufopferung derselben zurückzurufen zu jener, schon von Alters her, hier und da aus- geübten, aber von den Nachkommen nicht richtig genug verstandenen und noch nicht zum klaren und deutlichen Bewufstseyn gebrachten Methode des Erziehens, ich meyne, zur historisch-genetischen . . . (S. 12.)**) Reine Wirklichkeit, ächte Einfachheit der Natur ist es, worauf ich aufmerksam zu machen gedenke. Den Weg will ich aufsuchen, auf welchem man den Menschen als ein Ganzes in einer gemessenen Steigerung erziehen kann; zeigen, dafs der Gang und die Gesetze, die die Natur an allen ihren Kindern in Ausübung bringt, wenn sie nach ihrem Willen und in ihrer Zucht ge- raten sollen, auch der Gang in der Erziehung der menschlichen Natur seyn müsse« (S. 13).***)

Im ersten Kapitel des Lindnerschen Buches mit der Überschrift: »Begriffsbestimmung einer historisc h-ge net is c hen M e t h ode« (S. 15—56) heifst es § I: »Das ganze menschliche Leben besteht

•) Vgl. Lindner S. 3s, 45, 80. *•) Vgl. Lindner, S. 5a u. 88.

»*•'. Vgl. Pestalorii, den Lindner mehrfach ritiert: S. 7, 36 u. 6a; dgl. TlUicb S. 6a.

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(erscheint) in einem Werden. Die Bildung des menschlichen Geistes ist und soll in einem immerwährenden Wachsen be- griffen seyn(S. 15). »Jeder mufs von Vorne beginnen sein Werk« (S. 16). § II: Alles, was nun ein solches Leben hervorrufen, befördern, er- höhen und befestigen soll, mufs daher auch in dieser werdenden Form vorgeführt werden. Alle Nahrung des menschlichen Geistes, der in einem beständigen Werden begriffen ist, mufs ihm in der wer- denden Form dargeboten werden ... So erscheint jede Wissenschaft als Werdendes... Sie schreitet von ihren ersten Elementen aufsteigend bis zu ihrem Ganzen... (S. 18). Dieser Weg könnte manchen zu lang vorkommen, allein er ist der kürzeste, gewisseste und natürlichste. Alle Dinge in der Welt, welche die eigentlichen Objekte des Wissens ausmachen, erscheinen mehr oder minder [in einer und der- selben Folge, in einem und demselben Bilde des Werdens« (S. 19). § III: »Ich mufs den Menschen in Wechselwirknng mit der Aufsenwelt setzen und beobachten, welche Kraft, welcher Sinn zuerst sein Daseyn und sein Werden verräth, welche Formen zuerst von dem Geiste der Menschen geschaffen werden, welche also zuerst dem Kinde auch (als Erbgut der Vorfahren)*) vorzuführen sind. Unter allen Sinnen des Menschen äufsert sich der Gesichtssinn zuerst- Das Auge unterstützt durch die innere not- wendige Wirkung der Geisteskraft, giebt also zuerst Formen. Diejenigen Wissenschaften, denen das Auge zum Grunde als Element liegt, wären also die ersten. Mathematik würde daher den Cyklus anfangen« (S. 20).**) § IV: Lindner nennt seine Methode die »historisch - genetische«: historisch, insofern sie die Zeit fixiert, wenn und in welcher das Objekt dem Kinde vorzulegen ist; genetisch, insofern das Objekt da anfängt, wo es angefangen hat, und da endet, wo es geendet hat, und das in einer lückenlosen Reihe . . . Sollte man durch ein ge- naueres Erforschen der Stufenfolge der Krystallisation nicht hie und da in den Stand gesetzt werden können, diesen genetischen Gang in der Mathematik, der noch sehr lückenhaft ist, vollständig zu machen? Ich glaube es gewifs. Einen noch sicheren Weg würde das genauere Erforschen der mathematischen Thätigkeit und ihrer Stufenfolge der früheren Mensch- heit gewähren. Alle Reste des Alterthums für diesen Zweck müfsten von einer sorgfältigen Hand gesichtet werden, und zur Bestätigung des im Alterthum aufgefundenen könnte eine kindliche oder freie, aber strenge Aufmerksamkeit auf die Entwickelung unserer Kindervveit viel gewähren, da doch jeder Mensch der Repräsentant des Ganzen ist . . . Wäre dies ausgemittelt, dann hätte man eine feste notwendige im Werden herauf-

•) Es fragt »ich, ... »ob man das errungen« Gut der Voreltern gehörig als ein Erleichterungs- und Hebtmgsmittel bey der tu ergebenden Nachkommenschaft gebrauchte.« (Lindner, S. 16 ff.) >I&t des Men»chen reines, produktives Vermögen in der notwendigsten Stufenfolge gefördert worden, dann kann er nicht amiers, er mufs mit eigener gewonnener Kraft das Erbgut der Vor- fahren in »ich aufnehmen, und dankbar damit wuchern »um Frommen teiner und der Nachwelt- (S. 38 ff ). Vgl. auch Ltndner S. 46, S. 64 und S. -o\ •*) V~l. S. 57, so. 20, ai.

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geführte Elementarmathematik (23). § V: »Das erste, was der Mensch schul war Vokalmusik . ..*) Sprechen, Lesen, Deklamiren, Singen, diese Dinge sind im Wesentlichen nur Modificationen der Ur musi k des Menschen, des Schaftens des innern Geistes vermittelst des Gehörs > (28). Der Er- zieher mufs psychologisch erörtern: welches sind und waren die ersten Töne, die ersten Toncombinationen, die ersten Gefühle, die der Mensch durch Töne verwirklichte,« (S. 29). § VII : »Dafs alle Redner auf diesem Wege (durch Poesie) gebildet werden müssen, dafür habe ich keinen andern Beweis, als den aus der Menschengeschichte: dafs bey allen Völkern der Erde erst nach den Dichtern die Redner kommen.« Es ist dies das sich überall aufdringende Resultat des Geschichtsstudiums § VIII: Anwendung auf Musik (33). § X: ». . . Das Beispiel der Vorfahren, die Schöpfungen der Ahnen erwecken in dem Enkel die nemliche Kraft zu ähnlichen Thaten und ent- flammen, je länger er dabei verharrt, das Innere zu gleichem und noch grölserem Wirken. Seine ganze schöpferische Thätigkeit wird aber nur durch jenen Stufengang der Sachen an sich und ihrer Zeitfolge bewirkt und zeitiger und leichter gehoben.« (S- 38). § XI: »Bei dem Aufnehmen dessen, was der Vorfahren Sinn erforschte und erkannte, findet eben die- selbe Stufenfolge statt, wie bei dem eigenen Schaffen« (S. 38). § XII giebt die Anwendung auf die Geschichte (undeutlich). § XIII : »Ebenso genetisch mufs bei dem R eligio nsunterr ic ht verfahren werden. Jeder einzelne Mensch mufs in eben der Stufenfolge zur voll- kommensten Religion (zur Verehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit) erzogen werden, in welcher die ganze Menschheit nach und nach heraufgebild e t worden ist. Jeder Mensch ist der Repräsentant des Ganzen, und das Ganze der jedes Individu- ums. Alle Religion ging von Furcht aus, folglich mufs auch die Religion jedes Individuums davon ausgehen. Sic wurde dann Bewunderung, Ehr- furcht, Achtung und endlich kräftige Gegenliebe. In derselben Ordnung tnuis der Lehrer die Religion in dem Herzen des Zöglings wachsen lassen, diese Reihe darf er weder trüben, noch stören. Es ist deswegeu noch nicht nötig, auch dieselben Mittel ... zu wählen. Die Mittel und die Art können und müssen verschieden seyn ; allein die Stufenreihe der sich immer höher und höher bildenden Religion darf und kann nicht verändert werden : der Volkslehrer mufs sie streng beobachten, weil sie von Ewigkeit her sich in der Geschichte der religiösen Cultur aller Nationen auf eine gleiche Weise ausgesprochen hat (S. 44 ff.) Wenn wir nicht durch eine genetische Methode die Religion in unsern Kindern begründen, so wird sie auch nie der beschützende Baum werden« (S. 45). § XIV : ». . . Die Schöpfungen der Voreltern werden den Enkeln vorgeführt, um ihre [eigene) Schöpferkralt dadurch ans Licht zu fördern; und dies ist eigentlich für die

*) S. »7: »Zunächst dem Auge wird bey einem Kind« das Ohr in Thätigkeit gesetit, und dies steht so in unmittelbarer Berührung mit der Kehle, dafs der Unterriebt für das Gehör durchaas bewirken mufs, dal» ihm die Kehle repetirt oder das Gehörte (Angeklungenc) vermöge der Kehle wieder hörbar darstellt« (Naturphilosophie Scbelling).

Wichtige Stelle! Name: »Stufen«, »Kultur« (Kulturstufen).

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zu erziehende Jugend ein geschichtlicher Unterricht in der eigentüm- lichsten und engsten Bedeutung des Wortes. Ist nun die Kraft der Nach- kommenschaft von den Produkten der Vorwelt geweckt und zur eignen Schöpfung geschickt gemacht worden ; so waltet und herrscht nun dieser Geist nach den von ihm als nothwendig anerkannten Gesetzen, und nimmt nun so viel auf, als seine Natur erfordert, und in der Ordnung, für die er erzogen worden ist« (S. 46). § XV: *) »Jeder aufmerksame Erzieher wird bemerkt haben, dafs die Kinder für nichts mehr Interesse zeigen, als für das Historische. Erzähle mir etwas, ist die Forderung der gesammten Jugend (S. 47) Kinder h ö r§e n aber nicht blos gern Geschichte ; sie selbst erzählen auch gern, entweder ihren kleinern Geschwistern, oder ältern Personen. In diesen Äufserungen der Kinderwelt , die sich so mannichfaltig und beharrlich zeigen, liegt für die Erzieher der deutlichste Wink für die Form, in welcher der zu erziehende Mensch belehrt seyn will. Alles, was man dem Kinde als Belehrung mittheilen will, mufs ihm in der Form einer Geschichte, eines begonnenen und vollendeten Lebens, in der Form des Werdenden vorgeführt werden (S. 48 ff.). Es ergeht in allen Stunden des jugendlichen Lebens an ihn Lden Lehrer] die Forderung von den Zöglingen selbst, immer historisch mit ihnen zu verfahren. ... Warum gefallen den Kindern die Fabeln, die Märchen, die Parabeln so sehr? Wie sie alles das, was sie dem jugendlichen Herzen kund thun, in der ächt-historischen Form in einer Ge- schichte , (in welcher ein Anfang, ein Ende ist, ein Werden, ein kurzes, aber ganzes, lückenloses Leben) offenbaren. Man trage ihnen die nem- lichen Wahrheiten in einem andern Gewände vor, und das Interesse wird nicht erregt werden , was das Geschichtliche in den Menschen zu jeder Zeit hervorgerufen hat . . . (S. 49). Alles, was der Mensch mit seiner Kraft erzeugt, erscheint in einer ebenso lückenlosen und nothwendigen Stufenfolge, als das, was die Kraft der Natur produciert: ist diese nothwendige Reihe nicht beobachtet, dann wird das Kind auch nach und nach ermattet, weil das Willkürliche, Ersonnene und Erdichtete nicht bekräftigt, und der Sinn für das ächt Historische, streng und nothwendig Aufeinanderfolgende wird abgestumpft. (Jede Geschichte mufs in die ihr eigentümliche und noth- wendige Causalreihe gebracht werden, sonst verliert sie das Erziehende, was in ihr liegt und liegen mufs (S. 50). Durchgehen wir vom Anfang bis zum Ende den Stufengang in der Geschichte selbst, so finden wir, dals jede Geschichte von Märchen und Mythen zu Fabeln, von Fabeln zu Gleich- nissen, Parabeln und endlich zur reinen, weniger bildlichen Darstellung der Facta fortschreitet. Daher die Kinder für die ersteren Theile der Ge- schichte (nicht für die letztere), für Märchen, Fabeln, Gleichnisse und Pa- rabeln so vieles Interesse beweisen, was ich so häufig beobachtet und als allgemein gültig gefunden habe. Kommt der Erzieher zur eigentlich sogc-

*) Verf. hat bis dahin seine Gründe für die historisch-genetische Methode a) aus der Natur des Menschen an sich, b; aus ihrem Verhältnifs tu den Objekten (Geschichte?) geschöpft. JeUt wendet er sich c) der Erfahrung an den Kindern tu.

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nannten Geschichte, so darf er mit keinem andern Theile derselben als mit der Heldengeschichte anfangen*), und dann in der natürlichen Stufen- reihe fortgehen (S. 51 ff.). Diese Stufenfolge sowohl der Form, als auch des Inhaltes darf nicht getrübt werden, weil dann jeder Theil nur frag- mentarisch erscheint, und nicht das Bildende und Fortschreitende der Kraft bewirkt« (S. 52). Dieser historische Gang ist bisher von vielen be- folgt worden, allein nicht »mit völligem Bewufstseyn des Zweckes und der Nothwendigkeit , mit Hinsicht auf den darauf folgenden Unterricht« ; dieser Gang ist nicht allgemein zum herrschenden erhoben, seine Nothwendigkeit ist noch nie gezeigt worden, seine wiederkehrende Anwendung bey jedem Zweige, sowohl des höheren, als auch des niederen Unterrichtes, noch nie dringend anempfohlen worden. Einzelne Äufserungen dafür findet man hier und da mitgetheilt. Plato (in seiner Republik) legt auf die Fabeln und Gleichnisse als Unterrichtsmittel betrachtet, einen grofsen Werth und em- pfiehlt sie sehr angelegentlich für den ersten Unterricht, nur, meint er, müsse der Inhalt ganz der kindlichen Natur entsprechen (S. 53). Die Kinderwelt selbst, freylich unbewufst, verlangt »eine historische Methode, oder eine acht historische Behandlung (keine willkührliche Erzählung) aller der Objekte«, durch deren Kenntnifs ihre Kraft bethätigt und gehoben werden soll. Kein Erzieher darf diesen Wink verkennen, sondern mufs demselben, vom An- fange bis zum Ende des wissenschaftlichen Lebens seiner Zöglinge mit Be- wufstseyn und Beharrlichkeit folgen. Die geschichtliche (historische) Form fesselt den Menschen nicht allein in der Jugend, sie ist auch die immer- währende Begleiterin und ewige Bildnerin des aufstrebenden Menschen in allen folgenden Perioden seines Lebens. Der Mensch mufs daher vom Anfange bis zum Ende seines Lebens in dieser Form gebildet und erzogen werden; allein mit dem Steigern und Läutern der Kraft in dem Menschen mufs auch die erziehende Form (die historische) gesteigert und geläutert werden, so wie auch das in der Form Enthaltene. Ganz anders wird diese Form für den Schüler auf Gymnasien seyn müssen, ganz anders für die Zöglinge einer Universität; allein die Verschiedenheit beruht einzig und allein nur auf dem Minder und Mehr, oder auf den der jedesmaligen Bildung des Menschen Entsprechendem derselben (S. 54). Die Erfahrung spricht aber nicht nur für die historische Methode (für die Beobachtung einer natur- gemäfsen Zeitfolge in dem Unterrichte;, sondern auch für die genetische} (tür die stufenweise natürliche Anreihung der Objekte und ihrer Theile in der Zeit) . . . Ar ithmetik , Geometrie, Musik, alle diese Wissenschaften wurden in der angegebenen Ordnung von der menschlichen Kraft erzeugt, und in derselben Reihe auch wieder von den Erziehern (z. B. von Plato, Quintilian etc.) als Bildungsmittel anempfohlen. Vergleichen wir die Über- reste der frühern Geschichte aller alten Völker, so finden wir überall diese Stufenfolge in den Wissenschaften hervorleuchtend. In dem Sprachunter- richte empfiehlt Plato die nämliche Stufenfolge, welche ich vorher an-

•1 Beachtenswert '. Pädagogische Studien. II

deutete . . . (S. 55). In dem Unterrichte der Grammatik mufs auch eine solche Genesis beobachtet werden. Quintilian ertheilt hier und da einige, obschon noch dunkle Winke dafür, Die Wörter, welche in der Sprache die ersten waren, müssen wieder die ersten seyn. Die Combinationcn, welche die Menschen zuerst aus den vorhandenen Sprachelementen schufen, müssen im Unterrichte auch den ersten Platz einnehmen, und dann das Folgende naturgemäfs angereihet werden. Dies bestätigt sich bey allen Völkern, von deren Geschichte wir noch einige Fragmente erhalten haben« (S. 56). *)

Das zweite Kapitel der Lindnerschen Schrift (S. 57 7a) ist über- schrieben: »Welchen Nutzen hat diese Methode? Ist er über- wiegend gegen den der vorhandenen?«

§ 1 : »Fängt die Erziehung mit der Mathematik an, so fafst sie zuerst das einfachste Element aller menschlichen Thätigkeit« (S. 57). § II: (Pestalozzische Methode - Tillich). § III: Die historisch-genetische Methode ist es, welche »einzig und allein ihn zum Beförderer und Verbesserer des Errungenen der Vorfahren erziehet. Wenn jeder Lehrer zur bestimmten Zeit und in der bestimmten Ordnung den Zöglingen alles das giebt, was die Vorfahren geschaffen haben : so werden sie zu Beschauern alles dessen, was noch einmal in seinem Werden ihnen vor das Auge tritt, gebildet (S. 64). Die Menschheit kann dann auch ruhiger seyn: denn wenn auch edle und brave Denker und festwirkende Herzen die Erde verlassen; so weils sie, dafs es allgemeines Gesetz der Nachkommen ist, vermöge dieser Ansicht des Erziehens und Unterrichtens wahrhaftig in die Fufsstapfen der Voreltern zutreten« (S. 65). g IV: »Nichts ist nach meiner unerschütter- lichen Überzeugung geeigneter, den Menschen für die eigentliche praktische Religion zu erziehen, (für das religiöse Handeln, für das Wirken in und durch Gott) als diese Methode, welche den Menschen auf allen Schritten so leitet, dafs er mit Freyheit die Wege Gottes wählt . . (S. 66). »Diese hier erörterte Methode des Unterrichtes ist nicht nur auf niedern, sondern auch auf höhern Erziehungsanstalten anzuwenden; denn auch der akademische Unterricht muls historisch-genetisch seyn; er mufs alle Wissenschaften in dem historischen Gewände vorführen.« (S. 68 t. Bey dieser genetischen Methode kann nie ein selbstsüchtiges Behaupten, nie eine sclavische Nach- beterey entstehen: denn der Lehrer nimmt überall die Zuhörer als Zu- schauer des Gewordenen mit. In solchen Vorträgen sieht der Lehrer nicht allein, sondern alle sehen mit ... Sie würden aul diese Weise alle mit einer freyen Thätigkeit das Errungene der Vorfahren sich zu eigen machen, und dasselbe entweder verbessern oder höher heben« (S. 70).

Im dritten Kapitel will der Verlasser eine »nähere Begriffs- bestimmung idieser histo risch - genetischen Methode« geben (S. 73-8*)-

Er sagt in § 2 : »Ich nenne die vorgeschlagene und nachgewiesene Methode historisch, d, h. sie soll alles das von den Menschen Ge-

•) Wertvoll !

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schaffenc in der Erziehung jeder neuen Generation wieder so vorführen, als es geschehen ist, also geschichtlich. Dieses Geschichtliche ist nun nicht sowohl auf die Reihenfolge, nach welcher das Vorzutragende hervortreten, als auch auf die Form, in welcher es mitgetheilt werden soll, zu beziehen« (S. 74). Diese Methode soll in dem Unterrichte alles als etwas Geschehenes (geschichtlich Erzeugtest vortragen. Sie soll aber nicht blos eine Reihenfolge in dem Vortrage beobachten, sondern auch das Vorzutragende wieder in eine Geschichte (in ein Drama) einkleiden, weil es in dieser Form gebildet und ver vollkommt wurde. Alle von den Menschen geschaffene Dinge begonnen geschichtlich, lebten geschichtlich und endeten (relativ genommen) geschichtlich. Er [der Lehrer] soll durch die geschichtliche Einkleidung den Kindern alles mehr verlebendigen, und so dem Unterrichte das eigentümliche Interesse gewähren« (S. 75). Als Beispiel werden die Entstehung des Zeitrechnens (S. 75 u. 76) und der Religionsunterricht angeführt. »Ich will meinen Kindern zeigen, wie die Menschen nach und nach die Mittel für die Zeitberechnung vervoll- kommt haben. Ich fange also an zu erzählen, dafs ein Hirte den Schatten sowohl im Ab- als auch im Zunehmen aufmerksam beobachtet habe. Er habe sich diesen Schatten abgesteckt und sich die Orte bemerkt, wo der Schatten gleichsam gestanden hätte. (Hier erwähne ich nun das Wort Stunde, und die Erklärung desselben liegt in dieser vergegenwärtigten Ge- schichte). Nach diesen bemerkten Abständen lasse ich die Menschen (also erzählend) die Sand- und Wasseruhren abtheilen. Die Sonnenuhren werden künstlich nachgeahmt, indem ich die Menschen selbst redend ein- führe und nachdenken lasse, wie diefs wohl am besten zu machen sey. Vor den Augen meiner Kinder steht alles lebendig da sie hören im Geiste die Menschen über diese Dinge sich ihre Gedanken mittheilen. Ehe ich auf manchen guten Vorschlag, auf manche wichtige Frage in einer solchen Geschichte antworten lasse, hat vielleicht schon im Stillen das Kind selbst geantwortet, und freut sich, wenn ich dann eben so antworten lasse« (S. 76). »Im Religionsunterrichte lasse ich die Menschen vor den Augen der Kinder auf Gott aufmerksam werden, lasse sie Schlüsse ziehen, die ganz der Kinderwelt anpassend sind, lasse gleichsam in fortlaufender Er- zählung die ungebildete Menschheit anfangen zu reflektiren, und die ge- bildetere enden. In einer solchen kurzen bündigen, so viel als möglich jener geschilderten Menschennatur analogen Geschichte theilen sich die Mcnchen einander ihre erworbenen Ansichten mit, widerlegen und ver- bessern sie selbst, und so führe ich in dieser Geschichte zugleich noch einmal die Zeit vor, innerhalb welcher das Vorzutragende geschehen ist ich vergegenwärtige noch einmal in einem solchen Vortrage den Zeit- raum, in welchem diefs alles geschah. Daher sagte ich in den vorher- gehenden Erklärungen: historisch heifst diese Methode, in so fern als sie die Zeit beobachtet, oder vielmehr noch einmal im Vortrage vergegen- wärtigt, innerhalb welcher ich diefs alles als geschehen annehme (S. 77). Hier werden mir viele einwenden, dafs ich bey allen Gegenständen keine wahre Geschichte auffinden könne. Diefs ist wahr, allein es schadet nichts,

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wenn auch di-se geschichtliche Horm aus Wahrscheinlichkeiten zusammen- gesetzt ist, wenn nur das, was durch sie dem Kinde interessanter, lebendiger und anschaulicher wird, wahr ist und in sich fest begründet steht. Die geschichtliche Form soll nichts anders zum Zweck haben, als die Causal- reihe sprechend und lebendig dem Zöglinge vorführen. Keine Form vergegenwärtigt so anschaulich das Werdende und Geschehene, als die geschichtliche, denn sie sucht in der natürlichen Reihenfolge noch ein- mal die Veranlassungen zu jedem neuen Fortschritt zu vergegenwärtigen« (5. 78 . Eine jede solche Geschichte, welche irgend einen Theil einer Wissenschaft in sich fafst, mufs kurz und bündig seyn, ohne alle Weit- schweifigkeit, sie muls nur die Theile des Vorzutragenden kurz au! einander folgen lassen, (als Ursach und Wirkung) jedoch lebendiger dargestellt durch die bündigste Erzählung. Der Erzieher mufs so viel Kraft und Phantasie besitzen, das bey der Vervollkommnung irgend einer Wissensehaft ver- handelte Leben, so viel als möglich ist, noch einmal darzustellen (ohne Gestikulation). So ist z. B. die ganze christliche Religion in eine Geschichte eingekleidet . . . Man darf sich nur die Hauptpunkte der gewordenen Wissenschaft hinstellen, und sich die Reihenfolge gehörig bekannt gemacht haben, so ist es dann nicht schwer, diese Dinge in eine passende Ge- schichte, die sich aus der erforschten Stufenfolge von selbst ergeben mufs, zu bringen. Wenn jeder Theil der Wissenschaften gleichsam ein kurzes bündiges Drama so will ich die Erzählung nennen, in welchen ich die Menschen noch einmal handeln lasse) vor den Augen der Kinder spielt, so wird dadurch ihr ganzes Wesen, ihre ganze Seelenthätigkeit in Anspruch genommen. Dafs die geschichtliche Form, oder vielmehr enger genommen, die historische Einkleidung der Wissenschaften, auf Akademien anders seyn mufs, als auf niedern Schulen, dafs sie aber schon dadurch im Wesent- lichen immer noch beybehalten wird, wenn die Lehrer alle Wissenschaften als etwas Geschehenes vortragen, diefs wird Niemand läugnen können. Allein wo es möglich ist, die Veranlassungen und Ursachen jeder Ver- besserung und Vervollkommnung der Theile der Wissenschaft, welche ge- lehrt wird, mit anzugeben, da verschweige man sie ja nicht, denn diese die Causalreihe verlebendigende Foim ist die erziehendste, bildendste, und in sofern die fesselndste für den ganzen Menschen (S. 79 ff.) Zu dieser Methode forderte mich, wie die Leser gesehen haben, zuerst [a| die Natur im Grolsen auf, weil sie mir alles Gewordene gleichsam in einer Biographie darstellte weil sie mir alles der Form nach in einer Pflanzheit zeigte weil sie mich analog schliefscn liefs, dafs die Produkte des menschlichen Geistes in der Hauptform ihres Lebens den der grofsen Natur ganz ähnlich sind, folglich im Ganzen auch so behandelt werden müssen (S. 80). Meinen Entschlufs, diese längst geahndete Methode als die richtigste zu wählen, befestigte endlich [b] eine vielseitige und sorgfältige Beobachtung der Kinderwelt. In der Aufserung der Kinder fand ich, dafs sie nicht allein aik-s als etwas Geschehenes wollen vorgetragen haben, sondern dasselbe auch in der Form einer wirklich verhandelten Geschichte, gleichsam noch einmal vergegenwärtigt 'verlebendigt, dramatisiert! hören. Die Geschichte

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der Menschheit sagte mir [c| sehr deutlich, dafs ich mich in dieser Be- obachtung nicht getäuscht hätte, denn alle früheren Völker hätten ihre ersten Handlungeu dramatisirt (in Geschichten gekleidet) dargestellt S. Si). Man lese die ganze Genesis im A. T. oder vielmehr das ganze A. T., und es wird nicht schwer seyn, überall die Beweise zu dieser Behauptung zu finden. Woher das Streben der früheren Menschheit, in Mythen, in Fabeln und Parabeln zu sprechen? Alle Versuche des Geistes des frühesten Alterthums, so viel die Zeit uns noch davon aufbewahrt hat, sind in dieser lebendigen (geschichtlichen) Form dargestellt und vergegen- wärtigt ... Was die Menschheit im Grofsen überall so ein- stimmig deutlich ausgesprochen hat, mufs auch bey jedem In- dividuo angewendet werden. Die Nachkommen müssen gleich- sam von neuem ihre Bildung beginnen das, was als Stoff für diese Bildung gebraucht wird, mufs die Nachkommen in eben der Form wieder ansprechen, in welcher es die Vorfahren aus- sprachen*). Die Erzählung, das Geschichtliche hat auch seine Stufen- folge. Erst ist die Erzählung mythisch, episch, lyrisch, in Fabeln und Parabeln vergegenwärtigt, dramatisch, endlich rein-faktisch ohne alle Ein- kleidung **). Dieser Stufengang des Geschichtlichen wechselte sowohl in Hinsicht des vorzuführenden Stoffes, als auch des zu erziehenden In- dividuums (S. 82). Verfasser stellt am Schlufs des § die Frage: »Ob nicht diese Data sowohl aus der Kinderwelt, als auch aus der Geschichte der Kultur der gesammten Menschheit entlehnt, mehr als zu sehr gegen den frühern Gebrauch katechetischer Formen***) und blofser logischen Zer- gliederungssysteme in dem frühern Unterrichte sprechen?« (S..83).

§ 3: »Ich habe aber diese Methode nicht blos historisch, sondern auch genetisch genannt, und das zwar aus folgenden Gründen. Es können bei der historischen Methode alle einzelnen Theile einer Wissenschaft in Form einer Geschichte vorgetragen werden, ohne dafs zwischen diesen Thcilen die nothwendige Causalverbindung beobachtet wird. Damit nun nicht will- kührlich jeder beliebige Theil einer Wissenschaft, oder irgend eine Wissen- schaft ergriffen werde, um sie, in eine historische Form eingekleidet, dem zu Erziehenden bekannt zu machen, so wünschte ich, dafs in einem solchen Unterrichte auch darauf möchte gesehen werden, dafs alle Theile des vorzuführenden Ganzen wie Ursache und Wirkung aus- und aufeinander folgten. Alle Theile der vorzutragenden Wissen- schaft müssen in eine nothwendige natürliche Causalreihe ge- bracht (diefs nenne ich genetisch, auseinander geboren, erzeugt) und dann, wenn sie in diese enge natürliche Stufenfolge geordnet sind, in ein his torisches-geschichtliches Gewand eingekleidet, (diefs nenne ich historisch, erzählend) den Zöglingen bekannt gemacht werden« (S. 84).!) Es ist ein Versuch, der sich theils auf

*) Beachtenswert! ••) Vgl. Lindner S. 51.

••*) PestaloMi, A. W. Gruhe, Ziller, Thrändort. t) Vgl. S. 22 ff; S. 54, 55 11. 87.

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pie Analogie der Natur im Grolsen, theils und das vorzüglich, auf die genauere psychologische Beo bachtung der menschlichen Natur gründet. Dafs mit der richtig aufgefundenen Genesis alles von den Menschen Geschaffenen zugleich auch die Anleitung gegeben ist, ein dieser Stufenfolge nothwendig entsprechendes geschichtliches (histori- sches) Gnwand zur Belebung des Gegenstandes für den Unterricht zu erfinden, und dafs eine solche Geschichte nicht eher, als nach der voll- endeten Fixirung der Causalreihe der Theile jedes Objektes für den Unterricht, gebildet werden darf, wenn sie anders nützlich und richtig bildend seyn soll, ist zu einleuchtend, als dafs es darüber noch mehrere Worte bedürfe« (S. 85).

Lindner schliefst mit folgenden Worten (S. 86 ff): »Ich habe mir den Gang der Erziehung der Individuen aus der gesammten Menschheit geschöpft, es kommt nun darauf an, ob ich die Form, in welcher das Ganze erzogen worden ist, richtig auigefafst und in diesen Ver- suchen richtig übertragen habe. Eine klare Ansicht der Cultur der ganzen Menschheit und ein sorgfältiges anhaltendes Er- forschen des Ganges derselben, giebt dem Erzieher weit mehr Aus- beute, als alle die Erziehungsschriften, die immer und ewig sich nur mit dem Einzelnen beschäftigen, ohne sein Verhältnifs zu dem Ganzen genauer erwogen zu haben. Das Ganze ist mir durchaus die Multipli- cirung der Individuen, und die Individualität die Division der Totalität; alle Theile haben die Form des Ganzen, und das Ganze vergegenwärtigt die Form der gesammten 'L heile ... (S. 87). So wenig diefs alles, was ich über diesen Gegenstand gesagt habe, neu ist, so hat es mich demohngeachtet so mächtig belebt und beseelt, dals ich alle die Fehler, welche ich vielleicht gegen eine streng-systematische Ordnung in dieser Abhandlung mir habe zu Schulden kommen lassen, einzig und allein jener Lebendigkeit zuzuschreiben bitte, mit welcher dieser einfache, alte und natürliche Weg des Erziehens, der bis jetzt nur noch nicht streng und aufstufend genug befolgt wurde, mein ganzes Wesen erfüllt hat« (S. 88).*^

•) Heft I, Seite 3a (Anmerkung), a. Zeile von unten ist tu erg&nsen: J Sehers »Gelehrten- Lexikon« und die »Allg. deutsche Biographie« haben Fr. Wllh. Lindner nicht berücksichtigt. In der >Ailg. Encyklopftdle« von Ersch und Gruber (43. Teil der II. Serie, 1889) findet sich kein Artikel über L ; auch In dem im Drack befindlichen 44- Teile ist ein solcher von der Redaktion

S. 33, Z. »7 von oben Ist ansufUgen: Lindner starb i. J 1864. Verfasser kennt bis jetzt

nur e i n Exemplar der Lindnerschen Schrift »Über die historisch-genetische Methode«; es befindet sich, wie bereits S. 75 bemerkt wurde, in der mit der Sudtbibliothek vereinigten Politischen Bibliothek in Leipcig. Die K. Bibliothek tu Dresden hesittt, wie Herr Ober- bibliothekar Dr. Schnorr von Carolsfeld mir auf eine Anfrage mitteilte, die Schrift in lateinischer Sprache (s. S. 34 35 untrer Arbeit» Vielleicht hat einer der Leser Kenntnis von dem Vorhanden- sein eines anderen Exemplars, Es ist mir tro« jahrelangen Bemühens nicht gelangen, das voll- ständig vergriffene Büchlein antiquarisch su erlangen.

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2. Zum Kampf um die Schule.

Von Joh. Trüper in Jena.

II. Zur Rechtsfrage im Schulkampfe.

(Fortsetzung.)-)

Wer sich unterrichten will, wie vor dem Windthorstschen Antrage selbst mild denkende und friedfertige evangelische Theologen über das Verhältnis der Schule zur Kirche dachten, den verweise ich auf die Schrift: „Die deutsche Schule in ihren verschiedenen Formen und Ab- stufungen und P*re Stellung zur christlichen Kirche. Von Pastor em. (und früherem Seminardirektor) Dr. E. Weber. (Band X, Heft 3 der »»Zeitfragen des christlichen Volksleben««. Heilbronn, Gebr. Henniger. 1885);«

sowie auf meine Beurteilung derselben im »Ev. Schulblatt« 1888, No. 3. S. 110 116.

Wie andere Geistliche denken, lehrt der „Neue Beitrag zur Leidensgeschichte der Volksschule" von Dörpfeld; ebenso der Aulsatz: „Was ist die Schule?" von Professor Dr. Klaus Harms in Kiel im »Süddeutschen Schulboten« von 1857, No. 25 und die Beurteilung der Dörpfeldschen Leidensgeschichte von seinem jetzigen Redakteur, Herrn Dekan Kübel in EfsHngen, Jhrg. 1883, No. 15, 16 und 17.

Ein aufs tiefste beschämendes Zeugnis wider die württembergische protestantische Geistlichkeit liefert auch:

„Die wurttembergisohe Volksschulgesetzgebung im fünfzigsten Jahre ihres Bestandes. Eine Vergleichung ihrer Bestimmungen mit den Bedürfnissen der Zeit. Vom Ausschusse des Württembergischen Volks- eohuftehrervereins Stuttgart. Karl Auer Verlag. 1886. 162 S.

»Neuundvierzig Jahre«, so lautet am Schlüsse (S. 160) die in vielen Punkten sehr begründete Klage, »sind seit dem Erscheinen des Schulgesetzes ver- flossen, und uoch ist die Volksschule eine arme Magd (der Kirche, ; neun- undvierzig Jahre lebte die Volksschule in armseligen Verhältnissen, und noch liegt sie im Kampf ums Dasein ; neunundvierzig Jahre klagt der Volks- schullehrerstand über Not und Entbehrung, und noch ruft er um Hilfe; neunundvierzig Jahre schon >hat die Kirche gegenüber der Volksschule die weltliche, die Administrativ- und Justizgewalt in ihrer Hand« und noch ist das Verlangen nach der Sonderung der Schule von der Kirche nicht ge- stillt.« Dafs das alles nicht geschehen, das haben nach der Schrift leider zumeist die evangelischen Geistlichen und ihre Freunde im Landtage ver-

*; S. Päd. Stud. 1890 1. u. 4. Heft. Vergl. hierzu die Schriftrn des Herrn Trüper, die Fanulienrechte an der ÖCTentl. Erziehung. Langensalza 1890 u. Die Schute u. die socialen Fragen unserer Zeit. 3 Hefte. Gütersloh 1890. D. Red.

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schuldet, der >rö mische Sauerteig« in der evangelischen Kirche, sagt Pastor Zahn.

Beyschlag urteilt anders und ist für die Sonderung. Ja, er läfst sich zu Äufserungen hinreifsen, die ihm viele evangelische Geistliche ge- wils verargen werden. So bekämpft auch er die Fabel von der Mutter und Tochter, indem er sagt: »Herr Windthorst hat in dieser Sache manches unwahre Wort geredet, aber kein unwahreres, als da er ausrief: ,Die Kirche hat die Schule geschaffen und mittelst derselben die Kultur verbreitet, welche im deutschen Vaterlande war.' Es ist von der Volksschule die Rede, Herr Windthorst, nicht von der Gelehrtenschule; treiben Sie nicht Taschenspielerei! Die katholische Kirche hat im Mittelalter wohl Gelehrten- schulen gegründet; an eine Volksschule, an eine Schule für alle hat sie

gar nicht gedacht.« »Der Gedanke der Volksschule ist ein

eigentümlicher Gedanke der Reformation; wenn eine Kirche als Mit- stifterin moralische Anrechte an die Volksschule hat, so ists die prote- stantische«. — »Aber auch die evangelische Kirche hat es nicht über

Ansätze und Anregungen hinausgebracht.« »Der Staat ist der eigentliche Schöpfer dessen, was wir Volksschule nennen, der öffentlichen Bildungs- und Erziehungsanstalt für alle«. Die Schule ist für Beyschlag Staatsanstalt und nichts als eine Staatsanstalt.

Im »Zweiten Abschnitt« : Recht und Pflicht des Staates an der Volksschule in Preufsen« verteidigt Jiittlng in seiner Schrift gani wie Beyschlag die Rechte des Staates gegenüber der Kirche, aber er ist »kirchlicher« als der Theologe, und wir sind es mit ihm. Unter Staat ver- steht er nicht »die organisierte, wohlgegliederte menschliche Gesellschaft eines Landes unter einem Oberhaupte zum Schutze des Rechts und Be- sitzes wie zur Förderung allgemeiner Wohlfahrt«, sondern »nichts anderes als die Staatsregierung samt ihren Organen, den Staatsbehörden, und zwar mit spezieller Beziehung auf das Schulwesen, also das Kultus- ministerium und seine Schulorgane«. »Der preufsische Staat, also die königliche Staatsregierung, erhebt den Anspruch darauf, die Schule, und zwar die ganze Schule samt den in ihr gelehrten Fächern, ausschliefs- lich zu beaufsichtigen und zu leiten, ist aber zur Erreichung der pädagogischen Aufgaben allezeit bereit gewesen, den Organen der bürger- lichen und kirchlichen Gemeinden einen gewissen Anteil an Schulrechten und Schulpflichten zu übertragen, indes doch nur so, dafs ihm stete die Oberaufsicht und Oberleitung verbleiben. Zu dieser Oberhoheit hat der Staat ein wohlbegründetes historisches Recht.« (S. 43). »Was Geist- liche und Nichtgeistliche zur Förderung des Schulwesens gethan haben, das haben sie im Sinne und Geiste ihrer Landesherren und zumeist auf deren ausdrückliches Geheifs gethan.« (S. 45.) Dafür liefert Jütting ähnlich wie Beyschlag den historischen Beweis. Von »Staatsschulen« redet Jütting aber nicht. Ja, wir lesen auf S. 52: »Auf den dem Herrn Minister (Falk) im Herrenhause gemachten Vorwurf, dafs er durch den Schulaufsichtsentwurf die Schule von der Kirche trenne, bemerkt dieser: Das Wort Trennung der Kirche von der Schule ist gefallen. Es handelt sich bei diesem Ge-

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setze nicht um Trennung der Schule von der Kirche, sondern um eine genauere Abgrenzung der Rechte des Staates und der Kirche von der Schule, um nichts anderes, insbesondere nicht um eine Lösung des Zusammenhangs zwischen Kirche und Schule.« »Die Schulen als Ver- anstaltungen des Staates« des »Allg. Landrechts« sind in der Verfassung von 1850 verschwunden. Hier stehen sie nur nach Artikel 23 »unter der Aufsicht vom Staate ernannter Behörden.«

Noch mehr als Jütting hat aber Beyschlag in seiner Broschüre treffend nachgewiesen, wie Windthorst es durch seine bewundernswerte taktische Kunst versteht, »durch das Dogma die Geschichte zu besiegen«, um so seinen Antrag historisch rechtfertigen zu können. Dieselbe Methode finden wir aber auch im entgegengesetzten Lager angewendet, um die reine Staatsschule zu rechtfertigen. So in der Schrift:

Die Schule in ihrem Verhältnis zu Staat und Kirche. Kulturhistorisch- Pädagogische Studie von C. Neeee. Berlin. 1889. Hermann Brieger. 32 S. Preis 50 Pf.

Neesc verteidigt also wie Beyschlag die Staatsschule, oder da man mit Recht die Windthorstsche Schule »Priesterschule« nennt, so mufs diese gemäfs Jüttings Definition Bureaukraten- oder Staatsbcamtcnschulc ge- nannt werden. Aber: »der Beweggrund zur Herausgabe dieser kleinen Schrift liegt in der sicheren Voraussicht, dafs die moderne Staatsmacht noch einmal gezwungen sein wird, in absehbarer Zeit den Kampf mit einem nach Hegemonie strebenden Klerus beider Konfessionsanstalten auf- zunehmen. Dieser Kampf gilt nicht speziell kirchlichen Interessen, sondern er wird geführt werden um die Herrschaft auf dem Gebiete der Schule, insbesondere der Volksschule.« (Vorwort.)

»Von jeher ist keine menschliche Institution so viel umworben und noch mehr umstritten worden als das Gebiet der Schule. Familie, Ge- meinde (welcher die bürgerliche, die kirchliche oder die Schulgemeinde ?), Staat: sie alle erhoben seit Jahrhunderten und erheben noch* heute, jeder dieser Gemeinschaftsfak'oren für sich und alje gemeinsam angeblich voll- berechtigte Ansprüche an dieselbe, oft ein ausschlicfsliches Recht mit völliger Hintenansetzung der Rechte des Andern.- (S. 5.) Aber weil »in dem modernen Kulturleben die Bedeutung der Familie hinter den Staats- gedanken zurücktritt *), und bei konsequenter Weiterentwickclung desselben (doch nur nach französischem oder nach sozialistischem Vorbilde?) auch die Bedeutung der Gemeinde eine Einschränkung erleiden mufs,« so bleiben »inbezug auf die Schule nur noch die beiden grofsen Gemeindewesen, Staat und Kirche übrig, von denen jedes vollen Rechtsanspruch erhebt«. (S. 6.) Nun soll »die schwebende Rechtsfrage (zwischen Staat und Kirche S. 32) an der Volksschule vom historischen Entwickelungsstandpunkte Beleuchtung erfahren,« und »dieser Standpunkt« soll nach dem Vorwort für den Ver- fasser »entscheidend sein«.

Wie ist es nun mit demselben bestellt?

* Richtiger wäre: gewaltsam «urückgeschohen wird.

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r

Der ursprünglich und geschichtlich älteste Boden, auf welchem sich seiner Zeit die Erziehung der Jugend ausschliefslich bewegte, ist die Familie.« (S. 7.) Doch »Moses schon wurde unterwiesen in aller Weis- heit der Ägypter ; Daniel auf Staatskosten in der Magie und andern chal- däischen Wissenschaften ausgebildet und zwar in dem königlichen (!) Er- ziehungsinstitut zu Babel« u. s. w. »Hier haben wir also schon die Staats- schule (!): die Erziehung der \\) Jugend ist nationale Erziehung.» (S. 8.) Der Verfasser verschweigt durchaus nicht, dafs die Griechen stets gegen die Staatscrzichungsidee zu Gunsten der Familienrechte mit Erf ol g gekämpft haben. Und »in Rom blieb die Erziehung des künltigen Staatsbürgers Sache der Familie, war Sache des Hauses.« Wo die Staatserziehungsidee »auftauchte, war sie von vornherein totgeboren. So lehrt denn die Ge- schichte der alten Kulturstaaten, dafs man hier schon sehr früh erkannte, wie wichtig es sei, dafs der Staat sich um die Erziehung der Jugend kümmere, sie womöglich selbst in die Hand nehme und, wie in Sparta*),

auch durchführe. Nirgends findet sich das prinzipielle Streben, dem

Staate das Recht der Jugenderziehung streitig zu machen.« (S. 10 f.) »Das Christentum überträgt auch ihm als höchstem Inbegriff des Familien- und Gemeindewesens die Rechte und Pflichten beider in weitestem Umfange und damit auch das Recht und die Pflicht der Jugenderziehung.« (S. 12.) Vom Christentum wird die Kirche streng unterschieden. Sie ist blofs »Konfessionsanstalt«. Wann und wo ist nun aber jene Übertragung ge- schehen? Christus hat wahrscheinlich Hcrodes und Pilatus die Staatsschule zur Pflicht gemacht und Paulus dem Kaiser Nero. So schreibt man »kultur- historisch-pädagogische Studien« oder richtiger: so besiegt man durch das Dogma von der Staatserziehung die Geschichte, wie Windthorst durch das der Priestererziehung. Richtig ist, wie auch Jütting und Beyschlag nach- weisen, dals vom Grofsen Kurfürsten ab die Brandenburg - Preufsischen Regenten »die Schulen als Staatsanstalten betrachtet wissen wollten.« (S. 19). Thatsächlich haben sie sie aber nie als Staatsanstalten betrachtet, wenigstens nicht behandelt, denn sonst würden sie sie doch nicht von den Kirchen-, Schul- oder bürgerlichen Gemeinden haben ernähren lassen. Ein solcher Rabenvater ist der preufsische Staat nie gewesen, dafs er eine »Tochter« (S. 24) von andern Gemeinschaften hätte versorgen lassen können. Die »Staatsanstalt« ist frommer Wunsch geblieben und in Artikel 23 und 24 der preufsischen Verfassungsurkunde von 1850 ist auf das Staatsmonopol durchaus Verzicht geleistet, nur nicht in dem Sinne, wie Windthorst es wünscht. Und einmal angenommen: durch die Erklärung der Staatsregenten seien die Schulen im vollsten Sinne Staatsanstalten geworden, wäre das entscheidend für unsern Standpunkt? Gewifs, dem Herkommen gemäfs hätte dann der Staat das Recht, auf welches Recht sich auch ja Windthorst steift. Wir haben aber nach dem moralischen Recht und nach dem

*> Spart* ist Mutter für Neese. Denn: »Ohne allen Zweifel hat die Ersiehung der sparta- nischen Jugend auf Grund jener Staatsgesetse für unsere heutige Zeit, wie die Verhältnisse sich nun einmal gestaltet haben, etue, wenn auch nicht materielle, so doch immerhin prinzipielle Be- deutung erlangt.« (S. 101.

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Zweckmäfsigen zu forschen und, uns voll in das Bestehende fügend, mit legitimen Mitteln dahin zu streben, dafs das, was zweckmäfsig, was recht und billig ist, auch als Recht zur gesetzlichen Anerkennung gelange. Im andern Falle ist es auch ein schreiendes Unrecht gewesen, dafs man die absolute Fürstenmacht, die Leibeigenschaft und die Sklaverei aufgehoben hat und noch heute gegen letztere Kreuzzüge in fremde Erdteile veranstaltet. Sie hatten alle drei das Recht des historisch Gewordenen für sich. Ja die Sklaverei hatte sogar durch den heiligen Augustin »christliche« Sanktion erhalten.

Doch:

»Die unvermutet freundliche Aufnahme der kleinen Schritt: ,Die Schule in ihrem Verhältnis zu Staat und Kirche', das günstige Urteil der deutschen Presse aller Schattierungen, vor allem aber die an den Ver- fasser gerichteten Wünsche, speziell die preufsisch-deutschen Schulvcrhält- nisse in ihrer nationalpolitischen Ausgestaltung und namentlich die Frage der Schulaufsicht unter Beleuchtung zu stellen, haben Veranlassung ge- boten, mit (auch uns zur Besprechung) vorliegender Schrift in die Öffent- lichkeit zu treten.« So beginnt das Vorwort einer zweiten Schrift:

,Dle preuMisch-deutsche Volksschule ihr Streben nach nationaler

Selbständigkeit und Einheit und die Schulatifslehtsfrage seit

1807 bis zur Jetztzeit von C. Nee»e. 2. Auflage. Berlin 1889. IV u.

72 S.

Und wirklich, der Verfasser hat recht. »Der deutsche Reichs- anzeiger und preufs. Staatsanzeiger«, das »Berl. Tagebl.«, die »Bert. Zeitung«, die »K ieler Zeitung«, das »Hamburger Fremdenblatt« spenden der Schrift das gröfste Lob, wie »Auszüge« auf dem Umschlage bekunden. »Die Broschüre ist mehr als eine blofse »Studie«, sie ist eine historisch-wissenschaftliche Untersuchung und Klarstellung einer Rechtsfrage zu Gunsten des Staates.« So der »Reichsanzeiger«, ähnlich so die übrigen. Wir greifen uns wie Beyschlag an die Stirn und fragen verwundernd: Woher kommt das? Der »Reichsanzeiger« giebt die beste Erklärung: »Derjenigen Anschauung, welche dem S t aa t e auf dem Gebiete der Schule keine irgendwie nennenswerte Rolle zuerkennt, tritt die obige, soeben erschienene Schrift in dankenswerter Klarheit und Schärfe ent- gegen.«

Hätte Neese die Fragen untersucht, ohne gegen die Geschichte und die Logik zu fehlen, so würden auch wir ihm das Lob des »Reichs- anzeigers« nicht vorenthalten können. Allerdings den Anwalt des Staates, der Kirche oder mächtiger politischer Parteien zu spielen, ist eine dank- bare Aufgabe. Man kann die haarsträubendsten Schlufsfolgerungen machen und wird wegen seiner Wissenschaftlichkeit gelobt. Man kann heilige Rechte mit Füfsen treten' und man hat Rechtsfragen klargestellt. Wer aber weder nach links noch rechts sieht, der mufs sich zufrieden geben, wenn er, wie Dörpfeld, von allen Seiten der Mächtigen unbeachtet bleibt, und sich dafür der Verheifsung getrösten : »Die Wahrheit wird euch frei machen« und doch endlich den Sieg davon tragen.

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Doch in der zweiten Schrift geht Neesc einen wesentlichen Schritt weiter, gerät aber dabei in eigenartige Widersprüche. Er will »die nationalpolitische Stellung der preufsisch-deutschen Volksschule innerhalb der Grenze des Staatsbegriffs« behandeln. \S. III.) Weil »beide Schriften mit einander in engster Ver- bindung stehen« und >ein organisches Ganz« bilden sollen, so wollen wir sie auch in dieser Verbindung betrachten. Zu einer Betrachtung aber kann uns für diese auch nur der Umstand nötigen, dafs sie innerhalb eines erst halb verflossenen Jahres zwei Auflagen erlebt hat und wir es mithin mit einer weitverbreiteten Anschauung zu thun haben.

Im Gegensatz zur ersten behauptet diese zweite Schrift : »Auf den Trümmern von Jena und Auerstädt wurde die preufsische Volksschule geboren!« Jene hat sie nämlich schon durch das »Allg. Landrecht« für eine Staatsanstalt erklären lassen (S. 21), nachdem sie es eigentlich schon durch die Erziehung des Moses thatsächlich gewesen sein soll. Auch die »Staatsschule« verwandelt |sich S. 31 plötzlich in »eine Tochter des Volkes, der Nation«, in »eine Nationalanstalt«, welche Ansicht der unsrigen sehr nahe käme, wenn sie nicht Volk und Nation als völlig gleich- bedeutende Begriffe hinstellen wollte. Weiter: Die Schule als Staatsanstalt kann unseres Erachtens nicht selbständig sein, sie bleibt eben Staats- anstalt; doch die zweite Schrift lehrt: »Nein, die Schule ist ein selb- ständiges Kulturinstitut, geschaffen durch den Staatsgedanken (d. h.?}, dienend der Kulturgesellschaft, deren Verkörperung der Kulturstaat ist.« (S. 56). Oder soll Windthorst auch das Recht haben, seine Anschauung zu erklären : Die Schule ist ein selbständiges Kulturinstitut, geschaffen durch den Kirchengedanken usw.? Die erste Schrift erörterte die Frage, ob die Schule dem Staate oder der Kirche gehöre. Staat und Kirche waren also zwei einander ausschliefsende Begriffe. Die zweite sagt eben- falls auf S. 68 : »Die Schule gehört der allgemeinen Lebensgemeinschaft, d. h. dem Staate, voll und ganz ohne irgend welche Einmischung von Seiten der Kirche«, aber S. 66: »Die Schule und ihre Lehrer sind im Organismus des Staates ebenso selbständige Faktoren, wie Kirche und Klerus.« Demnach mufs auch die Kirche, die für den Verfasser eine »Kon- fessionsanstalt« ist, wie die Schule zugleich »Staatsanstalt«, also dem Staate untergeordnet sein. Das sind aber logische Widersprüche.

In der ersten Schritt müssen wir der Abhängigkeit, hier aber dem Grade der Selbständigkeit, den Schule und Lehrer besitzen sollen, leider entgegentreten, wenn der Verfasser fortfährt: »Die Stellung des Volksschullehrers in der Gesellschaft, im Staate, in der Gemeinde ist eine ebenso freie und unabhängige wie die des Geistlichen«, nnd wir sind gespannt, was der »Reichsanzeiger« zu dieser zweiten »historisch- wissenschaftlichen Untersuchung und Klarstellung einer Rechtsfrage« sagen wird. Denn das soll nicht etwa blofs heifsen : beide Stände sind mit dem- selben Mafse zu messen, sondern : für Schule und Lehrerstand ist die Kirche mit dem Klerus, die hierarchische Verfassung, mafsgebend. Denn auf S. 23 lesen wir mit gleichem Druck ausgezeichnet: »Die freien Schulen

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müssen unter Beamten stehen, die aus der Mitte der Volksschulmänner hervorgehen. De r Volksschullehrer übt dami t ei n ihmgehöriges Recht aus. Kreis- und Lokal-Inspektoren gehen aus Wahlen hervor. Ein freier Stand wählt frei seine Beamten.«*) Das haben aller- dings »die Schulmänner des Jahres 48« geredet, die »die Gabe und Kraft der freien Gedankenäufserung besafsen, vor der sich kein Parlamentarier hätte zu genieren brauchen« ; aber in einer Fufsnote zum letzten Satze identifiziert der Verfasser seine Wünsche damit, wenn er sagt: »Wie weit sind wir heute von diesem Ziele entfernt!« Doch Gott wolle nicht blofs die deutsche Volksschule und ihre Lehrer, sondern das gesamte Bildungs- wesen vor dieser Scholarchie mit ihrem Schulpfaffentum in Gnaden be- wahren ! Dafs unsere Vater in ihrem Rausche des Jahres 48 sich einmal zu solchen Äusserungen verstiegen haben, wollen wir ihnen gern nachsehen. Es war eine ganz natürliche Reaktion gegen die plötzlich abgeworfen ge- glaubten drückenden Fesseln der bis dahin nach Willkür herrschenden Staats- und Kirchenpfaffen. Wie man aber heute mitten im konsti- tutionell e n Staats- und sich entwickelnden synodalen Kirchenleben solche illiberale Ziele im Auge haben kann und noch dazu den öffentlichen Beifall rinden, ist schwer zu begreifen. Die Extreme berühren sich auch hier: der radikale Ultramontanismus auf kirchlichem und der radikale Liberalismus auf scholastischem Gebiete haben im Grunde dieselben Prin- zipien und auch auf ihrem Gebiete dieselben Ziele.

»In diesem Zeichen der Freiheit wird die Volksschule, wird der preufsisch-deutsche Lehrerstand siegen und sich in immer aufsteigender Linie bewegen. Ein anderes Zeichen giebt es für sie und für ihn nicht!« So schliefst der Verfasser seine Schrift. Wird der Sieg gelingen, dann hat •die (auf S. 71 citierte) Prophetenstimme« von 1848: »An einem schönen Morgen wird man ausgehen, die Kirche zu suchen und wird die Religion (welche r) finden. Darum, Ihr Volksschullchrer, seid ruhig, Ihr seid unsre Erben!« insofern recht, als sie die Erben der römisch-katholischen Hierarchie sein werden, und die »preufsisch-deutsche Volksschule innerhalb der Grenzen des Staatsbegriffs« dieselbe »national-politische Stellung« einnehmen wird, welche die römisch-preufsisch katholische Volkskirche jetzt bekleidet.

Dies Schul-Utopien könnte man schlicfslich von der scherzhaften Seite fassen , aber es hat eine sehr ernste ; denn diese oder doch ähnliche For- derungen sind die einfachen Konsequenzen, die aus der »historisch-wissen- schaftlichen Untersuchung und Klarstellung einer Rechtsfrage zu Gunsten des Staates« hervorgehen. In diesem Punkte hat der Verfasser im Gegen- satz zu Beyschlag, der auf halbem Wege stehen geblieben, »dankenswerte Klarheit und Schärfe« entwickelt, und es sollte uns freuen, wenn der »Reichsanzeiger« auch dies anerkennen würde. Der Verfasser hat die Frage »von einer selbständigen Stellung der Volksschule und ihres Lehrer-

•.. Sehr richtig; aber die Beamten der Schule, die er ineint, sind nicht »seine« Beamten. Lehrervercinsprs*identcn etc. hat er sich immer frei wählen können. Die meint d. V. aber nicht.

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Standes« und >die Schulaufsichtsfrage« thatsächlich »auf dem politisch- historischen Entwickelungsboden belassen« (S. IV.). Auf diesem Boden hat er gezeigt, dafs der Dualismus zwischen Kirche und Staat auf die Dauer unhaltbar ist und seit jeher die nationalen Kulturinteressen geschädigt hat, gleichviel ob dieser Dualismus in dem »Kondominat« besteht, den Beyschlag leider nur bei den »Römisch-Katholischen« sieht, oder ob er dadurch erzeugt wird, dafs der Staat wegen der Unfähigkeit seiner eigent- lichen (nur juristisch und staatswissenschaftlich gebildeten) Beamten oder wegen Nachgiebigkeit gegen die Geistlichkeit die von Neese mit vollem Recht zurückgewiesene un fachmännische geistliche Aufsicht und Leitung aufrecht erhält. Dieser unhaltbare Dualismus kann auf jenem Boden nur schwinden, entweder wenn »die preufsisch-deutsche Volksschule und ihr Lehrerstand nicht länger ein Anhängsel der Kirche bleiben, sondern der- selben absolut entzogen« (S. 70), d. i. Schule und Kirche vollständig von einander isoliert werden, wie es in Frankreich geschehen, wo deshalb nach Neese Ansicht »die äufsere Stellung der Volksschule entschieden weiter ist« (S. 71); oder: wenn der Centrumsantrag realisiert und der Staat das innere Schulleben der Kirche ganz überläfst und sich mit der Sorge für die Unterhaltung begnügt. In jenem von Neese gewünschten Fall mufs der Staat schliefslich eine Hierarchie von fachmännisch gebildeten Schulbeamten schaffen an Stelle der Geistlichen. Der Staat kann seiner Natur nach kein Vaterherz für die ihm von Neese angedichtete »Tochter« haben. Das hat Neese mit dankenswerter Klarheit dargestellt. Denn seit Jena und Auerstädt, wo die eigene Not den Staat zur Zeugung getrieben haben soll, bis zum heutigen Tag hat nach Neese ihm alles von den Lehrern ab- gebettelt und von den Volksvertretern abgedrängt werden müssen. Was Falk gethan, bleibt nach Neeses Ausführungen lediglich ein persönliches Verdienst. Der Staat kann kein Herz und daher auch nicht viel Geld für die Schule übrig haben, oder es müfste denn eine Schule für seine Zwecke, seine Beamten, also etwa eine Kadattenanstalt, eine Universität etc. sein. Infolgedessen werden die Schularbeiter, die Lehrer, zur politischen Partei- nahme gedrängt werden und die der Volksschule geraten so natur- gemäfs den oppositionellen Parteien in die Arme. Eine rein staatliche Verwaltung kann zudem des Bureaukratismus sich nicht entäufsern, um so der Natur der Schule gerecht zu werden und den Lehrerstand zu befriedigen ; sie mufs dem Wesen des Staates zufolge von oben herab durch In- struktionen regieren, und in den meisten ihrer Verwaltungszweige geht es auch thatsächlich kaum anders. Das Post-, das Telegraphen-, das Eisen- bahn-, das Polizei-, das Militärwesen u. s. w. kann das ertragen, das Er- ziehungsgeschäft nicht. Denn es ist an zu viele individuelle, intellektuelle und moralische Mannigfaltigkeit gebunden und entzieht sich daher ähnlich wie die Kunst aufsenstehender Beurteilung. Es folgt daraus die Notwendigkeit eines gewissen Grades von Freiheit für die Lehrer, und zwar inbezug auf die Schularbeit sowohl, als inbezug auf die davon untrennbare Schulleitung, eine Freiheit, die der Staat seinen Beamten nicht gewähren kann. »Weckung des Bcwufstseins der Selbstverantwortlichkeit des Lehrers durch Gewährung

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der Möglichkeit, die Standesehre in der Schularbeit und in der Schulleitung zu behaupten«, ist aber eine unabweisbare Forderung. Weil nun obendrein der Staat für seine legitimen Anstalten, für das Militärwesen mit den Militärschulen, für das Postwesen und seine Anstalten u. s. w. stets Geld, für die Volksschule es aber nie gehabt hat, so ist es »kein Wunder, dafs eine grofse Zahl von Lehrern von der negativen Politik eines Richter das Heil erhofft, welches ihm die besseren Parteien versagen«;*) sie müssen auf die Parteien bauen, die das Wort »Freiheit« und die »Volks- interessen« wenigstens auf ihre Fahne geschrieben haben, so himmelweit sie auch sonst von der echten Liberalität entfernt sein mögen , sie müssen auf dem weiten Umwege der grofsen Politik nach ihrem Ziele streben, so lange durch eine vernünftige Ausgliederung des Schulwesens ihnen diese Möglichkeit genommen und die berechtigten Forderungen gewährt werden. »Der Lehrer hat eben auch Anteil an den konstitutionellen Errungen- schaften der Gegenwart. Er wählt und so sehr er sonst ignoriert wird die politischen Parteien buhlen um seine Gunst; denn sie wissen, dafs die Tausende von Lehrern im Reich nicht ohne Einflufs auf die Wahlen sind«,**) so wenig auch dem Lehrer und der Schule diese Art von Be- achtung nützt, da sie tumultuarischer Natur ist und nicht aufbaut, sondern schadet, wie nach Jütting (S. 30) das belgische Schulwesen so eindringlich uns predigt.

Allen diesen für den Staat wie für die Schule gefährlichen Klippen entgeht man nur dann, wenn man dem Staate nicht mehr zuspricht, als ihm historisch wie nach Recht und Billigkeit zukommt, und nicht mehr von ihm verlangt, als seine Natur zuläfst und er gewähren kann; wenn man einsieht, dafs die Schule keine »Tochter«, nicht einmal eine Anstalt des Staates ist, so sehr er sich ihrer in den Zeiten der Not auch um seinetwillen angenommen hat und hoffentlich sich ihrer auch fortan in seinem eigenen und seinen Unterthanen wohlverstandenen Interesse an- nehmen wird, indem er ihr zu einer ihrer Aufgabe und ihrem Wesen entsprechenden Verfassung verhilft und sie nament- lich, da schützt und unterstützt, wo sie schwach ist, also seine sozial- politische Gesetzgebung auf dem Gebiete der Volksschule fortsetzt. Dafs die Schule seiner Aufsicht unterstellt bleibt, ist dabei selbstverständ- lich. Diese Aufsicht bleibe aber eine blofse Aufsicht. Dafs der Staat (d. h. wie immer das Staatsbeamtenwesen) zum Schulehalten und -leiten keinen Beruf hat, beweist auch die übermächtige Reformbewegung auf dem Gebiete des höheren Schulwesens, dessen »ganzes System«, wie der Kaiser selbst sich ausdrückt, den Bedürfnissen der Zeit keinerlei Rechnung zu tragen wufste.

Das ganze Schulwesen bedarf einer Erneuerung seiner Verfassung. Die Lehrplan- und Schuleinrichtungsfragen, womit die Reformbewegung

•) Pastor Detlev Zahn, Pädagogisch« Lesefrüchte. Ev. Schulbl. 1885, No. 3 S .68 f.

Ströfer, Ober die Notwendigkeit einer Reform der hergebrachten Schulverwaltung. Gotha. Behrend. 18S5. S. 6. *• Zahn, a. a. O.

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sich fast ausschliefslich beschäftigt, sind nur symptomatische Erscheinungen. Das ursächliche Übel liegt in der überlebten bureaukratischen Schulver- fassung, welche auch der neue preufsische Volksschulgesetzentwurf treulich konservieren helfen will, sowie in dem Kastengeiste, welcher das Schul- wesen nicht als ein ganzes und ein einheitlich-nationales zu erfassen ver- mag oder es nicht will, sondern das » höhere * Schulwesen und das »Volks«- Schuhvesen zum Schaden beider als vollständig isolierte Gebiete behandelt. Und das wird anscheinend leider so lange dauern, bis auch hier die Sozial- demokratie gefährlich wird und das Blatt umzuwenden droht.

3. Seminarkonferenz zu Barby.

28. August 1890.

Die diesjährige Volksschullehrerkonfercnz am Seminar zu Barby war für die in Magdeburg und Umgegend wohnenden Anhänger der Pädagogik Herbarts von hohem Interesse Der neuernannte .Seminardirektor Herr Vogt hatte »Die Bedeutung der Pädagogik Uerbarts für unser Volksschul- wesen zum Thema seines Vortrages gewählt. Der Inhalt desselben war in acht Leitsätze zusammengetäfst.

1. Die Hcrbartsche Pädagogik betrachtet als letzten Zweck alles Unterrichtes die Bildung zur Sittlichkeit; diese Zweckbestimmung ist die denkbar tiefste und fruchtbarste; sie erträgt in keiner Weise eine Er- weiterung und ist auf der andern Seite einer nähern Bestimmung nicht bedürftig.

2. Die metaphysischen Voraussetzungen , aus denen jene Zweck- bestimmung abgeleitet wird, sind nicht frei von Widersprüchen und sind für die Begründung der bezüglichen Bestimmung durchaus entbehrlich.

3. Die Herbartsche Pädagogik selbst hat in der Lehre von dem viel- seitigen gleichschwebenden Interesse für die Verwirklichung jenes Zweckes die psychologische Vermittlung nachgewiesen.

4. Die Herbartsche Pädagogik hat in der Theorie von den Lehrformen und von den formalen Stufen in unanfechtbarer Weise den Weg bezeichnet, auf welchem das Interesse gebildet und damit die Verwirklichung des letzten Zwecks ermöglicht wird.

5. Die Forderung der kulturhistorischen Stufen und der mit denselben gefafsten Konzentration des Unterrichts stellt sich eben so sehr als eine Überspannung wie als eine Veräufserlichung bestimmter Grundgedanken des Systems dar. Dieselbe beruht zudem auf teils unbewiesenen, teils irrigen Voraussetzungen und zeigt sich endlich als praktisch undurch- führbar.

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6. Es bleibt fortschreitender Arbeit vorbehalten, das trotzdem be- deutende Moment der Wahrheit, das jener Forderung innewohnt, herauszu- heben und praktisch fruchtbar zu gestalten.

7. Die innere Gröfse der Herbartschen Pädagogik zeigt sich endlich in der Bedeutung, die dieselbe für die Persönlichkeit des Lehrers hat Sie schärft ihm vor allem das Gewissen, giebt seinem Streben eine ein- heitliche Richtung und eine scharf umgrenzte Grundlage, erhebt seine Arbeit über die Stufe einer blofs äufserlichen Betriebsamkeit und stellt ihm die bestimmte Aufgabe, an den höchsten Zielen der Menschheit an seiner Stelle mitzuarbeiten.

8. Aus allem diesen ergiebt sich, dafs die Herbartsche Pädagogik nach ihrem wesentlichen Inhalt die Elemente in sich trägt, deren die Volks- schule der Gegenwart zu ihrer innern Weiterbildung bedarf.

Die Besprechung, an der sich aufser dem Referenten, Herrn Seminar- direktor Vogt, besonders Pastor Müller zu Barby, Rektor Ecke aus Löder- burg, Rektor Felsch- Magdeburg und Lehrer Hollkamm-Drakenstedt be- teiligten, drehte sich um drei Hauptpunkte, um die Metaphysik Herbarts und um ihr Verhältnis zu seiner Psychologie und Pädagogik, sodann um die Formalstufen, besonders um die Zielangabe, und endlich um die Ideen der kulturhistorischen Stufen und der Konzentration des Unterrichts. Bei Beginn der Debatte machten allerdings einige Redner noch den Versuch, Diesterweg als denjenigen hinzustellen, auf dessen Schultern die Herbartsche Pädagogik ruhe. Dieser Versuch wurde jedoch mit leichter Mühe zurück- gewiesen durch den Hinweis darauf, dafs Diesterweg zwei Jahrzehnte nach Herbart gelebt habe. Jene Redner meinten offenbar die Herbart-Zill ersehe Pädagogik, sprachen das jedoch weder klar aus, noch verwandten sie es zu ihrer Verteidigung. Seminardirektor Vogt machte jeder weiteren Er- örterung über diesen Punkt dadurch ein Ende, dafs er betonte, er habe in seinem Vortrage nicht den geringsten Anlafs zur Besprechung der histo- rischen Frage gegeben , wie sich das Verdienst Diestcrwegs zu dem Herbarts verhalte. Man könne dann auch fragen, ob nicht Pestalozzis oder Frankes oder Comenius Verdienst das gröfsere sei und gelange leicht zu dem unfruchtbaren Standpunkte zu sagen, es sei alles schon dagewesen, also solle alles beim alten bleiben. Da der erste Leitsatz keinen Wider- spruch fand, so wandte man sich dem zweiten von den metaphysischen Voraussetzungen der Pädagogik Herbarts handelnden Satze zu Die Aus- führungen des Vortrages deckten sich so ziemlich mit dem, was Oster- mann gegen die Metaphysik Herbarts vorgebracht hat. Dieselbe wurde zwar nicht eigentlich verteidigt, doch wiesen die, welche zu dem zweiten Leitsätze das Wort ergriffen, einerseits darauf' hin, wie vielfach die Herbartsche Metaphysik raifsverstanden sei, wie selten man ihr ein gründ- liches, vorurteilsloses Studium gewidmet habe, andererseits machten sie geltend, dafs Herbarts Psychologie und Pädagogik nicht allein auf seiner Mcthaphysik, sondern zumeist auf dem breiten Boden der Erfahrung ruhe, aus der sie hauptsächlich die Beweise für ihre Richtigkeit entnehme. Die Metaphysik suche ihrerseits nur die in den Erfahrungsbegriffen enthaltenen

Pädagogische Studien. II. 7

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Widersprüche zu heben, sei also für das Studium der Psychologie und Pädagogik entbehrlich. Darum habe ihr Herbart in seinem >Lehrbuche der Psychologie« nur einen ganz kurzen Abschnitt, in seinem Hauptwerke >Psychologie als 'Wissenschaft« gar keinen besondern Abschnitt gewidmet. Bei demjenigen Teil der Debatte, welcher die Formalstufen zum Gegen- stande hatte, wurde die Frage nach der Notwendigkeit der Zielangabe auf- geworfen und energisch bejaht, ferner wurden die Mängel der sogenannten katechetischen Lehrform hervorgehoben und endlich wurden die formalen Stufen gegen den oft an anderer Stelle erhobenen Einwand verteidigt, als legten sie dem Lehrer unerträgliche Fesseln auf. Auch darauf wurde auf- merksam gemacht, dafs die Formalstufen sich nur sehr unvollkommen aus- führen liefsen, wenn man die Ideen der Konzentration und der Kulturstufen ablehne. Dies hatte der Vortragende gethan. Leider hatte er dabei die erste unvollkommene Gestalt im Auge, welche Ziller, als er jene beiden Ideen zu verwirklichen suchte, seinem Lehrplane notgedrungen geben mufste, so lange die Ausdehnung der Idee der kulturhistorischen Stufen auf die Stofffolge von Geschichte, Naturkunde und Zeichnen noch nicht möglich war, weil die dazu nötigen Untersuchungen fehlten. Seit den Arbeiten von Zillig, Beyer und Menard, so wurde dem Referenten entgegen- gehalten, bezeichneten die Anhänger Zillers selbst seinen ersten Konzen- trationsbegriff als einen überwundenen Standpunkt, redeten von Anklebe- konzentration u. s. w. Man habe nie gefordert, es solle der gesamte Unterricht im Gesinnungsunterricht aufgehen, aber mehr als früher betone man die relative Selbständigkeit eines jeden Faches, daneben natürlich auch die zentrale, herrschende Stellung, die der Religionsunterricht ein- nehmen müsse. Auch wurde darauf hingewiesen, wie schwierig eine all- seitige Begründung der Idee der kulturhistorischen Stufen sei und wieviel Zeit nötig wäre, eine solche Arbeit auszuführen. Damit wurde die Be- sprechung geschlossen.

Einige bemerkenswerte Einzelheiten der Konferenz sind noch hervor- zuheben. Der Vertreter der Königl. Regierung, Herr Regierungs- und Schulrat Schönwälder- bemerkte in seiner Begrüfsungsrcde unter anderm auch, dafs derjenige, welcher sich noch jetzt gegen die Ideen der Pädagogik Herbarts verschliefse, entweder eigensinnig oder ein Ignorant sei. Erfreu- lich war die Art und Weise, in welcher Herr Seminardirektor Vogt für die Herbartschc Pädagogik eintrat. Wenn er von ihren Anhängern rühmte, dafs sie die Ideen ihres Meisters mit einer, in unserer ideenarmen Zeit fast befremdlichen Begeisterung vertreten hätten, so galt das Gleiche von ihm selbst. Begreiflich war es daher, dafs kein eigentlicher Gegner Herbarts auftrat. Der einzige, welcher es zu sein schien, bezeichnete sich wenigstens als ein »Zwei-Drittel« Herbartianer. Die Konferenz war von mindestens 500 Lehrern und Geistlichen besucht. Die Mitglieder der beiden Herbart- vereine Magdeburg und Eichenbarleben waren fast vollzählig erschienen. Unzweifelhaft bedeutet die Konferenz einen Erfolg unserer Sache, und es wird durch dieselbe das Interesse für Herbarts Pädagogik sicher eine be- deutende Steigerung erfahren. H.

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4. Der X. deutsche Kongress für erziehliche Knaben- handarbeit in Strassburg.*)

Am 24. und 25. August fand in Strafsburg der X. Kongrefs für erzieh- liche Knabenhandarbeit statt. Aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes waren Vereinsmitglieder erschienen, um an den Beratungen teilzunehmen. Viele deutsche Regierungen und Städte hatten sich vertreten lassen. Der Kanton Basel und der schweizerische Verein für Knabenhandarbeit hatten ebenfalls einen Vertreter gesandt. Um 1 1 Uhr wurde der Kongrefs, welcher im grofsen Aubettesaale stattfand, eröffnet. Der Vereinsvorsitzende Herr Lammers aus Bremen begrüfste die Versammlung und verlas hierauf die Namen der vertretenen Regierungen und Städte. Nachdem er den Er- schienenen noch für das bekundete Interesse gedankt hatte, erteilte er dem geheimen Oberschulrat Dr. Albrecht aus Strafsburg das Wort.

Derselbe begrüfste die Anwesenden im Namen des Herrn Staats- sekretärs von Puttkamer und des Kaiserlichen Oberschul rates. Er wies hin auf die gleichen Ziele, welche Verein und Schulverwaltung verfolgen. Beide wollen nicht blofses Kennen, sondern vor allem tüchtiges Können. Kr schlofs mit dem Wunsche, dafs reicher Segen aus den Verhandlungen her- vorgehen möge.

Herr Beigeordneter Hochapfel aus Strafsburg rief den Kongrefs- besuchern im Namen der Stadt ein herzliches Willkommen zu. Er wies hin auf die Freude, welche die Nachricht hervorgerufen habe, dafs der Verein für erziehliche Knabenhandarbeit hier seinen Kongrefs abhalten wolle. Er sehe die Wahl Strafsburgs als Kongrcfsort als eine Anerkennung der Bemühungen unserer Stadt zur Hebung der Handarbeit. Der Arbeit des Vereins diene im letzten Grunde dem Ausbau des soaialen Friedens.

Herr Unterstaatssekretär Braun-Behrens begrüfst den Kongrefs im Namen des Herrn Ministers des Innern, der mit regem Interesse den Be- strebungen des Vereins folge. Diese seien idealer Natur ; sie gehen darauf hinaus, den Mensch immer harmonischer auszubilden. Als Beweis der Not- wendigkeit harmonischer Ausbildung führte er Goethe an, der ja auch dazu beigetragen habe, den Boden Strafsburgs zu einem klassischen zu machen. Er freue sich, den Verhandlungen beiwohnen zu können, da er von der Wahrheit und Idealität der Vereinsbestrebungen erfüllt sei. Die Aus- stellung enthalte viel erstaunliches und erfreuliches.

Herr Oberschulrat Wallraff in Karlsruhe entbietet dem Kongrefs einen freundnachbarlichen Grufs aus Baden, als dessen Vertreter er hier stehe. Auch in Baden sei schon ein kleiner Anfang gemacht worden. Der Land- tag habe eine bedeutende Summe bewilligt, wodurch die Sache der Knaben- handarbeit eine wirksame Förderung erfahren werde. Man strebe gegen- wärtig in seinem Lande hauptsächlich darnach, den Unterricht in methodisch richtigerer Weise zu erteilen, als dies bisher geschah. Er betonte haupt-

•l Vergl. da* 3. Heft »Au* dem I'äd.i^og. LnivcrMUt^Vitn'm.tr zu Jtin.. Langem..!/.-. Beyer. (I». Red.)

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sachlich die Forderung der Freiheit und Freiwilligkeit inbezug auf Ein- führung und Teilnahme an diesem Unterrichtsfache.

Aus den Beyrüfsungsw orten des geheimen Oberschulrates Greim aus Darmstadt ist ersichtlich, dafs in Hessen zwar noch wenig geschehen sei; dafs aber trotzdem auch dort die Idee der Knabenhandarbeit Eingang ge- funden und festen Fufs gefafst habe.

Ks wurde nun zur Wahl des Vorstandes geschritten. Herr Hoch- apfel aus Strafsburg übernahm den Vorsitz und erteilte Herrn Lammers aus Bremen das Wort zur Festrede. Herr Lammers gab einen kurzen Überblick über die bisherige Thätigkeit der Kongresse. Man habe bisher vorzugsweise Süddeutschland aufgesucht, weil die Idee der Knabenhand- arbeit in Norddeutschland schneller Boden gefafst habe, als in Süddeutsch- land und hier infolgedessen die Agitation notwendiger sei als dort. Das Zentral-Komitee wurde im Jahre 1881 gegründet. 1886 ging man nach Stuttgart, wo der Verein für erziehliche Knabenhandarbeit ins Leben gc- rufen, und die Gründung einer Lehrerbildungsanstalt unter der Leitung des Herrn Oberlehrers Dr. Götze beschlossen worden ist. 1887 (and der Kongrefs in Magdeburg statt, 18S8 in München, 1889 in Hamburg und dieses Jahr nun in Strafsburg. Aufgabe des diesjährigen Kongresses ist es, über die Einführung der Knabenhandarbeit in ländlichen Schulen zu beraten und endgültige Entscheidung über die Art und Weise des Fortbestehens der Lehrerbildungsanstalt in Leipzig zu treffen.

Herr Oberlehrer Dr. Götze, der bisherige Leiter der Lehrerbildungs- anstalt in Leipzig spraeh nun über das Thema : Wesen und Ziele des deutschen Knabenhandarbeitsunterrichtes. An die Spitze seines Vortrages stellte er die Worte Pestalozzis: »Wer aus dem Wissen sein Handwerk macht, der hat sehr acht zu geben, dafs er das Thun nicht verlernt.« Da der Hauptwert aller Erziehung in der Entfaltung der Individualität des Zöglings zu suchen ist, so müsse man dahinstreben, dafs der Schüler sich an seiner Erziehung selbst bethätige, weil diese Selbstbethätigung ein höchst wichtiger Faktor iSt, um jene zu erreichen. Redner ^führte hierauf eine Reihe von Warnungen vor der Oberschätzung des blofsen Wissens an. So sagt z. B. Comenius: Nur durch Thun gelangt der Mensch zum wahrhaften Sein. Der erziehliche Wert des Handarbeitsunterrichtes ist ganz besonders zu betonen. Daneben laufen aber noch eine ganze Reihe von Neben- crfolgen her, welche nicht unterschätzt werden dürfen: Übung von Auge und Hand, Lntwickelung des Farben- und Formensinnes, EinHufs auf Ge- sundheit u. s. w. Alle Richtungen, welche sich bis jetzt geltend gemacht haben, sei es in Bezug auf Lehrcrpersonal, Methode, Unterrichtsgegen- stände u. s. w.. einigen sich in der Betonung der hohen erzieherischen Be- deutung. Zwar sei noch viel zu thun, bis das Ideal, allgemeine Einführung des Knabenhandarbeitsunterrichtes in allen Schulen, erreicht sei. Aber man hege die feste Zuversicht, dals auch auf diesem Gebiete ein Um- schwung eintreten werde. Schon oft haben sich in den verschiedenen Jahrhunderten die Erziehungsideale verschoben. Man denke nur an den Kampf zwischen Humanismus und Realismus. Auf beiden Seiten wurde

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mit grofser Erbitterung gefochten. Doch verschaffte sich die Ansicht, dafs das Wortwissen leerer Schall sei, dals nicht die Bücher, sondern die Sinne die Vermittler der Erkenntnis sein sollen, immer mehr Ansehen ; besonders war dies der Fall seit Entwickelung der naturwissenschaftlichen Forschung. So konnte es auch geschehen, dafs die Bemühungen Pestalozzis dem An- schauungsunterricht in der Schule Einlafs zu verschaffen, nicht erfolglos waren. Dieser grofse Bahnbrecher auf dem Gebiete der Pädagogik habe aber seine Gedanken nur zur Hälfte in Anwendung gebracht. Derselbe fordere noch eine Ergänzung, die Handarbeit. Diese sei ein gesteigerter Anschauungsunterricht. Fröbel hat diesen Gedanken in seinen Kinder- gärten in die Praxis übersetzt und es sei nun Autgabe des Vereines für erziehliche Knabenhandarbeit, seinen hohen erzieherischen Wert auch für das vorschulpflichtige Alter nutzbar zu machen. Drei Fächer sind es, welche ganz besonders dem Thätigkcitskreis der Schüler Rechnung tragen: Turnen, Zeichnen und als ergänzendes Binde- und Mittelglied die Hand- arbeit. Wie die beiden erstgenannten Fächer nicht erst durch theoretische Erörterungen in »den Lehrplan gelangt seien, so dürfe auch der Hand- arbeits-Unterricht nicht auf scholastischem Boden wachsen. Immer mehr mache sich die Forderung der Bethätigung in allen Schulgattunaen geltend, in den höhern Lehranstalten sowohl als in den Elementarschulen. Es ge- nügt ein Blick auf die Art und Weise des heutigen Universitätsstudiums, des heutigen Lehrverfahrens in höhern Lehranstalten, Seminarien, Volks- schulen u. s. w. Wie sehr der Unterricht durch Nutzbarmachung des Thätigkeitstriebes gewinne , ist einleuchtend. Zwar werde dadurch das Fortschreiten etwas gehemmt, doch: Wenig und gut, ist besser als viel und schlecht.

Höher als dieser unmittelbare Gewinn ist der unmittelbare Einflufs auf die Erziehung. Sie entwickelt die Willenskraft durch stufenweises Vor- wärtsschreiten, erzieht zur Ausdauer und Zähigkeit. Welch reicher Gewinn für unsere Zeit, die so sehr willensstarker und energischer Männer bedarf.

Die Idee des Handarbeitsunterrichtes ist in einem Zeitraum vor lo Jahren durch fast ganz Europa gezogen, überall festen Fufs fassend. Nord- amerika und selbst Japan haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Das ist ein Beweis dafür, dafs die Handarbeit ein wichtiges Erziehungsmittel ist und dafs es nicht verschwinden wird, wenn auch Schlendrian und Vor- urteil versuchen werden, die neue Idee im Sumpfe der Gleichmütigkeit zu begraben. Ihre Freunde werden sich bemühen, die Handarbeit hochzuhalten» denn sie trägt dazu bei, dafs der Satz den Sieg behalte : Und sie (die Menschheit und ihre Gesittung) bewegt sich doch.

Oberlehrer Dr. Götze hatte folgenden Leitsatz aufgestellt : In Er- wägung, dafs der erziehliche Knabenhandarbeitsunterricht die Reihe der bisherigen Bildungsmittel erweitert, indem er zu dem vorzugsweise auf die Ausbildung der geistigen Kräfte hinzielenden Schulunterricht systematische Übungen in der werkthätigen Arbeit hinzufügt, und in Erkenntnis der That- sache, dafs es bei dem heutigen Stande des Kulturlebens notwendig ist, die Anlagen und Kräfte der heranwachsenden Jugend zu allseitigerer Ent-

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Wickelung zu bringen, erachtet der X. Kongrefs es für wünschenswert, dafs die leitenden deutschen Schulverwaltungen den erziehlichen Knaben-Hand- arbeits-Unterricht in den Lehrplan der Volksschulen wie der höheren Lehr- anstalten als einen freiwilligen, und in den Lehrerbildungsanstalten, zur Gewinnung der erforderlichen Lehrkräfte und im eigenen Bildungsinteresse des Seminaristen, als einen Pflichtgegenstand allmählich einführen.

Herr Landtagsabgeordneter von Schenckendorff aus Görlitz, der zu- gleich Geschäftsführer des Vereines ist, behandelte dieselbe Frage, nahm aber besonders Rücksicht auf die ländlichen Kreise der Bevölkerung. Jene Charaktereigentümlichkeit, der die Deutschen den Namen eines Volkes der Denker verdanken, habe trotz seiner hohen Vorzüge auch seine Schatten- seiten Sie verhindern zu häufig ein rasches, entschiedenes Handeln. Um nun auch zu diesem zu erziehen, verlange der Verein Einführung des Knabenhandarbeitsunterrichtes. Dieser Gedanke, den viele Städte bereits verwirklicht haben, eigne sich aber auch für die ländlichen Verhältnisse. Redner warnt aber entschieden davor, seine Ausführungen so aufzufassen, als wolle er den sogenannten Hausfleifs, der durch Clauson Kaas in Schweden und Dänemark eingeführt worden sei, auch bei uns einbürgern. Der Schule müsse vor allen Dingen der Charakter einer Erziehungsanstalt gewahrt bleiben. Da dies ein Grundpfeiler der Brestrcbungen des Ver- eines sei, so sei hieraus schon ersichtlich, dafs er etwas ganz anderes wollte als Clauson Kaas.

Die Bemühungen des Vereines haben eine hohe soziale Bedeutung. Der Minister des Innern hat dieselbe anerkannt, darum trete er auch ent- schieden für die Vereinsbestrebungen ein. Wenn nun die Bewegung auch auf ländliche Gebiete übertragen werden sollen, so müsse man hier ganz besonders vorsichtig ans Werk gehen, sonst könne leicht das Vorhaben an dem Widerspruch der Landwirte scheitern. Gar manche Schwierig- keiten seien zu berücksichtigen : So die schwerwiegenden Hindernisse, mit denen die Landwirtschaft zu kämpfen habe, so der Zug der ländlichen Be- völkerung nach den Städten, der, wie man irrtümlicherweise annimmt, durch Einführung des Knaben Handarbeits- Unterrichtes noch verstärkt werden würde. Endlich sei die ländliche Bevölkerung im allgemeinen allen Neuerungen, besonders wenn der Geldbeutel in Anspruch genommen wird, abhold.

Um bei seinen Vorschlägen nicht irre zu gehen, habe er sich von Autoritäten auf dem Gebiete der Landwirtschaft Urteile eingeholt. Aus einem Briefe des Herrn Schultzc aus Lupitz, einem der bedeutendsten Landwirte Deutschlands geht hervor, dafs derselbe die Wichtigkeit des Knabenhandarbeitsunterrichts für Landschulen anerkennt, dafs man jedoch in dem landwirtschaftlichen Kreise befürchte, durch denselben werde Ab- neigung gegen den ländlichen Beruf erzeugt. Um diesem Vorwurfe zu entgehen, müsse in den Landschulen der Unterricht dergestalt betrieben werden, dafs Lust und Liebe zum Ackerbau erweckt und die ländliche Bevölkerung immer geschickter in der Ausübung ihres spätem Berufes werde. Dieser Gedanke habe den Redner zu der Ausarbeitung einer Denk-

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schrift veranlagst, welche er dem Landwirtschaftsminister unterbreitet habe. Dieselbe sei dem Landesökonomie-Kollegium zur Erwägung vor- gelegt worden.

Es sei natürlich nicht zu verlangen, dafs spezieller Unterricht in Land- wirtschaft erteilt werde. Derselbe müsse mehr in der Form von Beispielen erscheinen, ähnlich wie dies auch für Volkswirtschaftslehre, Verfassungs-, Gesetzes- und Gesellschaftskunde verlangt werden mufs. Es sind dies Wissensgebiete, die bis jetzt noch fast gar nicht in der Schule gelehrt worden seien trotz ihrer grofsen Bedeutung und trotzdem Männer wie Dörpfeld sehr deren Einführung betont haben. Dörpfetd habe kürzlich in neuer Aurlage ein schönes Werkchen herausgegeben: Die Gcscllschafts- kunde, eine notwendige Ergänzung des Geschichtsunterrichtes. Er könne dessen Lektüre den Besuchern des Kongresses nur auf das Dringendste empfehlen. Die obengenannten Fächer sollen, wie schon gesagt , nicht selbständig behandelt werden, sondern an geeigneter Stelle in die übrigen Unterrichtsgegenstände eingefügt werden. Der landwirtschaftskundliche Stoff könne sehr leicht in der Naturgeschichte, Geographie, im Rechnen, in Geometrie und im Sprachunterricht verwertet werden. Nachdrücklich sei aber davor zu warnen, die ländliche Volksschule zur Fachschule zu machen. Der Lehrer müsse darauf achten, derselben den Charakter einer Erziehungsanstalt zu wahren, wenn er auch die verlangte Rücksicht auf Landwirtschaftskunde nimmt.

Was nun die Prinzipien anbelangt, nach denen der Unterricht im ländlichen Handarbeitsunterricht erteilt werden soll, so sind sie dieselben wie in der Stadt. Bei Auswahl der Handwerke hat natürlich die Landwirt- schaft ein Wort mitzusprechen. Es wird sich empfehlen, Holz- und Metall- arbeiten, Korbmacherei und Strohflechterei besonders zu berücksichtigen. Auf die Notwendigkeit der Handbildung hinweisend, las Redner noch eine Stelle aus den Briefen von Schultze-Lupitz vor, aus welcher ersichtlich ist, dafs die Handgeschicklichkeit in bedenklichem Rückgange begriffen sei.

Der Gewinn, den ländliche Schulen aus dem Knabenhandarbeitsunter- richt ziehen können, läfst sich im folgenden Punkten zusammenfassen:

1. Es wird die Neigung der heranwachsenden ländlichen Jugend für den landwirtschaftlichen Beruf geweckt, die Liebe zur Heimat wird lebendig und ein allgemeines Interesse für den landwirtschaftlichen Betrieb geschaffen.

2. Die Befähigung zur Ausübung der landwirtschaftlichen 'Arbeit wird gestärkt, indem der Landmann auch zu praktischen, körperlichen Arbeiten erzogen und seine Geschicklichkeit zur Handhabung der landwirtschaftlichen Geräte gehoben wird.

3. Als Nebenerfolg ergiebt sich aus dieser die landwirtschaftlichen Verhältnisse berücksichtigenden Erziehung gröfsere Unabhängigkeit von fremder Hilfe, Entwöhnung von Zeitvergeudung, Beschäftigung in Haus und Hof besonders während ungünstiger Witterung und im Winter gröfsere Fesselung an das Haus und dadurch indirekt eine Bekämpfung des über- mäfsigen Wirtshausbesuches, sowie Begünstigung des Familienlebens, direkt

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und indirekt, Verbesserung der landw irtschaftlichen Verhältnisse, der länd- lichen Arbeiter und endlich allgemeine Hebung der Widerstandskraft der landwirtschaftlichen Bevölkerung in ihrem wirtschaftlichen Kampf.

Da die Zeit schon sehr weit vorgeschritten war, so wurde der Antrag eingebracht, auf die Debatte zu verzichten, was aber abgelehnt wurde, sie wurde auf den folgenden Tag verschoben.

Zum Schlufs brachte Stadtschulrat Fürstenau aus Berlin die Gewogen- heit des dortigen Magistrats für die Vereinsbestrebungen noch zum Ausdruck; er warnte aber vor der Einführung eines neuen Lehrgegenstandes in die Schule.

Um 21/« Uhr wurde der Kongrefs geschlossen.

Den Rest des Tages füllte Festessen, Bengalisches Feuer u. s. w. aus.

Am 25. August fand die Fortsetzung des Kongresses und der eigent- liche Vereinstag statt. Zunächst verlas Herr Ober -Realschul -Direktor Nöggerath aus Hirschberg i. Schi, den Bericht über die wirtschaftliche Lage des Vereins. Die Einnahmen betrugen 17726 M., die Ausgaben 12227 M., daraus ergiebt sich also ein Einnahme-Überschufs von rund 5500 M. Der Reservefonds für die Lehrerbildungsanstalt beläuft sich gegenwärtig auf ungefähr 9600 M., dank einer hochherzigen Gabe des Ge- heimen Kommerzienrates Gruson aus Magdeburg-Buckau. Um das zur Unterhaltung der genannten Anstalt nötige Kapital von 30,000 M. zu erhalten, mögen die Vereinsmitglieder sich eifrig mit Sammlungen bei günstig ge- stimmten Behörden und Privaten beschäftigen.

Bei der nun eintretenden Ergänzungswahl in den Ausschufs wurden die Herren Dr. Albrecht in Strafsburg und Dr. Robert Simon in Königsberg neu gewählt.

Hierauf berichtete der Vorsitzende Herr Lammers über die Anstellung des Oberlehrers Dr. Götze als Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Leip- zig. Dieselbe sei notwendig, um die Gesundheit des Herrn Götze zu schonen, ferner weil es ihm von Seiten der sächsischen Regierung nicht mehr gestattet werden kann, beide Ämter zugleich zu verwalten. Endlich würde die Anstalt, das Vereinsorgan bedeutend durch die Anstellung ge- winnen, weil sich Herr Götze dann ausschliefslich mit diesen Dingen be- schäftigen könnte. Der Antrag wurde hierauf durch Abstimmung zum Be- schluis erhoben.

Baron Schenkendorff teilte hierauf mit, dafs ein Antrag auf Verleihung der körperschaftlichen Rechte tür den Verein bei der preufsischen Regie- rung eingebracht worden sei; dafs aber infolge dessen der Vorstand auch ermächtigt werden müsse, einen Artikel der Statuten dementsprechend umzuändern, was auch geschieht

Nun begannen die Debatten der am vorhergehenden Tag aufgestellten Thesen. Dieselbe war äulserst eingehend und lebendig. Unter den 5 im Laufe der Diskussion eingereichten Thesen, wovon eine vor der Abstim- mung zurückgezogen wurde, gelangte der Antrag Götze-Rohmeder in fol- gender Form zur Annahme: In Erwägung, dafs der erziehliche Knaben-

los -

Handarbeits-Unterricht die Reihe der seitherigen Bildungsmittel erweitert, in- dem er zu dem vorzugsweise auf die Ausbildung der Geistes-Krätte hinzielenden Schulunterricht systematische Übungen in der werkthätigen Arbeit hinzufügt und in Erkenntnis der Thatsache, dafs es bei dem heutigen Stande des Kulturlebens notwendig ist, die Anlagen und Kräfte der heranwachsenden Jugend zu allseitigerer Entwickelung zu bringen, erachtet der X. Kongrefs es für wünschenswert, dafs die leitenden deutschen Schulverwaltungen den erziehlichen Knaben-Handarbeits-Unterricht in den städtischen Volksschulen wie den höheren Lehranstalten, besonders in den Lehrer-Bildungsanstalten überall da, wo die Voraussetzungen dazu gegeben sind, als wahlfreier Unterrichtsgegenstand allmählich einzuführen.

Nach einer Pause von Stunde begann die Besprechung der These II und III, welche Herr von Schenkendorß auf Grund seines Vortrages auf- gestellt hatte. An Stelle der These II brachte Herr von Schenkendorff gleich zu Anfang eine abgeänderte ein. Dieselbe lautet: Der Vorstand wird ermächtigt, zu erwägen, auf welche Weise allmählich auch die Land- teile in den Kreis unserer Bestrebungen gezogen werden können. An der Besprechung nahmen die Herren Brinkmann-Königsberg, Pabst-Hannover, Groppler-Berlin teil, worauf dieselbe zur Annahme gelangt.

Die nun zur Besprechung gelangende 3. These lautet:

Es ist dahin zu wirken, dafs die für die Schülerwerkstätte, sowie für Ausbildung der Lehrer in Leipzig erwachsenden Kosten, soweit es sich um kommunale Anstalten oder deren Lehrer, bezw. um Vereins- oder Internatseinrichtungen handelt, zur Hälfte vom Staat getragen werden.

Durch die Debatte wurde in den Schlufssatz noch das Wort womöglich eingefügt.

Nun wurde mit der Besprechung der Vorschläge für die Fassung der Grundzüge des erziehlichen Knaben-Handarbeitsunterrichtes begonnen. Die- selbe wurde jedoch unterbrochen, um zuerst, vielfachem Wunsche gemäfs, den Vortrag des Herrn Groppler-Berlin anzuhören. Derselbe lautet: Ist der Handarbeits-Unterricht zu einem selbständigen Unterrichtsgegenstande zu entwickeln oder soll er nur zur Förderung anderer Unterrichtsgegenstände in den Dienst derselben gestellt werden? Er behandelte das Thema in sehr gekürzter Form, weil die Zeit schon vorgerückt war, und schon viele Punkte desselben in den Besprechungen ihren Ausdruck gefunden hatten. Er zeigte zunächst, wie der K.-H.-A.-U. als Prinzip aufgeläfst den theore- tischen Unterricht beleben könne. Derselbe müsse aber ein selbständiges Unterrichtsfach sein.

Nun wurde die unterbrochene Besprechung der Grundzüge tortgesetzt Die i, 2 und 7 gaben Anlafs zu Änderungen ; die übrigen wurden ange- nommen, wie sie vorgeschlagen waren.

Um 4 Uhr wurde die Versammlung geschlossen, nachdem man noch ein Hoch auf die Stadt und den Orts-Ausschufs ausgebracht hatte.

K. F.

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5. Zeitschrift für den evangelischen Religionsunterricht

herausgegeben von Prof. Dr. F. Fauth u. Dr. Jul. Köster. I. Jahrgang, Heft 1— III. Berlin, H. Reuthers Verlagsbuchhandlung.

Vor uns liegen die drei ersten Hefte der neubegründeten Zeitschrift für den Religionsunterricht. Wieder eine neue Zeitschrift für ein einzelnes Unterrichtsfach, nachdem erst vor einigen Jahren dem deutschen Unterricht ein besonderes Organ geschaffen wurde. Fortschreitendes Spezialisten- tum auch auf dem Gebiete des Schulwesens! So hat gewifs mancher ge- dacht, der unvorbereitet und uneingeweiht das erste Heft der Zeitschrift in die Hand nahm. Was soll daraus werden, wenn für jedes Fach des Gvm- nasialuntcrrichtes ein besonderes Arbeitsfeld abgesteckt wird, so dafs der Überblick über das ganze Gebiet des höheren Unterrichts verloren geht2 Wie soll die Einheit gewahrt, ja die Vereinfachung des Schulplanes erreicht werden, wenn jedes Fach nach einer Sonderexistenz ringt? Dem Lehrplan unserer Gymnasien fehlt die Einheit des Grundgedankens, er ist nicht mehr Ausdruck einer Idee, wie er es ehedem war, sondern eine musivische Zusammensetzung der Bildungselcmentc unserer Zeit. Kein Wunder, dafs nicht allen alles gefallt, sondern den einen dieses, den anderen jenes ver- stimmt. Ode»- mufs vielleicht die Entwickelung diesen Gang nehmen, dafs erst die Zerstückelung eintritt, damit eine Neugestaltung möglich wird. dals die einzelnen Territorialmächte als selbständig anerkannt werden, da- mit eine dieser Mächte den Krystallisationspunkt für die Neubildung ab- giebt, wie sich an einen Teil des zerfallenen deutschen Reiches der neue Staat gegliedert hat:

Ein Blick in die Zeitschrift lehrt, dafs man die Aufgabe praktisch an- greift und bemüht ist, Erkenntnisse in die That umzusetzen. Theoretisch ist über die Aufgaben des Unterrichts so viel Vortreffliches gesagt und ge- schrieben worden, dafs der Grund der Verstimmung nur in der unvoll- kommenen Ausführung gesucht werden kann. Nun ist ja eine solche Zeit- schrift auch noch lange nicht die Ausführung, aber sie ist ein Spiegel der Praxis, der ein zwar idealisiertes, aber doch lehrreiches Bild zurückwirft. Den Vorwurf der Selbstbcspiegelung aber wird niemand mehr erheben, seitdem man allgemein eingesehen hat, dafs der Lehrer nicht minder wie sein Schüler am besten durch das Beispiel gefördert wird.

Es kommt hinzu, dafs wir es mit einer Zeitschrift für den Religions- unterricht zu thun haben, dem in unserer Zeit unvermerkt ganz be- sonders schwierige Aufgaben zugefallen sind. Je reicher den Schülern unserer Gymnasien das Wissen zuströmt, um so mächtiger und breiter wird die Grundlage für ihre Weltanschauung, um so stärker mufs der Schwung sein, der sie über die Kausalitätsbetrachtung hinweg zur teleologischen Weltbetrachtung emporhebt. Je stärker aber das Lern- und Erkenntnis- vermögen der Jugend in Anspruch genommen wird, um so schwächer

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scheint die Schwungkraft des Gefühls und des Willens zu werden Und doch müssen die Geister gelöst und befreit werden, dafs ihnen der Flug gelingt, der sie hinüberführen soll über die Kluft zwischen Denken und Religiosität. >Wird eine der Entwicklungsstufe der Gegenwart ent- sprechende Einigung des Denkens und der Frömmigkeit gefunden werden, welche alle edlen Geister unter Gebildeten und Ungebildeten zu überzeugen und zu lichtem, warmem Leben zu erwecken vermag ? Ich weifs es nicht, finde es auch unnütz, darüber Vermutungen aufzustellen. Es kann ja sein, dafs zur rechten Zeit ein Prophet erscheint, der durch ein erlösendes Wort Ordnung in die ringenden Gedanken bringt, wie es schon manchmal in der Weltgeschichte sich ereignet hat. Es kann auch aus dem Kampfe der Geister ein neuer Geist der Zeit hervorgehen und die ersehnte Wahrheit ans Licht bringen. Das liegt aber in der Zukunft. Wir stehen jetzt im Streit der Gegensätze und müssen uns rciHich überlegen, wie wir uns darin zu verhalten, und was wir an unserm bescheidenen Teile zu thun haben, damit unser Volk ohne Schaden in dieser Zeit bestehe und einer besseren den Weg bereite.»*)

Welches der Unterrichtsfächer im Gymnasium ist aber berufen, den Jüngling aus dem Wirrsal widerstreitender und einseitiger, unvollkommener und unbefriedigender Lehrmeinungen herauszuführen auf einen Standpunkt, der fest und hoch genug ist, um der Seele Frieden zu geben, wenn es nicht der Religionsunterricht ist? Das Bewufstsein dieser besondern Auf- gabe hat sich in den Kreisen der Religionslehrer schon längst geregt und sie bestimmt, in einzelnen Provinzen zu gemeinschaftlichen Beratungen zu- sammenzutreten. In der Rheinprovinz wurde diese Einrichtung zuerst ge- troffen, schon im Jahre 1878, und fand Nachahmung in Sachsen, Westfalen und Schleswig-Holstein. Auch in Berlin besteht seit nahezu zehn Jahren eine theologische Gesellschaft, welche sich mit den Aufgaben des Religions- unterrichtes beschäftigt.

I.

In der vorliegenden Zeitschrift sehen wir uns darum zuerst um nach solchen Mitarbeitern, welche etwas bieten für diese hohe Aufgabe, eine Weltanschauung zu begründen. Jedes der drei Hefte enthält eine Arbeit, die auf dieses Ziel gerichtet ist. Am bedeutendsten unter ihnen ist Dr. O. Kutzners Aufsatz im III. Heft: »Die apologetische Seite des Religions- unterrichtes an höheren Lehranstalten«. Kutzner bringt hier fast alle ein- schlägigen Fragen zur Sprache und bietet mit kundiger und sicherer Hand eine wertvolle Grundlegung für die Arbeit des Religionslehrcrs, dem es darum zu thun ist, dem Schüler zu einer teleologischen, d. h. religiösen Weltanschauung zu verhelfen. Diese Arbct verdient eine solche Beachtung, dafs es sich nicht verlohnen würde, einzelnes herauszugreifen, sondern jeder Religionslehrer auf die Lektüre verwiesen werden mufs.

Im ersten Heft bietet Fauth, der eine der beiden Herausgeber, einen Vortrag, den er bei der Eröffnung der ersten westfälischen Religionslehrer-

♦) Im Kampf um die Weltanschauung. BekenuuiUite eines Theologen. S. ö9.

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Konferenz gehalten hat über >die Aufgaben des Religionsunterrichtes auf höheren Lehranstalten, mit Berücksichtigung der Bedürfnisse der Ge- genwart«. Es gelingt dem Verfasser, die Wichtigkeit der Aufgabe des Re- ligionsunterrichts zu ermessen und lichtvoll darzustellen. Wie die Religion den ganzen Menschen ergreifen soll, so wirkt auch der Religionsunterricht auf das gesamte Seelenleben. Er will eine geläuterte Vorstellung von Gott schaffen, welche die Auseinandersetzung mit den Ideen der Wissenschaft nicht scheut. Er stimmt das Gefühlsleben so, dafs der Mensch in der Wertschätzung der Güter nicht irre geht und sucht drittens dem Wollen und Handeln die gute Richtung zu geben und die Kraft dazu an der bese- ligenden Persönlichkeit Christi zu entzünden. Wenn dieses das Ziel ist, so kann auch der Religionsunterricht das Seine dazu beitragen, dafs die Volksgenossen übereinstimmen in den wichtigsten Vorstellungen, dafs sie einig sind über die höchsten Güter des Lebens und im Wirken nicht wider einander stehen. Es ist also die Wohlfahrt des Staates, der auch der Re- ligionsunterricht dient.

Fauth leitet mit diesem Schlufs die Arbeit des Religionslehrers nicht aus einer religiösen Idee, sondern aus dem Staatsgedanken her. Darum liegt es in unserer Zeit nahe für ihn, in einem Anhang noch ausführlicher die Frage zu behandeln: >Können wir im Religionsunterricht etwas zur Lösung der sozialen Frage mit beitragen?« Er beantwortet sie durch An- führung einiger Abschnitte aus seinem Buche »Die wichtigsten Schulfragen auf dem Boden der Psychologie erörtert« Gütersloh 1878, welche darthun, wie grofs das Interesse eines Volkes daran ist, dafs die Volksgenossen in einer einheitlichen Weltanschauung aufwachsen , damit nicht verschiedene Wcltauflfassungen und Wertschätzungen der Güter des Lebens die Klassen einer Nation verfeinden. »Steht hier Weltanschauung gegen Weltanschau- ung, so steht Mann gegen Mann, Partei ge^en Partei, Gesellschaft gegen Gesellschaft im Kampf zum Verderben des Vaterlandes.«

Dieselbe Befürchtung war es, welche den Gedanken der Einheitsschule ins Leben rief, und es ist bezeichnend tür unsere Zeit, dafs auch die Re- ligionslehrer ihre Arbeit bewufst und ausdrücklich in den Dienst der öffent- lichen Wohlfahrt stellen. Und wenn sie sich das Ziel so stecken, wie es Fauth thut, Begründung einer Weltanschauung, so bieten die Religionslehrer dem Staate viel, sehr viel! Man sieht aber auch an dieser Stelle, wie viel sich der schroffste Vertreter des Staatsgedankens, Paul Güfsfeldt, entgehen läfst, wenn er seiner Zukunftsschule den Religionsunterricht entzieht, und sieht ferner noch bei diesem Vergleich, wie flach Güfsfcldts Staatsgedanke ist, da er das Glück und den Zusammenhalt des Staates erwartet von der Einführung solcher Formen, die dem Militarismus nachgebildet sind, damit diese Formen den rechten beglückenden nationalen Geist schaffen, während Fauth den rechten Geist im Volke heranbilden will, damit dieser sich die Form schaffe. Fauth hat recht; denn »es ist der Geist, der sich den Köipcr baut.«

Es ist nicht zu verwundern, dafs der dritte Aufsatz über dieses Thema (II. Heft S. 94) hinter den beiden ersten zurücksteht, denn er bietet eine

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Arbeit aus dem Jahre 1846. Pfarrer Fay giebt nämlich in einem Vortrag, den er in der vorjährigen Versammlung evangelischer Religionslehrer der Rheinprovinz gehalten hat, eine »Darstellung der Anschauungen Land- fermanns über den Religionsunterricht an den höheren Lehranstalten«. Dieses Gutachten Landfermanns giebt das Bild eines gewifs vorzüglichen Religionsunterrichts, von dem noch viel zu lernen ist. Doch scheint mir die Bildung einer religiösen Weltanschauung noch nicht nachdrücklich ge- nug betont zu sein. Die Aufgaben des Religionslehrers an einer höhern Schule und des Gemeindeseelsorgers sind doch recht verschieden. Dieser hat vorzüglich zu zeigen, w ie das Leben der Menschen mit seinen freudigen und traurigen Schickungen über sich selbst hinausweist in eine Welt der Vollendung und Ewigkeit. Der Schüler kennt und empfindet das Leben noch viel zu wenig, dagegen werden ihm fort und fort Erkenntnisse und Ideen zugeführt, welche die grolsartige Gesetzmäfsigkeit, die Kausalität der Erscheinungen deutlich machen, so dafs für einen Gott kein Raum zu sein scheint. Hier gilt es, wie schon bemerkt, über die Kausalitätserkenntnis hinauszugehen zur teleologischen.

II.

Nächst diesen grundlegenden Arbeiten dürften am meisten die Ver- suche der Ausführung interessieren. Direktor Ritter bietet eine geschickte Lehrprobe über Johannes den Täufer (I. Heft, S. 30). Die Lektüre und Besprechung der bezüglichen Stellen findet ihren Abschlufs in einem Charakterbilde des Johannes, welches der Lehrer gemeinschaftlich mit den Schülern planvoll erarbeitet. Mit Recht wird verlangt, dafs im Religions- unterricht eine Reihe solcher Persönlichkeiten zur phantasievollen An- schauung und zur lebendigen Aneignung gebracht werden, woraus sich die weitere Forderung ergiebt, dafs die Eigenart besonders deutlich heraus- gestellt und durch Vergleichung bestimmt wird.

Der Vergleichung des Täufers mit Elias, welche das II. Heft S. 140 bringt, fehlt die planvolle Gliederung, welche nötig ist, damit der Schüler die Ähnlichkeiten finden, behalten und zusammenhängend darstellen kann. Der Verfasser M. kann in dieser Richtung von Mehlhorn lernen, der im II. Heft S. 114 eine kunstgerechte und wohlgegliederte >Lehrprobe über Mk. 11, 15 18« bietet.

Von demselben M. rührt her im II. Heft S. 142 der Aufsatz »Die Ver- suchung Jesu«, der auch den zweiten Titel .Vorbereitung' trägt: soll es die Vorbereitung des Lehrers bedeuten oder soll es die auf die Versuchungs- geschichte vorbereitende Stunde sein? Der wertlose Aufsatz versieht es unter anderem darin, dafs er die Begriffsbestimmung vorausnimmt, anstatt sie aus dem Vorgang abzuleiten.

Kösters Lehrprobe (I. Heft, S. 44t »Zur Einprägung des Kirchenjahres« ist ganz danach angethan, den Stoff anschaulich zu machen und durch An- schaulicheit zu interessieren. Was Dix und Schultze im II. Heft, S. 142 für denselben Gegenstand nachtragen, ist ziemlich wertlos.

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Einen ganzen Lehrplan für den Religionsunterricht in Sexta bis Quarta legt Zange vor im ersten Aufsatz des III. Heftes: >Wie ich auf der Unter- stufe, Sexta bis Quarta, den Katechismusunterricht mit dem Unterricht in der biblischen Geschichte verbinde.« Es ist ihm darum zu thun, dafs die Teile des Religionsunterrichtes: biblische Geschichte, Spruch, Lied und Katechismus untereinander in einen organischen Zusammenhang gebracht werden in der Weise, dafs die biblische Geschichte den Kern des Unter- richts und für den Schüler gleichsam das Ergebnis bildet, aus dem Er- kenntnisse in Form von Sprüchen, Empfindungen in Gestalt von Liedein, Lehren in Ausdrücken des Katechismus erwachsen. Nachdem Direktor Zange diese Gedanken bereits der ersten Versammlung der Religionslehrer der Provinz Sachsen vorgelegt hatte im Jahre i88<\ waren sie im Jahre 18S8 auf der Direktorenkonferenz der Provinz Pommern gelegentlich der Verhandlungen über den Katechismusunterricht Gegenstand lebhafter Auseinandersetzungen gewesen und zumeist unfreundlich abgewiesen worden. Gegen die Vorwürfe, die in dieser Konferenz laut wurden, ver- teidigt sich Zange und bietet zum Schlufs eine Schilderung seines Ver- fahrens in Sexta, wo er Geschichten des Alten Testamentes, das erste Hauptstück, ausgewählte Sprüche und Lieder in jener angedeuteten Weise organisch verbindet. Die Berechtigung von Zanges Verfahren kann nicht bezweifelt werden, und er hat Grund zu der Anschuldigung, dafs er von den Gegnern nicht verstanden sei. Diese scheint es am meisten befremdet zu haben, dafs Zange auch die Gebote und Artikel stückweise je nach dem zufälligen Inhalt der Geschichten bietet, um erst später diese Stücke zu- sammenzusetzen und systematisch festzulegen. Aber Zanges LehrpLn be- weist ja, dafs er kein Verfahren wünscht, was dem Prinzip der Induktion sklavisch gehorcht, sondern Freiheit und Beweglichkeit bewahrt.

III.

Besonders schwierig ist es im Religionsunterricht gewisse religiöse Ideen z. B. die der Inspiration der Jugend so mitzuteilen, dafs sie nicht ergebungsvoll und doch zweifelnd hingenommen, sondern auch wirklich gewürdigt und empfunden werden. Frühere Zeitalter haben sie in dog- matische Formeln gefafst, welche um ihres harten und scharfkantigen Aus- drucks willen ein junges Gemüt eher zum Widerspruch reizen als gewinnen. Es gilt den Geist der Lehren zu entbinden, dafs er verständlich zu den Geistern spricht. Auch für diese eigenartige und feine Arbeit des Religions- lehrers erteilt die Zeitschrift manchen Rat. Prof. Spitta in Strafsburg i. E. lenkt die Aufmerksamkeit in dem kurzen Wort »Zum Unterricht über die heilige Schrift« (I. Heft S. 28) auf die wichtige Frage: wie können wir bei den Schülern die rechte Auffassung für den eigenartigen Wert der Bibel erzielen, deren Schriften Menschenwerke und doch von einem besondern göttlichen Geiste erfüllt sind? Wie ist der rechte Mittelweg zwischen Inspirationslehre und Bibelkritik zu finden? Er empfiehlt die göttliche Heilsoffenbarung in Christo als den Inhalt der Schrift gleichsam voraus- zusetzen, und es begreiflich zu machen, dafs für diesen Inhalt jede Form,

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die von Menschen und für Menschen ist, unzulänglich und darum der Kritik unterworfen sein mufs. Sollte aber für unsere höheren Schulen, besonders für die obersten Stufen, der umgekehrte Weg nicht minder er- folgreich sein, dafs man an ein Bibelbuch theoretisch gesprochen voraussetzungslos herangeht wie an einen Dialog des Piaton oder an eine Tragödie des Sophokles. Hier wie dort sucht man die erhabenen Gedanken bewundernd zu verstehen und hegt das Zutrauen, dafs Christi, Pauli und der übrigen Apostel Gedanken, mit dem rechten Geist gedeutet, siegreich aus der übrigen Gedankenwelt sich erheben! Also auf höheren Stufen nicht so regelmäfsig von der Offenbarung zur Kritik herabsteigen, nicht die Wertbestimmung aufstellen, um sie nacher zn beschränken, sondern die Geister prüfen, den Ewigkeitsgehalt erkennen und behalten.

Einen recht gesunden Gedanken spricht Conz aus in seinem Aufsatz über »Die Heidenwelt und die biblische Offenbarung«. (II. Heft S. 119t Er verlangt, dafs im Religionsunterricht nicht ein feindlicher Gegensatz zwischen der Offenbarungs-Religion und den heidnischen Religionen ge- schaffen werde, sondern vielmehr alle Religionen der Menschheit erkannt werden als Strebungen nach Gotteserkenntnis, unter denen sich dann Christi Gotteserkenntnis desto sicherer als die erste erweisen wird. Gewifs kann das Christentum nicht besser zum Verständnis und zur Empfindung gebracht werden, als wenn bei der Lektüre Piatos, des Herodot, des Sophokles, des Horaz gezeigt wird, wie nahe olt die Ideen heidnischer Geister an die israelitischen und christlichen Lehren heranreichen, ohne doch ie Christi Worte zu erreichen, geschweige Christi Leben, wie ehr- furchtgebietend doch auch dieses Ringen heidnischer Geister ist. Bei diesem Verfahren, was die jungen Christen recht oft aus der Tiefe zur Höhe des Christentums hinautblicken läfst, dürfte viel Apologetik gespart werden können. Spitta hätte sich auch geradezu auf Paulus Rom. 1, 19 berufen können, wenn er den Heiden auch Offenbarung zuerkennt, und man braucht wirklich nicht zu fürchten, dafs bei solchem Verhalten die unvergleichliche Stellung des semitischen Volkes Israel oder gar die Hoheit Christi leidet.

Geistvoll spricht Brückner im 1. Heft S. 36 »Über Deut. 18,15. 18«. über Offenbarung und Prophetentum. »Es giebt«, so meint er, »thatsäch- lich göttliche Offenbarung nur in dem Geistesleben hervorragender Persön- lichkeiten, durch welche Gott seinen Willen kund thut.« Wir fügen hinzu, dafs sich dieser Oftenbarungsbegriff durch die Vergleichung mit dem gott- begnadeten Genie dem Schüler noch deutlicher machen läfst als durch die von Riehm auf die Bahn gebrachten Analogieen der lebendigen Glaubens- überzeugung und der Vergewisserung über die Gebetserhörung. Was Brückner sonst über Deut. 18, 15. 18 sagt, dafs die Stelle eine messianische Deutung nicht verträgt, wird im IL Heft S. 137 von Hoppe angefochten, im III. Heft S. 232 von Trumpert bestätigt, beidemal ohne greifbares Ergebnis.

Jacobson hält es in seinem Aufsatz über >den Religionsunterricht und die neutestamentliche Kritik* (II. Heft, S. 134) für nötig, dafs die neu-

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testamentliche Kritik den Unterricht beeinflufst, und er erläutert sein eigenes Verfahren durch Beispiele. Schwerlich wird jemand die Berechtigung seines Verfahrens bezweifeln und um den Erfolg eines wissenschaftlich ange- hauchten Unterrichts bangen, wenn durch das kritische Verfahren dem Lehrer die künstlerische Gestaltung des Stoffes nicht gestört wird und das kritische Gestrüpp nicht so lästig wird, dafs es zu einem ausgestalteten Bilde Christi und Pauli etwa gar nicht kommt. Überhaupt ist gar nicht einzusehen, warum in dieser Frage es sich immer nur um Angriff und Ver- teidigung handeln soll, warum nicht lieber überhaupt von der Schwierigkeit einer kritischen Überlieferung aus den Kreisen der tieferregten Apostel ausgehen und mit Bewunderung und Dank das hinnehmen, was uns trotz alledem so reichlich geboten wird.

IV.

Aufser jenen Beispielen und Grundsätzen erteilt die Zeitschrift noch manchen praktischen Wink in Kragen, die jeden Religionslehrer beschäftigen. Der bairische kirchenregimentliche Erlafs über den Religionsunterricht an höheren Schulen im I. Heft S. jS verdiente darum mitgeteilt zu werden, weil er nicht allgemeine Mahnungen bietet, sondern mehrere wahrhaft praktische Ratschläge über die Verwertung des neutestamentlichen Urtextes in den oberen Gymnasialklassen, über die biographische Methode im kirchen- geschichtlichen Unterricht und über das Verhältnis der Schule zum Gemeindegottesdienst. Der erste Punkt, die Lektüre des N. T. in der Ur- sprache, wird in der Zeitschrift noch einigemal berührt und ganz verschieden beurteilt. Diese Frage hat ihre Erledigung noch nicht gefunden. Der letzte Punkt dagegen, das Verhältnis der Schüler zum Gemeindegottesdienst wird in ansprechender Weise behandelt von Eichhoff III. Heft S. 224 : »Die seelsorgerische Wirksamkeit des Religionslehrers an den Schülern.« Er verwirft den Grundsatz, »den Schüler zum Besuch jedes Gemeindegottes- dienstes durch einen starken moralischen Druck anzuhalten. Es ist eine heilige Pflicht des Religionslehrers, den jugendlichen Herzen die Liebe zur Kirche einzupflanzen und den Segen christlicher Gemeinschaft vorzuhalten und auf diese Weise indirekt zum fleifsigen Besuch des Gotteshauses zu mahnen.« Wir glauben jedoch, dafs mit Vorhaltungen und Mahnungen sich hierin wenig erreichen läfst, in dieser Sache mufs viel tiefgründiger ge- arbeitet werden. Es gilt in den Religionsstunden den Blick oft hinüber- zulenken nach der Kirche und blofs nach dem Gotteshaus, auch auf die Einrichtungen, die Sitte der Kirche, nicht der Gemeinde, auf die Kunst im Kirchenbau und in den Geräten: diese sinnenfälligen Formen erwecken um ihrer Geschichte willen Ehrfurcht, und es ist für den Schüler viel gewonnen, wenn ihm jene Einrichtungen interessant und bedeutend werden. Darum sollte man nicht blofs die wichtigsten Perioden und Männer der Kirchen- geschichte lehren, sondern auch mit jeder Generation einmal die Kirche der Gemeinde studieren. Wie interessant vermag eine durch Kunst, Kultur- und Kirchengeschichte getragene Belehrung dem Schüler den Altar, den Chor, die Orgel, die Glocken, den Turm, ja selbst die Kirchenfenster zu

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machen! Die Mitteilung, dafs in jener Periode der Kirchengeschichte der Rundbogenstil, zu späterer Zeit der Spitzbogenstil im Schwang war, leistet herzlich wenig. Eben horchen die Schüler auf und es tritt das Bild einer Kirche vor ihre Seele, da ist auch die Sache schon erledigt. Hier gilt es nun nicht etwa mehr derartige interessante Notizen zu bieten, sondern es gilt, aus dem reichen kunst- und kulturgeschichtlichen Stoffe des ganzen Vaterlandes und besonders auch der Heimat mit sicherer Hand dasjenige zu wählen, was das Angeschaute verstehen hilft. Wenn wir Protestanten auch die Idee mehr lieben als ihren immer unvollkommenen Ausdruck, um der Jugend willen müssen wir die sinnenfällige Form nicht verachten. Hat doch Luther ausgesprochen, dafs eigentlich unter den rechten Gläubigen Gottesdienst gar nicht nötig sei, nur um der heranwachsenden Jugend willen mufs er bestehen.

Übrigens ist das Bedürfnis, das Studium der Vergangenheit doch nun auch wirklich der Gegenwart zu Gute kommen zu lassen, mehrfach von Mitarbeitern der Ztschr. gefühlt worden, so von Noak, der im II. Heft S. 123 »Bemerkungen und Vorschläge zur Behandlung der Kirchengeschichte auf höheren Schulen« nachdrücklich auffordert, die Kirchengeschichte stets in Beziehung zu setzen zu den kirchlichen Erscheinungen und Einrichtungen der Gegenwart, damit der junge Mann aus der Schule als ein mündiges Glied in die Gemeinde eintritt.

Hiermit berührt sich der Rat, den Oberlehrer Boesche in der Berliner theologischen Gesellschaft am 21. Mai 1889 in 12 Thesen »über den Reli- gionsunterricht der höheren Lehranstalten in seinem Verhältnis zum Kon- firmandenunterrichtc erteilt hat. I. Heft, S. 61 ff.: der Konfirmandenunter- richt soll nicht versäumen, nach Art des alten Katechemenats auch in das kirchliche Gemeinschaftsleben einzuführen, indem er über Kultus, Verfassung, das sittlich-soziale Leben, äufsere und innere Mission, Gustav-Adolf-Verein u. a. belehrt. Dieser Rat Boesches verdient Beachtung. Zwar möchten wir dem Gymnasium das Recht, für solche Bethätigung des evangelischen Christentums Interesse zu wecken, durchaus unverkürzt erhalten sehen, indessen ist es doch auch für die Kirche im allgemeinen eine Lebensfrage, dafs die Katechumenen nicht ohne Kenntnis und Verständnis des Gemeinde- lebens hinziehen. Warum nur die Lehren und Ideen besprechen, ohne auch liebevoll die Einrichtungen und Versuche zu betrachten, in denen die Ideen Gestalt angenommen haben?

V.

Ganz nahe kommt die Schule der kirchlichen Aufgabe bei ihren An- dachten und Schulfeiern. Auch hierfür bietet die Zeitschrift gute und lehrreiche Exempel. Im ersten Heft S. 19 klingt zu uns herüber ein weihevoller Klang aus dem Schulleben der Franckischen Stiftungen. Der frühere geistliche Inspektor derselben, Palmid, bietet vier liturgische Schulandachten dar, welche zur Feier der Geburts- und Todestage der beiden hochseligen Kaiser gehalten worden sind. Es ist sehr richtig, dafs

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für diese Andachten die liturgische Form gewählt ist, weil durch die Mannigfaltigkeit derselben und die aktive Teilnahme der .Schulgemeinde das Interesse der Schüler für die Feier lebendiger wird als durch eine Form, bei welcher die Schüler nur zuhören. Auch die beiden kurzen An- sprachen zum Gedächtnis der beiden Kaiser wird jeder gern lesen und besonders der ersten das Lob einer formvollendeten Leistung zollen. Nicht ohne Wert für die Praxis des Lehrers ist auch die Schulandacht, welche Oberlehrer Uhlig in Leipzig im II. Heft, S. i, mitteilt. Endlich aber hat es die Zeitschrift zu ihrer Gewohnheit gemacht, auch der Ge- meinde der Religionslehrer selbst mit jedem Heft eine würdige und er- hebende Andacht zu bieten. So finden wir im I. Hctt S. i ein warm empfundenes Vorwort des Generalsuperintendenten der Prov. Westfalen, Dr. Nebe, wodurch er ausgehend von der schwierigen Aufgabe des Reli- gionsunterrichts dem Lehrer diese Zeitschrift als Freund und Helfer zu- führt. Im II. Hefte S. i wird eine »Rede« geboten, >gehalten zu Michaelis 1887 bei Einführung neuer Mitglieder in den Kandidatenkonvikt am Kloster U. L. Fr. zu Magdeburg« von Prof. Bornemann. Er wendet auf die Thä- tigkeit des Religionslehrers sehr hübsch an das Wort Christi vom Schrift- gelehrten, der gleich einem Hausvater aus seinem Schatze Neues und Altes hervorträgt.

Nur mit einer der beigesteuerten Arbeiten vermag ich gar nichts an- zufangen; das ist der Aufsatz von Rinn >Stimmcn der bedeutenderen Dichter Deutschlands im 12., 13., 14. Jahrhundert über das Christentum«, ein Aufsatz, der sich schon durch zwei Hefte zieht und auch noch weiter fortgesetzt zu werden droht. Es ist gar nicht einzusehen, wem diese un- geordnete Sammlung dienen soll. Wollte der Verfasser charakterische Urteile deutscher Dichter und Denker sammeln über Christentum und Kirche im Mittelalter, so wäre ja diese Absicht durchaus zu billigen, weil solche Sammlung belehren kann. Aber dann gälte es, wahrhaft be- deutende Zeugnisse einsichtig auszuwählen und planvoll zu verwerten. Wem sollen die ausgeschütteten Schnitzel eines Zettelkastens nützen ? Über- dies ergab sich mir die Ungenauigkeit auch dieser Citate, ohne dafs ich verglichen habe: so führt Rinn aus Hartmanns Erec einen Ausspruch über die Ehe an, den ich mir einstens in meinem Gregorius angestrichen habe.

Überblicken wir den reichen Inhalt der drei ersten Hefte und legen an das Ganze jenen Mafsstab, den wir zu Anfang bestimmten, so müssen wir dankbar anerkennen, dafs die Hauptsprecher der Zeitschrift sich der hohen und eigenartigen Aufgabe ihres Unterrichts bewufst sind, dafs die einzelnen Arbeiten manches zur Erfüllung dieser Aufgabe beitragen und dafs die Zeitschrift die Berechtigung ihres Daseins erwiesen hat Deshalb darf sie sich der besten Wünsche aller beteiligten Kreise versichert halten.

Jena. Dr. Rausch.

(Die Besprechung des 4. Heftes und der beiden Hefte vom IL Jahrg. soll später erfolgen.)

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6. Die III. Hauptversammlung des allgemeinen deutschen

Sprachvereins

gab zu München am 28. Mai aus Anlafs ihrer Verhandlungen über die Frage: »Was erwarten wir von der Schule im Sinne unserer Bestrebungen?« folgende Erklärung mit voller Einhelligkeit ab.

1. Die deutsche Jugend soll durch Lehre und Vorbild angeleitet werden, entbehrliche Fremdwörter zu vermeiden. Sie soll es als ein Unrecht gegen die Muttersprache empfinden, fremdsprachlichen Aus- drücken den Vorzug vor deutschen Wörtern zu geben ; sie soll durch Ver- meidung der Fremdwörter dahin geführt werden, den Reichtum der Muttersprache zu erkennen und den eigenen Wortvorrat zu erweitern ; sie soll durch die Forderung, gut deutsch zu reden, genötigt werden, gut deutsch zu denken. So wird die Bekämpfung der entbehrlichen Fremd- wörter ein bedeutsames Förderungsmittel geistiger Bildung und nationaler Erziehung.

2. Die deutsche Sprache soll der Mittelpunkt des gesamten Unterrichts sein. In allen Lehrfächern sollen Lehrende und Lernende sich bemühen, gut deutsch zu sprechen und zu schreiben. Namentlich bei Übersetzungen aus fremden Sprachen halte man streng auf echt deutschen Ausdruck und suche die Eigenart des Deutschen durch den Gegensatz der fremden Sprache klar zu machen.

2. Besonderes Gewicht ist auf den mündlichen Gebrauch der deutschen Sprache zu legen. Schönes ausdrucksvolles Lesen soll auch an fremden Sprachen geübt werden. Gelegenheit zu freiem Gebrauche der Muttersprache, zu zusammenhängendem Sprechen werde womöglich in allen Fächern geboten. Man gewöhne die Schüler auch an eine gute Aus- sprache, die sich im ganzen möglichst an die Sprache der Bühne an- schliefscn soll, ohne durch das Streben nach Vermeidung aller mundart- lichen Anklänge ins Gezierte zu verfallen.

4- Der Unterricht in der deutschen Sprachlehre soll die Schüler dazu anleiten, das Deutsche nicht als'Jeine tote Büchersprache, sondern als eine geschichtlich gewordene, stetig sich fortentwickelnde, lebendige Sprache anzusehen. Darum soll der Unterricht mehr als bisher an die heimischen Mundarten anknüpfen und zur Erläuterung der jetzigen Sprache auf die älteren Sprachformen zurückgreifen. Die Sprache des Nibelungen- liedes und Walthers von der Vogclweide soll keinem Schüler einer höheren Lehranstalt unbekannt bleiben.

5. In den Aufsatzübungen sehe man besonders auf Klarheit, Einfachheit, Volkstümlichkeit ; leere Redensarten sind nicht zu dulden. Bei Fragen der Sprachrichtigkeit vermeide man ebenso engherzige Kleinlichkeit wie regellose Ungcbundenheit.

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6. Der Unterricht in der deutschen Sprache soll den Schülern ein lebendiges , sicheres Sprachgefühl entwickeln , das Sprachgewissen schärfen und durch die Erkenntnis, dafs die Muttersprache eines der köst- lichsten Güter unseres Volkes ist, die Begeisterung für deutsches Volkstum und Vaterland wecken und stärken.

7. Finanzminister Miquel über die Schulfrage.

Der Vorstand des Preuis. Landeslehrervereins hatte im Jahre 1875 mehreren Abgeordneten seine Wünsche zu dem damals erwarteten Schul- gesetze vorgetragen Ein Mitglied des Vorstandes wandte sich nun an Herrn Miquel, und dieser antwortete in einem längeren Schreiben. Er erklärte, eine Agitation, welche dahin ziele, dafs Dotation und Verwaltung der Schulen ausschliefslich dem Staate zugewiesen würden, für durchaus unpraktisch und selbst gefährlich. Mit dem Ausdrucke des Landrechtes, dafs die Schule eine staatliche Anstalt sei, sollte nach Ansicht Miquels nur die weltliche Natur der Schule im Gegensatze zur kirchlichen aus- gedrückt werden. Selbst wenn es nach vielen langen und schweren Kämpfen gelänge, die historische Entwickelung, welche die Schule der politischen Gemeinde zuweise, umzuwerfen und der Staat andere Organe für die unmittelbare Schulverwaltung fände, so wäre sehr zu bezweifeln, ob damit dem Interesse der Schule in materieller und ideeller Beziehung gedient wäre. Jedenfalls wäre so viel gewifs, dafs die Gleichmacherei und der blofse Mechanismus an die Stelle der jetzigen wohlberechtigten Man- nigfaltigkeit treten würden. Auch würde die Möglichkeit jedes Schutzes gegen verkehrte Mafsregeln der Minister dahin sein. Miquels Ansicht nach müfste das Schulwesen etwa auf folgenden allgemeinen Grundsätzen auf- gebaut werden: »1) Die Schul- und Lehrerdotation ist grundsätzlich Sache der Gemeinde. Die Schulgemeinde ist möglichst grofs zu bilden. Wo nicht, wie in den alten Provinzen, am Rhein die Bürgermeistereien, in Westfalen die Ämter, in Hannover die Stadtgemeinden oder hinreichend starke Einzelgemeinden bestehen, mufs man durch Zusammenlegung helfen. 2) Für die unter gleichartigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden Ge- genden (Provinzen, Regierungsbezirke, Kreise u. s. w.), also nicht gleich in der ganzen Monarchie müssen in gesetzlich geordneter Weise Minimalsätze für die verschiedenen Lehrerstellen nach Beschaffenheit der Schule und der Stelle bestehen. 3) Kann eine Gemeinde das gesetzliche Erfordernis nicht erfüllen, so tritt subsidiarisch der Kreis ein. 4) Für die Ordnung des Pensionswesens, der Wittwen- und Emeriten-Dotationen, sowie für die Alterszulagen hat entweder der Staat oder, was ich vorziehen würde, die Provinz einzutreten. 5) Der Staat beaufsichtigt das Pensionswesen und leitet die inneren Angelegenheiten durch das Zentralorgan, Kultusministerium,

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durch das provinzielle Organ, Oberschulkollegium, durch das Lokalorgan, Kreisschulinspektor. Letzterer müfste in Schulsachen Sitz und Stimme im Kreisausschufs haben. Die unmittelbare Lokalverwaltung, namentlich der äufseren Angelegenheiten steht innerhalb der gesetzlichen Schranken den Gemeindeorganen zu. Bildung besonderer Schulausschfisse, an welchen der Ortsgeistliche und der Lehrer teilnehmen, ist nicht ausgeschlossen.«

8. Die Volksschule in Frankreich und Deutschland.

Wir fühlen uns in Deutschland selten veranlafst, in Angelegenheiten der Volksschule Uber die Grenzen des Landes hinauszublicken ; wir denken mit Stolz daran, dafs unsere Volksschulen und ganz besonders die von Berlin als Musteranstalten in allen Teilen der Welt anerkannt werden. Um so bemerkenswerter ist es, was Dr. Max Weigert in einem Hefte der bekannten »Volkswirtschaftlichen Zeitfragen« (Berlin, Leonhard Simion) mitteilt; das Thema ist im Titel gegeben: die Volksschule und der ge- werbliche Unterricht mit besonderer Berücksichtignng des Schulwesens von Paris. Weigert, welcher auf volkswirtschaftlichem Gebiete rühmlichst bekannt und als Stadtrat von Berlin durchaus in der Lage ist, die heimi- schen Verhältnisse zu übersehen, kommt zu dem überraschenden Ergeb- nisse, dafs Paris, welches den Volksunterricht eigentlich erst seit zehn Jahren ernstlich übernommen hat, in wichtigen Punkten bereits Berlin überflügelt hat, der soziale Zug, welcher sich auch bei uns in dem Schul- zwang und in der Unentgeltlichkeit des Unterrichts ausspricht, hat sich dort nach oben und unten hin weit stärker entfaltet. Vom dritten Lebensjahre an kann der Pariser sein Kind dem öffentlichen unentgeltlichen Unterricht übergeben. Die Kindergärten, welche bei uns überwiegend Wohlthätigkeits- anstalten sind, beginnen dort als dcoles maternelles den staatlichen Unter- richt ; in denselben wird nicht vorwiegend gespielt , sondern es wird in zweckmässiger Weise der künftige Unterricht vorbereitet. Die eigentliche Volksschule umfafst die Knaben und Mädchen vom 6.— 13. (bei uns meistens bis 14.) Jahre.

Die Schule sorgt in Paris in umfassendster Weise Tür geistige und auch körperliche Erziehung ; ein ganzer Stab von Sanitätsbeamten hat die Bau- lichkeiten und die einzelnen Schüler zu überwachen. In der Schule selbst wird eine Mahlzeit eingenommen, welche sich die Kinder entweder mit- bringen oder gegen Speisemarken in der möglichst gut und billig herge- richteten Schulküche entnehmen können. Diese Speisemarken werden aufserhalb der Schule von den Eltern, je nach ihren Verhältnissen, ganz, teilweise oder gar nicht bezahlt ; in der Schule selbst sind alle Kinder völlig gleich. Ich möchte hier aus eigener Beobachtung einschalten, dafs auch in der Kleidung und zwar lange vor den Zeiten der jetzigen Re-

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publik dieses Prinzip der Igalitc* sich geltend macht. Weitaus die meisten der Kinder der Volksschulen tragen gleichmäfsig schwane Blousen, die Kinder in den höheren Schulen, ganz abgesehen von den streng uni- formirten Lyceen, nach Verabredung schwarze oder graue Kleidung von gleichmäfsigem Schnitt. Eine Ncuschöplung der Republik ist dagegen die völlige Trennung der Schule von der Kirche, welche um so schwerwiegen- der ist, als früher die Schule in Frankreich von der Kirche nicht blofs stark beeinflufst, sondern in weiten Schichten völlig beherrscht wurde. Zur Zeit ist der Religionsunterricht aus der Schule gänzlich ausgeschlossen ; für Erteilung desselben nach Mafsgabe der Konfession und des Beliebens der Eltern ist ein bestimmter Wochentag der Donnerstag, vom Schul- unterricht freigelassen. Der Verpflichtung zu sittlicher Erziehung glaubt die Schule durch eine Art von Morallehre nachkommen zu können, in welcher die Pflichten gegen Staat und Familie, gegen Menschen und Tiere nach allgemeinen Grundsätzen der Sittlichkeit vorgetragen werden. Diesem Teil des Unterrichts, über dessen mnralische Schwerkraft die Ansichten jedenfalls sehr weit auseinandergehen werden, schliefsen sich gewisse praktische Teile an, ungefähr das, was auch in der Berliner Stadtverord- netenversammlung als national-ökonomischer und staatsrechtlicher Unter- richt für die Volksschule gefordert, aber als zu unklar abgelehnt wurde. In dem von Weigert ausführlich mitgeteilten Programm erscheint dieser Unterricht aber keineswegs unausführbar. Es handelt sich um ganz greif- bare Dinge: die allgemeine Kenntnis der Verwaltung des Landes; der Bürger, seine Pflichten und Rechte; Schulpflicht, Militärpflicht, die Steuern das Stimmrecht, die Gemeinde, der Kreis, das Heer, der Staat, die Rechts- pflege, mit ihren Organen. Die elementaren Kenntnisse des praktischen Rechts, das Eigentum, die Erbfolge, die gebräuchlichsten Verträge, Kauf, Miete usw. Die einfachsten Begriffe der Volkswirtschaft: der Mensch und seine Bedürfnisse, die Gesellschaft, die Rohstoffe, das Kapital, die Arbeit, das Sparen, die Versicherungen, Genossenschaften usw.

Der Verfasser schliefst diesem hier nur auszugsweise mitgeteilten Programm mit vollem Rechte die Frage an: >Hat einer unserer Elementar- schüler nur einen Begriff von diesen Dingen?« Ob es möglich ist, gewisse heikle Teile dieser Materie mit der für die Schule unerläfslichen Objek- tivität vorzutragen, oder ob man nicht bei uns verschiedenes abstofsen müfste, mag dahingestellt sein; jedenfalls bleibt in diesem Programm ein tüchtiger Rest von Gegenständen, welchen zu wissen nicht nur dem Ele- mentarschüler, sondern auch dem in diesen Dingen genau ebenso unwis- senden Gymnasiasten überaus nützlich wäre. Es ist geradezu erstaunlich, mit welcher kindischen Unkenntnis aller modernen Staatsverhältnisse ein Sekundaner, welcher konfirmiert und mit dem Berechtigungsschein für den Freiwilligendienst von der Schule entlassen wird, oft in das praktische Leben eintritt.*)

•) Wir betitseil vortreffliche Hülfs mittel in den Schriften von Dörpfeld, die Gesellschaft» künde, eine notwendige Ergänzung des Geschichtsunterrichts. Gütersloh 1890 und Repetitonu» d„r Gesellschaftskunde. 3. AuHage. Ebendaselbst.

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Ebenso lehrreich wie diese Hinweise sind in der Schrift von Weigert die Angaben über den Handwerksunterricht der Pariser Schulen. Dafs unsere moderne Industrie mit ihrer bis in das Kleinste zersplitterten Ar- beitsteilung und ihren Werkzeugmaschinen nicht mehr im stände ist, ihre Lehrlinge wie vordem in der Werkstatt heranzubilden, ist eine Wahr- nehmung, über deren Richtigkeit man nicht mehr zu streiten braucht. An den Staat und die einzelnen Fachkreise tritt die überaus schwierige For- derung heran, jene alte selbstthätige Überlieferung des Handwerks durch einen organisierten Unterricht zu ersetzen, um dem Gewerbe hinreichend vorgebildete Kräfte zuzuführen. Hier setzt zunächst in der französischen Elementarschule der sehr ausgebildete Zeichenunterricht, ferner der all- gemeine Handfertigkeitsunterricht ein, weiter hinauf Fachschulen und Fortbildungsklassen, welche in Paris in kürzester Zeit einen mächtigen Aufschwung genommen haben und den Unterricht, wie in den Volksschulen unentgeltlich erteilen, ja sogar noch mit Zuschüssen aus allerlei Hilfskassen an unbemittelte Schüler.

Alle diese Veranstaltungen sind, wie Weigert mit berechtigtem Nach- druck hervorhebt, erst während des letzten Jahrzehntes getroffen, als man in Frankreich gewahr wurde, dafs der gewerbliche Aufschwung der Nach- barn, vornehmlich Deutschlands, die Alleinherrschaft Frankreichs in den feinen und wirtschaftlich besonders lohnenden Teilen der Gewerbe, vor- nehmlich im Kunstgewerbe, ernsthaft bedrohte. Diese mächtige Ausbildung des Volksunterrichts, besonders in Paris, ist daher ein bestimmter Abschnitt in dem friedlichen aber sehr ernsthaften Kampfe, den die grofsen Kultur- völker um die Herrschaft auf dem Weltmarkt führen. Weigert bezeichnet in seiner Schrift genau die Stellen, wo dieser Wettkampf im Unterrichts- wesen mafsgebend einsetzt und kommt zu dem sehr ernsthaft zu nehmenden Ergebnis, dafs wir auf dem Gebiete der Volksschule in wichtigen Punkten Frankreich gegenüber nicht mehr Lehrende, sondern Lernende sein müssen. Es wird diese in engem Rahmen sehr inhaltsreiche und übersichtliche Schrift nicht nur den nächstbeteiligten, sondern auch weiteren Kreisen wichtige Anregung und Belehrung bieten.

(»Nat. Z.« ii. Juni 90.)

9. Professor Dr. Gustav Teichmüller, Pädagogisches.

(Dorpat, Mattiesen 1881.)

So anregend und überzeugend nach verschiedenen Seiten hin die Darlegungen des Verf. wirken können, so sind sie doch hinsichtlich des Hauptpunktes anfechtbar. Derselbe betrifft die Aufstellung des Zieles für die Gymnasialbildung (S. 10 f.). Ganz im Sinne der herrschenden Ansichten

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wird das Ziel in der Herbeiführung einer formalen Bildung gesehen, d. h. in der Gewinnung einer allgemeinen oder formalen Kraft, wodurch wir in Zukunft jedes beliebige Fach leicht ergreifen und nach kurzer Ein- gewöhnung es wissenschaftlich in Besitz nehmen können, da das Wissen schaftliche in jeder Wissenschaft nichts anderes als gerade diese formale Bildung ist.

Demgegenüber betont die neuere psychologische Forschung: i) Die Möglichkeit einer rein formalen Bildung der geistigen Kräfte, einer Verstärkung und Veränderung der Kräfte an sich, infolge deren die ausgebildete Kraft jedem Objekte gegenüber die gleiche Stärke zeigen müfste, mufs bestritten werden, weil die Voraussetzung dafür, die Existenz bestimmter realer Vermögen der Seele, fehlt.

i) Die geistigen Kräfte sind die Vorstellungen selbst und die Produkte der Wechselwirkung derselben, darum aber von dem Boden, auf dem sie wachsen, nicht zu trennen.

3) Die in einem Kreise ausgebildeten Geisteskräfte geben dem Geistes- leben nach den verschiedenen Seiten seiner Erweisungen ein bestimmtes formales Gepräge, welches auch auf die Auffassung, die Durchdringung und die Verwertung anderer Gedankenkreise einen Einrlufs auszuüben vermag. Dieser Einflufs reicht aber nur so weit, als zwischen den Gedankenkreisen eine Verwandtschaft besteht, und wird durch das klare Bewufstsein dieser Beziehung erhöht.

4) Das Obergewicht der an dem Inhalt des Seelenlebens sich bildenden Kräfte , also des Gedächtnisses oder der Phantasie oder des Verstandes oder des Gefühls oder des Willens und die bestimmte Art ihrer Erweisungen hängen sowohl von der rein formal zu denkenden ursprünglichen Bestimmt- heit der Seele, deren Verschiedenheit auf den höheren oder geringeren Grad der Stärke und des Rythmus des elementaren geistigen Geschehens zurückgeführt werden mufs, als auch von der Natur der Bildungseinflüsse ab.

5) Die höchste Aufgabe der formalen Geistesbildung ist die Erzeugung eines reichen, starken und einheitlichen Willens, der die Vorherrschaft in der Seele besitzt und die übrigen Geisteskräfte möglichst beeinflufst. Je mehr dieser Wille den Gesetzen der Ethik entspricht|, um so höherer Wert kommt den Formen des Geisteslebens' zu.« •)

Das Ziel, welches nur in der Erreichung einer formalen Geistes- bildung gesehen wird, genügt nicht, da ja letztere ebenso gut dem Schlechten, wie dem Guten dienen kann. Die Schulerziehung kann kein anderes Ziel sich setzen als die häusliche, nämlich die Grundlage zur Bildung eines religiös-sittlichen Charakters möglichst fest und dauernd in die jugendlichen Seelen zu legen, damit sie später als thätige Mitglieder an der Ethisierung der menschlichen Gesellschaft wirksamen Anteil nehmen

*) Diese Sitte bilden das Ergebnis einer einsehenden Untersuchung, welche K. Acker- ni nn in Eilensen in der Schrift »Die formale Bildung. Eine psychologisch pädagogische Be- trachtung. Langensalza, Beyer u. S. 1889« angestellt hat. VergL auch Prof. Scbmeding, Zur Frage der formalen Bildung, a. Aufl. Duisburg 1863.

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können. Diesem Ziel ordnen sich alle Mafsnahmen des Erziehers ein, vor allem auch die unterrichtlichen. Von diesem obersten Gesichtspunkt aus trifft er die Auswahl der Bildungselemente, ihre Anordnung und ihre Be- arbeitung. Sehr schön und durchaus im Sinne der neueren Didaktik spricht sich Prof. Teichmüller inbezug auf das Letztere dahin aus, dafs das Lernen weder zu einer Zwangsarbeit werden dürfe, unter welcher beide Teile stöhnen, noch zu einem Spiel, bei welchem kindische Laune gebietet. »Das Lernen ist eine edle Arbeit, die nur in Mufse und mit Freiheit des Geistes vollzogen werden kann.« (S. 29.) Vortreflliche Äufserungen finden wir auch hinsichtlich einzelner Unterrichtsgegenstände, so ist namentlich Aufgabe und Stellung des Geschichtsunterrichts im Dienste der Erziehung gut gekennzeichnet.

10. Fragen der Schule Fragen der Zeit.

Von Professor Dr. R. Eucken.*)

Unter den unzähligen Schriften und Aufsätzen zur Schulreform nehmen die Aufsätze des Herrn Hofrat Eucken- Jena das Interesse in besonderem Mafse in Anspruch, insofern sie von einem hohen philosophischen Standpunkt aus, im Bewufstsein von der einschneidenden Bedeutung der Erziehungsfragen für die Entwicklung unseres Volkes und durchdrungen von innerer Wärme in überzeugender Weise Gedanken vortragen, welche gegenwärtig viele bewegen, zu denen sich nicht wenige mit Freuden be- kennen werden.

Wir heben besonders hervor die Darlegungen über die Beseitigung des Maturitätsexamens im Zusammenhang mit dem nivellierenden und mechanisierenden Einflufs des Bureaukratismus, über den Mangel an Be- sinnung auf das Reinmenschliche bei gesteigerter Gewinnung spezialistischen Wissens, ferner die überzeugenden und eindrucksvollen Auseinander- setzungen über die Notwendigkeit der klassischen Studien. Die Aufgaben, welche die Gegenwart an das höhere Unterrichtswesen stellt, seien schwere und grofse. Und dies erinnere daran, wie nötig tüchtige und thatfreudige Persönlichkeiten seien zur Ausführung. Offenbar besitze Deutschland einen vortrefflichen Lehrerstand. Um ihn zu erhalten, müsse die äulsere Lage und Richtung desselben als eine nicht angemessene aufgebessert werden. Dadurch werde die Gefahr beseitigt, dafs die durchschnittliche Qualität sinke. In keinem Fall aber dürfe man den ungeheueren Erschütterungen der Zeit auch noch einen Bruch mit der ältesten Bildungstradition unseres Volkes hinzufügen.

*) Siehe die »Beilage tur AUgem. Zeitung No. «50, 373, 996. Zusammenlief afst in der Brocbüre Der Kampf um das Gymnasium. Gesichtspunkte u. Anregungen. Stuttgart, 1891. Cottascbe Buchhandlung.

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In einem zweiten Artikel wird dieser Standpunkt durch Berufung aut Fr. Aug. Wolf und dessen Darlegungen noch weiter gestützt und begründet. So willig wir denselben uns hingeben und so hoch wir die Verdienste des grofsen Philologen stellen, so können wir dennoch nicht verschweigen, dafs er selbst nicht ohne Schuld an dem Ansturm ist. welchem die Gym- nasien eegenwärtie ausgesetzt sind. Indem er das Hauptgewicht auf die fachmännisch-philologische Bildung legte, wurde er in die Einseitigkeit hineingetrieben, jede didaktische Schulung zu verachten Und diese Ver- achtung hat sich bitter gerächt. Das Urteil des Engländers Sidney Whitman trifft durchaus den Nagel auf den K<>]<\: Deutschland hat vorzügliche Lehrer in Fülle, aber wenig Erzieher. Daher: Einseitige Ausbildung des Intellekts und Anhäufung einer Masse Einzelwesens aber Vernach- lässigung der Charakterbildung. Und dies ist auch nieht anders möglich, wenn die Summe der pädagogischen Ausbildung zusammengefafst wird in den wohlfeilen Satz: Habe nur Gelehrsamkeit, so wird dir die Gabe zu lehren nicht fehlen. Oder in die schönklingende, bestechende Forderung: Habe Geist und wisse Geist zu wecken. Gewifs, wer von Natur reich be- dacht ist mit dem, was keine Ausbildung ihm zu gewähren vermag, der wird von selbst sich die Wege bahnen, auf mannigfachen Umw egen vielleicht und nach häufigen In fahrten doch zum rechten Ziel gelangen. Aber auch der begabteste Lehrer würde durch das Studium der Psychologie doch nicht in seinen Mafsnahmen gehemmt und eingeschränkt werden, sondern würde für dieselben eist rechte Sicherheit erlangen. Die Erweiterung des Blickes in das philosophische Gebiet überhaupt kann erst den Lehrer auf den Standpunkt des Erziehers heben; weil diese Erweiterung oft fehlt, weil der Lehrer nur zu sehr in den Grenzen eines übel verstandenen Spe- zialistentums festgehalten wird, deshalb bildet er sich wohl zu einem vor- trefflichen Schulehalter aber zu einem wenig brauchbaren Erzieher aus. Die Erziehung ist aber die Hauptsache. In ihr liegt das schwierige Problem eingeschlofsen : Wieweit kann überhaupt ein Künstler herangebildet werden. Dies ist doch ungleich wichtiger als die äufsere Hebung des Standes in sozialer und materieller Hinsicht, obwohl nicht geleugnet werden soll, dafs hier baldige Erfüllung dringender Wünsche geboten erscheint, wenn noch gröfseres Unheil verhütet werden soll.

In einem dritten Artikel legt Herr Hofrat Eucken die Forderungen, welche sich am meisten vordrängen, in ausführlicher Weise dar:

1. Befreiung des Gymnasiums von unnützem Schulermaterial. Das Freiwilligenrecht werde an die Absolvierung der Schule geknüpft.

2. Umgestaltung des klassischen Unterrichts. Derselbe mufs von seiner formalistischen Weise befreit werden, der Hauptzweck: Menschenbildung wieder mehr in den Vordeigrund treten.

3. Zurückdrängen des Bureaukratismus in der Schulverwaltung. Ab- schaffung des Abiturienten-Examens.

4. Besserstellung der Lehrer.

•) Dm Kaisert. Deutschland. Berlin, 1890. C. Ulrich u. Co.

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Am Schlüsse heifst es: »Es wird mächtiger Energie und überlegener Einsicht, es wird einer grofsen, zugleich staatsmännischen und geistigen That bedürfen, wenn durch alles chaotische Gemenge der Meinungen durch aJle Halbheit des Denkens und des Wollens sich jene Ziele siegt eich durch- ringen sollen. Nötig dazu ist allerdings eine allseitige Überlegung und Er- wägung, weit nötiger aber ein kühnes Glauben und Wagen, ein mutiges Vorangehen und Durchdringen. Dafs an diesem wichtigen Punkte ein glückliches Schaffen in Flufs komme und nicht mit kleinen Augenblicks- hülfen die Probleme ein wenig beschwichtigt werden, das mufs die innere geistige Lage Deutschlands jeden Vaterlandsfrcund von ganzem Herzen wünschen lassen. Um von jener Lage befriedigt zu sein, mufs man ent- weder sehr gering von der Aufgabe eines grofsen und alten Kulturvolkes denken, oder die Thatsachcn sehr optimistisch beurteilen. Der gewaltigen Steigerung äufscrer Macht und Organisation, den staunenswerten Fort- schritten der Technik, der unermüdlichen Verfeinerung der wissenschaft- lichen Spezialarbeit entspricht bei weitem nicht die Leistung auf dem Ge- biete höherer Geisteskultur, wo der Mensch als Ganzes und Inneres in Frage kommt, das produktive Schaffen in der Kunst, der Philosophie, der Religion; ebensowenig entspricht der Rührigkeit des Parteilebens, der Tüchtigkeit im privaten Kreise und der Opferwilligkeit zu humanen Zwecken der sittliche Ernst, die Mannhaftigkeit und die Treue in den grofsen An- gelegenheiten des gemeinsamen Lebens. Was an positiven Kräften in unserem Volk, seinen Überlieferungen und Einrichtungen steckt, das kommt heute nicht genügend zu vereinter, die Individuen sammelnder und er- höhender Wirkung. Wenn nun zugleich, mehr noch von innen als von aufsen, schwerste Gefahren drohen, so ist eine kritische Lage unverkenn- bar; nötiger als je ist die Gegenwart aller guten Geister der Nation, nötiger als je eine volle Belebung alles dessen, was zur Erweckung ursprünglicher Geistesthätigkeit dienen mag.

Die gelehrte Bildung ist hier nur ein Faktor neben mancher anderen, aber unzweifelhaft greift, was hier gewonnen wird, unmittelbar ein in die Arbeit für die höchsten Ziele. Möge es denn glücklich gelingen, die vor- handenen Hemmungen zu überwinden, die innewohnende Kraft voll zu entwickeln und so vom Punkte des Werdens aus das gesamte Geistesleben zu fördern.«

II. Über die Aussprache des Griechischen in unseren

Gymnasien.

Unter den in Athen lebenden Angehörigen des Deutschen Reiches wurde eine Eingabe an den deutschen Kaiser in Umlauf gesetzt, worin Letzterer ersucht wird, in den Reformplan für den Gymnasialunterricht

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auch die Änderung der bisher in deutschen Gymnasien üblichen Aus- sprache des Griechischen aufnehmen zu wollen. Die Petenten suchen nachzuweisen, dafs die von Erasmus aufgestellte Aussprache der griechischen Vokale eine ganz willkürliche sei, die keineswegs derjenigen entspreche, welche in der klassischen Zeit des Hellenentums gebräuchlich war. Ob- gleich daher heute die gebildeten Griechen ihre Sprache dem Althellenischen wieder fast gleichgestellt hätten und jeder deutsche Gymnasialabiturient ohne weiteres Studium in der Lage sei, die neuesten griechischen Werke zu verstehen, so könne er doch kaum ein einziges griechisches Wort richtig aussprechen. Für die Mitglieder des deutschen archäologischen Instituts in Athen sei es beispielsweise eine grofse Pein, nachdem sie in Deutschland so viele Jahre hindurch das Griechische unter gröfsten Anstrengungen ge- lernt hätten, nun in Athen diese Sprache noch einmal »umzulernen«, nur weil man in den deutschen Gymnasien fast jedes griechische Wort in ab- weichender Form ausspreche. Das Schriftstück geht dann auf die Aus- sprache der einzelnen Laute näher ein und sucht dieselbe an der Hand wissenschaftlicher Forschungen in der Weise festzustellen, dafs sie dem neueren Griechisch nahezu gleichkommt. Endlich wird darauf hingewiesen, dafs die Aussprache des Erasmus bereits in den Gymnasien Italiens, Belgiens, Hollands und teilweise auch in England aufgegeben 'sei, so dafs auch das deutsche Gymnasium mit dieser alten Überlieferung brechen könnte.

12. Gemeinschaftliche Sitzung der Zweigvereine Altenburg, Halle, Jena, Leipzig zu Weissenfeis.*)

Sonntag, den 23. November 1890 fand im Laufe des Nachmittags eine Versammlung der gen. Zweigvereine zur Förderung der Herbartschen Pädagogik statt. Dieselbe war zahlreich besucht, aber weniger von Mit- gliedern des Vereins (von Altenburg war ein Mitglied erschienen, der Leip- ziger Zweigverein war gar nicht vertreten), als von Gästen aus Weissen- fels, Leipzig u. a. O.

Herr Dr Beyer aus Jena-Oberkamsdorf führte nach den getroffenen Bestimmungen (S. Pädag. Studien 1888, Seite 169) den Vorsitz und leitete die Verhandlungen. Den ersten längeren Vortrag hielt Herr Conrector Ufer aus Altenburg. Er legte ausführlich dar, was die Erziehung zur Bekämpfung der Nervosität thun könnte und wies überzeugend unter An- gabe der Hülfsmittel die Notwendigkeit für den Lehrer nach/ diese Seite seiner Thätigkeit nicht zu vernachlässigen.

S. Pld. Stud. 18S9, 8. 105; 1S88, 8. n. 19«.

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Darauf sprach Prof. Rein aus Jena über die Einrichtung der Gym- nasial-Seminare in Preufsen und betonte ihnen gegenüber die Notwendigkeit der Universitäts-Seminare mit ihren eigentümlichen Vorteilen und Vor- zügen.

Es folgte sodann eine Kritik der geograph. Arbeiten von O. Bismarck gegeben von Herrn Dr. Männel in Halle. Derselbe konnte in den Bis- marck'schen Anweisungen keinen methodischen Fortschritt erkennen und vermochte sich nicht den über die betr. Arbeiten verbreiteten Anpreisungen anzuschliefsen.

An den Verhandlungen nahm die Versammlung lebhaften Anteil. Ein gemeinschaftliches Essen hielt den engeren Kreis der Herbart-Freunde noch länger beisammen. Die nächstjährige Versammlung ist vom Zweig- verein Leipzig zu berufen und einzurichten.

13. Herbart in Amerika.

Um den in dem letzten Heft der >Studien« erschienenen Bericht über >Herbart in Amerika« zu ergänzen, werden unseren Lesern folgende weitere Mitteilungen willkommen sein.

Das Seminar für Lehrer und Lehrerinnen in Oswego, NewYork, zeigt sehr reges Interesse lür die deutsche Pädagogik. Margaret K. Smith, eine Lehrerin an diesem Seminar, wird in der nächsten Zeit eine englische Übersetzung von Herbarts »Lehrbuch der Psychologie« besorgen. Diese Psychologie erscheint in der in Lehrerkreisen weitverbreiteten »Educational- Series«, welche von Dr. Harris herausgegeben wird.

Eine andere Pflanzstätte der Herbartschen Pädagogik ist die Staats- Universität zu Bloomington in Illinois. Hier ist neuerdings eine eigene Professur für Psychologie und Pädagogik errichtet und Dr. Charles de Garmo dorthin berufen worden. Von der Thätigkeit dieses eifrigen Herbartianers dürfen wir in seiner neuen Stellung sicheren Erfolg erwarten.*)

Auch aus dem Lehrer-Seminar in Truro, Neu-Schottland, erhalten wir die Anzeige eines bald zu erscheinenden Buches von Dr. J. B. Hall über »Pädagogische Psychologie«. Dr. Hall studierte Pädagogik im vorigen Jahre in Berlin uud Jena und beim Abschied erklärte er sich bereit, den pädagogischen Schlummer in Kanada baldigst zu stören.

So werden die Beziehungen zwischen der deutschen Pädagogik und der nordamerikanischen immer nähere und immer innigere. Über den weiteren Fortgang der Bewegung wollen wir in späteren Heften Mitteilung machen.

•) Herr Ch. de Garmo veröffentlicht in der Educatiooel Review, Jan. 91 New- York, »The Herbart ian School of Pedagogica Ferner: »Language Work. Below the high ScbooL 1—3.

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C. Beurteilungen.

Inwiefern ist Leibnitz in der Psychologie ein Vorgänger Herbarts. Ein Bei- trag zur Geschichte der Psycho- logie. Von Dr. Johannes Bar- chudarian. Jena, Kromannsche Buchdruckcrci. 1889. Der Verf. hat sich die Aufgabe gestellt, zu zeigen, inwiefern Leib- nitz ens Psychologie auf die Her- barts eingewirkt hat (S 3). Er wirft zunächst einen vergleichenden Blick auf die metaphysische Grundlage der Psychologie beider Forscher und weist nach, dafs die Monaden Leib- nitzens mit den Realen Herbarts in manchen Punkten übereinstimmen, in anderen nicht. Sodann geht er zur Untersuchung der Frage über, welche Keime einer richtigen Theorie des Seelenlebens in den Schriften Leibnitzens vorliegen, welche Ent- wickelung diese Keime in der Psycho- logie Herbarts gefunden haben. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dafs, »wenngleich dieser oder jener psy- chologische Grundbegriff bei Leibnitz noch nicht ganz klar gefafst erscheint, sein Hauptverdienst bleibt, dafs er die vorstellende Thätig- keit als die ursprüngliche, alle anderen psychischen Vorgänge aber als abgeleitete Thätig- keiten der Seele aufgefafst hat ; wenn es ihm auch nicht immer ge- lungen ist, den genügenden Beweis für seine Behauptungen zu liefern, so hatte er doch, als Herbart seine psychologischen Arbeiten aufnahm, auf diesem Gebiete so viel gethan, dafs es diesem dann möglich war, die Psychologie zur Wissenschaft zu erheben« (51). Der Verf. ist dem- nach weit davon entfernt, Leibnitzens Verdienst zu überschätzen, und etwa den Satz: Alles schon dagewesen!« auf die Psychologie Herbarts an- zuwenden. Er sagt vielmehr (S. 6): »Abgesehen von der metaphysischen Grundlage bildet die Psychologie

Herbarts und die darauf gebaute Pädagogik den Glanzpunkt seiner ganzen selbständigen Philosophie. Erst durch Herbart ist die Bedeutung der Psychologie klar geworden. Erst er hat sie zur völlig selbständigen Wissenschaft erhoben. Ein Blick auf ihren beklagenswerten Zustand vor Herbart zeigt klar und deutlich dessen hohes Verdienst auf genanntem Gebiete. Die veraltete Vermögens- theorie, das Überbleibsel der alten Philosophie, die ihre Geltung hart- näckig bis jetzt bewahrt hatte, ver- lor durch ihn ihre Macht. Er gab der Psychologie eine teste, uner- schütterliche Grundlage, indem er die Vorstellung als Grundphänomen und Erklärungsprinzip für alle Modi- fikationen des Bewufstseins betrach- tete.« Damit sind wir ganz einver- standen.

Der Verf. kann nicht umhin, einige Bedenken gegen die Herbartsche Metaphysik zu äufsern, und wir möchten wohl den Versuch machen, eine Verständigung darüber mit einem Manne zu suchen, der im Ganzen und Grofscn der Philosophie und Pädagogik Herbarts so freund- lich gegenübersteht. Es heifst S. 14: »Bei Leibnitz finden wir in der Monade ein wirkliches Geschehen, ein wahres Thun und Handeln. Ist nun bei Her bar t das Geschehene, welches auf der Wechselwirkung der Realen beruht , ebenfalls ein wirkliches? Wir geben eine ver- neinende Antwort, denn die Selbst- cihaltung ist »der Gegensatz in den Qualitäten je zweier Seienden, wel- chem beide zugleich widerstehen«. Sie kann nicht die Produktion einer Kraft, überhaupt eine Kraftäufserung sein, denn die Realen sind ruhendes Sein. Hier ist die fatale Stelle der Herbartschen Metaphysik. Die Realen ruhen und sind doch die Ursache des Geschehens, sie wirken

nicht, und doch bewirken sie etwas. Der Widerspruch steckt also in dem engen Räume zwischen zwei Realen, sie sollen in Relation, und wiederum nicht in Relation stehen«. Diese Ausführungen scheinen uns in mehr als einem Punkte unzutreffend zu sein. Die Selbstcrhaltung i s t nicht der Gegensatz in den Qualitäten je zweier Realen, sondern sie ist die Reaction gegen die Störung (Veränderung), welche bei der Durch- dringung entgegengesetzter Qualitä- ten der einen wie der anderen zu- gemutet wird; der Widerspruch aber, auf welchen der Verf in den letzten Zeilen hindeutet, ist nur ein schein- barer. Zwei Wesen, A. und B., stehen nicht in Relationjzu einander, sofern nämlich jedes dem Sein nach unabhängig vom andern ist. A be- darf, um zu sein, nicht der Anleh- nung an B., und ebensowenig B. einer Anlehnung an A., jedes besteht vollkommen für sich. Wir halten gerade die Beweise Herbarts für den Satz, das Seiende als sol- ches müsse von jeder Beziehung auf etwas Anderes frei gedacht wer- den, für unwiderleglich. Darum kann H er b a r t aber auch nicht zugeben, dafs die Realen ursprüngliche Kraft wesen sind, zu deren Natur es gehört , thätig zu sein. »Wird nämlich das Atom als ursprüngliches Kraftwesen angesehen, so dafs diese Kraft ursachlos in demselben als von Ewigkeit her innewohnende Eigenschaft betrachtet wird, so hört das Wesen auf, absolu t zu sein.«*) Das absolute Sein wird aber nicht dadurch aufgehoben, dafs die Realen A. und B. in Beziehung zu einan- der treten, um ein Geschehen möglich zu machen. Denn wenn A. gegen B., B. gegen A. wirkt, sich selbst erhält, so ist doch diese Wirk- samkeit keine Beding ung seines Seins, wie es bei einem ursprüng- lichen Kraftwesen der Fall sein würde. A. kann recht wohl sein ohne B., aber es kann nicht thätig sein ohne eine Beziehung zu B.

') Vgl. Flügel, Probleme der Philosophie, a. Aul!, d. 61. Wir empfehlen dem Verl. das ganze Flügeische Werk und insbesondere ein genaues Durchdenken der §g 33—37.

Die Realen sollen demnach in Re- lation stehen, sofern sie die Trä- ger des Geschehens sind; sie sollen aber nicht in Relation stehen, sofern sie überhaupt sind. Von einem Widerspruch kann da gar nicht die Rede sein. **) Ruhendes Sein sind die Realen Herbarts nicht, denn sie stehen in der ge- gebenen Welt im Zusammen- hang mit einander, fordern sich gegenseitig zur Thätigkeit heraus ; sie würden aber immer noch sein, wenn auch einmal alle Wechsel- wirkung zwischen den Wesen und damit alles Geschehen aulhören könnte.

Der Verf. glaubt noch einen zweiten »Widerspruch« hervorheben zu sollen. Er sagt (S. 19;: »Wir wissen aus der Metaphysik, dafs die Empfindungen (Vorstellungen) verschieden sind, folg- lich auch die Selbsterhaltungen; dem- gemäfs können wir den richtigen logischen Schlufs ziehen, dafc die Seele sich selbst erhält als eine verschiedene. Solche ver- schiedene Qualitäten in der Seele anzunehmen, verbietet uns aber einfach die Lehre des Seins.« Der »Schlufs«, den der Verf. hier zieht, dürfte sich doch wohl bei näherem Zusehen als ein Trug- schluls erweisen, Gewifs sind die Selbsterhaltungen verschieden, aber ebenso gewifs ist es, dafs diese Ver- schiedenheit auf dem Wege eines »logisch richtigen« Denkens nicht zu der Annahme einer vielfachen und verschiedenen Qualität der sich selbst erhaltenden Seele führt. Die Selbst- erhaltungcn sind der Ausdruck des Gegensatzes mehrerer Realwesen, die einander durchdringen; folglich bedingt Verschiedenheit des Gegensatzes auch eine ent- sprechende Verschiedenheitdes Gegenwirkens, also der Selbst- erhaltungen (Empfindungen). A wird sich anders gegen B, wieder anders g<-gen C erhalten, nicht, weil es selbst seine Qualität wechselte, sondern weil der Gegensatz ver- schieden ist, welcher zu einer Kraft-

*) Vgl Foltx, Metaphysische Grundlage der Herb. Psych. S. 89 ff. (Ü. Red.)

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äufserung gegen B und C nötigt.*) Ein Widerspruch mit den ontologischen Prinzipien Herbarts würde nur dann vorliegen, wenn Herbart lehrte : »Die Seele erzeugt alle ihre Vor- stellungen nicht nur aus sich selbst, sondern auch v on selbst.« Da aber Herbart die Vorstellungen nicht aus der Qualität der Seele allein ab- leitet, dieselben vielmehr auf den Gegensatz zu andern Wesen zurück- führt, so vermeidet er dadurch den Widerspruch, mit dem der Verf. seine Lehre behaftet glaubt.

Herbart sagt (Hauptpunkte der Metaphysik. § 13): »Vorstellungen sind Selbsterhaltungcn; sie müssen als Kräfte angesehen werden, die mehreren Thätigkeiten eines und desselben Wesens, die in ihm zu- sammen sind, vernichten einander nicht, sondern hemmen sich wechsel- seitig ; die Hemmung verteilt sich, erfolgt auch wohl halb, und darauf beruht die Möglichkeit der Wieder- erweckung und Rückkehr der Vor- stellungen ins Bewufstsein.« Dazu bemerkt der Verf. (S 17): »Zeigen diese Worte nicht einen auffallenden Widerspruch gegen seine ersten ontologischen Prinzipien? Wie ent- stehen diese Kräfte in dem kraft- losen Realen? Wie entspricht denn die Vielheit der Zustände der strengen Einfachheit und That- 1 o s i g k e i t der Qualität ? Wie end- lich das Hemmen und Frei- werden der Einfacheit der Qualität? Lauter dunkle und widerspruchsvolle Punkte in der Herbart sehen Metaphysik.«

•) Vgl. Folt« a. a. O. 8. j* ff.

Sollten sich nicht einige Licht- strahlen in dieses Dunkel werfen lassen ? Herbart nennt a. a. O. die Vorstellungen Kräfte. An vielen anderen Stellen, z. B. im § 10 des Lehrbuchs zur Psychologie, drückt er sich genauer aus, indem er sagt: »Vorstellungen werden Kräfte, in- dem sie einander widerstehen ; Wider- stand ist Kraftäufserung. An sich aber sind die Vorstellungen nicht Kräfte.« Ebenso sind die Realen an sich nicht Kräfte, aber sie werden Kräfte, sobald sie sich in ein Zu- sammen mit anderen Wesen von ent- gegengesetzter Qualität verwickelt sehen. Wie nun Vorstellungen in der Seele entstehen, das lehrt die Theorie von den Störungen und Selbsterhaltungen. Wie diese Vor- stellungen »Kräfte« werden, zeigt die Psychologie. Die Vielheit der Zustände verträgt sich ganz wohl mit der Einfachheit der Qualität, wie oben gezeigt wurde; und wenn die Einfachheit der Qualität ein viel- faches und mannigfaltiges Thun des Realen in keiner Weise hindert, so ist nicht abzusehen, warum das »Hemmen« und »Freiwerden« der Vorstellungen jener Einfachheit wider- streiten sollte.

Wir haben die fleifsige und von echt philosophischem Geiste durch- wehte Arbeit des Verfassers mit Ver- gnügen gelesen und geben uns gerne der Hoffnung hin, dafs ein tiefer ein- dringendes Studium der Herbart- schen Metaphysik ihn auch über die Mifsverständnisse emporheben werde, die in seinem Schriftchen hier und da zu Tage treten.

Eisenach. O. Foltz.

Berichtigung zu der Besprechung des Englischen Lesebuchs von Vietor und Dörr. Jahrgang 1890, S. 186, Spalte 2 ist nicht zu lesen: Für sie wäre allenfalls ein andres Zeichen erwünscht, sondern: Für Cd wäre u. s. w.

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erften fXeil bes £efebua>s roeht burebmeg ein frifdjer, ed?t Fmblicb naiper, patriotifeber (Seift. Vie Spradje ift bei aller (Einfachheit unb Knappheit bes Satjbaues bod? frei, urFräfttg unb a>ie altgermanifcb.en tPalbesbuft atmenb. €in3elne Ceilc bes Hibe- lungenliebs roirfen burdj ihre lebenswahre Schiiberung ber Dorgänge im Saferen unb inneren £eben ber fühnen Herfen unb mimiiglichen grauen gerabeju ergreifenb. ITlögen piele 3n biefem fdjönen Büdjlein greifen behufs eigener <£rfrifcbung aus ber urnnberbaren &auberqueüe paterlänbildjer Sage unb (Erfdjließung biefcs ITunber« borns für bie lernbegierige beutfaje ^ugenb

tlhteraturblatt ber Teutleben üfbrerjtttungO

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Neu eingegangene Schriften

Hontschel Jänicke, Rechenbuch. 1—6. Leipzig, Meraeburger. Müller-Brunow, Tonbitdung oder Gesanguuterrieht . Ebendaselbst. Widmann. Neuer Weg zur Erteilung den Gesangunt. Ebendas. Köbrich, Hills bibl. Geschichten. 6. Aull. Ebenda«. Renneberg. Grnndriss der Erdkunde. 2. Autl. Ebendas. KÖzle. Die allg. Volksschule. Stuttgart, Paulus.

Witte. Dr. Dittes u. sein Ideal : Die konfessionslose Volksschule. Ruhrort, Andra.

Hartmann, Die Analyse des kindl. Gedankenkreises. Anuaberg, Gräser. Moser, Die 10 Gebote des Lehrers. Hamburg. Kb>ss. Freymark, Der Charakter. Bielefeld. Helmich.

Polack, t'her den Helfcrdienst der Schule hei Heilung der soz. Schäden.

Bielefeld, Helnii' h. Lenzmann, Iber den schädlichen EinHnss der behinderten Nasenatmung.

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Paust, Tierkunde, -i. Auri. Breslau, Hirt.

Waeber, Lehrbuch der Botanik. Ebendas

Knauer, Handworterbuch der Zoologie. Stuttgart. Enke.

Trüper, Die Schuh' und die soz. Kragen unserer Zeit. 1 3. Gütersloh,

Bertelsmann

Morgenstern, Engl. Lest/buch. I *"> Aull. Hannover, Meyer. Mar*in, Schulgrammatik der deutschen Spracht*. Breslau, Hirt. Lanümann, Die Ent\vi< keluug Preussens. Königsberg, Bon. Raydt, Das Jugendspiel. Hannover. Mever.

Erdmann, Popul. Abhandlungen ul»er Erziehung u. Unterricht. Gotha, h> hrend.

Kongress für ev. Knaben-Handarbeit. Görlitz. Bierling. Geyer, Der deutsche Aufsatz- Tut. Hannover, Meyer. Deutsche Volksbibliothek : Stuttgart, Greiner u. Pfeüfer. 3 Bde. Le Repetiteur. VIII. Jahrgang. ' Berlin. Bo.-enhaum u. Hart. Vogel, Das Tonsystem u. die Notenschrift. Leipzig, Hesse. Linge, Elementare Gesangschulcn. Ebendas. Boletin de Ens»?nanza Primaria. Montevideo. Rfcvista de Instruction Primaria. Santiago.

Schweiz, pädag. Zeitschrift. I, 1. Zürich, On 11 Füssli.

Rethwisch, Jahresberichte über das höhere Schulwesen. 4. Jahrgang. Berlin, Gärtner.

Böhme. A. Diesterweg. Ebendaselbst..

Schmelzer, Pädag. Aufsätze. Leipzig, Voigtlander.

Vietor, Phonet. Studien. Marburg, Ehvert.

Unsere höh. Schulreform. Berlin, Schorns.

6öring, Die neue deutsche Schule. Leipzig, Voigtländer.

Griesmann, Der Bechenunt. in der Volksschule. Leipzig, R. Richter.

Neudrucke päd. Schriften. 1 u. 2, Leipzig, Ebendas.

Baumgarten, Volksschule u. Kirche. Leipzig, Grunow.

Wendt, Engl. Brietschule. Hannover, Meyer.

Meyer-Markau, Sammlung pädag. Vorträge.* Bielefeld, Helmich. IIL,2— 5. Heft

Burger, Syst Gliederung d. Päd. Kants. Leipzig, Eock.

Cassel, Unser Meister Ad. Diesterweg. Hannover, Helwing.

Häuselmann, Ornament. Zürich. Grell Fii-sli u. Co.

Drescher. Die Kindergesundheitsprlege. Berlin, Selbstverl.

Ohlert, Die deutsche Schule. Hannover, Meyer.

Seht nckendorff. Arbeitsunt. auf dem Land. Görlitz, Vierling.

Druck Yon G. Päti, Naumburg ». S.

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Pädagogische Studien,

Neue Folge.

1

Herausgegeben

Dr. W. Rein,

Professor a. <l. Universität Jena. XII. Jahrgang. Drittes Heft.

H

Inhalt:

A. Abhandlungen: K. Bodcnstein, Zum »System« im Geschichts- unterricht.

Mitteilungen: i. F. Hornemann, Der deutsche Einheitsschul- verein im Jahre 1890. 2. Dr. Rud. Menge, Lehrgänge und Lehr- proben aus der Praxis der Gymnasien und Realschulen. 3. G. D e h i o , Die Schulreform und das Auge. 4. H. Chili, Die Mittelschulen in Preufsen. 5. J. L. Jett er, Die Herbartsche Pädagogik in Württem- berg. 6. F. W. D.Krause, Begehren und Wollen. 7. Die Päda- gogische Vorbildung der Kandidaten für das höhere Schulamt in Baiern. 8. Herbartverein in Eisenach. 9. Oster- Programme 1891. 10. Aus dem Pädag. Universitäts-Seminar zu Jena. 11. Dr. Beyer, Hauptversammlung des Vereins für Knabenhandarbeit. 12. Joh. Truper, Zum Kampf um die Schule (Fortsetzung). Beurteilungen: 1. Dr. Alb. Schwegler (H. Grosse). 2. Adolf Diesterweg. 3. Einer für Alle (Hollkamm). 4. Otto Bis- marck (Maennel).

Dresden.

Verlag von Bleyl & Kaemmerer (Paul Tb. KMtnmerer.)

1*91.

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^roefcniammlutiß frer Slnftalt Vctfyef.

60. 3of). 6, 12.

Seit einiger 3cit babm nur in unferer Äolonie 9etbel, in toelcher gegen 1100 epilepttfdje «raufe, aber aud) Diele irrüppel, Üabme, 93linb€, 3 ne, Seriaffene, Sitroen unb SBaifen, alle« in oflem über 2000 ^erfonen in über 100 Käufern oerpflegt werben, eine SÖrodenfammlung erridjtet, toeldje tränten ben Segen ber ftrbeit unb unfern .öaueljalmngen mancherlei (I rleidjterungcn, ober bod) unterer «äffe einen fleinen &e tuinn öeritbaffen foH. Unter ©roden üerfteben wir: ttigarrenobfebnitte, (Stgarren* riftd?cn, ©tcmiolfapfeln, 6tablfebern, alte« Rotier, Bettungen, §efte, «ften, JHcibuna> ftüde, 3eu9reftc» Sutnöen, abgetragene ©djube unb $>anbfcbnbc, $üte, ©trumpfe, 6d)inne, alte üampen, (Sifen unb jebeä anbere detail, ©laS unb ftlafdjen, aber aueb abgeftempelte 9Rarfen unb jeglidjc «rt Don roertDofleren ©egenftänben, bie im $>aufe unnü$ umherliegen, |. ö. Sammlungen Don Sternen, ^Jflanjen, SJiünjen. 2ln bie Srodenfammlung idjliefct fid) aud) ein Antiquariat an, bie Sammlung unb S$er= roertung jener alten Söüdjcr unb Sdjriftcn aller Art, roeltbe fo bäim.;. eine Saft für bie $auöbaltuugen, unbenufet in ben l£den umherliegen. (£3 giebt oiele liebe SBob!» t bater, bie jroar nidjt bares @clb fenben, aber bod) mit einer folgen Sammlung fid) unb ben ftranfen eine ftreube bereiten fönnen. Um bie SBobltbat nidjt illuforifd) ju machen, tüirb bcr^lid) gebeten, Die Sadjen portofrei *u fenben unter berÄbreffe: Än- ftalt »etbd, 23rodenfammlung, ^oftftation Wabberbaum, (£iienbatmftatton SMelefelb.

3)er Worftanb ber ttufialt Bethel. D. 5öoöelfd)U)ingb, ^aftor.

Fortbildungskurse

an der Universität Jena für Lehrer Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz.

Es wird beabsichtigt, wie in den Vorjahren an der Universität Jena vom 28. September bis zum 10. Oktober die folgenden zweiwöchentlichen Kurse, welche für akademisch gebildete Lehrer und Lehrer an Seminaren l»estimmt sind, abzuhalten.

1) 8—9 Uhr. Moderne physikalische Demonstrationen (Elektrische Wel-

len, Gitterspektrum, Akkumulatoren, Photometrie u. s. w.) v. Prof. Dr. Auerbach.

2) 9 10 Ueber Bau und Lehre der Pflanzen unter Vorführung

pflanzenphysiologischer Experimente, die für den Schul- unterricht wichtig sind, v. Prof. Dr. Detmer.

3) täglich Anleitung zu botanisch-mikroskopischen Arbeiten und

piianzenphysiologischen Experimenten, v. Prof. Dr. Detmer

4) 10—11 Anleitung zu physikalischen Experimenten, v. Prof. Dr.

Schäffer.

5i 11 12 Schulhygiene, v. Prof. Dr. 6ärtner.

6) 12-1 Die psychologischen Grundlagen des Unterrichtsverfah-

rens, v. Prof. Dr. Rein.

7) 3—4 Ausgewählte Abschnitte der physischen Erdkunde, ver-

anschaulicht durch Exkursionen v. Dr. Regel.

8) 4—5 n Darwinismus, v. Prof. Dr. Kükenthal.

9) 5 6 Physiologische Psychologie, v. Dr. Ziehen.

10) 5-6 Die parasitären Pflanzenkrankheiten, v. Prof. Dr. Büsgen.

11) 6—7 Anleitung zu Untersuchungen mit Spektral- und Polari-

sationsapparaten, v. Dr. Gänge

12) 7—8 n Uebungen im Glasblasen, v. Glasbläser Haak.

Das Honorar für jeden Kursus (10—12 Stunden) beträgt 15 Mk.

Diejenigen Herren, welche sich an den Fortbildungskursen beteiligen wollen, ersuchen wir, uns von ihrer Absicht in Kenntnis zu setzen.

Auskunft über gute und preiswürdige Wohnungen erhalten die Herren Teilnehmer am Sonntag, d. 27. September im botanischen Institut.

Sonntag, d. 27. Sept. abends 8 Uhr gesellige Zusammenkunft im Weimarischen Hof.

Anmeldungen nehmen entgegen und nähere Auskunft erteilen

JENA, im Mai 1891

Prof. Detmer und Prof. Rein.

uigmz

A. Abhandlungen,

Zum „System" iiu GescMchtsuntemcht.

Ein methodisch-kritischer Versuch. Von K. Bodenstein in Eisenach.

Eis dürfte gewagt erscheinen, die Aufmerksamkeit auf eine so spezielle methodische Frage, wie sie diese Überschrift bezeichnet, hinzulenken, ja, man könnte einen solchen Versuch geradezu für überflüssig erklären. Denn was wäre nach den grundlegenden Arbeiten von Ziller, den erläuternden von Rein, Wiget u. a. über die formale Durcharbeitung des Lehrstoffes im allgemeinen noch zu sagen übrig! Und liegen doch auch gerade für den Geschichts- unterricht viele Arbeiten vor, welche die Anwendung der Formal- stufen auf dieses Fach erläutert und bis ins einzelne ausgeführt haben. Es sei nur erinnert an die Arbeiten Zilligs im Jahrbuch d. V. f. w. P., an die >Schuljahre« von Rein etc., an die Präpa- rationen von Hermann und Krell und die von Staude und Göpfert, von anderen, die als einzelne Präparationen beispielsweise in den »Deutschen Blättern f. e. U.« veröffentlicht wurden, zu schweigen. Wenn eine solche Fülle von Auseinandersetzungen über die methodischen Grundsätze und eine solche Reihe von Anwendungen derselben auch auf den Geschichtsunterricht vorliegt, so ist wohl anzunehmen, dafs darüber so ziemlich das letzte Wort gesprochen, also die Gestaltung der einzelnen formalen Stufen gründlich unter- sucht und klargelegt sei. *) Zudem begegnet man hin und wieder der Meinung, dafs inbezug auf die methodische Durcharbeitung des Lehrstoffes überhaupt ein gewisser Abschlufs erreicht sei.

*) Vergl. Reich, Die Theorie der formalen Stufen etc. Langensalza, Beyer.

Pädagogische Studien. HI. 9

Nun ist es immerhin schon eine etwas auffällige Erscheinung, dafc gerade Präparationen für den Geschichtsunterricht viel später er- schienen sind, als solche für die übrigen Fächer, beispielsweise für den Religionsunterricht. Sollte dies vielleicht doch auf einige unklare Punkte in diesem Fache zurückzuführen sein? Oder er- achtete man früher die Präparationen für den Geschichtsunterricht für überflüssig und den Hinweis, dafs die Profangeschichte analog der biblischen Geschichte, mit der sie so eng verwandt sei, erteilt werden müsse, für hinreichend, um diesem Fache eine erspriefs- fiche Durcharbeitung zu sichern? Die methodischen Auseinander- setzungen, die bis jetzt über den Geschichtsunterricht erschienen sind, beziehen sich auch mehr auf die Aneignung des Lehrstoffes, als auf die daran anzuschliefsende Denkoperation, auf die zu ab- strahierenden Gesetze und Begriffe, z. B. Rein, »zur Synthese im historischen Unterricht« im 17. Jahrbuch d. V. f. w. P. und Göpfert, »über die biographische Methode im Geschichtsunterricht« in den »Deutschen Blättern f. e. U.« 1887. Wenn ich mir nun trotzdem erlaube, die Aufmerksamkeit auf das »System« in diesem Fache hinzulenken, so geschieht das in der Meinung, dafs thatsächlich der Gestaltung dieser Stufe noch mancher Mangel anhaftet.

Um diese Behauptung zu rechtfertigen, ist es vor allem nötig, uns in den oben angegebenen Schriften Belehrung über die 4. formale Stufe des Geschichtsunterrichts erteilen zu lassen.

1. Ziller. In seinen »Vorlesungen« bezeichnet er die Arbeit der Systemstufe folgendermafsen : »Hier mufs das Begriffliche und Gesetzliche in der Gestalt, die es im Geiste des Zöglings an- genommen hat, für sich fixiert und annähernd so geordnet und mit anderem schon bekannten Begrifflichen so zusammengeordnet werden, wie es in den Systemen der Fachwissenschaft geordnet ist.« *) Diese Worte auf den Geschichtsunterricht beziehend sagt er: »Vorläufig mufs namentlich auch für jede methodische Ein- heit des Geschichtsunterrichts aus seinen ausführlichen Ent- wickelungcn mit Abstreifung alles nicht Allgemeingiltigcn und ob- jektiv Wertvollen die Skizze einer Geschichtstabelle, es müssen für allen Unterricht übersichtliche, von dem Nichtnot- wendigen entkleidete Darstellungen herausgearbeitet werden.'**; Ähnlich spricht er sich in den Materialien aus. Hier heifst es: »Das chronologische Gefüge stellt dann wieder das System her, nach welchem sich die ausführliche Darstellung der Methode richtet.«***) »Vollends bei den Skizzen (mit Abstreifung der Nebenumstände und so wenigen Daten, wie in einer Geschichts-

*) Ziller, Vorlesungen ü. A. P. S. 255. 1. Aufl. **) Ziller, Vorlesungen S. 259. 1 Aufl. •**) Max Bergner, Materialien 2. spez. Meth. etc. S. 158.

tabelle), auf die im System hinzuwirken ist, und bei den Wiederholungen mufs das biographische Detail zurücktreten.«*)

2. Zill Ig. Im 14. Jahrbuche d. V. f. w. P. giebt Zillig folgen- des Beispiel als System für eine Einheit des Geschichtsunter- richts an:**)

»Friedrich der Grofse.

I. Streben nach Vergröfserung seines Königreichs I. Erwerbung Schlesiens, a) Schlesien wird Österreich genommen

1. (schles.) Krieg 1740— 1742. b) Schlesien wird gegen Österreich behauptet II. (schles.) Krieg 1742+2—1744-1-1. III. (7jähr.) Krieg 1745-f 104-1 1756-T-7. 2. Erwerbung Ostfrieslands. 3. Erwerb- ungen von Polen. (König von Preufsen) 1742+30.

II. Stellung Friedrichs in und zu Deutschland.

III. Regierung Friedrichs im Innern. 1. auf Beschaff- ung der Mittel für I. gerichtet a) Mafsregeln zur Hebung mili- tärischer Kräfte, b) Mafsregeln zur Hebung des Wohlstandes.

2. auf Verknüpfung der Länder zu einem Staate gerichtet a) reli- giöse Duldung, b) gleiches Recht. 3. Die Bildung unter Friedrich. 4. Die Einrichtung seiner Regierung.

VI. Aus dem Leben Friedrichs, a) Jugend, b) Späteres Leben.«

3. Die „Schul jabre" geben folgende Systeme an:***) »Deutschland ein Wahlreich. Geschichtl. System: Heinrich I,

König der Deutschen, 919 936.

1. Seine Wahl. Eberhardt.

2. Vereinigung der Herzogtümer Sachsen, Franken, Schwaben, Bayern, Lothringen.

3. Kampf gegen die Ungarn. (Burgen, Heerbann, Reiterei) 933.

4. Kampf gegen die Wenden. (Brennaburg, Meifsen.)

Aus einer anderen Einheit.f) »4. Stufe.

I. Religiös -ethisches System. 1. Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand.« 2. Deutschland, das mächtige Reich in der Mitte Europas, ist der feste Hort des Friedens und der Kultur.

II. Historisches System. 1834. Durch den deutschen Zoll- verein wird ein enges Land geschaffen zwischen den deutschen Staaten. 1840—61. Friedrich Wilhelm IV., König von Preufsen. 1849. Der König von Preufsen lehnt die Kaiserkrone ab. 1861 wird Wilhelm I. König von Preufsen. Krönung zu Königsberg.

*) Ebenda. S. 159.

*•) Siehe Jahrbuch d. V. f. w. P., 14. Jahrg. S. 239. ***) V. Schuljahr v. Rein etc. Assoziation u. System. 2. Aufl. S. 53. Beispiele: S. 58 f.

f) VIII. »Schuljahr«, 2. Aufl. S. 42. Vergl. 2. Aufl. S. 38.

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Reorganisation des Heeres. 1862 Otto v. Bismarck wird Minister. 1864. Krieg Österreichs und Preufsens gegen Dänemark. Düppeler Schanzen. Alsen. 1866. Krieg Preufsens gegen Österreich. 14. Juni, Ende des deutschen Bundes, a) Krieg in Böhmen. Königgrätz. b) westlicher Kriegsschauplatz. Langensalza, Kissingen, c) Friede zu Prag. 1867. Der norddeutsche Bund. 1870. Der deutsch-französische Krieg, a) Der Krieg gegen das Kaiserreich. (Saarbrücken, Weifsenburg, Wörth, 3 Schlachten bei Metz, Sedan.) b) Der Krieg gegen die Republik. Strafsburg, Metz, Paris, a) gegen die Stadt selbst, b) gegen die Entsatzheere : Loirearmee und West- armee, Nordarmee und Ostarmee. 1871. 18. Januar. König Wilhelm I. zu Versailles als deutscher Kaiser proklamiert. 10. Mai, Friede zu Frankfurt a. M.«

4. Hermann und Krell.*) »IV. System.

1. Auffassung des Thatsächlichen nach Überschriften.

2. Historische Reihe.

Hauptjahr 1 5 1 7 : Predigt in Dresden ; am 3 1 . Oktober Thesen- anschlag in Wittenberg. 1 Jahr vorher: Klosterprüfung in Dresden. 34 Jahre vorher: 1483 Geburt Luthers in Eisleben. Martin bis zum 14. Jahre in Mansfeld (Schulknabe). 14 jährig: nach Magde- burg, 15 jährig: nach Eisenach (Lateinschüler). 18 jährig: nach Erfurt (Student). 22 jährig: ins Kloster zu Erfurt (Mönch). 25 jährig: nach Wittenberg (Professor). 27 jährig: Reise nach Rom. 29 jährig: Doktor der heiligen Schrift. (Tetzel und der Annaberger Latein- schüler Mykonius.) 3 5 jährig (1 Jahr nach dem Thesenanschlage): Verhandlung in Augsburg. 36 jährig (im 2. Jahre darnach : Unter- redungen in Altenburg und Leipzig. 37 jährig: Schrift an den deutschen Adel. Verbrennung der Bannbulle.

3. Kulturgeschichtliches.

Ein Ketzer verfiel dem Ketzergericht. Ihn traf die Ver- fluchung des Papstes, Verfolgung, Ausschlufs aus der Kirche und vom Himmelreich, Verhör, Einkerkerung, Verurteilung, Ver- brennung. Bann und Interdikt waren Kirchenstrafen, die das Volk in Furcht und Schrecken hielten. Zu Luthers Zeit aber verloren die Strafen an Wirkung.

4. Ethisches.

Satz : Luther kämpft für die Glaubenswahrheit unerschütter- lich und unerbittlich. Weder der Gedanke an die Verdienste der Kirche und an die ihm erwiesenen Wohlthaten, noch die Bitten und Vorwürfe der Freunde vermögen ihn von der Lossagung zurückzuhalten. Der Wille Gottes, die heilige Schrift, sein Eid, das Wohl des Volkes, das ewige Heil gilt ihm mehr als alles

*) Hermann und Krell, Präparationen für den deutschen Geschichts- unterricht. S. 222.

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andere. Sprüche 14, 34. Gerechtigkeit erhöhet ein Volk » Matth. 5, 44. Liebet eure Feinde« u. s. w. »Matth. 10, 32. Wer mich bekennet vor den Menschen « Lehrbegriff der Kirche.

Katholisch: Oberhaupt der Papst, Richtschnur des Glaubens die Bibel und die Überlieferung, Sündenvergebung durch Reue und Ablafs, Erlangung der Seligkeit durch gute Werke u. s. w.

Evangelisch: Oberhaupt der Kirche Christus, Richtschnur des Glaubens allein die Bibel, Sündenvergebung allein durch Bufse, ^Erlangung der Seligkeit allein durch die Gnade Gottes u. s. \v.«

Aus der nächsten Einheit des gen. Werkes, S. 227 :

»38 jährig: 1521 vor dem Reichstage zu Worms.

3. Kulturgeschichtliches.

Der Reichstag war vom jungen Kaiser Karl V einberufen worden. Er war zusammengesetzt aus Kurfürsten, Herzögen, Markgrafen, Grafen, Rittern, päpstlichen Gesandten, Bischöfen und städtischen Abgeordneten. Das waren die Reichsstände.

Die Reichsacht enthielt fast dieselben Strafen wie die Bann- bulle: Verbot der Beherbergung und Bewirtung, der Hilfeleistung und Schutzgewährung« . . .

4. Ethisches.

Satz: Luther ein starker Glaubensheld, überzeugungstreu und todesmutig wie Hufs und Bonifacius. Spruch: Matth. 10, 32. Wer mich bekennt vor den Menschen Aussprüche Luthers: Wenn ich gerufen werde, will ich, so viel an mir ist Und ob sie zwischen hier und Worms ein Feuer anzündeten Und wenn so viel Teufel in Worms wären, als Ziegel auf den Dächern So will ich denn eine Antwort geben, die weder Hörner noch Zähne hat: Es sei denn Hier stehe ich, ich kann nicht anders

Aus der Einheit: »Der schmalkaldische Krieg.« (Siehe S. 291 des gen. Werkes.)

»IV. System.

1. Fürstenreihe: Kaiser Karl V. Ferdinand I., sein Bruder. Johann Friedrich der Grofsmütige und Moritz, Kurfürsten von Sachsen. Landgraf Philipp von Hessen. Markgraf Albrecht von Brandenburg. 2. Schlachten: Mühlberg, Sie vershausen. 3. Kul- turgeschichtliches. Schmalkaldischer Bund. Passauer Vertrag. Augsburger Religionsfriede. 4. Ethisches. 1. Irdische Macht und Herrlichkeit ist vergänglich. 2. Eine feste Burg ist unser jGott, eine gute Wehr und Waffen. <

5. Staude und Ööpfert.*) Thüringische Sagen.

»IV. 1. Untreue schlägt ihren eignen Herrn. Unrecht Gut

*) Präparationen z. deutschen Geschichie von Staude u. Göpfert. 1. Teil. S. 65.

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gedeihet nicht. 2. Es wird eingetragen: Um das Jahr 500 war Thüringen ein Königreich. Die Franken und Sachsen besiegten die Thüringer und teilten ihr Reich Die Thüringer waren noch Heiden: schlechte Eigenschaften, gute Eigenschaften. Verschiedene Trachten und Waffen: Abgeschlossenheit. 3. Das Christentum hat die Thüringer veredelt. (Einzutragen; ebenso:) 4. Stichworte: »Bündnis«; »Krieg«; »Angriff«; »Schlacht«; »Sieg«; »Niederlage«; »Belagerung«; »Ausfall«; »Eroberung«.«

Aus den Präparationen über die Nibelungensage. *) »IV. 1. Tim, 6, 10. Der Geiz u. s. w. Matth. 5, 9. Selig sind die Friedfertigen u. s. w. Ps. 133, 1. Siehe, wie fein und lieblich u. s. w Hebr. 13, 16 Wohlzuthun« u. s. w. »Siegfrieds Leben und Tod: I. Siegfrieds Jugend (1. 2. 3. 4). II. Siegfrieds Werbung (1. 2. 3. 4). III. Siegfrieds Tod (1. 2. 3. 4), Kriem- hildens Leid (1. 2. 3. 4).«

Hiermit mag es an Antührungen genug sein. Man erkennt aus denselben, dafs auf der Stufe des Systems vielerlei auf- tritt, nämlich :

1. Die Geschichtszahl, bezw. Geschichtstabelle,

2. Überschriften über den Geschichtsstoff der Einheit oder gröfserer Stoffganze, auch Namenreihen,

3. Kulturhistorisches,

4. religiöse Systeme (Hermann und Krell-Luther.)

5. ethische Systeme.

1. Wie aus obigem ersichtlich, ist auch Ziller der Meinung gewesen, dafs die Geschichtstabelle auf die 4. formale Stufe ge- höre, und alle auf Zillerschem Boden stehenden Kundgebungen haben ihm darin beigestimmt. Wie kam das? Jedes Fach, so sagte man, mufs sein bestimmtes System haben, der deutsche Unterricht ein deutsches, d. h. sprachliches, die Naturkunde ein naturkundliches, die Geographie ein geographisches, der Geschichts- unterricht mufs also auch sein besonderes Geschichtssystem haben. Und da das System das Gerippe sein mufs, so folgerte man daraus, dafs das Geschichtssystem von der Geschichtstabelle dargestellt werde und diese also auf die IV. formale Stufe gehöre. Da man nun in Herbartischen Kreisen den sehr richtigen Gedanken ausgesprochen, der Geschichtsunterricht gehöre zu dem Gesinnungsunterricht und nicht zu den Realien, so kam man zur Zweiteilung des geschicht- lichen Systems, man unterschied Ethisches und Historisches. (Vergl. dazu das obige Beispiel aus dem »8. Schuljahr«.) Man sah also ein , dafs die Geschichtszahl für die Stufe des Systems nicht genügte, eben weil die gesinnungbildende Spitze fehlte. Sollte das aber nicht auf den Gedanken führen, dafs die Geschichts- zahl überhaupt nicht auf die IV. Stufe gehöre? Man vergegen-

*) Ebenda. S. 161.

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wärtige sieb, dafs das System das Ergebnis der Abstraktion sein mufs. Ist nun die Geschichtszahl ein Denkresultat, ein Ergebnis der Abstraktion, der Association? Mufste ich, um eine Zahlreihe, bezw. nur eine Zahl zu behalten, Vergleichungen über die Zahlen anstellen, sodafs die zu merkende das Ergebnis dieser Denkübung war. Keineswegs. Die Schlacht bei Merseburg war 933. Punktum. Hier ist ja nur die eine Zahl zu bemerken womit könnte ich sie vergleichen? Wenn dann die Zahl 955 dazu tritt, so sind wohl Vergleichungen möglich: 933- 2 Dreien, 955- 2 Fünfen. In beiden Schlachten die Hunnen geschlagen, 933 von Heinrich, dem Vater, 955 von Otto, dem Sohne. Aber sind diese Vergleichungen Abstraktionsarbeit? Nein; sie werden nur vorgenommen zwecks festerer Einprägung, zum besseren Behalten des Stoffes. Sie sind mnemonische Hilfen; ein Denkresultat springt dabei nicht heraus. Das System ist etwas Abstraktes, die gewonnene Einsicht. Die Jahreszahl aber ist nichts Abstraktes, sie ist etwas Konkretes, ge- gebener, dargebotener Stoff. Die Geschichtstabelle ist eine kurze Zusammenfassung des konkreten Materials, des Geschichts- stoftes nach dem chronologischen Gesichtspunkte. Das System aber soll doch entwickelt, abstrahiert, nicht dargeboten werden. Was ist denn auch in einer Geschichtstabelle weiter enthalten, als ein Verzeichnis von den Kriegen, Schlachten, Re- genten und ihrer Regierungszeit und die Lebenszeit einiger her- vorragender Persönlichkeiten der Kunst und Litteratur? Man könnte ebensogut ein blofses Namensverzeichnis der Personen, der Orte etc., die in dem betreffenden Geschichtspensum enthalten sind, als System im Geschichtsunterricht ansehen.*) Zusammen- fassungen sind diese Reihen auch, aber man macht solche auf der II. formalen Stufe bei der Einprägung und nicht auf der Systemstufe. Denn halten wir fest, dafs die IV. Stufe ein Denk- resultat — Dörpfeld fafst ja mit gutem Bedacht die Association und das System unter dem Namen »Denken« zusammen , das Ergebnis von Gedankenkombinationen und Vergleichungen, also etwas Abstraktes ist, so kann man eine chronologische Reihe nicht als System, sondern nur als eine Zusammenfassung auf der II. Stufe ansehen. Das System im übrigen Gesinnungsunterricht enthalt die Quintessenz der Gedanken, die man aus dem vor- liegenden Stoff entwickelt hat; die Geschichtstabelle enthält nur das Gerippe des vorliegenden Stoffes selbst, nicht die Denk- resultate, gehört also nicht auf die IV., sondern auf die II. Stufe und zwar, wie gleich hinzugefügt sein möge, an das Ende derselben. Luthers Geburt 1483, Eintritt ins Kloster 1505, Beginn der Refor- mation etc., Schlacht am Lech 955, Schlacht bei Merseburg u. s. w.

♦) Allerdings haben »Hermann und Krell < dies auch fertig gebracht, Vergl. obige Anführungen: »Fürstenreihe«.

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ist doch handgreiflich konkretes Material. Und wollte man sagoi, dafs man die Zahl auf der II. Stufe gar nicht erwähnen walte, sondern erst auf der IV., damit letztere nicht eine blofse Wieder- holung der ersteren sei, so wäre zu entgegnen, dafs die Angabe der Jahreszahl zur Vollständigkeit der Begebenheit gehört, und dafs die II. Stufe unvollständig ist, wenn die Jahreszahl unerwähnt bleibt. Die Denkthätigkeit aber, die nötig ist, um die Zahl aus dem übrigen Material herauszuschälen, ist beispielsweise eine noch viel geringere, als die Erarbeitung von Überschriften über die Teile des konkreten Materials, das Disponieren über den Stoff. Füglich müfste jedes Einteilen und Ordnen des Konkreten, sei es. zu welchem Zwecke es auch sei, ein System und zwar ein System im Sinne Zillers sein.

Damit sind wir schon zu Punkt 2 gekommen, und es fragt sich hier: Sind die Übersichten über Stoffganze, wie sie z. B Zillig über Friedrich d. Gr. gegeben hat, Systeme im Geschichts- unterricht ? Auch dies mufs ich verneinen und zwar aus denselben Gründen, als es bei Punkt 1 geschehen. Das Ordnen des kon- kreten Stoffes gehört nun einmal auf die II. Stufe, eben weil er auf dieser Stufe dargeboten wird und auch die Darbietung über- sichtlich sein mufs und ohne jenes Ordnen nicht klar genug ist Wie die Darbietung im einzelnen klar sein mufs, so auch im ganzen ; diese übersichtliche Ordnung vollendet erst die Klarheit gehört also auf die II. Stufe. Wenn sie vollendet ist, dann erst kann die Abstraktion, das Denken beginnen. Jene Anordnung des Stoffes erfordert ja wohl ein Denken im allgemeinen Sinn, wie ja auf allen Unterrichtsstufen gedacht werden mufs, aber diese Überschriftensammlung enthält weder etwas »Begriffliches«, noch etwas > Abstraktes c, nichts »Allgemein-Giltiges«, nichts »Objektives Im Religionsunterricht ist ja auch dieselbe Thätigkeit, das Zer- legen des Ganzen in seine einzelnen Teile und das Finden der Überschriften, das Disponieren über die einzelne Geschichte eine Arbeit der II. Stufe. *) Ob ich nun über kleinere oder gröfscre StofTmengen Überschriften setze, sie zwecks klareren Überschauens nach Gesichtspunkten ordne, kann doch der Art nach nichts Ver- schiedenes, können doch nicht verschiedene Geistesthätigkeiteri sein. Jene Dispositionen und übersichtliche Zusammenfassungen sind ja an und für sich richtig, aber es ist falsch, dafs man sie als System ansieht; sie bilden eben das Ende der Klarheit. Wäre nun über den betreffenden Abschnitt nichts weiter zu sagen ge- wesen, so hätte er eben nur 2 und nicht 5 Stufen gehabt ; es wäre also keine Einheit im Sinne Zillers gewesen.

Dafs auf der IV. Stufe noch viel konkretes Material auftritt,

*) Siehe : Präparationen für den biblischen Geschichtsunterricht von Dr. Staude.

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ist sehr deutlich auch aus den oben mitgeteilten Anführungen aus den Präparationen über die thüringischen Sagen von Dr. Göpfert ersichtlich. Da heifst es:' »Um das Jahr 500 war Thüringen ein Königreich. Die Franken und Sachsen besiegten die Thüringer und teilten ihr Reich. Die Thüringer waren noch Heiden« u. s. w. Das ist doch eine geschichtliche Erzählung, nur etwas summarisch, aber doch konkret. Sie ist ganz so, als wenn ich von den Kindern Israel erzähle: Thaten die Kinder Israel Sünde, so gab sie der Herr unter die Hand ihrer Feinde ; bekehrten sie sich aber, so erweckte ihnen Gott einen Richter, der sie von der Hand ihrer Feinde befreite. Das müfste dann ebenfalls auf der Systemstufe stehen, aber bis jetzt ist dies wohl noch von niemand als System der Richtergeschichte angesehen worden. Übrigens: Was schliefst sich denn auch an diese Systeme, wie sie unter 1 und 2 mit- geteilt worden sind, für eine V. Stufe an, von der es heifst: »Sie durchläuft das System, produziert neue Glieder desselben und wacht über die Konsequenz seiner Anwendung«?*) Man kann nach der Erarbeitung solcher Systeme nur ein Durchlaufen der Geschichtszahlen vornehmen, die Geschichtstabelle wiederholen oder die Übersichten einprägen. Aber wo bleibt die Anwendung? Hat der Zögling mit solchen Systemen eine einzige Einsicht ge- wonnen, nach der er nun sein Thun, sein Handeln richten, und an der er seine Gesinnung, sei es als Einzelwesen oder als Glied eines Volkes messen könne? Doch wir wollen nicht vorgreifen. Jene Übersichten sind doch nur eine gedrängte Synthese, ein Über- blick über ein gröfseres Stoflfganze (Siehe oben: »Siegfrieds Leben und Tod. I. Siegfrieds Jugend 1. 2. 3. u. s. w., ist eine General-Synthese, also kein System). Darum nochmals: Jahres- zahlen, Übersichten, Namenreihen sind konkretes Material und ge- hören auf die II. und nicht auf die IV. Stufe.

3. Ebenso verhält es sich mit dem kulturgeschichtlichen Material. Es liegt ja schon im Namen Kulturgeschichtliches. Das Ge- schichtliche, das Geschehene, die beglaubigte Nachricht ist doch das wirkliche, gegebene Material, das im Unterricht darzubieten ist. Wenn das Kulturgeschichtliche auch meist durch sog. dar- stellenden Unterricht an die Kinder herangebracht wird, so ist es deshalb doch gegebener Stoff wie jeder erzählte Abschnitt, der nun erst nach seinen Ursachen, Wirkungen und Folgen durchdacht werden soll. Dabei wird es sich finden, ob das Durchdenken zu einem* allgemeingiltigen Resultate führt. Dasselbe wäre dann das geschichtliche, das kulturgeschichtliche System. So aber bricht in obigen Beispielen der Unterricht vor der Abstraktionsarbeit ab, setzt aber aus welchem Grunde, weifs ich nicht III. und IV. Stufe in die Präparationen. Man sehe nur jene aus den

') Herbart, Allg. Päd. S. 39. (Ausg. v. Mann.)

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Präparationen von Hermann und Krell mitgeteilten Stellen darauf- hin an. »Ein Ketzer verfiel dem Ketzergericht. Ihn traf die Ver- fluchung des Papstes, Verfolgung, Ausschluss aus der Kirche« . . . bis: Zu Luthers Zeit verloren aber die Strafen an Wirkung.« Und: »Der Reichstag war vom jungen Kaiser Karl V. ein- berufen worden. Er war zusammengesetzt aus* ... ... »Die Reichsacht enthielt fast dieselben Strafen wie die Bannbulle u. s. w.

Ich kann mir kaum eine ärgere Begriffsverwirrung denken, als die, diese Sätze als systematisches Material anzusehen und sie auf die IV. Stufe zu bringen. Sie sind doch weiter nichts als das Hauptsächlichste aus dem konkreten Material, aber darum doch konkret, und eben deshalb müssen sie auf der II. und nicht auf der IV. Stufe hervorgehoben werden.

Man könnte nun einwenden: Auf der II. Stufe wird die Sache viel breiter, ausführlicher besprochen, da werden die Erklärungen viel weitschichtiger sein; hier auf der IV. Stufe steht nur die Hauptsache; und um dies anzudeuten, schreibt man lieber gar keine Sätze, sondern einfach Stichworte hin, die sich die Kinder aus der breiten Unterlage der II. Stufe »abstrahieren« sollen. (Vergl. obige Mitteilungen aus Göpfert und Staude, Präpara- tionen etc.): »Bündnis«, »Krieg«, »Angriff« u. s. w. Ja, könnte man sagen, Ziller hat ja das auch gemeint, wenn er sagt, das > Be- griffliche« und »Gesetzliche« solle auf der IV. Stufe heraus- gehoben werden. Was ist darauf zu erwidern? Zunächst wäre festzustellen, ob diese Stichworte wirklich geschichtliche Be- griffe oder nur Hinweisungen auf den vorliegenden Stoff sein sollen. Wären sie letzteres, so wären sie konkret, das richtete sie, sie gehörten dann auf die II. Stufe. * Bündnis« bedeutete dann weiter nichts, als: Die Franken und Sachsen schlössen ein Bündnis. Sollen sie aber geschichtliche Begriffe darstellen, so vertreten sie eine mehr oder weniger vollkommene Definition. Ich denke mir alsdann das Lesen dieser Stichwortreihe so: »Bünd- nis«. Bündnis ist die Vereinigung zweier oder u. s. w. »Krieg«. Krieg ist u. s. f. »Schlacht«. Schlacht ist u. s. w. Denn so an- gesehen, haben sie wirklich eine abstrakte Form und einen allge- meingiltigen Charakter, gehören also auf das System. Aber es fragt sich nur: Wollen wir solche Definitionen in den Unterricht hineinbringen ? Offenbar ist : Zweck haben sie nicht. Wir können uns vollständig mit dem psychischen Begriff zufrieden geben, der bei der Darbietung und Erklärung sich mit den dargebotenen Worten verknüpft. Im Religionsunterricht, dem nächsten Ver- wandten zu der Geschichte, entwickeln wir auch nicht: Gottver- trauen ist das Gefühl u. s. w., Demut ist u. s. f., und doch lernen wir : Vertrau' auf Gott und lafs ihn walten. Wozu also diese paar geschichtlichen Begriffe definieren? Ich glaube gern, dafs man es auch nicht beabsichtigt hat, denn ich könnte, würde ich dazu

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aufgefordert, es jetzt auch nicht und weifs doch, was Krieg, Schlacht und dergl. ist. Sollen die Sprichwörter aber nur be- deuten: Manche Völker haben ein Bündnis geschlossen und mit einem anderen Krieg angefangen, darin haben sie viel Schlachten gewonnen, dann halte ich sie für sehr überflüssig. Also weg damit; sie sehen so geheimnisvoll -wichtig aus, und man weifs nicht, was sie bedeuten sollen.*)

4. Wir kommen zu den religiösen Systemen. Besonders Hermann und Krell haben viele speziell religiöse Systeme auf- gestellt; man vergleiche das von Luthers Gottvertrauen und dem Unterschiede der Konfessionen Gesagte. Es ist hier die Grenze zwischen Geschichts- und Religionsunterricht, die trotz der Ver- wandtschaft der beiden Fächer doch gezogen werden mufs, über- schritten und in der Geschichte Religionsunterricht getrieben worden. Das soll nicht sein. Vielmehr hätte der Geschichts- unterricht nur die Besprechung auf das religiöse Material ausdehnen, die Gewinnung des Systems aber in den Religionsunterricht ver- weisen müssen; denn das System drückt dem Fache den eigen- artigen Stempel auf, läfst den Charakter des Faches erkennen.

*) Es liegt in jenen Systemen ein Widerspruch gegen die sonstige Gestaltung dieser Unterrichtsstufe, den Ziller selbst durch den Paragraphen über Assoziation, System und Methode in seinen Vorlesungen veranlafst hat; er ist auch in jenem Abschnitt selbst zu finden. Einesteils hebt Ziller dort hervor, dafs mit der III. Stufe der Abstraktionsprozefs beginne und das Resultat desselben, das gewonnene, also abstrakte Material, das »Allge- meingiltige«, das »Objektive« auf der Stufe des Systems herausgehoben werden müsse ; anderenteils bezieht er diese Worte auf offenbar konkretes Material, auf eine Geschichtstabelle, auf selbst erarbeitete Leitfäden u. drgl. Diese letzteren enthalten doch wohl auch noch konkretes Material. Es ist doch nicht anzunehmen, dafs in ihnen nur Abstraktes, nur Regeln, Gesetze, Sprüche und dergl. auftreten sollen. Wenn das Selbsterarbeitete mit dem Lehrbuch verglichen wird, so handelt es sich doch mehr um Konkretes, als um Abstraktes, denn das Lehrbuch enthält doch mehr des ersteren als des letzteren. Die Geschichtstabelle ist doch nichts »Allgemein-Giltiges«, nichts »Objektives«, wenigstens nicht mehr als jedes Kleinste des Ge- schichtsabschnittes, soweit es beglaubigt, d. h. eben Geschichte ist. Be- trachte ich den Geschichtsunterricht als einen Teil des Gesinnungsunter- richts, so ist die Geschichtszahl an sich etwas höchst Gleichgiltiges, das Ethische oder auch ein zugrunde liegendes Gesetz der kulturellen Ent- wickelung ist dann mehr wert.

Die exakte Zeichnung im geoeraphischen Unterricht ist doch nur das konkrete Material in knappster Form; sie vollendet erst die Klarheit, die 'Anschauung des Stoffes. Wie gehört sie also auf die Stufe des Systems? Es ergiebt sich daraus, dafs ZilTers allgemeine Worte über das System im Widerspruch mit den von ihm selbst angeführten Beispielen stehen, indem seine allgemeinen Worte so zu verstehen sind, als ob auf das System nur Abstraktes gehöre, während die eignen Beispiele doch Konkretes bringen. Sollen aber solche konkrete Reihen als System angesehen werden, dann ist nicht abzusehen, wie vielerlei auf der IV. Stufe auftreten soll, und sie unterscheidet sich dann nicht wesentlich von der II. Stufe. Vergl. Prof. Gleichmann, über Herbarts Lehre von den formalen Stufen. Langensalza.

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Deshalb müssen die religiösen Systeme im Religionsunterricht ent- wickelt werden. Im Geschichtsunterricht lobt man das Gott- vertrauen Luthers, seinen daraus entstandenen Mut, der Menschen- furcht nicht kennt, erhebt sich aber nicht zu einem allgemeinen Satz über das Gottvertrauen ; dies geschieht dann im Religions- unterricht. So hat es auch Ziller gemeint, wenn er in seinen Vor- lesungen sagt*): »Wo demnach die Bearbeitung des sachlichen Stoffes« (aus einem anderen Fache) »dem betreffenden Unterricht selbst überlassen ist, da führt er seine Betrachtungen bis zum Schlüsse der Synthese so fort, als ob sie in sein Fach wirklich hereingehörten. Darüber hinaus beschränkt er aber seine Be- arbeitung suf das ihm Eigentümliche, das jenseit seiner Grenzen Liegende wird dagegen den Lehrfächern überlassen und zuge- wiesen, zu denen es wirklich gehört. Das Verfahren ist also dem ganz ähnlich, wie es nach dem Früheren mit rein sprachlichem und mathematischem Stoff gemacht werden mufs, der in nicht sprachlichen und mathematischen Fächern vorkommt.« Für den Sagenunterricht hat das freilich keine Geltung. In ihm dürfen religiöse Systeme in Gestalt von Bibelsprüchen und dergl. auf- treten. Die Behandlung der Sagen unterscheidet sich nicht von der Behandlung der biblischen Geschichten. Dagegen: »Wer mich bekennt vor den Menschen« etc., soll der Religionsunterricht er- arbeiten. Zu Luthers mutvollem Auftreten würde im Geschichts- unterricht passen: »Fürchte Gott, thue recht und scheue niemand«, oder: »Wer sich vor Menschen fürchtet, der thut Sünde.« **) Das ist aber ein ethisches System, und damit sind wir zum letzten Punkt, zur Besprechung

5. der ethischen Systeme

gekommen.

Wie die religiösen Systeme wirklich Systeme waren, die ihres abstrakten Charakters wegen auf die IV. Stufe im Religionsunter- richt gehörten, so sind auch die ethischen Systeme, wie sie in den Präparationen enthalten sind, mögen sie nun durch ein Bibel- wort, einen Ausspruch eines Dichters oder durch ein Sprichwort ausgedrückt sein, wirklich Systeme, d. h. etwas »Allgemein-Giltiges«, »Gesetzliches«, »Objektives«. Darin, dafs die Profangeschichte ganz vortrefflich geeignet ist, sittliche Grundsätze zutage zu fordern, besteht eben die enge Verwandtschaft zwischen Geschichts- und Religionsunterricht. Die ethischen Sätze sind auch in den Prä-, parationen von Göpfert und Staude in mustergiltiger Weise ent- wickelt und angewendet worden. Dagegen machen sich auch bei dieser Gelegenheit Hermann und Krell einer argen Verwechselung von Konkretem und Abstraktem schuldig. Die obigen unter

*) Ziller, Vorlesungen etc. 1. Aufl. S. 250. **) Aus Wildenbruch: »Ein neues Gebot«.

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> Ethisches c angeführten Sätze über Luther geben Zeugnis davon. > Luther kämpft für die Glaubenswahrheit unerschütterlich und unerbittlich« u. s. w. bis: »Das ewige Heil gilt ihm mehr als alles andere « . » Luther war ein starker Glaubensheld, überzeugungstreu wie Hufs und Bonifacius«. Dies und die angeführten Aussprüche Luthers sind sie systematisches, abstraktes Material? Die Zu- sammenfassung der Besprechung und Beurteilung am Ende der II. Stufe würde diese Form haben können; aber die 4. Stute müfste erst das Ergebnis einer daran angeschlossenen Assoziation sein und dann nicht eine Beurteilung des einen Falles, sondern eine allgemeine Wahrheit, einen allgemeinen Gesichtspunkt, nach dem alle ähnlichen Fälle zu beurteilen wären, enthalten. Das obige erste Beispiel enthält die Beurteilung, bezw. das Lob Luthers eine Arbeit der II. Stufe konkret. »Man mufs Gott mehr gehorchen, als den Menschen«, wäre die entsprechende IV. Stufe gewesen. Das zweite Beispiel ist nur eine Zusammenstellung, wie sie wohl die III. Stufe zu besorgen hat, aus der dann erst die IV. Stufe, die hier hätte heifsen können: »Sei getreu bis in den Tod« etc., hätte abstrahiert werden müssen. Aber damit wäre man wieder in den Religionsunterricht geraten. *)

Inbezug auf die ethischen Systeme wäre nur recht sehr zu wünschen, dafs dabei unsere Dichter und unsere Sprichwörter mehr noch als bisher zu Worte kommen möchten. Sollte sich in unserer Litteratur nicht ein auch in der Volksschule zu verwerten- der Ausspruch über Menschenfurcht und Überzeugungstreue finden, der seiner klassischen Form wegen verdiente, als System im Ge- schichtsunterricht verwertet zu werden ? Die Sentenzen der Klassiker könnten auf diese Weise gute Verwendung finden und Einflufs auf das Volk ausüben und das um so mehr, als in der Geschichte für diese allgemeinen Sätze ein noch besserer konkreter Hinter- grund vorhanden ist, als in den Dichtungen selbst. Darum noch mehr solche Beispiele wie :

»Ans Vaterland, ans teure« etc.

»Wir wollen sein ein einig Volk« etc.

»Einigkeit und Recht und Freiheit« etc.

Das Sprichwort, mit Recht schon die Gassenphilosophie ge- nannt, würde oft ganz geeignet sein, den in der Geschichte liegen- den Gedanken den rechten Ausdruck zu verleihen. In den Prä-

*) Wer sich übrigens das Buch von Hermann und Krell, das für die II. Stufe sehr schätzenswertes Material bietet, näher ansehen will, wird bei den übrigen Präparationen inbezug auf die HI. und IV. Stufe denselben Ungereimtheiten begegnen. (Siehe die »Besprechung einiger Geschichts- präparationen« von E. Scholz, Päd. Studien 90, II. Heft und die »Grund- sätze f. d. Beurteilung von Präp. aus der Gesch.«, im II. Seminarheft, Langen- salza, Beyer u. S., 1890.)

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parationen über die Nibelungensage ist es auch, wenn auch meist nur auf der V. Stufe, trefflich herangezogen.

Nach den obigen Andeutungen, dafs der Geschichtsunterricht mit dem Religionsunterricht so eng verwandt sei, und dafs nur den ethischen Systemen eine Berechtigung für die Systemstufe im Geschichtsunterricht zugesprochen werden kann, könnte es scheinen, als sollte dem Geschichtsunterrichte nur eine dienende Rolle für den Religionsunterricht zugewiesen werden, als hätte er nur den Zweck, den Religionsunterricht als den eigentlichen Gesinnungsunterricht zu unterstützen und ihn nur mit dem nötigen konkreten Material zu versehen. Es ist klar, dafs dieser Dienst von einem blofs biographischen Geschichtsunterricht, ja von einer zusammenhanglosen Anzahl ethischer Geschichten aus dem Volksleben, wie sie in Lesebüchern zu finden sind, ebensogut, vielleicht noch besser geleistet werden könnte. Wie aber aus dem folgenden, worin es sich um die Frage handeln wird:

Giebt es keine Systeme, die man als die speziell geschicht- lichen ansehen könnte ?

hervorgehen dürfte, ist der Geschichtsunterricht nicht zu einem blofsen Diener des Religionsunterrichts gemacht, sondern es ist ihm die bedeutende Aufgabe gestellt, der Erzieher seines Volkes zu werden. »Die Geschichte soll die Erzieherin der Menschheit sein, und wenn sie es nicht wird, so tragen die Jugendlehrer der Geschichte einen grofsen Teil der Schuld.« *) Wenn aber die Geschichte die Erzieherin der Menschheit werden soll, dann mufs doch aus der Vergangenheit das Verständnis der Gegenwart er- wachsen — wie auch Öfter hervorgehoben wird ; dann mufs uns die Vergangenheit auch die Grundsätze lehren, nach denen sich das Leben der Gegenwart, sagen wir deutlicher das Staats- leben der Gegenwart und das Leben des Einzelnen im Staate zu richten hat. Diese Grundsätze und Einsichten würden das eigent- liche System des Geschichtsunterrichts ausfüllen. Um diese zutage zu fördern, bedarf es freilich der Kenntnis der Ursachen und Wirkungen der kulturellen Fortschritte; erst wenn eine klare Ein- sicht in die Ursachen und Folgen der Geschichtsbegebenheiten und -Perioden erzielt ist, werden daraus Normen für unsere Gegen- wart abgeleitet werden können. Dieie werden nun zum teil nur für das deutsche Volk gelten, also weniger allgemeinen Charakter tragen, zum teil für die gesamte Menschheit Geltung haben. Das Begriffliche wird dabei fast ganz ausgeschieden sein ; es wird sich lediglich um Gesetzliches handeln.

Wenn Karls des Grofsen Greuelthaten gegen die Sachsen, die er zum Christentume zwingt, Karls V. Verhalten gegen die Prote-

*) Herbart, Umrifs päd. Vorlesungen. S. 253. Ausg. v. Mann.

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stanten, Ferdinands II. Grausamkeit gegen seine protestantischen Unterthanen getadelt werden, dagegen Friedrichs des Grofsen humaner, duldsamer Sinn gegen jedes Glaubensbekenntnis, der sich in dem drastischen Wort zu erkennen giebt: >In meinem Reiche soll jeder nach seiner Facon selig werden«, gelobt und diesem der betreffende Satz ans dem Erlafs Kaiser Friedrichs III. bei seinem Regierungsantritt, dafs Katholiken sowohl als Prote- stanten seines Schutzes sicher sein könnten, an die Seite gestellt wird, so wird man doch auch in den einfachsten Schulverhältnissen den Satz abstrahieren können : Kein Staat soll Glaubens- und Ge- wissenszwang ausüben. Das ist ein Ergebnis der geschichtlichen Entwickelung, eine geschichtliche Lehre und darum ein System im Geschichtsunterricht. Aus dem Vergleich der Erfolge des Hufs und Luthers ist zu erkennen: Die Kultur schreitet nicht sprungweise vorwärts; grofse Ereignisse müssen von langer Hand vorbereitet werden. Die grofsen Reformer haben ihre Vorläufer. Der Erfolg hängt nicht nur von den einzelnen grofsen Männern, sondern auch davon ab, wieweit das Auftreten der Männer im Volk verbreitet ist. Aus den Irrtümern grofser Männer, die wir trotz ihrer grofsen Verdienste konstatieren müssen, ergiebt sich : »Wer den Besten seiner Zeit genug gethan, der hat gelebt für alle Zeiten.« Schiller leitet seine Geschichte des dreifsig- jährigen Krieges ein mit den Worten: »Seit dem Anfang des Religionskriegs in Deutschland bis zum Münsterischen Frieden ist in der politischen Welt Europens kaum etwas Grofses und Merk- würdiges geschehen, woran die Reformation nicht den vornehmsten Anteil gehabt hätte.« Dazu: Religiöse Bewegungen haben Einflufs auf die Politik. Auch das ist ein geschichtliches System voraus- gesetzt, dafs die Kinder diese Behauptung selbst abstrahiert haben. Die Behandlung der Kreuzzüge würde, wie Gustav Freitag hervorhebt, ergeben, dafs die Kreuzzüge das deutsche Volk für die christliche Religion erst eigentlich begeistert haben. Dafs die Deutschen für ihren neuen Gott und dieser war Christus kämpfen durften, dafs sie derselbe wie einst der Gott der Ger- manen — Wodan zum Kampfe aufrief, machte ihnen das Christentum erst volkstümlich. Die Kreuzzüge vollendeten also gewissermafsen erst die Bekehrung der Deutschen zum Christen- tum. Daraus wäre zu erkennen: Eine neue Lehre findet um so eher Eingang, je mehr sie mit der alten verwandt ist. Wenn die Kinder erkennen, dafs Bonifacius neben und mit dem Christen- tum zugleich das römische Joch gebracht hat, das selbst die Reformation und unsere Zeit noch nicht gebrochen, so erfassen sie damit ein kulturgeschichtliches Moment, das für die Weiter- entwickelung der deutschen Geschichte sehr bedeutungsvoll ge- worden ist. Der darin verborgene allgemeine Gedanke dürfte von Göthe mit den Worten: »Es erben sich Gesetz und Rechte wie

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eine ewige Krankheit fort«, trefflich ausgedrückt sein. »Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann sich kein Gebild gestalten« etc., das dürfte das passendste Wort zur Schreckensherrschaft der französischen Revolution, die ja auch Schiller zu diesem Ausspruch veranlafste, sein.

Zur Entwickelung der patriotischen Forderungen erscheint die neuere preufsisch-deutsche Geschichte als ganz besonders geeignet. Dabei können dieselben Forderungen mit anderen Dichterworten öfter als System auftreten, ähnlich, wie auch verschiedene Sprüche über das Gottvertrauen bei verschiedenen Gelegenheiten als System entwickelt werden.

Damit genug. Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, alle Geschichtspartieen in dieser Weise zu durchsuchen und ihren all- gemein-giltigen Inhalt zu abstrahieren. Die angeführten Beispiele sollten nur den Zweck haben, die Art der Systeme, wie sie der Geschichtsunterricht nicht entwickelt hat, zu verdeutlichen. Aus ihnen dürfte zu ersehen sein, dafs diese Systeme vorzüglich zweierlei enthalten:

1 . Entwicklungsgesetze,

2. Grundsätze für das Staats- und Verfassungsleben.*) Wenn der Abstraktionsprozefs solche Grundsätze entwickelt

hat, dann wäre es als eine sehr fruchtbare Arbeit der V. Stufe, der Methode anzusehen, wenn auf derselben das entsprechende Stück der Verfassung zur Kenntnis der Kinder gelangte. Es will mir scheinen, als ob dadurch auch die Frage über die Einführung der Gesetzeskunde in die Volksschule ihre Erledigung finden könnte. Es drängt ja auch die Kinder dazu, wenn die Vergangen- heit sie einen solchen Grundsatz gelehrt hat, zu fragen: Wie ist es jetzt bei uns? Es erfolge also das Lesen des entsprechenden Verfassungsabschnittes. Wenn die Schüler aus der freiheitlichen Bewegung unseres Jahrhunderts eingesehen haben, dafs das will- kürliche Regiment eines freien Mannes unwürdig ist und ein ge- reiftes Volk an der Regierung teilnehmen soll, so müfste auf der V. Stufe die Einführung in unsere Reichs- und Landeskonstitutionen erfolgen. Dabei könnten dem Schüler so recht die Pflichten des Einzelnen im Reich und im Staat vor die Augen geführt werden; der Geschichtsunterricht hätte damit für die Gegenwart erzogen. Ängstliche Gemüter könnten vor diesem Hineintragen der Politik in die Volksschule zurückschrecken; aber es handelt sich hier nicht um eine Besprechung der Tagespolitik, sondern um eine Aufklärung über unsere politischen, d. h. öffentlichen Angelegen- heiten, zu deren Besprechung ein nach obigen Andeutungen ein- gerichteter Geschichtsunterricht drängt. Es soll hier nur ange-

*) Ein System dieser Art ist übrigens im 8. Schuljahr, S. 32 zu finden, nämlich: »Das Schicksal der Staaten hängt weniger ab von ihren Kräften, als von wenigen grofsen Menschen« etc.

deutet werden, dafs ein solcher Geschichtsunterricht recht wohl imstande sein dürfte, der Sozialdemokratie in vorzüglichster Weise entgegenzuarbeiten. *)

Kehren wir von dieser Abschweifung zu dem eigentlichen Thema zurück, so wäre noch zu bemerken, dafs durch Erarbeitung dieser Systeme der Geschichtsunterricht mehr den Charakter der Kulturgeschichte annimmt, als bisher. Ein Anfang dieses kultur- geschichtlichen Unterrichts liegt meines Wissens nur in Thrändorfs Abhandlungen und Präparationen zur Kirchengeschichte vor. Die Systeme unserer Kulturgeschichte müfsten einen ganz ähnlichen Charakter wie die in den Thrändortschen Präparationen, sie müfsten, ich will einmal sagen, einen philosophischen Charakter tragen. Denn »der Unterschied zwischen pädagogischer Kirchengeschichte und kulturgeschichtlicher Profangeschichte ist ein fliefsender. **) Obiger Satz: Kein Staat soll Glaubens- und Gewissenszwang aus- üben, dürfte den engen Zusammenhang dieser beiden Geschichts- partieen deutlich zeigen.

Die Arbeit, die also noch zu leisten wäre, wäre die, dafs die einzelnen Geschichtsabschnitte durchforscht und ihre allgemein- giltigen Resultate dargestellt würden. Dafs es an dieser Arbeit bis jetzt noch mangelt, ist bereits von Prof. Vogt in den Ver- handlungen des V. f. w. Pädagogik ausgesprochen worden und zwar in folgenden Worten***) : Von geschichtlichen Gesetzen reden, wie Ziller ... es gethan, weil ja das Kausalitätsgesetz in An- wendung komme, dies kann man immerhin thun ; aber einen be- stimmten Inhalt würden jene Gesetze erst gewinnen, wenn auf Grund komparativer Geschichtsforschung die Phasen der Ausgestaltung zu einem Typus, der bei verschiedenen Völkern wohl das Aussehen, aber nicht sein Wesen ändern kann, erkannt wären. Die Gesetze, wie ich sie nach obigem im Auge habe, tragen allerdings einen elementareren Charakter, als die, welche hier gemeint sein dürften, aber auch sie sind bis jetzt nirgends zur Darstellung gekommen. Vielmehr ist es Thatsache, dafs die Ge-

*) Zu zeigen, wie dies im einzelnen geschehen könne, dazu bedürfte es einer besonderen Abhandlung. So viel Andeutungen aber dürtten hier- über doch im obigen anthalten sein, dafs jene Behauptung hier nicht als blolse Phrase erschiene. Nur eine Bemerkung vermag ich zu diesem Thema nicht zu unterdrücken. Der Geschichtsunterricht hat bisher dem Volke solche Grundsätze Über Staat und Verfassung nicht gegeben. Es blieb also hier eine Lücke. Dieselbe füllten die Sozialdemokraten mit ihren schmeichel- haften, phantastischen Grundsätzen aus. Im Bewufstsein des Einzelnen war also kein Moment vorhanden das religiöse von Gottes Ordnung im Staate erwies sich allein als zu schwach , das den Kampf mit jenen Irr- lehren aufgenommen hätte. Ohne grofse Mühe war daher der Mann aus dem Volke im Banne des Sozialismus.

Dr. Thrändorf i. Jahrbuch d. V. f. w. P. XXII. S. 107. *•*) Erläuterungen z. Jahrbuch d. V. f. w. P. XIV. S. 4».

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Schichtsforschung sich bisher mehr auf die blofse Darstellung des wirklich Geschehenen beschränkt und die Herausarbeitung und Ab- leitung allgemeiner Gesichtspunkte hintangesetzt hat. Es ist das auch wohl mehr eine Arbeit des Philosophen, als des Geschichts- schreibers. Von wem sie aber auch geleistet werden möge, die Pädagogik, als die Verwenderin der Geschichte zum Erziehungs- zweck, kann ihrer nicht entbehren.

Damit bin ich am Schlufs. Wenn diese Zeilen aul jenen Mangel aufmerksam gemacht und vielleicht dazu beigetragen hätten, dafs berufenere Federn jenen Punkt ins Auge fassen und damit dem Geschichtsunterricht eine vollständigere Gestaltung und einen gesteigerten erziehlichen Wert verleihen würden, so hätten sie ihren Zweck nicht verfehlt.*)

B. Mitteilungen. I. Der deutsche Einheitsschulverein im Jahre 1890.

Der deutsche Einheitsschulverein hat im vergangenen Jahre eine Hauptversammlung nicht gehalten. Nach einem im Anfang des Jahres ge- fafsten Beschlüsse des Vorstandes sollte eine solche im Herbst zu Giefsen stattfinden, die Rücksicht auf die bevorstehende Berliner Schulreform- konferenz nötigte jedoch dazu sie aufzugeben. Gleichwohl hat die Thäüg- keit des Vereins auch im vorigen Jahre nicht geruht, ja seine Bestrebungen sind mehr gefördert als in einem der früheren Vereinsjahre.

Von den Vereins-Schriften sind zwei weitere Hefte (das 6. und 7.} er- schienen, aber auch andere Aufsätze zur Schulreform sind von Mitgliedern des Vereins veröffentlicht. Im sechsten Hefte der Schriften hat der Unter- zeichnete ein geistvolles Werk von Nicola Fornelli besprochen, welches zeigt, dafs es auch in Italien Einheitsschulbestrebungen giebt; namentlich aber hat Prof. Dr. Lothar Meyer in Tübingen seine Ansicht über die Schulreform klar und kurz vorgeführt. Er tritt hier für die weitere Fassung der Einheitsschulidee ein, welcher auch der Unterzeichnete, aber nicht alle Mitglieder des Vereins zustimmen »Wenn die Leiter und Vertreter des humanistischen Gymnasiums nicht den Mut haben,« sagt er S. 27, »sein

*) Wir erlauben uns hier auf eine interessante Beleuchtung des Ge- schichtsunterrichts von dem bekannten Professor der Geschichte O. Lorenz in Jena hinzuweisen: O. Lorenz, Der Geschichtsunterricht in »Geschichts- wissenschaft« etc. 2. Teil. Leipzig 1891.

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Gebiet zu erweitern, indem sie es auch zur Vorbildung der künf- tigen wissenschaftlich gebildeten Techniker geeignet machen, so wird sich dieses Gebiet sehr bald verkleinern und enger begrenzen. Stillstand ist hier Rückgang. Die angewandte Mathematik und Naturwissen- schaft ist in unserm Jahrhundert eine Macht geworden, mit der man rechnen mufs. Jetzt sind auf diesem weiten Gebiete noch Männer thätig, welche den Wert der humanistischen Schulbildung zu schätzen wissen. Die nächste Generation wird dies weniger thun. Versäumt man die Zeit, sie zu ge- winnen, so fallen nach ihnen sicher auch die Mediziner ab, und im 2osten Jahrhundert verzichten dann wohl auch die Juristen und vielleicht sogar die Theologen auf die Kenntnis des Griechischen.« Aber es ist natürlich nicht allein die Schulpolitik, welche Lothar Meyers Urteil bestimmt, sondern vor allem die Überzeugung, dafs kein innerer Grund vorhanden sei, die technische Hochschule anders zu behandeln als die Uni- versität. In dieser Ansicht tritt ihmein anderes Mitglied unseres Vereins, der Professor der Mathematik Dr. Alex. Brill in Tübingen, zur Seite. In seinem Vortrage über »die Schulreform und den Unterricht in Mathematik und Zeichnen auf dem Gymnasium,« erschienen 1890 in Darmstadt bei L. Brill, sagt er S. 20: >Wie die Technik selbst aus dem niederen Stande handwerksmäfsigcr Routine sich zu einer Anwendung der Mathematik, Physik, Chemie empor- geschwungen hat, so haben die technischen Hochschulen sich der Univer- sität an die Seite gestellt und verlangen vom Staate gleiche Pflege und gleiche Rücksicht, wie sie die alma mater geniefst. Wenn es nun möglich erscheint, die Vorbildung der Ersten in den technischen Berufszweigen dem Gymnasium durch kleine Änderungen des Lehrplanes zu erhalten, und wenn durch sie zugleich den Ausstellungen der Mediziner an der Universität und aller, die an das Auge der Studierenden Anspruch erheben, Rechnung getragen wird, so dürfte ein Versuch in der angegebenen Richtung sich lohnen.« Die kleinen Änderungen des gymnasialen Lehrplans, die Brill meint, sind dieselben wie die auch von Lothar Meyer empfohlenen: nicht Vermehrung der Stundenzahl in Mathematik und Naturwissenschaften, aber Besserung der Methode in diesen Fächern und Anerkennung des gleichen Wertes einer mathematisch- naturwissenschaftlichen Schulung neben der sprachlich-historischen, Einführung in die französische und englische Sprache (S. 11) und vor allem Erweiterung des Zeichenunterrichts als des besten Mittels, das Auge und die Anschauung zu üben. Insbesondere tritt Brill lebhaft und überzeugend dafür ein, die Elemente der darstellenden Geo- metrie — oder, wie man vielleicht besser sagt, die Projektionslchre in den gymnasialen Lehrplan aufzunehmen. In der Münchner Allgemeinen Zeitung vom 27. Januar 1S91 hat er mit Rücksicht auf die in Baiern ins Auge gefalste Schulreform noch einmal in eingehender Ausführung diese Forderung begründet.

Weit abweichend wird der Grundgedanke des Einheitsschulvereins ausgestaltet von Juling in der Abhandlung »Das Gymnasium mit zehn- jährigem Kursus« (Heft 7 der Vereinsschriften) Sein Grundsatz ist: Jedem Schüler seine Schule, jeder Schule ihre Schüler, und er glaubt

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ihn verwirklichen zu können durch Hinaufschiebung des Lateinischen in die Quarta und Herstellung eines gemeinsamen Unterbaus aller Schularten bis zur Quinta einschliefslich. Dagegen erklärt er mit vollem Recht den sechsjährigen Unterbau (die sog. einheitliche Mittelschule) für unausführbar, ja er hält seinen eigenen Vorschlag nur dann für praktisch, wenn man das Gymnasium von dem jetzt neunjährigen auf einen zehnjährigen Lehrgang erweitert. Denn nur so wird es ihm möglich, dem Lateinischen noch acht, dem Griechischen sechs Jahrgänge zu lassen, was er mit Recht für not- wendig erklärt. Als Vorteile dieser Reform giebt er folgende an: Ersten» braucht man nicht vor dem Eintritt in die Quarta zwischen Gymnasium oder Realschule zu wählen. Aber dieser Vorteil ist nichtig; denn der elfjährige Knabe kann sich selbst ebenso wenig für einen Berufskreis entscheiden wie der neunjährige, und wenn die Eltern schon frühzeitig den künftigen Beruf ihres Sohnes wissen, so ist das, wie Juling selbst anführt, aus Gründen der Fall, die auch zwei Jahre vorher schon ganz in derselben Weise wirken müssen (vergl. S. 26 unten). Zweitens werden unbegabte Kinder aus niederen Ständen nicht mehr auf dem Gymnasium festgehalten, und umgekehrt werde n hoch- begabte, aber wenig bemittelte Schüler dem Gymnasium leichter zugeführt. Schwache Schüler, wes Standes sie auch seien, können vor dem Eintritt ins Gymnasium entfernt werden, tüchtige finden den Weg dahin leichter. Aber weshalb ist hiezu ein Unterbau nötig? Es ist sehr leicht, der höheren Bürgerschule Neben- kurse zuzufügen, welche die Notwendigkeit der Wahl selbst bis Untertertia hinausschieben und die Auswahl der tüchtigen Schüler für das Gymnasium noch mehr erleichtern als Julings allzu kleiner Unterbau. Und wird die liebe Eitelkeit der Eltern, von der doch Juling selbst S. 27 spricht, nicht den bequemen Weg zum Gymnasium häufiger als wünschenswert betreten? Andererseits wird das Gymnasium dann immer am frühsten und sichersten ungeeignete Schüler entfernen können, wenn es von vornherein auf seinen eigentlichen Zweck, Gelehrtenschule zu sein, eingerichtet wird, wenn es also das Lateinische in Sexta behält. Aber wenn man auch für die be- sonders schwachen und die besonders begabten Schüler zugeben will, dafs Julings Reform einigen Vorteil biete : Die Entscheidung über das Mittelgut der Schüler aus besseren Ständen, d. h. über die grofse Hauptmasse der Gymnasialschüler, wird nach seinem eigenen Zugeständnis auch beim Ein- tritt in Quarta noch zweifelhaft bleiben; im grofsen und ganzen sind also die Vorteile eines so kurzen Unterbaus nichtig. Auch das hilft nicht weiter, dafs für die nächsten zwei Jahre der Unterschied beider Schularten bei Juling noch ziemlich gering bleibt; denn auch dieses ist ohne Unterbau ebenfalls erreichbar. Und wenn endlich Juling ausführt, dafs sein zehn- jähriges Gymnasium wirklich von allen Schülern in zehn Jahren durch- gemacht werden könne (vrgl. bes. S. 61 f.), so bin ich fast zweifelhaft, ob er das selbst glaubt. Denn wenn er meint, dafs in die Quarta wegen Sitzenbleibens häufig 12-, zum Teil 13 jährige Schüler kommen werden, und dafs die Schüler seiner künftigen höheren Bürgerschulen den Einjährigen-

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schein oft erst ein Jahr später oder mit 17—18 Jahren erreichen werden, sollte dann nicht auch in den Gymnasialklassen das Sitzenbleiben häufig vorkommen? Und jedenfalls werden doch alle die, die in Sexta oder Quinta sitzen bleiben, ohne abzugehen, mehr als zehn Jahre für das ganze Gymnasium nötig haben. In Wirklichkeit würde ohne Zweifel das zehn- jährige Gymnasium auch das Durchschnittsalter der Abgehenden etwa um ein Jahr erhöhen. Darauf aber wird niemand gern eingehen, da ohnehin schon der Bildungsgang der gelehrten Stände sehr lang ist.

Trotz aller dieser Bedenken hat neuerdings auch Fr ick, der früher anderer Meinung war, sich dem Gedanken Julings angeschlossen und im 26. Hefte der Lehrproben ebenfalls ein zehnjähriges Gymnasium mit einem zweijährigen Unterbau, den es mit allen höheren Schulen gemeinsam haben soll, verteidigt. Aber seine Begründung weicht von der Julings ab. Er findet den allgemeinen Fehler des bestehenden Schulwesens darin, dafs ihm der Charakter des Organischen fehlt, und glaubt durch den Unterbau das gesamte Schulwesen zu einem Organismus zu verbinden. So sehr ich sonst mit ihm übereinstimme, hier, fürchte ich, liegt ein Irrtum vor.

In der Naturwissenschaft heifst jeder geformte und an sich individuelle Teil eines lebendigen Ganzen ein Organ, und jede Verbindung einer An- zahl verschiedener Organe zu einem lebensfähigen Ganzen ein Organismus. Die wesentlichen Merkmale des Organischen im Gegensatz zum Unorga- nischen sind also 1) das Leben, d. h. die Selbsterhaltung und Selbstcnt- faltung der Gesamtheit vermöge der zusammenwirkenden Thätigkeiten der zu ihr gehörenden Organe, und 2) die eigentümlich innige und doch freie Verbindung der Organe in dem Ganzen, vermöge deren jedes Organ, wenn es abgelöst wird, eine tote Masse bildet, ohne dafs es doch inner- halb der Gesamtheit die individuelle Bestimmtheit seines Wesens verlöre. Dabei bestehen die Organe wieder aus einfacheren Organen bis herab zum Elementarorgan der Zelle, so dafs jedes von ihnen wieder einen dem Organismus ähnlichen Bau hat und eine in der Gesamtidee des Ganzen enthaltene Teilidee selbstthätig auswirkt. Versucht man nun die Über- tragung dieser naturwissenschaftlichen Vorstellungsweise auf das Schul- wesen, so leuchtet zunächst ein, dafs dieses kein Organismus ist, sondern nur Teilorgan des Bildungswesens, d. h. der Gesamtheit von Veranstaltungen, welche der Sozialkörper aus sich erzeugt, um die kommende Generation auf die Bildungshöhe der scheidenden zu heben. Das Bildungswesen selbst ist aber ebenfalls nur ein Organ des Sozialkörpers; erst dieser ist ein zu selbständigem Leben fähiger Organismus. Soll also das Bildungs- wesen organisch gestaltet werden, so mufs es erstens alle Teilorgane haben, die- zur selbstthätigen Auswirkung seiner besonderen Idee nötig sind, und diese müssen in der rechten Weise unter einander verbunden sein; zweitens mufs es zu dem Sozialkörper in jenem freien und doch innigen Verhältnis stehen, welches durch das Ineinander einer Gesamtidee mit ihren Teilidcen aasgedrückt wird. Bei der Verbindung der Organe unter einander und mit dem Sozialkörper ist aber ein wesentlicher Unterschied von dem natürlichen Organismus nicht zu übersehen. Nach Willmann (Didaktik ly

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S. 50 >st der Sozialkörper nicht nur ein Komplex geistiger Kräfte, sondern auch ein geistiger Komplex von Kräften ; die Organe also, aus denen er besteht, brauchen nicht wie die des natürlichen Körpers mit einander in einer räumlichen und stofflichen Verbindung zu stehen, sondern nur in einer geistigen und ideellen. Seitdem nun die Gymnasialseminare einge- richtet sind, hat das Bildungswesen in Preufsen alle zur Verwirklichung seiner Idee nötigen Organe, nur fehlt noch an mehr als einer Stelle ihre feste Fügung. Das Gymnasium mufs durch Reform der Reifeprüfung und des gesamten Unterrichtsbetriebes der Hochschule mehr genähert und zu- gleich die Vorschule an das Gymnasium enger angeschlossen werden, damit diese für das Gymnasium und das Gymnasium wieder für die Hochschule die vollkommen entsprechende Grundlage bilde; andererseits mufs die Hochschule mehr als bisher Rücksicht nehmen auf die Bedürfnisse der Schulen, für die sie die Lehrkräfte wissenschaftlich vorbilden soll. Mit Hülfe der Gymnasialseminare mufs ferner die akademisch gebildete Lehrer- schaft mit dem gleichen methodischen und pädagogischen Streben erfüllt werden wie die seminaristisch gebildete, und damit mufs ein organisches Zusammenwirken beider Teile des Lehrerstandes ermöglicht werden. Nur so werden die Teilorgane des Bildungswesens fähig, die Idee desselben zusammenwirkend zu erfüllen; aber das gesamte Bildungswesen mufs auch als Organ des Sozialkörpers zu diesem in organischer Verbindung stehen. Es mufs der Berufsbildung nach allen Seiten hin gerecht werden ; jeder Berufskreis mufs die ihm angemessene allgemeine Vorbildung, jeder Einzel- beruf die rechte Fachbildung erhalten. Indem das Bildungswesen so dem Gesamtleben des Sozialkörpers dient, wird es ein wesentliches Organ des- selben und erhält dafür von Seiten der Gesamtheit Nahrung und Schutz. Da ferner in der menschlichen Gesellschaft alle Kräfte nur in Personen leben, so gehört zu dem richtigen Verhältnis des Bildungswesens zum Sozialkörper auch die rechte gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung des Standes der Schulmänner unter den übrigen Ständen des Volkes. In allen diesen Beziehungen giebt es noch viel zu bessern, auch manches in der Schuiverwaltung ; denn dafs eine organische Gestaltung des Bildungs- wesens auch auf diese einwirken würde, liegt auf der Hand.

Diese Andeutungen mögen genügen, um zu zeigen, wie meiner Auf- fassung nach eine organische Gestaltung des Bildungswesens, die auch ich für notwendig halte, zu gewinnen wäre. Frick aber begeht, wenn ich nicht irre, einen doppelten Irrtum. Erstens erwartet er eine organische Gestaltung des Schulwesens von einer äufserlich-räumlichen Verbindung der Schularten in einem allen gemeinsamen Unterbau, während es nach obigem doch nur auf ein ideelles Zusammenwirken ankommt; zweitens nimmt er den Stand- punkt zu niedrig, indem er nur von einem organischen System der Schulen spricht, während diese doch nicht mehr als Teilorgane des Bildungswesens, eines Organes des Sozialkörpers, sind. Wie sich nun aber im natürlichen Organismus die Organe nicht beliebig zu Gesamtorganen verschmelzen lassen, z. B. nicht einmal die beiden Füfse des menschlichen Leibes oder die Füfse mit den Händen, ohne ihre Wirksamkeit zu vernichten, so ist es

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auch mit den Teilorganen des Bildungswesens, insbesondere mit den beiden Schularten. In sich mufs jede von ihnen organisch gestaltet werden, will man sie aber zu einem Gesamtorgan verbinden, so gefährdet man ihre innere Organisation. Bisher klagte man über allzu verschiedenes Schüler- material in den Unterklassen des Gymnasiums und hielt die Beseitigung dieses Mangels für eine Lebensfrage desselben; in dem von Frick em- pfohlenen Unterbau würde das Material noch weit verschiedener sein, und eine organische Gestaltung des Unterrichts wäre so gut wie unmöglich. Ferner begrüfste man es bisher als einen Vorzug, wenn ein Gymnasium eine besondere Vorschule erhielt, weil dann der Elementarunterricht mit den folgenden Unterrichtsstufen in weit engere Verbindung zu bringen ist, zum Teil sogar so, dafs dieselben Lehrer bleiben, und weil den künftigen Schülern des Gymnasiums, die ja zu Hause weit bessere Unterstützung haben als die Volksschüler, auch entsprechend weniger und anders ge- arteter Unterricht gegeben werden kann. Fricks Vorschlag würde beides unmöglich machen; sowohl der organische Anschlufs des Schulwesens an die Gesellschaft, wie der organische Aufbau des Unterrichts in der ein- zelnen Schulart würde gefährdet. Denn die für alle Schularten bestimmte Unterstufe könnte keinen organisch-engen Anschlufs an eine einzelne Schul- art gewinnen. Dies würde aber um so bedenklicher sein, je umfangreicher und vielgestaltiger der Bildungsstoff ist, den unsere Schulen, zumal die Gymnasien, gegenwärtig verarbeiten müssen. Nur wenn man von An- fang an mit ganzer Kraft und allen Mitteln auf ein klar be- grenztes Ziel hinarbeitet, wird die pädagogische Aufgabe des heutigen Gymnasiums lösbar bleiben. Am besten wird das Bildungs- wesen seine Idee erfüllen, wenn seine Organe einheitlich und geschlossen nach den ihnen im Zusammenhange mit dem Ganzen zufallenden Teilideen organisch gestaltet sind. Jede Vermischung der Ideen aber, jede Ver- kürzung des einheitlich organisierten Lehrgangs enthält bei der heutigen Lage der Dinge eine schwere pädagogische Gefahr. Deshalb glaube ich, dafs Julings und Fricks Vorschlag nicht das Richtige trifft. Vielmehr ist jeder Unterbau für alle höheren Schulen meiner Meinung nach zu ver- werfen. Hiermit sind die eigentümlichen Ausgestaltungen, welche der Hauptgedanke des Vereins im vergangenen Jahre gefunden hat, erschöpft. Daneben sind noch mehrere Einzelfragen von Mitgliedern des Vereins behandelt. In Obereinstimmung mit Lothar Meyer, der an dem oben angeführten Orte auch das Berechtigungswesen einer Besprechung unter- zieht, fordert Dr. E. Lange im 69. Hefte der Zeit- und Streitfragen eine gründliche Reform des Berechtigungswesens, insbesondere der Bestimmungen über die Berechtigung zum einjährigen Heeresdienst. Diese soll nach Lange und Lothar Meyer nur in Verbindung mit dem

*) Ausgenommen wohl der elementare Unterbau, welcher fllr alle Schularten derselbe »ein K>U und sein kann und am besten die vier ersten Schuljahre umfafst. (S. »Pädagogik üa Gnmdrifs«, Stuttgart, Cdschen 1890, S. 30 f. Vergl. K3ile, Die allg. Volksschule oder Bin- aeitMchole. Stuttgart, E. Paulus, 1891. D. H.

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Keifezeugnis erteilt werden. Dann werde das »Ersitzen« des Scheines aufhören, kleine Gymnasien werden an Schulerzahl abnehmen und in höhere Bürgerschulen übergehen, die Unter- und Mittelklassen der Gym- nasien werden nicht mehr so an Überfüllung und an ungeeignetem Schüler- material leiden, die Überbürdung werde daher auch geringer werden und die Berufsfreudigkeit der Lehrer mit den wachsenden Erfolgen des Unterrichts zunehmen. Dafs die blofse Vermehrung der Zahl der höheren Bürgerschulen schon entlastend auf die Gymnasien wirkt und auch das Frequenzverhältnis zwischen den unteren und oberen Klassen verbessert, weist Lange zahlenmäfsig nach an dem Beispiele Sachsens; natürlich wird diese Besserung noch gröfser werden, wenn man auch die Berechtigungen der höheren Bürgerschulen vermehrt.

Eine andere hervorragende Einzelfrage, die Besserung der Körper- pflege, betrifft Raydts Vortrag : >Mehr Erziehung für die deutsche Jugend«, in welchem er aufs neue für die Gedanken eintritt, die er in seinem be- kannten gröberen Buche »Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper« ausführlicher dargelegt hat.

Ich könnte noch manche andere Einzelschrift nennen; ich begnüge mich jedoch hiemit. Doch möchte ich noch darauf hinweisen, dafs auch in unserem Vereine natürlich die Stellungnahme in dem Reformstreit der Gegenwart ihre tiefere Begründung in allgemeinerem pädagogischen Denken findet. Eine dahin gehörige Arbeit ist die klare und umfassende, durch Kürze und Übersichtlichkeit ganz besonders ausgezeichnete »Pädagogik im Grundrifs« von Rein. Auch die Reformbewegung erfährt in diesem Büch- lein eine sehr instruktive Darstellung. Aufscrdem möchte ich aber noch besonders auf zwei, wie mir scheint, hochbedeutende Werke hinweisen, die Eucken 1888 und 1890 herausgegeben hat: »Die Einheit des Geistes- lebens in Bewufstsein und That der Menschheit« und »Die Lebensanschau- ungen der grofsen Denker.« Ich kann auf den reichen und tiefen Inhalt dieser Schriften hier nicht näher eingehen. Der Begriff der Personalität aber, mit dessen Hülfe Eucken den Gegensatz zwischen Naturalismus und Intellektualismus aufzulösen sucht, kann meiner Meinung nach auch für die Weiterführung des pädagogischen Denkens grundlegend werden.

Doch die litterarische Arbeit des Vereins, so lebhaft sie auch war, ist im vorigen Jahre nicht seine Hauptthätigkeit gewesen und hat seinen Er- folg nicht hauptsächlich bedingt. Das Wichtigste war vielmehr seine Teil- nahme an der Schulreformkonferenz, welche vom 4. bis 17. Dezember vorigen Jahres im Kultusministerium zu Berlin versammelt war. Der Verein war hier durch vier Mitglieder vertreten, den Geheimen Oberschulrat Prof. Dr. Schiller, den Professor und Gymnasialdirektor Dr. Uhlig, den Direktor der Franckeschen Stiftungen Dr. Frick und den Unterzeichneten. Jeder von uns hatte ein Referat erhalten, die Hauptberichte zu den ersten drei grundlegenden Fragen waren in unseren Händen. In der That be- zeichnen die Beschlüsse der Konferenz einen bedeutenden Erfolg unserer Bestrebungen, zumal Seine Majestät der Kaiser selbst sich im ganzen mit ihnen einverstanden erklärt und befohlen hat, sie den weiteren Beratungen

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über die Schulreform zu Grunde zu legen. Wir können deshalb erwarten, dafs sie nicht auf dem Papiere stehen bleiben werden. Völlig erreicht ist freilich das Ziel des Vereins, so wie es der Unterzeichnete auffalst, noch nicht, aber jedenfalls wird die Entwickelung unseres höheren Schulwesens jetzt auf den Weg geleitet werden, den der Verein für richtig hält. Was die Gesamteinrichtung des höheren Schulwesens betrifft, so hat Seine Majestät der Kaiser seine Willensmeinung dahin ausgesprochen, dafs das Realgymnasium eingehen und das Gymnasium nebst der lateinlosen Real- schule die einzigen Arten der höheren Schulen werden sollen. Die Kon- ferenz hat in ihrer Mehrheit diesem Gedanken zugestimmt und dann die Berechtigungen so verteilt, dafs die beiden Schularten möglichst gleich- wertig erscheinen. Es wurden nämlich folgende Sätze angenommen: i) Das von einem Gymnasium ausgestellte Zeugnis der Reife berechtigt zu sämtlichen Fakultätsstudien und zur Zulassung zu den diese Studien voraus- setzenden Prüfungen für Ämter im Staats- und Kirchendienst einschliefslich des medizinischen Berufs, sowie zu dem höheren Berg-, Bau-, Maschinen- bau-, Schiffsbau-, Post- und Forstfach. Für die Studien auf den technischen Hochschulen ist das von einem Gymnasium ausgestellte Reifezeugnis durch den Nachweis hinreichender Fertigkeit im Zeichnen, eventuell hin- reichender Fertigkeit in Mathematik und Naturwissenschaften zu ergänzen. 2) Das von einer auf neun Jahreskurse berechneten Schule realistischen Charakters ausgestellte Reifezeugnis berechtigt zum Studium an technischen Hochschulen, sowie zu dem höheren Berg-, Bau-, Maschinenbau-, Schiffsbau-, Post- und Forstfach, und, wenn an diesen An- stalten Unterricht im Lateinischen erteilt wird, auch zum Universitätsstudium der Mathematik und Naturwissenschaften. Für die unter 1) bezeichneten Fakultätsstudien und Prüfungen ist das von einer auf neun Jahreskurse berechneten Schule realistischen Charakters ausgestellte Reifezeugnis zu ergänzen durch den Nachweis hinreichender Bildung in den alten Sprachen. So soll also die technische Hochschule der Oberrealschule, die Universität dem Gymnasium zufallen, die Zweiheit der Vorbildung für die letztere, die seit 1870 bestand, ist aufgehoben, allerdings mit der seltsamen In- konsequenz, dafs für Mathematik und Naturwissenschaften auch das keifezeugnis der Oberrealschule neben dem des Gymnasiums berechtigen soll, wenn Latein an ihr betrieben wird. Auch für die technische Hoch- schule ist die bisher bestehende Zweiheit der Vorbildung formell auf- gehoben, da zunächst nur die Oberrealschule zu ihr hinführt; doch wird thatsächlich die vom Gymnasialabiturienten geforderte Nachprüfung nur selten jemand zurückhalten, da sie leicht ist, jedenfalls sehr viel leichter als die Ergänzungsprüfung, durch weiche die von der Oberrealschule Ent- lassenen die Berechtigung zu Fakultätsstudien erwerben können. Wer also auch für die technische Hochschule wirklich Einheit der Vorbildung er- strebt, und noch mehr, wer wie der Unterzeichnete mit Lothar Meyer für richtig hält, dafs alle gelehrten Berufsarten einschliefslich der technischen gleiche Vorbildung erhalten, wird über die Beschlüsse der Konferenz noch hinausgehen wollen zu einem > Einheitsgymnasium«, welches zur Universität

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und zur technischen Hochschule gleichmäfsig vorbereitet, unter den Ver- tretern der technischen Hochschule und den Technikern selbst sind die Meinungen hierüber geteilt. Die höheren technischen Staatsbeamten streben meistens, entweder weil sie die humanistische Vorbildung auch Air den Techniker wünschen, oder weil sie nicht anders und nicht geringer vor- gebildet sein möchten als die übrigen höheren Staatsbeamten, nach Er- weiterung der unbedingten Berechtigung des Gymnasiums auch auf die technischen Studien und nach Abweisung der Berechtigung der Oberreal- schule zu dieser. Die Privattechniker dagegen stehen in ihrer Mehrheit auf dem entgegengesetzten Standpunkte. Da diese aber keine Staats- prüfungen zu machen Veranlassung haben, so geht der Beschlufs der Kon- ferenz eigentlich nur die höheren technischen Staatsbeamten an, die Hoffnung ist also vielleicht nicht unberechtigt, dafs deren Wünsche in der endgültigen Ordnung der Berechtigungen trotz des Beschlusses der Dezemberkonferenz noch Berücksichtigung finden. Dann würde also das Ziel des Vereins völlig erreicht sein, auch in dem weiteren Sinne, den die Beschlüsse unserer Hauptversammlung zu Kassel bezeichneten.

Aber der Verein hat es nie für möglich gehalten, dem Gymnasium so, wie es jetzt ist, diese umfassenden Berechtigungen zu gewähren. Als Be- dingung dafür hat er vielmehr eine tief eingreifende Reform des gesamten Betriebes und in geringerem Mafse auch der Stundenverteilung am Gym- nasium betrachtet. Auch in dieser Beziehung bezeichnen die Beschlüsse der Schulkonferenz einen sehr bedeutenden Fortschritt. Denn sie hat folgende Sätze angenommen: i) Eine Herabsetzung der Unterrichtsstunden in den alten Sprachen ist möglich, wenn als das Hauptziel die Einführung in die klassischen Schriftsteller allgemein erstrebt wird, und die gramma- tischen Übungen wesentlich als Mittel dazu dienen. 2) Der lateinische Aufsatz kommt als Zielleistung in Wegfall; 3) Die griechische schriftliche Versetzungsarbeit für Prima kommt in Wegfall. 4) Die Einführung des Englischen in die Gymnasien ist zu empfehlen, fakulativ oder obligatorisch, je nach den örtlichen Verhältnissen. 5) Es empfiehlt sich, das Zeichnen in den Gymnasien über Quarta hinaus (bis Untersekunda einschliefslich) obli- gatorisch zu machen. 6) Es empfiehlt sich, das Zeichnen in Sexta weg- fallen zu lassen. 7) Auf den Unterricht im Deutschen ist unter allen Um- ständen der gröfste Nachdruck zu legen, die Stundenzahl soweit thunlich zu vermehren, vor allem aber die Vervollkommnung des deutschen Aus- drucks in allen Lehrstunden und insbesondere bei den Übersetzungen aus den fremden Sprachen zu erstreben. Wenn diese Beschlüsse ausgeführt werden, sind der Hauptsache nach die Forderungen zugestanden, die z B Lothar Meyer und Alex. Brill in den oben angeführten Schriften wiederum aufgestellt haben. Die weitere Reformarbeit wird sich also hier haupt- sächlich darauf beziehen müssen, dafs die beabsichtigten Veränderungen nicht äufserlich bleiben, dafs z. B. nicht blofs die Stundenzahl für das Lateinische beschränkt und der lateinische Aufsatz in der Reifeprüfung ab- geschafft wird, sondern auch der gesamte Betrieb des Lateinischen eine entsprechende Neugestaltung erfährt. Es werden ferner die grofsen Grund-

sätze der Anschaulichkeit des Unterrichts, des induktiven Lehrverfahrens, der Verbindung des Sach- und des Sprachunterrichts, des Ausgehens von der Heimat, der Konzentration und der Beziehung alles Unterrichts auf Anbahnung eines geschichtlichen Verständnisses der Gegenwart mehr und mehr in die Praxis des Unterrichts eingeführt und organische Lehrpläne ausgebildet werden müssen. Um hierauf zu wirken, werden die neuen Gymnasialseminare ein Hauptmittel sein; diese zu fördern, ist daher eben- falls ein Hauptziel weiterer Reformarbeit. Das Jahr 1890 hat für beide Aufgaben bedeutende Arbeiten gebracht, auf die der Verein stolz sein kann: für die Förderung der neuen Seminare teils einige Aufsätze von Frick und Meier in den Lehrproben, teils Schillers Darlegungen in der »Sammlung Pädagogischer Abhandlungen von Frick und Meier Heft V; für die Konzentration aber in derselben Sammlung Heft IV Schillers Aufsatz : »Die einheitliche Gestaltung und Vereinfachung des Gymnasial- unterrichts unter Voraussetzung der bestehenden Lehrverfassung«. Möge der Verein auch auf diesen Gebieten rüstig weiter schaffen und wirken, damit er an seiner Stelle dazu helfe, dafs die neue Reform des Gymnasiums mafsvoll und doch nicht oberflächlich wird!

Endlich hat die Berliner Konferenz auch darin den Wünschen der Mehrheit unseres Vereins entsprochen, dafs sie jeden Unterbau für Gym- nasien und lateinlose Realschulen abgelehnt hat, nicht allein den sechs- jährigen, den wir alle nicht billigen, sondern auch den zweijährigen, welchen Juling und Frick empfehlen. Dagegen hat sie viel dazu gethan, um die höhere Bürgerschule zu heben, für deren Förderung sich auch unsere letzte Jahresversammlung in Jena entschieden ausgesprochen hat.

So können wir denn auf das vergangene Jahr als auf ein sehr erfolg- reiches mit Genugthuung zurückblicken und daraus zuversichtliche Hoffnung weiteren Gelingens schöpfen. In der 1890 erschienenen Schrift über den »Kampf um die Schulreform in seinen neuesten Phasen« hat Holzmüller auch über unseren Verein berichtet. »Die Idee dieses Vereins«, sagt er S. 47, »hat eine Zukunft im Schulwesen schon deshalb, weil die Ziele mit denen des beobachteten historischen Entwickelungsganges übereinstimmen. Der Verein greift nur voraus, was nach den Beobachtungen der letzten Jahrzehnte die Zukunft wahrscheinlich von selbst bringen wird.« Möge dies recht bald geschehen! Möge der Verein recht bald in der Lage sein, seine Thätigkeit zu beschliefsen, weil die Entwickelung der Dinge ihre Weiterführung unnötig macht!*)

Hannover, Februar 1891. F. H o r n e m a n n.

•) Dieser Fall ist nach der Überzeugung einer weit überwiegenden Mehrheit schon jetzt ein- getreten; der Verein hat sich daher auf Antrag des Unterzeichneten 8m t. April d. J. aufgelöst.

F. Hornemann.

56

2. Lehrgänge und Lehrproben aus der Praxis der Gymnasien und Realschulen.

Zur Förderung der Zwecke des erziehenden Unterrichts . . . heraus- gegeben von DDr. O. Frick und H. Meier. 27. Heft. Halle a. d. S. Buchhandlung des Waisenhauses 1891. 128 S. 8°.

Die Lehrproben von Frick und Meier, auf deren reichhaltigen und meist gediegenen Inhalt wir au wiederholten Malen in diesen Blättern hin- gewiesen haben, sind unter allen Gymnasialzeitschriften diejenige, welche am meisten bemüht ist den Forderungen der Zeit Rechnung zu tragen. Durch die jüngsten Reformbestrebungen, welche von der preufsischen Regierung ausgeh n und im wesentlichen übereinstimmen mit der von den Lehrproben vertretenen Richtung, hat diese Zeitschrift an Bedeutung ge- wonnen, aber auch gewissermafsen neue Pflichten, erhalten. Denn es ist etwas anderes, ob man so zu sagen in der Opposition stehend, Ver- besserungsvorschläge macht, oder ob man, regierungsfähig befunden, mit führend voranschreiten soll und die Verantwortung mit trägt für die Gestaltung der Zukunft. Das 27. Heft zeigt, dafs die Herausgeber sich ihrer verantwortungsvollen Stellung bewufst sind. Es bietet einen Inhalt, der geeignet ist weithin, nicht nur in Gymnasiallehrerkreisen, Interesse zu erregen. Es enthält die »Urkunden zur neuesten Schulreform« und >die Beantwortung der Kaiserfragen« und in dieser den Beweis, dafs nur durch eine auf Herbartischen Grundsätzen beruhende Didaktik der herrschenden Schulnot abgeholfen werden kann.*;

Die Zusammenstellung der »Urkunden« ist ein sehr glücklicher Ge- danke. Von den Verhandlungen Über das höhere Schulwesen, welche vom 4. 17. Dez. 1890 in Berlin stattgefunden haben, ist in die weiten Kreise, die diesen Fragen Interesse entgegenbrachten, nur wenig Zusammenhängen- des gedrungen. Sind nun jetzt auch die »Verhandlungen über die Fragen des höheren Unterrichts« (Berlin. Wilhelm Herz, 1891, 800 S. gr. 8°) er- schienen, so ist der Band doch so umfänglich, dals nur wenige ihn durch- studieren werden; den meisten liegt auch gar nicht daran die vielen, durch ihren Inhalt zum Teil hochbedeutenden Reden kennen zu lernen, sondern blofs das Bleibende, die amtlichen Erlasse und die Beschlüsse. Diese aber sind nicht einmal alle in jener officiellen Veröffentlichung enthalten, wohl aber in dem uns vorliegenden Hefte. Dieses bietet nämlich A. die kaiserlichen Erlasse a) vom 13. Febr. 1890 betreffend die Ab- änderung der Lehi plane des Kadettenkorps; b) vom 1. Mai 1889 betr. den Volksschulunterricht. B. die kaiserlichen Ansprachen a) vom 4. Dez. 1890, b. vom 17. Dez. 1890 gehalten in der Eröffnungs- und Schlufssitzung der Schulkonferenz. C. Die kaiserliche Kabinetsordre vom 17. Dez. 1890. D. Die sieben Kaiser fragen. E. Den Erlafs des Kgl. Preufsischen Staatsministeriums vom 27. Juli 1889, betr. das höhere Schulwesen. F. Die

*) Vrgl. die Besprechung der Kaiserfragen in den »Grentboten«, 37. Heft 1891.

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vom Kultusminister an die Schulkonferenz gestellten Fragen. G. Die diese Fragen beantwortenden Beschlüsse der Berliner Konferenz.

Nirgends rindet man das alles so bequem beisammen; nur scheint es nicht zweckmäfsig, dafs die einzelnen Nummern dem Range nach, wenn man so sagen darf, statt der Zeitfolge nach geordnet sind.

Die Kaiserfragen, welche die Aufmerksamkeit gerade auf die Punkte richteten, wo entschiedene Mängel vorhanden sind, liefsen sich, da sie erst der versammelten Konferenz mitgeteilt wurden, nicht bei Gelegen- heit der Verhandlungen über die ministeriellen Fragen genügend beant- worten. Sie verlangen aber dringend eine Antwort und zugleich Angabe der Wege, wie den vom Kaiser angedeuteten Mängeln abgeholfen werden kann. Es ist dankenswert, dafs die > Lehrproben« diese Antwort zu geben versuchen.

Frage i) >Was soll aufser dem rationeller zu verwendenden Turnen für die Schulhygiene geschehen wird von Dr. H. Schiller in Giefsen behandelt Wir skizzieren seine Erörterungen : Wegfall des Nach- mittagsunterrichts, 5 Stunden Vormittagsunterricht mit 50 Minuten im Freien zu verbringender Pause, also thatsächlich 4 Stunden. Ein verständiger, die Einförmigkeit vermeidender Stundenplan, Beschränkung der häuslichen Auf- gaben (in Prima nicht über 3 Stunden). Abschaffung der Strafarbeiten, der Nachhilfestunden, der Musikstunden (?). Herstellung der richtigen Luft-, Licht* und Sitzverhältnisse (natürlich nicht Versetzen nach dem Ausfall der lateinischen Extemporalien). Richtige Heizung, Ventilation, Reinigung. Handfertigkeitsunterricht, Bewegungsspiele, Unterricht (z. B. naturgeschicht- licher, geographischer) im Freien. Nur beschränkte Mitwirkung der Ärzte. Einführung der jungen Lehrer in die allgemeine und die Schulhygiene. Verlegung der Ferien auf die heifseste Zeit und Abschlufs des Schuljahres vor Beginn derselben. Mit den meisten Punkten wird man gewifs ein- verstanden sein, aber mehrere fordern Geld. Wird es geschafft werden?

Die Fragen 2 7 hat Fr ick selbst beantwortet unter vielfachen Hin- weisen auf das »klassische Werk« O. Willmanns Didaktik. »2) Ist die Er- mäfsigung der L e h r z i e 1 e , also die Verminderung des Lehr Stoffes scharf ins Auge gefafst und wenigstens das Auszuscheidende genau fest- gestellt?

3) Sind die Lehrpläne klassenweis für die einzelnen Fächer fest- gelegt?

Antwort: »Nein«.

Der Verfasser begnügt sich nicht bei der Beantwortung von Frage 2 zu zeigen, wie der Lehrstoff vermindert werden kann, er zeigt auch, wie das festzusetzende Lehrziel unter geringerer Belastung der Schüler erreicht werden kann. Vor allen Dingen mufs das erstorbene oder mangelnde didaktische Bewufstsein in der Lehrerwelt der höheren Schulen wieder er- weckt werden. Das läfst sich ja als Frucht der neu eingeführten Semi- narien erwarten. Dann mufs ernsthaft an die Ausarbeitung eines Lehr- plansystems gegangen werden; auf systematische Vollständigkeit ist zu verzichten, blofs was erziehlich wirken kann, ist heranzuziehen. Fruchtbare

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Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Fächern ist anzustreben, und jedes Fach ist besonders in der Richtung auszunutzen, nach welcher hin es am meisten bieten kann. So ist es z. B. verkehrt im Unterrichte aller Sprachen dieselben Ziele zu verfolgen. Je nach ihrem Wert für die Er- ziehung mufs sich die Zeit richten, die man den einzelnen Fächern widmet (Statik). So könne es jetzt an der Zeit sein den Schüler mehr mit Vater- land und Gegenwart vertraut zu machen und dadurch seine innere Ent- wickelung zu fördern: Dies würde nötigen »zu einer gewissen Beschränkung der antiken, zu einer gröfseren und gleichmäfsigeren Berücksichtigung der vaterländischen Stoffe«. Ich glaube nicht, dafs diese Nötigung vor- liegt. Es ist nur nötig, dafs die ständige Rücksicht auf die Heimat und Gegenwart zum >Unterrichtsprinzip< erhoben wird, und dafs dem Lehrer nicht mehr der Vorwurf gemacht wird, er treibe Allotria, wenn er in der griechischen oder lateinischen Stunde vielleicht die neuesten Er- eignisse benutzt, um alte Vorgänge ins richtige Licht zu setzen, und dabei zugleich für die Beurteilung der Ereignisse der Gegenwart den richtigen Mafsstab finden zu lassen. Durch Nebeneinanderstellen des Alten und des Neuen, des Fremden und des Heimischen wird beides deutlicher, und da wir uns Gott sei Dank unsers Volkes und unsrer Geschichte nicht zu schämen haben, so wird bei solchen Vergleichen die Liebe zum Vaterland von selbst gedeihen und eine gesundere Pflanze geben, als wenn man sie in einer auch für den Schüler offen daliegenden Absicht zu »programm- mäfsig« pflegt. Ich glaube, es ist mit dem »Vaterländischen« wie mit der Religion, und zwar nach zwei Seiten hin: i) der schlimmste Feind beider ist die Übersättigung. 2) Nicht die grölsere Stundenzahl, die man ihnen stundenplanmäfsig zuwendet, bietet die Gewähr für die Entwickelung der gewünschten Einsicht und Empfindung beim Zögling, sondern der Geist, in welchem der gesamte Unterricht erteilt ist. Können wir also, ohne Vermehrung der Stundenzahl für vaterländische Stoffe, dasselbe und vielleicht mehr erreichen durch zweckmäfsigen Unterricht, warum die Zeit für die antiken Stoffe beschränken, die uns Früchte tragen, welche sonst auf keinem Baume wachsen ? Einverstanden dagegen bin ich durchaus mit der Beschränkung des grammatischen Unterrichts auf das notwendige Mafs; aber unter dieses möge man ja nicht heruntergehn, und auf gröfste Sicherheit in diesem Notwendigsten verzichte man nicht, um nicht die Er- folge des Sprachunterrichts, selbst wenn er als »Sachunterricht« betrieben wird, überhaupt zu gefährden. Sehr richtig ist es, dafs der sinnlichen Anschauung neben dem abstrakten Denken zu ihrem Rechte verholfen werden mufs, und dafs Zeichenunterricht hierzu mehr thun kann, als viele Gymnasiallehrer glauben. Ebenso wichtig ist freilich die Erziehung zum innern Sehen, durch die allein der leidige Verbalismus beseitigt werden kann. Wie dieser noch wuchert, ist kaum zu sagen. Es giebt Schüler, die mit Worten operieren, wie mit algebraischen Formeln, logisch richtig, aber ohne jede innere Anschauung. Durch Pflege der äufsern An- schauung kann man auch die innere fördern; deshalb empfiehlt auch Frick mit Recht den Unterricht im Freien.

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Als das allerwirksamste Mittel einer Stoftverminderung wird bezeichnet innere Stoffverbindung, wie sie z. B. durch die Parallelgrammatik und durch die »Lebenseinheiten« ermöglicht wird. Vor allen Dingen aber mufs der Lehrer das rechte Verständnis für die Aufnahmefähigkeit des zu bildenden Subjekts haben, und nach dieser die Stoffauswahl und Stoff- anordnung gestalten.

Die dritte Frage beantwortet Frick in diesem Sinn: Wir dringen fort und fort darauf, dafs die Lehrer sich des Schöpferischen in der unter- richtlichen Arbeit mehr bewufst werden sollen. Somit würden wir einer ins Einzelne gehenden, und allgemein oder dauernd verbindlichen Fest- legung von Klassenpensen nicht das Wort reden können (S. 61), sondern nur darum dürfte es sich dabei handeln, im grofsen und ganzen die Rahmen der Lehrstoffe abzugrenzen. Übrigens seien hier noch allerlei Vorfragen über die zukünftige Gestaltung des Gymnasiums zu erledigen. So wünscht Frick z. B. die Sexta freizulassen vom fremdsprachlichen Unter- richte und sie zu einer Vorstufe, umgekehrt die Oberprima zu einer Oberstufe zu machen, die einer »sich vertiefenden, den Gewinn der vorauf- gegangenen Arbeit zusammenfassenden Rückschau diene«. Hier soll »dem Bedürfnis freier Bewegung, dem Erwachen individueller Interessen und dem Verständnis für die höheren Bildungsziele« volle Rechnung getragen werden.

Für die nötigen Lehrplanarbeiten stellt er als Beispiele eine Anzahl Werke aus der Volksschulpädagogik hin, so Reins Schuljahre, Dörpfelds Didaktischen Materialismus, Armstrotfs Unterrichtsstoff, R a n i t z s c h' Unter- richt in der Volksschule. Schätzenswerte Vorarbeiten sind übrigens auch auf dem Gebiete des Gymnasialunterrichts vorhanden, so vor allem Fricks verschiedene Aufsätze in den Lehrproben und Schillers »Die einheitliche Gestaltung und Vereinfachung des Gymnasialunterrichts unter der Voraus- setzung der bestehenden Lehrverfassung« ein treffliches Buch, das mich nur in Unklarheit darüber gelassen hat, wie die daselbst aufgeführten Stoft- massen in erziehlich wirkender Weise verarbeitet werden können. Frick selbst giebt dann noch einige Winke, wie die Lehrplanarbeit in die Hand genommen werden kann. Verwirft er auch im allgemeinen den Zillerschen Gesinnungsstoff als Mittelpunkt für den Klassenunterricht, so sucht er doch auch nach Mittelpunkten für den Unterricht einzelner Klassen und nach Reihen von solchen Mittelpunkten für ganze Klassenfolgen. Er nennt als solche Mittelpunkte Odyssee und Ilias einerseits, Heliand und Nibelungen anderseits; ferner grofse Persönlichkeiten wie den grofsen Kur- fürsten, den grofsen König, den grofsen Kaiser, oder Klopstock, Goethe, Schiller. Oder man stellt das nationale Leben in die Mitte. »Auf den Unterstufen, wo selbständige Stoffe nicht auftreten, wird ein vaterländisches Lesebuch die Aufgabe einer zentralisierenden Einigung übernehmen müssen.« Das ist alles gewifs richtig, nur wäre es wohl besser gewesen, das Wort »Mittelpunkt« nicht zu verwenden ; denn es kann sich fast überall im Gymnasialunterricht nicht um Aufstellung von Mittelpunkten für den vielverzweigten Unterricht einer ganzen Klasse handeln, sondern blofs um Reihen, die man untereinander wieder in Beziehung zu setzen sucht.

4. Sind für die Lehrmethode wenigstens die Hauptpunkte auf- gestellt ?

Antwort: Ja aber [in der Lehrpraxis werden sie im allgemeinen noch nicht genügend beachtet).

Frick empfiehlt nachdrücklichst die >FormaIstufen< als dasjenige Lehrverfahren, bei dem am sichersten der Prozefs der Kraftentwickelung statt finde: »Es ist ein Zeichen einer grofsen Befangenheit des Blickes das organische Gebilde dieser Stufen deshalb nicht anzuerkennen, weil mecha- nische Geister sie mechanisch verwenden können.« Durch Weckung des Interesse wird es möglich sein das Ziel des erziehenden Unterrichts, nämlich die Charakterbildung zu erreichen. Freilich müssen die Lehrer der höheren Schulen erst ihre »Methodenscheu« ablegen. Sie dürfen nicht glauben, dafs die blofse Darbietung des Stoffes ausreichend sei; sie müssen sich besonders bemühen anschaulich zu unterrichten, und nicht nach den Universitätslehrern als nach ihren Vorbildern schauen, sondern vielmehr von der Volksschule für ihre Methode lernen.

5) Ist der in den Prüfungen bisher zu Tage getretene Ballast für immer beseitigt?

Antwort: Nein.

Einleitend spricht der Verfasser über den an sich vorhandenen Gegen- satz zwischen einem Examen und dem erziehenden Unterrichte, dessen Hauptkraft geradezu geschädigt werde durch die Rücksicht aufs Examen. Die Prüfung müsse also möglichst organisch aus dem Unterricht heraus- wachsen. Sie mufs sich auf den im Unterrichte herausgearbeiteten Merk- stoff beschränken. Und auch nur auf eine Auswahl von diesen, nämlich auf das, »was organisch aus der letzten Arbeit herausgewachsen ist«. Es liegt da der Einwand sehr nahe, dafs es eine Prüfung doch nicht blofs mit dem Abfragen des eingeprägten Merkstoffes zu thun haben dürfe, sondern es sehr wichtig sei, wenn der Prüfling zeige, dafs er Fragen, die ihm in dieser Form noch nicht vorgelegt sind, für deren Beantwortung also das Material nicht fix und fertig im Merkbuche bereit steht, sach- gemäfs beantworten kann, dafs er also zwischen den ihm geläufigen Vor- stellungen sofort neue Verbindungen herstellen kann. Denn es ist doch ein klägliches Wissen, das, wie beim Klavier der Ton an eine be- stimmte Taste, so an eine bestimmte Frage gebunden ist. Ich habe wenigstens in der oben bezeichneten Weise stets geprüft, freilich dann auch gewünscht, dafs dem Prüflinge die Zeit gelassen werde zu denken, d. h. die neue Verbindung bekannter Vorstellungen unter dem Gesichts- punkte der gestellten Frage vorzunehmen. Läfst man blofs auswendig Ge- lerntes her— sagen, so geht es freilich rascher, aber das ist doch keine Reifeprüfung. Dieser Einwand wird indes fast entkräftet, wenn man weiter liest: Zeigt ein Schüler in der schriftlichen oder mündlichen Anwendung der Sprache, dafs er über diese eine gewisse Herrschaft gewonnen hat und zu einem Können gelangt ist, so ist eine besondere Prüfung in dem grammatischen Wissen nicht mehr nötig, und entsprechend soll es bei andern Fächern sein. Zu verlangen, dafs der Prüfling alles gegenwärtig

habe, was er je auf der Schule gelernt hat, scheint dem Verfasser mit Recht verkehrt. Vieles dient ja blols als Leiter, um auf die Höhe zu ge- langen, und kann wie diese weggeworfen werden, wenn man oben ange- langt ist. Aber das für immer Wertvolle, was der Unterricht geboten hat, soll durch rationelles Repetieren in Prima unter immer neuen, für den erziehlichen Unterricht bedeutenden Gesichtspunkten durchdrungen und verbunden werden. »Die Prüfung dürfte durchaus nichts anderes sein als das letzte Glied in einer planvollen Reihe von Rep etitione n, als eine Schlufsrepetition.« Einverstanden, wenn dafür gesorgt wird, dafs das nicht eine mechanische Hersagerei wird, sondern dafs der Schüler Selbst- tätigkeit bei der Antwort beweisen kann. Das wird mir nicht genug betont. Es genügt doch nicht blofs die Fragen nach dem Wertlosen zu beseitigen wie z.B. solche nach der Weinkarte des Horaz, oder: in welchen Verszeilen des Horaz kommt Pallas vor? oder: welche Attribute hat das Schiff bei Homer? oder: welche homerischen Helden werden in den Bauch getroffen? u. s. w. Auch wenn lauter Wertvolles gefragt würde, könnte die Reifeprüfung noch als unnatürlich empfunden werden, falls des Wertvollen, das der Prüfling zur Verfügung haben soll, zu viel wäre. Diese Besorg- nisse, die Fricks Darlegungen noch aufsteigen lassen könnten, schwinden, wenn man seine Vorschläge liest, wie überhaupt die Reite prüfung um- gestaltet werden soll. Wir heben einige heraus. Die Themen zu den deutschen Aufsätzen müssen aus dem Unterrichte herauswachsen, können also auch nicht schon ein Vierteljahr vorher an den Prüfungskommissar eingeschickt werden. Die Prüfung darf nicht mitten im Unterrichtsbetrieb des letzten Vierteljahres stattfinden. Die Mitwirkung des Staates darf sich nur als eine Oberaufsicht geltend machen; es mufs jeder Eingriff ver- mieden werden, welcher die organische Verbindung der Prüfung mit der eigentlichen Unterrichtsarbeit erschwert. Mündlich geprüft wird nur der- jenige, dessen schriftliche Prüfungsarbeiten nicht sämtlich ohne Ein- schränkung genügend sind. Letzter Satz besonders, der in dieser von Fricks Vorschlag etwas abweichenden Fassung von der Berliner Schul- konferenz angenommen ist, scheint mir wichtig, denn wird er zur Geltung gebracht, dann liegt kein Grund mehr vor zu dem jetzt doch nicht ganz zu vermeidenden Einpauken; zumal er ergänzt wird von dem andern Satze: im Falle guter Klassenleistungen wird von der (mündlichen) Prüfung in Rcligionslehre und Geschichte dispensiert. Schriftliche Prüfung in diesen beiden Fächern giebt es nicht. Auch für die schriftliche Prüfung in Deutsch, Latein, Griechisch, Mathematik macht Frick verschiedene Änderungsvorschläge, die wir hier nicht im einzelnen erörtern können.

6) Ist auch der noch durch andere Mittel zu bekämpfenden Ober- bürdung für die Zukunft vorgebeugt?

Antwort: Noch nicht genügend.

Als Mittel gegen Überbürdung wird empfohlen Einschränkung der Hausarbeit; verständiger Klassenunterricht nach den formalen Stufen; An- leitung zur Lösung der häuslichen Arbeiten und auf diese Weise zugleich Heranbildung zur richtigen Art zu arbeiten.

Pädagogische Studien. III. 1 1

162

Der lateinische Aufsatz ist beseitigt, wenigstens als > Zielleistung« und als häusliche Aufgabe; mathematische Arbeiten und deutsche Auf- sätze werden nicht mehr soviel Zeit erheischen, wenn sie naturgemafs aus dem Unterrichte herauswachsen. Gesteuert werden mufs aber auch der »Extemporalenot«. Soll es doch noch immer Anstalten geben, an denen das unverantwortliche Unwesen herrscht, dafs jede Woche dem Schüler je nach der Zahl der im Extemporale gemachten Fehler die Vorzüge der Arbeit bleiben meist unberücksichtigt sein Flatz für die nächste Woche angewiesen wird, und nicht etwa für alle Stunden, sondern blofs für die des betreffenden Faches. Denn was dem Latein recht ist, das ist dem Griechischen und Französischen billig. So hat denn der Schüler in diesen drei Fächern einen besonderen von der Hauptrang- ordnung verschiedenen Platz ohne Rücksicht auf Körperlänge, Kurz- sichtigkeit u. s. w. und vor jeder Stunde findet eine kleine Völker- wanderung in der Klasse statt. Minder bedenklich finde ich es, wogegen sich Frick auch ausspricht, dafs Regeln der Grammatik wörtlich gelernt und autgesagt werden, denn es giebt gewisse Regeln der Grammatik so- wohl in der Kasus- als in der Moduslehre, die so geläufig gewufst werden müssen, wie ein Paradigma, freilich nicht blofs gewufst, sondern auch gekonnt. Um den Unterricht so zu gestalten, wie der Verfasser es will, müssen geeignete Übungsbücher geschaffen werden und geeignete Lehrerpersönlichkeiten. Diese letzteren sollen durch die pädagogischen Seminare gebildet werden.

7. Wie ist die Kontrolle gedacht, ohne welche das wohlmeinend Geplante doch nur auf dem Papiere bleibt? Ist hinreichend auf regel- mäfsige und aufscrordentliche Revisionen durch die verschiedenen Oberbehörden Bedacht genommen?

Antwort: Nein.

Es ist nötig Vermehrung des Aufsichtspersonals »aber nicht die gröfsere Zahl ist das dringlichste, sondern dafs es die rechten Persönlichkeiten sind,« die »ein wirklich lebendiges Interesse auch an dem Ausbau einer rationellen Didaktik und ihrer Oberführung in die Praxis haben.« Sie sollen entlastet werden von der übergrofsen Zahl der Reifeprüfungen, um ihre Zeit auf gründliche Revisionen verwenden zu können. Sie sollen immer wieder »auf grofse, allgemeine Gesichtspunkte und Ziele hinweisen, den schöpferischen Charakter der didaktischen Arbeit und damit die idealste und dankbarste Führung derselben den Lehrkörpern zum Beuufst- sein bringen.« Das viele Schreibwerk der Direktoren aber sollen sie mög- lichst verringern. Zu diesen regelmäfsigen Revisionen mögen ausserordent- liche seitens der höchsten Aufsichtsbehörden hinzutreten.

Das sind die Hauptpunkte der Antworten.

Beigegeben sind aufserdem dem Hefte noch zwei sehr beachtenswerte Abhandlungen, die mit dem Hauptteil desselben in naher Beziehung stehen: »Zur Forderung des Kaisers : Das Deutsche soll im Mittelpunkt des ganzen Unterrichts stehn« von Dr. F. Heufsner in Kassel und »Das Wesen des Staates, Zusammenfassende Begriffsentwickelung nach der Lektüre von Piatos

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Kriton« von H. Meier in Schleiz. Die Rücksicht auf den Raum verbietet es leider sie eingehender zu besprechen.

Jeder Leser wird die Bedeutung dieses 27. Heftes deutlich empfinden. Es ist ein neuer Tag angebrochen für die Arbeit an den deutschen höheren Schulen, der deutsche Kaiser selbst hat die Ziele für die Arbeit ge- steckt: dies Heft beweist, dafs auch die rechten Arbeiter vorhanden sein werden, welche von Einsicht wie von Liebe zur Sache erfüllt den rechten Weg zu diesen Zielen bahnen werden.

Halle a. d. S. Dr. Rud. Menge.

3. Die Schulreform und das Auge.

Von G. D eh io-Königsberg. (Beilage zur Allgem. Zeitung 1890, No. 336.)

Mit wenig Zeilen möchten wir unsere Leser auf diesen bemerkens- werten Aufsatz hinweisen, der in Hauptforderungen mit denjenigen über- einstimmt, welche in den Kreisen der Herbartschen Pädagogik schon lanye erhoben worden sind.

>Ich will nun, so heifst es an einer Stelle, ohne Umschweif, was ich für das wichtigste Ziel der Schulreform nach der formalen Seite halte, nennen: Herstellung des Gleichgewichts zwischen Begriff und Anschauung. Und als Mittel schlage ich vor: 1. Durchführung des Zeichenunterrichts durch alle Klassen des Gymnasiums; 2. allseitige methodische Verwertung des Zeichnens für den Gesamt-Unterricht. Auf der zweiten Forderung liegt der Hauptaccent; wird sie nicht erfüllt, so geht, was mit der ersten allein erreicht werden kann, über eine dem einzelnen Schüler immer nützliche, dem Unterricht im ganzen aber gleichgültige Fertigkeit nicht hinaus.« Nach dem bisherigen Unterricht gewifs; aber nicht dann, wenn der Freihand- Zeichenunterricht in den Dienst der Geschmacksbildung gestellt wird, was ja Herr Dehio ebenfalls warm empfiehlt und vom Herausgeber d. Z. in dem unten genannten Aufsatz ausführlich begründet worden ist.*)

•) S. W. Rein, Der Zeichenunterricht i. d. Gymnasium. Schriften des d. Einheitschul- vereins. Hannover 1889. 5. Heft, S. 71 90.

II*

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1

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4. Die Mittelschulen in Preussen.

Von H. Chili in Thorn.

Nach der letzten Statistik über das Schulwesen giebt es in Preuiscn 5:6 öffentliche Mittel- und höhere Mädchenschulen. Die meisten derselben haben die Provinzen Brandenburg und Rheinland, nämlich 83 und 75; dann folgen Hannover mit 68, Westfalen mit 67, Sachsen mit 66, Ostpreufsen mit 44, Pommern mit 41, Hessen-Nassau mit 39, Schlesien mit 26, Posen mit 23. Schleswig-Holstein und Westpreufsen mit je 21 und Ilohenzollern mit 2 Schulen.

Zum weit überwiegenden Teile gehören die öffentlichen Mittel- und höheren Mädchenschulen den Städten an. Auf dem Lande finden sie sich nur vereinzelt vor. Es waren bei Aufnahme der Statistik vorhanden.

In den

Auf dem

Zu-

Städten:

Lande :

samme

Öffentliche Mittel- und höhere

Mädchenschulen

535

41

576

Mit Klassenräumen

4051

107

4158

Mit Unterrichtsklassen

3709

109

3818

Davon : Knabenklassen

1227

53

12S0

Mädchenklassen

2271

9

2280

Gemischte Klassen

211

47

2S8

Aus diesen Zahlen läfst sich erkennen, dafs die meisten dieser Schulen auf dem Lande noch wenig über einen guten Anfang hinausgekommen sind. Die Klassenzahl ist hier gering, und in fast der Hälfte der ünterrichts- klasscn werden noch Knaben und Mädchen gemeinschaftlich unterrichtet. Selbst in den Städten begegnen wir noch ziemlich vielen Schulen, die erst im Anfange ihrer Entwickelung zu stehen scheinen, wie folgende Übersicht zeigt. Es wurden gezählt:

Mittelschulen

In den

Auf dem

Zu-

Städten:

Lande :

sammen

mit

1 aufsteigenden Klasse

35

»3

48

»i

2 Klassen

40

9

49

>>

3 >i

Si

11

62

4 11 11

64

4

68

5 11 >f

65

2

67

6 ,,

84

2

86

7 und mehr aufst. Klassen

196

196

Demnach hatten 37 ländliche und 190 städtische Mittel- und höhere Mädchen« schulen weniger als 5 aufsteigende Klassen. Es ist wohl kaum zweifelhart, dafs manche derselben noch nicht als wirkliche Mittelschulen anzusehen

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sind, namentlich auf dem Lande. Fünf und mehr aufsteigende Klassen gab es bei 349 Anstalten, also bei etwa 60 Proz der Gesamtzahl. Auf dem Lande finden sich öffentliche Mittel- und höhere Mädchenschulen überhaupt nur in den Provinzen Brandenburg 11), Sachsen (2), Hannover (8), West- falen (14), Hessen-Nassau (4) und Rheinland (12) vor.

In allen öffentlichen Mittel- und höheren Mädchenschulen wurden zu- sammen 134 937 Kinder unterrichtet. Das ist eine auffällig geringe Be- nutzung dieser Anstalten , insbesondere seitens der männlichen Jugend, welche nur mit 54 024 Schülern in der Mittelschule vertreten ist, während in derselben 81 913 Mädchen ermittelt wurden. Für das weibliche Ge- schlecht bedeutet die höhere Mädchenschule allerdings dasselbe, was die höheren Lehranstalten für die männliche Jugend sind. Letzteren Lehr- anstalten werden aber bei weitem mehr Knaben zugeführt, als den Mittel- schulen; denn auf den Gymnasien, Progymnasien, Realgymnasien, Realpro- gymnasien etc., sowie auf den höheren Bürgerschulen Prcufsens wurden 151 141 Schüler ermittelt. Selbst wenn man den 53 024 Schülern der öffent- lichen Mittelschulen noch die 12625 Knaben in Privatschulen mit gleichem Lehrziele hinzurechnet, wird noch lange nicht der Besuch der höheren Lehranstalten erreicht. Von der gesamten männlichen Jugend, welche einen über das Ziel der Volksschulen hinausgehenden Unterricht erstrebt, be- suchen nur 30 Proz. die Mittelschulen und 70 Proz. die höheren Lehr- anstalten.

Für die weibliche Jugend giebt es aufser den öffentlichen höheren Mädchenschulen noch eine gröfsere Zahl privater Anstalten ähnlicher Art. In diesen befanden sich 55 748 Mädchen, so dafs im Ganzen 137 661 Mädchen den über die Ziele der Volksschule hinausgehenden Unterrichtsanstaltcn angehören. Werden diesen die 217 190 Knaben der Mittelschulen und höheren Lehranstalten gegenübergestellt, so ergiebt sich, dafs 79 529 Mäd- chen weniger als Knaben den höheren Unterricht erhalten. In Wirklichkeit wird dieser Unterschied etwas gemildert durch den Umstand, dafs die Mädchen der wohlhabenden Stände vielfach in Pensionaten erzogen werden und die Dauer des Unterrichts auf den höheren Lehranstalten für die männliche Jugend 2 bis 3 Jahre länger als auf den höheren Mädchenschulen ist. Immerhin bleibt wohl die sich aus natürlichen Ursachen erklärende Thatsache bestehen, dafs der weiblichen Jugend in geringerem Umfange die höhere unterrichtliche Fürsorge zugewandt wird. Es werden etwa 205 bis 207000 Knaben mit höherer Schulbildung 150 bis 155000 Mädchen dieser Art gegenüberstehen.

Eine andere bemerkenswerte Erscheinung ist die sehr ungleiche Be- nutzung der Mittelschulen durch die verschiedenen Konfessionen. Von der Bevölkerung im preufsischen Staate sind 64,4 Proz. evangelisch, 34 Proz. römisch-katholisch, 0^,3 Proz. sonstige Christen und 1,3 Proz. jüdisch. Da- gegen finden sich unter 134937 Schülern der öffentlichen Mittel- und höheren Mädchenschulen

Evangelische 115002 = 85,38 Proz.,

Katholische 9969 7,39 ,

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- 166

sonstige Christen 544 = 0,40 Proz., Juden 9221 6,83

Demnach werden die öffentlichen Mittel- pp. Schulen ganz überwie- gend von der evangelischen und der jüdischen Bevölkerung benutzt, und der Anteil der katholischen Kinder an der Frequenz derselben ist auffallend gering. Das Mifsverhältnis wird in etwas zu gunsten der Katholiken durch die Benutzung der privaten Mittel- pp. Schulen, die man bei dieser Be- trachtung wohl nicht aufser acht lassen darf, ausgeglichen: denn unter 203310 Schülern der öffentlichen und privaten Mittel- pp. Schulen waren

Evangelische 164 439 = 80,88 Proz.,

Katholische 21 162 = 10,41 sonstige Christen 859 = 0,42

Juden 16 850 = 8,29

Allein auch dann erreicht die katholische Bevölkerung noch nicht ein Drittel desjenigen Anteils, der ihr nach dem Stärkeverhältnis in der Ge- samtbevölkerung zukommt. Die evangelische und die jüdische Be- völkerung bleibt ihr ganz erheblich überlegen. Einer ähnlichen Erscheinung begegnen wir auch auf den höheren Lehranstalten des männlichen Ge- schlechts und auf den Universitäten. Dort waren 18S6 unter je 100 Schülern 72,5 evangelisch, 17,6 katholisch, 0,25 sonst christlich und 9,7 jüdisch, und unter den studierenden Preufsen der preulsischen Universitäten waren damals 69,64 Proz. evangelisch, 20,12 Proz. katholisch, 0,36 Proz. sonst christlich und 9,58 Proz. jüdisch. Hiernach ist das Zurückbleiben der katho- lischen Bevölkerung bei dem Mittelschulbesuche nicht eine vereinzelte Er- scheinung. Sie ist nur schärfer ausgeprägt als bei den höheren Lehran- stalten und bei den Universitäten. Überall, am mittleren, höheren und höchsten Unterrichte ist die Beteiligung der katholischen Bevölkerung ver- hältnismäfsig geringer als die der evangelischen und ganz erheblich geringer als die der jüdischen Bevölkerung. Die Gründe dieser Erscheinung liegen aber wohl weniger in der inneren Wertschätzung geistiger Güter, als in äufseren Dingen.

An den öffentlichen Mittel- u. höheren Töchterschulen waren als voll- beschäftigte Lehrkräfte 2994 Lehrer und 1021 Lehrerinnen, als Hilfslehrkräfte 438 Lehrer und 136 Lehrerinnen thätig. Die Verteilung derselben nach den Konfessionen zeigt folgende Übersicht:

1) Vollbeschäftigte Lehrkräfte:

Lehrer: Lehrerinnen: Zusammen:

a. evangelisch 2727 913 3640

b. katholisch 253 101 354

c. sonst christlich 1 #i 2

d. jüdisch 13 6 19

Summa 2994 1021 4015

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i6;

2) Hilfslehrkrätte :

Lehrer: Lehrerinnen: Zusammen:

a. evangelisch 260 118 378

b. katholisch 120 12 132

c. sonst christlich 1 1

d. jüdisch 57 6 63

Summa 438 136 574

Hiernach machen die Lehrerinnen 25 bez. 23 Proz. der gesamten Lehrkräfte aus. Die Verwendung weiblicher Lehrkräfte ist also bei diesen Schulen eine wesentlich höhere als bei den öffentlichen Volksschulen. Die ausgiebigste Verwendung finden weibliche Lehrkräfte indessen bei den privaten Mittelschulen, wo von 3126 vollbeschäftigten Lehrkräften 2422 Lehrerinnen waren. Diese erklärt sich vielleicht zum Teil daraus, dals in den privaten Mittelschulen die Mädchenschulen vorwiegen, und dafs die weibliche Lehr- kraft für den privaten Schulvorsteher billiger ist, als die männliche. Im Gesamtgebiete der preufsischen Volks- und Mittelschulen finden etwa 10600 Lehrerinnen als vollbeschäftigte Lehrkräfte Anstellung bezw. Be- schäftigung. Das sind etwa 14 Proz. aller derartigen Lehrkräfte.

Die Verteilung der Schüler der öffentlichen Mittelschulen auf die Lehrkräfte ist im Durchschnitt eine sehr günstige; denn es kommen auf eine vollbeschäftigte Lehrkraft durchschnittlich 33,6 Schüler.

Die Gesamtkosten der öffentlichen Mittel- und höheren Mädchenschulen beziffern sich auf 10807227 M. Davon sind 3692186 M. sächliche Auf- wendungen. Die persönlichen Kosten im Betrage von 7 115 041 M. ent- halten :

1. Gesamtstelleinkommen der vollbeschäftigten Lehrkräfte 6429833 M.

2. Persönliche und Dienstalterszulagen 51796 >.

3. Aufwendungen für Hilfslehrkräfte 344 398 4 Pensionen emeritierter Lehrkräfte 251470 5. Leistungen für die Lehrer- Witwen- u. Waisenkassen 37 544

Die Einkommensverhältnisse der Lehrkräfte an den Mittel- und höheren Mädchenschulen in den einzelnen Provinzen zeigt folgende Übersicht:

Durchschnittl. Gehalt Dazu Wert der einschl. der persönlichen freien Wohnung Summa u. Dienstalterszulagen u. Feuerung

Ostpreufsen

1386

Mk.

263

Mk.

1649

Mk.

Westpreufsen

1437

11

333

11

1770

"

Stadtkreis Berlin

2669

■-

644

i>

3313

m

Brandenburg

«423

270

1693

1

Pommern

1589

286

'•

1875

11

Posen

»538

294

II

1832

11

Schlesien

«743

1!

346

>■■

2089

Sachsen

1405

290

"

•695

Schleswig-Holstein

1672

II

404

2076

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168

Durchschnittl. Gehalt Dazu Wert der

einschl. der persönlichen freien Wohnung Summa

u. Dienstalterszulagen u. Feuerung

Hannover 1493 Mk. 325 Mk. 1818 Mk.

Westfalen 16 14 256 1870

Hessen-Nassau 1892 465 2357

Rheinland 1914 320 2234

Hohenzollern 1080 220 1300 ,,

Rechnet man die persönlichen und Dienstalterszulagen, sowie den Wert der Wohnung und Feuerung dem Stcllcneinkommen zu, so ergicbt sich folgende Abstufung des Einkommens der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Mittelschulen. Es hatten ein Einkommen

bis

000

Mk.

55

Lehrer und

•23

Lehrerinnen

von

901

>■>

bis

1050

Mk.

118

11

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1051

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187

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Die Mehrzahl der Lehrer bezieht also ein Einkommen von über 1800 Mk., die Mehrzahl der Lehrerinnen ein solches von über 1200 Mk.

Bezüglich der in den Ruhestand getretenen Lehrkräfte an den Mittcl- und höheren Mädchenschulen ergab die Statistik, dals 144 pensionierte Lehrer und 103 pensionierte Lehrerinnen vorhanden waren. Auf 21 voll- beschäftigte Lehrkräfte entfiel ein Pensionär, eine Pensionärin aber schon auf 10 vollbeschäftigte Lehrerinnen. Die Durchschnittspension eines Lehrers betrug 14 16 Mk., die einer Lehrerin 462 Mk.

Die Gesamtkosten für eine Klasse der Mittel- und höheren Mädchen- schulen beziffern sich durchschnittlich auf 2831 Mk. und jedes Kind ver- ursacht einen Aufwand von 80 Mk. Da im Durchschnitt jeder Schüler 36 Mk. Schulgeld entrichtet, so erfordert er einen Zuschufs von ca. 44 Mk- Zur Vergleichung führen wir noch an, dafs jeder Schüler der höheren Lehr- anstalten im Durchschnitt etwa 179 Mk. kostet und 90 bis 95 Mk. Zuschufs erfordert.

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5. Die Herbartsche Pädagogik in Württemberg.

Viel leichter als über Pädagogik wäre über Schulpolitik in Württem- berg zu berichten. Letztere herrscht so sehr vor, dafs der erstcrcn nur noch der Aufenthalt im Hintergrund gestattet ist. Denn die Schul- politiker vom Fach fragen zunächst, wie sie selbst, dann erst (wenns überhaupt soweit kommt) wie die Schulen ihrer Natur gcmäfs leben können. Ein solches Vorgehen führt mancherlei Widerspruch und Kampf herbei, welche Kraft und Zeit in Beschlag nehmen. Man befindet sich ins- besondere in Widerspruch und Kampf mit den Vertretern der Kirche, welche bisher die amtlichen Vorgesetzten der Schule waren, in Kampf auch mit demjenigen kleineren Teil der Volksschullehrerschaft, welche von einer Neugestaltung unserer Schulverwaltung eine Beeinträchtigung des individuellen Glücks befürchtend die Beibehaltung der seitherigen Schul- aufsichtsordnung besonders aus religiösen Gründen befürworten. Ist so alles in centrifugale Bcwegun« gekommen, dann will eine Zurückwendung zum Zentrum als eine naturgesetzliche Unmöglichkeit erscheinen. Ver- geblich wird den Parteien die wissenschaftliche Pädagogik als Vereinigungs- punkt vorgeschlagen. Ebenso scheinen auch alle Anrcizungen von amt- licher und privater Seite zum Studium und zur Pflege der wissenschaftlichen Pädagogik Herbarts vergeblich zu sein. Doch ich will nicht Vermutungen sondern Thatsachen berichten.

Eine vor 4 Jahren von der württembergischen Oberschulbehörde ge- stellte Preisaufgabe: »Was versteht die sogenannte wissenschaftliche Päda- gogik der Schüler Herbarts unter Konzentration und kulturhistorischen Stufen bei Anordnung des Unterrichtsstoffes, sowie unter formalen Stufen beim Unterrichtsverfahren? und inwiefern sind die in diesen Ausdrücken befafsten Forderungen begründet?« wurde von einer aufsergewöhnlichen Anzahl von Lehrern (13) bearbeitet. Zwei der preisgekrönten Arbeiten sind auch in die Öffentlichkeit gedrungen (»Die Hauptforderungen der Herbart-Zillerschen Unterrichtslchrc, von Chr. Schmid und »Die Päda- gogische Schule Herbarts und ihre Lehre, von Joh. Fr. G. Közle«). Gleich- zeitig erschien eine Schrift über die formalen Stufen von Seytter. Keine dieser Schriften vermochte eine merkliche Änderung in der Stellungnahme der württ. Lehrerschaft im allgemeinen gegenüber den pädagogischen Lehren der Herbartschen Schule hervorzubringen.

Auf den amtlichen Konferenzen ist man mehrfach auf die Lehren der Herbartschen Pädagogik zu sprechen gekommen. Im Konferenzjahr 1889/90 sind folgende diesbezügliche Themen teils in Aufsätzen, teils in Referaten behandelt worden: Die Herbart-Zillersche Unterrichtsmethode, Die Konzentration des Unterrichts. Das Märchen und das erste Schuljahr.

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I I

i/o Die Herbartsche Lehre vom erziehenden Unterricht.

Eine Lehrprobe über den Hebel nach Hcrbart-Zillerschen Grundsätzen

schriftlich auszuarbeiten. Die Psychologie Herbarts.

Psychologische Begründung der Herbartschen formalen Stufen.

Die Betreibung des Religionsunterrichts in der Herbartschen Schule.

Die Herbartsche Pädagogik im Verhältnis zum Christentum.

Es ist nur schade, dafs man von den Ergebnissen dieser Unter- suchungen aufserhalb der betreflenden Konferenz nichts erfährt. Eine Zu- sammenfassung derselben (etwa in einem jährlich zu veröffentlichenden »Pädagogischen Konferenzjahrbuch«) würde die Bestrebungen auf den ver- schiedenen Gebieten der Volksschule deutlich erkennen lassen und eine zielbewufste Gesamtarbeit ermöglichen.

Weiterhin nötigen die Examenaufgaben der II. Dienstprüfung hin und wieder zum Studium der Hcrbart-Zillerschen Unterrichtslehre. So wurde z. B. kei der letzten II. Dienstprüfung 'November 1890 die Aufgabe gestellt: »Die Hauptgedanken des Hei bart-Zillerschen Unterrichtssystems (übersichtlich)«.

In den Seminaren wurde bisher ein geringer Wert auf die Her- bartsche Pädagogik gelegt; es geschah ihrer wohl Erwähnung, aber zu dem Versuch einer Anwendung ihrer Lehren (wenigstens der formalen Stufen' ist es, soweit des Verfassers Erkundigungen reichen, bis heute nicht ge- kommen. Doch unternahmen voriges Jahr zwei unserer Seminarmuster- lehrer eine Reise nach Altenburg, um dort die Anwendung der Herbartschen Unterrichtslchrc in der Praxis kennen zu lernen.

Seit einigen Jahren wird auch von privater Seite aus das Interesse für Herbartsche Pädagogik in Württemberg zu wecken gesucht. (Vgl. Pädagogische Studien 1S89, II. Heft.) Wiederholt wurde vom Unterzeich- neten ein Aufruf zur Vereinigung der Herbartianer in Württemberg er- lassen. Allein nur mit geringem Erfolg. Doch ist für das Winterhalbjahr 1890/91 in Winnenden eine freie Konferenz zustande gekommen, welche sich das Studium der Herbartschen Psychologie und Methode zur Aufgabe gemacht hat.

Durch einige neuere Schritten und Artikel in unserem (halb- amtlichen) Schulwochenblatt wurde wiederholt auf die Herbartsche Päda- gogik hingewiesen. Vom Unterzeichneten geschah dies mit besonderer Hervorhebung der erziehlichen Seite in: »Erziehender Unterricht, Verlag von H. A. Pierer, Altenburg.« Desgleichen in einem Aufsatz im württ Schulwochenblatt: »Der neue Stuttgarter Lehrplan vom Standpunkt des erziehenden Unterrichts aus betrachtet.« (Schulwochenblatt No. 39, 1890. Verlag von Chr. Bclser in Stuttgart.)

Verfasser hat die Überzeugung gewonnen, dafs, wenn die Herbartsche Pädagogik mit Erfolg auf die Schulpraxis einwirken will, es ganz verkehrt ist, mit dem Lehrverfahren beginnen zu wollen. Thut man das dennoch, so findet man die Methode nicht nur nicht hinreichend begründet, sondern was wirklich verhängnisvoll ist, in vielen Fällen praktisch undurchführbar.

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Von dieser Lage aus wird dann die ganze Herbartsche Pädagogik be- urteilt und man weifs, wie das blinkt.

Ohne Zweifel ist es die Reform des Lehrplans, was unseren Schulen not thut und dem Herbartianismus die Thüren öffnet. Wenn auch die Lehrplantheorie noch zu keinem relativen Abschlufs gekommen ist, wie das bei der Theorie der formalen Stufen der Fall ist, so sind doch für die Neugestaltung des Lehrplans Anhaltspunkte (Grundgesetze) gegeben, die gegenüber dem seither in dieser Hinsicht herrschenden Eklektizismus einen wesentlichen Fortschritt zu bedeuten haben.

Zur Bethätigung dieser Einsicht bietet die württ. Oberschulbehörde durch die Stellung einer neuen Preisaufgabc Gelegenheit. Die Preisaufgabe lautet: »Der Lchrplan einer einklassigen, einer zwei- und einer drei- klassigen Volksschule soll entworfen werden, wobei etwaige Abweichungen vom Normallehrplan eingehend zu begründen sind.«

Endlich wurde die Herbartsche Pädagogik als Vereinigungspunkt der eingangs erwähnten streitenden Parteien vorgeschlagen. Da die Geistlichen nur unter der Bedingung aus freien Stücken auf die Schulaufsicht ver- zichten, wenn sie die Hoffnung haben dürfen, dafs nach Erlangung der Fachschulaufsicht die Lehrer nicht auch die konfessionslose Volksschule anstreben, wies Verfasser dieses in einem Artikel des Schulwochenblattes »Zu den Friedenspräliminarien« nach, dafs diese Befürchtung thatsächlich nicht begründet sei, und dafs ihr auch für die Zukunft jeder Boden ent- zogen wäre, wenn man der wissenschaftlichen Pädagogik Herbart-Zillers gröfseren Einflufs bei uns verstatten würde.

Ob nun diese vielfachen Anregungen, welche in vorliegender Sache gegeben wurden, eine entsprechende Reaktion hervorzurufen imstande sind, wird wohl die Zukunft lehren. »Gut Ding will Weile haben.«

Baach b. Winnenden. J. L. Jetter.

6. Begehren und Wollen.

Eine Entgegnung.

Herr Otto Foltz hat mir die Ehre erwiesen, in der vorletzten Nummer der »Pädagogischen Studien« meine Schrift: »Die Kant-Herbartsche Ethik« einer Beurteilung zu unterziehen. Wenn ich nun auch wünschte, dafs der Kritiker in etwas freundlicherer Weise auf meinen Standpunkt sich zu stellen versucht hätte, so danke ich ihm doch aufrichtig für die Mühe, die er sich um meine Arbeit verursacht hat. Leider aber kann ich mich den Ergeb- nissen seiner Beurteilung nicht anschliefsen. Gar mancherlei ist es, was ich da zu sagen hätte. Der Kürze wegen werde ich indes alles minder

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Wichtige beiseite lassen und mich sofort zu dem in der Überschrift be- zeichneten Kernpunkte wenden.

Herbart erklärt (Werke V S. 78) den Willen für ein Begehren, »verbunden mit der Voraussetzung der Erfüllung.« Mit dieser Erklärung kann ich nicht übereinstimmen, und zwar aus einem formellen und einem sachlichen Grunde.

Zunächst weifs ich mit dem Posten »Voraussetzung der Erfüllung« in der Rechnung: »Begehren und Voraussetzung der Erfüllung = Wollen« nichts anzufangen; jene Voraussetzung will sich mit dem Begehren nicht zu einem einheitlichen Begriffe summieren lassen. Sehen wir uns deshalb die Sache etwas näher an !

Das Begehren ist nach der Auffassung Herbarts eine be- stimmte Vorstellung, die mit einer ihr widerstrebenden in ein Spa n n vn g s v e r hältnis gerät. Zeugnis dafür geben die Worte (W. V S. 81; »Es sind zuerst die Gedanken, welche der gewohnten Rich- tung folgen und welche, wenn kein Hindernis eintritt, vor allem merklichen Fühlen und Begehren sogleich in Handlung übergehen. Stellt sich aber etwas in den Weg, alsdann schwillt die Begierde an, begleitet von einem Gefühl der Mühe und der angestrengten Thätigkeit.« Da die widerstrebende Vorstellung zu der strebenden in demselben Verhältnisse steht wie letztere zu erstcrer, die Natur beider also gleich ist, so charakterisiert auch die widerstrebende Vorstellung sich als Begehren, und es befinden sich, sobald die Seele begehrt, zwei Begehren in derselben, meinetwegen das der Er- füllung und das ihm entgegengesetzte der Nichterfüllung. Als Beweis da- für, dafs ich im Sinne Herbarts rede, wenn ich die widerstrebende Vor- stellung ebenfalls als Begehren bezeichne, möchte ich daran erinnern, dafs Herbart bei der Herleitung seiner Idee der sittlichen Freiheit die »beste Einsicht« als Willen zu einem andern Willen in ein Verhältnis setzt, sie mithin doch otTenbar als ursprüngliches Begehren behandelt. Zur Betäti- gung, zur Wirksamkeit über das Streben gee;en das andere hinaus wird nun allein das Begehren gelangen können, oder, mit Herbarts Worten aus- gedrückt, die Voraussetzung der Erfüllung kann sich nur mit dem Begehren verbinden, welches sich als das stärkere erweist, dadurch aber wird dieses zum Wollen. Der Wille mufs also im Hcrbartschen Gedankenzuge definiert werden etwa als der siegende und herrschende Teil eines Begehrungspaares. Von diesem Standpunkte aus habe ich S. 77 meiner Schrift gesagt: »Nach Herbarts Psychologie ist das Wollen ein Be- gehren, das (über sein Verhalten zu dem gegnerischen Begehren hinaus) aktiv wird«, und S. 136: »Ich kann nicht, wie die Herbartianer es thun, den Willen für eine Art des Begehrens halten, nämlich für eine solche, die (über das Verhalten zu dem gegnerischen Begehren hinaus) zur Bethätigung strebt « Das ist der formelle Grund.

Zu dem sachlichen hinüber bringen uns meine zuletzt zitierten Worte. Ich vermag mit der Herbartschen Begriffserklärung des Willens nicht ein- verstanden zu sein selbst in der von mir vorgeschlagenen Fassung, und zwar deshalb nicht, weil es mir scheint, als sei dem Begriffe »Willen« Ge-

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walt angethan worden. Das »Wollen« eines Menschen setzt nach allge- meiner Anschauung die Zustimmung der Persönlichkeit, des Ich, zu dem Erstrebten voraus, wie das auch ein Herbartianer, Ballauf, zu- giebt, wenn er sagt (Gründl, d. Psych. S. 86): »Dadurch, dafs zu einem in mir hervorgerufenen Streben mein Entschlufs hinzukommt, es auszuführen, wird es zu meinem Wollen.« Wo ist diese innere Zustimmung des Wollen- den bei Herbart? Auf sie wird dort keine Rücksicht genommen. Nur die > Voraussetzung der Erfüllung« des Strebens macht ja letzteres zum Wollen, oder anders gesagt : Einfach das stärkere Streben ist das Wollen, einerlei, ob die Persönlichkeit des Menschen sich freundlich oder feindlich zu dem- selben stellt, dasselbe zu fördern oder zu hindern strebt. Nach Herbart ist es deshalb auch unmöglich, etwas zu thun, was man nicht will, oder etwas nicht zu thun, was man will (von äufserem Zwange abgesehen). Denn nur das Siegende im Begehren kann zum Thun fortschreiten , folg- lich ist alles, was man thut, jenem herrschenden Begehren, dem Wollen, entsprechend. Das aber steht wieder der allgemeinen Anschauung ent- gegen. Ein jeder wohl hat schon die Erfahrung an sich gemacht, deren der Apostel Paulus mit den Worten Erwähnung thut: »Das Gute, das ich will, das thue ich nicht; das Böse aber, das ich nicht will, das thue ich «

Sobald ich mir klar darüber geworden war, in welcher Richtung ich die wahre Bestimmung des Wollens zu suchen haben würde, schlug ich den geeigneten Weg ein. Dabei drängte sich mir die Überzeugung auf, dafs im nichtkörperlichen Leben des Menschen eine deutliche Schei- dung sich bemerkbar mache in eine mechanische Seite und eine solche, welche die Persönlichkeit des Menschen darstellt. Ich ging zuvörderst daran, diese Seiten in der Beziehung scharf zu unterscheiden, und nannte sie die »seelische« und die >geistige«. Der Begrift »Seele« hat also bei mir nicht den Umfang wie bei Herbart. Das Wort schliefst bei mir die Per- sönlichkeit des Menschen und damit alle Erscheinungen aus, die durch das Eingreifen derselben in das mechanische Getriebe der Seele in letzterer hervorgerufen werden. So ist mir z. B. das Bewufstsein als solches ein »seelischer« Zustand, ebenso die Aufmerksamkeit, soweit sie durch ihre Gegenstände hervorgerufen wird, während ich die Aufmerksamkeit, welche sich darstellt als das von dem Ich veranlafste und dem Wirken der für das gegenseitige Verhalten der Vorstellungen geltenden mechanischen Gesetze gegenüber durchgeführte Verweilen bestimmter Vorstellungen in dem Bcleuchtungszustande, den wir Bewufstsein nennen, als einen »geistigen« Zustand bezeichne. Ähnliches, wie auf dem Gebiete des Bewufstseins, läfst sich auch auf dem beobachten, das gewöhnlich als »Verstand« angesprochen wird ; so gehört für mich das »Ab- gewitztsein auf den eigenen Vorteil«, wie Kant sagt, ausschliefslich dem »seelischen« Leben an, weil es rein nach mechanischen Gesetzen entsteht (s. S. 134 meiner Schrift).

Ebenso scharf habe ich die Strebungen in diesen beiden Seiten unterschieden und die der Seele »Begehren« genannt, weil ihnen die

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oben als unerläfslich bezeichnete Beteiligung der Persönlichkeit fehlt, die des Geistes »Wollen«, weil bei ihnen eben jene Beteiligung vorhanden ist. Um diese Unterscheidung recht augenfällig zu machen, gebrauchte ich auf S. 136 meiner Schrift die Worte: »Dieser (der Wille) begehrt nichts und hat nichts Gleichartiges mit dem Begehren (eben weil er nicht dem seelischen, sondern dem geistigen Bereiche des menschlichen Seins ange- hört). Man kann ihn als den Polizisten bezeichnen, der nach der Weisung seines Gebieters dessen Ordnung dem blinden Mechanismus des natürlichen Seelenlebens gegenüber zur Durchführung bringt (oder wenigstens zu bringen sucht . Er ist der Ausdruck der Persönlichkeit des Menschen, die Herr im eigenen Hause sein darf.« Wie wenig angebracht im Hinblick hierauf die Worte des Herrn O. F. sind: »Der Wille strebt also nicht über die Gegenwart hinaus, hat kein Ziel, will demnach nichts? Und dieser nichtswollendc Wille soll die innere Freiheit in die Wirklichkeit treten lassen? Das ist dem Rez. zu stark, und er hält sich nicht verpflichtet, den Ausführungen des Verfassers noch weiter im einzelnen nachzugehen«, wird er wohl selbst fühlen.

Nachdem so der Hauptpunkt erledigt ist, seien mir nur noch wenige Worte gestattet. Zieht Herr O. F. in Rücksicht erstens, dafs der Wille der geistigen Seite des Menschen angehört, zweitens, dafs der Inbegriff dieser Seite die Vernunft ist, drittens, dafs »vernünftig« und »gut« als identisch angesehen werden mufs (wenigstens habe ich mich in meiner Schrift bemüht, den Nachweis dafür ausführlich zu erbringen), so wird es ihm nicht schwer werden, zu erkennen, woher die zunächst psychisch be- stimmte »innere Freiheit« ihre sittliche Würde nimmt. Ebenso möchte ihm damit die Möglichkeit geboten sein, das Verfahren seines zweijährigen Töchterchens sittlich richtig zu werten. Andeutungen dazu halte ich einem so gewiegten Psychologen und Ethiker gegenüber für überflüssig.

Cöthen. F. W. D. Krause.

7. Die Pädagogische Vorbildung der Kandidaten für das

höhere Schulamt in Baiern.

Die Beschlüsse des Bairischen Ober-Schulrats in München inbezug aut die pädagogische Ausbildung der Kandidaten des höheren Schulamts sind von besonderem Interesse, da sie nicht die in Preufsen beliebte Einrich- tung nachahmen, sondern gerade das, was der Preufsischen Organisation fehlt, fordern und zwar in erster Linie. Denn der Oberschulrat stellte als ersten Satz hin:

An den drei Landesuniversitäten sollen pädagogische Vorlesungen

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(Ethik, Psychologie, Didaktik, Geschichte u. System der Pädagogik u. s. w.) gehalten werden.

Wie wenig ausreichend an den Preufsischen Universitäten hierfür gesorgt ist, möge man aus der Zusammenstellung in den Päd. Studien 1889 S. 234 erkennen. Wenn der Preufs. Kultusminister im Abgeordnetenhaus sich aul diese Zusammenstellung als einen Beweis für die ausreichende Pflege der Pädagogik an den Preufs. Universitäten berief, so befand er sich hierbei in einem verhängnisvollen Irrtum.

2) An die gründliche theoretische Vorbildung, die die Universität übernimmt, schliefst sich die praktische Ausbildung an, die jedoch nicht über ein Jahr hinaus ausgedehnt werden soll.

3) Die praktische Vorbildung soll nicht an einer zentralisierten Anstalt mit Musterschule durchgemacht werden, sondern verschiedene Rektoren u. Professoren von Gymnasien und Realschulen sollten je 2—5 Kandidaten zugewiesen erhalten.

4) Über die Aneignung der Vorlesungen an der Universität soll eine Probe u.Zeugnis verlangt werden; bei dem Examen ist auch ein deutscher Aufsatz pädagogischen Inhalts zu liefern.

Hoch erfreulich ist es auch, dals der Baierische Kultusminister an erster Stelle betonte, dafs unsere Gymnasien E r z i e h'e r , nicht Gelehrte brauchen ; Männer, die mit voller Begeisterung den Erzieherberuf ergreifen und festhalten. *) Baiern hat (Vergl. Allg. Zeitung 6. April Abendblatt.) mit obigen Bestimmungen einen guten Schritt vorwärts gethan im Gegensatz zu Preufsen, das merkwürdiger Weise auf die Grundlegung der gesamten Erzieher- Arbeit, die gar nicht anders als durch die Universität in umfassen- der und gründlicher Weise verwirklicht werden kann, so geringen Wert zu legen scheint, dafs in den Bestimmungen über die praktische Ausbildung von der theoretischen Grundlegung gar nicht die Rede ist.

Das Grolsherzogtum Weimar hat zwar die Preufs. Ordnung neuer- dings angenommen, hat aber durch die Heranziehung der an der Univer- sität Jena für die pädagogische Ausbildung getroffenen Einrichtungen den auffallenden Mangel der Preufsischen Instruktion zu beseitigen gesucht

(S. das Programm des Jenaer Gymnasiums 1891.)

8. Herbartverein in Eisenach.

Im verflossenen Winterhalbjahr setzte der Verein die Durcharbeitung von Zillers >Allg. Pädagogik <, welche er im Winter 1889/90 begonnen hatte, fort. Die Sitzungen fanden alle 14 Tage statt. Zur Besprechung gelangte die allgemeine Unterrichtsmethodik (S. 259—389). Von den vielen Punkten,

•) Diomn Standpnnkt hat der ß*iri»cbe KnltniminlMCT neuerdings auf dem PhllologonUg in München wiederum «Indringlich Tertreten.

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4- Über den Anfang des Französ. Unterrichts von Ch. Toussaint 52 76. 5. Die Schulreise als organ. Glied im Plane der Erziehungsschule. Von

E. Scholz. 76—135. die zu einer besonders lebhaften Diskussion Anlafs gaben, heben wir folgende hervor: Bezieht sich das Hauptziel nur auf die zwei ersten oder auch auf die weiteren formalen Stufen? (Allg. Päd. S. 262). Was gehört auf die Stufe des Systems? Welcher Unterschied besteht zwischen ur- sprünglicher und appereipicrender Aufmerksamkeit ? Bei der Erörterung der zweiten Frage gelangte eine Arbeit des Herrn Bodenstein: »Zum System im Geschichtsunterricht« zum Vortrag. In der Schlufssitzung ver- suchte Herr Fack die Gründe, die füi die Märchen geltend gemacht werden, als nicht stichhaltig nachzuweisen.

Leider hat der Verein zu Ostern ein sehr geschätztes Mitglied ver- loren: Herr Direktor Dr. Staude ist als Seminardircktor nach Coburg gegangen.

9. Oster- Programme 1891.

Unter den Oster-Programmcn des Jahres 91, die uns zugegangen sind, möchten wir unsere Leser besonders auf folgende verdienstvolle Arbeiten hinweisen :

1) Dr. Aug. Nebe -Elberfeld, Vivcs, Alstcdt, Comenius in ihrem Verhält-

nis zu einander. (Progr. No. 434 )

2) Dr. A. Gille-Cottbus, Aufgaben und Methode der Pädagogik als Wissen-

schaft. Halle a. S. (Progr. No. 229.)

3) Dr. O. Alten bürg- Weelcn, Zur Lchrplanorganisation für die Prima

des humanistischen Gymnasiums. (Progr. No. 207.)

10. Aus dem Pädag. Universitäts-Seminar zu Jena.*)

Den früher angezeigten Heften reiht sich das dritte kürzlich er- schienene an. Es ist dem Andenken an den Begründer des Seminars, Herrn Schulrat Stoy, gewidmet und enthält folgende Arbeiten:

1. Vorwort von Prof. Dr. Rein. I— XVI.

2. Bericht über die Thätigkeit des Seminars. Von E. Scholz. 1—24.

3. Ordnung des Seminars. Von A. Reukauf. 24—52.

*.l Langensalza, Beyer u. S., 3,50 M.

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6. Girardet-Breling: Die Aufgaben der öffentl. Erziehung gegenüber der sozialen Frage. Von J. Trüper. 135—154.

Der Anhang enthält 1) einen Bericht über die Schulreise der Seminar- schule in den Harz, Sommer 1889 und 2) Konzentrations -Tabellen der Quinta und Quarta.

Allen denjenigen, welche Interesse für die Arbeit des Päd. Univer- sitäts-Seminars in Jena haben und mit derselben sich näher bekannt machen wollen, bietet sich das dritte Heft als Führer an.

II. 5 Hauptversammlung des Vereins für Knabenhandarbeit.

Am 23. und 24. Mai d. J. fand im Gewerbehause zu Eisenach die 5. Hauptversammlung des deutschen Vereins für Knabenhandarbeit statt. Zunächst hielt am 23. Mai abends 8 Uhr nach einer Vorstandssitzung des Vereins Oberrealschuldirektor Noeggerath aus Hirschberg i. Schles. einen öffentlichen Vortrag über Bedeutung und Ziele des Handarbeits-Unterrichts. Nach einem geschichtlichen Oberblicke über die Bestrebungen für erzieh- liche Knabenhandarbeit hob der Vortragende zunächst die verderblichen Folgen einer einseitigen Ausbildung des Geistes hervor, wie sie sich z. B. darin zeigten, dafs von den Einjährig-Freiwilligen bei der Aushebung zum Militär 80 %, von den Besuchern der Volksschule höchstens 45 % zurück- gestellt werden müfsten, obgleich doch die ersteren von Jugend auf in günstigeren Lebensbedingungen aufwachsen, als die letzteren, und betonte die Notwendigkeit des Gegengewichtes gegen diese einseitige Ausbildung. Freilich seien Turnunterricht und Jugendspiele nicht genügend als solches, sondern es müsse aufserdem noch der Handarbeitsunterricht hinzukommen, der nicht blofs mechanische, geistlose Fertigkeit erzielen wolle, sondern in umsichtiger Auswahl vielseitige, wechselvolle Aufgaben stelle und durch deren Lösung zugleich zu höherer Intelligenz erziehe. Eine übcrmäfsige Belastung des Kindes werde durch ihn nicht herbeigeführt, im Gegenteil eine Erholung von einseitiger geistiger Anstrengung; auch sei die Hand- arbeit nicht etwa Spielerei, sondern bringe durch das Gefühl der Be- friedigung über gelungene Leistungen eine entschiedene Stärkung des Willens mit sich. Ferner werde durch die Handarbeit die Berufswahl er- leichtert und Interesse für die wirtschaftlichen Berufsarten namentlich auch in den mittleren und höheren Volksklassen wachgerufen, somit auch dem geistigem Hochmute unserer Kopfarbeiter wirksam entgegengearbeitet. Dieser geistige Hochmut sei mit daran schuld, wenn die Produktionsfähig- keit unserer Nation hinter der anderer Völker zurückgeblieben sei: weite Schichten unseres Volkes dünkten sich noch jetzt für die Handarbeit zu vornehm. Darin vor allem liege die soziale Bedeutung der Knaben-Hand- arbeit. Wichtig in dieser Beziehung sei auch, dafs in Gegenden, wo eine

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arme Bevölkerung unter ungünstigen Erwerbsverhältnissen in altherge- brachter, einseitiger Beschäftigung verharre (vgl. die Weber des Eulen- gebirges), derselben durch die Knabenhandarbeit andere Arbeitgebiete ge- zeigt und Neigungen dafür schon in der Jügend geweckt würden.*)

Der Vortrag war zahlreich besucht und fand lebhaften Beifall. In der sich an ihn anschliefsenden Debatte wurde insbesondere betont, dafs es Ziel des Vereins sei, den Handarbeitsunterricht in die innigste Beziehung zum übrigen Unterrichte zu setzen. Dabei fand übrigens auch die sich mit ihrem Arbeitsunterrichte gerade in dieser Richtung bewegende Thätig- keit des pädagogischen Universitätsseminars zu Jena lobende Anerkennung.

Am 24. Mai wurde die Hauptversammlung in demselben Räume unter ziemlich zahlreicher Beteiligung durch den Vorsitzenden des Vereins er- öffnet. Schulrat Eberhardt - Eisenach begrüfste die Versammlung im Auf- trage des Grofshzgl. Staatsministeriums, dessen regstes Interesse für die von dem Vereine vertretene Sache er nachdrücklich betont, Bürgermeister Wittrock-Eisenach überbrachte die Grüfse der Stadt. Es folgte der Bericht über die wirtschaftliche Lage des Vereins und die Beschlufsfassung über die vom Vorstand bewirkte Abänderung der Vereinsstatuten, die nötig ge- worden war, weil der Verein inzwischen körperschaftliche Rechte erlang: hatte. Nunmehr erhielt zunächst das Wort Bürgerschullehrer Fr. Hertel aus Zwickau in Sachsen zu seinem Vortrage über das Arbeiten in Papier und Karton, sowie das Formen als Arbeitsunterricht für Knaben im Alter von 7 10 Jahren. Er weist nach, warum es notwendig sei, den Unterricht schon mit dem 8. Lebensjahre zu beginnen und empfiehlt als Materialien, in welchen die Arbeiten auszuführen seien, Papier, Karton und Plastilina (einen eigens vorgerichteten Modellierthon). Das Papier wird benutzt zum Ausschneiden, Flechten und Falten. Verlangen die auf diese Weise ent- stehenden Gebilde ein dauerhafteres Material, so wird Karton genommen. Die Ausschneidearbeiten sind teils freie, teils geometrische. Beim Formen wird von der Kugel ausgegangen und zunächst dafür gesorgt, dafs von ihr eine kräftige Vorstellung entsteht. Dies wird erreicht dadurch, dafs sie von allen Seiten betrachtet, gedreht, gerollt, gehoben, geworfen, geteilt, wieder zusammengesetzt wird u. s. w. Diese Übungen werden fortgesetzt, bis volle Klarheit der Vorstellung erreicht ist. Betrachtet wird die Kugel an sich, im Verhältnisse zu ihrer Unterlage und im Vergleiche zu ab- weichenden Formen. Ist die Vorstellung vollkommen, so wird dieselbe verkörpert in geeignetem Material (das nicht immer Plastilina zu sein braucht, sondern auch Karton, Seife u. s. w. sein kann). Dann folgen ihre Dar- stellungen in der Reihenfolge vom Konkreten zum Abstrakten (>Abdruck in feuchtem Sand, Abrifs, Zeichnung, Darstellung durch die Sprache«). Darnach wird der Gegenstand als formbildendes Element betrachtet: »Die Kugeln werden gruppiert und die Abdrücke werden gereiht nach den ver-

•> In der Th*t l.t «. B. der Verein rar Förderung de« Wohl der arbeitenden Klaewn in (faaichupunktc losgegangen.

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schiedenen Rhythmen und Bewegungen.« >Das Papierfalten wird künftig im Formen aufgehen.« An ausgestellten Zeichnungen wird der Einflufs der Papier- und Formarbeiten auf den ersten Zeichenunterricht erläutert: die durch Falten gewonnenen Formen sind nachgezeichnet und koloriert worden. Ebenso die durch Formen gewonnenen Beispiele: Kugelschicht, Kugelabschnitt, Kugel, Brot, Brötchen, Halbe Hohlkugel, Ei, Eichel, Kirsche. Man sieht, wie sich hier ein feiner Kopf, dem methodische Durch- bildung des Unterrichtsgegenstandes Bedürfnis ist, eines sehr dankbaren Stoffes bemächtigt hat. Aber die Gefahr liegt nahe, dafs in diese ersten Übungen zu viel Mathematik >hineingeheimnist« wird, und dieser Gefahr ist Vortragender ebenso wenig entgangen, wie s. Z. Fröbel, an den er sich offenbar anschliefst. Immerhin ist das ernste methodische Streben und die sinnreiche Verwertung Fröbelscher Grundgedanken hoch anzuerkennen. Nach Hertel sprach Lehrer und Landtagsabgeordneter Kalb aus Gera sehr anziehend und sachverständig über das Arbeiten in Holz als Arbeitsunter- richt für Knaben im Alter von 7 10 Jahren. Der Vortragende ging aus von dem Bedürfnisse, das sich in den von ihm geleiteten Knabenhorte geltend gemacht hatte, gerade Knaben dieses Alters zweckmäfsig zu be- schäftigen und hob hervor, wie wichtig es sei, zunächst mit dem einfachsten Werkzeuge und dem einfachsten Materiale arbeiten zu lassen. Als solches böten sich das Messer und die Abfälle der Hobelbank dar. Er habe also die Knaben ihre Messer aufklappen lassen, habe dann zunächst vor Mifs- brauch des Messers gewarnt und nun Versuche im Schneiden machen lassen. Dann sei das Kerbholzschnciden an die Reihe gekommen, wovon gerade im Volke immer noch hier und da Gebrauch gemacht werde, darauf Verzieren des Holzes durch Entrinden an re^elmafsig wiederkehrenden Stellen (spiralige Verzierung eines Weidenzweiges), dann Trennen mittels des Messers: Spalten (hierbei zu berücksichtigen die Natur des Holzes und die Wirkung des Keiles). Die so entstandenen Stücke hätten die kleineren Knaben für die gröfseren auf Sandpapier abreiben müssen. So seien Stäbchen entstanden, wie zu Stiefelknechtfüfsen ; dann Blumenstäbchen (auch gefärbt) und 4 kantige Säulen; darauf habe er das Obcrplatten ge- zeigt und im Anschlufs daran die Anfertigung eines kleinen Kreuzes (z. B. für einen Blumentopf); dann die Anfertigung einer sog. Schere, wie sie bei Volksfesten (z B. Fastnachtsaufzügen) eine Rolle spielt, etwa um von der Strafse aus nach dem ersten Stock zu langen (actio in disums). Nun- mehr seien Stücke aus Korbweiden zur Verwendung gekommen, die ein regelrechtes Holzflechten gestatten, also ein Übertragen des Papierrlechtens auf ein anderes Material, ein Flechten in der Fläche, nicht ein Flechten im Räume, wie beim Korbflechten. Auf diese Weise erhalte man Vorsatz- Stücke für Öffnungen in Gartenzäunen, Hürden, Ställen u. s. w. Weitere Gegenstände ergäben sich, wenn man die Lättchcn schnitze und mit Nägeln verbinde: so Zäune mit schräg sich kreuzenden Streben, gewöhnliche Zäune, Thüren mit parallel in gleichen Zwischenräumen neben einander auf einen Rahmen aufgenagelten Stäben, einfache und doppelte, Eingänge zu Pflanz- und anderen Gärten. Wenn man die Korbwpiden spalte und die

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so entstandenen Halbstäbe dicht neben einander nach einem gewissen Muster auf eine Unterlage aufnagele, so gelange man zu hübschen Ver- zierungen, deren Wirkung sich noch erhöhen lasse, wenn man die einzelnen Halbstäbe färbe. Das Ziel dieses Unterrichtszweiges sei die Herstellung eines zweiräderigen Karrens, jedes Rad aus einem Stück. An Werkzeugen sei nur nötig ein gewöhnliches Taschenmesser, eine Kindersäge und ein Hammer zu 10 Pfg .; dazu brauche man noch etwas Sandpapier und Stifte zum Nageln. Auch dieser Vortrag fand verdienten Beifall. In der nach- folgenden Debatte wurde der Antrag gestellt: »Die 5. Hauptversammlung des deutschen Vereins für Knabenhandarbeit hält es für notwendig, eine Verbindung zwischen den Arbeiten des Kindergartens und denen der Schülerwerkstatt herzustellen und demnach den Arbeitsunterricht bereits auf Knaben vom 1. Schuljahre auszudehnen. Sie begrülst die in dieser Richtung bereits in mehreren Orten Deutschlands erfolgreich unternommenen Versuche mit Freuden als einen Beweis dafür, dafs eine solche Verbindung möglich ist und reiche Früchte zeitigen kann. Sie empfiehlt daher allen deutschen Schulwerkstätten praktische Versuche auf diesem Gebiete zu unternehmen ; um dadurch zugleich eine weitere Klärung über die geeig- netsten Lehrgänge für die jüngeren Altersstufen herbeizuführen.« Dieser Antrag wird angenommen.

Mit der Hauptversammlung war eine Ausstellung von Arbeitserzeug- nissen aus den thüringischen Handfertigkeitsschulcn zu Eisenach, Gotha, Watershausen und Schncpfcnthal, Ruhla, Mehlis und Gerstungen, sowie aus der Leipziger Schülerwerkstatt verbunden. *) Aufserdcm hatten sich an der Ausstellung mit Erzeugnissen ihrer Handgeschicklichkeit beteiligt: aus Eisenach Realgymnasiallehrer Dr. Eduard Höhn (einlache physikalische Apparate) und Lehrer August Herbart (allerlei technische Schlauheiten), aus Dresden Lehrer Kummer mit Modellen für das Papierfalten 6— 10 jähriger Kinder.

Ausgestellt waren von Eisenach lediglich Papparbeiten, von Gotha Drahtarbeiten und Kerbschnitzereien, von Waltershausen und Schnepfen- thal lediglich Kerbschnitzereien, von Ruhla Papparbeiten und Kerb- schnitzereien, von Mehlis lediglich Kerbschnitzereien, von Gerstungen Papp- arbeiten, Kerbschnitzereien und eingelegte Holzarbeiten (Intarsien), von Leipzig Holzarbeiten (ohne Kerbschnitzerei), Kerbschnitte in Modellen, Papparbeiten, Drahtarbeiten. Ganz unvertreten waren, wenn man von Leipzig absieht, die reinen Holzarbeiten ohne Kerbschnitzerei, die Drechsler- arbeiten und das Thonmodellieren; sieht man noch von Gotha ab, so war auch die Metallarbeit nicht vertreten. War so schon der Kreis der Arbeiten sehr eng gezogen, so trat selbst in den ausgestellten Arbeiten die Beziehung

•) In den Berichten Uber die Versammlung wird erwBhnt, daf« nach Ballungen auf der Am Stellung vertreten gewesen «ei. Kef. hat aber davon nicht« entdecken ktlnnen. In der Einladung nur 6. Hauptversammlung war allerdings unter den ITandfertigkeitASchnlen, die Proben Ihrer Arbeits« ausstellen wollten, nneh Snlzungen, mit aufgeführt, und so mag der Name au* Veraehen »einen *<t in die betr. Berichte gefunden haben.

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zum Unterricht nur verhältnismäfsig selten ganz deutlich hervor; im wesent- lichen stehen die genannten thüringischen Arbeitsschulen, wenn man sie nach ihrer Ausstellung beurteilen soll, noch auf dem Standpunkte, wo man die Übung in der sog. Handfertigkeit fast nur als ein zweckmässiges Be- schäftigungsmittel aufTalst. Ein solches ist sie nun ja unzweifelhaft auch; aber ebenso wenig unterliegt es einem Zweifel, dafs damit ihre päda- gogische Bedeutung noch bei weitem nicht erschöpft ist. Ich habe mir gerade daraufhin die Ausstellung sehr genau angesehen. Das persönliche Geschick und den guten redlichen Willen der betr. Leiter will ich dabei vollständig in Ehren halten; aber ich meine, eine von einem Lehrer ge- leitete Arbeitsschule müfste möglichst bald über den Standpunkt hinaus- zukommen suchen, als wenn es sich für sie darum handeln könne, die Kinder allerlei niedliche Gegenstände des täglichen Gebrauchs herstellen zu lassen. Auch innerhalb des heute geltenden Lehrplanes und auch bei der gegenwärtig fakultativen Stellung des Arbeitsunterrichtes ist es sehr wohl möglich, denselben in enge Beziehung zum theoretischen Unterrichte zu setzen und es dürfte sich für alle zukünftigen Ausstellungen empfehlen, nur solche Gegenstände zuzulassen, die sich nach dieser Richtung hin ausreichend legitimieren können. Um nur einige zu nennen, so würden hierher gehören z. B. einfache physikalische Apparate, Auschauungsmittel für den Unterricht in der Geographie, der beschreibenden Natuwissenschaft und dem Rechnen, Körpernetze aus Draht und Körpermodelle aus Holz oder Pappe, Rotationskörper aus Holz oder Thon (also auch Erzeugnisse der Dreharbeit); ferner Gegenstände für den eignen Bedarf des Schul- kindes: Lineale, Federkästchen, Stundenpläne, Schulmappen, Pappdeckel für Schreibhefte, feste Notizbücher, Schreibhefte; Gegenstände für die Schulstube: Thermometer, Datumzeiger, Bilderrahmen, Wandkästchen aus Pappe, Wandschränkchen u. s. w. Wenn alle die Veranlassungen, welche das Bedürfnis der Schule dem Arbeitsunterrichte an die Hand giebt, ge- hörig ausgenutzt werden, so wird wahrscheinlich gar nicht die Zeit übrig bleiben, um solche Allotria, wie Eierbecher, Messer, Gabeln und Löffel, Streichholzhälter, Serviettenringe u. dgl. noch anfertigen lassen zu können. Wenn aber solche Sachen gleichwohl für eine Ausstellung eingesandt werden, so sollten sie für sich in einem Nebenraume Aufstellung finden, damit man endlich einmal zu einem Überblick über das käme, was in einem gröfseren oder kleineren räumlichen Gebiete der Arbeitsunterricht lediglich zur Unterstützung des übrigen Unterrichts geleistet hat; dieser Gesichts- punkt ist auf allen Ausstellungen, die ich bisher zu sehen Gelegenheit ge- habt habe, immer mit dem andern, eine Übersicht über die neben der Schule betriebenen Handfertigkeiten der Kinder zu geben, verquickt worden.

Nach diesem Vorbehalte, zu dem mich mein pädagogisches Gewissen nötigt, kann ich um so unbefangener vom technischen Gesichtspunkte aus die tüchtigen Leistungen der Ausstellung anerkennen. Einzelne Lehrer- arbeiten zumal zeigten von ganz hervorragenden Geschicklichkeit. Als stilwidrig empfinde ich, wenn ich Kerbschnitzerei an einer Tischplatte oder

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an Sitz und Lehne eines Stuhles verwendet finde ; ebenso, wenn eine an die Wand zu hängende Zeitungsmappe aus Holz behandelt ist, als wäre sie aus Pappe, nämlich rechts und links, wo bei der Pappmappe die Lein- wand sitzt, finde ich hier Holz, aber wenn ich nun einmal zusehen will, ob die Mappe auch hübsch federt, entdecke ich mit Unbehagen, dafs das ganze Stück durchaus starr ist. Ferner, wenn ein Behälter für Briefbogen, aus starker Pappe verfertigt und oben offen, so dafs man die Bogen ein- schieben kann, an einer oder zwei Ecken umgebrochen ist, wie etwa ein Liegekragen; dergleichen kann man sich erKuben, wenn das Material Lein- wand oder Papier ist, aber nicht bei starker Pappe. Endlich, wenn mir eine Pappschachtel ein Buch vortäuscht, wie das bei einer Leipziger Arbeit der Fall war.

Die nächste Hauptversammlung findet, zugleich mit dem n. deutschen Kongresse für erziehliche Handarbeit, in Königsberg in Preufsen statt.

Mit einem Dankesworte des Vorsitzenden an den Ortsausschufs und die gastfreie Stadt Eisenach schlofs die Versammlung.

Jena, 30. Mai 91. Dr. Beyer.

12. Zum Kampfe um die Schule.*)

Von Joh. Trüper in Jena.

II. Zur Rechtsfrage im Schulkampfe.

(Fortsetzung.)

Eine andere »liberale« Ansicht tritt für die ..Kommunalschule ein. So die Schrift:

„Die deutsche Volksschule in Vergangenheit, Gegenwart und Zu- kunft dargestellt von A. Reichen baeh, Cöthen. Paul Schettlers Ver- lag. 1886. 161 S."

Der Verfasser hat die Erfahrung gemacht, »dafs es viele Leute giebt welche für ein freisinniges Schulwesen eingenommen sind, Trennung der Schule von der Kirche und Ähnliches wünschen, über die Einzelheiten -dieser grofsen und wichtigen Angelegenheiten aber noch lange nicht zur nötigen Klarheit durchdringen konnten. Ja sogar Lehrer lernte er kennen, welche nicht besser daran waren « »Die immer kühner werdende Be- hauptung der Ultraraontanen wie der protestantischen Mucker, die Volks- schule sei eine Schöpfung und darum Eigentum der Kirche, welche die Em- pörung eines jeden hervorrufen mufste, der die Geschichte kennt,« veran- lafst ihn, »den kurzen und allgemein verständlichen Beweis zu liefern, dafs jene Behauptung grundfalsch und daher entschieden zurückzuweisen sei.« So charakterisiert im Vorwort der Verfasser Ton und Tendenz der Schrift

•) 8. „PMeg. Studien" 1890, I. n. IV. Haft, 1891, II. Heft.

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selber. Wir möchten ihn zunächst fragen, was ein »freisinniges Schul- wesen« ist. Eins, das nach Grundsätzen organisiert ist, die man durch ein freies, d. i. unabhängiges, eben so wenig nach links wie nach rechts schielendes Sinnen gefunden hat? Oder eins, das den Anforderungen derer entspricht, die sich politisch freisinnig nennen, es aber oft, wenigstens auf dem Kirchen- und Schulgebiete, durchaus nicht sind?*) Sagt doch der Verfasser selber (S. 2), dafs der Liberalismus nicht ein- mal in seinen Führern wufste, was er hier wollte. Er mufs also über- haupt nicht ernstlich nachgesonnen haben, geschweige denn in freier, un- befangener Weise. »Die Schulfrage ist viel zu sehr als eine Part ei an - gelegenheit behandelt worden, statt als eine aus der vorhergegangenen Entwickelung sich ergebende K u 1 1 u rf r a g e.c (Ebendas.) Man hatte auch unter der Ära Falk in Preufsen „mit der ganzen so wichtigen An- gelegenheit nur gespielt, nur spielen wollen und spielte sie nun |als Schachware aus."

Der Verfasser nimmt seiner liberalistischen Anschauung entsprechend zunächst für die Staatsschule gegenüber der Kirchenschule Partei, gesteht aber hinterdrein (S. 74) zu, dafs es mit der Erklärung der Schule als „staatliche Anstalt" sich „nicht so ganz rein und glatt verhält, wie es den Anschein haben könnte." Nicht nur ist es thatsächlich eine eigene Sache mit dem Gegensatz zur Kirchlichkeit und der Oberaufsicht (seitens des Staates), auch das „Staatliche kann nicht mit Unrecht Bedenken erregen." Diese werden denn auch später zum Ausdruck gebracht auf S. 149 ff., wo die Frage von der Erhaltung und Selbstverwaltung der deut- schen Volksschulen erörtert wird. Hier steht der Verfasser auf dem Standpunkte von Gneist: „Die Selbstverwaltung der Volkschule". Er tritt für „Schulgemeinden" und Gemeindeschulen ein. Im Gegensatz zu der pädagogischen Begründung, wie Dörpfeld sie geliefert hat, stofsen wir aber leider hier vorwiegend nur auf politische Motive. „Die Übertragung der ganzen Schullast auf die Staatskasse giebt der Staatsregierung eine so gut wie unumschränkte Macht über eine der aller- wichtigsten Angelegenheiten des Volkslebens und dessen Weiterentwickel- ung, macht die Fort- oder Rückschritte unserer Volksschule abhängig von der jeweiligen der Volksaufklärung günstigen oder ungünstigen Richtung der Regierung und deren Vertreter, und gestattet dem Schullehrer keine freie Überzeugung, sondern unterjocht ihn dem jeweiligen politisch-kirch- lichen Standpunkte von Oben." (Reichenbach S. 150.)

Die Gneistscbe Schrift vom Jahre 1872 dreht sich um die Kernfrage: Wie bringen wir das Geld auf? Und dieser Frage ordnen sich ihm alle andern unter. So hohe Beachtung auch seine Vorschläge verdienen, so zeigen sie doch, wie dringend not es thut, dafs nicht blofs Juristen, selbst wenn sie von so hervorragender Bedeutung wie Gneist sind, über die

*) D«r „freiclnnige" Berliner Magistrat entsieht s. B. einer deataeb>chrisülcheu Schulvor- tteherin die Koocewton einer Priratechule, well ile in dieaer Prlrataohole nur Deutsche nnd Orteten unterrichten trill. Natürlich geechieht da« im Namen der „Tolemna" und der „Freiheit".

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Schulfrage zu Rate sitzen, sondern dafs vor allen Dingen auch die Päda- gogik gehört werde. Das Mittel möchte sonst zum Zwecke werden. Folgender Einwurf Gneists aber verdient auch nach seiner pädagogischen Tragweite gewürdigt zu werden: „Die unmittelbar von Staatswegen be- strittene Volksschule mufste in einer bureaukratischen Weise centralisiert werden, die alles bisher Geleistete übertreffen würde. Alle Erfahrungen unseres Volksschulwesens weisen dagegen auf Decentralisation hin, als eines der bedeutendsten Momente lokaler Selbst- ständigkeit." Dafs dasselbe auch von den höheren Schulen gilt, ver- schweigt Gneist jedoch.

Den rechten Weg weisen uns, so meint Reichenbach, die städtischen Schulen und Schulverwaltungen: >Wir dürfen weder die Volksschule gebunden der Allgewalt der Staatsregierungen überliefern, noch von diesen Beseitigung der vorhandenen Mängel und Hebung des ganzen Volksschulwesens erwarten, sondern die Bürger- schaft mufs sowohl in den Städten wie auf dem Lande die so hochwichtige Angelegenheit der Volksschule selbst in die Hand nehmen; nur auf diesem Wege ist Hülfe und Hebung für Schule und Lehrerstand zu erwarten.« (S. 152). »Die Männer der städtischen Verwaltungen sind selbst Bürger und wissen und empfinden, was notthut und was die Volksschule leisten kann. Daher das Verständnis und daher die Opferbereitwilligkeit. So allein ist es denkbar, dafs z. B. die Stadt München, welche doch in der Mehrheit ihrer Vertreter schwarz, tief schwarz ist, recht tüchtige Lehrer und sehr gute Bürgerschulen hat, auch von Jahr zu Jahr bereit ist, neue Schulhäuser zu bauen mit vortrefflichen Schulräumen und neue Klassen einzurichten.« (S. 152.) »Die »freie Schule« d. h. die Schule mit eigener Ver- waltung, aber stets unter O beraufsicht des Staates, ist schon eine alte Forderung der Freunde des geistigen Fortschritts. So hat schon der berühmte Staatsrechtslehrer Karl Theodor Walcker vor 50 Jahren diese Forderung in der 2. badischen Kammer gestellt.« (S. 154.)

Das ist etwas anderes als die bureaukratische Staatsschule (nach Neese I), als die hierarchische Kirchcnschule von Windthorst und Ge- nossen, als die staatlich -geistlich geleitete Schule Beyschlags und die staatlich-scholarchische Schule, wie Neese sie in der zweiten Schrift wünscht. Das Rechte kann für uns aber auch diese Kommunalschule noch nicht sein, und hätte Herr Reichenbach sich nicht blofs an den Juristen, sondern auch, oder zuvor, an den Pädagogen gewandt, der zudem Gneist gegenüber durch zwei umfangreichere Schriften als die erwähnte die Priorität des Prinzips der »Selbsterhaltung und Selbstverwaltung« der Schule besitzt, so würde er wahrscheinlich uns näher gekommen sein. Die Frage nach der Erhaltung der Schule kann doch nicht die durch- schlagende sein, so wichtig sie auch ist. Zudem kann von Selbsterhaltung und Selbstverwaltung bei der Kommunalschule im eigentlichen Sinne noch gar keine Rede sein. Das »Selbst« kann sich bei Gneist nur auf Er- haltung und Verwaltung der Schule als Kommunalangelegenheit beziehen.

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Ist denn aber das Erziehungswesen eine blofse Kommunalangelegenheit und darf es das sein? In der Begründung des später angenommenen Entwurfs eines Gesetzes für die Landschulen des bremischen Staates rangierte das Schulwesen zwischen den kommunalen Angelegenheiten des Löschwesen und dem Armenwesen. Mag das eine zufällige Zusammenstellung sein; sie giebt immerhin zn denken. Wie dieses Gesetz nach Gneistschem Muster, das die Schule vom Regen des Pastors unter die Traufe des Dorfschulzen ge- bracht hat, so weisen ähnliche Kundgebungen darauf hin, dafs der Schule ein eigenes Gedinge gehört, und dals es im Interesse aller Schulinter- essanten liegt, wenn sie es bekommt Und hätte Herr Reichenbach mehr nach innern Gründen gefragt, warum die Schule nicht Staatsanstalt sein kann, so würde er wahrscheinlich auch von selber auf die Dörpfeldschen Vorschläge gekommen sein, wie auch wir sie vertreten.

Dieselben hier darzulegen kann nicht meine Aufgabe sein. Doch die grofse Zahl derer, welche die ^eeseschen Ansichten und auch die Ab- weichungen Reichenbachs teilen möchten, weil sie >liberal« klingen, sei besonders verwiesen auf:

„Die drei Grundgebrechen der hergebrachten Schulverfassungen nebst bestimmten Vorschlägen zu ihrer Reform. Von Friedrich Wilhelm Dörpfeld. Bevorwortet und mit einigen Thesen über die Pflege der Pädagogik auf den Universitäten begleitet von Professor Dr. Ziller in Leipzig, d. Z. Vorsitzender des »Vereins für wissenschaftliche Pädagogik«. Elberfeld 1869. R. L. Friderichs.« VIII u. 130 S. Die Schrift wendet sich auch wie Beyschlag und Neese nach des Ver- fassers Erklärung an das gesamte Publikum, so weit es für die Erziehung Interesse oder Beruf hat, und rückt die Gebrechen der bisherigen Schul- verfassung nackt und blofs vor die Augen. Die Kritik, die Aufzählung

der Übelstände und Gebrechen, geschieht ohne Rückhalt und Schminke ; die Reformvorschläge gehen vorsichtig und nach konservativen Grund- sätzen vor. Dafs diese Schrift seit 1869 keine zweite Auflage erlebt, wirft ein eigentümliches Licht auf die Leser solcher Schriften. Auch der Schriftsteller Neese*) steckt in seinem Vorwort den Kopf in den Sand wie der Vogel Straufs und erklärt: »Wohl ist uns bekannt, dafs die päda- gogische Litteratur auch diese (die von ihm erörterte) Seite des Volks- schulwesens streift, auch gelegentlich auf die politische Bedeutung desselben hinübergreift; aber diese flüchtigen Lichtreflexe beleuchten nur sehr unsicher den Kern der Frage, um welche es sich hier handelt. Selbst die neuesten Produkte der hier einschlägigen Litte- ratur, welche die Idee einer deutschen Schule vertreten, haben nur ihre innere Organisation zum Gegenstand der Erörterung und lassen die äufsere Stellung der Volksschule in ihrer nationalpolitischen und darum (!) selbständigen, körperschaftlichen Bedeutung inner- halb des öffentlichen Staats- und Gesellschaftslebens mehr oder weniger aufser Betracht.« Dafs nun aber die vielen Leser Neeses sich dies haben weifs machen lassen im andern Falle würde

•) VgL „Pidg. 8tu<l." 1891 II. Heft, S. 91 ff.

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doch gcwifs ein Protest gegen solche litterarische Unwissenheit oder Un- wahrheit uns zu Gesicht gekommen sein , das ist das Traurige an der Sache. Nach der Ursache, warum aber Dftrpfeld in gewissen Kreisen ab- sichtlich totgeschwiegen wird, brauchen wir nicht lange zu suchen. Er giebt selber die Erklärung im voraus, wenn er sagt : »Eine Form des Schulregiments aber, welche nicht allen beteiligten Interessenten gerecht wird, kann mein Ideal nicht sein; und wenn sie sogar im Namen der Freisinnigkeit erstrebt wird, so ist mir diese Sorte von »Liberalismus! ein Gräuel: denn liberal sein wollen und unter diesem Deckmantel anderer Recht« unterdrücken, das stimmt nur zusammen wie Frömmig- keit und Pharisäismus. Der Liberalismus soll nicht blofs seine Doktrin, sondern auch seine Gesinnung sehen lassen dürfen; bei einem der blofs für seine Anschauung, seine Intentionen, seine Partei Freiheit fordert, aber andern Ansichten und Interessen die Freiheit nicht gönnt, bei dem mag ich weder Anteil noch Erbe haben. Eine Schulordnung mufs liberal sein, sonst kann sie auch nicht zweckmäfsig sein. Der Hohenzollersche Wahlspruch Suum ctüque giebt dafür den Rat. Er lehrt, jede Lebensgemeinschaft und jede Anstalt ihrer Natur gemäfs zu be- handeln, und jedem, der bei dieser Gemeinschaft oder Anstalt interessiert ist, sein Recht zu gewähren. Das sind auch die Hauptgrundsätze der rechten liberalen Schulverfassung.« (S. 7 f.»

Wer solchem Liberalismus huldigt oder auch nur huldigen möchte, von dem sind seit jeher die Dörpfcldschen Vorschläge anerkannt worden, wie sie zuerst ausgesprochen sind in der Schrift:

„Die freie Schulgemeinde und ihre Anstalten auf dem Boden der freien Kirche im freien Staate. Gütersloh. 1863.«

So u. a. von Realschuldirektor Dr. Gräfe in Lübens »Pädagogischer Jahresbericht« 1863, S. 497 510; von Realschulprofessor Langbein in seinem »Päd. Archiv«, S. 213 ff.; von Seminardirektor Dr. Die st er weg in seinen »Rheinischen Blättern« 1863; von Gymnasialdirektor Dr. Hollen- berg in Prof. Mestners »N. Ev. Kirchenzeitung*, 1863 No. 41; vom »Ev. Gemeindeblatt für Rheinland- Westfalen« 1863. No. 18, vom Vorstande des Vereins für wissenschaftliche Päda- gogik, aber auch von dessem erbitterten Gegner Dr. D i 1 1 e s , der nach 1885 in seinen »Pädagogium« schrieb, dafs die Dörpfeldschen Retonn- vorschläge so lange wiederholt werden müfsten, bis sie verwirklicht seien. Für Herrn Neese sind das alles aber nur »flüchtige Lichtreflexe«, nicht einmal wert, dafs man sie namhaft macht: nur Diesterweg wird genannt, dessen Erbteil er zwar zu vertreten vorgiebt, aber vielfach eher das gerade Gegenteil vertritt. Hören wir darum wenigstens in einigen Sätzen auch den liberalen Diesterweg gegenüber dem modernen Pseudoliberalis- mus nach einem Artikel in den »Rheinischen Blättern« von 1865, Heft 2, betitelt: »Anregungen über die freie Schule im freien Staat«.*)

•) Dleaterweg hat den „Boden dar freien Kirche" nominell nicht mit angenommen, uotadem

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» i . Die gesetzgebende Staatsgewalt erläfst das Gesetz für die Schule und führt die Oberaufsicht.

2. Die Schulgemeinde oder Sozietät (sei es eine kirchliche oder eine politische oder eine private) ist, in Unterordnung unter dem allgemeinen Schulgesetz, die eigentliche Schul- herrin.

3. Die die innere Verwaltung und die Art der Ausführung bestimmende Korporation bilden die Lehre r.c

»In Summa: die allgemeine Schulgesetzgebung ist in den Händen des Staats, die autonomische Ver- waltung in den Händen der selbständigen Schul- gemeinden, die technische Ausführung in den Händen der Lehrer. Dafs der Staat nur Fach- männer zu Aufsichtsbeamten ernennen wird, versteht sich von selbst.« »In einem wohlgeordneten Staate geht die Anregung zur Errichtung und Einrichtung der Schule von den Mitgliedern der Gemeinde (der Schul- sozietät) aus; sie stellt die betr. Anträge, welche von der dazu angeordneten Behörde geprüft und bestätigt werden. Gleichviel nun, ob die Mittel zur Erhaltung der Schule direkt von der Schulgemeinde oder indirekt aus der allgemeinen Kasse, der Staatskasse, aufgebracht werden; das entscheidet nicht über das Wesen der Schule. Der Gegensatz von Kommunal- und Staatsschule ist in diesem Sinne ein gemachter, kein in dem Wesen der Sache begründeter. Die Frage: ob das Eine oder das Andere? hat daher in sofern keinen Sinn. Die Volksschule hat einen selbständigen, allgemeinen Zweck : Bildung, Menschenbildung. Sie geht von dem Volke aus und gehört dem Volke. Über sie haben zuoberst diejenigen zu ver- fügen, welche sie errichten, die Mitglieder der Schulgemeinde, d. h. die Eltern der ihr übergebenen Kinder. Die natürlichste Verbindung, welche die Schule eingehen kann, ist die mit den Familien.«

Diese Ansichten vertreten die »Rheinischen Blätter« auch noch nach Diesterwegs Tode unter Wichard Lange. In dem 1. Artikel über: Die Schulorganisationsfrage nach Dörpfeld« (Jhrg. 1870. Heft El) lesen wir :

»Es möchte wohl auf dem Gebiete der Pädagogik und auf verwandten Gebieten mehr als eine Frage geben, für welche Herr Dörpfeld eine ganz andere Antwort hätte, als etwa der Herausgeber der Rheinischen Blätter, oder dessen ständige Mitarbeiter, oder die hauptsächlichsten Stimmführer der allgemeinen Leserversammlung, und um so mehr ist ein erfreuliches Zeichen der Zeit, dafs in ihren Ansichten über die Grund- gebrechen der hergebrachten S c h u 1 v e r f a s s u n g e n und teilweis auch in den Vorschlägen zu deren Reform sich eine immer entschiedenere 0 b e r e i n s t i m m u n g aller derer herausbildet, die in einer ernsten Gedankenarbeit und einer von Nebenrficksic hten freien herzlichen Hin-

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gebung an die Erziehung unseres Volkes die Schul- Organisationsfrage erwägen und mit männlichen Frei- mute aussprechen, was nach der von ihnen gewonnenen Ansicht der Schule frommt.« »Mit einem Sachverständigen der bezeichneten Art haben wir es hier zu thun, und ich mache es mir zur angenehmen Pflicht, die Leser der Rheinischen Blätter auf die bedeutungsreiche Schrift: ,Die drei Grundgebrechen etc.( aufmerksam zu machen.« Diese »Grund- gebrechen« im Schulwesen bestehen in den meisten Staaten noch heute zo Recht. Wer darum in der Schulreform mitsprechen will, der sollte sich zu- vor mit diesen abfinden. Leider bleiben aber selbst die Führer der gegen- wärtigen Bewegungen in der Regel bei der Betrachtung der sympto- matischen Erscheinungen stehen. Kein Wunder, wenn dann die Schulfragen in keinem Punkte vom Fleck wollen! (Fortsetzung folgt.)

C. Beurteilungen.

i.

Dr. Albert Sohwegler: Geschichte der Philosophie im Umriss Neue Aus- gabe. Durchgesehen und ergänzt von J. Stern. Leipzig, Verlag von Philipp Reclam jun. 512 S. 1 M. (Universal-Bibliothek No. 2541 bis

2545')-

Schweglers Geschichte der Philo- sophie erfreut sich, als Leitfaden zur Übersicht oder zur Einführung in die Philosophie, besonders bei der stu- dierenden Jugend, ßrolser Beliebt- heit. Sie ist seit dem Jahre 1848, in welchem die erste Auflage heraus- kam, in zahlreichen Ausgaben er- schienen und in fremde Sprachen übersetzt worden. Die dritte ver- besserte und vermehrte Auflage be- sorgte Prof. Köstlin (1857); 1887 er- schien eine neue Bearbeitung als 14. Auflage, durchgesehen und er- gänzt von Köber. Der vorliegenden Ausgabe von J. Stern liegt die noch von Schwegler selbst besorgte zweite Auflage des Werkes zu Grunde ; spätere Verbesserungen wurden aber berücksichtigt.

Gegenüber der 7. Auflage, die ich zum Vergleich heranziehen kann, ist die neue Ausgabe zunächst um zehn

Paragraphen vermehrt. Es sind hin- zugekommen Artikel über Hobbes, Schleiermacher, Beneke, den Posi- tivismus, Schoppenhauer, den Ma- terialismus, Fechner, Lotze, Hart- mann und Wundt. Dafs im übrigen mancherlei Berichtigungen und Er- gänzungen eingefügt sind, erscheint selbstverständlich. Für die Skizze des Lebens Schweglers (Vorwort S. 5—9) werden die Benutzer des Werkes dankbar sein.

Für uns ist Folgendes hier von Bedeutung.

Am Schlufs des Abschnittes über Herbart (7. Aufl. 1870, S. 521) heifst es: »Im Ganzen kann man die Her- bartsche Philosophie bezeichnen als eine Fortbildung der Leibnitzschen Monadologie , voll ausdauernden Scharfsinnes, aber ohne innere Fruchtbarkeit und Entwick- lungsfähigkeit.« Wie manchen Studenten mag dieses Urteil abge- schreckt haben, Herbart zu studieren!

In der neuen Ausgabe von Stern fehlt dieser Zusatz zunächst. Dafür hat der Herausgeber eine Seite Text neu eingefügt. Es werden Herbarts praktische Ideen (die ursprünglichen und die abgeleiteten) aufgeführt, und

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seine Bedeutung und Stellung in der Religionsphilosophie und Pä- dagogik kurz charakterisiert. Es heifst in der Sternschen Ausgabe S. 396 ff.: »Sehr eingehend hat Her- bart das Gebiet der Pädagogik behandelt. Die Pädagogik ist nach ihm abhängig einerseits von der Ethik, andererseits von der Psycho- logie. Jene stellt das Ziel der Er- ziehung auf (die Tugend), diese giebt die Mittel an. Die Erziehung zer- fällt in Regierung, Unterricht und Zucht. Herbarts pädagogische Schriften sind mit grofser sittlicher Wärme geschri eben und zeugen von feiner psychologischer Beobachtung. Seine pädagogischen Lehren haben eine tiefgehende Wirkung ausgeübt und weite Verbreitung gefunden; dadurch ist seine Philosophie noch heute lebendig erhalten, obgleich ihr metaphysischer Teil veraltet ist.

Herbart hat eine zahlreiche Schule gemacht, die sich als die »realistische« bezeichnet. Die bedeutendsten Ver- treter dieses Herbartschen »Realis- mus« sind: Drobisch, Harten- stein, Lazarus, Steinthal, Thielo, Volkmann, Zimmer- mann. Durch Bearbeitung der Her- bartschen Pädagogik haben sich be- sonders verdient gemacht : Kern, Lindnerj, Mager, Stoy, Strüm- pell, Waitz, Willmann, Zille r.«

Die Verlagsbuchhandlung von Philipp Reclam hat sich durch diese Ausgabe des Schweglerschen Leit- fadens ein Verdienst erworben (in eleg. Ganzleinenband kostet das Werk 1,50 M.). Wir würden es mit Freude begrüfsen, wenn in der sorgfältig redigierten »Universal - Bibliothek« auch andere philosophische resp. pädagogische Werke, z. B. die Her- barts vor allen Dingen, Aufnahme fänden.

Halle a. S. H. Grosse.

a

Adolf Diesterweg in seiner Bedeutung für die Hebung des Volksschul- lehrerstandes. Von Ernst Lüttge. Leipzig bei Sigismund u. Volke- ning. Preis 2 M. kart. 2,50 M.

Verfasser giebt in der Einleitung

nach Schriften von Schmidt, Gesch. d. Pädagogik, Heppe, Gesch. des Volksschulwesens und andern eine Übersicht über die Volksschullehrer- Verhältnisse bis zum Anfange des 19. Jahrhunderts. Sodann behandelt er in drei Abschnitten Diesterweg und die Volksschullehrerseminare, D. und die Bildungsbestrebungen des Volksschullehrerstandes und end- lich D. und die Emanzipationsbe- strebungen der Volksschullehrer. Den Scnlufs bilden Rück-, Um- und Vorblicke.

Verfasser ist unermüdlich im Her- vorheben der Verdienste Diester- wegs. Derselbe hat »den Pestalozzi- schen Geist in die Seminare einge- führt und ihn durch die Hochflut der Reaktion hindurch gerettet.« (S. 48.) Er hat »den anlernenden Schul- meister von ehemals in einen ver- ständigen Lehrer und Erzieher um- gewandelt.« (S. 68.) Verfasser ver- steigt sich sogar zu der Behauptung: »Der deutsche Volksschullehrerstand ist eine Schöpfung Diesterwegs (S. 136), und im Schlufswort bezeichnet er D. als einen Stern erster Gröfse am pädagogischen Himmel, der, was den Einflufs auf das Volksschulwesen anbelangt, an Helligkeit alle andern Überstrahle.

Unter den Verdiensten, die Diester- weg zugeschrieben werden, sind ein- zelne recht zweifelhaft. Seite 36 heifst es: »Es mufs als fast ausschliefs- liches Verdienst Ds. betrachtet wer- den, dals die Benekesche Psychologie einen so bedeutenden Einflufs auf die Lehrerbildung gewann.«

Ziemlich vollständig sind auch die Anklagen gegen D. atigeführt. Ver- fasser sucht dieselben zu widerlegen oder D. so viel als möglich zu ent- schuldigen. Er sagt: (S. 75) »Dafs D. mit seinen religiösen Anschau- ungen dem Geiste des Christentums näher stand als viele seiner streng- gläubigen Ankläger, das hat er durch sein hingebendes , uneigennütziges Wirken im Dienste der Gesamtheit hinreichend bewiesen « Nach dem Ausspruche Wanders ist er nur »dem frömmelnden Lügengeiste« der Zeit entgegengetreten. (Ebenda.) Der Vorwurf der Irreligiosität trifft ihn

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also nicht, ebenso wenig der, im Unterrichte einen leeren Formalis- mus gefördert zu haben. Selbst be- züglich der Raumlehre ver- langt er, dafs überall die An- wendung aufs Leben betont werden solle « fS. 78.) Die häufigen Wieder- holungen in seinen Schriften werden damit entschuldigt, dafs D. für Volks- schullehrer, also für einen Stand schrieb, der sich von Jahr zu Jahr durch immer neue Mitglieder er- gänzt. (S. 57.)

Zu einer Kritik über D. erhebt sich der Verfasser nicht. Augen- scheinlich ist er in allen Punkten mit demselben einverstanden. Auch auf Darlegung der grofsen politischen und religiösen Gegensätze, (Konser- vatismus und liberaler Kadikalismus, Orthodoxie und Rationalismus), die Ds. Zeit bewegten und bis in die Gegenwart hineinragen, läfst er sich nicht ein. Eine solche unparteiische Darlegung wäre aber doch nötig ge- wesen , um nicht nur D., sondern auch seinen Gegnern gerecht zu werden.

Unsere Stellung zu Diesterweg ist eine andere, als die des Verfassers. Wir sind weit entfernt, Ds. Bedeutung für das Volksschulwesen, die übrigens vorherrschend auf dem Gebiete der schola militans liegt, zu verkennen oder zu unterschätzen. Den gröfsten Teil der Verdienste, die Verfasser D. nachrühmt, erkennen wir gern als solche an. Nur können wir uns nicht mit D. begeistern für die kon- fessionslose Staatsschule und können uns nicht darüber freuen, dafs er der Benekschen Psychologie wie dem pädagog Eklektizismus Bahn ge- brochen hat. Dafs D. in seiner Be- geisterung manchmal Über das Ziel hinausschofs, sich in seinen polemi- schen Schriften oft zu einer Schärfe und Bitterkeit hinreifsen liefs, die nicht geeignet war, der Sache der Volksschule Freunde zu gewinnen, das sollte man 24. Jahre nach seinem Tode doch zugeben. Nur an einer Stelle seines Buches lälst Verlasser merken, dafs ihm diese Thatsache nicht unbekannt ist. Seite 43 heifst es : »In zahlreichen Aufsätzen zieht er gegen sie zu Felde und zwar

nicht selten mit dem gröbsten Geschütz seiner litterarischen Kampfesweise«.*)

Aus dem Angeführten geht her- vor, dafs Verfasser zu den unbe- dingten Anhängern und Bewunderern Diesterwegs gehört. Mit Bezug aut ihn führt er Goethes Wort an:

»Folgt eines Meisters Sinn! Mit ihm zu irren*) ist Gewinn.«

Das hält ihn jedoch nicht ab, geh'en die Anhänger Herbart-Zillers folgende Lanze zu brechen: »Aus dieser grofsen Wertschätzung des persön- lichen Charakters des Lehrers ist es

auch zu erklären, dafs D. keine

sogenannte Schule mit Jüngern und Adepten gebildet hat, wenigstens nicht in dem Sinne, wie man z. B. heute von einer Herbart-Zillerschen Schule redet. Eine derartige geistige Abhängigkeit, wie sie in der Regel die Jünger einer solchen Schule ihrem Meister gegenüber an den Tag legen, hat D. niemals erreichen wollen. Ihm fehlte die Hauptbedingung für die Stiftung eines solchen Verhältnisses: Die Überzeugung von der eigenen Un- fehlbarkeit.« (S. 67.)

Sonst ist das Buch klar und auch mafsvoll geschrieben. Allerdings kommen manche Wiederholungen vor. Die benutzten Werke sind überall angegeben. Auch ein Bild- nis Ds. ist dem Buche beigegeben. Volksschullehrern, denen es nicht möglich ist, sich über Ds. Bedeutung aus den Quellen selbst zu unterrich- ten, möchte es immerhin zu em- pfehlen sein.

III.

Einer für Alle. Ein Lehrerfestspiel von Franziskus Hähne 1. Leip- zig, Sigismund und Volkening Preis 75 Pf. kart 90 Pf Das Festspiel ist verfafst »unter besonderer Berücksichtigung der in diesem Jahre an vielen Orten und von vielen Kollegen geplanten Feier des 100. Geburtstages Diesterwegs.« Sein Inhalt ist kurz folgender: In

•j In dem Bache nicht dorch Druck ab»¥*- zeichnet. Der Referent.

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Neuneck soll eine Konferenz statt- finden. Der neugewählte Superin- tendent plant eine Lehrervereinigung und Pastor »Lehrfeind« will über Lehrerdemut sprechen. Die Lehrer des ganzen Bezirks sind dann auch »par ordre du moufti« nach Neuneck beschieden. Etwa 100 Lehrer finden sich zusammen. Schon wollen einige in das Versammlungshaus »zur trüben Lampe« gehen. Auf einmal ver- breitet sich die Nachricht, Diester- weg sei gekommen und wolle in der »goldenen Sonne« sprechen. Natür- lich eilt alles dorthin; ein freier Lehrerverein wird gegründet und jubelnd begleitet man D. nach Laden- berg, wo er auch reden will. Durch geschickte Veranstaltung des Dich- ters bekommen wir ihn schon unter- wegs zu hören Er redet von dem Jubel, der ihn überall begrüfst hat, spricht über Geduld und Pflichttreue des Lehrers und widerlegt, was Lügner frech von ihm behauptet haben. Alle Hörer sind begeistert und wollen ihm folgen nicht nur bis Ladenberg, sondern durchs ganze Leben.

Wen seine Begeisterung für Diester- weg über eine witzlose, dürftige Handlung hinwegzutragen vermag, der möge das Buch kaufen und lesen. Bei manchen witzig sein sollenden Bemerkungen wird auch ihm ein mitleidiges Lächeln auf die Lippen kommen Es ist sehr zweifel- haft, ob durch ein Festspiel wie das vorliegende Diesterweg geehrt wird. Wenn der Verfasser D. sagen läfst

»Nein, Friede sei mit Euch, rufe ich den Lehrern und der Kirche Die- nern ernstlich zu; denn nur im Frieden wächst der Schule Bestes,«

so sind wir ganz derselben Ansicht, können aber unmöglich glauben, dafs das Produkt des Herrn Hähnel dazu etwas beitragen wird. Drakenstedt.

F. Hollkamm. IV.

Otto Bismarck, Das Kartenzeichnen als Hilfsmittel des Unterrichts in der Erdkunde; Anleitung zum Ge-

brauch der Kartenskizzen und der Skizzenwandtafeln. Wittenberg 1890. Herrosd. 0,40 M. Derselbe, Kartenskizzen für den Unterricht in der Erdkunde, a) für Lehrer und Schüler, Kurs. 1 3. ä 1,20 M. b) für Schulen, Kurs. 1, 8 M. Wittenberg, Herrose. Es möchte gewagt erscheinen, gegen eine litterarische Erscheinung Stellung zu nehmen, welche bisher in der pädagogischen Presse nicht blofs günstig beurteilt, sondern sogar als epochemachend bezeichnet wor- den ist. (Vergl G. A. Erdmann- 1 Annaburg in Dittes Pädagogium, 1890, 8, S. 516, F. Polack- Worbis in der Allgem. deutschen Lchrerzeitung, 1890, 31 und E. v. Sallwürk-Karls- ruhe in Manns Deutsch. Blätt. f. er- zieh. Unt. 1890, 36.) Folgende kurz angeführten Gründe bewegen uns dazu, unser den bez. Kritikern leider ganz entgegengesetztes Urteil aus- zusprechen.

A. Inbezug auf den unterricht- lichen Gebrauch der Wandtafeln und Skizzenbücher:

1) Dem Lehrer wäre mit Karten- skizzen nur gedient, wenn diese die Zeichnung der Wandkarte (klassi- schen!; in verkleinertem Mafsstabe wiedergeben

2) Der Schüler bedarf keiner Zeichenvorlagen; er kann sich seinen Atlas selbst zusammenstellen.

3) Im Unterricht soll nur die Wand- karte — und nicht auch eine Skizze

Ausgangspunkt sein.

4) Neben der Schulwandkarte Skizzenwandtafeln zur Einübung ge- brauchen zu lassen, verdrängt erstere und die bei Anfertigung kleiner typischen Skizzen zu übende Selbst- tätigkeit des Schülers.

B. Inbezug auf die Anleitung:

1) Die Reihenfolge der erörterten Punkte läfst ein logisches Einteilungs- prinzip vermissen.

2) Dieser Mangel bedingt eine All- gemeinheit und Dürftigkeit (1) des Inhaltes, sowie eine Überschätzung (3) einzelner Mafsnahmen ; namentlich wird auch das Hilfsmittel des Zeich- nens viel zu sehr betont.

3) Die Skizzen lassen die kaum zu begründende Verwertung zweier

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Anfangsmeridiane erkennen (Ferro, in Kurs. II, No. 2, 4, 5, 7, 8 u. Kurs. III, No. 10 und Grcenwich in Kurs. III, 7)-.

4) Die Abweichung der Luftlinien von natürlichen Flufs- oder Gebirgs- richtungen durch Winkelmesser fest- stellen und dann von den Schülern in Graden merken zu lassen, ist eine unnütze Gedächtnisbelastung.

5) Die auf eine Herbartsche For- derung und auf das Verfahren bei der Triangulation gegründete Mass- nahme, alle Ländergebilde auf geo- metrische Figuren zurückzuführen, ist dann unpsychologisch angewendet, wenn erzwungene Hilfsgerüste em- pfohlen werden, die auf apperzeptive Vorstellungen der Kinder gar keinen Bezug nehmen. In einen Irrweg ist der Verfasser auch deshalb geraten, weil seine geometrischen Figuren oft nicht durch wichtige geographische Merkpunkte charakterisiert sind. (Vergl. Kurs I, No 6; Kurs. II, No.

2, 4, 5. 6, 7, 8; Kurs. III, No 1, 2,

3. 5. 7).

6) Die Ehrenrettung des längst ab- gethanen dicken Striches als Terrain- symbols überzeugt nicht, weil der Strich der psychologischen Wahrheit widerspricht, nur das verdichten und abstrahieren zu lassen, was auf der Wandkarte abgelesen wurde, und weil er total falsche Vorstellungen hervorruft, mag man auch mit Wor- ten warnen.

7) Die Kategorieen: Weltstellung, Grenzen, wagerechte und senkrechte Gliederung, Bewässerung und Städte dürfen nicht immer dieselben sein und in derselben Reihenfolge wieder- kehren|; das psychologische Bedürf- nis, das Interesse, kann nur mafs- gebend sein.

In Ansehung der Erfahrung, dafs die gedruckte Andeutung eines Lchr- verfahrens den Eindruck einer Schab- lone zu machen pflegt, sei von einer weiteren Prüfung desselben Abstand genommen. Es sei aber nicht unter-

lassen hervorzuheben, dafs der Ver- fasser manchen trefflichen, praktisch verwertbaren Gedanken angiebt Der Verfasser hat das Beste gewollt. Jedoch ist es ihm nicht gelungen, eine »neue Methode« »die einen grofsen Fortschritt auf dem Gebiete des geographischen Unterrichts be- deutet« (Erdmann) zu schaffen ; seine Manier ist eine sehr alte aber auch bereits überwundene.

Halle a. S. Dr. B. Maennel. V.

Höhlbaum, Das Buch Wein&berg. II. Bd.

Leipzig. Alphons Dürr Im 2. Hefte des Jahrgangs 1890 dieser Zeitschrift habe ich den 1. Band des Werkes besprochen, habe also nur zu bemerken, dafs das dort Gesagte auch auf den vorliegen- den Band zutrifft. In der Natur der Sache liegt es, dafs der Inhalt des- selben mehr allgemeiner als speziell pädagogischer Natur ist. Er bringt den Teil des Gedenkbuches, welcher des Verfassers »Iuventus« umfafst, zum Abschlufs, greift aber, um die Denkwürdigkeiten abzurunden, noch in die »Sencctus«, deren Veröffent- lichung nicht beabsichtigt ist, hinüber, dadurch, dafs er das Bild »von der gegenwärtigen Zeit 1. Jan. a. 1578«, welches Weinsberg der Darstellung seines letzten Lebensabschnittes vor- ausschickt, enthält. Alle Erlebnisse und Mitteilungen, welche nicht all- gemeingültiger Natur sind, hat Prof. Höhlbaum unbarmherzig über Bord geworfen ; denn das Werk soll nicht eine Notizensammlung sein, es soll eine typische Persönlichkeit zur An- schauung bringen. Als Zugabe ent- hält der Band eine Worterläuterung und ein genaues Register über alle Orts- und Personennamen beider Bände. Zahlreiche Anmerkungen legen Zeugnis ab von der gewissen- haften Forschung des Herausgebers.

Eichen. C. Ziegler.

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Aufruf

zur

Feier des 300jährigen Geburtstages

des

Johann Arnos Comenius am 28. M»rz 1892.

Ausgedehnte Vorbesprechungen haben ergeben, das» wir einem weit- verbreiteten Wunsche entgegenkommen, wenn wir, wie es hiermit ge- schieht, die Aufforderung erlassen, den HOOjährigen Geburtstag des Arnos Comenius am 28. März 1892 durch eine Erinnerungs-Feier auszuzeichnen.

In Mähren geboren, unter Tschechen. Deutschen, Engländern, Hol ländern, Schweden und Ungarn wirkend, mit Franzosen und Italienern befreundet, hat er durch sein Denken wie durch sein Leben sich eine universelle Bedeutung erworben. Als Philosoph und Gottesgelehrter hat er im Bund mit Männern wie Andreae, Duraeus, Milton u. A. sein Leben einem Friedenswerk gewidmet; indem er ,das Heil der Menschheit (wie er sagte) höher stellte als das Ansehen der Sprachen, der Personen und der Sekten1 war sein Bemühen allezeit dahin gerichtet, die streiten- den Kirchen, Völker und Stände von gewaltsamer Austragung der Gegen- sätze zurückzuhalten und sie auf dem Grund altchristlicher Weltanschau- ung zu Frieden und Versöhnung zu leiten. Als Schulmann hat er, an- geregt besonders durch Baco, den Erfahrung* Wissenschaften in den r Lateinschulen", die er vorfand, ihr Recht erkämpft, die Muttersprache in den Kreis der Unterrichtsgegenstande eingeführt und den Gedanken der Körperbildung in den Begriff der Schule aufgenommen. Durch die Forderung der Schulbildung für die gesamte Jugend, mit Einschluss des bisher zurückgesetzten weiblichen Geschlechts, ist er einer der Väter unserer Volksschule geworden.

Längere Zeit war er zu Prerau und Fulnek in Mähren, zu Lissa, Elbing, Säros-Patak und Amsterdam thätig: aber auch Berlin, London, Prag und Stockholm, Danzig, Eperies, Görlitz, Hamburg, Leiden, Norr- köping, Stettin, Thorn und manche andere können die Ehre für sich in Anspruch nehmen, ihn beherbergt zu haben; an den reformirten Hoch- schulen zu Herborn und Heidelberg hat er seine Studien gemacht.

Die Anregung und Förderung von Festveranstaltungen geeigneter Art bleibt vorbehalten. Indessen ist schon jetzt beschlossen worden, als dauerndes Erinnerungszeichen unter dein Namen Comenius-Gesell- schaft nach Massgabe getroffener Vereinbarungen eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, welche bezweckt, das Verständnis des grossen Manne* nioht blos den Gelehrten, sondern dem gegenwärtigen Geschlecht über- haupt durch Schrift und Rede zu erschliessen.

Nähere Auskunft erteilt

der Bevollmächtigte

Archivrat Dr. L Keller

Münster i. Westfalen.

Neu eingegangene Schriften.

M. Jost-Paris, Annuaire de l'enseignement primaire. 1891. Paris, A. Col- lin et Gie.

Ernst-Tewa, Deutsches Lesebuch für Mädchenschulen. Band 1—3. Leipzig- Berlin, Klinckhardt

Ernst-Tewa, Begleitwort zum deutschen Lesebuch. Ebendaselbst.

A. Key, Die Pubertätsentwicklung und das Verhältnis derselben zu den Krankheitserscheinungen der Schuljugend. Berlin, Hirschwald.

Siegert, Gesundheitsregeln für die Schuljugend. Berlin, Issleib.

Durouseow, Über erste Erziehung. Strassburg, Trübner.

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Völcker, Die Schule und die soziale Frage. Schönebeck, O. Senff. Flösset, Volksbildung und Jugenderziehung. Leipzig, R. Werther. Zeitschrift des Vereins östr. Zeichenlehrer. Wien, Reisser und Werthner. Keferstein, Die Konfessionsschule. 2. Aufl. Wien, Pichler. Prähmlg-Hecht, Zionsklänge. Leipzig, Merseburger. Hentschel, Liederhain. Ebendaselbst. Engel, Festmotetten. Ebendaselbst.

Sprockhoff, Grundzüge der Mineralogie. Hannover, C. Meyer.

N. M. Butler, edueational review. New- York, H. Holt u. Co.

Stiehler, Das Lied als Gefühlsausdruck. Altenburg, Pierer.

Tromnau, Das deutsche Reich Halle, Schrödel.

Lauczizky, Lehrbuch der Logik. Wien, Gerold.

Meyer, Neue Bahnen. 1. u. 2. 1^91. Gotha, Behrend.

Scherer, Der Handfertigkeits-Unt. in der Volksschule. Bielefeld, Heinrich.

Machold, Ursachen, Ziele und Wege der Reform bestrebungen des Natur-

geschichts-Unt. in der Volksschule. Ebendaselbst. Gehaltsverhältnlese der rheinischen Landlehrer. Ebendaselbst, Peitties, Hoffnungen und Befürchtungen et«-. Ebendaselbst. Gehaltsverhältnisse der Lehrer an den Volksschulen in Köln etc. Ebendas. Günther, Zur Lehrerbildungsfrage. Ebendaselbst, Boletin de ensenanza primaria. Montevideo.

Rabioh, Psalter und Harte p Armstroff, Ansehauungs- und Sprachunterricht. 5. Aufl. g Andrea, Uber Gründe und Ziele Schulreform. Bestrebungen. j Behl, Methodik des Rechenunterrichts. 3. Aufl i 2

Rein, Aus dem padagog. Universitats-Seminar zu Jena. ö. Heft. I i Gleichmann, Über Herbarts Lehre von den Stufen des Unterrichts, f ET 2. Aufl.

Thrändorf, Die Behandlung des Religionsunterrichts. 2. Aufl. Deutscher Lehrerkalender 1H91. Armstroff, Ev. Religionsbuch. ö. Aufl. Bibliothek padagog. Klassiker von Fr. Mann, Langensalza.

Mittons padugog. Schriften und Äusserungen. (J. B. Meyer.)

Herbarts padagog. Schriften. .r>. Aufl. (v. Sallwürk.)

Salzmanns ausgewählte Schriften. (Ackermann.) Voigt, Die Bedeutung der Herbartsohen Pädagogik für die Volksschule.

Schönebeck a. E., Neumeister. Sachse, Des Lehrers Rüstzeug im Kampf der Schule gegen die Sozial- demokratie. Leipzig. Max Hesse. Thiene, Anleitung zu Skizzierubungen. Dresden, Stangel und Markert. Prutz-Schlller, Leitfaden für den geschichtlichen Unterricht in den oberen

Klassen höherer Lehranstalten. Berlin, Grote. Sammlung Göschen, ä HO Ff. Stuttgart, Göschen.

Kauffmann, Deutsche Mythologie.

Lyon, Abriss der deutschen Grammatik.

Bender, Römische Geschichte. Reichau, Ursprung und Wesen der Schule. Magdeburg, Baensch. Willmann, Die soziale Aufgabe d. höber. Schulen. Braunschweig, Vieweg. Walter, Algebr. Aufgaben. 2. Bd. Stuttgart, Union. Schiller, Schularbeit und Hansarbeit. Berlin, Weidmann. Notas, Ausgesprochene Gedanken vieler Millionen über die Unhaltbarkeit des christlichen Bekenntnisses in seiner jetzigen Gestalt. Leipzig, Pfau. Lehmann, Das Kartenzeichnen im geogr. Unterricht. Halle, Tausch u. Grosse. Wiget, Pestalozzi und Herbart. Dresden, Kämmerer. Nieden, Das Recht der Frau. Strassburg, Lindner. Andree, Schul-Atlas. Bielefeld-Leipzig, Velbagen-Klasing. Pünjer, Lehr- und Lernbuch der französ. Sprache. Hannover, Meyer. Thoma, Das Drama. Gotha, Thienemann.

Protzen, Was kann die Schule thun, um den Sozialist, u. komunist. Ideen der Umsturzparteien entgegen zu arbeiten? Bielefeld, Hehnich.

Beiliegend ein Prospekt von der Firma Wilhelm Eramer in Berlli, welchen wir Ihrer besonderen Aufmerksamkeit empfehlen.

Druck voii O. FSt«, Naumburg a. 8.

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Pädagogische Studien.

N e xi (> Folg e. Herausgegeben

TOI)

Dr. W. Rein,

Prnt\s*<,r u. d. Civtnitüt ./*/,<i.

XII. Jahrgang. Viertes Heft.

Inhalt:

A. Abhandlungen : Dr. Staude, Zur Anwendung der Formal-Stufen im Religionsunterricht.

B. Mitteilungen: i.R. Bürkner, Evangelisch-soziale Fragen. 2. Dr. B. Maennel, Zur Littcratur des Naturgeschichts- Unterrichts. 3. Neue Bahnen. 4. E. Scholz. Ist die Unkenntnis der neuesten Geschichte ein besonderes Merkmal der deutschen Jugend? 5. Neudrucke pädagogischer Schriften. 6. Stichling: Aus53Üienst- jahren. 7. H. Chili, Verbreitung der Knaben- Handarbeit in Deutschland. S. H.Chili, Zwangserziehung verwahrloster Kinder in Preufsen. 9. Joh. Trüper, Zum Kampf um die Schule (Fort- setzung!. 10. Hauptversammlung des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik.

C. Beurteilungen: 1. Kurt Adelfels (Bliedncr . 2. Wartenberg

(Haupt). 3. Gust. Frdch. Pfisterer f Eisenhofe r).

Dresden.

Verlag von Bldyl & Kaemmerer

(Paul Th. Kiwimruerer.)

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ZTTit bem näcbften fjefte beginnen bie

„päbagogtfcfon Stubien"

(Hcuc 5olge)

i^ren XIII. 3at?rgang. €s gereift ber Sdfrtftleitung unb ber Derlags» Jjanblung 3ur befouberen 5reube, auf bie erfdnenenen sroölf 3<*t?rgänge 3urücfblicFen 311 fönnen unb ibren DanF aus3ufpredjen ben treuen Mitarbeitern unb Abonnenten, trelcb.e es ibnen ermöglicht traben, ber itfebtung, meldtet bie „päbagogifdjen Stubien" qeteibmet finb, 3um 5egen für unfere beranroacbjenbe 3ugenb eine »eitere Verbreitung ,u geben. tTlöd?ten fie aud? im fommenben 3ar?re ben „päbagogifd?en Stubien" treu bleiben unb weitere Anbänger für unfere Sacfce gemimten!

ftoftfidprid Der in Den Safirgänflen I— XII erfc^ienenen

«bfjanMungen.

^übrgang. lfWO.

©«ft I. Dr. 4. t». SallmürT, Cbmibulrat in Starlfrube. «ouffrau5 Stellung in ber $äbagogtf unb in ber <HM<nt<bte brr SJabagogif. m Ii Dr. «idjarb Staube, Seminarbireftor in Coburg. Xie tultutbiftonfcbfn Stufen im Unter nebt bet «oir*itt»ulr

HJ. 9. «. 3ftoel, Cberlebrrr am fcönigl. ßebrertnnem Seminar in treiben, fcorfifelb unb

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3&brgang 1881.

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A. Abhandlungen.

Zur Anwendung- der Formal-Stufen im ! Religionsunterricht. *}

Eine Entgegnung von Dr. R. Staude, Seminardircktor in Coburg.

Der Verfasser genannt. Schrift erleichtert uns eine sachliche Entgegnung, da er es »nur mit der Sache zu thun« hat, da seine Angriffe nur einer »bestehenden, objektiven und . . . falschen Methode« gelten, und da er ausdrücklich erklärt, dafs es der »von Herbart ausgehenden Schule um die grofse Sache sehr ernstlich zu thun ist.«

So wird also das Ziel, das wir dem erziehenden Unterricht und insbesondere dem Religionsunterricht setzen, von dem Gegner anerkannt, aber unser Weg wird als ein falscher, vom Ziel ab- führender Weg verworfen. Dies Urteil ist hart und schwer genug, um zur Abwehr herauszufordern.

Die beiden Hauptteile der Schrift behandeln den biblischen Geschichtsunterricht und den Katechismusunterricht; jeder Teil zerfällt in einen kritischen und einen positiven Abschnitt. Was im ersten Teil über und gegen die kulturhistorischen Stufen und die Konzentration gesagt wird, können wir hier füglich übergehen, da die betreffenden Einwürfe an sich unwesentlich erscheinen und in diesen Blättern schon des öfteren beleuchtet worden sind. Der Hauptangrift gilt den formalen Stufen und ihrer Anwendung auf den biblischen Geschichtsunterricht. Diesen Angriff wollen wir nun näher ins Auge fassen.

Sehen wir uns zunächst nach den Unterlagen des Angriffes um, so finden wir, dafs der Gegner seinen Hörern und Lesern

*) Siehe A. H. Braasch: »Relorm des Religionsunterrichts in der Volksschule«. Jena 1891.

Pädagogische Studien. IV. 13

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zwei nach den formalen Stufen gearbeitete Präparationen skizziert und ihnen dadurch »volle Klarheit über die Methode« geben will. Zur Erhöhung dieser Klarheit werden dann noch einzelne bei Schulvisitationen gemachte Erfahrungen mitgeteilt. Und mit solchen willkürlich gewählten Beispielen und zufällig gemachten Erfahrungen soll nun eine psychologisch so wohl fundamentierte Theorie als falsch dargethan werden! Auch wenn dem Herrn Verfasser, wie ja anzunehmen ist, weit mehr Beispiele und Erfahrungen zu Ge- bote stehen, so könnte damit auch im günstigsten Falle nur be- wiesen werden, dafs die die Theorie ausführenden und anwenden- den Personen sich vergriffen und geirrt haben.

Betrachten wir nun den ersten Vorwurf, den Herr B. aut Grund seiner Unterlagen den formalen Stufen macht. Sie sollen eine unerträgliche Breite der Behandlung erzeugen und zwar be- sonders aut der Stufe der Vorbereitung ; dies geschehe hauptsäch- lich durch Hineinbringen fremdartiger Stoffe, z. B. aus dem An- schauungsunterricht und der Heimatskunde, und finde in einem Mafse statt, dafs die bibl. Geschichte zur Nebensache, zur »Butter auf dem Brote« herabgedrückt werde.

Dafs zur Auffassung einer Erzählung apperzipierende Vor- stellungen vor Beginn der Erzählung bereit zu stellen sind (das ist eben die Aufgabe der Vorbereitung), hat Verfasser mit der obigen Behauptung nicht widerlegt. Dafs aber eine Vorbereitung leicht zu breit werden kann, und dafs manche Vorbereitungen thatsächlich zu breit sind, hat noch niemand bestritten. Aber: ahusus n('ii tollit usmn. Wirkt die Vorbereitung zerstreuend statt sammelnd und ist sie langweilig statt anregend, so mufs eben der ausführende Lehrer, der sich doch vom Prinzip des Interesses leiten lassen will, das Falsche seiner Ausführung einsehen und Wandel schaffen.

Und was insbesondere die aus Reins i. Schuljahre und aus meinen » Präparationen c angeführten Vorbereitungen betrifft, so ist folgendes zu bemerken. Von der Vorbereitung zum Märchen von dem Strohhalm u. s. w. giebt Verfasser selbst zu, dals solche Vorbereitungen oft »recht lustig* sein könnten. Wenn sie lust- bringend sind, werden sie aber auch in der Regel zweckent- sprechend und also richtig sein. Und aufserdem haben die Ver- fasser der Schuljahre in der 4. Auflage bei dem betreffenden Märchen die darstellende Behandlung gewählt, die bekanntlich eine durchgängige Vermischung von Vorbereitung und Darbietung be- dingt. Ganz ähnlich verhält es sich mit meiner Vorbereitung zur Schöpfungsgeschichte. Die Ausdehnung derselben erklärt sich ein- fach daher, dafs ich wie in der Anmerkung auf S. 17 f. aus- drücklich erklärt wird im wesentlichen darstellenden Unterricht angewandt habe, weshalb die Darbietung des biblischen Textes in diesem Falle eigentlich nur als Bestätigung des schon Gewonnenen

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aufzufassen ist. Auch die von Herrn B. aus seiner Praxis angeführten Fälle sind nicht glücklich gewählt. Wenn ein Lehrer bei einer öffentlichen Schulprüfung j4 Stunden zur Vorbereitung auf die Geschichte von Mosis Aussetzung braucht, so hat er eben einfach aufser Acht gelassen, dafs bei der Wiederholung einer schon durchgearbeiteten Geschichte die Stufe der Vorbereitung gar keinen Zweck mehr hat, ganz abgesehen davon, dafs seine Ausführung derselben schon vor der ersten Darbietung zu breit war. Und wenn ein anderer Lehrer die Vorbereitung zu Jesu Geburt in geographischen Unterricht verwandelt, so hat er gleichfalls den Zweck der Vorbereitung ganz aus den Augen verloren. Dagegen kann ich in dem Hereinziehen der Schilderung eines Trauerzuges bei der Vorbereitung auf die Geschichte vom Jüngling zu Nain und in dem Aufzählen der verschiedenen Weidetiere Abrahams bei der Erzählung von Abraham und Lot nichts Unrechtes erblicken, sondern nur einen Dienst, den man damit dem Prinzip der An- schaulichkeit leistet. Überhaupt ist das Verwerten von Vor- stellungen aus der Heimatskunde und ^us dem Anschauungs- unterricht (und hierzu fügen wir noch : Geschichte, Deutsch, Naturkunde und überhaupt den gesamten Erfahrungskreis des Kindes) nicht als ein Hereinziehen fremdartiger Stoffe und Inter- essen zu verurteilen, sondern als ein notwendiger Dienst, den man der Anschauung, der Apperzeption und Konzentration zu leisten hat, anzuerkennen und zu üben. Es ist nicht einzusehen, wie die auch vom Verfasser geforderte Anschaulichkeit besonders bei der Klarstellung der thatsächlichen Verhältnisse einer Geschichte auf anderem Wege erzeugt werden soll als durch Herbeischaffen und Verwerten der apperzipierenden Anschauungen. Und gar die Vor- herrschaft der religiös-sittlichen Gedanken kann doch auf keine andere Weise methodisch angebahnt werden als durch thatsäch- liche Ausübung dieser Herrscherstellung auf allen dem religiös- sittlichen Gedankenkreis unterworfenen Lebensgebieten. Hiergegen kann sich nur verschliefsen, wer die Würde und Heiligkeit des religiös-sittlichen Gedankenkreises in seiner völligen Isoliertheit erblickt und ihn darum ängstlich vor der Berührung mit profanen Gedankenkreisen zu bewahren sucht, oder wer dem religiösen Unterrichtsstoff die mystische Macht zutraut, von selbst die Herr- schaft über die Gefühls- und Willensgebiete des profanen Lebens zu erlangen. Auf diesem theologischen Standpunkt stehen wir allerdings nicht. Wir sind vielmehr der Meinung, dafs Religion und Sittlichkeit die geistigen Lebensäufserungen durchdringen und normieren sollen und dafs daher diese Durchdringung und Beein- flufsung im erziehenden Unterricht nicht früh und kräftig genug ins Werk gesetzt werden kann. Doch wir kommen hierauf noch einmal zurück. Für jetzt stellen wir nur fest, dafs allerdings durch das Hereinziehen der genannten Stoffe und Vorstellungen die Be-

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handlung einer biblischen Geschichte bei uns breiter und gründ- licher werden mufs als bei anderen; doch wir glauben, dafs dem gröfseren Zeitaufwand auch eine gröfsere Wirksamkeit entspricht. Aus dem »breitangelegten Unterbau« folgt aber nicht, dafs eine biblische Geschichte »wochenlang traktiert« werden mufs oder gar dafs eine »unerträgliche Breite <, eine tödlich wirkende Langeweile und der beharrliche Schlaf der Kinder entstehen mufs. Meine Er- fahrungen, die gewifs von vielen Gesinnungsgenossen bestätigt werden können, haben mir z. B. gezeigt, dals die Schüler sich gerade bei den Analysen, Erläuterungen, Assoziationen und Anwendungsaufgaben besonders lebhaft beteiligten, und öfters zu meinem Bedauern viel lebhafter als bei der Darbietung des schlichten und knappen Bibel- wortes, das sie eben in seinem Reichtum und seiner Tiefe noch nicht apperzipieren konnten. Durch das von uns geübte Herein- ziehen anderer Stoffe wird die biblische Geschichte durchaus nicht zur Nebensache herabgedrückt; denn das Ziel aller Stufen ist die Erfassung der gebotenen Thatsachen und die Gewinnung und Ver- wertung der darin gegebenen ethisch-religiösen Kerngedanken, so dafs also die betreffende biblische Geschichte auf allen Stufen die Führerschaft behält.

Natürlich kann auch beim Hereinziehen der genannten Stoffe des Guten zu viel geschehen und ist wohl auch in manchen Fällen zu viel geschehen. Aber die verfehlte Ausführung einer Theorie ist kein Beweis gegen ihre Richtigkeit und unsere Theorie trä^t ja, wie schon bemerkt, in ihrem Grundprinzip des Interesses das Prinzip der Korrektur solcher Fehlgriffe in sich. Wo das Inter- esse aufhört, und die Langeweile anfängt, da mufs eben der Lehrer sich sagen: Du bist auf dem falschen Weg und mufs den richtigen suchen. Wie stimmt übrigens zu dem Tadel, den Ver- fasser über das Hereinziehen der genannten Stoffe ausspricht, das Lob, das er später (S. 25) unserem Luther spendet, weil er im grofsen Katechismus das »Vertrauen« an Beispielen weiter aus- geführt habe, >die frisch und fröhlich aus dem Leben und der Geschichte gegriffen sind und keineswegs blofs aus der bib- lischen Geschichte «? Erwähnt sei hier noch der Vorwurf, den Herr B. der 5. Stufe macht, dafs sie nämlich besonders gefährlich sei, weil sie »einem flachen, durch häufige Wiederholung sich selbst abschwächenden Moralisieren Thür und Thor öffne.« Auch dieser Vorwurf ist gegenstandslos, da fast in allen theoretischen Er- örterungen der Stufen gerade für diese Stufe im Gesinnungsunter- richt grofse Vorsicht, Weisheit und Mäfsigung angeraten wird, und da die in den Präparationen gegebenen Aufgaben nur als Vorschläge für die Auswahl des einem jeden Lehrer Passenden aufzufassen sind.

Ein zweiter Vorwurf, der hauptsächlich die 2. Stufe trifft, wird von Herr B. mehr indirekt ausgesprochen. Aus seiner Mifs-

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billigung des Abschnittemachens, des vielen Erläuterns, Abfragens (übrigens ist niemand mehr gegen das Abfragen als wir), Nach- denkenlassens, sowie aus seiner gegensätzlichen Hervorhebung der begeisternden Methode ergiebt sich nämlich der Vorwurf, dafs wir schon auf der 2. Stufe die Gefühlsseite vernachlässigten und die Erkenntnisseite zu sehr betonten. Das ist nun entschieden nicht richtig. Wir erstreben, wie nur irgend einer, auf der 2. Stufe die volle Anschaulichkeit der Geschichte mit allen Mitteln der methodischen Kunst : durch darstellenden Unterricht, durch Heran- ziehen der ähnlichen Erfahrungen und Anschauungen des Kindes, durch Klarlegung der thatsächlichen, der kulturhistorischen, geo- grapischen und psychologischen Verhältnisse, durch Einsicht in den inneren Zusammenhang der erzählten Ereignisse, Aussprüche, Stimmungen und Handlungen. Kurz wir erstreben als Ziel, dafs das Kind die Handlung und ihre persönlichen Träger zu sehen glaube, dafs es die Geschichte gleichsam mit erlebe. Und der Zweck dieser lebhaften Anschaulichkeit und klaren Einsicht ist uns die innere Teilnahme des Schülers an den vorgeführten Hand- lungen und Personen, die lebhafte Erregung seines sittlichen (be- sonders des sympathetischen) und religiösen Gefühls. Wir suchen der nur künstlichen Erfahrung, die der Unterricht bieten kann, möglichst den Charakter der natürlichen Erfahrung zu verleihen, weil wir wissen, dafs die in dem wirklichen Umgang mit Per- sonen gemachten Erfahrungen die sittlichen und religiösen Ge- fühle am kräftigsten wecken und bilden. So ist uns die Erkenntnis- seite nur die unentbehrliche Unterlage der Gefühlsseite. Und die zweite Stufe gilt uns als die Hauptstufe, weil sie durch ihre neuen Anschauungsgebilde den neuen Zuwachs der Gesinnungsbildung in die Kindesseele hineinbringt.

Dies führt uns auf den dritten und hauptsächlichsten Vor- wurf, den Verfasser unserer Methode macht und der ausschliefs- lich der 3. und 4. Stufe gilt. Er meint, wir trieben hier eine = abstumpfende Begriffs- und Abstraktionsarbeit«, einen »einseitigen Verstandes- und Begriffskult wir verdürben den biblischen Ge- schichtsunterricht »in einen Katechismusunterricht mit geschicht- licher Grundlage«, indem wir sie »von vornherein katechismusartig« zuschnitten, unsere ganze Kraft auf »das Herausdestillieren kate- chismusartiger Sätze« legten und demgemäfs unsere biblischen Ge- schichtsbücher »durchweg im Dienst des Katechismusunterrichts« ausarbeiteten. Hieraus ergebe sich offenbar unsere »Überschätzung der Erkenntnisseite in der Religion *

Der Grundirrtum unseres Gegners bei dieser Anklage liegt in einem doppelten Mifsverständnis. Er hat unsere besonders im 8. Schuljahre niedergelegten Bemerkungen über den Katechismus- unterricht mifsverstanden, und er hat Sinn und Bedeutung der gedruckt vorliegenden Assoziationen und Systeme mifsverstanden.

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Von dem letzteren Mifsverständnis will ich soweit es meine Präparationen betrifft gern einen Teil der Schuld auf mich nehmen. Das erste Mifsverständnis erkläre ich mir so. Die Grundtendenz unserer Bemerkungen im 8. Schuljahr (man ver- gleiche übrigens die Anmerkungen in der 2. Auflage !) war der Nachweis, dafs der übliche selbständige Katechismusunterricht nach der strengen Theorie der formalen Stufen überflüssig sei, weil seine Elemente und deren Zusammenfassung schon in unserem biblischen Geschichtsunterricht enthalten seien. Dieser katechismus- artige Gehalt des biblischen Geschichtsunterrichtes wurde uns aber nicht etwa von irgend einem Katechismus, den wir erarbeiten wollten, sondern von der Theorie der formalen Stufen und von dem religiös-sittlichen Gehalt der biblischen Geschichten geboten und dargeboten und im letzten Grunde von dem Zwecke der Charakterbildung, die ohne Maximen und Regeln für das sittliche Handeln und die religiöse Weltanschauung nicht denkbar ist. Unsere Bemerkung : »So schwebt uns also bei der Behandlung der biblischen Geschichte die lebensvolle Aneignung des Kate- chismusgehaltes als letztes Ziel vor; der Katechismus erhebt sich demnach aus der Reihe der zu verarbeitenden Unterrichts- stoffe zum Range einer den Religionsunterricht leitenden Norm, um schliefslich als Resultat an das Ende des biblischen Ge- schichtsunterrichtes zu treten« ist also gemäfs der in der 2. Auf- lage gemachten Anmerkung aufzufassen, wo es heifst: »Wir denken hierbei nicht an einen bestimmten kirchlichen Katechismus, der inhaltlich die Norm des Religionsunterrichtes sein müfste, sondern nur an ein dem Lehrer (NB! im Dienst der Charakter- bildung!) als methodisches Ziel vorschwebendes System des ethisch-religiösen Gewinnes des Gesinnungsunterrichtes, welches selbstverständlich die Stoffauswahl und die Richtung der einzelnen Abstraktionsprozesse (III. und IV. Stute) zu normieren hat.«

Natürlich bleibt auch abgesehen von dem zu starken Gewicht- legen auf die Worte »Ziel« und »Norm« eine sachliche Differenz zwischen uns und Herrn B., da er grundsätzlich den Gewinn katechismusartiger Elemente im biblischen Geschichtsunterricht zu verwerfen scheint. Nun, da steht eben Grundsatz gegen Grund- satz. Wir legen allerdings aus wohlerwogenen psychologischen Gründen grofsen Wert auf die begriffliche Ausbildung unserer Schüler, auch im Gesinnungsunterricht, da wir klare, richtige und reiche Begriffe und Begriffsverbindungen, mit denen natürlich die entsprechenden Gefühle aufs engste verbunden sind, für die stärksten apperzipierenden Mächte im Seelenleben halten , und zwar auch auf dem Gebiete der Religion und Sittlichkeit. Wohl giebt es einen Weg »unmittelbar vom Gefühl zum Willens aber der Weg zum Gefühl geht meist durch klare Anschauungen, Vor- stellungen, Erkenntnisse und Begriffe. Natürlich denken wir hier-

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bei nicht an logische Begriffe oder gar a,n wissenschaftliche De- finitionen, sondern nur an psychische Begriffe, die aus konkretem AnschauungsstorT selbstthätig vom Schüler erworben worden sind, und denen die konkreten Züge, deren Haftenbleiben wir sogar fördern, frische Lebendigkeit und psychische Macht verleihen. Wir wollen die zum Gewinnen von Begriffen, Urteilen und Maximen nötige Abstraktionsarbeit, die auch unser Gegner nicht entbehren kann (vergl. seine Vorschläge über den Katechismus) nicht bis zu den letzten Schuljahren aufschieben und dann in erdrückenden Massen bringen, sondern wir wollen das Eisen der Anschauung und Teilnahme schmieden, d. h. begrifflich bearbeiten, so lange es glüht, und damit jedem Schuljahr sein gemessen Teil von Ab- straktionsarbeit zuweisen, gerade weil auch wir wissen, dafs ein Cbermafs solcher Arbeit von Übel ist. Und dann bedenke man doch, dafs die Resultate unserer Abstraktionen die schlichten. Ge- danken einfacher Bibelsprüche sind und nur die Einsicht erzeugen wollen, dafs und wie die vorgeführten Verhältnisse des mensch- lichen Lebens von dem göttlichen Wort getroffen und normiert werden. Wenn auch Verfasser im biblischen Geschichtsunterricht Sprüche verwerten will, so ist mir unverständlich, wie er sie in anderer Weise, als wir es thun, mit den Geschichten verbinden will. Denn auch wenn er sie direkt (also ohne Assoziation) an die einzelne Geschichte anschliefsen wollte, so müfste er doch bei der Wiederkehr desselben Gesinnungsverhältnisses in einer späteren Geschichte an die frühere von demselben Spruch getroffene Ge- schichte erinnern und demgemäfs wie wir assozieren. Doch genug hiervon. Die Bedeutung der Begriffsbildung für das geistige Leben ist schon von Männern der Wissenschaft und der Praxis so gründlich nachgewiesen worden, dafs die Behauptungen und Bedenken des Herrn Verfassers die Ergebnisse der Wissenschaft und die praktischen Folgerungen daraus nicht umstofsen werden.

Das eine können wir ihm zugeben, weil es schon längst unserer eigenen Meinung entspricht, dafs die 2. Stufe auch im Vergleich zur 3. und 4. Stufe die Hauptstufe der methodischen Einheit ist und bleibt. Hat die Erzählung und deren Erläuterung nicht auf Denkweise, Gefühl und Gesinnung des Schülers gewirkt, so kann und wird auch der aus ihr gewonnene allgemeine Satz oder Spruch keine Macht über ihn gewinnen. Aber der Spruch ist und bleibt eben doch die wirksame Verdichtung und Konzen- tration der wirksamen Geschichte.

Noch in einem andern Punkte kann wenigstens ich persönlich ein Zugeständnis machen, und hiermit komme ich auf das oben erwähnte Mifsverständnis und zugleich auf meine von Herrn B. so scharf getadelten »Präparationen* zu reden. Eine ganz andere Frage nämlich als die nach der Notwendigkeit und Zweckmässig- keit von Assoziationen und Systemen ist die Frage nach dem

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Mafs und der Ausdehnung der hiermit dem Schüler aufzuerlegen- den Abstraktionsarbeit. Denn aus der Zweckmäfsigkeit des Ab- straktionsprozesses folgt noch nicht, dafs er auch bei jeder ein- zelnen Geschichte und im weitesten Umfange eingeleitet werden müsse. Hier treten noch andere Rücksichten mit bestimmend ein, z. B. die Rücksicht auf den Entwickelungsgrad der Denklust und -fähigkeit bei den Kindern oder auf die Abgrenzung der metho- dischen Einheiten. Ich habe nun einem Winke Zillers folgend schon vor Jahren (vergl. Präp. zur Apg. S. 13) den Gedanken ausgesprochen, dafs man besonders im Gesinnungsunterricht zur Frischerhaltung des Interesses wohl daran thue, nicht sofort an jede durchgearbeitete Synthese die betreffende Assoziation anzu- schliefsen, sondern hierfür das Eintreten einer verwandten Synthese abzuwarten, wodurch natürlich die Gesamtzahl der Assoziationen vermindert würde. Hierin bin ich im Lauf der Jahre noch weiter gegangen, indem ich in Rücksicht auf die unleugbare Schwierigkeit und Trockenheit des Abstrahierens die Zusammenschiebung gar mancher von mir als selbständiger Einheiten behandelten Geschichten zu pröfseren Einheiten und Gruppen noch mehr als früher befür- worte (vergl. meinen Aufsatz über die formalen Stufen in den Kehr'schen Blättern) und indem ich bei der Wiederkehr eines schon mit einem Spruche fixierten Gesinnungsverhältnisses den betreffenden Spruch entweder direkt oder mit knappester Repro- duktion des früheren konkreten Falles an die Beantwortung der Konzentrationsfrage anschliefse. Natürlich mufs man sich dann von Zeit zu Zeit vergewissern, ob die Haupt- und Kernsprüche (bezüglich Katechismusstücke) noch alle auf sie bezogenen Einzelfälle der religiös-sittlichen Lebensäufserung umfassen und reproduzieren. Einem ähnlichen Verfahren war ich schon zur Zeit der Abfassung meiner »Präparationen« geneigt, habe aber diese Anschauung nur wenig auf mein Buch wirken lassen, da dies Buch den ersten litterarischen Versuch der Anwendung der Stufentheorie auf den gesamten biblischen GeschichtsstofT dar- stellte und es also gerade darauf ankam, zu zeigen, dafs die formalen Stufen sich in jeder einzelnen biblischen Geschichte durchführen lassen. Ich habe aber des öfteren (z. B. in dem er- wähnten Aufsatz) ausdrücklich darauf hingewiesen, dafs meine reichlichen Assoziationen und Systeme nur methodische Möglich- keiten sein sollen, die ich dem Lehrer zur Auswahl darbiete. Da ich nun noch nicht zu der geplanten Umarbeitung meiner »Präpa- rationen« gekommen bin, so benutze ich gern diese Gelegenheit meinen jetzigen Standpunkt in dieser Frage bekannt zu geben. Ich bin also für Verringerung der Assoziationen und Systeme nach Zahl und Umfang und demgemäfs auch für Zusammenlegen ein- zelner Erzählungen zu gröfseren Einheiten, besonders wenn diese Gruppen von den nämlichen religiös -sittlichen Hauptgedanken

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durchzogen sind (z. B. die Josephsgeschichte, deren Grundgedanke die Weisheit der göttlichen Weltregierung ist; vergl. auch meine Präparationen zur Nibelungensage!). Das würde ja auch mit dem Gesichtspunkte harmonieren, wonach der Umfang einer Einheit wesentlich von dem darin verkörperten System aus zu be- stimmen ist.

Durch dies Zugeständnis nähere ich mich etwas der Position des Gegners, und wenn er seinerseits mein Nachlassen auf der 3. und 4. Stufe durch Zugeständnisse auf der 2. Stufe erwidern würde (ich meine besonders gröfseren Raum für Anschauen und Nachdenken und aufserdem organische Verbindung des Spruches mit der Geschichte) so wären wir gar nicht mehr so weit aus- einander oder wenigstens so nahe, als es die immer noch bleibende prinzipielle Differenz gestattete. Aber es könnte dann wenigstens auf beiden Seiten heifsen: tolerari pogsc

Was die übrigen Vorwürfe gegen meine »Präparationen« be- trifft, so sei mit Erinnerung an das schon oben Gesagte bemerkt, dafs ich schon öfters ihre Breite und Ausführlichkeit mit der Ab- sicht begründet habe, dem gedankenarmen Anfänger einen ge- wissen Reichtum von Stoffen und Gedanken darzubieten und dafs ich in der Einleitung zum III. Teil ausdrücklich erklärt habe : »Diese Präparationen sind nicht so wenig wie die früheren als Musterpräparationen gedacht und gemeint, die den Anspruch auf getreue Nachahmung und unveränderte Übertragung in die Praxis erheben, sondern sie wollen und sollen nichts anderes sein als eine methodisch durchdachte Stoff- und Gedankensammlung, die sich dem Lehrer als Hilfe zur selbständigen Vorbereitung auf den Unterricht und zur Auswahl des für seine Verhältnisse Passenden anbietet. Ganz besonders habe ich auf diese selbständige Aus- wahl des Lehrers gerechnet bei den vielen Verknüpfungen auf den III. Stufen und bei der Fülle der Aufgaben auf den V. Stufen.«

Wenn mein Rezensent das alles bedenkt, so wird er vielleicht selber sein Urteil, dafs meine »Präparationen« ganz in »diesem Geiste t der tödlich wirkenden Langeweile geschrieben seien, als zu hart empfinden. Und wenn nicht, so kann ich mich wenigstens damit trösten, dafs sicherlich die Mehrzahl der Käufer der fünf Auflagen seinem Urteil nicht beistimmt. Ich müfste mich ja auch Sünden fürchten, auch nur noch eines dieser mörderischen Bücher in die Welt hinausgehen zu lassen, zumal ich ja meiner innersten Lehrerindividualität nach wohl kein Wort Herbarts täglich und stündlich mehr beachte und scheue als das grofse Wort: >Die Langeweile ist die ärgste Sünde des Unterrichtes.«

Nun haben wir noch den vierten Vorwurf des Herrn B. zu beleuchten. Er behauptet, unsere Methode vertraue in Wahr- heit nicht der biblischen Geschichte, sondern nur sich selbst; sie glaube, sie müsse erst die biblische Geschichte fruchtbar machen,

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ohne ihre Hilfe bleibe jene wirkungslos, er aber vertraue auf die innere heilige Macht, welche die biblische Geschichte in sich trage und durch sich selbst auf junge unverdorbene Gemüter ausübe.

Sofort nach dieser Behauptung giebt aber Herr B. zu, dafs bei der Behandlung der biblischen Geschichte »solche Hilfsmittel wie Bilder und Landkarte und knappe, wirklich notwendige Er- klärungen und kurze Fingerzeige, welche der anschaulichen Dar- stellung dienen, mit Nutzen verwendet werden können ja er verwirft auch nicht die Fragen, die »das Nachdenken der Schüler und ihr tieferes Eindringen in den Geschichtsstoff lördern«, nur müsse es »bei wenigen Fragen und Winken bleiben, welche das Interesse an der Geschichte und den Helden derselben wirklich steigern«. Umfafst das nicht so ziemlich das, was auch wir an Erläuterungen und Konzentrationsfragen zur Geschichte hinzufügen, nur dafs wir dabei etwas intensiver und gründlicher zu Werke gehen? So zeigt sich auch bei unserem Gegner, dals man nicht ungestraft unter Palmen wandelt. Trotzdem wir aber noch mehr Zuthatcn zur biblischen Geschichte geben als Herr B., so lassen wir uns doch unser Vertrauen auf die eigene Macht derselben nicht abstreiten. Wir wissen recht wohl, dafs den religiösen und sittlichen Vorstellungen, Gefühlen, Begriften, Interessen und Ideen eine ganz eigentümliche Macht über das Menschenherz verliehen ist, auf der im letzten Grunde der Sieg des Guten auf Erden und die Verwirklichung des Gottesreiches gegründet ist Und wir danken Gott so sehr wie irgend ein anderer für diese Offenbarung und Durchführungsweise seines heiligen Willens. Aber so wenig wir deshalb auf die Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes und insbesondere auf den erziehenden Unterricht verzichten, so wenig verzichten wir in dem wichtigsten Unterrichtsfach auf die Untersuchung und Anwendung der psychologischen Wege und Mittel, auf denen und mit denen religiöse und sittliche Erkennt- nisse und Gefühle am richtigsten erzeugt, am kräftigsten gepflegt und am sichersten in Interessen, Bestrebungen und Willensregungen umgesetzt werden können.

Auch bietet uns dabei der Gedanke, dafs unser mächtigster Lehrstoff, die biblische Geschichte, gerade Kindern gegenüber diese Macht am wenigstens äufsern kann, da er für Erwachsene berechnet ist und anschauungsarmen Kindern gegenüber meist zu knapp, schlicht, ja sogar abstrakt ist, um ohne lebhafte Veran- schaulichung und eindringliche Erläuterung als wirksamer Zuwachs des vorhandenen Erfahrungs- und Umgangskreises dienen zu können. Wir ziehen uns daher nicht zurück in thatloses Vertrauen auf die mystische Macht des göttlichen Wortes und auch nicht in die theologischen Formeln der perspieuita* und effimeia s. s., sondern wir halten die Augen offen und die Hand bereit, um die uns ver- liehene Waffe des göttlichen Wortes möglichst wirksam und *mög-

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liehst am rechten Orte und zu rechter Stunde zu führen. Wohl glauben wir auch, dafs Gott und sein Wort das Beste thun mufs, aber wir glauben auch, dafs Gott durch menschliche Werkzeuge und von ihm ergriffene Persönlichkeiten für sein Reich wirkt, und dafs daher auch ein vom Geist Christi erfüllter und aus ihm heraus unterrichtender Lehrer ein Wort Gottes an die Kinder ist. So müssen wir auch den vierten Vorwurf unseres Gegners als unbe- rechtigt zurückweisen.

Als Ergebnis dieser Gegenkritik können wir folgendes fest- stellen: Die Kritik des Herrn B. ist zwar gutgemeint, aber völlig wirkungslos. Denn sie trifft nirgends die psychologischen Oroitfllugen der Theorie der formalen Stufen. Die Berechtigung des einzuleitenden Apperzeptionsprozesses giebt er selbst zu, die Be- rechtigung des Abstraktionsprozesses hat er nicht widerlegt. Auch gegen die Notwendigkeit einer Vorbereitungsstufe hat er nichts Treffendes vorgebracht, so wenig wie gegen die Erläuterungen und Kernfragen der zweiten Stufe, die er selbst als zum Teil be- rechtigt anerkennt. Das Wenige, was er als Verirrung und Ver- kehrtheit mit Recht bezeichnen darf, trifft nur die falsche oder einseitige Anwendung und Ausführung der richtigen Theorie. Auf die Möglichkeit und das wirkliche Vorkommen dieser verfehlten Anwendung hingewiesen zu haben, ist ja verdienstlich, aber nicht neu. Die Korrektur gegen übermäfsige Ausdehnung der Vorbe- reitung und der Erläuterungen, sowie gegen die allzugrosse Häufung und Ausdehnung der Abstraktionsprozesse trägt die Theorie mit ihrem Grundprinzip des Interesses, aus dem sie alle ihre Forderungen abgeleitet hat, in sich selbst. Es ist nicht bewiesen, dafs die Theorie der formalen Stufen eine unnatürliche und gekünstelte Methode zur Folge habe. Wir bleiben also dabei, dafs unsere Methode den von der Natur des kindlichen Geistes gebotenen Lernprozess ins Werk setze und dafs wir mit den formalen Stuten den Weg der Natur gehen.

Nun noch ein kurzes Wort über den positiven methodischen Vorschlag unsres Gegners, den er als den Weg der Natur be- zeichnet. Es ist bedauerlich, dafs er nicht durch eine Lehrprobe seinen methodischen Gedanken verkörpert, wie er das beim Kate- chismusunterricht thut. Aber aus seinen Andeutungen läfst sich ungefähr folgendes Bild zusammenstellen. Er will ohne Vorbereitung, Abschnitte. Einprägen und Moralisieren (d. h. wohl ohne die ethi- schen Urteile der 2. und ohne die Anwendungen der 5. Stufe) die Geschichte im kindlichen und herzlichen Ton erzählen und will teils hierdurch teils durch kurze Erläuterungen und Denkfragen die Kinder für die Personen der heiligen Geschichte, insbesondere für Christus begeistern.

Er nennt die Methode die beste und vollkommenste, welche diese begeisternde Wirkung erzielt, welche die Kinder überhaupt

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fühlen läfst, was heilig und gut ist, und will diese Wirkung auf das Gefühl noch unterstützen durch das Gebet des Lehrers und den fleifsigen Gesang unserer frommen Volkslieder.

Wir können uns mit diesem Kennzeichen der rechten Methode ganz einverstanden erklären, da auch wir in dem Gefühl für das Heilige und Grosse, in der Theilnahme und Begeisterung für die heiligen und grofsen Personen die gesinnungbildende Macht des Religionsunterrichtes erblicken. Es ist aber sehr fraglich, ob sich diese Wirkung mit so einfachen Mitteln, ohne stärkere Heranziehung der Anschauung, des Gedächtnisses, der Erkenntnis, des sittlichen Urteils und der sittlich- religiösen Begriffe erzielen läfst. Wir glauben nicht daran, da die sittlichen und religiösen Gefühle, wenn sie wirksam sein sollen, die Unterlage einer reichen und im Gedächtnis sicher bewahrten Anschauungs-, Vorstellungs- und Begriffswelt nicht entbehren können. Insbesondere wird man für Personen nicht begeistern können, wenn man nicht zugleich Einsicht in ihre Denk- und Handlungsweise, in ihre sittlich-religiösen Vorzüge und über- haupt in die Ideen, deren Träger sie sind, erzeugt. Ohne sittliche Einsicht kein sittliches Gefühl! Und überhaupt erhalten Personen ihre Würde und Vorbildlichkeit im Grunde doch nur durch die Ideen, deren Träger sie sind. Aber eins ist richtig daran: der methodische Weg zur Erfassung der Ideen führt über die persön- lichen, anschaulichen Träger dieser Ideen. Und diesen Weg gehen auch wir. Herr B. übertreibt also mit seiner Begeistcrungsmethode einen richtigen Gedanken. Seine Methode hat aber nur das eine Mittel der Gefühiserregung, der Rührung, sie ist eine alte Methode und längst überwunden und ergänzt durch die gerecht abgewogene Rücksicht auch auf die Erkenntnis- und Willensseitc des religiösen Lebens. Diese Methode mag in der Ausführung durch ihren Urheber und sein Lehrgeschick vielleicht sehr wirksam sein, das bestreiten wir nicht. Aber sie ist keine objektive Methode wie die unsere, welche die berechtigten Richtungen der methodischen Entwickelung zusammenfafst und die daher auch noch in der Hand eines trockenen und nüchternen Lehrers leidliche Erfolge ermög- licht, während jene subjektive Methode nur für Gefühlsnaturen pafst. Wir können also in dem methodischen Vorschlag unseres Gegners keinen Fortschritt, sondern nur einen Rückschritt in eine überwundene Einseitigkeit vergangener Zeiten erblicken, deren Erneuerung gerade unter den heutigen sozialen Verhältnissen und Gefahren keinen Erfolg gewährleisten kann.

Wenn wir zum Schlüsse noch eine Bemerkung über das machen, was Herr B. vom Katechismusunterricht sagt, so geschieht dies nur, um zu konstatieren, dafs er trotz mancher guten kritischen Bemerkung einen greifbaren Vorschlag über die Methode dieses Unterrichtszweiges nicht giebt. Denn wenn er erklärt, der eigen- artige Charakter dieses Unterrichts sei, »eine gedrängte Zusammen-

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fassung der Heilswahrheit zu geben«, so zeigt er hiermit höchstens ein Ziel, aber keinen Weg. Und aufserdem liegt doch hierin ein Widerspruch zu der von ihm empfohlenen Behandlung der biblischen Geschichte. Denn woher sollen die zusammenzufassenden Heils- wahrheiten kommen, wenn im biblischen Geschichtsunterricht keine gewonnen werden sollen, sondern alles Abstrahieren von kate- chismusartigen Sätzen, Sprüchen u. s. w. verworfen wird. Oder sollte Herr B. diese vorbereitende Abstraktionsarbeit dem von ihm so warm empfohlenen Bibellesen zuweisen ? Dunkel bleibt mir auch die Stellung des Bibellesens zu der vorausgegangenen biblischen Geschichte und die Forderung, dafs die 3 Hauptstücke nebst Erklärungen vom 3 —6. Schuljahr gelernt werden sollen, ehe der Katechismusunterricht der beiden letzten Schuljahre eintritt. In welche Verbindung sollen denn diese Katechismusstücke und die noch aufserdem zu lernenden Sprüche zu den gleichzeitig behan- delten biblischen Geschichten treten? Über dies mancherlei Dunkel gewähren auch die zwei dargebotenen Lehrproben keine Aufklärung. Denn sie enthalten zwar ganz gute und richtige Gedanken, aber in methodischer Beziehung unterscheiden sie sich von anderen Präparationen höchstens durch ihre Knappheit.

So zeigen sich die positiven methodischen Vorschläge des Herrn B. auch in dieser Hinsicht als wenig gewinnbringend. Er- freulich und durchaus zu billigen ist hier nur sein entschiedenes Vorgehen gegen die »theologisierende Methode«, in der die meisten Religionslehrer weit tiefer stecken, als sie selber ahnen.

Wenn übrigens unser Gegner den Hauptzweck seiner Schrift darin findet, der Schule die naturgemäfse Behandlung der biblischen Geschichte zurückzuerobern, so wird damit die uns sehr erfreuliche, aber bis jetzt noch neue Thatsache vorausgesetzt, dafs unsere Methode schon grofse Schulgebiete erobert hat. Hoffen wir, dafs diese Voraussetzung richtig ist, und getrösten wir uns der Zuver- sicht, dafs solche Wiedereroberungszüge an ihrer eigenen Schwäche scheitern werden.

B. Mitteilungen. I. Evangelisch-soziale Zeitfragen.

Herausgegeben mit Unterstützung des Evangelisch-sozialen Kongresses von Prof. Lic. Otto Baumgarten in Jena. Leipzig, Verlag von Friedr. Wilh. Grunow.

Die Zeitfragen werden in zwangloser Folge in Serien von 10 Heften erscheinen, das Heft von 2— 5*/t Bogen (und einzeln käuflich) zu 50 Pfennig.

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In immer weitere Kreise dringt nachgerade die Überzeugung, dals es gilt mit emsiger That an der Lösung der sozialen Frage mitzuwirken, zu- gleich in der Gewifsheit, dafs diese Frage nicht lediglich die Folge einer mürrischen und neidischen Stimmung im Volke ist, sondern dafs ihr ernste und erwägenswerte Ursachen, schwere Schäden unserer jetzigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu Grunde liegen. Auch der Protestan- tismus ist zur Lösung dieser Frage verpflichtet. Dieser Verpflichtung an ihrem Teile nachzukommen haben sich die evangelisch-sozialen Zeitfragen zur Aufgabe gestellt. Die sittlich-sozialen Mafsstäbe des Evangeliums sollen wirksam gemacht werden, die evangelische Kirche soll das Gewissen unseres Volkes auch für sein wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben sein. Ja, in der sozialdemokratischen Bewegung selbst soll nach dem sittlichen oder idealen Kern, nach der inneren Berechtigung gesucht werden. Dem Drange nach voller Selbständigkeit, der in dieser Bewegung das Wahre bildet, soll in liebevollem Eingehen vollauf Rechnung getragen werden. Alles Ungöttliche, alles Gemeine soll mit aller Entschiedenheit bekämpft werden, >aber sie soll noch übertroffen werden durch die Entschiedenheit, mit der wir da^ Emanzipationsstreben des vierten Standes nicht nur aner- kennen, sondern befördern und zu unserer eigenen Sache machen.«

Manchem wird solches Unterlängen aussichtslos, manchem auch grund- falsch erscheinen. Denn noch erblickt man vielerort in dieser Bewegung nur ein wildes wirres Drängen, dem man mit den Kanonen ein jähes und blutiges Ende bereiten müsse. Aber das jüngere Geschlecht will es ernst- lich versuchen, ob die Frage noch in friedlichere Bahnen zu leiten sei und hat die alte lediglich verdammende Art abgethan.

Wie freudig mufs daher ein Unternehmen begrüfst werden, das wie das vorliegende mit jugendlichem Feuer und idealem Schwung sich in den Dienst dieser im guten Sinne modernen Auffassung stellt und das zu Sprechern anerkannte Fachmänner und Vertreter der interessierten Kreise wählt! Wer willens ist, sich ein wahres Bild von der Bewegung zu schaffen und zugleich einen Weg in diesem Gewirr zu finden, der besser zum Ziele leitet als alles Gerede in der parteiischen Tagespressc, der greife zu diesen blauen Heften und es wird sich daran sein Pflichtbewufstsein stählen und vertiefen, wird seine Lebensaufgabe als evangelischer Christ erweitert, wird sein Zagen an der Zukunft unseres Volkes schwinden sehen. Möchten diese Zeitfragen viel Leser finden, die zu freudigen Ihätern werden!

Bis jetzt liegen aus der ersten Reihe folgende sechs Hefte vor: i. Drews, Lic. P: Mehr Herz fürs Volk! (56 S) Kurz und siegreich, manchmal vielleicht etwas allzu optimistisch, wird herausgestellt, was recht und gut und echt christlich bei den Emanzipations- bestrebungen des vierten Standes ist, die Anerkennung derselben aber und die Teilnahme dafür wird den Besitzenden und Gebildeten als eine Pflicht der Liebe ans Herz gelegt. So lauten die Kapitelüberschriften: 1. Liebe und ein soziales Programm; 2. Es fehlt an Liebe; 3. Verkehrt mit dem Volk! 4. Gerechtigkeit gegen die Sünden des Volkes; 5. Achtung

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vor der Arbeit des Volks ; 6. Achtung vor dem Ehrgefühl des Volks. Mit warmer Liebe zum Volke geschrieben mufs dieser Aufruf warme Liebe wecken.

2. Evert, Regierungsrat 2: Unsere gewerbliche Jugend und unsere Pflichten gegen sie. (40 S.)

Es betsteht heute ein Notstand unserer gewerblichen Jugend, teils aus dem verhältnismäfsig hohen und frühen Verdienst bei technisch ge- ringer Ausbildung, teils aus der vernachlässigten Charakterbildung bei vor- zeitiger Unabhängigkeit, teils aus der späteren geringen Steigerung des Verdienstes bei hohem Anfangsverdienste. Die Mittel, die der Verf. zur Abhülfe dieses Mifsstandes nennt, sind aus genauster Kenntnis der Sach- lage heraus entstanden und aller Beachtung wert.

3. Baumgarten Lic. Prof. O.: Der Seelsorger unserer Tage. (52 S.)

Die Gemeinden sind das ist nur allgemein anerkannt neu zu organisieren nach Sulzes Vorschlag. Daraus erwächst aber für den Geist- lichen eine ganz neue und schwierige Aufgabe. Er mufs der wirkliche Seelsorger seiner ganzen Gemeinde werden, und nicht nur der Prediger der Bourgeoisie. Viel neues mufs sich da gestalten, und die alten be- quemen Geleise sind zu verlassen. Ein ernstes Mahnwort zumal an das heranwachsende Theologengeschlecht. Möchte es nur beherzigt werden!

4. Lötz, Prof. Dr.: Christentum und Arbeiterbewegung. (44 S.)

Ein Zwiegespräch zwischen einem deutschen Geistlichen und einem christlich gesinnten englischen Arbeiterführer. »England ist einer fried- lichen Lösung der sozialen Schwierigkeiten und Gegensätze sicher.« Warum? Weil der englische Arbeiter eben vorzugsweise Arbeiter ist und sich auf das rein praktische Streben nach besseren Lohnverhältnissen be- schränkt, die nebelhaften Phantasiegebilde eines religionslosen Volkstaates der deutschen Sozialdemokratie aber ihm fremd geblieben sind. Und weil sich unter der englischen Geistlichkeit von vornherein »christlich-soziale« Männer gefunden haben (Robertson, Kingsley u. a m ), die das Berechtigte des Arbeitervorgehens erkannten und allen Gegnern zum Trotz lebhaft ver- traten. Wie anders so vielfach die Stellung, die der deutsche Geistliche der Arbeiterbewegung und der sozialen Frage gegenüber einnimmt!

5. Stöcker, Ad.: Sozialdemokratie und Sozialmonarchie. (32 S.)

Was man auch sagen mag, Stöcker ist der Vorkämpfer der evan- gelisch-sozialen Zeitfragen gewesen. Und unser Volk ist ihm vielen Dank schuldig, wenngleich er es an Fehlern nicht hat mangeln lassen. Auch in diesem sehr empfehlenswerten Vortrage, der zeigen will, wie die berech- tigten Momente der Sozialdemokratie zur Darstellung kommen können, fehlt es nicht ganz an der benannten unglücklichen Verquickung von Religion und Theologie, von Wirtschaftlehrc und Politik. Aber das Heft sollte trotzdem fleifsig studiert werden, es führt prächtig in die soziale Arbeit unserer Zeit hinein.

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6. Soden, Pastor, D. H. Freiherr von: Reformation und soziale Frage. (40 S.)

Von Anfang d. h. vom Bauernkriege an hat der Protestantismus die richtige Stellung zur sozialen Frage eingenommen und die richtigen An- regungen zu ihrer Lösung geboten. Dagegen hat sich das Papsttum un- fähig gezeigt, eine Retterin in den sozialen Fragen zu sein, es hat vielmehr dieselbe Frage durch die von ihr bestimmte Kntwickelung der Dinge her- vorgerufen. Diesen Zusammenhang zwischen der sozialen und religiösen oder konfessionellen Präge stellt der Verfasser in lebhafter und geistvoller Schärfe dar. Und damit kommt auch das echt protestantische Element in diesen evangelisch-sozialen Zeitfragen zu seinem guten Recht.

Berka a. J. R. Bürkner.

2. Zur Litteratur des Naturgeschichts-Unterrichts.

Von Dr. B. Maennel-Halle a. S.

A) Allgemeines: Herbarts Wort: »Es müssen Prinzipien allgemein zugestanden sein, von welchen aus die Gründe können entwickelt und ge- prüft werden« - dürfte das geeignetste Leitwort sein für eine Übersicht über neuere Erscheinungen aus dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts. Welche Prinzipien sind es aber, die allgemein zugestanden werden gerade auf naturwissenschaftlichem Gebiete? Immerhin sind es noch die Prinzipien der Fachwissenschaft, von welchen aus die weiteren Massnahmen entwickelt worden sind; denn die vorliegenden Abhand- lungen etc. wollen zumeist auf dem Boden der »neueren« Naturwissenschaft stehen. Die nicht minder wichtigen Prinzipien der pädagogischen Wissen- schaft treten aber nicht deutlich genug hervor und beeinflussen die didaktischen Erzeugnisse in nur geringem Malse. Und wo man bestrebt ist, pädagogischen Prinzipien gerecht zu werden, da geschieht es zumeist entweder auf Kosten einer logischen Entwicklung der didaktischen Grund- begriffe — so dafs z. B. Zweck und Ziel, Auswahl, Anordnung und Durch- arbeitung verschoben und verwechselt werden oder es wird dem natur- wissenschaftlichen Unterrichte durch eine zu enge Beziehung desselben zu dem Hauptziele der Erziehung Gewalt angethan.

Da mit wenigen Ausnahmen die Ideen Junges die neuere Litteratur beherrschen, und dieselben nicht gerade die obersten grundlegenden Be- griffe der allgemeinen Pädagogik, als vielmehr nur die Bearbeitung des naturwissenschaftlichen Lehrstoffes berücksichtigen, so können hier nur die- jenigen Prinzipien als Mafsstab zur Beurteilung dienen, welche die Durch- arbeitung bedingen. Es ist eben die »Lebensgemeinschaft«, das Gruppen-, Landschafts- oder Naturbild, nichts als ein umfassenderes Unterrichtsziel.

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Die damit gegebenen Individuen sind etwa die Teilziele, welche sodann wiederum als notwendige Glieder des gröfseren Ganzen eingesetzt werden, um die Vorstellung von einer Zusammengehörigkeit innerhalb einer Lebens- gemeinschaft im Schüler entstehen zu lassen.

Selbstverständlich kann in der Schule nicht die Lebensgemeinschaft nach ihrer wissenschaftlichen Auffassung behandelt werden ; auch darf nicht ausschlaggebend sein, ob das Zusammenlaben von Individuen reich oder arm ist, ob es schliefslich durch Zufall oder menschlichen Eingriff sich zu einem notwendigen wechselseitigen entwickelte. Dem Schüler mag sie nur immer als dasjenige Stück der Natur vorgeführt werden, welches ihm ein Abbild zu geben vermag von der ganzen, grofsen Natur. Die Erfahrung zu dem lehrt, dafs der Natur nicht ganz fremde Kinder bestimmte Natur- körper stets in gewissen abgegrenzten Gebieten finden, dafs also eine dunkle Vorstellung eines Verhältnisses zwischen Individuum und Ort be- steht. Also schon ein unmittelbares Interesse drängt zur Klärung durch den Unterricht. Aber auch mittelbare Interessen erheischen die Durch- arbeitung des Stoffes nach Lebensgemeinschaften. Gerade das vorsichtige Darlegen der gegenseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung auf Grund von vereinfachten physiologischen Experimenten und unausgesetzter Betrach- tung des Lebens der Individuen regt den kindlichen Geist an zu einer Auffassung von Gruppen, von Lebensgemeinschaften. Gegen diese Prin- zipien ist Mancherlei erhoben worden. Und es gilt nun, von ihnen aus die Gründe zu prüfen! Da die beste Theorie von der Praxis noch nicht gut- geheifsen wird, so liegt es auf der Hand, dafs gerade die Prinzipien Junges nach ihrer Durchführbarkeit stark angezweifelt werden. Dals dieselben hohe Anforderungen an den Schüler und an den Lehrer stellen, ist unbestritten; auch werden die ersten Versuche manche Enttäuschungen zeitigen das darf aber nicht entmutigen. Wenn nun psychologisch begründete Aus- stellungen gegen Iurge ins Feld geführt würden wie dann? In einer zuerwähnenden Schrift wird es z. B. als unpsychologisch bezeichnet, wenn der Anfänger schon mit Spekulationen behelligt wird, die seine kom- binierende Phantasie erfordern, ehe er in der Auffassung der Form sich gründlich bethätigt hat. Nun pflegt wohl kein anderer wie Iunge die Be- trachtung und würdigt somit auch die Auffassung der Form, aber er ver- mag diese nicht zu trennen von der Pflege anderer Interessen des kind- lichen Geistes. So ist z. B. auch das Kausalitätsbcdürfnis schon in dem Kinde rege ; man vergleiche nur, was B. Sigismund in der Familie als Schule der Natur und R. Eucken in seinem philosophischen Hauptwerke: Die Einheit des Geisteslebens in Bewufstsein und That der Menschheit, S. 148 darüber sagen. Erst durch ein Eingehen in das Kausalitätsbcdürfnis wird ein Boden gesichert, auf dem die Einzelvorgänge einen Erkenntniswert gewinnen und sich untereinander verbinden mögen. Ein propädeutischer Unterricht also, welcher wesentlich der Auffassung der Form nur dient, kann nicht viel- schwebendes Interesse erzeugen, mag er auch sonst der korrekten Begriffs- bildung förderlich sein. Mehrfach tritt sodann der Vorwurf auf, als hätte

Pädagogische Studien. IV. M

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Iunge in psychologisch nicht zu rechtfertigender Weise biologische Gesetze den Schülern aufgedrungen. Er Hebt es, so sagt man, von der einzelnen Erscheinung zu aligemeinen Gesetzen und von diesen womöglich bis zu den naturwissenschaftlichen Hypothesen fortzuschreiten. Gegen diesen Vorwurf ist Iunge in Schutz zu nehmen; ein solch verwerfliches Verfahren kann er nicht empfehlen! Immerhin ist aber zu behaupten, dafs der Besitz einer ganzen Reihe von Thatsachen und ihren Bedingungen den Schüler von selbst geschickt macht, eine Zugehörigkeit von bestimmten Wirkungen und Ursachen herauszufinden. Sein Geist will die Einzel-Thatsachen um- spannen durch einen Satz, der einen gewissen Grad von Allgemeinheit besitzt. Durch ihn möchte er ausdrücken, was er auf seinem jetzigen Standpunkte für eine Vorstellung hat von dem Zusammenhange der Er- scheinungen. Im Laufe der Zeit wird dieser Satz so verändert, dafs er in kurzer, bestimmter Form eine physiologisch-biologische Wahrheit wieder- giebt. Dann mag er nach Iunge »Gesetz« genannt werden und ist psycho- logisch durchaus berechtigt.

In der nicht immer gerechten Würdigung der Stellung A. Lübens in der Litteratur des naturwissenschaftlichen Unterrichts meint man nicht scharf genug Stellung nehmen zu müssen gegen die Verwertung der Systematik. Man macht gern Iunge für diese abweisende Meinung verant- wortlich und hält ihn für inkonsequent, wenn er schiiefslich doch das System verwertet. Warum und wie soll das System also in der Volks- schule Anwendung finden? Seitdem man bestrebt ist, dem Schüler die Einheit der Natur ahnen zu lassen, kann das Systematische nur noch eine untergeordnete Rolle spielen; zu entbehren ist es aber durchaus nicht. Wer jahrelang mit den Schülern Lehrspaziergänge unternommen hat, der wird erfahren haben, wie eine mafsvolle betriebene Schüler-Systematik für das Behalten der Formen und für eine erwünschte<Erweiterung der Formen- kenntnis vorteilhaft ist. Fehlerhaft würde es nun sein, ein fertiges System an die Schüler heranzubringen ; dieselben sollen es vielmehr sich erst selbst erarbeiten. Und es wird hinsichtlich der Form und Übersichtlichkeit ein ähnlicher Entwicklungsprozefs zu beobachten sein, wie bei der Formulierung der biologischen Gesetze. Die Anlage eines Systemheftes dürfte hierbei wesentliche Dienste leisten.

Zu den Verirrungen, welche wahrscheinlich durch eine unvermittelte Beziehung des Hauptzieles der Erziehung auf den naturwissenschaftlichen Unterricht entstehen, gehört die mehr als billig erhobene Forderung einer Pflege des Ästhetisch-Religiösen. Entschieden ist es berechtigt, wenn man ein gemütvolles Versenken in das grofse Ganze der Natur verlangt. Wie entsteht aber die Gemütsbildung ? Ist sie von der Verstandes- etc. Bildung zu trennen ? Es dürfte doch wohl bekannt sein, dafs ein verweilendes Betrachten morphologischer Verhältnisse am Einzelnen, und das vorsichtige Bezichen des Einzelnen auf das Ganze schon an und für sich auf ästhetische Verhältnisse führt. Neben der Klarheit des Gebotenen wirken sodann Lehr- spaziergänge zum Zwecke der Einführung in das Verständnis der Jahres- zeitenbilder in der Heimat mehr als andozierte Redensarten über die

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Schönheit der Natur; auch Schulreisen thun das Ihrige. Lehrt man also das Natur-Ganze richtig aufTassen und verstehen, so lehrt man auch Liebe zur Natur und zu dem, der sie hervorgerufen. Eine besondere Betonung der Natursinnigkeit zur eigenen Pflege des Gemüts ist nicht blofs überflüssig, sondern verführt vielmehr zu einem Phrasentum auf Kosten einer wirk- lichen Bildung.

Hiermit wären diejenigen Punkte angedeutet, welche in den zu be- urteilenden Schriften eine wichtige Rolle spielen; es erübrigt, sie nach diesen Andeutungen als einem Mafsstabc zu messen.

B) Besprechung einzelner Schriften;

Was seiner Zeit \1885} schon C. Ommerborn in dem bei Siegismund u. Volkening erschienenen Büchlein »Ober Natursinnigkeit und ihre Pflege« bezweckte, haben F. Kiessling u. Pfalz, die Verfasser des vielfach in den Schulen verwendeten »Methodischen Handbuchs« und des »Wieder- holungsbuches« für den Unterricht in der Naturgeschichte insbesondere darzulegen versucht in der Brochüre : »Wie mufs der Naturgeschichts-Unter- richt sich gestalten, wenn er der Ausbildung des sittlichen Charakters dienen soll?« (Braunschweig, Bruhn, 1888, 92 S.)

Ohne jede Beziehung zu anderen Lehrfächern wird die Frage erörtert: Wie soll 'die im naturgeschichtlichen Unterricht ruhende ethische Kraft immermehr erkannt und wirksam gemacht werden, unserer lieben Jugend zum Heile?« (S. V). Die Verfasser bevorzugen mit Recht solche Objekte, die der Heimat ein bestimmtes Gepräge geben. Es ist daher jeder Lektion ein »leitender Hauptgedanke« vorangestellt, welcher von vornherein das zu besprechende Einzelwesen als einen typischen Faktor dieses Gepräges kennzeichnen soll. Solcher Hauptgedanken in dem Methodischen Hand- buche fettgedruckt sind aber: Das Windröschen ist eine reizende Gabe des Frühlings Die Hainbuche ist ein recht hübscher Baum (Kurs. I) Die Brennesseln sind recht stattliche Gewächse Unter allen Gewächsen bildet den schönsten Schmuck unserer Zimmer die Fuchsia, die darum auch die Königin der Zierpflanzen genannt wird (Kurs. II) Der Storch erfreut den Menschen Neben recht ergötzlichen besitzt der Hase doch auch unrühmliche Eigenschaften (Kurs. III). Die Liebe zu der Natur bekundet sich nun z. B. in folgendem Merk-Satze: Als eine der ersten Gartenblumen erfreut uns im Frühjahre die farbenprächtige Tulpe, deren leuchtende, rotgelbe Blüten sich von dem dunklen Grlin der Blätter schön abheben. (Vergl. Wiederholungsbuch, II, S. 10 u. Brochüre S. 64 Hahnen- fufs!) Wenn dazu noch der Proben gedacht wird, welche den Schüler an eine poetische Auffassungsweise der Natur gewöhnen und religiöse Gefühle durch dieselbe wecken wollen Vergl. Broch. 78 u. 81 , so ist die Pflege der Natursinnigkeit wohl genügsam charakterisiert. Allerdings kann rühmend hervorgehoben werden, dafs die späteren Kurse wirklich mehr auf klares Verständnis dringen, als aus den ersten ersichtlich ist. Daher rechtfertigt sich auch die Einbürgerung des methodischen Handbuches in den verschiedenen Schulen.

Es ist aber nicht zu billigen, dafs diese Art der Durcharbeitung nun

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ihre Konsequenzen hat für die Auswahl des Stoffes. Erstlich schliefsen die Verfasser die Besprechung ausländischer Objekte aus, zweitens bekämpfen sie mehr als nötig die Berücksichtigung des Systematischen. Was den ersten, hier nur zu erörternden Punkt betrifft, so ist die Meinung, dafs ausländische Pflanzen und Tiere den Utilitarismus befördern könnten, wohl nicht psychologisch zu rechtfertigen. Bedürfen diese vielleicht keiner unter- richtlichen Behandlung oder verträgt der geographische Stoff noch aller- lei Ballast?

Die Verfasser konstruieren sich schliefslich noch einen Gegensatz zu Jun<;e. (Vcrgl. Broch. S 45). Die Behandlung von Lebensgemeinschaften erscheint ihnen nämlich nicht blofs für alle Stufen des Unterrichts zu schwierig, sondern auch in hohem Grade unpraktisch, ja sie teilt nahezu alle Nach- teile derjenigen nach dem Systeme. »Die Ordnung« (besser Durcharbeitung!) des Unterrichtsstoffes hat also weder nach einem System zu geschehen, noch sind Wesen aus verschiedenen Gruppen neben- und durcheinander zu besprechen: sondern es sind Wesen einer Gruppe nach einander und zwar zu verschiedenen Jahreszeiten voi zuführen.« Der mit Junges An- sichten vertraute Leser wird aus dem zweiten Teile dieser Erklärung schwerlich einen Gegensatz zwischen ihm und dem Verfasser herauslesen können, während der erste Teil Anklagen enthält, die Junges Darlegungen gar nicht veranlafst haben können. Und wenn vielleicht damit die Be- arbeiter hallischer Lehrpläne oder der Schreiber dieses gemeint werden sollten, so möchte da sicherlich ein wichtiges Moment übersehen worden sein: Die vorbereitende Beobachtung, welche analytisches Material für spätere Besprechungen ansammelt.

An Kiefsling u. Pfalz schliefst sich aufs engste an W. Machold in seinem Vortrage über »Ziele und Wege der Reformbestrebungen des Natur- geschichts-Unten ichts in der Volksschule,« November-Heft der W. Meyer- Markauschen Sammlung pädagogischer Vorträge, Bielefeld Helmich, 1S90,

13 s.

In kurzen Zügen wird dem Leser ein Überblick geboten über die neueren Bestrebungen des naturgeschichtlichen Unterrichts. Die Reform- bewegung gilt dem Verfasser als eine Reaktion der Wissenschaft gegen den Stillstand oder Rückschritt in der Schule und als eine Reaktion des Ge- müts gegen den nüchternen Verstand. (!) Von den zielsetzenden Schul- männern wird Lüben als der die Einheit der Form betonende, Junge als der die Einheit des Lebens anstrebende bezeichnet. Kiefsling u. Pfalz sind die Verbündeten Junges, welche aber statt der schwer zu entwickelnden biologischen Gesetze einfachere und leichter verständliche einführen. Aus diesem Grunde schliefst sich Verfasser Kiefsling u. Pfalz an, fafst auch wie diese die Lebensgemeinschaft als Gruppenbild und deutet einen Lehrgang nach ihrem Vorbilde an. Die am Schlufs angeführten Leitsätze in Form und Reihenfolge dem ehrwürdigen Dekalog nachgeahmt! dürften als wohl beherzigenswert erscheinen.

Eine mehr selbständige Meinung entwickelt F. Baade, Zur Reform

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des Naturgeschichtsunterrichts in der Volksschule, Spandau-Berlin, Oester- witz, 1888, 34 S.

Verfasser wendet sich gegen eine direkte Bildung der Natursinnigkeit und will sich nur mit der Durcharbeitung des Lehrstoffes beschäftigen. Jedoch glaubt derselbe berechtigt zu sein zu Ausstellungen an dem Begriff der Lebensgemeinschaft und an der Formulierung biologischer Gesetze. Und zwar bekundet sich in diesen Ausstellungen ein in der Praxis be- währter Schulmann. Das beweisen die Anforderungen an die Lebens- gemeinschaft. Dieselbe mufs von Menschenhand wenig verändert über- schaubar — nicht zu arm und nicht zu reich an Tieren und Pflanzen sein nicht zu weit ab vom Schulhause liegen, und die gewählten Lokalitäten müssen die Hauptformen der heimatlichen Landschaft repräsentieren. Nun können aber freilich diese aus der Praxis heraus entstandenen Bedenken unmöglich eine fachwissenschaftlich begründete und didaktisch berechtigte Theorie aufheben. Bietet die Heimat arme Lebensgemeinschaften die Überschaubarkeit und Veränderung derselben durch Menschenhand können wohl nicht als wesentlich gelten oder fehlt diese oder jene der er- wünschten Gruppen, so mufs man eben mit dem Wenigen zufrieden sein, welches der Beobachtung zugänglich ist. Es ist dann doch eine Grundlage gegeben, auf welcher weiter zu bauen ist durch Schulgarten, Aquarium, Zimmcrkultur und planvoll betriebene Schulreiscn. Die auf S. 27 ff. er- wähnten Bedenken gegen die Formulierung von Gesetzen sind bei psycho- logischem Verfahren hinfällig.

Engeren Anschlufs an Junge erstrebt R. Seyfert, Der gesamte Lehr- stoff des naturkundlichen Unterrichts. Leipzig. Wunderlich, 1888, 170 S.

Verfasser will, die neueren Bestrebungen auf dem Gebiete des natur- kundlichen Unterrichts insbesondere nach ihrer methodischen Seite be- arbeiten und ihre praktische Durchführbarkeit nachweisen.« Wohl sollte nach des Verfassers Meinung das Ziel des naturwissenschaftlichen Unter- richts in Beziehung zum Hauptziel alles Unterrichts gebracht werden; aber »rein praktische Gründe« verhindern ihn, das erstere aus dem zweiten logisch zu entwickeln, sowie eine Gliederung der die »harmonische Aus- bildung des Schülers« bezweckenden Einzel- Forderungen vorzunehmen. Derselbe logische Mangel offenbart sich in dem Abschnitte »Anordnung des Stoffes«, in welchem die Prinzipien der Auswahl, Anordnung und Durch- arbeitung nebengeordnet aufgeführt werden. Es ist anzuerkennen, dafs bei seinen Forderungen das religiöse und ästhetische Interesse in den ge- bührenden Hintergrund treten. Zudem erklärt der Verfasser entgegen der Ansicht Baades, nach welcher »unser Volk allgemeine Übersichten nicht begehrt und braucht,« im engsten Anschlufs an Junge : »Das Leben eines Wesens zeigt sich aber nicht nur in seiner eigenen Entwicklung, sondern auch in seinen Einwirkungen auf seine Umgebung und in seiner Abhängig- keit von derselben. Demnach ist nicht blofs das Einzellcben, sondern vor allem auch das Zusammenleben zu beachten die Anordnung nach den Lebensgemeinschaften führt von selbst auf die Herausarbeitung von Lebens- gesetzen.« (S. 12.) Dafs diese auf dem Wege des Formalstufen-Ganges

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gewonnen werden, möchte nicht unerwähnt bleiben, wenn auch die An- wendung dieses psychologisch begründeten Lernprozesses zu mancherlei Ausstellungen Veranlassung geben könnte. Von Interesse sind die An- forderungen, die Verfasser an den Lehrer der Naturkunde mit Recht stellt (S. 18); auch verdient der Hinweis auf das Beobachten als der notwendigen Voraussetzung des naturkundlichen Unterrichts volle Beachtung (S. 21 ff ). Schlicfslich entfalten die beigefügten Lehrpläne für einfache und gegliederte Volksschulen, sowie zahlreiche »Entwürfe« manches Wertvolle, so. dafs das Buch für den Anfänger im naturkundlichen Unterrichte wohl zu empfehlen ist.

Während in den vorstehenden Schriften die Psychologie im ganzen wenig berücksichtigt wurde, so findet man vorwiegend psychologische Er- örterungen bei F. Schiesheim, Die Methode des Anschauungs-Unterrichts auf psychologischer Grundlage, durchgeführt an der Botanik. 69 S. Samm- lung pädagogischer Abhandlungen I, herausgegeben von O. Frick und H. Meyer, Halle, Waisenhaus, 1889.

Wer dem belesenen Verfasser in seiner schätzenswerten Abhandlung etwa nur bis S. 48 folgt, kann wohl leicht zu dem Urteile gelangen: Hier handelt es sich um eine vortreflliche psychologische und logische Begrün- dung der A, Lübenschen Gedanken. Iii den ersten Unterrichtspensen soll nämlich eine Begriffsscala vorbereitet werden durch Auffassung und Be- schreibung von einfachen Gesetzmäfsigkeiten der Form (S. 15V Daher findet daselbst die Beschreibung ihren Abschluls in der Entwicklung von Formel und Diagramm (S. 45). In einem weiteren Lernprozesse sind sodann die Schüler nach logischen Prinzipien von Begriffen niederer Gattung zu denen höherer Gattung schreiten zu lassen behufs Ausbaus eines Systems (S. 44—48). Jedoch erklärt Verfasser ausdrücklich auf S. 52, dafs für seinen Unterrichtsgang die Entwicklung des Systems selbst niemals mafsgebend sein kann. Denn der Unterricht soll doch auch Bezug nehmen auf Junges Lebensgemeinschaften wie aus S. 29, 49 52 und 61—64 hervorgehen dürfte. Und zwar hat die Lebensgemeinschaft nicht als ein Zentrum des Unterrichts aufzutreten, wie bei Junge, sondern als eine Art Zusammen- fassung des Stoffes auf allen Stufen. Dabei wird zuerst das Individuum und später die Familie als Mittelpunkt der Lebensgemeinschaft gewürdigt tS. 61).

Die Betonung der Gesetzmafsigkeit der Form und die gekennzeichnete Stellung zu Junge entsprechen ganz den psychologischen und logischen Darlegungen, die mit Sorgfalt entwickelt wurden. Ja, man könnte geneigt sein, die vom Verfasser beliebte Abstufung des naturwissenschaftlichen Unterrichts in Botanik als einer Formenlehre und in Naturgeschichte als einer biologischen Disziplin zu teilen. Denn nicht blos für höhere Schulen, aus deren Praxis heraus das lesenswerte Schriftchen geschrieben wurde, ist eine möglichst breite Sinnlichkeit als Grundlage einer späteren Begriffs- bildung notwendig. Wird Verfasser durch seinen Lehrgang aber nicht nur der Seele des Kindes, sondern auch der Naturbetrachtung Gewalt anthun logischen Schematismen zuliebe? Durch feine, säuberliche Mosaikarbeit wird allerdings Ordnung geschaffen ; ein gleichschwebendes Interesse erzeugt

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und bethätigt sich dabei wohl nicht. Und dieses ist selbst in einem pro- pädeutischen Unterrichte zur Geltung zu bringen. Jedoch beansprucht die Arbeit des Verfassers volle Aufmerksamkeit und verdient von jedem Lehrer fleifsig gelesen zu werden.

Während Schickhelm in beherzigenswerter Weise einen möglichst langsamen Entwicklungsgang der Begriffsbildung empfiehlt, mutet eine Veröffentlichung von G. Stange dem Schüler eine zuweilen vorschnelle Abstraktion zu. Sein Buch heifst: Naturgeschichte für mehrklassige Volks- schulen, Heft I, Hannover, Helwing, 1889, 68 S.

Ohne jede theoretische Erörterung, ja ohne Vorrede, bringt Verfasser Monatsbilder für die Gartenpflanzen und Gruppenbilder der Haustiere ; auch Schreib- und Brennstoffe, sowie Münzen werden als dem I. Kursus zugehörige Stoffe aufgezählt. Im IL Kursus sollen die Schüler den Garten nach seiner Erscheinung in den verschiedensten Jahreszeiten und Zwecken kennen lernen. Im Anschlufs an Haus und Hof werden sodann allerlei Tiere bis auf Bücherskorpion und Wanderratte! Küchengeschirr, das Salz, sowie die Beleuchtung beschrieben. Die »Rückblicke« lassen erkennen, dafs es Verfasser nur um ein vollständiges System zu thun war. Wohl nur um der Systematik willen werden z. B. auch die Mineralien be- trachtet. Welche psychologischen Beziehungen zwischen »Rückblicken« und den Einzelbeschreibungen bestehen, möchte durch folgendes Beispiel gekennzeichnet sein: Schon im I. Kursus werden die Amphibien charak- terisiert (S. 20), obwohl die Beschreibung auf S. 14 nicht die geringste Grundlage dazu bietet. Dafs auch die Ideen Junges noch nicht befruchtend gewirkt haben, dürften am besten die Abschnitte III. und IV. beweisen; eine geistbildende Betreibung des naturgeschichtlichen Unterrichts ist durch den Verfasser nicht angebahnt worden.

Im Gegensatz zu Stanges litterarischer Gabe steht nun eine Abhand- lung von Ii. Bode, Die Naturgeschichte in der Volksschule. Kritische Würdigung der Jungeschen Methode. 32 S. Heft 134 der Pädagogischen Sammelmappe, Leipzig, Siegismund und Volkcning.

Sich nicht mit Lehrplänen oder Stoffsammlungen beschäftigend, will Verfasser nur Junges Ideen würdigen und zum Gemeingut der Lehrerschaft machen. Und wohl keine unter den vielfachen Abhandlungen, welche mit Junges Ideen sich beschäftigen, ist mehr geeignet, die vielfachen Schwan- kungen und Mifsverständnisse zu beseitigen als die von K. Bode. Junge selbst hat in seiner Naturgeschichte, Teil Ii, 1891, S. VII die Urteile des Verfassers als zutreffend bezeichnet. Die vorstehenden allgemeineren Be- merkungen finden durch Bode nur eine Ergänzung oder Bestätigung.

Der Verfasser bezeichnet Junge nicht als den intellektuellen Urheber seiner Methode (Lehrganges? Prinzips?), sondern nennt seinen »Dorfteich« den prägnanten Ausdruck seiner Zeit ; das ist das ganze Geheimnis seiner Bedeutung (S. 5)! Und zwar liegt ihm daran, die Erkenntnis von Grund und Folge oder das Kausalitätsprinzip im naturgeschichtlichen Unter- richt zur Geltung zu bringen. Dies Prinzip ist zwar vielfach früher schon als wertvoll anerkannt, aber erst durch die derzeitige Wissenschaft zu einem

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aligemein notwendigen erhoben worden. Wenn nun das Kausalitätsprinzip in der heutigen Wissenschaft geltend ist, so hat dies auch die Schule zu berücksichtigen. Der verdienstvolle A. Lüben hat die Verwertung desselben wohl theoretisch gutgeheifsen, aber in Wirklichkeit nicht durchgeführt (S. n). Männer der Wissenschaft wie Möbius, Reichenbach, Rofsmäfsler, welche mit der Schule Fühlung behielten, haben daher gegen einen Still- stand der Schul-Naturgeschichte etwa bei Lübens Auffassung ihre Stimme erhoben aber erst Junge war es vorbehalten, eine allgemeinere Fort- entwicklung anzubahnen. Seine Ideen werden mit der Zeit weiter entwickelt oder fallen gelassen werden, je nachdem sie der herrschenden wissen- schaftlichen Auffassung noch entsprechen oder nicht. Bis hierher (S. 14) beschäftigt sich Verfasser mit der Theorie ; die folgenden Erörterungen berühren auch praktische Fragen. So wird die Frage : Hat das System in Junges Unterrichte Bürgerrecht? durch folgende Sätze erledigt: Wer das System gänzlich verbannt, entreifst der sicheren Eikenntnis eine not- wendige Grundlage; Junge dagegen läfst auf jeder Stufe sich aus dem Unterrichte soviel System ergeben, wie das Bedürfnis nach Ordnung in den Einzelvorstellungen erheischt (S. 16). Die Erkenntnis von Ursache und Wirkung wird zu Gesetzen zusammengefafst, die wenn psychologisch erarbeitet weder zu schwierig sind, noch Gefahren für die religiöse Bildung des Kindes mit sich bringen. Verfasser erklart mit Recht, dafs das Jungesche Ziel nicht erst am Ende des Unterrichts steht, sondern auf allen Stufen denselben durchdringt. Sodann werden die Gegner der »Lebensgemeinschaften beruhigt und an die Beobachtung der sich eben darbietenden Natur erinnert, als dem treibenden Faktor bei dem natur- geschichtlichen Unterrichte. Es ist nun die Pflicht der Lehrenden, diesen geistbildendcn Unterricht Junges an der Jugend zu versuchen, damit es nicht von diesen heifst: Sie verstehen nicht den Geist der Zeit und füllen nicht die Stelle aus, die sie im Entwicklungsgange der Menschheit einzu- nehmen haben (S. 31 und 32)! - Wahrlich, von einem gröfseren Gesichts- punkte aus konnten Junges Ideen nicht kritisch gewürdigt werden! Möchte das Schriftchen Bodes Heifsig gelesen und noch fleifsiger für die Jugend nutzbar gemacht werden zum Heile des naturgeschichtlichen Unterrichts!

L. Busemann. Chemie für die Volksschule. Hannover-Linden, Verlags- Anstalt von C. Manz, 1881, 63 S.

L. Bu«emann, Chemiestunden in der Volksschule. Lchrerheft zur >Chcmie für die Volksschule«. Ebendaselbst. 1891. 52 S.

Wer jemals in Volksschul-Oberklassen naturwissenschaftlichen Unter- richt erteilt hat, der wird von der Notwendigkeit überzeugt sein, den Schülern auch Kenntnis von der Chemie zu vermitteln. Aber nicht blos am Ende der Schulzeit tritt diese Notwendigkeit auf. Eine Naturbetrachtung nach Jungeschen Ideen giebt schon früher Gelegenheit, die Aufmerksamkeit der Schüler auf elementare Prozesse, namentlich physiologischer Art zu lenken. In den Oberklasscn erweitert sich naturgemäfs dieser Gedanken- kreis durch eine besondere Berücksichtigung der praktischen Lebensver- hältnisse — falls man eben dieselben nicht in allen Schuljahren für not-

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wendig erachten sollte. Auf jeden Fall haben die letzten Schuljahre eine Bestätigung und nähere Erklärung durch Experiment und Schlufsfolgerung von dem zu geben, was früher beobachtet und nicht spekulativ weiter verfolgt werden konnte. Und zu diesem Zwecke sind Hilfsbüchcr stets willkommen zu hcifscn. Allerdings weist die bez. Litteratur schon die gröfseren klassischen Werke von Arendt und Wilbrand auf ; jedoch können auch die Darbietungen schlichterer Art noch wünschenswert erscheinen. Zu solchen sind zu zählen die Bücher von Busemann.

Die Auswahl ist sachgemäfs; denn es werden alle diejenigen Stoffe und Prozesse zur Kenntnis gebracht, welche die Erhaltung des menschlichen Körpers und den der wichtigen Tiere und Pflanzen beeinflussen, das mensch- liche Leben verschönern und den Wohlstand heben. (Vergl. VITI. Schul- jahr S. 71.) Das Lehrerheft, welches u. a. mehr Gewicht legt auf die sach- liche Durchführung der Experimente, läfst allerdings gerade die wichtigen pflanzenphysiologischen Prozesse vermissen. In den meisten Fällen geht Verfasser vom Versuche aus und läfst zuweilen das Gebotene durch An- geben von Merkworten verdichten; durchweg sollen Wiederholungsaufgaben, die gelegentlich auch dem Rechnen dienen , das Hauptsächlichste des vorangehenden Unterrichts befestigen. Die Vorzüge, die Buscmanns Bücher aufweisen, dürften leicht vermehrt werden, wenn Verfasser z. B. Beobach- tungsaufgaben jedesmal getrennt der Besprechung voraufgehen und dann das Ergebnis derselben mehr hervortreten lälst. Auch dürfte die Abbildung Nr. 12 der Wirklichkeit nicht ganz entsprechen, sowie die Bezeichnung bereits veraltet sein. Im übrigen sind die Darbietungen wegen ihrer Sach- lichkeit und Deutlichkeit wohl zu empfehlen.

Halle a. S. Dr. B. Maennel.

3. Neue Bahnen.

Reform-Zeitschrift für Haus-, Schul- und Gesellschaftserziehung. In Verbindung mit vielen hervorragenden Schulmännern herausgegeben von Johannes Meyer. Monatlich erscheint ein Heft im Umfange von min- destens 48 Seiten, vierteljährlich eine Gratisbeilage: »Pädagog. Bücher- und Zeitungsschau« von mindestens 12 Seiten. Preis für das Vierteljahr 1 M. 50 Pf. Verlag von Emil Behrend in Gotha.

Diese Zeitschrift will unter besonderer Berücksichtigung der Volks- schule einen einheitlichen Mittelpunkt darbieten für alle Bestrebungen, welche die Herbeiführung einer zeitgemäfsen Gestaltung der Erziehung und des Unterrichts zum Ziele haben. Eine Erweiterung ihres Arbeitsfeldes ißt im 2. Jahrgang insofern eingetreten, als der Herausgeber, ausgehend von der Erkenntnis, dafs die Reform der Schulerziehung allein uns noch nicht

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zu gesunden Zuständen führen kann, auch die Haus- und Gesellschaftser- ziehung in den Kreis seiner Betrachtung ziehen wird. Der Herausgeber verspricht rastlos für die Vervollkommnung der Zeitschrift bemüht sein zu wollen, und wir zweifeln nicht daran, dafs er, wie in dem ersten Jahr- gange, so auch in dem neuen seinen Versprechungen nachkommen wird. Wir können die Zeitschrift empfehlen. Sie bringt interessante Aufsätze und giebt gute orientierende Übersichten über die Reform-Litteratur.

4. Ist die Unkenntnis der neuesten Geschichte ein be- sonderes Merkmal der deutschen Jugend?

Fast will es scheinen, als ob diese Frage bejaht werden sollte. Dafs ein Mangel an historischen Kenntnissen, besonders an solchen über die un- mittelbare Gegenwart vorliegt, wird in jüngster Zeit lebhaft empfunden. Nachdem diesem Gefühl seitens des Kaisers in einem Gespräche mit den abgeordneten Professoren der Göttinger Universität in Hannover im Herbste d. J. 1889 und später im Schulkongress zu Berlin Ausdruck ge- geben worden ist, bildet der Gedanke vielfach das Thema lebhaft geführter Erörterungen. Dabei geschieht es auch hie und da, besonders in der Tagespresse, dafs auf unsere Nachbaren im Westen hingewiesen wird, denen angeblich ein lebhafterer Sinn für die Fragen der Gegenwart eigen ist- Der Grund wird darin gesucht, dafs man in Frankreich auf die National- geschichte, und zwar besonders auf die neueste Zeit, im Unterrichte mehr Wert legt und auf das sichere Beherrschen derselben durch die Jugend mehr Sorgfalt verwendet. Entspräche dies der Wirklichkeit, so würde das pädagogische Gewissen der deutschen Lehrerschaft durch diesen Ver- gleich nicht eben sehr gehoben, da doch gerade auf didaktischem Gebiete Deutschlands Schule nicht am schlechtesten bestellt ist.

Es dürfte daher nicht ohne Interesse sein, aus authentischer Quelle zu erfahren, wie es mit Rücksicht auf den Unterricht in der neuesten Ge- schichte in Frankreich bestellt ist.

Fast zu gleicher Zeit mit jenen Bemerkungen des Kaisers in Hannover erschien eine Publikation des Pariser Schulinspektors Delapierre über die Ergebnisse des Geschichtsunterrichtes in französischen Volksschulen. Eine kurze Wiedergabe derselben finden wir in dem November - Heft der „Revue ptdayogique" vom J. 1889 unter den Titel „Cumment T*c»U primam enteigne-t-eUe Vhiatoire moderne aux futurs citoyens fran<;aisi"

Für unseren Zweck genügt es , aus der Veröffentlichung hier nur wenige Zeilen wiederzugeben. Delapierre hat vielfach Gelegenheit gehabt, an die eben die Schule verlassenden Schüler Fragen über jene Gebiete der

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Geschichte zu stellen, welche sie am besten kannten oder kennen sollten. Das Resultat lautet mit ganz geringen Ausnahmen folgendermafsen:

.,Notu puuvons aßirmer que paa un ne -%e auitrient, non seulement de l'kistoir* de In Monarchie francmse, utaia encore de l'hiatoire du dix - neuvikme nikcU: ceat mrm<t eur et demier chapüre qu'ils tont U plus ignoranU* Das ist ein offenes Bekennt- nis, welches der Berichterstatter noch mit den Worten bekräftigt, es sei durchaus keine Übertreibung. Ja selbst in den damals noch bestehenden Prüfungen zur Erlangung des Einjährigfreiwilligen X Rechtes {.,examen du roionttiriat") habe er ähnliche traurige Erfahrungen gemacht. An 200 junge Männer hat er geprüft, welche Xunter anderen Antworten gaben wie: Louis XVIII war der Sohn Louis XVI. Louis Philipp war ein Ver- wandter Napoleons. Die Schlachten von Alma, Magenta, Solferino sind in den Kriegen der Revolution geliefert worden. Am 2. December 1851 wurde Napoleon III. zum Kaiser gewählt u. s. w. Den Regierungswechsel seit 1789 anzugeben, war niemand im Stande. Ja, viele der Kandidaten kannten selbst die Thatsachen nicht, welche der Centenalfeier des J. 178g

ZU Grunde lagen, Mi7* ont feie, »ans mvoir pourqut>if hs dutes du j mai, du 20 juin, du 4 aoüt."

Und auch er schliefst an diese Erfahrungen die bei uns oft ange- stellten Betrachtungen an: >Und das sind junge Leute, welche nach Leistung ihrer militärischen Pflichten Besitz ergreifen werden von ihren bürgerlichen Rechten ; sie werden teil nehmen an den Reichstagswahlen und werden das Geschick ihres Vaterlandes in den Händen halten. Sie ent- senden in die Kammer Vertreter, welchen die Aufgabe zufallt, die Ge- schichte ihrer Zeit zu machen, und sie, die Wähler, haben nicht die ge- ringste Idee von der Geschichte der vorausgegangenen Epochen. Es ist dies eine Thatsache, deren Richtigkeit niemandem entgehen wird.«

Das sicherste Mittel zur Beseitigung des Mifsstandes erscheint ihm eine Verkürzung des historischen Stoffes früherer Jahrhunderte zu Gunsten der Geschichte von der Revolution bis zur Gegenwart zu sein. Nur durch eine gründlichere Vertiefung in diese Zeit werden sie befähigt, denkend zu handeln. »Sie werden sich später entweder für die Erhaltung des Gegenwärtigen, oder für den Fortschritt, oder für die Rückkehr zum Ver- gangenen erklären, aber sie werden wenigstens in voller Kenntnis der Gründe handeln. Man kann heutzutage nicht sagen, dafs sie ein Bewufst- sein dessen hätten, was sie thun.«

Der Berichterstatter der Revue ptdag. findet diese Ausführungen ^tout ö fait judicieuse*u . Er nennt die eben aufgezeigte Unkenntnis der Welt, in der der Schüler lebt, eine beständige Gefahr für das Vaterland und fordert ebenfalls deren Beseitigung.

Wir sehen aus dieser kurzen Mitteilung, dafs es in Frankreich zu- nächst so weit das niedere Schulwesen in Frage kommt - nicht im ge- ringsten besser bestellt ist, als bei uns. Das soll kein Trost sein, er wäre ein billiger und schlechter. Aber derselben Erscheinung werden jedenfalls dieselben Ursachen zu Grunde liegen. Der historische Stoff häuft sich eben für alle Kulturvölker und für deren Schulen in einer Weise, welche

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eine Bewältigung ungemein schwierig macht. Durch sie werden wir immer von Neuem auf eine Beschränkung des Stoffes verwiesen, die dennoch die unumgänglich notwendige Vertiefung, welche die Bedingung für das Ver- ständnis der Gegenwart ist und bleibt, nicht ausschliefst. Dafs beides er- möglicht werde: die Anbahnung der Einsicht in die bisherige Entwicklung des Geschehenen zum Zwecke einer tieferen und gründlicheren Erfassung der Gegenwart, dazu wird wohl eine sorgfältige Auswahl und Durcharbeitung der wichtigsten Perioden der deutschen Geschichte unbedingt notwendig sein. Erstere müssen wir von der Geschichtswissenschaft erwarten; erst wenn sie vorliegt, kann die Didaktik deren schulmäfsigc Behandlung iin Angriff nehmen.

Dafs dies Arbeiten sind, welche langandauernden Fleifs, tiefe Ober- legungen erfordern, ist für den Einsichtigen keine Frage. Daher denn wohl auch die vielfach vorgebrachten Vorwürfe nicht immer in erster Linie den Lehrer und die Schule treffen.

Jena. E. S c h o 1 z.

5 Neudrucke pädagogischer Schriften.*)

Herausgegeben von Albert Richter.

I. Rochow, Geschichte meiner Schulen. M. 0,80.

II. Schlez, Gregorius Schlaghart. ,, 0,80.

III. Schupp, Der deutsche Lehrmeister. 0,80.

IV. Kursächsische Schulordnungen. o,So.

Die »Neudrucke pädagogischer Schriften«, von dem auf pädagogischem Gebiete wohl bekannten Herausgeber mit ausführlichen Einleitungen versehen, zeichnen sich vor anderen Ausgaben älterer pädagogischer Werke zunächst durch einen sehr billigen Preis aus. Sie sollen aufserdem in erster Linie nicht Schriften bringen, die schon in zahlreichen anderen Ausgaben zu- gänglich sind, sondern solche, von denen jetzt sehr selten noch ein Exemplar zu erlangen ist. Ferner sollen nicht nur sogenannte »päda- gogische Meisterwerke« berücksichtigt werden, sondern auch Schriften, die für die Geschichte der Schule und für die Kulturgeschichte im allgemeinen als Quellenschriften zu betrachten sind.

*) Verlag von Richard Richter In Lcij./.f.

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6. Stichling: Aus 53 Dienstjahren.

(Weimar, Böhlau, 1891.)

Der um das Weimarische Land, besonders um das Weimarische Schul- wesen hochverdiente Staatsminister Dr. G. Th. Stichling, ein Enkel Herders, hat in den Aufzeichnungen aus seinem Leben, die kurz vor seinem Tode erschienen, auch der Bestrebungen und Errungenschaften gedacht, die auf dem Gebiet des Schulwesens seiner langen, thatenreichen Wirksamkeit zu verdanken sind.

Den Lesern der »Studien« werden die Kapitel »Synodal -Ordnung*, »Staat- und evangel. Kirche«, »Schulwesen« von besonderem Interesse sein.

Letzteres schliefst mit folgenden Worten:

»Den Schlufsstein meiner Bestrebungen im Bereiche des Schulwesens bildet das in Jena errichtete und an die Universität angelehnte päda- gogische Seminar, mit der Bestimmung, einerseits den Studierenden der Theologie die nötige Vorbildung für ihren künftigen Beruf als Oberschul- aufseher in der Volksschule zu geben, andererseits die künftigen Lehrer an höheren Lehranstalten mit der Methode des Lehrers vertraut zu machen, endlich auch einzelnen, seminaristisch gebildeten Lehrern ihrem Wunsche entsprechend, eine angemessene höhere Weiterbildung zu geben.

Selbstverständlich ward dieser Anstalt eine Übungs- schule beigegeben. Den ersten Grund zu ihr hatte Prof. Stoy in einem Privatunternehmen gelegt; ich habe dasselbe auf den Staat über- nommen und weiter ausgebildet, die an der Universität beteiligten Herzogl. sächs. Regierungen zur Mithülfe herangezogen, mit der Stadtgemeinde Jena die nötige Vereinbarung getroffen und solchergestalt die Anstalt auf feste Füfse gestellt und für weitere Ziele dienstbar gemacht.« *)

7. Verbreitung der Knaben -Handarbeit in Deutschland.

Der deutsche Verein für Knaben -Handarbeit hat umfangreiche stati- stische Erhebungen über den Stand und die Ausbreitung des Arbeitsunter- richtes in Deutschland angestellt und die Resultate derselben in einer Broschüre niedergelegt. Wir teilen daraus Folgendes mit. Die gröfste Zahl der Arbeitsschulen besteht im Königreich Sachsen, nämlich 42. Dann folgen die Provinz Schlesien mit 17, die Thüringischen Staaten mit 16, die Freien Städte mit 13, die Provinz Sachsen mit 10, Brandenburg und

*) Ver*l. PBdag. Studien 1891, 3. Heft 8. 174.

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Hannover mit je 9, Elsafs- Lothringen mit 7 und Bayern mit 6 Schülerwerk- stätten. Ferner giebt es über 50 vereinzelte Arbeitsschulen in den anderen Landesteilen. Im Ganzen wurden 186 Schülerwerkstätten in 120 ver- schiedenen Orten ermittelt. Ganz fehlen dieselben z B. in Anhalt, Mecklen- burg, Pommern und Westlalen. Hieraus ergiebt sich, dafs die meisten Schülerwerkstätten vorhanden sind in Orten mit hoch entwickelter In- dustrie. Auch hat die Knaben-Handarbeit in Gebirgsgegenden (Eulenge- birge, sächsische Schweiz! Eingang gefunden, wo sie den kümmerlichen Erwerbsverhältnissen aufzuhelfen bestimmt ist. In Landwirtschaftsgebieten dagegen hat der Arbeitsunterricht noch keine nennenswerten Erfolge er- rungen.

Von den 186 gezählten Schülerwerkstätten verfolgten einige in der Provinz Schlesien und im Königreich Sachsen nur erwerbliehe Zwecke. Die Mehrzahl dienten aber erziehlichen Zwecken. 67 Schülerwerkstätten waren selbstständig; 107 standen mit einer öffentlichen oder privaten Anstalt in Verbindung. So hatten 12 Schullehrerseminare (6 im Königreich Sachsen) den Arbeitsunterricht eingeführt, ferner 15 Waisenhäuser, 44 Knabenhorte, 10 Besserungs-, 5 Blinden- und 7 Taubstummen-Anstalten. Die Be- gründung der Schülerwerkstätten begann im Wesentlichen im Jahre 1879 und wurde angeregt durch die rührige Thätigkeit des Rittmeisters Clauson von Kaas, der 1880 in Emden und später in Dresden Lehrer für den neuen Unterrichtszweig ausbildete. Von dieser Zeit an sind als Begründer von Schülerwerkstätten verschiedene Faktoren thätig. Aufser Vereinen und einzelnen Personen lassen sich auch Staats- und städtische Behörden die Förderung des Arbeitsunterrichts angelegen sein. Im Jahre 1884 waren gegen 50 Schülerwerkstätten vorhanden, und diese Zahl hat sich bis 1888 mehr als verdreifacht. In ähnlicher Weise ist die Zahl der Schüler ge- stiegen, die am Arbeitsunterrichte teilnehmen. 1884 waren es 2080, 1888 besuchten die Schülerwerkstätten schon 5678 Schüler. Die Mehrzahl der- selben, 76 Proc. waren Volksschüler; 24 Proc. waren Zöglinge der Mittel-, Realschulen, Gymnasien und Seminare.

Bezüglich der von Schülerwerkstätten aufgenommenen Unterrichts- gegenstände ist zu bemerken, dafs in erster Linie Papparbeiten, Holz- schnitzerei und Hobelbankarbeiten betrieben werden. 80 Proc. der Werk- stätten haben die Papparbeiten aufgenommen, 63 Proc. die Holzschnitzerei und 60 Proc. Hobelbankarbeiten. 7 Schülerwerkstätten betreiben auch leichte Metallarbeiten und 3 das Modellieren. Vereinzelt treten noch auf: Holi- malerei, Holz- und Metallsägen, Drechslerei, Rohrstuhlbeziehen, Bürsten- binden, Korbmacherei , Strohdeckelflechten, Deckenknüpfen und Filet- stricken. Von den Schülern beschäftigen sich 43 Proc. mit Papparbeiten, 32 Proc. mit Holzschnitzen und 31 Proc. mit Hobelbankarbeiten.

Der Unterricht in den Schülerwerkstätten wurde im Ganzen von 208 Lehrern und 48 Handwerkern erteilt. Die Frage, ob derselbe von Handwerkern oder von Lehrern gegeben werden soll, ist durch die Praxis als gelöst zu betrachten. Von 1880 ab gestaltete sich das procentuale Verhältnis der Unterrichtenden wie folgt:

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i88o: 1882: 1884: 1886: 1888:

Lehrer 29 pCt. 50 pCt. 61 pCt. 72 pCt. 81 pCt.

Handwerker 71 50 39 28 19

Die Zahl der Lehrer, welche an Werkstätten unterrichten, hat sich also allmählich auf 81 pCt. gesteigert, während die Zahl der unterrichtenden Handwerker eine entsprechende Verminderung erfuhr. In den Schüler- werkstätten mit erziehlichen Zwecken unterrichten fast nur Lehrer. Ver- schiedene Anstalten, die noch Handwerker als Handfertigkeitslehrer be- schäftigen , erklären offen , dafs ein technisch ausgebildeter Pädagog vorzuziehen sei. Im Mangel derartiger Lehrkräfte ist also häufig die Ver- wendung von Handwerkern begründet Anderer Art sind die Verhältnisse in den Schülerwerkstätten mit erwerblichen Zwecken. Hier sind fast aus- nahmslos Handwerker thätig, doch hat es sich ebenfalls gezeigt, dafs die Leitung der Anstalt einem Pädagogen übertragen werden mufs, wenn er- spriefsliche Erfolge erzielt werden sollen. Von allen Seiten wird aber unumwunden die unentbehrliche Mitarbeit der Handwerksmeister an der Ausbildung der Handfertigkeitslehrer anerkannt. Diese war anfangs recht mangelhaft. Durch besondere Lehrerkurse und durch die Lehrerbildungs- Anstalt des deutschen Vereins für Knabenhandarbeit ist diesem Übelstande nach Kräften abgeholfen worden. Seit 1888 wurden ca. 1000 Lehrer und ca. 60 Nichtlehrer für den Handfertigkeitsunterricht an verschiedenen Orten vorgebildet.

Nicht unbeträchtlich sind die Summen, welche die Einrichtung und Erhaltung der Schülerwerkstätten erfordert. Sie werden aufgebracht durch Behörden, Vereine, Private und freiwillige Beiträge, Schulgeld und Schenkun- gen. Die im Jahre 1888 für die Schülerwerkstätten aufgewendeten Geldmittel dürften sich nach ungefährer Schätzung auf 50000 Mk. belaufen.

Thorn. H. Chili.

8. Zwangserziehung verwahrloster Kinder in Preussen.

In der Zeit vom Inkrafttreten des Gesetses über die Zwangserziehung verwahrloster Kinder (1. Oktober 1878) bis zum 31. März v. Js. sind im preufsischen Staate 16964 Kinder in Zwangserziehung untergebracht worden. Davon sind inzwischen 654 widerruflich, 4559 unwiderruflich entlassen, 439 verstorben und 447 anderweitig in Abgang gekommen, so dafs am 31. März v. Js. noch 10865 Kinder in der Zwangserziehung verblieben. Wie sich dieselben auf die einzelnen Provinzen verteilen und welcher Art die Unterbringung der Kinder ist, ergiebt folgende Zusammenstellung:

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Zahl der Kinder in

DftroD wai

icht in

Familien-,

Kommunal-, P

rlvtt-Anrtaltta

Ostpreufsen

833

303

530

Westpreufsen

505

222

205

78

Berlin

348

250

75

2 3

Brandenburg

959

434

198

327

Pommern

753

372

33 1

Posen

432

285

5

56

S6

Schlesien

1959

802

299

858

Sachsen

9ii

469

148

294

Schleswig-Holstein

522

495

27

Lauenburg

7

3

4

Hannover

851

565

286

Westfalen

590

220

Kassel

627

489

«38

Wiesbaden

346

200

4

142

Rheinprovinz

1216

645

1

570

Hohenzollern

6

6

Summa 10865

5754

5

982

4120

Von Interesse sind auch die Angaben über die

Kosten der Zwangs-

erziehung. Seit dem

Inkrafttreten des Gesetzes bis

zum 31.

März v. Js.

sind dafür 1 1 915266

Mk. aufgewendet

worden

und

im letzten

Etatsjahre

1410439 Mk. Diese Ausgaben werden vom Staate und den ProvinzialVer- bänden zu gleichen Teilen getragen. Welche Aufwendungen in dieser Hinsicht die einzelnen Provinzen zu machen hatten, zeigt folgende Zusammen- stellung der

Aufwendungen der Kommunal- Verbände für die Zwangserziehung

a) vom 1. Oktober 1878 bis 31. März 1890: b) pro 1889/90:

Ostpreufsen

266 244

Mk.

46184 Mk.

Westpreufsen

241496

35<>32

Berlin

274611

33 448

Brandenburg

426071

48499

Pommern

378 19»

>•

37 534 1.

Posen

281 218

M

34616

Schlesien

1 058662

1 1

129376

Sachsen

528052

62337 »

Schleswig-Holstein

294 819

'>

28689

Lauenburg

7 736

II

1 138

Hannover

484216

'1

51004

Westfalen

342654

l>

40153

Kassel

317770

II

31648

Wiesbaden

209 152

II

2473» -.

Rheinprovinz

856634

!

100583

Hohenzollern

3166

"

568

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Die durchschnittlichen Verpflegungskosten für ein Kind auf die Dauer eines Jahres waren in den einzelnen Provinzen sehr verschieden. Bei Unterbringung in Familien stellten sie sich am niedrigsten in Westfalen (73 Mk.) und Westpreufsen (75 Mk.) und am höchsten in der Rheinprovinz (189 Mk.) und in Berlin (223 Mk.); bei Unterbringung in Anstalten dagegen am niedrigsten in Posen (135 Mk.) und in Hohenzollern (146 Mk.) und am höchsten in Hannover (300 Mk.) und in Lauenburg (360 Mk.). Zum Schlufs bemerken wir noch, dafs im letzten Etatsjahre der Zuwachs der in Zwangs- erziehung gegebenen Kinder 1615 oder io1/* pCt. beträgt.

Thorn. H. Chili.

9. Zum Kampfe um die Schule.*)

Von Joh. Trüper in Jena.

II. Zar Rechtsfrage im Schalkampfe.

(Fortsetzung.)

Leider gehören nicht blofs N e e s e und Reichenbach, sondern zahllose andere, die mit ihnen auf diesem Gebiete unter der Flagge »liberal« segeln und dem Hafen des »Fortschritts« zuzusteuern meinen, zu denen, welche in ihren Vorschlägen und Beurteilungen nicht allen bei der Schule beteiligten Interessenten gerecht werden und vielfach auch nicht gerecht werden können. Diese beiden Interessenten sind die Familie und die Kirche. Das aber verhindert sie, im Kampfe mit der Kirche um die Schule je zum Frieden zu kommen. Eine Verständigung ist so unmöglich, da die >Kirchen«-Partei in genau denselben Fehler verfällt. Der offene Kampf kann wohl zeitweilig eingestellt werden, wie es jetzt teilweise in Frankreich der Fall zu sein scheint, weil die eine Partei sich zu schwach fühlt, aber im günstigen Augenblick wird er mit erneuter Heftigkeit wieder ausbrechen. »Wie Hunde wird man uns vertreiben ; aber wie Adler werden wir uns wieder verjüngen«, so prophezeite der Jesuitengeneral Borgia. So ist es aber auch mit dem Liberalismus, wie Belgien zeigt. Das arme Volk aber mufs durch die Schule an Bildung und Gesittung wie an Geld die Kriegs- kosten zahlen.

Wir müssen darum Schulreformen erstreben, welche einen dauernden Frieden ermöglichen; die wenigstens Revolutionen, wie wir sie in Belgien kennen, unmöglich machen und die Schule so weit wie irgend möglich dem Wellenschläge der hohen Politik und Kirchenpolitik ent- rücken.

*) 8. MM. Stadien 1890, 1. u. 4. H.: 1891, 3. u. 3. H.

Pädagogische Studien. IV. 15

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Wir haben bis jetzt mit dem politischen und kirchlichen Liberalismus die Herrschergelüste der Hierarchie zu Gunsten des Staates und der bürger- lichen Gemeinde abgewiesen. Dieser Liberalismus gerät aber in eine ebenso verwerfliche Einseitigkeit. Gegen diese Einseitigkeit gilt es darum nicht minder Verwahrung einzulegen und

d as Recht der Kirche, die Wahrung des religiös-ethischen {konfessionellen Charakters der Schule, zu verteidigen gegenüber, den einseitigen staatlichen wie bürgerlichen Forderungen.

Wir haben zugestimmt, dafs die Kirche nicht die Mutter der Volks- schule sei. Diese sei in ihrer jetzigen Gestalt ein Produkt der Gesamt- kultur, von der die Kirche aber nur eine Seite vertritt. Wenn aber Neese und Reichenbach diese eine Seite abweisen, so verzichten sie auf das pädagogische Prinzip Pestalozzis von der harmonischen Bildung und aul das Herbartsche von der Pflege der Vielseitigkeit des Interesses. Neese sagt allerdings: »Die Pädagogik hat es in der Volkschule weder mit Pro- testanten oder Katholiken, sondern allein mit dem Mensehen an sich xu thun: die Volksschule soll Menschen erziehen, aber nicht Katholiken oder Protestanten, Juden oder Heiden. Unterricht und Erziehung erstrecken sich also auf das allgemein Menschliche und in diesem liegen auch die tiefen Wurzeln der Religion.« »Keine gesunde Vernunft wird doch be- haupten können, dafs der Mensch bereits als Christ, als Heide oder als Muhamedaner geboren wird. Er ist Mensch vom Menschen in Natur- beschaffenheit, in Anlage und Bestimmung unter einander gleich, alle von gleicher religiöser Anlage.« (II, S. 50.) Ähnliches lesen wir tagtäglich in der Tagespresse.

Doch der Unsinn der »allgemeinen Religion« springt jedem sofort in die Augen, sowie er den Gedanken auf andere Gebiete überträgt.

Der Mensch wird auch nicht als Deutscher, Franzose oder Chinese geboren, sondern nur als »Mensch«. Entwickeln wir nun diese »mensch- lichen« Anlagen, ihn deutsch-national erziehen, wäre Sünde. Der Mensch wird auch nicht mit einer bestimmten Sprache geboren. Wohlan, lehren wir ihn nicht deutsch, englisch u. s. w. reden, sondern entwickeln wir nur diese Anlage des sprachlichen allgemeinen Menschen. Vielleicht redet der Er- zogene dann die allgemeine Ursprache der Menschheit. Überhaupt lassen sich so nach Rousseauschem Wunsche überall einige Jahrtausende der bösen Kulturentwickelung in der Phylogenie durch solche Leitung der Ontogenie abschneiden, um das Paradieseszeitalter der Menschheit wieder zu erreichen!

Im Grunde genommen sind solche »fortschrittliche« Ansichten nichts als eine entsetzliche Reaktion, mindestens ein Rückschritt um ein Jahr- hundert zu den Ansichten der > Aufklärungszeit«.

Reichenbach und Genossen berufen sich zwar auf Diesterweg. Allein dieses Epigonentum macht Diesterweg keine besondere Ehre. Gerade in der von Reichenbach zitierten Schrift Diesterwegs : Beiträge zur Ldeuag der Lebensfrage der CivMsation (Essen 1837* sagt dieser (S. 211) u. a.:

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Für die Rettung aus leiblichem, geistigem und sittlichem Elend giebt es nur ein Mittel: die Religion, »nichts als die Religion, nichts als das Christentum. Denn dafs es hier nicht mit einer Naturreligion, mit dem Stoicismus, der allenfalls auf dem Schlachtfelde oder in Bürgerkriegen, wo die Thatkraft gilt, ausreicht, dafs nur die Religion des Kreuzes die ge- ängstigten und zerschlagenen Menschenherzen tröstet und beruhigt: das liegt auf flacher Hand.« U. s. \v.

Die Ansicht, 2000 Jahre Kulturentwickelung in religiöser Beziehung in der Volksschule zu ignorieren und sie in ihrem Bekenntnis auf den Stand- punkt des alten Testamentes oder noch weiter zurückzuschrauben, die ist uns im letzten Jahrzehnt öfter begegnet. Hegen Israeliten solche Forde- rungen, so halten wir sie für die Erziehung ihrer Kinder berechtigt. Für die Erziehung christlicher Kinder müssen wir aber um so entschiedener dagegen protestieren, wenn diejenigen, welche sie stellen, ihre Konfession nur negativ bestimmen.

Reichenbach verweist übrigens die ganze »Biblische Geschichte» aus der Volksschule. »Was haben denn die altjüdischen Erzväter mit dem Unterrichte unserer Kinder zu thun?« fragt er S. 118.

»Das sittliche Element aber, welches der Lehrer als Erzieher bedarf, hat die Philosophie und philosophische Pädagogik, also die Wissenschaft zu liefern.« (S. 121) Aber welcher Die sophistische oder die platonische, die christliche oder die stoische, die des Thomas von Aquino oder die von Giordano Bruno, die von Kant oder die von Schopenhauer? Ohne »Kon- fession« geht es leider auch hier nicht.

Wir sagten im ersten Artikel, dafs wir Windthorst und Genossen von Herzen dankbar sein müssen für die Einbringung ihres Antrages, weil er die protestantischen Geistlichen mit einem Schlage nach 370 Jahren wieder zur Besinnung darüber gebracht hat, dafs die Religion Jesu nicht an das Kirchengebäude und an die Kirchendiener, den geistlichen Stand, gebunden ist, sondern dem Sauerteige gleicht, der den ganzen Teig durchdringt; dafs, wenn die Kirche als religiöse Gemeinschaft rechter Art ist und rechtes Leben besitzt, die Schule, die nach der religiös-sittlichen Seite auf ihrem Boden steht, ohne jegliche Gefahr der besonderen Aufsicht eines Geist- lichen nicht nur entraten kann, sondern sogar besser ohne dieselbe auch in dieser Hinsicht fährt.

Einen gleichen Dank schulden das Centrum samt Herrn Stöcker und Genossen den letztgenannten Schriften wie dem letzten Berliner Lchrertagc in seinem Hauptwortführer.*) Denn sobald die gesamte bayrische Lehrcr-

•) Die«« vorliegenden Bemerkungen find vor dem Berliner Lehrertage niedergeschrieben worden. Dieser bat aber die Frage plüttlictt In den Vordergrund de« In lereres gerückt Untere Anrieht geben wir hier unbeeinflußt von Ditte« Auftreten. Von den Schriften Air und (fegen Dittes und den LehTertag machen wir vorläufig auf die beachtenswerte Uten hier aufmerksam und behalten ons vor, auf die eine oder die andere bei Gelegenheit «urllckzukomraen.

1. Was lehrt der VIII. Deutsche Lehrertag? von Fr. Zillessen, iiauptieiter

der „Deutschen Lehrer-Zeltong". Berlin. 1890. Verl<\£ der Buohhandluui: der „Deutschen Lehror- Zeitnng". Fr. Zilleuen.)

«5*

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schaft auf die Seite des Herrn Reichenbach aus München offenkundig ge- treten ist, und die gesamte preufsische Lehrerschaft sich zur Konfessioc von Dittes bekennt, haben die Klagen von Windthorst und Genossen über die »Entchristlichung der Schule«, »über das gottlose Lehrergeschlecht«, gegen das er einmal zu Anfang der 8oger Jahre sogar die Mütter auf- reizte, in den Augen vieler kirchenfreundlicher und »gläubiger« Abge- ordneten — ja wenigstens einen triftigen Scheingrund.

Solche Behauptungen liefern den betreffenden Parteien im preufsischen Abgeordnetenhause nur willkommenes Material für die Begründung ihrer

Z. halt d«n Teilnehmern desselben ein« Art Kapnxinerpredtirt. Sie »eitft «in« selbst, wie 4er „•rute Ton" der Berliner „Deutsohfrelginnljren" und „Antisemiten" nebst allerlei persönlichem Gezink auch In der Berliner pUdajrutfsc-hen Presse Mlben wie drtiben «eine BiUten treibt. Der Kern 4er An«ehuldis:nn;: i«t aber, wie Baumirarten »I« Fr e and der „Lehrer*!*;." (a. u. a. O. 8. » 11 zeigt, ein dnri'h „Parteilichkeit entstellter."

2. F.lne „er n«i e M a hn n n g" und „drillende Bitte" einea kirchlich gesinnten, an Dittei im Gc^en*atzo stehenden, in Zi Hessen« Z<:itun>r mitarbeitenden Lehren« an die Geistlichkeit: „Holtet Umkehr! lUltct EinMUk!" hat In der „Lehrerztif." keine Herberge gefunden. Sie «lebt Im „Et. Sc hu lhl. vnn DJ.rpfeld, Auslieft 1890:

Lernt denn Ihr seid gewarnt I von Adolf Rüde. 3. Der Achte deutsche Lehrertag und seine Gegner, von J. Tews. Hewu-

K «geben vom ( ■rtsau*se.hu«j>e des VIII. deutschen Lehrertnges. '£. Aull. Leipzig:. Klinkhardt. 18»- Tew« will die im preuf»Uchcn Abfieorduetenhauae, in Veraamm Inngen and in der Prewt »0 vielfach nnd unbegründet erhobenen AngrliVo tiud Anfeindungen auf Ihren wahren Wert zurück- fUhren. Er ülaut't »l<ht *<harf trenn^r enl'/i L-tiet zn haben, weil er lieh schämt, anf einen frohen Klotz der grobe Kell zn «ein. Nun, wer den groben KloU und den «Ich er harnenden Kell kenoen lernen will, findet hier sattaaui Gelegenheit. A) er auch die deutsche Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit und Anständigkeit unacrer T.i»;c«prt!«*R, voran die «i<-h „christlich" nennende, kann maa hier vor- trefiib b studieren. Da lesen wir t. B. : „Ein Skandal sondor Gleichen", „Nledertracb:i|fkei!fc, „pomadl*icrte Nihilisten und Anarchisten im Frack4-, „«lottesverllchter Dittes", „Brandrede", .Pro- phet Beizebub«-', „unglüubk'o radikale Cli.iiie", dl»? «Ich „erfrecht", Bande" etc.; nnd aU Antwort darauf: „Welt der nemelneten VerloLcnl elt, <llo »icli «lenken läfi," „um mit eioor derartigen Ver- logenheit und Frivolität in wirksamer Weine cn kämpfen, reicht da* Wörterbuch eine» anitindiftn Menschen nicht aus,' u. d«l. ni.

t. Nun, da freut man »ich, daf« Professor Baun>>rarton ea unternommen hat, durch Inhalt und Ton, durch Offenheit und Wahrheitsliebe die Streitfrage wieder in ein ruhigere« Fahrwasser n leiten durch seine Schrift:

Volksschule und Kirche. Auch eine soziale Frage, eid Beitrag zur nieuer-

weK-Feier von ProfoMor Lio. OttO Baum garten, Waleenhnuspredlger (je»«* »• °- pro" fo«»or der Theologie in Jana). Sonderabernck an« der „Christlichen Welt1-. Leipzig Gmnow. 18!»0. 62 8.

En Ist ein grofae« Verdienet der Schrift, daf« ale das, um waa ea «ich handelt, zlelch bei» rechten Namen nennt: .^ozlale Frage"; aber anch der liebevolle, versöhnende Ton, die volle Wür- digung gegnerischer Anhebten, anch der rollten Stelinn? Dlentcrwetf« und Dittes', die Bofrpredljt an «eine Stande«- uud (>eslnnun(.r»veur>««en, <iaa sind Eigenschaften, die nicht blnf« in der eozlsl- demokratischen, sondern nueb in clor sogenannten „christlichen" Tagespreise selten geworden «ind, «obald « «ich hier um die Volkaschnllehrer handelt. Auch wenn man mit uns nicht in all«« Baumsarten anstimmt, so wir doch trewif« jeder Lehrer in die dargebotene Hand einschlagen, uad hei gutem Willen wird si<:h denn auch wohl diene soziale Frage anf friedlichem Wojte lösen lassen.

Wie ich zu der Streitfrage «tehe und wie meine« Erachten« der einzige Ausweg für beide Teile zn finden ist, das habe ich dargelegt im dritten Abschnitt meiner Schrift:

,0ie Aufgaben der öffentlichen Erziehung angesichts der sozialen Schäden der Gegenwart." Gütersloh ih»».

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klerikalen Wünsche. Dafs der Religionsunterricht, den sie zu erhalten wünschen, solchen Liberalismus gebiert, das werden sie allerdings ver- schweigen. In dem »schwarzen« München oder doch in dem >katholischen Bayern« des Herrn Windthorst ist anscheinend die eine, und dort, wo die lutherischen >Pfaffen und Junker« herrschen, mutmalslich die andere An- sicht gezeugt wrerden. Beide sind eben nichts anderes, als eine natürliche Reaktion gegen den Dogmatismus im hergebrachten Religionsunterricht und eine Abneigung gegen alles Konfessionelle infolge der Überfütterung mit unverstandenen, abstrakten Lehren von den »Herren ihres Glaubens», die nicht »Diener der Gemeinde« sein mögen. Die moderne katholische wie ein Teil der protestantischen Geistlichkeit erntet hier somit, was sie gesäet hat: die Identificierung von Geistlichkeit und Kirche, von Kirche und Christentum und von veränderlichen dogmatischen Formen mit dem ewigen Inhalte der christlichen Religion, der in den verschiedenen Kon- fessionen bald mehr, bald weniger rein sich auslebt. Diese Geistlichkeit hat bis heute stets gepredigt: ohne dafs wir die Schule leiten, wird der konfessionelle, ja der ethisch-religiöse Charakter überhaupt gefährdet. Die erdrückende Mehrzahl der Lehrer und auch manche recht und billig denkende Geistliche erkennen in der geistlichen Aufsicht nicht blofs eine unzweckmäfsige, sondern sogar eine unmoralische Institution, wie Dörpfeld nachgewiesen. Jene »liberalen« Lehrer schliefscn darum ganz nach der Logik jener Geistlichen: ist der konfessionelle Charakter identisch mit dem Einfluls, den diese Geistlichkeit in der Schule ausübt und aus- geübt hat, so verwerfen wir aus kulturellen wie moralischen Gründen den konfessionellen Charakter. »Wer Wind säet, wird eben Sturm ernten.« *) Diese Punkte sind trefflich beleuchtet worden in der Abhandlung: „Zwei Hauptfragen aus der Lehre von der Schulverwaltung: I. Die technische Beaufsichtigung und Leitung der Schulen. II. Der religiös- ethische Charakter der Schulen. Von F. W. Dörpfeld. VI. Jahrbuch des Vereins für weisse nschaftl. Pädagogik. S. 31—85. Über die konfessionelle Schule aber liegt noch eine besondere päda- gogische Monographie vor in:

„Zwei pädagogische Gutachten über zwei Fragen aus der Theorie der Schuleinrichtung: 1. Die vierklassige und die achtklassige Volks- schule (von Dörpfeld); 2. Die confessionelle und paritätische Volks- schule (vom Hauptlehrer Schumacher). Auf Veranlassung mehrerer Stadträte und Schulinteressenten in Wermelskirchen bearbeitet von dem Vorstande der allgemeinen bergischen Lehrerkonferenz. Gütersloh Bertelsmann. 1878.« XII und 68 S. Jene Geistlichen haben allerdings diese Arbeiten totgeschwiegen, weil sie den »römischen Sauerteig« nicht unerwähnt lassen; die »liberalen« Lehrer aber, weil sie sich für immer den Magen und den Appetit ver-

•) Vergl. meinet* Aufc.t«: „Über <tnj rk-htlft Verhfiltnie »wUchen Schule nn.1 Kirche". Re- m:nii(-eni«n aus der XXV. »11g. dtich. Lehrerverwmmlung in Bremen. Kv. Schlbl. von DörpfelU. 1884, No. 4. 8. 126 ff.

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dorben haben an dem ihnen dargereichten konfessionellen Brote, das mit diesem Teig durchsäuert worden. Zu unserer grofsen Freude trat hier nun kurz vor seinem Scheiden durch seine frühererwähnte Schrift der alte Kämpe Jütting *) noch einmal wieder auf den Kampfplatz für die Volks- schule, um sie auch vor solchen »Freunden« zu schützen wie gegen jene Feinde mit schneidigen Waffen zu verteidigen.

Windthorst, Necse und Reichenbach gegenüber verteidigt Jütting den konfessionellen Religionsunterricht als Hauptrechte der Schule und damit der Lehrerschaft. »Unsere Lehrer, katholische wie evan- gelische, erkennen gottlob längst den in romanischen Ländern begangenen Fehler der Doppclherrschaft in der Schule und den der Preisgabe des Religionsunterrichts. Sie wissen, welchen pädagogischen Schatz sie an der Religion auch in ihrer konfessionellen Färbung besitzen. Sie werden sich ihrer Mehrzahl nach, des sind wir versichert, lieber aus dem Amte verdrängen, als sich in der täglichen Arbeit das von dieser Sonne ausgehende Licht und Leben rauben lassen,« wenngleich >auch neuerdings selbst nationalgesinnte öffentliche Blätter an die Möglichkeit des Aus- schlusses der Religion aus der Schule gedacht haben.«

»Die Unterrichtsverwaltung ist darin mit der ganzen Lehrerschaft eins: sie wollen, was sie bisher hatten, den konfessionellen Religions- unterricht für die Schule festhalten, aber sie wollen ihn unter thun- lichster Berücksichtigung der Wünsche der Kirchen nach einheitlichen pädagogischen Gründen gestalten, und zwar sowohl dem Inhalte wie der Form nach.« Dabei soll überall betont werden, was in Glaubens- und Sittenlehre die verschiedenen Konfessionen gemeinsam haben, damit die Grundsätze der Humanität und Toleranz von der Schule nach Gebühr gepflegt werden.« (S. 64 f.)

»Seit einigen Jahrzehnten wünscht kein deutscher Lehrerverein einen s. g. allgemeinen Religionsunterricht (für verschiedene Konfessionen gemeinschaftlich) mehr, noch weniger aber den Ausschlufs des Religionsunterrichts vom öffentlichen obligatorischen Schulunterricht. Ein dahin zielender Beschlufs der Schulverwaltung oder der Schulgesetz- gebung wäre bei uns wenigstens der Hierarchie gegenüber ein ebenso grofser politischer und pädagogischer Fehler, und für die Lehrer beider Konfessionen eine unverantwortliche und sträfliche Vergewal- tigung. Man weifs in Lehrerkreisen hüben wie drüben, dafs man mit solcher Vcrzweiflungs - Mafsregel in katholischen Ländern die denkbar schlechtesten Geschäfte gemacht hat.« Dem Lehrer in dem wichtigsten und einflufsreichsten Zweige des Unterrichts Schweigen aufzulegen, »das wäre grausam und politisch fürwahr noch unklüger als die Beiseitestellung der Waffen gegen die römische Kirche, die man zur Sicherung des Vater- landes zu Falks Zeit für notwendig erachtet hatte.« »Eine für den Volks-

•) „Von dem Kampfe uro die Volktarhule in Prenfaen uud von der Stellage und Beaoldan* Ihrer Lehrer. Von Dr. W. JUttlng, Semiaar.llrektor a. D. PreU 1 Mk. 80 Pf. Berlin, Wlefrandt u. Schotte. 1889.

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erzieher höchst bedenkliche religiöse und vielleicht ebenso gewifs politisch- nationale Indifferenz und damit eine offenbare Verschlechterung, weil Verknöcherung des Unterrichts in der Moral, der vaterländischen Geschichte und der Litteratur.« (S. 63.)*)

Diese Rechte der Lehrer, im Unterrichte die religiöse Überzeugung zu vertreten, welche das Bekenntnis der religiösen Gemeinschaft ist, der er nach freier Überzeugung angehören, die geraten gerade bei der Staats- und der Kommunalschule in Gefahr, so lange Staat und Gemeinde das Prinzip der Religionsfreiheit hochhalten; und wo das nicht geschieht, wo der Staat eine bestimmte Konfession oder Religion zum obligatorischen Staatsbekenntnis erhebt, da wird dem Lehrer im Unterrichte dieses Recht befohlen und die Freiheit wird zum Bekenntniszwang.

Beyschlag rät, den Katholiken ihren Willen zu geben, d. h. den Geist- lichen den Religionsunterricht aufs erhalb der Schule freizugeben, aber für die Protestanten am Hergebrachten, am einheitlichen, vom Lehrer zu erteilenden Gesamtunterricht festzuhalten, also die Parität in Preufsen auf- zuheben. Ncese und Reichenbach kommen Windthorst und Genossen noch mehr entgegen: der ganze konfessionelle Religionsunterricht ist aus der Schule zu verweisen und den Geistlichen zu überlassen.**} Das Centrum würde mit dieser Abschlagszahlung einstweilen schon sehr zufrieden sein. Beyschlag stellt seine Forderung im Interesse des Protestantismus, Neese und Reichenbach im Interesse des Fortschritts. Alle drei aber geben da- mit die heiligsten Rechte der Lehrer preis.

Beyschlags Vorschlag kann doch auch nur für Preufsen gelten. Wie soll sich die Schulfrage aber in vorwiegend katholischen Ländern gestalten? In Österreich ist sein Prinzip der Staatsschule seit 1869 zur Anwendung ge- kommen, natürlich ohne die von Beyschlag gewünschte und für Preufsen begründete Bevorzugung der Protestanten. Und das ist geschehen im Sinne von Neese und Reichenbach, im Namen des Fortschritts. Was uns die Erfahrung hier lehrt, das finden wir in der Schrift:

Die Entwicklung des evangelischen Schulwesens in Österreich seit 1869.

Vortrag, gehalten in der deutschen Sektion des evangelischen Lehrer- vereins für Böhmen und Mähren von Georg Repp, Lehrer an der evangelischen Schule in Reichenberg. Herausgegeben vom evan- gelischen Lehrerverein für Böhmen und Mähren. Preis: 30 kr. Reichenberg. Im Selbstverlage. Druck von Gebrüder Stiegel. 1888. 48 S.***) Die >liberale< Staatsschule hat die 375 evangelischen Schulen Öster

*) In gleichem Sinne hat auch die liberale „Allg. dtsch. L e h r er z e I tu nga (Jhrg. 1809. No. 42 n. 43: Zur 8 c h n l ve r fasan n g*t rage") da* „hSlaerne Elsen" eine* allgemeinen kon- feMlons-, d. h. farblosen Religionsunterrichts im Anachlofs an Dörpfelde „G randgebrechen'' ent- schieden rerworfeti.

•*) Wie es mit der konfessionellen Geschichte, Litteratur etc. werden toll, nagen sie nicht Ich glaobe aber schwerlich, dafa sie die Geechlchte dar protestantischen (also einer kon» fettloaellen) Kultnr und Litteratur aoaschllefsen möchten xu Gunsten des Katholiclsmns. •••) Ebenso in einem Artikel ron Burk im „Et. Schulbl." von Dörnfeld. 1888, 8. 4*0.

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reichs in der Zeit von 1869 1S88 auf 234 reduziert und die 481 evan- gelischen Lehrer auf 355. (S. 31 f.) »Und doch ist die Zahl der Kirchen- gemeinden gewachsen, denn es gab i. J. 1869 193 Gemeinden und i. J. 1879 2i6 und die Zahl der Protestanten war in diesem Jahrzehnt am nahezu 16% gestiegen.« Das ist das nackte Resultat.

Gegenüber dem Centrumsantrag fragt Bey schlag (a. a. O.) mit Recht: »Was soll aus unserem Lehrerstande werden?« (S. 4 u. 5.) Bei Repp finden wir eine Antwort inbezug auf die Staatsschale: »Ich will nur in Erinnerung bringen, dafs infolge des §, welcher die Kon- fession des Schulleiters von der Konfession der Majorität der Schulkinder abhängig macht, in Böhmen allein 15 evangelische Lehrer der Notwendig- keit preisgegeben zu sein glaubten, zur katholischen Kirche überzutreten, von den Einzelfällen zu schweigen, die nicht öffentlich bekannt gegeben worden sind.« (S. 30.) »Es ist indes nicht abzusehen, ob die Schulgesetz- novelle nicht noch weitere Opfer fordert.« (S. 31.) Die Evangelischen wünschen natürlich diesen § aus dem Unterrichtsgesetze fort, aber der Staat kann ihn nicht preisgeben; er ist eine notwenige Konsequenz des konstitutionellen Staatsprinzips und des freiheitlichen Schulgesetzes. Beyschlag will selbstverständlich die protestantisch-konfessionelle Schule nicht preisgeben und für Preufsen mag sie auch nie in Gefahr kommen, so lange der Staat seine Schulgeschäfte gröfstenteils durch kirchliche Organe oder doch durch Theologen besorgen läfst und damit den von Beyschlag so arg getadelten Dualismus im Schulwesen zu Recht bestehen läfst. Sollte jedoch in einem reichsdeutschen Staate die Staatsschule das selbst för den Katholizismus zur Folge haben, was das Reichsvolksschulgesetz in Öster- reich für den Protestantismus zur Folge gehabt hat, so verbietet es ans die protestantische Moral, für sie einzutreten. Die Glaubens- und Ge- wissensfreiheit, die wir für uns beanspruchen, gebührt jeder anderen Kon- fession als religiöse Gemeinschaft. Anders verhält es sich allerdings mit einer zweiten kirchlich -pol i tisc he n , römisch oder international gesonnenen Gemeinschaft auf dem Boden einer national-politischen Gesellschaft. Darin hat Beyschlag recht. Und so lange die römischen Katholiken eine poli- tische Partei bilden, kann kein Staat nach dem Prinzipe der Selbst- erhaltung ihr die Jugendbildung oder auch nur das Herz derselben, den Religionsunterricht freigeben. Nur in dem Mafsc, als die Katholiken sich als religiöse Gemeinschaft, als Konfession, von der politischen Partei und ihren Prefsorganen emanzipieren, sollte ihnen eine Gleich- berechtigung mit den Protestanten zugestanden werden. Daraus würde aber gerade das Umgekehrte folgern, was Beyschlag daraus folgert: nicht den heutigen Katholiken, sondern den Protestanten kann der Unterricht freigegeben werden. Hören wir, was die teure Schule der Erfahrung unsere österreichischen Glaubensgenossen gelehrt hat, soweit sie darin haben lernen wollen: »Es kam das Reichsvolksschulgesetz vom 14. Mai 1869. Die ganze liberale Welt jubelte ob dieser schier unerwarteten Gabe der Re- gierung. Jetzt sind wir endlich frei vom kirchlichen Joche, hiefs es, jetzt darf endlich unsere Jugend unter dem Banner des Fortschritts durch ihre

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schönen Jahre gehen, geschützt vom Staate, entledigt dunkelmännischer Gewalt. Längst hätte es erkannt werden sollen, dafs die Schule nur unter der Leitung des Staates wohl gedeihen kann ; nun ist die Wahrheit doch durchgedrungen, und wir haben eine öffentliche, eine konfessionslose Schule !> >Es war das Reichsvolksschulgcsctz dem guten Österreicher- herz eine edle Sühne für manche bittere Empfindung. Einen so gewaltigen Ruck nach vorwärts im bisher wenig betretenen Geleise freiheitlicher An- schauungen hatten viele nicht vermutet. Und die Protestanten, die so gerne ihr Religionssystem als den eigentlichen Boden des Fortschritts feiern, die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, der Forschung als die unerläfslichen Vorbedingungen menschlicher und christlicher Wohlfahrt ehren, und in- sonderheit die österreichischen Protestanten, denen noch die Worte des Menschenfreundes auf dem Throne, Maximilians II., in den Ohren klingen mufsten, die er zu dem verfolgungssüchtigen Olmützer Bischof Prusinowsky sprach: >Es ist keine gröfserc Sünde als die, über die Gewissen herrschen zu wollen,« sie sollten ein freiheitliches Schulgesetz als ein Unglück empfinden? Es wäre sündhaft, dies behaupten zu wollen. Nie und nimmer empfinden die Protestanten dieses Gesetz in seiner Totalität als ein Unglück. Die Bestimmungen desselben, Paragraph für Paragraph, alinm für aiittea, waren ihnen vielmehr herzlich willkommen, soweit sie das innere Leben der Schule angingen, und freudig haben sie dieselben eingewoben in ihre Schulorganismen. Allein das eine, dals ihre Schulen von nun an als Privatschulen gelten sollten, wenn sie ihrer fruchtbringenden Natur für die Gemeinden nicht entsagen wollten, dafs das beste Erhaltungs- mittel, di e Bürgschaft derZukunft des österreichischen Prote- stantismus dem Worte »öffentlich« (= staatlich) in der Schul- gesetzgebung zum Opfer fallen, mit einem kurzen »Hilf dir selber« ins Ungewisse hinausgestofsen werden sollte, das konnten die Evangelischen nicht verwinden. Schon die Bezeichnung »Privatschule« als solche mufste frappieren. Denn Hegt nicht eine ebenso grausame wie unverdiente De- mütigung darin, Schulen, welche ungeachtet der mannigfachsten Schwierigkeiten von den Gemeinden dennoch unter Darbietung schwerer Opfer aus Gewissensgründen erhalten würden, in eine Linie gestellt zu sehen mit jenen Anstalten, die von ihren Eigentümern zum Zwecke der Nutzniefsung errrichtet, als melkende Kuh betrachtet werden? Doch bedenklicher war der Schaden in konfessioneller Hin- sicht. Bis 1869 gab es nur konfessionelle Schulen. Sie wurden von kon- fessionellen Schulgemeinden erhalten und standen in ihrer Eigenschaft als konfessionelle Schulen unter der Aufsicht des Staates *), so dafs die Be- zeichnung »öffentlich« auf jede einzelne mit Fug und Recht angewendet werden konnte. Jetzt bekam diese Bezeichnung einen ganz anderen Ge-

•) will wobl gemerkt so In, dnfs „unter Aufsieht de« Staat«! stehen" etwa« wesentlich andere« lat, als „StaatMchul«" «ein. Durch die Aufsicht, die «ich Ja weit semig erstrecken kann, kann der Staat alle «eine InteroMeu an der Schale wahren, dadurch aber, dafs er Schulherr wird und die Scholen innerlich leitet, TerleUt er andere Rechte, insbesondere die der Familie.

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halt. Das Gesetz von 1869 kannte keine Schulgemeinde mehr, sondern stellte sich klar und rein auf den Begriff »Ortsgemeinde«, also auf einen politischen Organismus.*» Und dieses politische Moment des Gesetzes konnte die Zustimmung der Evangelischen nicht finden. Der Begriff »inter- konfessionell t war darein inkarniert, und dieser, auf dem Gebiet der Schule zur Anwendung gebracht, birgt schwere Gefahr für eine kirchliche Mino- rität. — Man kann leicht sagen: »Ja, die katholische Kirche und das Judentum waren durch das Gesetz ebenso betroffen.« Aber wenn man das 1869er Gesetz als ein lichtvolles, dem Sonnenschein vergleichbares Ver- mächtnis betrachten will, so ist doch immerhin gewifs, dafs dieser Sonnen- schein das Tröpflcin des Protestantismus leichtXaufzusaugen imstande war, das Tröpflein des Mosaismus nicht, denn dies hat eine eigenartige Konsistenz, und das Meer des Katholicis- mus nie. So wurde die Staatsschule ein verhängnisvolles In- stitut für die Protestanten.**) In den Orten, wo die Evangelischen in der Majorität waren, entschlossen sie sich häufig, ihre Schulen des kon- fessionell evangelischen Charakters zu entkleiden und in öffentliche umzu- gestalten.« U. a. verschwanden bis Anfang 1872 in Kärnten von 54 evan- gelischen Schulen 29. Das Umtaufen der Schule erschien infolge des frei- heitlichen Hauches des Schulgesetzes nur »als ein Namenswechsel, dem eine den Protestantismus bedrohende Tragweite scheinbar mangelte. Aber im Schulgesetz selbst mufs der Standpunkt auffallen, der urplötzlich von einem bestimmenden Einflufs der Konfessionen auf die Schulen nichts mehr wissen wollte und damit auf einem Gebiete Prinzipien durchbrach, die doch auf andern Gebieten treulich erhalten blieben. Warum in der Schule Unterschiede verwischen wollen, die anderweitig gesetzlich bestehen müssen? Klar war es doch, dafs bei der Machtstellung der Kirche aller- orten in keiner anderen Hinsicht als der räumlichen der interkonfessionelle Gedanke zum Durchbruch gelangen konnte. Das haben die Jahre nach 1869 gezeigt, das hat die Schulnovelle bestätigt.***) Man hätte die Kon- fessionslosigkeit der Lehrer aussprechen müssen, wenn man vollkommen konsequent hätte vorgehen wollen. So lange der Lehrer einer bestimmten Kirche angehört, liegt ein kirchlicher Einflufs auf die Jugend im Bereich

*) Ich niOchte di« Anwälte der Staataschule Tragen, ob diese Vergewaltigung mit der Rechu- Idee vereinbar Lat, auf die sie sich berufen.

**) Der Protestantismus Ut diu Prinzip der Freiheit, anch auf religiösem Gebiet. Wenn «r auf dem Gebiete der Ju^cndbildung diesen Ast, auf dem er sitat, »elber absägen hilft, so muut er fallen. Durch die nnfreiere SUatssihule mufs allemal der römische Kathollcisroos gewinnen, entweder direkt, wenn er sie beherrscht, oder indirekt, wenn er sie, wie in Prenfsen, bekämpfen kann mit der ungeheuren Macht Uber die gefesselten GemUter.

•••) Dafs die Macht der Konfessionen dem Staate Schmerlen bereiten kann, liegt klar. Sein Bestreben Ist darum oft, durch Verwlschonfr der Konfeeaionalität die Macht au schwächen. Die Procedur läfet sich aber nur an den Kindern vornehmen, und mit Erfolg nur dann, wenn der Stasi ein spartanischer geworden, d. i. im vollsten Sinne omnipotent ist. Sonst arbeiten Familie und Kirche nmsomehr und nm so einseitiger an der Aueprägung des Konfessionellen Und geling» « ihm ja, so wurde diese erreichte KonfessionslosigkeÜ allerdings helfen, aber wie die ZahBloiigkelt gegen Zahnschmerz hilft.

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der Möglichkeit, wenn auch nicht der Notwendigkeit.« >Wohl wird geltend gemacht, dafs es sich nicht um ein Verwischen der konfessionellen Unterschiede gehandelt hat, sondern dafs lediglich der edle Grundsatz der Toleranz die Zusammenführung der verschiedenen Konfessionen von Kindes- beinen an unter neutraler Oberhoheit nahegelegt habe. Doch was hilft diese Toleranz, wenn im sonstigen Leben der kirchliche Einflufs nicht zu beseitigen ist, wenn der Mann in allen Sphären seines Lebens kategorisch daran erinnert und gemahnt wird, in welche kirchliche Gemeinschaft er gehört? Es pafst hierher ein Wort Hasners: »Nur der Reiche kann Mittel und Wege einschlagen, um, wenn ihm die Schule nicht recht ist, seine Kinder im Hause oder anderweitig zu erziehen. Wenn der Arme aber ge- zwungen ist, seine Kinder in eine Schule zu geben, wo er für das religiöse Interesse nicht die nötigen Garantieen zu haben glaubt, so ist das gewifs keine freiheitliche, sondern eine un freiheitliche Institution. c Also wenn eine Zurückstellung der kirchlichen Interessen gerechtfertigt war, so raufste sie überall platzgreifen, nicht auf einem Gebiete allein, so dafs einer kirchlichen Minorität bitter weh gethan wurde. Dazu mufste eben die Zeit ihr Ja und Amen sprechen. Und da weifs ich nicht, ob 1869 das Ver- ständnis für die Allegorie Lessings von den drei Ringen so grofs war, dafs man ihm in Österreich das Schulwesen getrost anvertrauen konnte.« »Das sah die erdrückende Mehrzahl des Volkes für einen Anachronis- mus an.«

Die evangelische, auf dem Familicnprinzip sich auferbauende Gemeinde - schule aber vertreten die evangelischen Lehrer Böhmens als Protestanten »aus freier Selbstbestimmung, die sie sich nicht durch die Verlockungen des Opportunitätsprinzips umdüstern lassen wollen« (S. 36) und in dem Bewufstsein , dafs »die evangelische Kirche seit jeher der Hort des Fortschritts« gewesen ist. »Es ist immer das innerste Wesen des Protestantismus gewesen und wird es fernerhin sein, dem Intellekt freie Bahn zu halten, Belehrung, Aufklärung, geistigen Aufschwung zu verbreiten allenthalben, und nie wird wohl der Tag erscheinen, an welchem man sagen könnte : Der protestantische Kultus hat den Unterricht erschlagen. Ein Gefangenhalten der Geister im Kerker der Einfalt ist selbst das Streben unserer Intolerantesten nicht. Übrigens, wie viel mehr stehen denn wir protestantischen Lehrer im Dienste der Kirche als die öffentlichen? Das kirchlich Accidentielle kommt ja den öffentlichen Lehrern gerade so zu wie ans.« Aus diesen Gründen haben die protestantischen Lehrer auf den Einwurf: »Wie könnt ihr auf dem unterminierten Boden der Konfessions- schule stehen bleiben, euch der Kirche, der Geistlichkeit unterordnen! Das ist Rückwärtserei!« ein Recht zu antworten: »1. Der Vorrang des Katholicismus macht sich geltend in Stadt und Land, am sichtbarsten in den klerikalen Ländern. Wir Protestanten vermissen die Wahrheit, Durch- führbarkeit und Lebensfähigkeit des interkonfessionellen Prinzips in Öster- reich. 2. Wir empfinden es nicht als Reaktion, dafs wir uns in die Richtung der protestantischen Kirche stellen« (S. 36 ff.).

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Mit Absicht haben wir Repp im Namen österreichischer evangelischer Lehrer selber und so ausführlich reden lassen. Er bewegt sich nicht aut dem Boden »grauer Theorie«, er spricht aus den Lebenserfahrungen des österreichischen Protestantismus, des Prinzips des Fort- schritts, heraus. Insbesondere aber möchten wir das Schriftchen allen Mitgliedern des Gustav Adolf-Vereins wie auch des Deutschen Schulvereins dringend empfehlen. Mit Geldunter- stützungen allein rettet man weder den Protestantismus noch das Deutsch- tum in Österreich. Vor 1869 hätte man mit einer besseren Schulver- fassungstheorie, falls man überhaupt sich eine Theorie gebildet hatte, den Protestantismus noch ohne besondere Unterstützung retten können. Und eine solche Theorie lag in scharf ausgeprägten Zügen vor in Dörpfelds »S c h u 1 g e m e i n d (Gütersloh, 1865). Man hätte sie sich nur anzueignen brauchen. Zudem erschienen in dem Jahre 1869, vielleicht noch rechtzeitig genug, seine »Grundgebrechen der hergebrachten Schulverfassungen nebst Vorschlägen zur Reform derselben. < In den 20 Jahren trauriger Erfahrung haben nun die Evangelischen sich ähnliche Ansichten gebildet, wie die beiden Schriften sie vertreten und wie sie in der kürzesten Form zum Ausdruck gekommen sind in den dem preufsischen Abgeordnetenhause unterbreiteten »Wünschen und Vorschlägen der Schulvorsteher und Schulinter- essenton (d. s. Mitglieder der Schulvorstände und Lehrerwahlkollegien der Schulgemeinden in den Kreisen Elberfeld, Barmen und Mettmann) In Be treff des neuen Untorrichtogesetzeo.« (Elberfeld bei Friderichs 1869.) Sie bitten, was die Lok al- Schulgemeinde betrifft, »im wesentlichen um das, was die Schulinteressenten hier an Niederhein (wie die protestantischen in Österreich) seit der Reformation besitzen, was sich in einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten bewährt hat, was sie aus Erfahrung kennen und um seiner Bewährung willen lieb gewonnen haben.«

Jetzt ist das für Österreich zu spät. Der Ultramontanismus wartet ohnehin schon auf die Stunde, wo es gilt, die »liberalen« Früchte einzu- heimsen. In der III. Generalsynode der Protestanten Österreichs stellte die Majorität den Antrag, die Regierung um ein konfessionelles Schulgesetz zu bitten. Die Synode aber ging mit 25 gegen 10 Stimmen über diesen Antrag zur Tagesordnung über, nachdem die Minorität, deren Mund der Seminardirektor Jaap in Bielitz war, betont hatte: »Man dürfe jene andern nicht vergessen, welche das Nämliche verlangen, aber zu andern Zwecken. Die Aufrichtung eines konfessionellen Schulgesetzes hiclse die katholische Dogmatik und die Anschauungen, wie sie im Syllabus und in der Encyclika ihren Ausdrucke finden, zur Grundlage der Lehrerbildung machen, den Lehrerstand wieder in das frühere Abhängigkeitsverhältnis von der Geist- lichkeit zurückführen.« (Repp, S. 24.) Das war im Jahre 1877. Den schon 14 Jahre früher von Dörpfeld empfohlenen Ausweg acheint also nicht ein- mal der protestantische Seminardirektor gekannt zu haben. Und doch durfte es kaum einen andern geben, der die Jugenderziehung zwischen der Scylla der Priestcrschule und der Charybdis der nivellierenden und darum

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in Österreich katholisierenden*) Staatsschule hindurch führt, keinen andern um die heiligen Rechte der Kirche, des Lehrerstandes und, wie wir gleich sehen werden, der Familie zu schützen, aber auch keinen andern, um Protestantismus und Deutschtum als Bollwerk der Kultur in den slavischen Ländern zu erhalten. Und darum sei es nochmals gesagt: es thut not, dafs jene beiden Vereine sich um eine gesunde Schulverfassungstheoric kümmern. Damit sie aber dem Satze der Moral >Was dem Einen recht, ist dem Andern billig« nicht widerstreite, gilt es zunächst, für deren Verwirklichung auch in den reichsdeutschen Ländern einzutreten, besonders in »dem Lande der Schulen«, in Preufsen.

So ergiebt sich aus unserer kritischen Betrachtung der verschiedenen Ansichten im Schulkampfe, dafs weder die reine Staatsschule, noch die reine Kommunalschule, noch die Kirchenschule unser Ideal sein kann. Wir müssen einen Ausweg, ein Neutrales, als Drittes suchen. Dieser Faktor ist die Familie, die zudem das meiste Herzeleid und die gröfstc Last zu tragen hat, wenn die Kinder durch die Schule mifsraten.

Wie die Familienrechte gegenüber den Ansprüchen des Staates und der Kirche in der Schulverfassung zur Geltung zu bringen sind, haben wir an einem andern Orte eingehend dargelegt.**) Es genügt hier darum der Hinweis.

10. Hauptversammlung des Vereins für wissenschaftliche

Pädagogik.

Der V. f. w. P. hielt seine diesjährige Hauptversammlung in Magde- burg ab. Die daselbst gepflogenen Verhandlungen werden in bekannter Weise unter dem Titel »Erläuterungen zum Jahrbuch des Vereins etc.« ver- öffentlicht werden, wir bringen aber hier einige vorläufige Mitteilungen.

In der Versammlung am 2. Pfingsttag abends 8 Uhr wurden die Erschienenen im Namen des Herbartvereins Magdeburg durch Herrn

*) „Dies beseugt der als höchst notwendig erkannte Antrag Jene« Schulauaachusse* : ,Dlc Generalsynode wolle be*ehllefaen, au das hohe k. k. Mlnlstorinm für Koitus und Unterricht ein Ge- ftpeh zn richten am Feststellung and Einführung solcher Gebete ftir die Öffentlichen Volksschulen welche keiner der Tora Staate anerkannten Konfessionen Anstof* geben.' Das Gebot ist hänfig konfessionell katholisch n. s. w." (Bepp, S. 25.) Wie dagegen, wenn, wie der Fall Rohr- weg seigt, In einer Staatsschnl« Luther nicht als „Sohn Lucifers" gefeiert, sondern einiges zu seinem Lobe gesagt wird?

*•) Die Familien rec hte an der öffentlichen Ersiehung. Ein kritischer Rückblick über die Fortentwickelnng de« Famillenprinslps In der SchnlTerfasaanfrstheorie der neneren Päda- gogik. Von J. Trttper. Langensalia 1890.

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Goldschmidt begrüfst. Der Vorsitzende, Herr Prof. Vogt aus Wien, führte ungefähr folgendes aus: In unseren Versammlungen sind, der rein wissenschaftlichen Tendenz des Vereins entsprechend, alle Gattungen des Lehrstandes vertreten. In dieser Hinsicht steht unser Verein wohl einzig da und ist gegenüber den Spaltungen der Gegenwart geradezu von socialer Bedeutung. Aber da wir Politik und Pädagogik streng auseinander halten, so erörtern wir hier sociale Fragen zunächst in Hinsicht auf das Indivi- duum. Durch wissenschaftliche Gründe suchen wir auf feste Überzeu- gungen hinzuwirken welche dann weiter im Stande sein werden, Be- geisterung für den Beruf hervorzubringen. Sie erwarten vielleicht von mir. dafs ich der Berliner Konferenz und der kaiserlichen "Worte an dieselben gedenke. Wir freuen uns gewifs, wenn aus so erlauchtem Munde die Be- deutung der Erziehungsfragen anerkannt und dadurch der Geringschätzung pädagogischer Bemühungen entgegengearbeitet wird; wenn die höchste gesellschaftliche Autorität die Initiative ergreift, um Übelstände im Schul- wesen zu beseitigen. Immerhin hat aber die Hoffnung, die man auf solches Vorgehen setzen darf, ihre Grenzen. Denn unmittelbar wirken auf die Jugend neben den Eltern die Lehrer und Erzieher, und es ist nicht aus- geschlossen, dafs die Mafsnahmen eines Monarchen oder einer Regierung nicht den beabsichtigten Erfolg haben oder nur äufserlich wirken, wenn die vermittelnden Faktoren von anderen Anschauungen beherrscht werden. Dafs dagegen durchgebildeter Überzeugung und echter Begeis- terung im Kampfe gegen widrige Strömungen des Zeitgeistes der endliche Erfolg nicht fehlt, lehrte das Beispiel Pestalozzis und Herbarts.

Das vergangene Vereinsjahr war wieder ein durchaus friedliches. Wir haben eine allerdings nicht nennenswerte Zunahme an Mitgliedern zu verzeichnen. Herr Hollkamm hat schriftlich Vorschläge gemacht, in welcher Weise wir regsamer sein könnten, um unsere Vereinsarbeit fruchtbringen- der zu machen. (Diese Vorschläge wurden am folgenden Tage in einer besonderen geschäftlichen Sitzung näher beraten.)

Es folgen nun Mitteilungen aus Magdeburg und Umgegend, aus Dresden, Auerbach, ! Halle, Leipzig, Braunschweig u. a. O., aus denen wir Folgendes herausheben. Auf unsere Arbeit läfst sich vielfach anwenden, was Liebig in den Chemischen Briefen (Ausg. v. 1852) sagt: Neue Wahr- heiten haben in der Regel zunächst zwei harte Proben durchzumachen. Zuerst wird bewiesen, dafs sie nicht wahr und nichts wert sind. In einer zweiten Periode wird bewiesen, dafs sie nichts Neues sind, sondern längst Geltung haben. Erst in der dritten Periode tragen sie die rechten Früchte. Von mehreren Seiten wird ausgesprochen, dafs der Einflufs der Arbeit des Vereins weiter reiche als das Mitgliederverzeichnis. Allerdings, wird von anderer Seite ausgeführt, ist die Arbeit, welche noch gethan werden mufs, sehr grofs, indem einerseits die > zerstörenden Mächte« un- ablässig thätig sind und anderseits mifsliche äulsere Verhältnisse (über 120 Kinder in einer pädagogischen Hand!) es nicht zum gedeihlichen Aul- bauen kommen lassen. Die Herbart'sche Pädagogik hat die Aufgabe, diesen Kindern eine bessere Zukunft zu bringen!

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In den beiden Hauptversammlungen (Dienstag und Mittwoch) kamen nun die Aufsätze des 23. Jahrbuchs in der Folge zur Besprech- ung, dafs die Gegenstände principieller Art den Anfang bildeten und bei den methodischen Aufsätzen die untersten Stufen den Schlufs bildeten. 1. Vogt, Der Pessimismus und die wissenschaftliche Pädagogik. Vogts Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf F. v. Hartmanns Aufsatz in den >Päd. Studien< 1890, S. 129 ff, und zwar auf die ethische Seite der Sache. Der Inhalt der Debatte läfst sich um folgende Punkte gruppieren.

a) Die »Erfahrung« Hartmanns, welche den eudämonologischen Pessi- mismus nachweist, ist eigentlich eine metaphysische Voraussetzung.

b) Die Begriffe »Lust« und »Leid« werden »nur quantitativ betrachtet« (Prof. Lazarus) und so bestimmt, dafs man fast nur an den Besitz äufserer Güter denken kann.

c) Der Pessimismus lenkt den Blick des Handelnden zu sehr auf Lus. und Leid ein Rückschlag ins 18. Jahrhundert! Er lehrt allerdings eint dringlich, dafs Lust nicht der Leitstern für ethisches Denken und Handeln sein dürfe, und wirkt dadurch auf manche Gemüter gewifs in heilsamer Weise ein. Aber wer sich bemüht, von seinen Mitmenschen das »abstell- bare« Leid abzuwenden, wer zu diesem Zwecke vielleicht sich selbst Ent- behrungen auferlegt und Undank und Verkennung erträgt, der handelt nicht blofs in Rücksicht auf Verminderung des Leides, sondern er folgt einem höheren Gesetze, nenne er dasselbegnun Sittengesetz oder praktische Idee oder den Willen Gottes. Hartmanns Weg von seinem eudämonolo- gischen Pessimismus hinüber zu dem gewöhnlichen Denken und Handeln ist also kein notwendiger, allgemeingiltiger, sondern nur gerade der Weg, den er thatsächlich gegangen ist, der Weg zur Selbstverneinung oder zurück zur Genufssucht ist subjectiv ebenso berechtigt und wird auch that- sächlich beschritten.

d) Warum soll man sich eigentlich bemühen, »durch Leidverminderung die Leistungsfähigkeit der Menschheit für den Kulturprocefs zu erhöhen«, wenn man mitHaitmann erkannt hat, dafs erstens dieser Prozefs nach dem ontologischen Monismus mit Notwendigkeit, also auch ohne mein Zuthun erfolgt? Dafs zweitens eben dieser Monismus die »Wesenseinheit aller In- dividuen unter einander und mit dem absoluten Subject des Weltprocesses« lehrt und der Leidvermindernde also mit dem Leidenden »wesenseins« ist? Dals drittens die »sogenannte Schöpfung ein Hautausschlag am Absoluten« ist und daher der ganze »Weltprocefs« eine Förderung kaum verdient? Warum soll man sich bemühen ? Die bewegende Kraft, die Hartmanns evolutionistischer Optimismus für sich in Anspruch nimmt, stammt also nicht aus dem onto- logischen Monismus, sondern aus dem Gottesglauben, aus dem praktischen Idealismus, und wirkt, wie uns die Frfahrung zeigt, nicht nur bei dem, der durch viele Leiden abgehärtet ist, sondern auch bei dem im gewöhnlichen Sinne Glücklichen und beim Kinde! Mehrfach wurde bedauert, dafs Herr Prof. Vogt nicht ausführlichere Darlegungen gegeben habe.

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2. Theod. Wigct, Pestalozzi und Herbart.

Das vorliegende Jahrbuch enthält von der Arbeit Wigets nur die Ein- leitung, sodann die Darstellung der teleologischen Principien Pesta- lozzis, und von seiner Methodologie die intellektuelle und die physische (leider wegen Raummangels, nicht auch die sittliche) Bildung. Der Verf. wies zunächst auf sein Verfahren der Darstellung hin, indem er nicht Pestalozzis Gedanken nach einem diefem selbst fremden Systeme geordnet, sondern sich bemüht habe, den Zusammenhang zu finden und aufzuzeigen, den Pestalozzis Gedanken in seinem eignen Kopfe hatten. Dies Verfahren wurde von keiner Seite angegriffen. Überhaupt fand ein Redner die Arbeit »leider so gut, dafs sich wenig daran aussetzen lasse.« (So pflegte sich Ziller im Theoretikum mitunter auszudrücken!) In der That brachte die Debatte fast nur Zusammenfassungen und kleine Ergänzungen.

Welche pädagogischen Ziele Pestalozzi verfolgte und welche Gründe ihn bestimmten, das ist bis jetzt noch nie so klar dargelegt worden wie in der vorliegenden Arbeit. Der Strömung des 18. Jahrhunderts folgend, forderte P. 1) Menschlichkeit im Sinne der Aufklärung, also freie Ent- faltung der Kräfte, Abschüttelung des Druckes. Manche verfolgten dieses Ziel einseitig, so z. B. Fr. A. Wolf, welcher es als perfectio humanitatis be- zeichnete und nun meinte, es sei Sünde, Religion und Sittlichkeit als Haupt- sache des Gymnasiums zu betrachten.

Bei P. trat aber Humanität im Sinne des Christentums, also Ver- edlung der Herzenskraft, zu jener ersten Forderung hinzu. Das Verhältnis zu dieser ist schwer zu bestimmen, vielleicht kann man 2 den qualitativen Faktor zu 1 nennen.

Dem gesunden Menschenverstände folgend, nahm aber P. ferner

3) Rücksicht auf die Individuallage und

4) auf die historisch gegebenen Berufsstände. Dadurch wurde das abstrakte Menschheitsideal noch weiter eingeschränkt. Das Verhältnis dieser vier Zielpunkte bestimmte P. nicht begrifflich genau, hielt sie aber neben einander fest, und zwar, wie Wigct hinzufügt, in allen seinen Schriften ohne wesentliches Schwanken. Die verschiedene Ausdrucksueise erklärt sich aus der Verschiedenartigkeit der Veranlassung oder des Publi- kums, an das er sich wandte, indem er z. B. Theologen oder Aristokraten gegenüber die allgemeine Menschlichkeit besonders betonte u. s. w. Das Zerwürfnis mit Niederer ist daraus zu erklären, dafs letzterer in seiner weiteren Entwickelung immermehr in die Einseitigkeit des abstrakten Menschheitsideals hineingeriet und in P., der, trotzdem er sich auch weiter entwickelte, doch nicht in diese Einseitigkeit fiel, einen dem Grundge- danken untreu Gewordenen erblicken mulste. Praktische Versuche hat P. fast nur mit Kindern der Armen und Ärmsten gemacht und den Unter- richt für die höhern Stände nur nebenbei erörtert, was er gelegentlich selbst für eine von andern noch auszufüllende Lücke erklärt. Über den Streit für die Gelehrtenschulen (Gymnasien) einerseits und für die

Realschule

anderseits findet man also bei ihm keine ausdrückliche Entscheidung.

Bei der Methodologie der intellektuellen Bildung wird besonders das

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Verhältnis zwischen Wort und Erkenntnis erörtert. Ist das Wort be- reits eine Erkenntnis? Oder noch nicht? Nach P. ist beides der Fall (s. S. 247, 258, 261 des Jahrbuchs). Er eifert gegen die Wortanalyse der Katecheten, verwirft (S. 262) die isolierten Denkübungen, läfst aber selbst ohne Absicht auf einen bestimmteu Stoff Übungen anstellen und treibt mit- unter Verbalismus. Den wirklichen Anfang wirklicher Erkenntnis bilden Empfindungen, Anschauungen, das Ende die Realdefinitionen, und bei dieser Entwickelung dient die Sprache als Mittel. Diesen Gang soll der Unter- richt als bewufste Thätigkeit befolgen. In der Kinderstube aber und überall dringen Worte an des Kindes Ohr, die es mit der dem Kinde eigenen Lebendigkeit zwar auffasft, aber doch vielfach keinen oder nicht den richtigen Erkenntnisinhalt damit verbindet. Solche Worte lordern dann zum Denken auf. Man kann sie mit Netzen oder Stäben, auch mit Saat- körnern vergleichen, und der mit Bewufstsein geleitete Unterricht greift dieses Material auf und bildet es weiter.

3) Thrändorf, Präparationen für die Behandlung der Aufklärungszeit in höheren Schulen. (Friedrich d. Gr., Rochow, Rousseau ; Holbach, französische Revolution.) Man nimmt daran Anstofs, dafs z. B. Friedrichs ethischer Standpunkt zu bestimmt schon aus einem einzigen Ansprüche deduziert wird, und fordert »intensive Vollständigkeit der Quellen« , d. h. eine zur Urteils- bildung ausreichende Zahl typischer Beispiele. Thrändorf entgegnet, er habe mit seinem kirchenpolitischen Lesebuche nur einen Anfang machen wollen und biete dem Lehrer stets noch Gelegenheit zu mündlichen Ergänzungen. Die Grenze zwischen dem Notwendigen und Entbehrlichen sei nicht in alten Schul Verhältnissen dieselbe und müsse also konkret nachgewiesen werden. So sei z. B. Luthers Toleranz nicht aus den Marburger Verhandlungen zu erkennen. Unter keinen Umständen dürfe man sich mit der blofsen Vorführung begnügen und die ethische Beur- teilung (seitens der Schüler) unterlassen, müsse aber überhaupt die Schüler an den Gedanken gewöhnen, dafs diese ethische Beurteilung sich mit bestimmten historischen Kenntnissen verbindet und eine Berichtigung oder Bereicherung unserer historischen Kenntnis einer Person auch andere ethische Beurteilung fordern kann. Man habe bei Behandlung hervorragender Personen das Erhebende, Vorbildliche stärker hervor- zuheben als das, was unsere Kritik herausfordert.

Es wurde auch gewünscht, dals auf die aus philosophischen Lehren folgende »Wahrscheinlichkeit« des Gottesglaubcns kein Wert gelegt und den religiösen Problemen völlige Selbständigkeit gelassen werde. Leider sei aber, wurde entgegnet, um die sog. »Beweise für das Dasein Gottes< nicht ganz herumzukommen, und dann sei das Ergebnis der Philosophie, dafs religiöse Ansichten zulässig, denkbar seien, nicht ganz ohne Wert.

Herrn von Rochow hielt man nicht für einen geeigneten Vertreter der deutschen Aufklärungspädagogen. Er habe durch sein hingebendes Wirken (»philanthropischer Zug«) Bedeutung für das Schulwesen erlangt,

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indem er zur Gründung von Landschulen anregte. Aber der Hauptirrtum der Philanthropen: »Zeigt dem (Menschen seine Pflichten, und er erfüllt sie tritt gerade bei Rochow nicht hervor. Jawohl , aber diese Typen behandelt die Pädagogik : Rochow lag der Kirchengeschichte nahe , weil er Erziehung als Pflicht der christlichen Gesellschaft ansieht. Aber es darf nicht Erziehung eine »Funktion der Kirche« genannt und daneben gesagt werden, dafs sie von Einzelnen ausgeübt wird. Die Aufklärungs- zeit hat vielmehr den Gedanken in den Vordergrund gerückt, jdafs Er- ziehung Sache des Staates sei, und die Philanthropen (auch Friedrich d. Gr.) wurden nicht durch christliche, sondern durch »humane« (s. oben) Gedanken zur Erziehungsthätigkeit getrieben. Es soll aber die Kirche und der Staat und der Einzelne thätig sein; die vorwiegende Thatigkeit der staatlichen Organe hat die Zucht zurückgedrängt und das examinierbare Wissen vorgeschoben. Darum ist es verständlich, dafs Liebknecht im sächsischen Landtage sagen konnte: Für Bildungszwecke bewilligen wir Alles, denn das kommt uns zu Gute. Die »Frömmigkeit« der Aufklärung war theoretisch eigentlich blofse Klugheit, und unsere Socialdemokraten sind eigentlich konsequente Aufklärer, wenn sie ihre Zwecke ohne den lieben Gott zu erreichen suchen.

Die Ausführungen über Holbach veranlassen Zweifel darüber, ob eine derartige Behandlung der schwierigsten philosophischen Probleme durch- führbar sei. Aufserdem pafsten die Formalstufen wohl kaum dazu, denn es werde in den Holbachschen Sätzen bereits Lehre vorgelegt. Hierbei findet aber eine weitere Auflassung der Formalstufen statt; vgl. z. B. die Behandlung der Bergpredigt Jahrb. XVII., S. 17 ff.

Thrändorfs Behauptung in der 10. Präparation, dafs die Revolution Rechtsverhältnisse breche, giebt Veranlassung, an Schillers Worte: »Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden« u. s. w. (Teil II, 2) zu erinnern. Die Rechtsverletzung liege oft viel mehr auf Seite der Unterdrücker. Thrändorf spricht aber nur von der französischen Revolution, die 1789 begann, und hier lassen sich zahllose und grauenvolle Rechtsverletzungen gar nicht leugnen. Andere Erhebungen sind allerdings z. T. anders zu beurteilen. Aber

»Schrecklich immer, auch in gerechter Sache, ist Gewalt«. (Schiller ebenda.)

Gesellschaft und Schule stellen sich daher mit gutem Grunde auf den Standpunkt des positiven Rechts, Revolutionen aber sind »Ereignisse«, aus denen Gesellschaft und Schule lernen sollen.

Soviel über den Inhalt der Thrändorfschen Präparationen. An der methodischen Form wurden nur geringfügige Ausstellungen gemacht.

4. Wilk, Über den Unterricht in der Algebra.

Man hält die Notwendigkeit der Algebra, von Wilk im weiteren Sinne des Wortes verstanden, nicht für genügend nachgewiesen; der reinste sittliche Charakter könne neben einem sehr kleinen Mafse mathematischen Wissens bestehen. Behufs Vervollständigung dieses Beweises könne man an mehrerlei denken. Die Pädagogik findet die Mathematik als Bildungs-

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mittel und als ein Wissensgebiet, das bestimmte Berufskreise lordern, vor und sucht nun diesen Unterricht auch in den Dienst der Erziehung zu stellen. Sie findet, dafs der Knabe oder Jüngling nirgends so wie hier lernen kann , was »Wahrheit« und »Beweis« ist, und erblickt also in dem mathematischen Unterrichte ein Mittel zur Bekämpfung des Zweifels an aller Wahrheit und zur Stärkung der Gewissenstreue. Hieraus würde aber wohl folgen, dafs man auf exakte Definitionen hinarbeiten müsse und nicht wie Wilk gegen psychologisch naheliegende Ungenauigkeiten nachsichtig sein dürfe. Man kann weiter daran denken, dafs nach den Forderungen des Kultursystems Durchdringung der Gedankenkreise, d. h. gegenseitiges Verstehen zu erstreben ist und der Wert der Wissenschaft und Wissen- schaftlichkeit auch z. B. dem Kaufmann nicht zu unbekannt sein darf. Man könnte auch voraussetzen , dafs gewisse Sachgebiete nur mit Hilfe algebraischer Kenntnisse genügend aufzufassen seien. Aber die Pädagogik soll ja nicht der Gesellschaft und der Mode blindlings folgen, und umgekehrt ist durch die möglichen sittlichen Wirkungen eines Unterrichtsfaches noch nicht dessen Notwendigkeit dargethan. So begnügte man sich mit dem Ergebnis, dafs eine erschöpfende positive Begründung für den herrschenden Betrieb der Algebra nach zu erbringen sei, fand dagegen an den spezielleren Ausführungen so gut wie nichts auszustellen.

5. Hausmann, Bemerkungen zu Wilks Arbeit im 21. Jahrbuch (die 4 Grundoperationen mit absoluten Zahlen) und

Wilk, Zusätze zu Hausmanns Bemerkungen.

Hausmann beurteilt Wilks Ausführungen blofs fachwissenschaftlich (S. 91); Wilk (S. 94) will nichts Falsches mitteilen, aber den Forderungen der psychologischen Methode folgen : Ist das ein Gegensatz (Dr. Hartmann j ? Wilk legt allerdings den Knaben Zusammenfassungen in den Mund , die fachwissenschaftlich angreifbar sind, und soweit die Debatte darauf einging, schien man zu glauben, dafs die von Hausmann gerügten Fehler sich vermeiden liefsen.

Den Ausdruck »Enthaltensein« durch »Messen« ganz zu verdrängen hält man mehrfach nicht für rätlich; »2 m in 10 m = 5 mal« sei dem kleinen Kinde leichter als »10 m : 2 m = 5 mal«. Dr. Hartmann hat aber gerade entgegengesetzte Erfahrungen gemacht , wobei allerdings Tillichs Rechen- kasten benutzt wurde.

Hinsichtlich der beiden Zahlbegrifle hielt man es für richtig, die Zahl zuerst als Summe, später (bei Wilk von der 4. Präparation an) als Koeffizient zu fassen.

Heifst »4 mal gröfser« = »5 mal so grofs« ? Nach Sanders nicht, doch entspricht es dem Sprachgesetz am besten, zu sagen: »4 mal so grofs wie«.

6. Teupser, das Rechnen im zweiten Schuljahre. (Schluss zum 21. Jahrbuche.)

Die Debatte zeigt tiefgreifende Meinungsverschiedenheit. In Erfurt schon handelte es sich um die Frage: Soll man nach kulturgeschichtlichen oder nach rein rechnerischen Gesichtspunkten fortschreiten? Denkbar wäre es, dafs ein sachlicher Stoff auch die streng Folye der Rechenfälle

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zuliefse, aber der Robinson das zeigt die Ausführung sei ein solcher Stoff nicht, und für die weiteren Stufen sei noch keiner vorgeschlagen worden. Also solle man den ersteren Gedanken gleich von unten an fallen lassen. Teupser verfolgt aber mit seiner Art psychologische Entwickelung des Zahlbcgriffes und Verwertung des Sachlichen im Rechnen. In den unteren Klassen würde die Anknüpfung an das Sachliche vorwiegen und in dem Mafse zurücktreten können , als das Rechnen seinen eigenen Stoff vermehrt. Der Robinson sei sehr reich an Anregungen, und wer die anregende Kraft dieses Stoffes kennen gelernt habe, werde dieselbe nicht ungenützt liegen lassen mögen. Trotzdem habe er (S. 60, 68) auch andere Sachen herbeigezogen. Indessen wird die Entfernung vom natürlichen Gange des Rechenstoffes« wiederholt gerügt und gezeigt, dafs schwerere (zusammengesetztere) Fälle vor leichteren (einfacheren) auftreten. Aber, meint Teupser, jeder Fall kann da auftreten, wo das Kind ihn bewältigen kann Ich will im Rechnen nicht blofs Zahl-, sondern auch Zeit-, Raum- und Wertvorstellungen er- und bearbeiten, und wenn also ein Fall nach dem rein rechnerischen Gange an einen anderen Platz gehört, so ist damit doch noch nicht nachgewiesen, dafs in Hinsicht auf alle Gesichtspunkte ein Fehlgriff gethan worden ist.

Ob die Auseinandersetzungen eine Annäherung zur Folge haben werden, hängt wohl hauptsächlich davon ab, inwieweit Einer den Andern versteht oder sich verstanden glaubt. Unserer Meinung nach sollte man für »Rechnen« einen kurzen deutschen Namen suchen, der den Gedanken es handle sich allein um Zahlvorstellungcn, unzweideutig ausschliefst. Auch Hartmanns Vorschlag , in Präparationen zuerst den Zusammenhang der Systeme sichtbar zu machen , würde den streitenden Methodikern die Arbeit abkürzen und erleichtern.

7. Hollkamm, Lehrplan für einfache (d. h. einklassige) Volks- schulen auf Grundlage des Zillerschen Lehrplansystems.

Die Arbeit enthält aufser dem Lehrplan auch Erörterungen über das Lehrverfahren und allgemein methodische Anregungen. Dr. Wiget hält die eingehende , liebevolle Behandlung der einklassigen Schule, des »Stief- kindes der Didaktik«, für sehr verdienstlich. Man könne aber fragen, ob diese Schulart überhaupt einen pädagogischen Unterricht ermögliche, und solchen Einrichtungen gegenüber sei es nicht rätlich, sofort mit allgemeinen Forderungen, mit dem »mufs« zu operieren. Viele Fragen, die man stellen möchte, liefsen sich nur durch Beobachtungen und Versuche beantworten.

Man solle also, so führt Teupser aus, der früher an einer zweiklassigen Schule thätig war, die Unterrichtsfächer in drei Gruppen zerlegen:

a) Der Stoff ist allen Stufen zu gleicher Zeit zuführbar, nur in ver- schiedener Weise und Ausdehnung: Aufsatz, Orthographie, Singen, Hand- arbeit u. a.

b) Der Stoff zeigt ein Verhältnis einzelner Teile wie a, A, A' u. s. w.: Grammatik, Naturkunde.

c) Der Stoff widersteht derartiger Zerlegung: Geschichte.

Nach diesen Gruppen läfst sich Möglichkeit und Grenze der Zusammen-

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legbarkeit der Fächer leichter Überblicken. Es bleiben aber Zweifel darüber, ob sich, wie der Verf. der Arbeit will, für jedes Unterrichtsfach ein fester Gang, den jedes Kind so durchläuft, aufstellen lassen wird; inwieweit die für den Gesinnungsunterricht eingerichteten Klassen für die anderen Fächer giltig sein können u. a. m.

Gleichmäfsige Kürzung der Formalstufen sei vielleicht nicht der beste Ausweg. An den Anschauungsoperationen dürfe man es am wenigsten fehlen lassen, und ein starkes Hervortreten der Übung bedinge die Schulart. Das Ineinandergreifen des mündlichen Unterrichts und der stillen bezw. schriftlichen Beschäftigung sei in Florins Methodik der Gesamtschule aus- führlicher dargelegt.

Der Behauptung S. 169, dafs nicht jeder Stoff nach den Formalstufen zu behandeln sei, während Herbart dies fordere, wird hinzugefügt, dafs die Herbartschen Stufen überall anzuwenden seien, die Zillerschen aber nicht, vgl. die Schrift von Gleichmann.

Damit war die Tagesordnung (oder wenigstens die Arbeitskraft der Teilnehmer) erschöpft , und die Versammlung u urde mit einem Hoch auf den Vorsitzenden geschlossen. Die rührigen Kollegen und Mitglieder aus Magdeburg u. s. w. haben durch ihre vielfältigen Bemühungen vor und während der Versammlung, aber auch durch ihre erfolgreiche Thätigkeit für den Verein Überhaupt den wärmsten Dank verdient !

Pfingsten 1892 will der Verein in Zwickau zusammenkommen.

Leipzig. F. Franke.

C. Beurteilungen.

1

Kurt Adelfels. Das Lexikon der feinen Sitte. Praktisches Hand- und Nach- schlagebuch für alle Fälle des ge- sellschaftlichen Verkehrs. Zweite verm. u. verb. Aufl. Stuttgart, Levy u. Müller. 317 S. Preis geb. 4.50 M.

Was hat wohl die Verlagsbuch- handlung bewogen, ein Buch wie das obige der Redaktion einer päda- gogischen Zeitschrift zur Bespre- chung zu übersenden ? Sollte es viel- leicht die nicht ganz zu bestreitende Thatsache sein, dafs der sog. An- stand bisweilen gegen die Pädagogik

verstöfst und die Pädagogik nicht selten den Anstand verletzt? Doch wie dem auch sei, es bestehen zwi- schen Pädagogik und guter Sitte mannigfache Beziehungen. Eine solche ist schon dadurch hergestellt, dafs das Kapitel von der Wohlan- ständigkeit unter die von der Ethik zu behandelnden Fragen gehört und die Ethik eine der Grundwissen- schaften der Pädagogik ist. Die Be- griffe Lebensklugheit und Sittlichkeit müssen von der theoretischen Ethik grundsätzlich erörtert werden. Aber auch im alltäglichen Leben der Schule kommen zahlreiche Fälle vor, in denen Anstand, guter Ton, Höf-

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lichkeit , Zuvorkommenheit u. s. w. eine Rolle spielen. Man denke an das Aufstehen der Kinder beim Ein- treten des Lehrers, an das Grüisen, an anständigen Sitz, und was den Unterricht selbst betrifft, etwa an die Äufserlichkeiten, welche der Lehrer für Abfassung eines Briefes vor- schreibt u. s. w. Das in Rede stehende Buch hat sich selbstver- ständlich, seinem Titel gemäfs, einen weiteren Zweck gesetzt, als etwa nur Vorschriften über die gute Sitte im Schulleben zu geben, es soll ja ein Nachschlagebuch für alle Fälle des gesellschaftlichen Lebens sein. Eine tiefer gehende Erörterung des Ver- hältnisses zwischen Sittlichkeit und Sitte finden wir nicht; doch äufsert sich der Verf. S VIII ff des Vor- wortes über die Aufgabe, die er sich gestellt, folgendermafsen : »Sollen die Auswüchse derSittc verhütet werden, so gilt es, den Zwiespalt zwischen Sittlichkeit und Sitte zu versöhnen, die Sitte auf das höhere Niveau der Sittlichkeit zu erheben, sie mit dem Geiste der Vernunft, des Wahren, Guten und Schönen zu durchdringen, sie in stetem Flufs zu erhalten und vor Verknöcherung zu bewahren. Es gilt, die Sitte ethisch zu adeln und andrerseits der Sittlichkeit den Stempel gesellschaftlicher Pflicht auf- zuprägen.« Dafs die Sitten nichts einbülsen, wenn sie ethisch geadelt werden, ist gewifs richtig ; ob aber die Sittlichkeit unter dem Stempel gesellschaftlicher Pflicht nicht leidet, ist eine andere Frage. Es giebt manche an sich sittliche Handlungen, die ihren Wert verlieren, wenn da- bei irgend welche Rücksichten ge- sellschaftlicher Art mafsgebend waren. Indes spricht es der Verf an vielen Stellen aus, dafs in zweifelhaften Fällen die Sittlichkeit vor der Sitte den Vorzug verdiene Um so mehr' jedoch ist man zu der Erwartung berechtigt, dafs er es vermeiden werde, Gegenstände des religiösen und des sittlichen Lebens in den Bereich seiner Betrachtungen zu ziehen. Diese Erwartung geht nun freilich nicht in Erfüllung; denn wir finden Artikel über Religion, Abend- mahl. Charakter, Humanität u. s. w.

Auch bei vorsichtigster Fassung wird es kaum zu vermeiden sein, dafs derartige Gegenstände an i hrer Würde verlieren, sobald sie vom Standpunkte der »feinen Sitte« aus betrachtet werden. Unserem Gefühle wenig- stens widerstrebt eine Belehrung, wie sie der Verf. beispielsweise über das Abendmahl giebt: »Beim Besuche des Abendmahls vermeide man auf- falligen Luxus und lebhafte Farben, erscheine vielmehr in ernster Feier- kleidung (schwarz oder doch dunkel- farbig) , der Würde der heiligen Handlung angemessen. Höchst un- ziemlich wäre es, beim Gange zur Kirche oder nach Verlassen derselben zu scherzen, zu rauchen und dergl., was die Beteiligung an dem gottes- dienstlichen Akt als blofse Formali- tät erscheinen liefse.« Bei vielen Artikeln ist jedoch rückhaltlos anzu- erkennen, dafs der Verf. nahe liegende Klippen glücklich umschifft hat. Er geifsclt die Auswüchse der Mode, das Phr isentum der Gesell- schaft, die Eitelkeit, die Ziererei, die Neugier u. a., ohne dabei in die Rolle eines lästigen Sittenrichters zu verfallen. Bezeichnend sind seine Äusserungen über die Notlüge in den Artikeln »Aufrichtigkeit« und »Lüge«. Er sagt S. 20: »Ls giebt Fälle, wo, um die Betreffenden nicht zu ver- letzen, eine Notlüge entschuldbar ist, so z. B. wenn uns ein Kranker fragt, was wir von seinem Zustand halten, oder wenn Eltern ein günstiges Urteil über das Aussehen ihrer Lieblinge provozieren. Wahrhaft sittlichen Naturen ist aber jede Lüge verhafst, und sie entschließen sich zu solchen Notlügen nur mit innerem Wider- streben und mit dem Bewufstsein, dafs ein Ausnahmefall vorliegt.« Schließlich sei noch auf einige Artikel hingewiesen , die sich mit pädagogischen Fragen näher be- rühren. Sehr verständig klingt der Artikel über > Lektüre«. In ihm wird unter anderem jeder Familie em- pfohlen, »allabendlich eine Lesestunde festzusetzen und über das Gelesene eingehend zu diskutieren.« Für die belletristische Lektüre ist dabei ver- wiesen auf Normann, Perlen der Weltliteratur. Als Familienbuch

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dürfte sich wohl Hottingers »Die Welt in Wort und Bild« geeigneter er- weisen Ein kräftiges Wörtlein gegen das Lesen von Schundromanen hätte hierbei nichts schaden können Nicht weniger als zwölf Seiten nimmt «1er Artikel »Briefe ein. Hier ist ganz geschickt alles zusammengestellt, was beim Briefschreiben zu beobachten ist. Für manche Lehrer dürfte es nicht überflüssig sein, sich diesen Artikel einzuprägen und bei Gelegen- heit in der Schule davon Anwendung zu machen. Denn dafs man mit- unter, selbst von sonst nicht unge- bildeten Personen, Briefe erhält, die in ihrem Äufseren wenig von feiner Sitte verraten, ist doch darauf zurück- zuführen , dafs den Betreffenden während ihrer Schulzeit keine dies- bezüglichen Belehrungen zuteil ge- worden sind. Im grotsen ganzen ge- hört das Buch jedenfalls zu den besseren seiner Art. Einen guten Eindruck machen auch die vielen treffenden und geschickt angebrachten Citate sowie die äufsere Ausstattung.

Eisenach.

Dr. A. Bliedner. II.

Wartenberg, Lehrbuch der lateini- schen Sprache als Vorschule der Lektüre. Kursus der Sexta. Han- nover, Norddeutsche Verlagsanstalt. Für den Verfasser der vorliegen- den Arbeit war laut Vorwort vor allem die Erwägung mafsgebend, dals der ersten Schullektüre energisch vorgearbeitet werden müsse und dafs deshalb der zu verwendende Übungs- stoff nichts enthalten dürfe, was nicht bei jener sofort Verwendung findet. Diesem richtigen Grundsatz zufolge ist der gesamte Wortschatz dieses Übungsbuches gestaltet worden. In erster Linie haben denselben die gelesensten Lebensbeschreibungen des Cornelius Nepos geliefert ; bilden doch diese mit gutem Rechte den Gegenstand der ersten Lektüre. Da- her fallen einerseits viele Wörter und Formen weg, die in anderen Übungsbüchern noch immer aufge- führt zu werden pflegen, obwohl sie nie oder doch erst sehr spät vor-

kommen; andrerseits wird dadurch die Schwierigkeit, welche die erste Lektüre bereitet, bedeutend ver- ringert.

Die mit diesem Wortschatze ge- bildeten Übersetzungsbeispiele haben alle und das verdient be- sondere Anerkennung einen wirk- lichen, den jugendlichen Geist an- sprechenden Inhalt. Nichtssagende und thörichte Sätze, wie ich sie kürzlich an einem anderen Orte zu rügen hatte, findet man in dem vor- liegenden Übungsbuche nicht. Doch hätten die Einzclsätze mit leichter Mühe um einen gemeinsamen Mittel- punkt gruppiert werden können, wie das auch Seite 49 f., 80 ff. und bei sämtlichen deutschen Übungsbei- spielen mit viel Geschick und Glück versucht worden ist. Denn dafs über dem Sezieren der logische Zusammen- hang verloren geht und dafs eine amüsante Erzählung den Schüler zur Unachtsamkeit verleitet, ist eine arge Übertreibung.

Was nun den grammatischen Lehrstoff betrifft, so sollte vom Leichten zum Schweren vorge- schritten werden ohne Rücksicht auf das allerdings nebensächliche Nume- rieren der Deklinationen und Konju- gationen. Wenn der Verfasser die vierte Konjugation vor der dritten bespricht und das Präsens der zweiten vor dem der ersten, um nicht den Schüler durch die Un- regelmäfsigkeit in der 1. sing. ind. und im ganzen coni. gleich beim Beginne zu beunruhigen : so wird ihm daraus niemand einen Vorwurf machen im Gegenteil. Dafs er aber Deklination und Konjugation stückweise bunt durch einander würfelt, das kann nicht entschieden genug getadelt werden. Die gram- matische Anlage des Buches ist ganz und gar verfehlt und bedarf sorg- fältiger Umarbeitung. Wie die zer- rissene Darstellung den Beifall an- gesehener Schulmänner hat finden können, ist mir unbegreiflich. Die erste Anforderung an ein Schulbuch ist Klarheit und Übersichtlichkeit; sonst entsteht in den jugendlichen Köpfen eine heillose Verwirrung, die nie wieder gut zu machen ist. Einen

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Einblick in den Bau des Verbums wird der Schüler bei dieser Dar- stellung nun und nimmermehr ge- winnen. Die nötige Klarheit und Übersichtlichkeit vermisse ich auch bei der Darbietung der dritten Dekli- nation, deren Umfang dem Sextaner schon an und für sich grofse Schwie- rigkeiten bereitet. Hier hätte das Unregclmäfsige von dem Regel - mäfsigen streng geschieden und dem Pensum der Quinta zugewiesen wer- den sollen Auch davon, dafs die gewählte Fassung der Geschlechts- regeln nach dem Stammauslaut besser und praktischer wäre als die alte, hat mich der Verfasser nicht zu überzeugen vermocht.

Die beigegebene Entwicklung der Sprachformen soll aufser dem Gedächtnis den Verstand schulen und durch Erkenntnis der Formen- bildung das Lernen erleichtem. Da- rum ist der Verfasser in der Angabe von Erläuterungen auch in Bezug auf das Deutsche, besonders da, wo die gebräuchlichsten lateinischen und deutschen Grammatiken seiner An- sicht nach zu wenig bieten, weiter-

gegangen als es sonst üblich ist. »ie Vorteile einer solchen Methode springen in die Augen. Es mufs je- doch dem Ermessen des Lehrers anheimgestellt bleiben, wie weit er hier zu gehen gedenkt. Ich kann z. B nicht finden, dafs das Verstehen und Lernen dem Schüler erleichtert würde, wenn er [*]»un»i «[»!•• «»^t,

pon[i>, re|K«]x, celeber u. a> m> jn seinem

Buche gedruckt findet. Auch die sonstigen Richtlinien, die dem Lehrer gegeben werden: die Übungen im Deklinieren und Konjugieren, in der Veränderung der Person, des Nume- rus, des genus verbi; die Fragen im Anschlufs an das gelesene Stück u. ä. sollten gestrichen werden, wenn anders der Lehrer nicht nebensäch- lich, ja überflüssig erscheinen soll.

Der Anhang auf Seite 85 ff. handelt zunächst vom Geschlecht der Hauptwörter und bringt dann die Paradigmata der Numeralia und der Pronomina, während alle anderen Musterbeispiele samt den dazu ge- hörigen Vokabeln den einzelnen

Übungssätzen voraufgedruckt sind. Sollte es sich nicht empfehlen, Grammatik, Vokabular und Uebungs- beispiele von einander zu trennen? Unter einem Einband können sie ja trotzdem bleiben.

Auf Seite 91 ff. findet sich ein lateinisch-deutsches und ein deutsch- lateinisches Wörterverzeichnis. Das erste re ist nach den Wortarten geordnet und beginnt mit den Sub- stantiven, deren Geschlecht jedoch nicht mit angegeben ist; darauf folgen der Reihe nach die Eigen- namen ; die Adjektiva, einschliefslich der als Substantiva gebrauchten; die Verba, bei denen aut die Seite oder den Paragraphen verwiesen wird, wo das a verbo steht; schliefs- lich die nebenordnenden und unter- ordnenden Konjunktionen. Das Ver- zeichnis der Pronomina findet sich Seite 65 ff und 90 f; das der Ad- verbia auf S. 72 ff. Man sieht, die Benutzung eines solchen Verzeich- nisses ist für den armen Sextaner sehr umständlich und zeitraubend. Das deutsch-lateinische Wörterver- zeichnis ist zum Glück nicht nach diesen Unterabteilungen angelegt worden.

Druck und Ausstattung ist sehr gut.

Annaberg. Ernst Haupt. III.

Gust. Frdch. Pfisterer, f Seminarrektor in Efslingen, Pädagogische Psycho- logie. Ein Versuch. 2. Aufl. Güters- loh, C. Bertelsmann 1889. VII, 340 S. 8. Pr. 6 M.

Das Verhältnis zwischen Pädago- gik und Psychologie ist in den letz- ten Dezennien so häufig erörtert worden , dafs man meinen sollte, über den Dienst, den die letztere der ersteren zu leisten habe, und dem- entsprechend über die systematische Behandlung derselben vom pädago- gischen Gesichtspunkte aus, vor allem aber über die Tragweite und das für die Praxis zu wünschende Maafs psychologischer Bildung herrsche völlige Klarheit und in gewissem Sinne Einigkeit. Die fundamentale Bedeutung psychologischer Unter-

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suchungen für die Pädagogik wird zwar heute nicht mehr ernstlich be- stritten werden. Auch ist zur Zeit die psychologische Bildung der Leh- renden und Erziehenden verbreiteter und im allgemeinen auch umfassen- den als ehedem. Gleichwohl ist der dermalige Zustand der Psychologie als pädagogischer Hilfswissenschaft ein wenig erfreulicher. Die frische, fröhliche Begeisterung der Hcrbart- schen Schule, die im Sinne ihres grofsen Meisters am Ausbau des Systems und an der praktischen Verwertung der Resultate erfolgreich arbeitete, wurde nicht überall ver- standen und gewürdigt. Anstatt ihre Anregungen dankbar aufzunehmen und, mit kritischer Besonnenheit an der Fortführung der begonnenen wissenschaftlichen Untersuchungen sich zu beteiligen, liebte man es, sich in behaglicher Weise auf dem unfruchtbaren Boden pädagogischer Gemeinplätze hcrumzutummeln, oder, statt das System auf seine innere Folgerichtigkeit, auf seine Haltbar- keit gegenüber den physiologischen Errungenschaften der Neuzeit zu prüfen, es mit den einem fremden System entnommenen Waffen zu be- kämpfen. In beiden Fällen war das Verfahren höchst unkritisch, und es ist befremdlich, dafs die heftigsten, nicht immer sachlichen Angriffe ge- rade von der Seite kamen, von der eher Anerkennung und Dank für den Versuch, Erziehungslehre und -geschäft psychologisch zu fundieren, zu erwarten gewesen wäre. Man verlor sich in zumteil nutzlose Strei- tigkeiten über (vom Standpunkte der Pädagogik aus) untergeordnete Punkte. Man warf den Herbartianern dogmatische Befangenheit und Starr- heit vor und vergafs ganz, dafs ge- rade die hervorragendsten Vertreter die Fortbildungsbedürftigkeit der Psychologie betont haben.

So entstand einesteils in den Reihen der Pädagogen ein skepti- scher Zug gegenüber psychologischer Erwägungen, der sich in der Praxis vielfach recht deutlich erkennen läfst und oft auf die unangenehmste Weise sich fühlbar macht, andernteils aber das Bestreben, das Hcrbartsche

System durch Entgegensetzung eines andern Systems oder durch Eruierung der psychologisch - pädagogischen Grundgedanken aus dem Zusammen- hange eines andern philosophischen Lehrgebäudes zu verdrängen.

Dabei mehren sich die Versuche, die Resultate der Forschung mit voll- ständiger Preisgebung ihres wissen- schaftlichen Charakters zu populari- sieren. Gegen solches Unterfangen kann jedoch nicht energisch genug protestiert werden, und es wäre hier eine im ganzen wachsamere Kritik am Platze.

Was speziell den Stand der bis- herigen Versuche einer »pädagogi- schen Psychologie« anlangt, so hat uns E. die Auffassung derselben als einer rein praktischen Lehre, als einer angewandten Psychologie im Gegensatze zur reinen, theoretischen Psychologie eine Verschiebung und falsche Beurteilung des Grundver- hältnisses zwischen Psychologie und Pädagogik hervorgerufen. Man dachte sich vielfach das Verhältnis so, dafs eine pädagogische Psychologie schlechterdings nichts anderes sei als die Summe der praktischen Kon- sequenzen aus einer so oder so ge- arteten Psychologie, ob nun dieselben in kurzen Imperativen oder sogen. Grundsätzen oder in redseliger Breite nach Art einer wässerigen Popular- philosophie oder wissenschaftlich be- hutsam als Richtlinien vorgetragen werden. Indem man sich so an wissenschaftliche Resultate anlehnt, wird zwar dem Psychologisieren auf eigene Faust der Boden entzogen, aber über dem Hineilen zu päda- gogisch-praktischen Forderungen, wird meistens die tiefere wissen- schaftliche Begründung versäumt und damit der wichtigste Zweck psychologischer Belehrung aufser- achtgelassen. Letzterer kann nie in Mitteilung von blofsen Resultaten in kompendiarischer Vollständigkeit, sondern nur darin bestehen, dafs der »psychologische Blick« geschärft werde, dafs der Erzieher psycho- logisch denken lerne. Darnach wird die Zweckdienlichkeit der meisten bis jetzt bestehenden sogen päda-

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gogischen Psychologien in Frage ge- stellt werden müssen.

Auszunehmen hiervon sind einzelne Monographien, z. B. Dörpfeld, Lange. Es scheint fast, als könne die Psycho- logie unter pädagogischem Gesichts- punkt zur Zeit eine systematische Behandlung nicht ertragen, als ver- liere sie durch das Medium des päda- gogischen Denkens etwas von ihrer Elastizität und ihrer erhellenden Kralt. Wenigstens verträgt sich schwerlich die nicht immer zu vermeidende Dogmatisierung und die Zurück- führung auf knappe, für den Prak- tiker gewöhnlichen Schlags brauch- bare Formeln mit der feinen , von den verschiedensten Faktoren ab- hängigen und demnach nur der ge- wandtesten Analyse erkennbaren Struktur des vielgestaltigen Geistes- lebens. Die Psychologie unter- scheidet sich eben dadurch von anderen Wissenschaften, die der praktischen Verwertung bequemere Handhaben bieten. Man mufs sich weiter daran erinnern, dafs der Päda- goge ein Künstler sein mufs und dafs der Künstler immer nur aus einem grofsen , leicht beweglichen Ge- dankenkreise heraus schafft. In diesem Znsammenhange sei eines Ausspruches von H. Cohen, dessen Anwendung auf die soeben berührte Frage nahe liegt, gedacht: »Die Psychologie mufs überall die je schweigsamere, desto treuere Be- gleiterin wie des ästhetischen Schaffens, so der ästhetischen Rechtfertigung sein.«

Aus diesen Gründen sind gegen- wärtig psychologische Monographien, welche »an einem interessanten psy- chologischen Hauptstücke zeigen, wie den Begriffen und Gesetzen derSeelen- lehre die fruchtbarste Anwendung auf pädagogischem Gebiete gesichert werden könne«*), wünschenswerter und als Bausteine zu einer den päda- gogischen Bedürfnissen entspre- chende Psychologie ungleich wich- tiger als systematische Darstellungen des ganzen Gebietes. Die Forde- rung Drobisch's nach psycholo-

Lange, Über Apperzeption. Vorw. «. 1 Aufl.

gischen Monographien, die er vom fachwissenschaftlichen Standpunkte aus stellte, gilt daher nicht weniger auch für die pädagogischen Zwecke.*)

Aber noch von einer anderen Seite her mufs die Psychologie für die Päda- gogik fruchtbar gemacht werden. Soll sie nicht einblofserZierrat.ein unnützer Apparat, ein Schattenspiel mit mehr oder weniger rückständigen Begriffen sein, so mufs auch die Forderung Magers*** erfüllt werden. Er verlangt als Grundlage, nicht als blofse Propä- deutik derPädagogik einePsychologie, die den Geist als Entwickelung fasse, die es mit der zeitlichen, empirischen, von tausend Umständen und Äufser- lichkeiten bedingten Entwickelung des Menschen zu thun habe. »DerPäda- gogc braucht eine pädagogische Psy- chologie nach genetischer, nicht nach dialektischer Methode, und diese ist nicht etwa nur Grundlage, sondern integrierender Teil seiner Wissen- schaft.« Hierzu sind bereits wichtige Vorarbeiten gemacht: Kinderbilder, psychologische Beobachtungen an Schülern , Tagebücher u. dgl. sind in verschiedenen Zeitschriften zer- streut. Desgleichen sind die gehalt- vollen , psychologischen Briefe« von Th. Vogt in den ersten Jahrgängen der »Dtsch Bl. f. erz Unterr.« zu erwähnen; auch Bahnsens »Charak- terologie« u a. Schriften verdienen volle Würdigung. So läuft eine Reihe von Versuchen auf die Be- gründung einer deskriptiven, der thatsächlichen Entwicklung Rech- nung tragenden Psychologie hinaus. Diese mufste als »empirische Psycho- logie von der »reinen« , philosophi- schen unterschieden werden , wie dies auch, freilich von anderen Vor- aussetzungen aus, Paul Natorp in seiner »Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode«***) ge- than hat.

Gehen wir nun nach diesen einlei- tenden Bemerkungen zurBesprechung des vorliegenden Buches über. Das- felbc ist ein unveränderter Abdruck der 1880 erschienenen 1. Auflage.

*) Empirifche Psychologie, Vorwort. •♦) Die deutsche BUxpertchule, Aug. ron Ehr- hardt png. 5 f

••*) Frelburg I. B. 1888.

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In dem richtigen Gefühle von der Schwierigkeit und Unzulänglichkeit des Unternehmens nannte es der nunmehr verstorbene Verfasser »einen Versuch«. Er war weniger dazu bestimmt , »unmittelbar dem Unterrichte zu Grunde gelegt zu werden« , als vielmehr zum Selbst- studium und zur ausführlicheren Be- gründung der gleichzeitig erschie- nenen »Grundlinien der pädago- gischen Psychologie« , eines Leit- fadens zunächst für den Gebrauch in Schullehrerseminaren.

Der Verfasser erkennt die viel- fache Forderung, welche die Päda- gogik der Herbart'schen und Beneke- schen Psychologie verdankt, bereit- willig an, sieht sich jedoch aufser- stande, einfach von dem einen oder dem anderen Systeme auszugehen, da ihm dieselben durch die neueste Psychologie, welche an die Namen Lotze, Ulrici, I. H. Fichte, Wundt, Trendelenburg, Sig- wart, Lazarus, Horwicz und andere geknüpft sei, in ganz wesent- lichen Punkten Überholt zu sein scheinen. Namentlich hebt er in der Vorrede hervor, dals nach- herbartsche und nachbenekesche Psychologie (und Erkcnntnislehre) für eine Lösung der pädagogischen Fragen geeigneter sei als die Psycho- logie (und Erkenntnislehre) Herbart's und Beneke's. Den Beweis hierfür bleibt er uns freilich schuldig. Ihm ist die pädagogische Psychologie nichts anderes als eine angewandte Psychologie im Unterschiede von den reinen, wissenschaftlichen. Da es aber , wie der Verfasser unter Berufung auf ein Wort Rümelins (Reden und Aufsätze, S. 177) anführt, bis jetzt noch keine allgemein aner- kannte wissenschaftliche Psychologie gebe, so sei dadurch die Arbeit der pädagogischen Psychologie in hohem Grade erschwert Daher hält es der Verfasser für geraten, seinen eigent- lichen pädagogisch- psychologischen Ausführungen eine summarische Skizze seiner psychologischen Grund- anschauung vorauszuschicken. Die- selbe umfafst (mit den Anmerkungen und Citaten) nahezu 30 Seiten und ist, den Systemen von H. Lotze,

I. II. Fichte und H. Ulrici am nächsten stehend, im ganzen eklektisch. In der Vorrede heifst es sogar: »So durfte ich nicht nur, sondern ich mufste eklektisch verfahren, indem ich geflissentlich aus den verschie- denen Schriften nur das nahm und aushob, was zu meiner eigenen Dar- stellung pafste und worin die ver- schiedenen Schriftsteller in der Hauptsache einig sind.« So trägt diese Arbeit einen fast kompilato- rischen Charakter. Die Citate machten nahezu die Hälfte des ganzen Buches aus; hätten sie denselben gröfseren Druck wie der Haupttext, so würde sich sogar das Verhältnis zwischen den ersteren und dem letzteren wie 3 zu 2 stellen.

Zu des Verfassers psychologischen Grundanschauungen im einzelnen in diesem Zusammenhange Stellung zu nehmen, halten wir für überflüssig. Wir bemerken nur, dafs er sich un- umwunden zu den althergebrachten Unterscheidung der sog. drei Seelen- vermögen (oder der formalen Triebe des Erkennens, Fühlens und Wollens) bekennt. Es ist ihm nicht unbewufst, »wie abschätzig gerade diese psycho- logische Überlieferung heutzutage von vielen behandelt wird.« Er fährt dann fort: »Wir glauben aber, dafs wie überall so auch hier der Mifs- brauch einer Sache die Sache selbst nicht authebi. Es ist ja gewifs eine grofse Verkehrtheit, wenn man, wie allerdings nicht selten geschah, die drei Seelenvermögen als drei in sich abgeschlossene und ganz äufserlich neben einander liegende Kammern und Abteilungen der Seele ansieht und behandelt; aber nicht minder verkehrt ist doch auch der Herbart- Beneke'sche Versuch, das ganze Seelenleben auf die Vorstellungs- thätigkeit zurückzuführen und somit auch das Fühlen und Wollen nur als eine eigentümliche Gestaltung und Abänderung des Vorstellens zu bezeichnen. Erkennen, Fühlen undWollen sind vielmehr drei wesentlich und ursprünglich verschiedenen Arten des Ver- haltens der Seele zu dem ihr gegebene Inhalt, von welchen sich keine auf die andere zurück-

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(Uhren oder aus ihr ableiten läfst. Sie hängen freilich aufs engste unter sich zusammen , so dafs Iceine für sich allein und losgetrennt von den andern wirksam werden kann und darf, vielmehr so oft eine einzelne von ihnen in Wirksamkeit tritt, mehr oder weniger deutlich auch die beiden andern alsGrund oderFolge mitklingen und begleitend nebenhergehen.«

Schon aus diesen Andeutungen kann man ersehen, dafs Pfisterers Grund- anschauungen teilweise von höchst fragwürdiger Art sind. Dagegen verdient volle Anerkennung, dafs er das Wesentliche der pädagogischen Psychologie, den genetischen Ge- sichtspunkt, klar erfafst hat und dafs er ihr als eine Hauptaufgabe zuweifst, »die allmähliche, zeitliche Ent- wicklung und Entfaltung des kindlichen Seelenlebens zu be- leuchten.« Zur Erreichung dieses Zieles stehen nach den Darlegungen des Verfassers zwei Wege offen: i) Die sachlich- begriflüche Anordnung der gewöhnlichen Psychologie« wird bei- behalten und innerhalb der einzelnen psychologischen Erscheinungen ihr Werden verfolgt. 2) Oder es läfct sich, >eine sozusagen biographisch- chronologische An ordnung« zu- grundelegen. Der Verfasser entschei- det sich für die letztere und unter- scheidet demgemäfs die drei Haupt- stufen des Säuglingsalters, des Kindesatters und des schul- pflichtigen Knaben- und Mäd- chenalters. Er mufs zwar gestehen, dafs diese letztere Art der Behand- lung vielleicht weniger wissenschaft- lich sei, als die erstere, aber weil sie praktischer sei und sich mehr der un-

mittelbaren Wirklichkeit anschliefse, zieht er sie vor. Eine solche Behand- lung aber scheint uns didaktisch un- fruchtbar zu sein, weil auf diese Weise die psychologischen Erscheinungen nicht in ihrer Totalität erkannt werden können, indem sie zu verschiedenen Malen und dann nicht immer in der wünschenswerten Einfachheit und Deutlichkeit auftreten. Sie setzt ein nicht geringes Mafs psychologischer Bildung voraus. Nur unter einer Bedingung könnten wir daher das Verfahren des Verfassers billigen: unter der nämlich, dafs diese Be- handlung nicht den Anfang psycho- logischer Unterweisung der künftigen Erzieher, sondern den Schlufsstein bilde. Was Herbart von der Päda- gogik überhaupt sagt*), gilt nicht zum wenigsten auch von der päda- gogischen Psychologie.

Unser Gesamturteil über das vor- liegende Buch lautet: Mit grofsem Fleifs und mit Gründlichkeit ist hier der Versuch gemacht, in der päda- gogischen Psychologie dem gene- tischen Gesichtspunkt Rechnung zu tragen. Schon aus diesem Grunde allein kann niemand, der es künftig- hin unternimmt, eine den pädago- gischen Bedürfnissen dienende Psy- chologie zu schreiben, an diesem »Versuche« vorübergehen, so un- vollkommen derselbe auch ist, so problematisch die Grundanschau- ungen, so verfehlt Darstellung und Anordnung auch sind.

Ludwigshafen a. Rh.

H. J. Eisenhofen

•) Umritt pld. Vorl., g 7.

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flrrlag nou ßltnl ft ftormmrrrr ipaul dl}, fiacmmfrrr) in Dice&n..

3abrgang 1884.

«eft I. dorn, Reftor in Crfoq, bie Diatüfmaht in ben &rprerbitbung«anftatren II. Hilf ig, ein neuer ©erfucb, bie Uabagogtl aU SBiffenfdjaft ju populartfieren ,, in. Dr. 6. ftubinftein. Ob« 8a§aru« w8eben ber Seele." 2 « «itfrl «rapararionen

auf ber matbrmatifdu'n (»eograpbte B IV. Dr. 3ufx, §ur (Sinfttprung in &iOex* «tpit.

3aprgang 1886.

«<f I. «. «rab«, ©emertungen »u bem *uffa»e be« Semtnarleprer« Sdinron, ttoburg, „Ter erfte ReUgion«unterrwpt." n. Dr «. «opfert, Rechtfertigung einiger pabagogifcprr «ebanten Siliert, iv HI. l.fcerb üeuj, Swet päbagogifcbe Uftngftoerfammlungen. *. I>r. Karl 3uh. tie «eneraloer

fammlung be* ©rretn« für n>iffenfd,a»tlidie «abagogtt *u Wingften 1885 in «aar a. S. . IV. i. Dr. SB. »ein, ©emerhingen *u ber Sdjrift be« «mn «. » SaQroürt : »anbei unb «Banbel ber päbag. SAule «erbart«. 2. ipeob. «ogt, »r bte Witgliebrt be« «erein* für

roiffenf*oftI. fdbagoail. 8. Dr. Schweiber.

^abrgang 1886

«eft I l. S. ßefcpfe, Sie etpifd>e unb äftpettfcpe ©ebeutung be* Junten*. 2. Dr ©liebner, (£. ©. St oq unb ba« pabagogifcpe Untoerfttättfcminar. . II. Dr Rafcer, Sie TOetbobe epnfri.

m VL L $t«f. Dr. Wenge, Ste ttnfange be« aatetn*Unterti<qt« in Sejtc. 2. ttbr Ufer,

Uber bie SJeitung »on fconferenjen be« ßrprrrtollegtum« . IV. «. i 1 1 1 n e r . >Jeip*tg. Düte«' ftxitif ber «erbarrfdjen

3abrgang 1887.

«e|t L «. »rab«, ©ermag ber Religionsunterricht ber beiben erflen Sdmliabre eine Okunblage für bie fittlicb-retigtöfe ©Übung mi bieten? , II. ©rof. Dr. Stenge, ber beutle 4inbeit«id,ulBetein. ©runo Waennel. über ben afioci- ierrnben Qbaraftrr ber (trbtunbe. «eft iii O. (Jifenatb, Uber bürftttlrn&m Untern djr

IV. Dr. «ollenbad>, ber RedKnumerritnt im erfren Scbuljarjc

3aprgang 1888.

«eft L Sr. W üllcr, domeniu«, ein Softematifer in ber UJdbagogif. II. ©rof. Sr. fB. «ein, ffleftmtitPgsunterriiljt unb aulturgefcpicbte.

III. Dr. R. Staube, ftrittfdie ©emerfungen §u ben «auptpunften ber o. Saüroürf'jdien Sdjrift

„»efinnung«unterridit unb Hulturgefdncpte." IV. «. «. «ofmann, «offen, ber Religionsunterricht in gealieberten Sdrolen na« ben 8

3aprgang 188».

«eft I. l. «. flfrab«, Sur Üeb>planibeorie mit ©e&iequng auf bie ©olMftqule I. 2 Uro f. Dr. SB. Rein, Sin neu«;« Semtnarbutb n. Üb ol f ttube, B»c tBunbtfdjen apper.vptiou«lebre.

III. 9. $idel, Rod) einmal ba« fBeimariftbe Seminarbud).

IV. «. «olle.«obeneid»e, Sie eelbftfinbigteit ber Sdjule inmitten oon Staat unb Ätrdje.

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3abrgang 1890.

«eft I. «. »rab«, ftttti! einiger «orfdjlage »ur Bebtplanreform.

I. b. »rab«, fttiti! einiger «orfdjlage II Kbolf »übe flur «pperjeption. m «buarb b. «artmann, Sann ber

ber ©effimiimu« erjtebltdj mirfen V IV. 1. Dr. «. ®'ilie, «erbärt» drjiebung^icl auf feinen oericpiebenen «rninn<flung«uufeu. 2. ffl. SJomberg, ®aa)red»nen.

CUbrgang 1891.

«eft I. 1. »rof. Dr. Sä. Rein, Rembranbt als drjieber. 2. «. CuiHöerfl. Sadjredjncn. ». «. ©rofec, Sr. «BUb. ßinbner ein «orlaufrr bet ftulturftufenibee. II. 1. «. Cornberg, Sadjredinen. 2. «. «rofje, gr. «äilp. Siinbner ein «orldufer Der ftulturftufenibee.

UI. St. »oben ft ein, 3um „Sbftem" im 0Md)icbt4unteridJt.

,. IV. Seminarbircft or Dr. R. Staube, .']nr «nroeubung bor J^ormalftufen im Reliaton*«

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Neu eingegangene Schriften.

Lehr- und Lernmittel-Magazin. Graz.

Zimmermann, Handbuch für den Anschauungs-Unt. u. die Heimatskunde.

Brannschweig, Bruhn. Schumann-Heinze, Leitfaden der preuss. Geschichte. Hannover, Mever. Kaeller, Wesen und Bedeutung der nationalen Bildung Ebendaselbst. Gruner, Die gewerbl. Buchführung. Stuttgart, Bonz u. Co. Müller, Latein. Lehr- u. Übungsbuch für Sexta. Altenburg, Pierer. Fecht. Griechisches Übungsbuch für Obertertia. Freiburg, Herder. Albert, Liederbuch für Schule. Altenburg, Bonde.

Heehsenberg, Wie gewinnt die Schule Einflusn auf die Gestaltung des Lebens

ihrer Schüler. Gütersloh, Bertelsmann. Sprockhoff, Schulnaturge.schichte. Hannover, Meyer. Twiehausen, Naturlehre. Halle, Schroedel. Meyer, Neue Bahnen. Gotha, Behrend. Sachse, Des Lehrers Rüstzeug. Leipzig, Hesse. Patuschka, 176 sozialpol. Rechenaufgaben.' Gotha. Behrend. Mittenzwey, Die Darstellungsformen im Rechnen. Ebendaselbst Dietrich. Fibel. Braunschweig, Bruhn. Vogel, Die Mittelschule. Gütersloh. Bertelsmann. Lohberg. Kaiser-Anekdoten. Züllichau, Liebich. Dörpfeld, Ev. Schulblatt. Gütersloh, Bertelsmann. Richter, Neudrucke. 3. u. 4. Leipzig, Richter. Zopf, Natur- u. Erdkunde. Breslau, Kern. Revista de Instruction primaria. Santiago de Chile. Medlcus, III. Prlanzenbuch. Kaiserslautern, Gotthold. Sinnarz, 8 Tage aus dem Lehrerleben. Minden. Marowsky. Römpler, Die Form des Unterrichts. Plauen, Kell.

Matthaei, Das bewusste Sehen in der Schule. Giessen, Riedersche Buchh. Linde, Die Muttersprache im Elementarunterricht. Leipzig, Klinkhardt. Wesendonck, Über die neueste, freie religiöse Bewegung. Leipzig, MaxSpohr. Heinrich, Die religiöse Frage. Leipzig, Max Spohr. Die Religion der kommenden Zeit. Leipzig, Max Spohr. Umhoefer-Ktintz, Fibel nebst Begleitwort. Halle, Heynemann. Kuntz, Normalwort etc. Halle, Ebendaselbst.

Lehmann, Vorlesungen über Hülfsmittel und Methode des geogr. Unter- richts. 7. Heft. Halle, Tausch u. Grosse. Siegert, Die Periodizität in d. Entwickig. der Kindesnatur. Leipz, Voigtländer. Butler, Educational Review. June 1891. New-York. Boletin da ensenanza primaria. Montevideo.

Pünjer, Lehr- und Lernbuch der franz. Sprache. II. Hannover, Prior.

Scherer, Welche Anforderungen stellt unsere Zeit an die Organi- sation der Volksschule. Bielefeld, Anders. Grundscheid, Das Schulwesen Englands. Meyer-Markau, Was uns eint.

J. Bona-Meyer, Temperament und Temperamentsbehandlung. Wald, Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung. Bielefeld, Anders. Anastasius Vorwärt«, Grundpfeiler für moderne Schulreform. Linz 1891. Jäger, Der Schwahenlandsturm zur Berliner Schulreform. Ludwigeburg,

Eichhorn.

Willmann. Die soziale Aufgabe der höh Schulen. Brannschw., Viehweg. Cyrlax, Über Erziehung. Leipzig, Mutze.

Räther, Theorie u. Praxis d. Rechnungsunterrichts. Breslau, Morgenstern.

Deutschmann, Deutsche Eigenart etc. Hannover, Meyer.

Müller. Unterrichtsbriefe zur Erlernung der Gabelsbergschen Stenographie.

Barmen, Wendt. Fornelli, l'adattamento nell' educazione. Bologna, 1891. Schweizerische pädag. Zeitschrift. Zürich, Orell Fttasli.

Druck voii G. PSt«, Naumburg *. 3.

-

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Pädagogische Studien

Neue Folge

Herausgegeben von

Dr W. Rein

Profestor an der Universität zu Jena

XIII Jahrgang

***** W\1AAA

Dresden

Verlag von Bleyl & Kaemmerer (Paul Th. Kaemmerer) 1802

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Inhaltsverzeichnis

des XIII. Jahrganges (1892).

A. Abhandlungen.

1. Fritz Lehmensick, Der Lese-Unterricht auf der Oberstufe der einfachen Volksschule nach Ziel und Methode ....

8. F. W. D. Krause, Der Pessimismus £. v. Hartmanns und die moderne Pädagogik

3. M- Ftok, Zur Beurteilung des Langeschen Buches über

Apperzeption

Dr. K. Lange, Erwiderung

4. Dr. Karl Ernet, Theorie und Praxis im pädagogischen Seminar

B. Mitteilungen.

1. Dr. Thrändorf, Religionsunterricht und Sozialdemokratie. P. Zillig, Die zweite Jahresversammlung der Vereinigung von Freunden der Pädagogik Herbart-Zillers in Unter- franken. H. Chili, Das Privatschulwesen in Preufsen.

H. Chili, Die Preufsische Schuljugend mit fremder Familiensprache, namentlich der polnischen ....

a. Prof. Dr. H. Steinthal, Der Philosoph Johann Friedrich Her- bart. — Über den Beginn des Schuljahres. Eine neue amerikanisch-pädagogische Zeitschrift. Leibesübungen und Turnspiele in alter und neuer Zeit. III. Haupt- versammlung der Freunde Herbartscher Pädagogik aus Schlesien und Posen. Versammlung der Zweigvereine Altenburg, Halle, Jena, Leipzig in Weifsenfeis. Verein für Herbartsche Pädagogik in Rheinland und Westfalen.

Zum Comenius- Jubiläum. 28. März 189a. Verein für Herbartsche Pädagogik in Thüringen und Sachsen.

Pref. Dr. Menge, Nekrolog von Dr. O. Frick. Selbst- anzeige von J. Triiper

3. Fr. Franke, Stimmen aus Sachsen über Reform des Religions-

unterrichts. — Fr. Franke, Etwas vom Lesen und vom Lesebuch in der Volksschule. C. Kahle, Die tür die Schule bearbeiteten Pilzwerke. »Verein von Herbart- freunden« im Eisenacher Oberland

4. C. Ziegler, XI. Kongrefs für erziehliche Knabenhandarbeit zu

Frankfurt a. mT Fr. Franke, Hauptversammlung des

Vereins für wissenschaftliche Pädagogik. Mathen-Alzey, Der geographische Unterricht aut der IV. Stufe. Dr. B. Maennel, Vom IX. Deutschen Lehrertage zu Halle a/S. Hernart, Ideen zu einem pädag. Lehrplan für höhere Schulen. t. Keller, Der grüne Heinrich, Berlin 1889. Aus dem Pädagog. Universitäts-Seminar zu Jena . . .

S. 1— 16.

65—86.

129—140. 140—149. 193—223-

17—26.

86 122.

149—164

223—251.

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- III

C. Beurteilungen.

1. W. Armstroff, Evangel. Religionsbuch f. d. Hand d. Schüler

(Dr. Thrändorf) S. 26.

2. 6. Voigt, Die Bedeutung der Herbartschen Pädagogik f. d.

Volksschule (H. Grabs) 26—28.

3. H. Scherer, Der Handfertigkeitsunterricht in der Volks-

schule (E. Scholz) 28—29.

4. Dr. Karl Hartfelder, Philipp Melanchthon als Präceptor Ger-

maniä (Adolf Rüde) 29 31.

5. Ch. 6. Salzmanns ausgew. Schriften herausgegeb. von Ed.

Ackermann 1. Band (H. J. Eisenhofer) 31.

6. F. Leute, Lehrbuch der Erz. u. d. Unterr. f. Leser u. Lese-

rinnen. II. Teil. 2. Aufl. (H. J. Eisenhofer) . . . . 32.

7. Hern. Mehlist, Volksschulkunde. 1 —3. Teil (Hollkamm) . 32—34-

8. Harre, Kleine lateinische Schulgrammatik (Ernst Haupt) . ,, 34 35.

9. 0. Janke, Grundrifs der Schulhygiene (Dr. Gärtner) 35—36.

10. Dr. Fr. Junge, Leitf. f. d. Geschichtsunterricht (Dr. Göpfert) 36.

11. Dr. Susanna Rubinstein. Aus der Innenwelt (H. Grofse) . . 36—37-

12. Dr. P. Schubert, Ober Hettlage und Schriftrichtung (Grabs) 37.

13. Dr. Willi Medions, Flora v. Deutschland (Büsgen) . . . . 37.

14. Franz Schleichert, Anltg. z botanischen Beobachtungen und

pflanzenphysiologischen Experimenten (Büsgen) . . . 37—38.

15. Chr. Ufer, Geistesstörungen in der Schule (Leutz) . . . ,, 38 39.

16. Frledr Junge, Naturgeschichte II (Winzer) 39—4».

17. Emma Schubaok, Frauencharakter und Frauenbildung (Dr.

W. Buchner) . . . , 41—42.

18. Dr. Job. Mieden, Das Recht der Frau (Dr W. Buchner) . 41—42.

19. Karl Moser, Die zehn Gebote des Lehrers (Winzer) . . . 42—43.

20. 0. Kriigel, Einiges aus dem Leben u. Wirken des Dr. Fr.

Otto (Dr. W. Rein) „43.

21. Dietrich, Fibel nach der Schreiblese- und Normalwörter-

methode (M. Fack) . . . . 43 45.

22. Dr. Georg Müller-Frauenstein, Handb. f. d. deutschen Sprach-

unterricht. 2 Teile (Dr. A. Bliedner) »45—47-

23. A. Ebeling. Luthers kleiner Katechismus (Dr. A. Bliedner) 47 48.

24. H. Sehwochow, Methodik des Volksschulunterrichts (C.

. Ziegler) 48-49.

25. Tb. Polaok, Lehrplan m. Pensenverteilung etc. (C. Ziegler) 49.

26. Ernst Haupt, Lateinische Formenlehre (Dr. Unrein) . . . 49—50.

27. W. Seytter, Materialien z. Heimatkunde (H. Grofse) . . . 50—52.

28. Liiders, Der Volksschulunterricht (C. Ziegler) 32,

29. Dr. Theod. Walter, Method. Untersuch, auf dem Geb der

elementaren Mathematik (H. Weifsenborn) . . . . 52 54.

30. Dr Theed. Walter, Algebraische Aufgaben. II. Bd. (H.

Weifsenborn) , 52—54.

32. A. Ernst u. J. Tewe, Lesebuch f. Mädchenschulen (A. Folz) 54—56.

32. H. Scherer, Welche Anforderungen stellt unsere Zeit an die

Organisation der Volksschule? (Dr. B Männel) . . . 57.

33. W. Meyer-Markau, Was uns eint (Dr. B. Männel) , 57—58.

34. Frledr. Deutschmann, Deutsche Eigenart (Dr. B. Männel) . 58—59.

35. Andr. Baumgarten, Lehrgang der engl. Sprache (Georg

Kemlein) 59—61.

36. Prüf. Dr. Th. Ziegler, Die soziale Frage eine sittliche Frage

(Dr. W. Rein) 61-63.

37- Ohlert, A., Die Lehre vom französischen Verb (Ludw.

Baetgen) 122—123.

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IV

38. Ohler! A., Die Behandig. der Verbalflexion (Ludw. Baetgen; S. 122—123.

39. Dr. 0. Stiehler, Neusprachliche Reformbewegung 123—126.

40. Dr. 0. Stiehler, Methodik des neusprachl. Unterrichts (Ludw.

Baetgen) 123-126.

41. Max Walter. Der französische Klassenunterricht I. Stufe

(Ludw. Baetgen) 126—127.

42. Joh. Rauschenfels, Methodik des franz. Sprachunterrichts

(Ludw. Baetgen' 127.

43. Dr. Herrn. Soltitan n, Der fremdsprachl. Unterricht (Ludw.

Baetgen) . ,128.

44. 8. Alfle, Leitf. f. d. erst. Unterr. i. Französischen (Ludw.

Baetgen) . 12S.

45. Jul. 6utersohti, Reform des neusprachl. Unterrichts (Ludw.

Baetgen) , 164—166.

46. Jul. Gntersohn, Methodik des fremdsprachlichen Unterrichts

(Ludw. Baetgen) ,164—166.

47. Bottfr. Ebeners französ Lesebuch (Ludw. Baetgen" . . . 166—167.

48. Chr. Ufer, Französ. Lesebuch z Gesch d. deutschen Be-

freiungskriege (Ludw. Baetgen) 167 168.

49. Charles Toussaint, Üb. d. Anfang des franz. Unterrichts

(Ludw. Baetgen^ 168.

50. Joh. Volkelt Einführ. i. d. Philosophie der Gegenwart (Dr.

W. Rein) 168-170.

51. Prot Dr. Th. Zlefller, Fragen der Schulreform (Dr. W. Rein) 170—172.

52. Hone Schliepmann, Betrachtungen über Baukunst (Dr. W.

Rein) , 172—173.

53. W. Pfeifer. Theorie u. Praxis der einklassigen Schule.

(Hollkamm) , 17.?— »76

54. Wartenberu, Lehrbuch der lat. Sprache (Ernst Haupt) . . 176—177.

55. W. Muller, Lat Lehr- u. Übungsbuch I. II. Ernst Haupt) 178.

56. Dr. Hans Muller, De viris illustribus. Lat. Lesebuch (Ernst

Haupt) , 179—180.

57. Dr. 8. Stephan, Häusl. Erziehung im achtzehnten Jahrhundert

(Ackermann) 180 181.

58. Pädagog. Sammelmappe, 125. Heft (Dr. Göpfert) . . . . 181 183.

59. A. Renneberg, Grundrifs der Erdkunde. 2. Aufl. (Dr Göpfert) 183.

60. Dr. Matthias Drhal, Lehrbuch der empirischen Psychologie.

5. Aufl (H. Grosse) 183 184.

61. W. Kaiser, Schweiz, geogr. Bilder-Werk (H. Grosse) . . . 184—185.

62. F.W. Dörpfeld, Enchiridion der biblischen Geschichte. 15. Aufl.

(H. Grofse) , 185—186.

63. Karl Grundscheid, D. Schulwesen Englands (Dr. B. Maennel) 186—187.

64. Custav Wustmann, Allerlei Sprachdummheiten (Adolf Rüde) ,, 187—189.

65. H. Zemmrioh, Bedarf die Volksschule einer Vermehrung

der Religionsstunden? (Fr. Franke) ,, 189—190.

66. C. Jaoobi, Bibel-Atlas zum Gebrauche an Lehrerseminarien

u. s. w. (E. Scholz) , 190 191.

67. Dr. Joh. Nleden, Deutsche Gedichte (Winzer) 191 192.

68. Robert Wernecke, Praxis der Elementarklasse (F. Hollkamm) 251—252.

D. Anzeigen.

1. Joh. Meyer, Lesebuch der Erdkunde. 3 Bände 63.

2. H. Prafs, Herbarts Pädagogik 63—64.

3. Ad. Diesterwegs ausgew. Schriften von Langenberg . . . 64.

4. Alumneums-Erinnerungen von einem alten Kreuzschüler . ,, 192.

5. Müller u. Pilling, Deutsche Schulflora 192

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Pädagogische Studien

Neue Folge Herausgegeben

B

Dr. W. Rein

f'raftssor u. r/. Universität Jena

XII I. Jahrgang Erstes Heft

Inhalt

Abhandlungen: Fritz Lehmensick, Der Lese-Unterricht auf der Oberstufe der einfachen Volksschule nach Ziel und Methode. Mitteilungen: 1. Thrändorf, Religionsunterricht und Sozial- demokratie. 2. P. Zillig, Die zweite Jahresversammlung der Ver- einigung von Freunden der Pädagogik Herbart-Zillers in Unter- franken. 3. H. C h i 1 1 , Das Privatschulwesen in Preufsen. 4. H. C h i 1 1 , Die Preufsische Schuljugend mit fremder Familiensprache, nament- lich der polnischen. C Beurteilungen: 1. W. Armstroff (Thrändorf). 2. G. Voigt (Grabs). 3. H. Scherer (Scholz). 4. Dr. K Hartfelder (Rüde). 5. E. Ackermann. 6. F. Leutz (Eisenhofer). 7. H. Mehlifs (Holl- kamm). 8. Harre (Haupt). 9. O. Janke (Gärtner). 10. Dr. F. Junge (Göpfert). 11. Dr. S. Rubinstein (Grosse). 12. Dr. P. Schubert (Grabs). 13. Dr. W. Medicus. 14. F. Schleichen (Büsgen). 15. Ch. Ufer (Leutz). 16. F. Junge (Winzer). 17. E. Schuback, Dr. J. Nicden (Buchnerj. 18. K. Moser (Winzer). 19. O. Krügel (Rein). 20. Dietrich (Fack). 21. Dr. G. Müller- Frauenstein (Bliedner). 22. A. Ebeling (Bliedner). 23. H. Schwochow. 24. Fr Polack (Ziegler). 25. E. Haupt. 26. W. Seytter (Grosse). 27. Lüders (Ziegler). 28. Dr. Th. Walter (Weilsenborn). 29. J. Tews (Foltz). 30. 31. W. Meyer-Markau. 32. F. Deutschmann Maennel). 33. A. Baumgarten (Kemlein). 34. Prof. Fr. Th. Ziegler (Rein). D Anzeigen: J. Meyer. H. Prass. Adolph Diesterweg.

' Dresden

Verlag von Bleyl & Kaemmerer (Paul Th. KMmmerar)

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Gesellschaft für deutsche Erziehung- und

Schulgeschichte.

Längst sind in Deutschland zahlreiche wissenschaftliche Gesell- schaften t hat ig, uns die Vergangenheit unsers Volkes in Staatslehen, Litteratur und Kunst zu erschliessen. Bisher fehlte aber noch eine Ver- einigung, welche den Boden durchforschte, aus dem das ganze geistige Leben des deutschen Volkes ununterbrochen Nahrung und Gestaltung gewonnen hat.

Nur eine planmässige Erforschung der gesamten deutschen Er- ziehungs- und Schul^eschichte, von der Universität bis zur Dorfschule, durch Sammlung, Sichtung und Veröffentlichung des weitzerstreuten, zum grossen Teil noch verborgenen Materials wird die Quellen der geistigen und sittlichen Bildung vergangener Zeiten ganz aufdecken können.

Eine Aufsuchung, Prüfung und Bearbeitung der Quellen, wie sie für die Staatsgeschichte des Mittelalters durch die „Monument* Germa- niae Historicau erreicht wurde, muss auch für die Erziehungsgeschichte unseres Volkes von ihren ersten Anfängen an bis zur Gegenwart, erstrebt werden.

Diese würdige Aufgabe kann in wissenschaftlich genügender Weise nur gelöst werden durch das Zusammenwirken vieler Kräfte. Es gilt, den vereinzelten Bemühungen auf diesem Gebiete einen Mittelpunkt zu schaffen, durch die Veröffentlichungen den Weg der deutschen Bildung die Jahrhunderte hindurch zu erleuchten und den pädagogischen Bestre- bungen der Gegenwart Nutzen zu bringen.

Zu solchem Zwecke hat sich die Gesellschaft für deutsche Erzie- hungs- und Schul geschichte in Berlin gebildet. Sie ladet hierdurch alle Freunde deutscher Kulturgeschichte ohne Unterschied des religiösen oder politischen Bekenntnisses ein, sich ihren Bestrebungen anzusch Ii essen. Da Jahrhunderte hindurch Bildungsmittel und Bildungsformen in weitem Umfange den Nationen des Abendlandes gemeinsam waren, werden die Arbeiten der Gesellschaft auch für die ausserdeutsche Geistoswelt Be- deutung gewinnen. Durch die geplanten Veröffentlichungen wird zugleich die Geschichte der einzelnen Fachwissenschaften mannigfache Förde- rungen erfahren.

Die Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte legt ihre Arbeiten nieder in den Bänden der Monumenta Germaniae Paedagogica und in periodisch erscheinenden Mit teilungen.

Der Jahresbeitrag beträgt 5 Mark. Die Mitteilungen werden den Mitgliedern kostenfrei zugestellt. Die Satzungen sind zu beziehen durch Dr. K. Kehrbach, Berlin W, Ansbacherstr. 56, welcher Beitritts- meldungen anzunehmen bereit ist.

Uber die demnächst in Berlin stattfindende Hauptversammlung werden die „Päd. Studien" Bericht erstatten.

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A. Abhandlungen.

Der Lese-Unterricht auf der Oberstufe der einfachen Volksschule nach Ziel und

Methode.

Von Fritz Lehmensick, Dresden.

»Der Buchstabe tötet. Der Geist macht lebendig.«

Die sinnliche Anschauung, das ist die Grundlage aller Geistesbildung. Die Gesamtheit konkreter Vorstellungen bildet das Stammkapital der Menschenseele. Alles Bilden ge- schieht an diesem Stoffe, alles Neue baut sich daraus auf.

Diese Bauarbeit wird veranlafst durch die Sprache. Worte erklingen und werden gehört und rufen die Vorstellungen, die an sie geknüpft sind, ins Bewufstsein. Es sind die alten Vor- stellungen. Aber sie bleiben nicht vereinzelt, sie verbinden sich in mannigfacher Weise. Neue, wertvolle Gebilde entstehen aus dem alten Stofife.

Sind die Bausteine die anschaulichen Vorstellungen und die fortbewegenden Wagen, Rollen und Hebel die Worte, so ist das Gebäude, das aufgerichtet werden soll, der sittliche Charakter, so ist der Baugrund, auf dem es sicher stehen mufs, die Kultur der Gegenwart. Oder nichtbildlich gesprochen: der Zögling soll so werden, dafs er den sittlichen Ideen folgen will und dafs er ihnen in seinem Wirkungskreise auch Geltung zu schaffen vermag. Sittliche Gesinnung setzt seinem Willen das Ziel, Verständnis der Gegenwart ermöglicht ihm die Wahl der Mittel; beides ist für einen thätigen Charakter nötig. Die Schule mufs dem Zöglinge eine von sittlichen Ideen durchdrungene, der Kulturhöhe seiner Zeit entsprechende Charakterbildung verschaffen.

Pädagogische Studien. I. I

Wodurch vermag sie das?

Sie würde an der Erfüllung ihrer hohen Aufgabe verzweifeln müssen, wenn eines nicht wäre: die jahrhundertelange Vorarbeit des ganzen Volkes und die Ergebnisse dieser Entwickelung , der Schatz des Wissens und der Erfahrung, von berufenen Geistern niedergelegt in den geschriebenen Denkmälern der nationalen Bildung, in der Litteratur. Daran kann sie den Geist des Zöglings erquicken, begeistern, veredeln, bilden. Dieser Schatz ist das wertvolle Erbe der Söhne der neuen Zeit.

Dieser Schatz mufs gehoben werden. Solange das nicht ge- schieht, ist er wertlos. Sein Wert besteht in der Wirkung, die er ausübt auf die Seele dessen, der ihn hebt: in neuen Vor- stellungsverbindungen , Begriffen , geistigen Anschauungen , Ge- fühlen, Willensantrieben, die durch ihn erzeugt werden.

Was überliefert wird , ist zunächst weiter nichts als eine Menge äufserer sichtbarer Zeichen. Wer den Schatz heben und dadurch reich werden will, mufs die tote Hyroglyphe umzuwan- deln verstehen in das lebendige Gebilde der Vorstellung, der mufs lesen können.

Lesefertigkeit ist also schon erforderlich für den Zögling, damit er durch Sichversenken in den Geist verklungener Zeiten, durch Aufnehmen der Errungenschaften der Vergangenheit die Höhe der Bildung erlangen könne, die seiner Zeit würdig ist. Er mufs aber die Fähigkeit zu lesen auch besitzen, um an dem Fort- schritte seines Volkes teilnehmen zu können in der Gegenwart, um an dem, was seine Zeit Grofscs und Edles, Erhabenes und Begeisterndes erzeugt, seinen Geist zu veredeln, seinen Willen zu kräftigen.

Der Charakter soll sich aber nicht allein vervollkommnen, er soll sich auch bethätigen. Um das zu können, mufs man verstehen, mit andern Geistern zu verkehren. Eins der wichtigsten Mittel geistigen Verkehrs ist die Schrift. Um Geschriebenes zu verstehen, mufs man lesen können.

Aus diesen Gründen mufs die Volksschule es als eine ernste Aufgabe betrachten, alle ihre Zöglinge dahin zu bringen, dafs sie lesen können, d. i. durch Schriftzeichen veranlafst, entsprechende Vorstellungen zu reproduzieren und sie in der durch die Sprach- Formen erforderten Weise zu verknüpfen.

So wichtig diese Aufgabe ist, so schwierig ist ihre befriedigende Lösung. An ihr arbeitet die Schule von der ersten Zeit des Unterrichtes an bis zum Schlüsse der Schulzeit. Sie entläfst den Zögling mit der ernsten und wohlgemeinten Mahnung : das Leben sei nun deine Schule, dein Lehrmittel sei das Buch, die groisen Geister deines Volkes, sie seien deine Lehrer!

»Was du ererbt von deinen Vätern hast, Erwirb es, um es zu besitzen!«

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Hat die Schule ein rechtes Interesse erzeugt, so wird der Zögling der Mahnung folgen wollen; um es auch zu können, dazu gehört aber noch mehr.

Zu erreichen, was dazu gehört, das ist das Ziel des Lese- unterrichts der einfachen Volksschule; den Lese-Unter- richt so weit zum Abschlufs zu bringen, ist ihre Aufgabe für die Oberstufe.

Welches ist nun das Ziel des Lese-Unterrichts für die Oberstufe der einfachen Volksschule?

Wie der Sprach-Unterricht überhaupt, so hat der Lese-Unter- richt im Besonderen eine doppelte Seite: Er soll den Schüler be- fähigen einmal zur Aufnahme fremder Gedanken, das andre Mal zum Ausdrucke der eignen. Oder anders gesagt : Er soll erzeugen und ausbilden sowohl Sprach Verständnis, als auch Sprachfertigkeit. Beides soll geschehen vermittelst der Schriftzeichen des Buches.

Als erstes Ziel ergiebt sich allgemein ausgedrückt : Die Schule hat den Zögling zu befähigen, gedruckte und geschriebene Worte und Sätze in Gedanken umzuwandeln. Sie hat ihn also dahin zu bringen, dafs, sobald sein Auge die Schriftzeichen- gruppen erblickt, in seiner Seele Vorstellungen aufsteigen und er diese in der vom Schriftsteller gewollten Weise verbindet. War seine Geistesarbeit eine rechte, so mufs er durch dieselbe eine Kenntnis von den da behandelten Dingen erlangt haben. (Schrift- zeichen, Worte, Gedanken, Dinge.) Er mufs sich aus dem Lesen ein Wissen erarbeiten können. Hält er nun in sprachlichen Formen die neuerworbenen Gedanken fest, so ist seine Seele in- haltlich bereichert, und so mufs es auch sein: aus dem blofsen sinnlichen Zeichen mufs er neuen geistigen Inhalt zu gewinnen imstande sein.

Lesen ist also thatsächlich ein Sammeln, nämlich ein Sam- meln in die Scheuern des Geistes. Aber es ist nicht ein blofses Sammeln der Buchstaben. Diese Arbeit ist durch- aus nicht Wesen der Sache, sondern nur Vorbedingung. Aber weil die Vorbedingung unerläfslich ist, mufs sie erfüllt werden. Die Worte sind die Reproduktionshilfen für die Vorstellungen in der Seele. Soll die Vorstellung, welche an das Wort geknüpft zu sein pflegt, das gedruckt dort steht, im Zöglinge wach werden, so mufs er die Buchstabengruppe umwandeln können in ein Laut- gebilde, das geschriebene Wort in ein gesprochenes. Dazu gehört nicht allein Kenntnis der Schriftzeichen und der Namen für die Laute, dazu gehört auch eine durch langjährige Übung erworbene Fertigkeit im Verbinden derselben. Die Fähigkeit, die ge- schriebenen und gedruckten Zeichen geläufig zu Wortbildern zu vereinigen, ja ganze Satzteile mit einem Blicke zu erfassen, muls auf der Oberstufe der Volksschule zu einer hohen Ausbildung ge- bracht werden. Die Aufmerksamkeit darf durch die mechanische

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Beschäftigung mit den Zeichen nicht abgelenkt werden, diese Seite des Leseaktes soll in der That mechanisch wie von selbst sich vollziehen, damit der Geist sich ganz und voll in den Zu- sammenhang der Gedanken vertiefen kann. Soll ja der Schüler auch später, ohne den Zwang der Schule aus freiem Antriebe die in den Schriften seines Volkes liegenden Bildungselemente sich erarbeiten. Ist der Schüler aber nicht imstande, die mechanische Arbeit beim Lesen ohne besondere Mühe abzuthun, so wird gar bald sein Interesse unter der Last der Zeichen erlahmen.

Es läfst sich also aus der Natur des Lesens, wie aus dem Ziele des Unterrichtes gleichzeitig die eine Forderung ableiten: Die Volksschule verschafft dem Zöglinge eine grofse Fertigkeit in der mechanischen Arbeit, die eine Seite des Lesensausmacht.

Als sicherer Prüfstein des Erfolgs kann die erlangte Fertigkeit im Lesen nicht betrachtet werden, sondern »die Fähigkeit selb- ständig über das Gelesene zu denken* (Fürst Bismarck) Die Hauptsache ist ja die, dafs die Schüler befähigt werden, in den geistigen Inhalt des Vorliegenden einzudringen, an ihm sich zu bereichern, über ihn zu verfügen. Sie müssen imstande sein, die neugewonnenen Vorstellungsgebilde festzuhalten, sie mit den in der Seele schon eingelebten in Vergleich zu setzen, beide auf ihren Inhalt zu prüfen und nach ihrer inhaltlichen Verwandtschaft zu verbinden und zu trennen, etwaigen Widerspruch zu unter- suchen, bisherige Irrtümer zu berichtigen, mangelhaftes Wissen zu ergänzen und die wertvollen Ergebnisse dieser Geistesarbeit im Gedächtnisse aufzubewahren, damit sie früher oder später bei anderen Gedankenbewegungen fördernd in Wirksamkeit treten können.

Das Wissen, das erworben wird, soll ja ein lebendiges sein. Also mufs der Zögling befähigt werden, es lebensvoll zu erfassen und die neuen Erwerbungen zu einem Teile seines thätigen Ich zu machen.

Leben heifst aber nicht blofs thätig sein. Zum Leben gehört auch leiden und geniefsen. Es reicht nicht aus, wenn der Zög- ling sich den Sinn des Gedruckten verstandesgemäfs vergegen- wärtigt, wenn er das Gelernte wieder verwertet und benutzt. Das Gelesene darf ihn nicht gleichgiltig lassen. Er darf nicht kalt wie der Geizhals seine Schätze sammeln und anhäufen. Er würde bei allem geistigen Reichtum doch in seinem Gemüte arm bleiben. Der Schüler mufs die Gedanken mit seinem Ich in eine solche Beziehung setzen, dafs Gefühle in ihm erwachen. Er mufs sich hineinleben in die erzählte Lage der Personen, in ihr Wohl und Wehe. Er mufs sich hineinversenken können in die Tiefe ihres Gemütes und ihnen nachfühlen. Lesen ist ja auch ein Sammeln der aufsteigenden Gefühle zum Gemütszu- stande.

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Das Lesen, das so unzählbare und reichfliefsende Quellen froher und weher Gefühle erschliefst, soll selbst die Quelle eines Gefühles werden: die Quelle der Freude regen Interesses und fröhlichen Fleifses. Soll des Zöglings inneres Leben in rechter Weise gefördert werden, so mufs er oft und mit lebhafter Freude der Thätigkeit des Lesens sich hingeben. Gute Bücher sollen seine treuen Freunde werden. Seine Freunde, indem er sie lieb- gewinnt, sie oft aufsucht und mit ihnen gern verkehrt, Und wenn ihn alle andern draufsen verlassen, dann soll er wissen, dafs sie ihm treu bleiben, dafs er bei ihnen Trost und Erhebung findet. Darum soll auch er ihnen eine Liebe bewahren, du nimmer auf- hört. Und die Lust daran soll sich vergröfsern, je mehr der Kreis sich erweitert. Mit neuen Freunden soll er neue Freuden erwerben. Einsam ist er dann nicht allein, denn ihn umschwebt die Gesellschaft grofser und edler Gedanken,

Und dazu mufs auch die Volksschule die Grundlagen schaffen: Der Leseunterricht hat im Zöglinge ein selbstthatiges Interesse an den Geistesschätzen seines Volkes zu wecken und die l iebe zur Litte rat ur zu pflegen.

Liebe hat ihre Grundlage nicht allein in dem Bewußtsein der Verwandtschaft der Gefühle und Gedanken, in der sittlichen Wert- schätzung, in der Hochhaltung geistiger Vorzüge Liebe wird mächtig verstärkt durch das Wohlgefallen an der aufsein Form.

Das Organ dieser Erkenntnis ist der ästhetische Ge- schmack. Diesen hat der Leseunterricht zu bilden und zu ver- edeln. Er mufs den Schüler lehren die Angemessenheit und Ein- fachheit des Ausdrucks zu würdigen. Er darf nicht dabei stehen bleiben zum Verständnisse des dichterischen Vergleichs diesen auf seine nackte Bedeutung zurückzuführen; er mufs den Zögling befähigen, dafs er an der Schönheit des Gedankens eine wahre, lebhafte Freude empfinde.

Auch für den sinnlichen Zauber der Poesie muf- sein Ohr und sein Geist geschärft werden. Der volltönende Klang der Worte, die Nachahmung der Natur durch die Laute, das Hervor- springen übereinstimmender Klänge in gemessenen Zeitabschnitten (der Reim), das sich gleichbleibende Gesetz, der ruhende Fol in der Flucht der Worterscheinungen (der Rythmus:, mufs ihm zum Bewufstsein kommen, damit sich alles zu einer stillen, aber mach tigen Wirkung in seiner Seele vereinige, so dafs er von dem Dichter sagen kann:

»Seines Geistes hab* ich einen Hauch verspürt. -

Aber nicht blofs begeistert soll er werden. Von diesem Geiste soll auch ein gut Teil übergehen in sein Inneres.

Der Zögling soll sich das Gelesene zu eigen machen, dafs es ein Teil wird seines thätigen Ich. Er soll sich veranlafst fühlen in seiner Weise den Vorbildern, die er kennen gelernt hat, nachxu-

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eifern. Das Lesen kann dieses Streben im Zöglinge nur anregen. Es zu fördern, ihm Gelegenheit zu seiner Ausbildung zu geben, das ist die Aufgabe, die der Unterricht im Stil zu lösen hat. Der werdende Mensch soll sich gewöhnen , alles , was er gedacht hat , zum charakteristischen Ausdruck zu bringen : einfach und klar, was einfach und klar in seiner Seele lebt. Wenn er aber etwas warm empfunden und tief gefühlt hat, da soll ihm auch nicht der angemessene, schöne Ausdruck fehlen, der die gleiche Wirkung ausübt auf die Seelen anderer.

Denn bei allem Reichtume fühlt sich der rechte Mensch arm, wenn er anderen davon nichts mitteilen kann. Der erworbene Schatz erhält für ihn erst rechten Wert, wenn er ihn verwerten kann, wenn er andere dadurch besser, weiser, glücklicher zu machen vermag. Das Herz bedarf ein zweites Herz, mit dem es seine Freude teilt und dadurch die eigene verdoppelt.

Dies aber kann nicht geschehen, wenn der Zögling durch den Leseunterricht blofs befähigt wird Eindrücke zu gewinnen. Der Mensch mufs auch des Ausdrucks der Gedanken- und Ge- mütszustände mächtig sein.

Ist die Seele in der rechten Weise von dem Erworbenen er- füllt und erregt, so drängen die Gefühle von selbst zum Ausdruck. Sie können nicht mehr verborgen und still drinnen ruhen, sie treten durch die Pforte der Sprache hervor und werden laut. Wefs das Herz voll ist, davon geht der Mund über.

Die Mitteilung des Seelisch - Erlebten ist also dem Menschen natürlich. Sic vollzieht sich von selbst, wozu da noch der Arbeit und Mühe?

Es ist zu bedenken : die Seele kann nicht unmittelbar mit der andern Seele verkehren. Die Brücke, die hinüberführt, ist die Sprache. Diese fafst der andere auf. Die Schalleindrücke, die ich hervorbringe, sind die Anregungen in seinem Geiste. Nicht wie sehr ich bewegt bin, sondern wie viel ich von meiner Ge- mütsbewegung seiner Seele mitzuteilen vermag, davon hängt die Wirkung ab.

Darum bedarf es auch besonderer Veranstaltungen zur Aus- bildung der Sprachfertigkeit. Darum darf auch das Lesen nicht stehen bleiben beim Erkennen, es mufs übergehen in ein bewufstes Schaffen, in ein Können.

Der Zögling mufs, was er liest, laut werden lassen können und dabei (gebunden zwar an die gegebenen Worte) seiner eignen Auf- fassung, seinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck verleihen in den Schallgebilden durch die Betonung, so dafs andere, sofern sie nur die appereipierenden Vorstellungen besitzen und der geistigen Aufnahme von Neuem fähig sind, durch das tönende Wort eingeführt werden in den Gedankeninhalt des Gelesenen, wie in die Gemütsverfassung des Lesenden.

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Zunächst ist also nötig, dafs durch das Vorlesen im Hörenden ein Verständnis für das Gelesene entstehe.

Es sollen Vorstellungen wach werden. Die Reproduktions- mittel sind die gesprochenen Worte. Der Vorlesende mute also imstande sein im Augenblicke die Zeichengruppen in Lautreihen zu verwandeln und sofort, nachdem sein Auge das Wortbild erfafst hat, das ihm entsprechende Schallgebilde durch seinen Mund laut werden zu lassen. Sollen die gesprochenen Worte die reprodu- zierende Kraft haben , so müssen sie klar und deutlich in die Seele anderer treten. Sie müssen also in rechter Weise hervor- gebracht werden : die Vokale rein, die Konsonanten scharf, die Laute in rechter Weise zur Silbe verschmolzen , die Silben ar- tikuliert. (Mechanische Arbeit beim lauten Lesen.)

Der Vorleser will aber doch vor allem einführen in den In- halt des schriftlich Niedergelegten. Die in der Seele des Hörers erweckten Vorstellungen sollen sich verbinden, andere sollen sich trennen und einander gegenüberstellen. Einzelne sollen besonders hervorgehoben und verstärkt werden, sie sollen den Mittelpunkt von Vorstellungsgruppen bilden, die Knotenpunkte der Reihen- gewebe, während andere nur als Hilfen dienen und stützend zur Seite treten. Damit dies kunstvolle Zusammensetzen der Vor- stellungsgruppen sich vollziehe und zwar in rechter Weise, dazu sind noch andere Anforderungen an das Vorlesen zu stellen ; die Stammsilben als die Träger des Sinnes sind im Tone zu ver- stärken, die Worte, deren sachliche Vorstellungen zusammenge- hören, müssen in gleicher Weise durch Betonung hervorgehoben werden. Auch die Höhe des Tones dient als Ausdrucksmittel: er hebt sich bei der Frage, als wollte die unabgeschlossene Vor- stellungsreihe hineilen zu dem noch fehlenden Gliede (welches durch die Antwort gebracht wird), er senkt sich beim Punkte, die Ruhepause im Gedankenflufs , den Abschlufs der vorhergehenden Vorstellungsreihe andeutend. Der Gedankenbewegung entspricht auch die schnellere oder langsamere Tonbewegung, deren Unter- brechung, die Pause, die Scheidung der organischen Glieder des Satzes bewirkt und das Trennen des inhaltlich Nichtzusammen- gehörigen wie das Verbinden des Verwandten, also das Denken erleichtert. Das Lesen mufs nicht allein lautrichtig, es mufs, soll auf leichte Weise ein Verständnis im Hörer erzeugt werden, auch sinnrichtig (logisch) sein.

Doch damit nicht genug. Das Können soll sich bis zur Grenze der Kunst erheben. Auch die Gefühlsstimmungen, der gemessene Ernst, wie die sorglose Lebenslust, die frohe Befriedigung wie der tiefempfundene Seelenschmerz, sie alle sollen ihren Ausdruck finden, in den Klängen der Sprache, um Eindruck hervorzurufen.

Wie mächtig wird hier der Leser durch den Reichtum der Gedanken, durch die Schönheit der sprachlichen Form unter-

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stützt ! Es ist die höchste Stufe, die der Leseunterricht erklimmen kann, wenn er den Schüler zu ausdrucksvollem (ästhetischem) Lesen befähigt, wenn er ihn befähigt, aus seinem Innern heraus seine Gefühle, wie sie der geistige Gehalt und die poetische Ge- stalt des Stückes wachgerufen, hinüberklingen zu lassen in die empfängliche Seele des Hörers, dafs

>Des Sängers Lied aus dem Innern schallt, Und wecket der dunklen Gefühle Gewalt, Die im Herzen wunderbar schliefen.«

Wir haben die Aufgabe der Volksschule als eine ernste und wichtige und das Ziel des Leseunterrichts als ein hohes und er- strebenswertes erkannt. Verheifsungsvoll winkt es in weiter Ferne. Aber wie ist es zu erreichen ?

Die Wege, die dahin zu führen scheinen, sind unzählbar, doch es sind gar viele Irrwege darunter. Wie den rechten finden ?

Unsre Landkarte, auf der wir uns die Pfade suchen, sei die Psychologie, unsre Wegweiser sollen die grofsen Männer sein, deren Lebt n und Wirken dem Heile der Jugend geweiht war. So wollen wir mit unserer schwachen Kraft versuchen, den kürzesten Weg dahin aufzuspüren: die Methode.

Wollen wir den Zögling in den Stand setzen, dafs er durch die Schriftsprache seinen Geist bereichere, wollen wir bewirken, dafs wertvolle und edle Gedanken eine Heimstätte in seiner Seele finden, so müssen wir unser Augenmerk richten auf den Stoff, der gelesen werden soll. Das kann kein beliebiger sein. Wir müssen aus der Fülle des Vorliegenden die rechte Auswahl treffen. Des Zöglings Geist soll gebildet werden, also mufs der Stoff ein inhaltlich wertvoller sein. Der Schüler soll die Ge- dankenkreise lieb gewinnen, sich mit ihnen gern beschäftigen, der Stoff mufs interessant sein. Des Zöglings Denken und Sprache soll durch die Lektüre veredelt werden : der Stoff mufs auch seiner Form nach vollendet sein. Aber da ihn der Schüler in sich auf- nehmen soll, so darf er auch nicht seine Auffassungskraft über- steigen , er muls ihr angemessen sein. Auch soll der werdende Mensch in den Geist seiner Nation eingetaucht werden und soll die grofsen Dichter seines Vaterlandes lieb gewinnen : der Stoff mufs volkstümlich sein, er mufs auch die Perlen der vaterländischen Dichtung und Sage in sich bergen. Und wenn er nicht allein geeignet sein soll, des Zöglings Interesse zu wecken, sondern auch, es zu erhalten und fortzuleiten, so mufs er grofse, unzer- stückte Gedankenmassen in des Lesers Seele ausbilden : der Stoff sei ein Ganzes oder schliefse an ein Ganzes sich an.

Bedeutungsvoll ist die Auswahl, wichtig auch derAnschlufs des zu Lesenden. Der Zögling soll die fremden Gedanken zu den seinigen machen. Er mufs diese Gebilde, veranlafst durch

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die Worte, in sich nachgestalten. Er muis sie zusammensetzen aus solchen Vorstellungen, über die er verfügt, die sein geistiges Eigentum durch Anschauen und Denken geworden sind. Da ist denn offenbar : Er mufs die dem fremden Stoffe zu gründe liegen- den Vorstellungen besitzen. »Nur wer da hat, dem wird ge- geben!« Und doch sollen es nicht blofs bekannte Stoffe sein, auch Neues zu erwerben soll der Zögling befähigt werden. Da mufs denn der Lehrer die Stoffe für das Lesen wählen, für welche der sachliche Hintergrund schon durch den übrigen Unterricht geschaffen worden ist. Er hat solche Stoffe auszusuchen, welche erwachtes Interesse weiterführen, Altes zum Abschlufs bringen, Neues vorbereiten. Aber immer mufs eine Fülle sachlicher, konkreter Vorstellungen in der Schülerseelc wohnen, welche dem Neuen eine gute Aufnahme sichert; diese Vorstellungen erst zu erzeugen, das ist nicht die Aufgabe des Leseunterrichts. Er mufs sie fertig vorfinden, um sie zu verwerten.

An den Geschichtsunterricht sind prosaisch oder poetisch dargestellte Sagen (Roland) und historische Gedichte (Wie Kaiser Karl Schulvisitation hielt) anzuschliefsen , oder sie sind der ge- schichtlichen Einheit voranzustellen, wo es methodisch zulässig ist und empfehlenswert erscheint. Auch Biographien (Karl der Grolse) und Bilder aus dem Volks- und Kulturleben (Karl des Grofsen Staatseinrichtungen und Familienleben), wo solche vor- handen sind, bieten willkommenen Lesestoff, der zu keiner anderen Zeit so lebhaft erfafst wird, als zu der Zeit, in welcher die im Geschichtsunterricht gewonnenen Vorstellungen noch frisch und lebendig im Vordergrunde der Seele stehen.

Lange vor der Behandlung der Geschichte diese Stücke zu lesen, würde zumeist wertlos sein, sie aber lange Zeit danach erst auftreten zu lassen, das würde unnötig die Arbeit (das Wachrufen der schon sehr verdunkelten Vorstellungen) vergröfsern und den Nutzen verringern, denn die festesten geistigen Gebilde entstehen durch Verschmelzen von auf der Höhe des Bewufstseins stehenden, klaren, lebhaften Vorstellungen. Die geographische Erkenntnis ist zu beleben durch Reisebeschreibungen, durch wertvolle und in- teressante Schilderungen von Land und Leuten. Jede neue Jahres- zeit soll auch eine neue Blüte lyrischer Poesie dem kindlichen Verständnisse aufgehen lassen.

Das Verständnis für das Gelesene soll der Unterricht dem Zöglinge erschlicfsen. Da mufs denn auch die rechte Behand- lung des Stoffes dazukommen. Es genügt nicht, dafs die ver- wandten Vorstellungen in der Seele des Schülers sich irgendwo vorfinden, sie müssen auch gegenwärtig sein, sie müssen klar sein, sie müssen bereit sein, das Neue mit sich zu verbinden. »Der neudargebotene Unterrichtsstoff wird vergeblich an die Seelen- thür klopfen, wenn nicht die alten, verwandten Gedankenreihen

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herbeieilen und Pfortnerdienst verrichten. Sie müssen das Thor öffnen und den Fremdling einlassen, sie müssen ihm Aufnahme bereiten und ihn veranlassen, dafs er sich heimisch fühlt und bleibt, sie allein können es.«

Durch eine Aufgabe, ein Ziel ist der Zögling auf das sachlich Neue hinzuweisen und zu veranlassen, die verwandten Vor- stellungen, die in seiner Seele wohnen, durch sprachlichen Aus- druck auf die Höhe des Bewufstseins, zur Klarheit zu erheben.

Dies letztere geschieht in der vorbereitenden Besprechung, in der das Bekannte reproduziert, berichtigt, ergänzt und geordnet wird. Die Vorstellungen sind so zu gruppieren, dafs eine Er- wartung auf das Neue entsteht. Es sind, wo es thunlich ist, Anfänge von Vorstellungsreihen herzustellen, deren Fortgang der Schüler ahnen kann (Vermutung), deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit der Schüler wünscht (Hoffnung) oder fürchtet (Besorgnis). Es ist auf das Unbestimmte, Mangelhafte, das zu Ergänzende ausdrücklich hinzuweisen und der Wunsch nach Be- friedigung des Verlangens zu erwecken (durch Fragen).

Ja, rechter Unterricht ist eine Kunst und ihre Ausübung ist eine schwere Sache. Aber war das Arbeiten hier nach der rechten Art, sind alle Naturgesetze des geistigen Geschehens be- rücksichtigt, so wird dem Lehrer schon hier eine grofse Freude zu teil, die andern Künstlern erst am Ende ihrer Arbeit winkt. Er wird sehen, wie im Schüler alles nach Befriedigung, nach Be- antwortung drängt, wie obzwar in geordnetem Zuge und nicht wild und ungestüm, so doch lebhaft, mit Lebendigkeit und Kraft die Vorstellungsreihen ablaufen, wie sie immer mehr und immer andere Verstärkungen herbeirufend, dem Neuen entgegeneilen.

Ist nun so die Seele in eine der 'Aufnahme des Neuen günstige Verfassung versetzt, so ist der rechte Zeitpunkt ge- kommen, das Neue darzubieten. Es wird abschnittweise ge- lesen und zwar von den Schülern selbst.

Mag auch das Verständnis erleichtert, der Gemütseindruck verstärkt, die Fähigkeit rechten Nachahmens vergrölsert werden, wenn zunächst der Lehrer das Lesestück dem Schüler vorliest, mag das alles sein, wie man behauptet, wir können nicht von der Forderung ablassen, dafs der Schüler der Oberstufe zuerst selbst an die schwierige Arbeit der Entzifferung der Schriftzeichen und ihrer Umwandlung in Gedanken sich wage. Das ist ja gerade, was er im Leseunterricht lernen soll. An das gehörte Wort Reproduktionen von Vorstellungen und Gedankenverbindungen anzuschliefsen, das kann der Schüler schon aus den übrigen Unter- richtsgebieten her, er kann auch durch rechten, warmen, herzlichen Ausdruck in der Rede des Sprechenden bewegt, innige Gefühle in seiner Seele nachgestalten, vielleicht ist er sogar imstande, den Gemütszustand der durch das gehörte Wort in seinem Innern sich

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ausgebildet hat, charakteristischen Ausdruck durch rechte Be- tonung der Worte zu verleihen. Er kann das im Anschlüsse an Gehörtes. Der Fortschritt, welcher durch den Leseunterricht ge- schieht, ist der: Der Schüler lernt das alles nun auch im Anschlüsse an Geschautes, veranlafst durch die Schriftgebilde des Buches. Diese Schrift zeichen sollen die sachlichen Vorstellungen in der Seele wachrufen, die Buchstaben sollen den Schüler veranlassen, die richtigen Gedankenverbindungen herzustellen, die toten Hiero- glyphen sollen die Gemütsbewegung in ihm hervorbringen. Wenn der Lehrer dem Schüler das Neue vorliest, ist es aber anders; da sind die Wortklänge, die der Lehrermund hervorbringt die Reproduktionshilfen für die Vorstellungen, das Vorlesen er- schliefst dem Schüler das Verständnis, der Lehrer, nicht das Buch spricht zu seinem Herzen. Die Arbeit ist dem Schüler er- leichtert, das ist gewifs; aber darin liegt gerade die Gefahr. Wenn er jetzt liest, ist seine Geistesarbeit eine ganz andere. Nicht aus den Tiefen der Seele hat er die Vorstellungen herbeizuschaffen, sondern aus der Erinnerung an das soeben Gehörte ; nicht selb- ständig wandelt er seinen eignen Weg, er liest nach, was andere ihm vorgelesen haben. Der Schüler soll lernen, durch Schrift- zeichen veranlafst, einen Gedankenaufbau in seinem Innern selbst herzustellen. Ehe er aber die Schriftzeichen sieht, kommt man seinem Eifer, seinem auf das Neue gerichteten Interesse, dessen Stärke und Kraft auch grofse Schwierigkeiten zu überwinden ver- spricht, zuvor und giebt ihm auf eine andere Weise, was er doch gerade auf diesem Wege, auf dem des Lesens, erwerben soll! Man beseitigt damit beinahe alle Schwierigkeit aber er soll doch daran gewöhnt werden, dafs, ob auch das Lesen ihm an- fangs Mühe und Schwierigkeit bereitet, dafs beharrlicher Fleifs und selbständiges Nachdenken am Ende ihm die ftifse Frucht des Verständnisses und des ästhetischen Genusses reifen läfst. Er wird ein andermal die saure Arbeit verschmähen, wenn man die Früchte ihm vorher achtlos in den Schofs wirft. Man rühmt sich, dafs man dadurch den Schüler so schnell dazu bringe, daft er sinngemäfs und ausdrucksvoll das Vorgelesene dem Lehrer nach- lesen kann. Aber hat das einen Wert? Der Lehrer mit seinem reichen Geistesleben, mit seiner schnellen Auffassungsweise, mit seiner sorgfältigen Vorbereitung auf den vorliegenden Stoff steht auf der Höhe der Lage. Mächtig wogen in ihm die Gefühle. Mit ganzer Hingabe seiner Seele bringt er seinen Gemütszustand zum Ausdruck. Er irrt sich, wenn er meint, den Schüler in Be- geisterung mit fortreifsen zu können. Dazu fehlen in der Schüler- seele zunächst noch alle Vorbedingungen. Sie zu schaffen, dazu ist gerade die langsame Arbeit, wie sie durch das Selbstlcsen, das der Schüler zu Haus ausübt, das Selbstbesinnen auf den Inhalt, das Selbstsammeln seiner Gefühle, zu dem er später veranlaist

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wird, günstig. Das schöngesprochene Wort vermag nicht mit einem Zauberschlage diesen Geistesprozefs zu erregen und voll- enden, zum mindesten nicht im Kinde. Ehe aDer das Verständ- nis für das Gelesene erzeugt ist, ehe die Gefühle auch in der Schülerseelc wachgeworden sind, ist es sehr gefährlich, zur Nach- ahmung schöner sprachlicher Darstellung anzuregen. Das ist für den Stil schon oft zugegeben worden, es gilt aber auch für die Betonung. Man vergesse nicht: Es giebt auch eine volltönende Rede, in der eine grofse Begeisterung sich ausspricht, obwohl die Seele des Sprechenden ganz gleichgiltig ist. Es giebt auch eine Heuchelei, die im herzlich warmen Tone der Stimme einen andern Seelenzustand darstellt als den wirklich vorhandenen, und wahrlich, die klingende Phrase, die blofs im Tonfalle liegt und lugt, sie ist nicht die harmloseste. Und ist es nicht in gleicher Wr.se eine Unwahrheit, wenn der Schüler mit seinem Munde die schöne Darstellung nachahmt, in der etwa die Bewunderung für eine grofse Persönlichkeit im Wortklang und Tonfall durch den begeisterten Lehrer zum Ausdruck kam, wahrend des Schülers Hei z von jener Begeisterung noch nichts verspürt, weil die Geistes- arbeit, ja erst begonnen hatte, deren Endergebnis dieser Seelen- zv. tand nur sein kann? Die Schüler mögen dann noch so schön, sinngemäss und ausdrucksvoll das Vorgelesene nachahmen, es gilt do'.h für sie das harte Wort: »Dies Volk nahet sich mir mit seinem Munde und ehret mich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist ferne von mir und vergeblich dienen sie mir.«

So lange diese Gründe noch nicht widerlegt sind und zwar durch sorgfältige psychologische Untersuchung, solange mufs auch die Forderung aufrecht erhalten werden : Der Schiller der Ober- klasse hat zuerst das Neue selbst zu lesen, mag auch die Leistung noch mangelhaft sein. Er soll mit steigender Lust, mit wach- sendem Eifer arbeiten. Das kann er nur dann, wenn es mit zu- nehmendem Erfolge geschieht. Dazu soll ihm gewifs der Lehrer reichliche Handbietung und Hilfe leisten. Aber selber soll der Schüler versuchen, was er lernen soll: den unverständlichen Schrift- gel.ilden Verständnis und Gedanken zu entlocken.

Ob die Aufnahme der im Lesestücke niedergelegten Gedanken \vi: klich erfolgt ist und wie der Aufbau der Vorstellungen sich vollzogen hat, das erfährt der Lehrer durch die mündliche W iedergabe des Gelesenen von Seiten der Schüler. Bei dieser ist dem individuellen Ausdrucke freiester Spielraum zu gewähren.

Die dabei auftauchenden Fehler und Unklarheiten gaben Ver- anlassung zur Besprechung, die in den Inhalt des Gelesenen einführt. Die gedruckten Worte waren einmal Gedanken, sie sollen auch wieder in Gedanken verwandelt werden , nämlich in Gedanken des Schülers. Aber wieder nicht in beliebige Gedanken, sondern in solche, wie sie der Schriftsteller hatte, der einst das

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niederschrieb. Die Schlüssel zum Verständnisse hat der Schüler in seinem Vorstellungsschatze. Man veranlasse ihn, aus demselben die rechten auszuwählen und zu gebrauchen. Man rege ihn an, den sinnlichen Hintergrund der Bilder selbst zu suchen und auf die poetische Redeweise anzuwenden. Man ermuntere ihn, das weiter auszumalen, was der Schriftsteller mit treffender Sinnfülle, also durch einen kurzen bündigen Ausdruck gekennzeichnet hat. Der Schüler mufs so gewöhnt werden , dafs wenn er nur Worte sieht, er sich immer selbst fragt, was sich dabei wohl möge denken lassen. Der Lehrer hat die Besprechung daher nur zu leiten und die rechte Erklärung geschieht nicht über die Köpfe hinweg, nicht in die Köpfe hinein, sondern aus den Köpfen heraus.

Sind sämtliche Abschnitte so bearbeitet, so sind sie zu einem Gedankenganzen zu vereinigen in einer Gesamtauffassung. An dieser Darstellung des Ganzen haben sich möglichst viele Schüler zu beteiligen. Ist sie gelungen , so ist die Aufnahme der neuen Vorstellungen nach ihrer gleichzeitigen Verknüpfung gesichert.

Nun ist aber nicht das Lesen als solches, sondern die Fähig- keit, selbständig über das Gelesene zu denken von Wert. Denken heifst, Vorstellungen verbinden und trennen ihrem Inhalte ent- sprechend. Die gewonnenen Vorstellungen müssen daher nun auch nach ihrer Gleichartigkeit verknüpft werden.

Dazu wird der Zögling veranlafst durch zusammenfassende Hauptfragen, Anregungen, die ihn auf den Kern der Sache leiten, die ihn schliefslich nötigen, die gewonnenen Ergebnisse seines Nach- denkens zum Hauptgedanken des Ganzen zu verdichten. Dies ist eins der wichtigsten Stücke der Unterrichtsarbeit und ein solches, das bei der Vorbereitung der sorgfältigsten Überlegung bedarf.

Was der Schüler auf diese Weise durch sorgfältiges Nach- denken sich erarbeitet hat, das kann er auch tief erfassen und empfinden. Jetzt wird er die Lage der handelnden Personen ver- stehen, jetzt wird ihn Mitfreude und Mitleid bei der Betrachtung ihres Schicksales ergreifen. Jetzt kann er auch, geleitet durch den Unterricht, ein sittliches Urteil über die dargestellten Willensäufserungen aussprechen. Das geschieht, und es erfolgt die Gesamtwiedergabc des geistigen Inhalts des Lesestückes durch den Schüler, ganz nach seinem individuellen Erfassen.

Nun hat der Unterricht Sorge zu tragen, dafs durch Ein- prägung des Inhaltes ein Reichtum klarer, zusammenhängender Gedanken in des Schülers Seele zurückbleibt, dafs das Wissen sich lebendig erhalte durch Verknüpfen des Erarbeiteten mit andern Gegenständen des betreffenden Faches, dafs durch Auflösen und Wiederanderszusammenstellen neue Gebilde entstehen und so zum Interesse am Stoffe die Herrschaft über den Stoff hinzutrete.

Im Sachunterrichte sind die hier angefangenen Fäden Weiter fortzuspinnen. Eine einfache, aber doch möglichst anschauliche

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schriftliche Darstellung des Inhalts schliefst diesen Teil der Schul- arbeit ab. Wird mit dieser Schülerarbeit das Werk des Schrift- stellers verglichen , so tritt lebhaft zu Tage bei gleichem Inhalte die Verschiedenheit der sprachlichen Gestalt.

Durch einen solchen Vergleich erst kann der sprachliche Ausdruck, den der Schriftsteller gebraucht hat, recht erkannt werden als das passende Kleid des Gedankens, und es tritt nicht allein die Angemessenheit, sondern auch die Srhönheit der Form ins hellste Licht.

Die Einführung in die Würdigung der sprachlichen Gestalt des Lesestückes darf nur so weit gehen, dafs der Zögling ihren Zauber recht empfinde, nicht so weit, dafs durch die theoretischen Gedanken die ästhetischen Gefühle gestört werden.

Bei Gedichten mufs. ehe ihre äufseren Schönheiten besprochen werden dürfen, erst der Wortlaut dem Gedächtnisse eingeprägt sein.

Bei diesen Betrachtungen sind auch die poetischen Ausdrücke zu sammeln und zu merken.

Wenn auf diese Weise Geist urd Gemüt des Zöglings durch Inhalt und Form des Gelesenen bereichert worden ist, wie er- heben wir seine natürliche Anlage, von solchem Reich- tume auch andern mitzuteilen zur Fertigkeit, Sinn und Bedeutung, die er aus den Schriftwerken sich herausgelesen, Stim- mung und Gemütsbewegung, die seine Seele dabei ergriffen, durch den flüchtigen Klang des lebendigen Wortes auch in anderer Stelen hinüberklingen zu lassen, dafs sie dort mächtig und wirk- sam werden?

Um dies zu beantworten, müssen wir uns vergegenwärtigen, dafs wir den lebendigen Zauber des gesprochenen Wortes empfinden, ohne uns bewufst zu werden, worauf eigentlich seine Wirkung beruhe, ja dafs diese mächtige Wirkung sich bei den meisten Menschen nur so lange ungeschwächt erhält, als wir die Ursache nicht in ihre Elemente zergliedern.

Recht vorlesen ist eben eine Kunst, und keine Kunst erblüht aus Regeln und Anweisungen, jede Kunst nimmt ihren Ausgang vom Vorbilde. Dieses giebt hier der Lehrer in seinem Vorlesen. In der reinen Form der Sprachlaute soll der Sinn des Gelesenen wie der Gemütszustand des Lesenden zur angemessenen, natur- wahren Darstellung kommen. Das Lesen soll dem Schüler als Muster gelten. Also mufs es mustergiltig sein.

Von selbst wird im Schüler die Lust zur Nachahmung er- wachen. Wogen doch auch in seinem Innern Gefühle, die zur That drängen. Er wird die Darstellung versuchen, und sie wird mifslingen. Denn Lesen ist keine leichte Sache, recht Vor- lesen ist eine Kunst. Sie auszuüben, dazu gehört mancherlei. Den Schüler dazu anzuleiten, . dazu bedarf es der geschicktesten Führung, und zu dieser gehört: Einsicht und Geduld.

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Der Lehrer mufs wissen, dafs es für den Schüler nichts Leichtes ist, Schriftzeichen in Gedanken und Gefühle und diese wieder in Bewegungsreihen zu Schallgebilden umzusetzen. Er mufs ihm die unerläfsliche Bedingung dazu, die Herrschaft des Willens über die Sprachwerkzeuge und den Ausatmungsstrom anzubahnen suchen. Er mufs sprachliche Fehler unverdrossen verbessern, die mundartlichen Trübungen der Laute unablässig bekämpfen, die rechte Betonung, das sinngemäfse Lesen nicht blofs durch Vor- thun, sondern auch durch Begründung aus dem Sinne, wie durch kurze einleuchtende Anweisung erstreben.

Den Ausdruck der Gefühle kann er nicht erzwingen, dazu kann er nur anregen und begeistern, den von selbst hervor- sprudelnden Quell aber eindämmen und ihm seinen rechten Weg zeigen.

Er darf jedoch nimmer vergessen: Was zur Fertigkeit werden soll, das kann es nur werden durch häufige und andauernde Übung. Deshalb : viele Lesestunden auf der Oberstufe, fleifsige Benutzung aller Schulbücher, Anregung zum häuslichen Lesen guter Bücher. Der Lehrer soll jedem Einzelnen seine Kraft und seine Liebe zu teil werden lassen, er darf über dem Einzelnen aber auch wieder nicht das Ganze aus dem Auge verlieren. Daher : häufiges Chorlesen mit rechter Betonung und mit Halten der Satzzeichen im Wechsel mit Einzellesen der guten Leser als Muster für die andern, der schwachen zur Übung. Diese schwachen Schüler sind auch zum Lesen besonderer Stücke zu Haus durch tägliche Aufgaben anzu- halten, bis ihre Fertigkeit die der anderen Schüler erreicht.

Die beste Übung aber für gute Aussprache, rechte Betonung und warmen Ausdruck ist das (vom Buche) freie Vortragen des Gelernten. Was verstanden worden, was durch Versenken der Seele in den Inhalt dem Schüler lieb geworden ist, das mufs nun auch seiner auswendigen Seite, seiner Wortfolge nach eingeprägt, das mufs wie man sagt auswendig gelernt werden, damit es oft im Chore oder von einzelnen zum schönen Ausdruck gelange.

Das sind die Höhepunkte im Schulleben, wenn bei festlichen Gelegenheiten aus hellem Kindesmunde so einfach und doch so ergreifend des Dichters Wort erklingt, so dafs es mit seiner schönen Form und seinem reichen Inhalt im Gemüte Gefühle der Lust und Begeisterung wachrufend, der feierlichen Stunde die rechte Weihe giebt.

Wie oft haftet es unverlöschlich fest in der Seele und wenn andere Töne längst ungehört verhallt sind, da schallt es empor aus der Tiefe, ein vergessener Klang aus der Kindheit goldnen Tagen, wie eine leise Mahnung an Unschuld und Herzensreinheit und bleibt es ungehört? Lafst uns vertrauen, dafs es wahr sei, was der Dichter sagt:

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»Wunder wirkt oft im Gemüte Ein geweihtes Dichterwort.«

Damit haben wir in kurzen Zügen den Weg dargelegt, auf dem nach unserer Überzeugung der Zögling am sichersten dahin geführt werden könne, was wir als Ziel des Leseunterrichts hin- gestellt haben, zu der Fähigkeit, dafs er aus den im blofsen Schriftdrucke vorliegenden Geistesschätzen einen tiefen Ein- druck sich selber erarbeite, den er dann auch durch die Sprache zum Ausdrucke zu bringen vermag.

Es ist selbstverständlich, dafs nicht der ganze hier dargelegte Gang bei jedem einzelnen Lesestücke durchlaufen werden darf. Wir haben versucht, die Gesamtheit der Veranstaltungen im Lese- unterrichte darzulegen.

Durch unsere Untersuchung sind wir uns der ganzen Schwierig- keit unserer Aufgabe bewufst geworden. »Wie schwer sind doch die Mittel zu erwerben, durch die man zu den Quellen steigt,* so zieht's auch uns durch den Sinn.

Da ist denn die rechte Zeit, dafs wir in unserm Bewufstsein der Schwierigkeit der Arbeit gegenüberstellen ihre Wichtigkeit, dafs wir uns besinnen auf den unsagbar grofsen Nutzen, den die Arbeit der Schule dem Kinde bringt, auf die mächtige För- derung, welche das Geistesleben des Menschen erfährt, dadurch dafs er lesen lernte.

Durch das Lesen wird dem Menschen das Thor zum Tempel der Weisheit erschlossen. Das tote Wort bringt ihm aus ver- klungenen Tagen lebensvolle Kunde, er wird ein Zeitgenosse aller Zeiten, und was andere erlebt und erfahren, davon geht ein gut Teil auf ihn mit über.

Er lernt sie verstehen die grofsen Bewegungen, die Fort- schritte seiner Tage, die nationale Erhebung seines Volkes. Das Lesen öffnet die Pforte, durch die aus der Seele Vorurteil und Aberglaube fliehen, durch die das Jahrhundert mit seinen grofsen Geistern, den Trägern edler und erhabener Ideen, seinen Ein- zug hält.

»Und was auch äufseres und inneres Schicksal Trübes und Unfreundliches bringen mag, der Mensch hat noch eine stille Siedelei, in die er sich zurückziehen kann,« wohin die bösen Menschen und die tobenden Stürme nicht dringen. Nicht in der Lust der Welt braucht er seine Befriedigung zu suchen. Ein gutes Buch wird ihm Trost und Erhebung und eine Fülle reiner Genüsse aus seinem eigenen Herzen erblühen lassen und ein Glück

»Es ist nichtdraufsen, da sucht es der Thor, Es ist in dir, du bringst es ewig hervor.«

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B. Mitteilungen.

I. Religionsunterricht und Sozialdemokratie.

Um »die volle Wahrheit über die Gesinnung der arbeitenden Klassen, ihre materiellen Wünsche, ihren geistigen, sittlichen und religiösen Charak- ter« kennen zu lernen und darauf weiteres Studium und spätere Arbeit zu bauen, hing der Kandidat Göhre im Juni 1890 den Kandidaten: ocic an den Nagel und zog als Fabrikarbeiter nach Chemnitz. Dort hat er unerkannt als gewöhnlicher Handarbeiter fast 3 Monate lang in einet grofsen Maschinen- fabrik »mit den Leuten täglich elf Stunden gearbeitet, mit ihnen gegessen und getrunken, als einer der ihrigen unter ihnen gewohnt, die Abende mit ihnen verbracht, sich die Sonntage mit ihnen vergnügt und so ein reiches Material zur Beurteilung der Arbeiterverhältnisse gesammelt < Was er er- lebt hat, teilt er nun in einem hochinteressanten, von warmer Liebe zu seinem Volke zeugenden Buch unter dem Titel »Drei Monate Fabrik- arbeiter und Handwerksbursche«*) dem Publikum mit. Auf den reichen, besonders für Lehrer in Grofsslädtcn und Fabrikdürfern sehr be- herzigenswerten Inhalt nach allen Seiten näher einzugehen, ist hier nicht der Ort; dagegen ist es sicher die Pflicht einer pädagogischen Zeitschrift, nachdrücklich auf die Beobachtungen hinzuweisen, welche Göhre inbezug auf den Erfolg des üblichen Religionsunterrichtes gemacht hat Die Haupt- gedanken sind lolgende: Die Dorfschulbildung zeigt sich, das ist ihr oberstes Charakteristikum, als durchaus religiös und konfessionell dogmatisch be- stimmt. Der kleine Schatz von Wissen, den der schlichte Handarbeiter vom Land besitzt, beschränkt sich auf das Gebiet des profanen Wissens der Schrift und ist von dem Stande ihrer geistigen Bildung durchaus ab- hängig. Der biblische Schöpfungsbericht ist ihm nach wie vor die eigent- liche Quelle seiner Naturauffafsung, der einzige mafsgebende Ausgangspunkt seiner Gedanken über die Welt. Dazu kommt, »dafs heutzutage in der Schule dieHeilsthatsachen des Evangeliums nie In als persön- liche Lebenswahrheiten unmittelbar, sondern als Lern- und Memorierstoff lehr- und schulmäfsig, wie sie im Katechismus for- muliert sind, nicht den Herzen, sondern den Köpfen der Kinder übermittelt zu werden pflegen. Der Religionsunterricht ist hier also vor- wiegend Verstandesunterricht anstatt Erziehung des Charakters; die christliche Heilswahrheit kalter Lernstoff anstatt warme, alles durchdringende Lebenskraft; Jesus Christus nach dem Vor- gange des Dogmas mehr ein metaphysisches Rätsel als eine historische gottvolle Persönlichkeit.« Diese Bildung wird für

•) Leipzig, Grunow 1891. aaa Seiten. Preis 2 Mark. Pädagogische Studien. 1.

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den Landbewohner, wenn er in die Fabrik eintritt, die Ursache einer schweren intellektuellen und religiösen Krisis und mufs fast immer Bankerott und einer andern Bildung Platz machen. In den Bürgerschulen ist zwar der Religionsunterricht »genau wie in der Dorfschule vorwiegend Kate- chismusunterricht, sein Gegenstand ist das logisch mit den Mitteln einer antiken längstveralteten Wissenschaft aufgebaute Lehrgebäude des kirch- lichen Dogmas ... und all' das unter selbstverständlicher Anerkennung der wörtlichen Inspiration der heiligen Schrift; aber man erlaubt sich hinsichtlich des letzteren in der Praxis eine starke, wenn auch still- schweigende Korrektur, indem man in den übrigen Unterrichts* fächern eben diese nach logischer Notwendigkeit allgemeingültige Autorität eliminiert und die moderne Erkenntnis hier als Autorität anerkennt und benutzt, ohne jedoch in eine klare Auseinander- setzung dieses innern Widerspruches einzutreten.« Wird dann später dem Industriearbeiter dieser innere Widerspruch in seiner geistigen und religiösen Bildung fühlbar dafs das geschieht, dafür sorgt die Sozial- demokratie — , so hat er gleichfalls eine Krisis durchzumachen, aus der er ebenfalls meist für immer als ein anderer hervorgeht, und die er vor allem »mit der Darangabe des ganzen ihm gelehrten un'd bisher autori- tativen Christentums zu bezahlen pflegt«. An die Stelle der über- wundenen christlichen Bildung tritt die neue, aus »der Wissenschaft« ge- schöpfte sozialdemokratische Bildung. Die Sozialdemokratie hat den Wissensdrang der untern Stände wie niemand belauscht und in ihrer Weise benutzt, sie hat mit kühnem Griffe die moderne Wissenschaft popularisiert, gefälscht und gestrichen, was ihr gut dünkte, alles in die Farbe der Partei getaucht und auf den Kampf mit der christlichen Weltanschauung zuge- schnitten. Diesem Anstürme vermag das vorwiegend veistandesmäfsig (besser gedächtnismäfsigj angeeignete Christentum nicht Stand zu halten; »vor der Kritik des modernen realistisch geschulten Menschen fallen die metaphysischen Spekulationen des überlieferten Dogmas, in das man die Wahrheit des Christentums bisher hauptsächlich setzte, über den Haufen.« Nachdem Göhre diese allgemeine Thatsachc durch eine Reihe zum Teil wahrhaft ergreifender Einzclerfahrungen illustriert und ganz besonders das Trostlose und Hoffnungslose dieses materialistischen Standpunktes an ein- zelnen Zügen aus dem Leben trefflich nachgewiesen hat, schliefst er: »Nun wächst eine Welt ohne Gott da unten herauf, zieht ihre immer gröfseren Kreise, zwingt die noch Ringenden, Zagenden, Schwankenden, die im Grunde nichts wissen wollen von den öden Glaubenslehren der materialistischen Weltanschauung, immer von neuem in ihren eisigen Bann. Von der eigenen Kirche ohne Hilfe, ohne Aufklärung, ohne Führung und Stärkung gelassen und von der Atmosphäre sozialistischer Ideen unentrinnbar um- geben, sterben sie alle einen langsamen, oft qualvollen geistigen Tod.« Wer Ohren hat, der höre, thue die Augen auf und sehe selbst, was neben ihm vorgeht, bat er Herz für sein Volk und Vaterland, dann wird er auch freudig Hand anlegen, damit die Verwüstung unsers Volkslebens nicht noch weiter um sich greift. Thrändorf.

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2. Die zweite Jahresversammlung der Vereinigung von Freunden der Pädagogik Herbart-Zillers in Unterfranken.

Nachdem an dieser Stelle*) über die Entstehung, Einrichtung und i. Jahresversammlung oben genannter Vereinigung Mitteilung gemacht worden, wird es als Pflicht empfunden, auch über die zweite Jahresver- sammlung der angeführten Vereinigung wenige Worte verlauten zu lassen.

Um sogleich des äufseren Verlaufs kurz zu gedenken, sei erwähnt, dafs die Versammlung am 15. Juli dieses Jahres im »Falken< dahier unttr erfreulicher Beteiligung hiesiger wie auswärtiger Lehrer stattfand. Leider war der um Pflege und Ausbreitung der Pädagogik Herbart-Zillers viel ver- diente Hauptlchrer Steimann von Kitzingen diesmal durch Angcgriffenheit verhindert, die Verhandlungen zu leiten; für ihn unterzog sich Lehrer Conrad von Kitzingen dieser Aufgabe. Die Zeit des Zusammenseins war lediglich angestrengter Arbeit gewidmet.

Mit der letzteren Bemerkung ist bereits der eigentliche Zweck dieser Zeilen gestreift, schlicht anzuzeigen, welches Gegenstand und Gehalt der heurigen gemeinsamen Besprechung war. Auf den Gegenstand ist schon früher andeutend hingewiesen worden. Wie das erste mal hauptsächlich der Angelpunkt der Ethik, die Wertschätzung, so war dieses zweite mal der Angelpunkt der Psychologie, die Apperzeption, der Vorwurf für die Auseinandersetzungen. Und zwar wurden erörtert: 1. Die Apperzeption als innerer Vorgang, 2. die Apperzeptionsvorgänge beim Unterricht, 3. die Apperzeptionsstufen beim Kind und bei der Menschheit. Zu allen drei Punkten waren einlässige, gründliche Unterlagen dargeboten. Bei der Be- sprechung des ersten wurde sodann noch das folgende ins Auge gefafst: Wahrnehmung und Apperzeption der Wahrnehmung. Setzt der Über- gang von der Pcrzeption zur Apperzeption eine ursprüngliche Anlage dazu in der Seele voraus? Die innere Aktivität beim Vorgang der Apper- zeption. — Wundts Auffassung der Apperzeption als Funktion des Willens. Sein Willensbegriff. Unterscheidung der Vorgänge blofser Reproduk- tion von Vorgängen der Apperzeption. Die assoziativen und apperzep- tiven Verbindungen unter den Vorstellungen. Die kennzeichnenden Züge der Apperzeption.

Beim zweiten Punkt wurde erwogen: Welcher Art ist die Apperzeption auf jeder Hauptstufe in der methodischen Einheit? Der Vorgang der Wölbung und Zuspitzung auf der Klarheitsstufe. Fehler inbezug darauf beim Unterricht. Der Weg zur Bildung der Begriffe einerseits im Ge- biete der Erfahrungen, andererseits im Bereiche des Sittlichen Grund- verschiedenheit darnach zwischen Naturkunde und Gesinnungsunterricht. Der Zusammenhang in der methodischen Einheit.

Endlich beim dritten Punkt wurde überlegt: Der Übergang des Kindes

•) P. St. 1891, I. H , 38 f.

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von der phantasiemäfsigen zur tatsächlichen Auffassung in seinem Zu- sammenhang mit der Ausbildung des Selbstbewufstseins. Decken sich die Entwickelungsstufen eines Volkes in praktischer Hinsicht, welche Vogt*) annimmt, mit den kulturgeschichtlichen Stufen der allgemeinen gesell- schaftlichen Ent Wickelung, welche Ziller**) aufstellt? Der Einflufs der geschichtlichen Mächte auf das Kind in seiner Wichtigkeit für die Er- ziehung. - Beobachtung des Volkes, Ungünstige Rückwirkungen der grofsen Schulen und der grofsen Klassen auf eine individualisierende Er- ziehung. —

Zurückschauend auf die ganze zweite Generalversammlung der Freunde der Pädagogik Herbart-Zillers in Unterfranken, mufs man wohl gestehen: Es wurde das Zeugnis gegeben von dem redlichen Bemühen, die ernsten Fragen, deren Erwägung die Erziehung verlangt, auch mit Ernst anzu- greifen und nach bestem Vermögen zu durchdringen. Dadurch wird aber die Zuversicht genährt und befestigt, dafs das Wesen und die Bedeutung der Pädagogik Herbart-Zillers bei uns zunehmend klarer erkannt und rich- tiger beurteilt w'crden, und dafs ihr Einflufs auch auf unsere Schulen stetig wachse.

Würzburg, 23. Juli 1891. P. Zillig.

3. Das Privatschulwesen in Preussen.

In der Zeit, als die Fürsorge für die öffentlichen Schulen noch nicht so ausgiebig war wie heute, hatte das Privatschulwesen in Preufsen einen breiteren Boden als jetzt und private Schulen ersetzten in gröfserem Um- fange die öffentlichen. In den alten Provinzen des preufsischen Staates befanden sich im Jahre 1861 84021, im Jahre 1864 88064 Kinder in Privat- schulen; im Jahre 18S6 war jene Zahl auf 63 144 herabgegangen, und im Staate jetzigen Umfanges sank der Besuch der Privatschulen von 107 121 Schülern im Jahre 1871 auf 77 136 im Jahre 1886. Insbesondere sind die kleineren Privatschulen mehr und mehr eingegangen: im Jahre 1871 zählten die vorhandenen durchschnittlich 2,39 Klassen und 57,3 Kinder, 1886 aber 3,13 Klassen mit 63,8 Kinder. Die gröfste Privatschulc befindet sich im Regierungsbezirke Düsseldorf; dieselbe hatte 1886 1266 Schulkinder.

Die Privatschule mit dem Lehrziele der Volksschule hat in Preufsen kaum noch eine Bedeutung; im Jahre 1886 zählten die 248 Schulen dieser Art im ganzen Staate zusammen nur 8763 Kinder, darunter 3693 Knaben

•) Erläuterungen i. Jahrb. d V. f. w. P. XVI, S. 40 f. ♦♦) Jahrb. d. V. f w. P. YIII, 117 f.

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und 5070 Mädchen, welche von 233 vollbeschäftigten Lehrkräften, nämlich 129 Lehrern und 204 Lehrerinnen, unterrichtet wurden. Dagegen sind die Privatschulen mit dem Ziele der Mittelschule noch jetzt ein schätzbares Glied unseres Unterrichtswesens; sie überwiegen der Zahl nach sogar die öffentlichen Mittelschulen, erreichen aber allerdings nicht deren Umfang: während in 576 öffentlichen Schulen dieser Art 134 937 Kinder unterrichtet wurden, sind in den 961 privaten Mittelschulen nur 68373 Kinder ermittelt, und jede derselben zählte im Durchschnitt nur wenig über 71 Kinder. Diese Schulen dienen ganz überwiegend zur Ausbildung der weiblichen Jugend; denn unter den 68 373 Schülern derselben waren nur 12 625 Knaben, dagegen 55 748 Mädchen, und auch wenigstens ein Viertel der Knaben hält sich jedenfalls nur vorübergehend in diesen Anstalten auf; denn 3016 Knaben und 3030 Mädchen wurden in gemischten Klassen unterrichtet, ohne Zweifel Kinder jüngsten Alters, von denen die Knaben nach Zurücklegung der ersten Schuljahre sicherlich ausnahmslos auf andere Lehranstalten über- gehen.

An den privaten Mittelschulen unterrichten 3126 vollbeschäftigte Lehr- kräfte, darunter 704 Lehrer und 2422 Lehrerinnen, aufserdem 2994 Hilfs- lehrkräite und 826 Handarbeitslehrerinnen.

Trotz ihrer verminderten Bedeutung haben die Privatschulen noch heute eine wichtige Stellung [im öffentlichen Leben: sie bieten einem grofsen Teile des weiblichen Lehrpersonals eine wenn auch oft bescheidene Unterkunft, und das ist in Anbetracht der sonstigen Lage desselben durch- aus nicht zu unterschätzen. Die öffentlichen Volks- und Mittelschulen zählen unter 58 765 vollbeschäftigten Lehrkräften nur 7869 oder etwas über 1 1 Proz. Lehrerinnen ; in den entsprechenden Privatanstaltcn dagegen be- finden sich unter 3459 dergleichen Lehrkräften 2616 oder rund 76 Proz. Lehrerinnen. Die öffentliche Volksschule, namentlich auf dem platten Lande und insbesondere in den überwiegend evangelischen Gegenden, ver- hält sich gegen die Anstellung von Lehrerinnen so ablehnend, dafs im ganzen Staatsgebiete z. B. nur 442 evangelische Lehrerinnen in den öffent- lichen Volksschulen auf dem platten Lande arbeiten, während 2304 katho- lische ebenda vorhanden sind, hiervon allerdings nicht weniger als 2092 in Rheinland und Westfalen. Einzelne rühmliche Ausnahmen, darunter die Reichshauptstadt und die Provinz Schleswig-Holstein, vermögen die allge- meine Lage der Lehrerinnen nicht gründlich zu bessern, sie können höchstens und werden hoffentlich vorbildlich wirken. Deshalb aber hat die Privatschule ihre besondere Bedeutung, weil sie neben der Stellung als Erzieherin im Hause eine sehr schätzbare Zufluchtsstätte für geprüfte Lehrerinnen ist, und von diesem Standpunkte aus wird vielleicht mancher grundsätzliche Gegner der Privatschule ihr doch einiges Interesse zuwenden dürfen.

Thorn. H. Chili.

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4. Die Preussische Schuljugend mit fremder Familien- sprache, namentlich der polnischen.

Dir letzte Statistik des Schulwesens hat sich auch auf die Familien- s; rar lu t|Cr Schüler erstreckt. Es wurde ermittelt, welcher Sprache sich .In Kinder in ihren Familien gewöhnlich bedienen. Das Ergebnis dieser Au'n,ihim;n ist von hohef'Wichtigkeit. Einerseits zeigt es die Verbreitung un<l M:üke der fremdsprachlichen Elemente im Volke und andererseits Lust < rrkennen, wie sehr der Unterricht in manchen Bezirken und Kreisen durch < L ie sprachliche Verschiedenheit beeinträchtigt werden mufs. Wir v. nllr-i kshalb an der Hand der Statistik einen Überblick über die Vcr- Im< um; < der Schuljugend mit fremder Familiensprache geben.

['.<■'. Aufnahme der Statistik befanden sich in den öffentlichen und pnvairii Volks- und Mittelschulen und in den sonstigen niederen Schulen Srni ii i Übungsschulen, Blindenanstalten etc.) im ganzen 5 082 252 Schüler. rarr.rKrr in den öffentlichen Volksschulen 4838247 Kinder. Von diesen ^].rar:u'i, in ihren Familien:

Aus allen niederen Aus den öffentlichen Schulen: Volksschulen:

1

Nu deutsch*)

4 426 679 -—

87,10 Proz.

4 188 857

86,58

\ 1 polnisch

503064 =

9.9t>

»

500 315 -

io,35

i

I I lisch und deutsch

72 740 =

i,43

>

70 868

1,46

•t

Nu! litauisch

12754 =

0,25

12752 =

0,26

Litauisch und deutsch

8 393 -

0,17

>

8372

0,17

wendisch

9961 ~

0,20

9961 -=

0,20

\Y ndisch und deutsch

4 419

0,09

»

4 419 =

0,09

Nur sonst slavisch

8761 =

0,17

>

8 760

0,18

s.m-.v-i slavisch u. deutsch

2828 =

0,06

>

2 823

0,06

10.

Nut dänisch

24651 =

0,49

»

24 08S

0,50

1 1

1 1 ch und deutsch

1 627 =

0,03

>

1 380

0,03

12.

N u ine andere nicht

«Lutsche Sprache

4 538 -

0,09

»

4 049 =

0,08

' v

I u mdere nicht deutsche

^[ 'räche und deutsch

1 837 =

0,04

*

l 603

0,03

Auf dem platten Lande, woselbst die Schwierigkeiten der unterricht- lithcn Versorgung ohnehin schon gröfser sind als in den Städten, sind die sprachlichen Verschiedenheiten noch beträchtlicher. Dort wurden in allen

*i Im einem Mißverständnis cler Zahlen tu begegnen, mag ausdrücklich bemerkt werden, i..f .|u Kinder, welche al* polnisch oder slavisch oder dänisch und deutsch, oder als nur [.■a,:, mir slavisch, nur dänisch redenden Familien entstammend aufgeführt sind, selbstvcr- •u.isi-.!l:c:i ihrerseits der deutschen Sprache im vierten Schuljahre mächtig werden resp. ge-

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23

niederen Schulen gezählt 3353443 Schüler, darunter 3334341 der öffent- lichen Volksschulen. Von diesen sprachen in ihren Familien:

Aus allen Schulen : Aus den öffentlichen

Volksschulen :

I

Nur deutsch

2 780 1 19

82,90

Proz. 2 761 687 =

82,83

2.

Nur polnisch

448 468

13,37

>

448 268

1 3,44

.v

Polnisch und deutsch

52 029

'.55

>

51 863 =

4.

Nur litauisch

12 730

0,38

>

12 730 ~

0,^8

Litauisch und deutsch

8 287

0,2s

8 286 =

0,2s

6.

Nur wendisch

9867

0,29

>

9867 =

0,30

7-

Wendisch und deutsch

3 988

0,12

:

3 988 =

0,12

8.

Nur sonst slavisch

8257

0,25

>

8257 =

0,25

9-

Sonst slavisch u. deutsch

2 533

0,08

»

2 531 :r-

0.05

10.

Nur dänisch

21 144

0,63

>

21 125 =

0,63

11.

Dänisch und deutsch

967

0,03

>

933 =-

0.03

12.

Nur eine andere nicht

deutsche Sprache

3 592

0,11

>

3 3^7 =

0,10

13.

Eine andere nicht deutsche

Sprache und deutsch

1 462

0,04

>

1 439 =

0.04

Demnach waren von sämtlichen Schülern der niederen Schulen 655 573 oder 12,9 Proz. der Gesamtzahl aus Familien, in denen man sich einer fremden Sprache, und zwar meistens derselben ausschliefslich bediente. Auf dem Lande war das sogar bei 17,1 Proz. der Schüler der Fall. Nun verteilen sich die fremdsprachlichen Elemente über das Staatsgebiet sehr ungleich. Während sie in manchen Bezirken weit über den Durchschnitts- satz hinausgehen, haben andere Landesteile nur wenig oder gar keine Schüler nichtdeutscher Familiensprache. Zu den letzteren ^gehören die Provinzen Pommern, Sachsen, Hannover, Westfalen und Hessen- Nassau, sowie der Regierungsbezirk Potsdam und die Stadt Berlin. Die anderen Provinzen resp. Bezirke weisen Gebiete mit starken fremdsprachlichen Elementen auf. Die polnische und slavische Sprache ist in den Provinzen Posen, Schlesien, Ost- und Westpreufsen vertreten. Das Litauische hat seinen Sitz in Ostprcufscn, das Wendische in den Regierungsbezirken Frankfurt a. O. und Liegnitz und das Dänische in Scheswig-Holstein. In letzterer Provinz, sowie in Rheinland finden sich noch andere fremdsprach- liche Elemente.

Wie aus den obigen Tabellen zu ersehen, nimmt die polnische Sprache bei der sprachlichen Mischung der Bevölkerung die erste Stelle ein. Sie verbreitet sich über ganze Regierungsbezirke und Provinzen. Die anderen fremden Sprachen findet man dagegen nur in kleineren Gebieten. So ent- fallen die 26278 Schüler aus dänisch sprechenden Familien namentlich auf die 4 Landratskreise Hadersleben, Sonderburg, Apenrade und Tondern. In den ersten beiden beträgt die Zahl der nur dänisch sprechenden Schüler aber 94 und 93 Proz. und in den letzten beiden noch 87 bezw. 54 Proz.

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Das Gebiet der wendischen Sprache umfafst die Kreise Hoyerswerda und Rothenburg im Regierungsbezirk Liegnitz und die Kreise Kottbus, Knlau, Guben und Spremberg im Bezirke Frankfurt a. 0. Am stärksten vcrlu citet ist sie auf dem platten Lande der Kreise Kottbus und Hoyers- werda In ersterem gab es 58, in letzterem 42 Proz. Schüler aus nur wendisch sprechenden Familien. Dazu kamen noch 12 bezw. 10 Proz. mit wendischer und deutscher Familiensprachc.

Tue litauische Sprache hat ihren Hauptsitz im Landgebiete der ost- prcnlsivchen Kreise Memel, Tilsit, Heydekrug, Ragnit, Pillkallen, Niederung und Fabiau. In den ersten beiden wurden je 43 Proz. Schüler mit nur litauischer Familiensprachc ermittelt, in Heydekrug 37 Proz. und in den anderen zwischen 9 und 13 Proz. Dazu kam noch eine Anzahl litauisch und deutsch redender Kinder. Geringe litauische Elemente fanden sich noch in den Städten der Kreise Memel, Tilsit, Ragnit, Stallupöhncn, Inster- tnir*r und Goldap.

Die polnische Sprache hat die stärkste Verbreitung im Regierungs- bezirk Tosen und in Oberschlesien, sodann in der südlichen Hälfte Ost- preufsens, im Regierungsbezirk Bromberg und in Westpreufsen. In der Pr-'vinz Posen wurden 189 135 Schüler rein polnischer und 13 149 gemischter 1- Vun il hm spräche gezählt. Die Mehrzahl derselben entfiel auf den Re- Hi< run^sbezirk Posen, denn es waren vorhanden im Regierungsbezirk:

aus nur polnisch aus polnisch und deutsch

sprechenden Familien:

lVs.cn 135666 Schüler = 64,16 Proz. 8074 Schüler = 3,82 Proz.

Bremberg 53 4*>9 * " 46,92 » 5<>75 » ~ 4.45 »

Wahrend also im Regierungsbezirke Posen 67,98 Proz. aller Schüler aus Familien waren, in denen die polnische Sprache im Gebrauch ist, galt dns im Bezirk Bromberg nur von 51,37 Proz. der Schuljugend oder: Aus nur deutsch sprechenden Familien stammten im Regierungsbezirke Posen \2.o2 Proz., im Bezirke Bromberg 48,63 Proz. der Schüler der Öffentlichen und privaten Volks- und Mittelschulen. In der Provinz Schlesien gab es 10s j t,o Schüler aus Familien mit nur polnischer Sprache und 27240 aus Familien mit polnischer und deutscher Sprache. Dieselben entfielen fast ausschliefslich auf den Regierungsbezirk Oppeln, und auf die Kreise Namslau, Wartenberg, Strehlen und Bricg im Regierungsbezirk Breslau. In den anderen Kreisen des letzteren und im Bezirk Liegnitz ist das polnische Element verschwindend gering. In den 4 Kreisen Namslau, Wartenberg, Strehlen und Brieg waren von 36 171 Schülern der öffentlichen und privaten Volks- und Mittelschulen zusammen 8372 (23,1 Proz.) rein polnischer und 4466 (12,3 Proz.) polnischer und deutscher Zunge, so dafs hier über 35 Proz. der Schuljugend aus polnisch redenden Familien stammen. Im Regierungsbezirk Oppeln waren unter 281 984 Schülern der Volks- und Mittelschulen 159828 (56,6 Proz.) aus nur polnisch sprechenden und 22 661 (8 Proz.) aus polnisch und deutsch sprechenden Familien.

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In Ostpreufsen ist die polnische Sprache im südlichen Teile verbreitet, in den Kreisen Rastenburg, Rössel, Allenstein, Ortelsburg, Neidenburg und Osterode des Regierungsbezirks Königsberg und in den Kreisen Angerburg, Goldap, Oletzko, Lyck, Lotzen, Sensburg und Johannisburg des Bezirks Gumbinnen. In den genannten 6 Kreisen des Bezirks Königsberg waren von 67424 Schülern der Volks- und Mittelschulen 36669 (54,3 Proz) rein polnischer und 6060 (8,9 Proz.) polnischer und deutscher Zunge, so dafs hier über 63 Proz. der Schuljugend aus polnisch redenden Familien stammen. In den genannten 7 Kreisen des Bezirks Gumbinnen ist das polnische Element etwas schwächer. Hier wurden unter 56715 Schülern 24 757 (43,6 Proz.) mit ausschliefslich polnischer und 9969 (17,5 Proz.) mit gemischter Familiensprache gezählt, mithin waren über 61 Proz. aus polnisch redenden Familien. In Westpreufsen giebt es ein kleines Gebiet ohne polnische Sprache, nämlich die Kreise Stadt Danzig , Danziger Niederung und Elbing. In den anderen Teilen der Provinz wurden 31 191 Schüler (32,9 Proz.) aus Familien mit nur polnischer Sprache und 14 260 (5,6 Proz.) aus Familien mit polnischer und deutscher Sprache gezahlt. Von denselben entfallen auf den Bezirk:

nur polnisch polnisch und deutsch

sprechende Kinder

Marienwerder: 55 960 (36,1 Proz.) 9633 (6,2 Proz.)

Danzig: 27224(43,2 » ) 4503 (7,1 » )

Line leicht zu erklärende, aber nichtsdestoweniger bemerkenswerte Erscheinung ist es, dafs in allen Landesteilen mit polnischer Bevölkerung die polnische Sprache auf dem platten Lande viel stärker vertreten ist, als in den Städten. Wie bedeutend die sprachliche Verschiedenheit in dieser Beziehung ist, zeigen folgende Zahlen. Es wurden ermittelt: a) nur polnisch, b) polnisch und deutsch in den Familen sprechende Schüler der Volks- und Mittelschulen:

in den polnischen Landesteilen der Regierungsbezirke Posen: Bromberg: Breslau: Oppeln:

ab ab ab ab

In den Städten: 42,4 4,7 Proz. 36,4 6,i Proz. 0,9 1,3 Proz. 18,5 15,4 Proz. Auf dem Lande: 72,3 3,4 » 51,1 3,7 > 28,4 14,9 » 65,4 6,3 »

Königsberg: Gumbinnen: Danzig: Marienwerder: ab ab ab ab

In den Städten: 11,0 16,5 Proz. 6,1 22,4 Proz. 7,7 i3,4Proz. 17,9 7,6 Proz.

Auf dem Lande: 63,5 7,3 » 48,1 17,0 > 48,0 6,3 » 40,95.8 >

Die Ergebnisse der Statistik lassen erkennen, wie die polnisch redende Bevölkerung bereits ihren Zug nach Westen begonnen hat; denn keine Provinz entbehrt derselben mehr ganz. Geringe polnische Elemente finden sich in jeder derselben. Selbst Berlin zählt 103 Kinder, welche in ihren Familien nur polnisch, und 415 Kinder, welche polnisch und deutsch reden.

26

Dieser Umstand ist ein neuer Sporn für die Unterrichtsverwaltung, die deutsche Sprache in den Schulen, welche von Kindern polnischer Familien- sprache besucht werden, zu pflegen. Was sich in dieser Beziehung bei dem Entgegenkommen der Bevölkerung erreichen läfst. mag die Thatsache beweisen, dafs in den masurischen Kreisen des Regierungsbezirks Gum- binnen, wo 43,65 Pror., in den Landschulen sogar 48,14 Proz. der Kinder nur polnische Kamiliensprache haben, der Konfiermandenunterricht nur in deutscher Sprache erteilt wird.

Thorn H. Chili.

C. Beurteilungen.

L

Evangelisches Religionsbuch für die

Hand der Schüler, enthaltend: Ge- bete, Biblische Geschichten, Kir- chengeschichte, Bibelkunde, Kate- chismus und Kirchenlied Be- arbeitet von W. Armstroff, Stadtschulinspektor iu Duisburg. Ausgabe B. Preis dauerhaft ge- bunden 80 Pf. 5 Aurl Langen- salza, Beyer ü. Söhne 1891.

So lange wir für unsere Schulen keine brauchbare Schulbibel haben und die treffliche schweizerische > !• amilienbibel« nicht einführen dür- fen, wird man für die Behandlung defl alten Testamentes sicher zu einer sogenannten »Biblischen Geschichte« greifen müssen, für die eigentliche Heilsg« schichte dagegen sollte man entschieden die Bibel selbst zu Grund« legen, denn es ist doch sicher eine Hauptaufgabe der Schule, dafs sie die Zöglinge zu eigenem, selb- ständigen Forschen in der Schrift anregt. Die von A. vorgeschlagene konzentrische Anordnung der Ge- schichten, bei welcher »die Schüler der 3 unteren Stufen nur einzelne Z u g e gewisser Persönlichkeiten kennen lernen,« kann ich aus nahe- liegenden psychologischen Gründen nicht billigen. Dafs der Katechismus-

unterricht nicht neben der bib- lischen Geschichte hergehen darf, sondern aus derselben herauswachsen mufs, ist richtig, doch würde ich die Bibelsprüche nicht den Geschichten beifügen, sondern sie vielmehr unter Hinweis auf die zugehörige Ge- schichte in den Katechismus ein- reihen. Die Bilder aus der Kirchen- geschichte scheinen mir den sonst üblichen leitfadenmäfsigen Ton ziem- lich glücklich vermieden zu haben. Eine Bibelkunde in der gebotenen Form ist überflüssig.

Dr. Thrändorf. D.

G Voigt, Die Bedeutung der Herbart- schen Pädagogik fui die Volks- schule. Schönebeck a. d E. R. Neumeister. 1,20 M. 82 S.

Der Verfasser ist Seminardirektor in Barby a. d. E. und steht, was seine philosophischen Anschauungen anlangt, nicht auf herbartischem Boden. Er gehört jedoch zu den- jenigen Kritikern, die an die Be- urteilung der Herbart - Zillerschen Pädagogik mit ebensoviel Ernst und Gerechtigkeit als Besonnenheit und Vorurteilslosigkeit hervortreten, die ganze Schrift durchweht das Bewufst- scin, dafs der Schule hohe Aufgaben

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gestellt sind und ein warmes päda- gogisches Interesse. Dadurch sticht dieselbe sehr vorteilhaft ab von den Arbeiten anderer Nichtherbartianer. die schnell zum Absprechen fertig sind und in ihre Urteile aufserdem Spott und Galle mischen.

Der Verfasser hat sich seine Be- urteilung nicht leicht gemacht, son- dern er ist an die Quellenschriften Herbarts gegangen und hat dieselben seinen Studien untergelegt. Doch gewinnt man den Eindruck, als ob er Ziller, den bedeutendsten Nach- folger Herbarts, nicht ebenso fleifsig gelesen, bezw. nicht voll und ganz gewürdigt habe Dies ist insofern nachteilig, weil Ziller die Ideen des letzteren fortgeführt und praktisch ausgebaut hat und aufserdem als der beste Interpret Herbarts angesehen werden mufs. Beginnen wir zu- nächst mit demjenigen, worin Voigt sich der Herbartschcn Pädagogik gegenüber zustimmend verhält. Er anerkennt dankbar die weitergehende Zwecksetzung des Unterrichts durch Herbart gegenüber der gewöhn- lichen, dafs die Schule nur Kennt- nisse und Fertigkeiten anzueignen und aufserdem zu erziehen habe. Sodann spricht er neidlos aus, dafs Herbart es gewesen ist, der die Pädagogik wissenschaftlich begründet hat (S. 17). Bei der Untersuchung der Frage: Wie wirkt man durchs Vorstellen aufs Wollen? zieht der Verfasser den Begriff »Interesse* in seine Untersuchungen hinein und sagt, dafs die Herbartsche Pädagogik denselben ganz bedeutend vertieft und hinsichtlich der ihm gebühren- den Stellung umgestaltet habe. Seine Auslassungen hierüber (S. 37 u. f) sind sehr beachtenswerte. Hinsicht- lich der Forderung des vielseitigen gleichschwebenden Interesses stimmt er voll und ganz zu und verlangt auch für die Volksschule erziehen- den Unterricht und die glcichmäfsige Pflege aller Interessen Das Interesse erkennt er als denjenigen Punkt, in welchem das Vorstellen in Wollen übergeht oder doch im Übergange zu demselben begriffen ist; weil der letzte Zweck für alle Schulthätigkcit in der Bildung zur Sittlichkeit liegt,

so sei die durch das Interesse be- wirkte Bewegung des Willens die erste unentbehrliche Voraussetzung für jenen Zweck (S. 52J.

Des Weiteren beschäftigt sich Ver- fasser damit darzuthun, wie die Her- bartsche Pädagogik auch die Ele- mente aufweise, durch deren Zu- sammenwirken der Unterricht be- fähigt werde, jenes Interesse zu begründen; gleichzeitig anerkennt er in den sogen. Formalstufen die rich- tige Theorie für das Lehrverfahren (S. 57-68).

Besonders verdient noch der Er- wähnung, dafs Voigt eine Umge- staltung des Katechismusunterrichts auf Grund psychologischer Erwäg- ungen fordert, ganz im Sinne Zillcrs, Thrändorfs, Staudes, von Rhodens u. a. Er sagt: »Da der Katechismus ein System von Systemen ist, so kann es für die zusammenfassende Behandlung desselben nur eine Stelle geben, nämlich am Ende des gesamten Unterrichts in der Religion, wenn es darauf ankommt, die nach einander gewonnenen allgemeinen Ergebnisse zu einem abschliefsenden System zusammenzufassen Für diese Stelle ist der Katechismus unent- behrlich; für jede andere aber ist die systematische Behandlung des- selben mit den psychologischen Ge- setzen unvereinbar (S. 61). S. 63 wirft Verfasser die ernste Frage auf, ob die unbestreitbare Thats;:chc, dafs der Religionsunterricht für die religiöse Bildung der Massen sich nicht annähernd so fruchtbar erweist, wie man es von der Gotteskraft des Evangeliums erwarten sollte, nicht in der Verfrühung und dem schlicfs- lichcn Überwiegen des Katechismus- unterrichts, sowie in seiner forma- listischen Behandlung mit begründet sei.

Der Verfasser hat am Schlüsse sowie inmitten seiner Untersuchungen wiederholt die hohe Bedeutung der Herbartschen Pädagogik unumwun- den anerkannt, er hat die eingangs gestellte Frage, ob jene imstande sei, der Volksschule der Gegenwart zu bieten, dessen diese bedarf, be- jaht (S. St). Wenn er dies nicht rückhaltlos thut, sondern gegen ein-

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zelnc Teile der Herbartschen Theorie Widerspruch erhebt, so verdient sein abweichendes Urteil vollste Beach- tung und gründlichste Prüfung. Als Rezensent kann ich den hiefür nötigen Raum nicht beanspruchen, ich hoffe, dafs dies an anderer Stelle in einer eingehenden Arbeit ge- schehen werde. Hier mufs es ge- nügen, die wichtigsten Einwendungen anzuführen. Dieselben richten sich zunächst gegen die metaphysischen Voraussetzungen Herbarts. Verfasser bestreitet die Einfachheit und Un- verändcrlichkeit des Scclenwcsens; er meint ferner, die Seele werde nach der H. sehen Erklärungsweise gegenüber dem psychischen Ge- schehen zu einem thatenlosen Zu- schauer degradiert H. sei es nicht gelungen, die Gesamtheit der psy- chischen Vorgänge so zu deuten, dafs für diese nach ihrem ganzen Umfange ein einheitlicher Grund empirisch - psychologisch nachge- wiesen wäre (S. 20), die Herbartsche Analyse der psychischen Prozesse sei demnach als mifslungen zu be- trachten; in der Thatsachc, dafs die Seele vorstellt, könne kein Grund dafür erblickt werden, dafs sie fühle oder begehre, vielmehr müsse die Ursache hierzu in einer ursprüng- lichen Fähigkeit gesucht werden. Auf diese Weise wird Verfasser ver- anlagst, auf das absolute Werden sich zu stützen. Wenn es ihm in Anbe- tracht der reichen Geistesentwicklung als eine Ungereimtheit erscheint, die Seele für unveränderlich anzusehen, so ist dies wohl darauf zurückzu- führen, dafs Verfasser Geist und Seelenwcscn nicht scharf auseinander- hält. Weiter behauptet er, dafs die Metaphysik H. den wichtigsten In- teressen widerstreite (24 j, ja sogar die Unmöglichkeit der Willensfrei- heit in sich schliefse (2(> u. f.). Ein anderer Irrtum sei Herbarts Meinung, den Willen selbst bilden zu können; es führe zu Enttäuschung, anzu- nehmen, dafs irgend eine Gestaltung des Gedankenkreises die Macht bc- säfsc, den Willen mit psychologischer Notwendigkeit einem bestimmten Ziele zuzulenken (33) u. a. m. In pädagogischer Hinsicht meint der

Verfasser, die Forderungen der Kon- zentration des Unterrichts sowie die der Stoffanordnung gemäfs des kultur- historischen Fortschritts ablehnen zu müssen , trotzdem er den Mangel eines für Stoffwahl und Ordnung notwendigen durchgreifenden Prin- zips zugiebt und daneben die Zer- splitterung des Geistes infolge des üblichen Unterrichts beklagt. Auch die hinsichtlich dieser Punkte er- hobenen Bedenken erfordern eine gründliche Berücksichtigung und ein- gehende Beantwortung.

Glogau. H. Grabs.

III.

Der Handfertigkeitsunterricht in der Volksschule. Von H. Scherer, Schulinspektor in Worms. Erschienen in der Sammlung pä- dag. Vorträge von W. Meyer- Markau, Heft o Preis 40 Pf.

Der Verfasser des vorliegenden, im Lenrervcrein zu Worms gehaltenen Vortrages ist einer von den Wenigen, welche gegen die jetzt herrschende Strömung in der Frage der Knaben- Handarbeit Stellung nehmen. Schon während der Verhandlungen über die genannte Frage in einer Nebenver- sammlung des 8 deutschen Lehrer- tages zu Berlin betonte der Verfasser die seiner Ansicht nach vom rein erziehlichen Standpunkte aus mafs- gebenden Leitsätze für den Unter- richt in der Knaben-Handarbeit. Diese liegen uns nun in erweiterter Form vor. Es sind, kurz gefafst, folgende:

Der Handfertigkeitsunter- richt schliefst sich enge an den anderen Unterricht an. Er ist die Anwendung jener erwor- benen Kenntnisse, welche eine Dar- stellung (bes. eine körperliche) durch die Hand zulassen. Er wird so zum ABC der Kunst im Volksschul- unterrichte. Die Übungen sind nach dem Grundsatz >Vom Leichten zum Schweren< zu ordnen. (S. 5.) Als richtige Ergänzung des Unter- richtes ist diese Art des Arbeits- unterrichtes allgemein einzuführen. Eine obligatorische Einführung des Arbeitsunterrichts als besonderer Lehrgegenstand und in derWcise

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wie ihn der »Verein für Knaben- Handarbeits-Unterricht« vertritt , ist aber abzuweisen. (S. 9 ) Die letztere Form derselben gehört in die Fort- bildungsschule. (S. 8.) Schon in jener Vorversammlung wurde dem Verfasser nur schwach zugestimmt und auch jetzt dürfte er mit seinen Anschauungen ziemlich vereinzelt da- stehen.

Wir finden aber gerade darin den Wert des Schriftchens, dafs es vom ausschliefslich pädagogischen Standpunkte die Frage erörtert, selbst auf die Gefahr hin, in der fast unbedingt herrschenden Tages- strömung gänzlich zu verhallen. Wir teilen die prinzipielle Auffassung des engen Anschlusses des Handfertig- keitsunterrichtes an die anderen Fächer durchaus, wie wir das auch an anderer Stelle theoretisch ver- treten haben und es an der Seminar- Übungsschule zu Jena praktisch üben. Recht Schade ist es, dals der Verfasser des Schriftchens diese prinzipielle Frage nicht mehr ver- tieft hat und dafs er auf die Dar- stellung der von ihm gemachten praktischen Erfahrungen nicht näher eingegangen ist. Solcher be- darf es jetzt vor allem. Doch ver- spricht er Erfahrungen zu sammeln und späterhin einen Lchrplan auf- zustellen. Wir sehen ihm mit In- teresse entgegen. Die auf S. n mitgeteilten Versuche sind zu allge- meiner Natur, als dafs sich über die- selben ein endgültiges Urteil fällen liefse. - Zum Schlüsse macht der Verfasser auf ein neu erschienenes Werk »Anschauung un l Darstellung von Joseph Kumpa. Mit 48 Figurcn- tafeln. Selbstverlag des Verfassers. Darmstadt 1890« aufmerksam, dessen Verfasser in ähnlichem Sinne den Handarbeitsunterricht auffafst , wie hier dargelegt worden ist und der alljährlich in Darmstadt einen Kursus für Lehrer über »Bildung des Farben- sinns, Körpersinns und Darstellung von Körpern« abhält. Wir kommen auf das Schriftchen und diese Kurse vielleicht gelegentlich noch zurück.

Jena.

E. Scholz.

IV.

Dr. Karl Hartfelder. Philipp Melanch- thon als Praeceptor Germaniac. 7. Bd. der MonumentaGermaniae Paedagogica. (Schulordnungen, Schulbücherund pädagogische Mis- cellaneen ausden Landen deutscher Zunge. Unter Mitwirkung einer An- zahl von Fachgelehrten herausge- geben von Karl Kehrbach.) Ber- lin, A. Hofmann & Komp 1S8S. XXIV. u 687 S. Lexikon-Oktav.

Der Inhalt des Buches wird um- grenzt durch die Bezeichnung Me- lanchthons als Praeceptor Germaniae. Es soll mithin weder eine Biographie, noch eine allseitige Würdigung Me- lanchthons sein Sein Leben, sowie seine theologische und juristische Wirksamkeit ist nur insoweit be- trachtet, als der angestrebte Zweck es gebot.

Den Unterschied seiner Darstellung von den früheren sieht der Verfasser darin, dafs er glaubt, »Melanchthon in seiner Eigenschaft als Praeceptor Germaniae historisch, d. h. im Zu- sammenhang mit seiner Zeit gewür- digt zu haben. So verdienstlich Ar- beiten wie die von Planck, Schlott- mann u a. sind, sie leiden fast aus- nahmslos an dem Fehler, dafs sie Melanchthon zu sehr lostrennen von der älteren Generation , von der er gelernt hat, und von den mitstreben- den Zeitgenossen, denen er gegeben und von denen er empfangen hat. Insbesondere aber hatten die meisten früheren Bearbeiter nur eine sehr mäfsige Kenntnis der humanistischen Bewegung, und doch ist Melanchthon Humanist, ehe er Reformator wird. Noch fremder als der Humanismus war sodann vielen die Geschichte des Schulwesens und hauptsächlich der Hochschulen, und doch ist die Bedeutung Melanchthons als des Organisators und Rcorganisators höherer und niederer Schulen nicht kleiner, wie die des Theologen.«

Polemik ist von der Darstellung ferngehalten. Die Nachprüfung der letzteren wird durch zahlreiche li- terarische Nachweise und im Wort- laute angeführte Belegstellen er- möglicht.

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Beigegeben ist ein Bild Melanch- thons: die Wiedergabe eines Kupfer- stiches seines Freundes Albrecht Dürer mit der Unterschrilt:

Viventis potuit Durerius ora Phi- lippi , Mentem non potuit pingere docta manus.« Das darunter stehende Fac^imile ist die Wiedergabe einer im Archiv zu Weimar befindlichen Vorlage.

Dem Verfasser war von dem badi- schen Ministerium ein Reisestipen- dium zuteil geworden, um ihm für sein Werk die Ausnutzung der in Betracht kommenden Archivalien zu Weimar und der handschriftlichen und bibliothekarischen Schätze der Hof- und Staatsbibliothek zu München zu ermöglichen. In unserem Werke liegt die Frucht der angestrengten Arbeit vieler Jahre, ein Produkt echter deutscher Gründlichkeit und Gelehr- samkeit vor, wofür wir reichlich zu dai ken alle Ursache haben. Welche umfangreichen Vorstudien der Ver- fasser für sein Werk getrieben hat, ersrhen wir schon aus dem 16 Seiten umfassenden Verzeichnis der Titel dei benutzten Schrifl.cn und Aufsätze.

I >er Inhalt des Buches ist folgender:

I. Melanchthons Bildungsgang und geistige Entwickelung.

II. M. als akademischer Lehrer.

III M. und sein humanistischer Freundeskreis.

IV M.s Ansicht von dem Wesen der einzelnen Wissenschaften.

V, Ms Leistungen als Gelehrter. VI M. als Stilist und Dichter.

VII. M.s pädagogische Grundbegriffe.

VIII. M.s Auffassung von Schule und Lehrerberuf.

IX. Organismus der Schulen.

X. Melanchthon als Organisator und Reorganisator verschiedener Schu- len.

XI. Schlufsbetrachtung.

XII. Verzeichnis der Vorlesungen Melanchthons.

XIII Bibliographie. XIV. Einige Jugendgedichte Melanch- thons.

XV Nachträge und Berichtigungen. XVI. Namen- und Sachregister.

Von hervorragender Bedeutung sind die Kapitel über Melanchthons pädagogische Grundbegriffe, seine

Auffassung von Schule und Lehrer- beruf, den Organismus der Schulen.

Das Ideal pädagogischer Thätig- keit sieht Melanchthon darin, dafs die Schüler eloquentes im spezi- fisch humanistischen Sinne werden. Nun hatten die Humanisten von dem klassischen Aitertume eine so über- aus hohe Meinung, dafs man es für unmöglich hielt, ein Mensch der neuen Zeit könne reden lernen wie die homerischen Helden, die Gröfsen der attischen Agora oder des römi- schen Forums. Es klingt wie ein Axiom, wenn Melanchthon in der Einleitung zu Veigils Georgica sagt: >Zu jener glänzenden Beredsamkeit der Alten kann in unserer Zeit und mit unseren Studien niemand ge- langen « Melanchthon versteht mit Agricola und Erasmus unter Elo- quentia das Verstehen der Worte und Sachen, grammatische Einsicht und Realkenntnis, verbunden mit der Fähigkeit der klaren Darstellung.

Aber Melanchthon hat nicht nur ein pädagogisches Ideal aufgestellt, sondern auch den Weg zur schnellen Erreichung desselben gekennzeichnet. Leider besitzen wir keine systemati- sche Darstellung seiner Grundsätze. Melanchthon ist ein principieller Gegner alles unmethodischenLernens. Er bedauert , dafs namentlich die Deutschen in ihren Studien weder eine bestimmte Reihenfolge noch eine vernünftige Methode innehalten.

Pädagogische Hilfsmittel sind nach Hartfelder für Melanchthon folgende: Beispiel, Wiederholung, die Regel »Non multa, sed multum«, Quellen- studium, Ordnung im Lernen.

MelanchthonsAuffassung vonSchule und Lehrerberuf gipfeln in dem reli- giösen Gesichtspunkte. Melanchthon kennt Leid und Freude des Lehrer- berufes. Je nach dem Anlafs zeigt er Avers oder Revers der Münze. Die Thätigkeit des Lehrers bezeichnet er als nicht blofs notwendig und nützlich, sondern auch heilig. Man soll den Lehrer anständig bezahlen. Zwar sei es nicht nötig, dafs das Gehalt allzu reichlich sei (wegen der Gefahr des Müfsigganges und der Üppigkeit), doch dürfe es auch nicht zu wenig sein.

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- 3i

In der Schlufsbetrachtung des Buches heifst es: »Melanchthon ist kein schöpferischer Genius, wie ihn die Weltgeschichte in vielen Jahr- hunderten blois einmal hervorbringt. Er ist vielmehr ein sammelnder, sich- tender und verarbeitender Geist. »Melanchthon ist« , sagt W. Gals, »der reflektierende Mensch , das Entwerfen und Gestalten ist seine Sache.« Von der Natur ist er ausgerüstet mit allen Gaben, die den grofsen Gelehrten machen. Ein gutes Gedächtnis, ein seltenes formales Talent, eine gediegene sprachliche Bildung, die, mit Kennt- nis der Realien gepaart, ihm eine ungemeine wissenschaftliche Sicher- heit verleiht , arbeiten in seinem Geiste harmonisch zusammen. Seine Gelehrsamkeit, die eine erobernde Kühnheit besitzt und vor keiner wis- senschaftlichen Schwierigkeit zurück- schreckt, ist freilich oft nicht so tief als breit.«

Die Bibliographie umlafst eine Aus- gabe der Werke Melanchthons und Er gänzungen dazu, ein chronologisches Verzeichnis der Arbeiten Melanch- thons, ein Verzeichnis der Arbeiten über Melanchthon. Das Verzeichnis der Arbeiten Melanchthons ist zwar vollständiger als alle früheren, kann aber (wie der Verfasser selbst be- merkt), nicht den Anspruch auf wün- schenswerte Vollständigkeit machen.

Etwas Lobendes über die Be- deutung des Werkes hinzuzufügen, unterlassen wir. Das Werk empfiehlt sich Einsichtigen nach dem bisher Gesagten von selbst.

Schulitz (Posen).

Adolf Rüde.

V.

Ch.6. Salzmanns ausgewählte Schriften. Mit Salzmanns Lebensbeschreibung herausgegeben von Eduard Acker- mann. Erster Band. Langensalza, H. Beyer & Söhne. XLVI, 249 S. Preis 2,50 M.

Vorliegende Schrift bildet den 29. Band der ausgezeichneten Mann'schen »Bibliothek der pädagogischen Klas- siker«. Sie enthält das »Krebsbüch- lein« (S. 1 122) und »Über die wirk-

samsten Mittel, Kindern Religion bei- zubringen« (.S. 123—249). In beiden Fällen lagen dem Abdruck die Aus- gaben letzter Hand zu Grunde, und zwar beim Krebsbüchlein die vierte vom Jahre 1806 und bei der zweiten Schrift die dritte vom Jahre 1809. Die Behandlung des Textes ist im ganzen eine schonende, nur inbetreff der Orthographie und der Inter- punktion sind die dermaligen Be- stimmungen in Anwendung gebracht. Dagegen läfst sich nichts einwen- den; denn die Treue gegen den Autor auch auf die Beibehaltung der Ortho- graphie und Interpunktion auszu- dehnen, scheint uns, in dem vor- liegenden Falle wenigstens, mehr oder weniger nebensächlich zu sein. Doch dürfte ein anderer Punkt, auf welchen Referent ds. an einer anderen Stelle aufmerksam gemacht (Fr. Pfalz. Lehrerzeitung Jahr- gang 1889, Nr. 14), erwähnenswert sein. Derselbe betrifft die in Klam- mern beizufügende Paginierung der Originalausgaben, wie sie die Kehr- bachschenKantausgaben (desgleichen die im Erscheinen begriffene Her- bartausgabe) aufweisen. Von den übrigen von Kchrbach befolgten Grundsätzen scheint uns einer wenig- stens auch für die Herausgabe »päda- gogischer Klassiker« von Wert zu sein, nämlich der. nach welchem immer die erste Ausgabe als Grund- lage zu behandeln ist, während die Abweichungen der übrigen Auflagen in entsprechender Weise angemerkt werden. Freilich verfolgen die Aus- gaben »pädagogischer Klassiker« zu- nächst und hauptsächlich einen di- daktischen Zweck (nämlich den päda- gogischen Gedankenkreis der Lehrer zu bereichern und zu befruchten), doch könnten dieselben durch die in Vorschlag gebrachten Änderungen auch für rein wissenschaftliche Zwecke nutzbar gemacht werden.

Die mit ebensoviel Sachkenntnis als Wärme geschriebene Einleitung über Salzmanns Leben und Wirken aus der Feder Eduard Ackermanns verdient besonders hervorgehoben zu werden.

Ludwigshafen a. Rh.

H. J. Eisenhofen

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32 -

VI.

F. Leutz, Seminardirektor in Karls- ruhe, Lehrbuch der Erziehung und des Unterrichts für Lehrer und Lehrerinnen. II. Teil : Die Unter- richtslehre. 2. umgearbeitete Auf- lage. Tauberbischofsheim. J. Lang. 1890. VIII. 443 S. Pr. 5,80 M.

Die i. Aurlage des vorliegenden Buches (1885) wurde seiner Zeit in den >Päd. Studien« (Jahrg. 1886, S. 123 f.) vom Herrn Herausgeber gewürdigt. Damals wurde ihr das Lob gespendet, dafs sie »eine klar geschriebene, umsichtige und den bestehenden Verhältnissen Rechnung tragende Unterrichtslehre« biete. Die 2. Auflage ist, namentlich in ihrem allgemeinen Theile, mannigfach um- gearbeitet und in ihrem speziellen Teile um die Methodik des (evan- gelischen) Religionsunterrichts (S. 122 bis 171) vermehrt. Der 18 Seiten umfassende Abriss der Logik, welcher der allgemeinen Unterrichtslehre vor- ausgeht, dürfte dem Umfange nach für den Zweck des vorliegenden Buches genügen; doch sollten für weitergehende Bedürfnisse einige Schriften namhaft gemacht werden, wie dies der Verfasser in den übrigen Partien des Buches mit grofsem Glück

rthan hat. Verkehrt ist es, wenn 14 die Logik als ein Teil der Psychologie aufgefafst wird , noch bedenklicher ist es, wenn es heifst: »Diese bildet (die Logik) die psycho- logische Grundlage des Unterrichts.«

Die Methodik der einzelnen Unter- richtsfächer ist auf historischerGrund- lage aufgebaut. Mit grofsem Geschick hat der Verfasser aus der Geschichte der Methodik diejenigen Momente ausgewählt, welche zum Verständnis des gegenwärtigen Standes der Me- thodik notwendig sind; nur weniges kann verbessert werden, so z. B. ist es nicht zutreffend, wenn S. 416 be- hauptet wird, dafs sich in den infolge derReformationentstandcnenSchulen der Unterricht im Gesänge nur auf die Einübung kirchlicher Gesänge beschränkt habe. Die Methodik des Sprachunterrichts, so vorzüglich sie auch in ihrer Art ist, leidet jeden- falls an dem Fehler, dals die Kon-

zentration innerhalb der sprachlichen Disziplinen viel zu wenig betont wird. Gerade hier dürfte die Aufstellung einer Stoffverteilung nicht zu umjjehen sein. S. 343 ist nicht einmal R. Hilde- brand's ausgezeichnetes Buch : < Vom deutschen Sprachunterricht« aufge- führt*) Ebenso fehlt S. 237 Matzat's »Methodik des geographischen Unter- richts«. Die Art, mit welcher der •Verfasser S. 226 das Zeichnen im geographischen Unterricht abthut, kann kaum gebilligt werden.

Ludwigshafen.

H. J. Eisenhofer.

VII.

Volksschul künde von Hermann Mchlifs, Kreis-Schulinspcktor zu Bassum.

1. Teil. Die äufscren Verhält- nisse d. Volksschule. 124 Seiten. 1,60 M.

2. Teil. Die Erziehung in d. Volksschule. 108 S. 1,40 M.

3. Teil. Der Unterricht in d. Volksschule. Ausgabe A. ,48 S. 4 M.

Das Werk ist in zwei Ausgaben erschienen, von denen die vor- liegende Ausgabe A. für einklassige, Ausgabe B für mehrklassige Schulen bestimmt ist. Doch sind die zwei ersten Teile beiden Ausgaben ge- meinsam. In Teil I giebt er zuerst statistische Übersichten, dann han- delt er von Organisation, Beaufsich- tigung und Unterhaltung der Volks- schulen, von den Anforderungen an ihre Lehrer und endlich von der zweck mäfsigen Einrichtung von Schul- haus und Schulzimmer Teil II redet zuerst von der Schuldisziplin, sodann von der Gemüts- und Charakter- bildung der Zöglinge. Teil III ent- hält aufser allgemeinen Grundsätzen und Regeln der Unterrichtsichre (über Stoff beschränkung, Wieder- holung, über Methoden etc.) noch spezielle Angaben für jedes Fach. Dieselben beziehen sich auf unter- richtliche Behandlung, geben Stoff- verzeichnisse und Pensenverteilungen und bringen endlich einen Oberblick

•> S. auch Linde, Die Muttersprache im Elementarunterricht. Leipiig, 1B91

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über die Littcratur der einzelnen Fächer. Ein Nachwort enthält des Verfassers Ansichten über Besoldung der Lehrer und über ihre Fort- bildung im Amte. Zugleich nimmt es Veranlassung, dem Lehrer die erziehliche Aufgabe der Schule recht dringend ans Herz zu legen.

Anerkennung verdient zunächst, dafs den äufseren Verhältnissen der Schule ein besonderer Teil gewidmet ist. Viele Verfasser pädagogischer Werke ziehen es vor über diese Verhältnisse zu schweigen, da die- selben meist trauriger Art sind. Zwar schweigt auch das vorliegende Werk von manchen Obelständen der äufse- ren Verhältnisse z.B. von den Mängeln der gegenwärtigen Schulaufsicht, wahrscheinlich weil der Verfasser, der dieselbe aufrecht erhalten wissen will, das Vorhandensein dieser Mängel nicht anerkennt. Andere Übelstände z. B. die Oberfüllung der Schulklassen (Teil l. S. 19) das geringe Interesse vieler Gemeinden am Schulwesen (S. 60), sogar die »in unserem Stande« »Verfasser ist Theologe »so seltene Konsequenz und Energie«, werden ernstlich getadelt. Ferner ist es anerkennenswert, dafs die Er- ziehung in der Volksschule ebenfalls in einem besonderen Teile behandelt ist. In diesem wie im letzten Teile werden die Anhänger der Herbart- schen Pädagogik manches finden, was ihnen zusagen wird. Dahin ge- hört die Trennung von Disziplin und Gemüts- resp. Charakterbildung, (Regierung Zucht) ferner die häutige und eindringliche Hervor- hebung der erziehlichen Aufgabe der Schule , die Verwerfung der kon- fessionslosen Schule und die hohe Wertschätzung des Religionsunter- richts, der im Mittelpunkte aller Fächer stehend eine herrschende Stellung einnehmen soll. Auch dringt der Verfasser mit Recht auf eine Verknüpfung der Lehrfächer. Nur ist zu bedauern, dafs er meist auf halbem Wege stehen bleibt. So wird (Teil III, S. 35) getadelt, dafs sich der Religionsunterricht in fünf bis sechs Lehrgänge zersplittere. Allein der eigentliche Grund der Zer- splitterung, die Trennung von Kate-

Pädagogiscbc Studien. L

chismus und bibl. Geschichte bleibt bestehen. Zwar liest man : Eins mufs in das andre greifen usw., allein das hindert nicht, Religion und Ge- schichte durch eine Reihe von Fächern zu trennen. Auf ein Zu- sammentreffen verwandter Stoffe der Geschichte und Geographie ist fast gar keine Rücksicht genommen, ebenso wenig darauf, Beziehungen zwischen der Naturkunde und den übrigen sachunterrichtlichen Fächern herzustellen. Seite 4 rät der Ver- fasser zwar: »Nicht von allem ein klein wenig«. Das Verzeichnis der in Erdkunde zu behandelnden Stoffe zeigt jedoch, dafs er dem Ency- klopädismus huldigt und jeden deut- schen Staat, jedes europäische Land, jeden Erdteil behandelt wissen will, anstatt minder wichtige Stoffe ganz auszuschlicfscn. Mit dem Dringen auf Stoff beschränkung ist nicht zu vereinigen die Forderung, den reli- giösen Memorierstoff über das gesetz- liche Mafs hinaus zu vermehren.

In psychologischer Beziehung scheint Herr M. noch auf dem Stand- punkte der Vermögenstheorie zu stehen (Vergl. Teil II, S. 29). Daher erklärt es sich, dafs den vorge- schlagenen Mafsnahmen durchweg die psychologische Begründung fehlt. Die Lehre von den Seelenvermögen ist eben, da sie die seelischen Vor- gänge nicht erklärt, für die Päda- gogik unbrauchbar. Verfasser ver- fährt nun etwa so: Er stellt eine Behauptung auf, giebt eine erklärende Umschreibung derselben und fügt zum Beweise ein Sprichwort, eine Bibelstelle oder ein Citat aus einem Schriftsteller hinzu. So heifst es Teil II, S. 13. »Schulordnung ein- führen ist jedoch leichter als sie er- halten. Das vorzüglichste Mittel sie zu erhalten ist die Konsequenz von seiten des Lehrers. Alle Erziehung ist Gewöhnung. Wie kann aber dort eine Gewöhnung eintreten, wo nicht dasselbe oft und regelmässig wieder- kehrt? damit die Gewöhnung komme, mufs ja eben der Lehrer konsequent sein.

»Gute Sprüche, weise Lehren,

Soll man üben, nicht blofs hören.«

3

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Die Darstellung ist sehr wortreich. S. 16 steht der Satz: «Diese Dis- ziplinarmittel müssen natürlich

nun aber in rechter Weise ange- wendet werden, wenn sie nützen und nicht etwa gar schaden sollen.« Neben der Kürze des Ausdrucks vermifst man besonders präzise Be- griffserklärungen, logisch geordnete Gedankengänge, sorgfältige Be- gründung der vorgebrachten Behaup- tungen. Desto reicher ist das Buch an Abschweifungen und Wieder- holungen. Seitenlange Anmerkungen begleiten besonders im II. Teile den Text. Ihr Inhalt hat oft nur sehr entfernte Beziehung zur Sache. Was hat es z. B. mit der Gcmütsbildung viel zu thun, dafs im alten Rom die Strafsen gesprengt wurden, was in Jlannovcr erst vor zwei Jahren be- gonnen ist- Der Verfasser hat, wie sein Buch zeigt , viel über päda- gogische Fragen nachgedacht und noch mehr darüber gelesen. Er bringt nun alles, was mit seinem Gegenstande in irgend einer Be- ziehung steht, in sein Buch hinein, ohne dabei Nebensächliches mit der notigen Strenge auszuscheiden. Das hat zur Folge, dals der Leser er- müdet und das Buch unnötig ver- teuert wird. Noch bedauerlicher ist es, dafs das Huch so wenig auf die einklassi<^e Volksschule Rücksicht nimmt. Die für ihre Lehrer so wich- tigen Fragen von der Gliederung der Schülermasse in Abteilungen, von den stillen Beschäftigungen und von den Helfern werden auf nur zwei Seiten (Teil III, S. 15- 16) abgemacht Eine Erklärung für diese und andre Mängel des Buches giebt die offene Erklärung des Verfassers (Teil I, S. 3), dafs dasselbe >in arbeits- reicher Zeit so nebenbei (!) verfafst werden mufste. Wir wünschen Herrn M herzlich, dafs er Mufsc linden möge zu gründlicher Umarbeitung des Werkes, damit dasselbe, nament- lich im 11. Teile, seinen predigtähn- lichen Charakter verliere, ohne jedoch an Lebendigkeit und Volkstümlich- keit einzubüfsen. In seiner jetzigen Gestalt möchte es den Lehrer viel- fach mehr verwirren als fördern Drakenstedt. Hollk am m.

VIII.

Harre. Kleine lateinische Schulgram- matik. Berlin, Weidmannsche Buch- handlung. 1890. VI und 144. M. 1,60.

Die vorliegende lateinische Gram- matik ist in erster Linie für Real- schulen, Realgymnasien und solche Anstalten bestimmt, an denen man es vorzieht, den Schülern, sei es für den Anfangsunterricht oder für die Wiederholung, ein möglichst kurzes Lehrbuch in die Hand zu geben.

Die Pcnsa der einzelnen Klassen sind wie in den bekannten Haupt- rcgcln durch römische Ziffern abge- grenzt worden. In der Formen- lehre hätte das lieber durch ver- schiedenen Druck geschehen sollen; für die Syntax ziehe ich die Buch- staben (J, T und S vor, zumal gerade darüber die Ansichten sehr schwan- ken dürften, ob eine Regel schon in 111b oder erst in lila durchgenom- men werden soll

Uneingeschränktes Lob dagegen verdient das Bestreben des Ver- fassers, alle Einzelheiten über Bord zu werfen, so p>ater familias, deabus, filiabus, triumvirum, sestertium, sa- tur, oriens, litium, acra, poematis, tribubus, cenatus, queo. nequeo u. a. m. Aber auch Acncas, Perses; beum. bubus; as. aejuilo, pugio, papaver; febris; regula und speeimen können entbehrt werden. Dasselbe gilt von den Paradigmen vir, domus und dies.

Die allgemeinen Geschlechtsregeln hatte der Verfasser in seiner gröfscren Sprachlehre trefflich gefafst, und mit glücklichem Griffe das Genus getrennt von der Deklination behandelt. Die Vorteile dieses Verfahrens springen derart in die Augen, dafs man nicht begreifen kann, warum die äufserst praktische und übersichtliche An- ordnung in dem vorliegenden Buche wieder aufgegeben worden ist. Auch das halte ich für einen Rückschritt, dafs die Geschlechtsausnahmen nicht mehr mit einem Adjektivum ver- bunden aufgeführt werden. Dagegen ist es entschieden als Fortschritt an- zuerkennen, dafs die Ausnahmen jetzt nach dem Geschlecht, nicht nach der doch nebensächlichen Abweichung von der Hauptregcl geordnet worden

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sind. Die neue Fassung derselben aber erscheint mir nicht glücklich. Vor allen bin ich dagegen, dafs die Wörter auf o schlankweg als weib- lich hingestellt werden, wie das auch Bromig und Scheindler gethan haben. Auch gegen § 15,8 habe ich schwere Bedenken. Der Schüler darf nur a sapienti viro schreiben; a sapiente viro ist und bleibt für ihn ein Fehler, sonst verliert er den Boden völlig unter den Füssen.

Matt der Regel über die Steigerung der Adjektiva auf dicus, ficus und volus *ind § 22 als Besonderheiten nur die Gradus von magnificus an- gegeben. Da aber laut Vorwort auch die Formen von honorificus öfter vor- kommen, so wäre wohl die ange- deutete Fassung (Adjektiva auf ficus) vorzuziehen.

Die Musterbeispiele zu den vier Konjugationen und die verba ano- ma!a hätten übersichtlicher gedruckt werden sollen. Im übrigen verdient moneo aus naheliegenden Gründen als Paradigma vor delco den Vorzug. Im Vcrbalverzeichnissc sind seltenere Wörter gestrichen worden, so cieo, wofür der Schüler excito, moveo, voco zu gebrauchen hat. Andere Verba, die ich auch beseitigt wünschte, sind wohl in Rücksicht auf die in Gebrauch befindlichen Übungsbücher in kleinerem Druck oder in eckiger Klammer anmerkungsweise angef ührt worden.

Die Syntax enthält wie die grdfsere Satzlehre zunächst einige Vorbemerkungen über die einzelnen Satzteile und den Satz selbst. Darauf wird das Nomen und das Vcrbum im Satze durchgenommen. Es folgt eine ausführliche Besprechung der Fragesätze, der Relativsätze und der Konjunktionalsätze. Mit musterhafter K irze wird die abhängige Rede be- handelt. Den Schlufs bilden die bei- ordnenden Konjunktionen.

Auch hier ist vieles beseitigt wor- den: die Präpositionen coram, dam, tenus; abhinc; nedum; sector und aequo te; dono dare und aeeipere; ad eam impudentiam progredi, nihil antiquius habere quam, tantum abest ut, in eo est ut, temperare mihi non possum quin, facere non possum quin,

fieri non potesi quin u. s. u . Khenso könnten piget und : •>.•.. 1 male dico und supplico iad. u.

Der Ablativ d. r l'.:g< t:-e!iad ^ der Ablativ bei Ad:i k: :••.;>: i; ;.; d.-r Ablativ des Pn - ; unMni nhnr. triftigen Grund ■- ^ h r-, erv 1 drin* lene- tiv besprochen i »< r. .d i'.div:-- nl >s< »- lutus aber § im -du 1 J x d> I i <- in-.u-r den Partizipialki / : .. i;., n ^ ns.

Im übriger n:tt 1 « .<\w'a hu-.- manches prakiiM ! c< dt n.-'-a a ri - den sollen. Den-: gerade durch über- sichtliche An(.-: iiu:; wird du:- Ye;"- ständnis und <• e < .rd.udiMi.- mein unterstütz :

Der beigegel h ua A : 1 Ii : i. :i ^ lanan-

delt in kurzer. V, ... 1 ;:i-:iln hn \Y •. e

§ I65 ZUnächsl <Iu: Muuntd.it Miilllll!)

den Hexameter. !*• ;.i«it du und 1 ; i - meter ; § 166 be •••.•r:r!;; K.demh-r < ,,-ld. Gewicht und d d-

Ein Register . - Iii l .dn . Itureh Hinzufügung d< u>Hd. n wnnlc <lie Grammatik, du' m nun: au>M idads- lich als Lerril'-iih gcd.irlu dt. an Brauchbarkeit m-rh .ji-wmuen An W Wissenschaftlich! 1 u ed / n •. ei ki^-dg- keit übertrifft >u- tu:-./, ihn K ü 1 /.<■ alle anderen.

Annaberg [ . : Haupt. [.\

0. Janke. Grundriß d<u- -t. diulhy.dene Zusammengestellt inr L. hier und Schulaufsicht I << :<r.\\< I [atr.i u:rg- Lcipzig. Vos i vi I - 1 ; 1 M

Der von den: I : aer, >. < r r r . ; j : Zweck ist in de- Y.-.n ed. I d.e :[*■'.<•.;' Janke beabsick; ag v.r..:--: :n u.- l'n,- bleme aufzusU :.'< n ■■■.<. d«. r. ge- wundenen Pfa'U ;: r :i 1:.- ig»*hi-:i. iiai'i; welcher die W < i m 1 die i ,e- < t,-«.- der Schulhygiene verii.lgSf -.er U-guiigt sich vielmehr in k.u:q.].rr. h;-.mi",rher Form die anei ' 1 •■ 1: \V;d:r:i.-.t<:n der Schulgest'. r.d':i.-:t-].;:i ge />na:n- menzustellen umi -hm i.t-iin r die schulhygieniscii< :i i-.-.,di rmig. 1- in verständlicher, f mtaeh ■;. r\Y< >, ■, (,r-- zuführen Dural- I ... -/t. ;u - I h.umn:. das Büchlein > n > ;i m tu mde Gestaltung, es ; ie- 1 ,u d 1 1 s den »Reglements*, a 1 ••. ;i m>- in ;:e > i 1 1 1 - tär gewohnt m; d indes^-n m.vht.-n wir nicht annehm« ;. l.iis ...nn ' .mr.d-

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rifs daraus ein Nachteil erwächst, wir meinen vielmehr, es ist für diejenigen Lehrer, welche eine schulhygienische Bildung noch nicht besitzen, ange- nehm , wenn sie auf die gestellte Frage eine gewisse Antwort erhalten, auch ohne dafsdie Motivierung immer streng angeführt ist; denn in der Motivierung liegt oft der Grund zum Zweifel, dem Vater der Unentschlos- senheit und des Nichtsthuns. Wir glauben bestimmt, dafs das Büchlein dem von ihm selbst begrenzten Zweck völlig entspricht und wünschen dem- selben eine möglichst rasche Ver- breitung.

Dr. med. Gärtner, o. ö. Professor der Hygiene an der Universität zu Jena.

X.

Leitfaden f ürdenG es chic ht sunt er- richt in den oberenKlassen höherer Töchterschulen. Bearbeitet mit Be- nutzung von David Müllers Leit- faden zur deutschen Geschichte von Prof. Dr. Friedrich Junge, Di- rektor der Guerickeschule (Ober- realschule mit Realgymnasialklas- sen) zu Magdeburg. Mit 9 ge- schichtlichen Karten und 5 Bilder- tafeln zur Kunstgeschichte. Berlin 1889. Verlag von Franz Vahlen. W., Mohrenstrafsc 13. 14. 224 Sei- ten. 8°. Preis 3 Mark.

Der Verfasser wird sich den Dank vieler damit verdient haben, dafs er in der Weise der Geschichtsbücher von David Müller und im engen An- schlufs an sie einen Leitfaden zu dem gesamten Geschichtsstoff für die höhere Mädchenschule geschaffen hat. Die Vorzüge der Mülierschen Darstellung sind bekannt. Freilich ist auch mit diesem Buche, wenig- stens ist das meine Meinung, die Frage nach den geeignetsten Hilfs- büchern für den Geschichtsunterricht noch nicht gelöst.

Ganz vorzüglich sind die nach An- gabe des Verfassers (S. IV.) gezeich- neten »leeren« Karten , auf denen doch die Gebirge angedeutet sind. Weniger kann ich mich einverstan- den erklären mit den Darstellungen auf den Bildertafeln. Wenn ich auch

damit auf manchen Widerspruch stofsen werde, so scheue ich mich doch nicht, die in mehrjähriger Praxis gewonnene Meinung auszusprechen, dafs die Vorführung von Abbildungen unbekleideter Statuen auch für die oberen Klassen einer Mädchenschule, oder gerade für diese, unpassend ist. Ferner scheinen mir die Abbildungen wenig gelungen zu sein.

Eisenach. Dr. Göpfert. XI.

Dr. phil. Susanna Rubinstein. Aus der

Innenwelt. Psychologische Stu- dien. Leipzig, Druck und Verlag von Alexander Engelmann, Uni- versitätsbuchhändler. 1888 211 S. 4 M.

Dr Susanna Rubinstein, ist den Lesern der »Päd. Studien« bereits vorteilhaft bekannt als Verfasserin der geistvollen »Psychologisch-ästhe- tischen Essays« (Heidelberg, Winter. 2 Bde., 1878 u. 1888)*) sodann durch den schönen Aufsatz »über Lazarus' Leben der Seele« im Jahrgang 1884, Heft 3.

Jetzt hat diese Philosophin der Hcrbartschen Schule unter dem Titel : »Aus der Innenwelt« eine neue Reihe psychologischer Studien her- ausgegeben , welche Beachtung ver- dient. Das Buch hat folgenden In- halt: i .Charakter. 2. Gemüt. 3. Mit- gefühl. 4. Zum ästhetischen Gefühl. 5. Der Schlaf und das Nachtleben der Seele. 6. Empfindungen im Allge- meinen. 7. Ober zwangsmäfsige Far- benempfindungen.

Was Prof. Vaihinger früher (»Allg. Ztg « 1878) von derVerfasserin rühmte, zeigt sich auch in deren neuster Publikation. »Sie besitzt eine nicht gewöhnliche synthetische Begab- ung neben feinsinnigster analytischer Kraft, gründlicheGclehrsamkeit neben künstlerisch vornehmer Darstellungs- gabe, ergreifendes sittliches Pathos neben Zügen schalkhaften Humors, lehrhaften, logisch zergliederten Vor trag neben sprudelndem Konver- sationstalent , männlicher Verstand

•) Die Recen»ion der E«*ays in dieser Zeit- schrift 1884 (Bd. IV), Heft 4, S. »9 ff.

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neben weiblicher Anmut und Zart- heit«. »Doch wozu diese letzte Be- merkung?« fügt er hinzu, »wir halten es mit La Bruycre: Wenn Gelehr- samkeit und Bildung sich bei einem Menschen vereinigt finden, so frage ich nicht nach seinem Geschlecht ich bewundere ihn«. Man darf billig darüber staunen, dafs die trockene und ernste Philosophie Herbarts ein weibliches Gemüt zu so hoher Be- geisterung fortreifsen konnte ohne Zweifel ein günstiges Zeichen für die Herbartsche Philosophie und ein noch besseres für die Verfasserin.

Auf selbständige Forschung erhebt S. Rubinstein keinen Anspruch. Sie hat aber aus der einschlägigen Litte- ratur das Beste mit feinem Verständ- nis ausgewählt und in ihre Dar- stellung verwebt. Überall zeigt sich eine bescheidene und doch höhere Urteilsweise, eine zarte und natür- liche Empfindung. Manches Bekannte und Geläufige tritt dem Leser ja entgegen, aber alles ist mit einer Kraft und Grazie dargestellt, die uns entzückt. Das Buch hat einen un- widerstehlichen Reiz für philoso- phisch angelegte Naturen

Halle a. S. H. Grosse.

XII.

Dr. med. P. Schubert, Augenarzt in Nürnberg , Über Heftlage und Schriftrichtung. Hamburg u. Leip- zig. Leop. Voss. 1890. 28 S.

Die vorliegende Schrift »st ein er- weiterter Abdruck eines Aufsatzes aus der von Dr. Kotelmann her- ausgegebenen Zeitschrift für Schul- gesundheitspflege (Heft 2. 1889). Sic behandelt eine wichtige Frage, welche die beteiligten Kreise seit 10 Jahren beschäftigt, die Frage, welches die gesundheitlich beste, Wirbelsäule und Augen des schreibenden Kindes am wenigsten gefährdende Heftlage sei. Verfasser redet der geraden Mitten- lage und der Steilschrift das Wort und zwar aus klaren hygienischen Gründen. Der grofse Vorzug dieser Hcftlage und Schriftlage ist der, dafs sie nicht in sich selbst »die Keime birgt zu Schiefsitz, Schiefwuchs und Kurzsichtigkeit, wie dies bei der

heute üblichen Schiefschrift der Fall ist.« Verfasser hat mir aus der Seele gesprochen.

Glogau. Grabs.

xm.

Flora von Deutschland. Illustriertes Pflanzenbuch. Anleitung zur Kennt- nis der Pflanzen nebst Anweisung zur praktischen Anlage von Her- barien von Dr. Wilh. Medicus K aisers- lautern. Aug. Gotthold. Kl. 8 °.

Das Buch, dessen erste Lieferung vorliegt, enthält Abbildungen von wohl über 200 einheimischen Ge- wächsen auf vielen bunten Tafeln nebst kurzen Diagnosen, welchen auch Angaben über Nutzen und Schaden der betreffenden Pflanzen beigefügt sind. Man braucht sich durch die der Lieferung beigeheftete Subskriptionsliste, welche »das bil- ligste, am herrlichsten und naturge- treuesten ausgestattete Pflanzenwerk« in Aussicht stellt und jedem, der 50 Subskribenten sammelt, ein Frei- exemplar verspricht , nicht ab- schrecken zu lassen, es zur Hand zu nehmen, wenn man die deutschen und lateinischen Namen unserer ge- wöhnlichsten Pflanzen nebst einigen ihrer auffallendsten Merkmale auf be- queme Weise zu erfahren wünscht.

XIV.

Anleitung zu botanischen Beobach- tungen und pflanzenphysiologischen Experimenten. Ein Hilfsbuch für den Lehrer beim botanischen Schulunterricht. Unter Zugrunde- legung von Detmers »pflanzen- physiologischem Praktikum« be- arbeitet von Franz Schleichet. Lehrer in Jena. Langensalza, Her- mann Beyer u. Söhne. 1891. Kl. 8°. 152 S. 52 Holzschnitte im Text.

Die gut ausgestattete kleine Schrift verfolgt, laut Vorwort, »die Aufgabe, den mit den Grundzügen der allge- meinen Botanik vertrauten Lehrern, insbesondere den an Mittelschulen, Seminaricn und Ackerbauschulen, sowie auch an Volksschulen thätigen, eine Anleitung zur Anstellung bota-

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nischer Beobachtungen und pflanzen- physiologischer Experimente , die sich im Unterricht verwerten lassen, zu gewähren und dieselben zum weiteren Selbststudium anzuregen. < Sie sucht dieses Ziel zu erreichen, indem sie, wie das rühmlichst be- kannte Praktikum Detmers, eine gröfsere Anzahl von Experimenten nebst einigen wichtigen mikrosko- pischen Präparaten beschreibt und an deren Hand die wichtigsten Er- gebnisse der PflanzenphysioTogic vor- trägt. In den drei Kapiteln des Buches wird der Leser auf diese Weise in die Lehre von der Er- nährung der Pflanzen, dem Wachs- tum und den Reizbewegungen, der vegetativen Vermehrung und der sexuellen Fortpflanzung eingeführt. Besonderes Gewicht ist hierbei einer- seits darauf gelegt, dafs die anzu- stellenden Experimente leicht und mit möglichst einfachen Hilfsmitteln auszuführen sind, andrerseits, dafs die theoretischen Erläuterungen nicht das f ür den oben bezeichneten Leser- kreis geniefsbare Mafs überschreiten. Inbezug auf den letzteren Punkt scheint mir die Grenze sogar manch- mal zu eng gezogen zu sein. Bei- spielsweise wird in dem Kapitel über die Tötung der Pflanze durch schäd- liche äufsere Einflüsse als lehrreich ein Versuch beschrieben, welcher das Weichwerden der Kartoffeln beim Wiederauftauen nach dem Erfrieren darthut. Eine Andeutung über die näheren Ursachen des Weichwerdens, die den Versuch doch erst »lehr- reich« machen würde, ist aber nicht gegeben. Sehr richtig ist es, dafs der Verfasser vielfach an die pflanzen- physiologischen Vorkommnisse des täglichen Lebens anknüpft Ref. hätte selbst noch ein Mehr in dieser Richtung gerne gesehen , und auch das mufs hervorgehoben werden, dafs die Biologie die ihrem pädagogischen Werte entsprechende Berücksich- tigung erfahren hat. Die p. 83 an- geführten Versuche mit Pflanzen und Schnecken und die Bestäubungsver- suche im 46stcn Abschnitt tragen gewifs ebensoviel zum Erwecken von Liebe und Verständnis für die uns umgebende Organismenwelt bei wie

die der chemischen und physika- lischen Physiologie gewidmeten Teile.

So sei denn das im Grofsen und Ganzen wissenschaftlich genaue und praktisch sehr brauchbare Buch den beteiligten Kreisen warm empfohlen. Zweifellos verdient es einen hervor- ragenden Platz unter den Mitteln, welche den Fortschritt der noch immer nur beschreibenden und be- nennenden Schul- und Volksbotanik zu einer allgemeineren Betrachtung des Lebens der Pflanze zu befördern geeignet sind.

Jena. Prof. Dr. M. Büsgen. XV.

Ch. Ufer, Geistesstörungen in der Schule. Ein Vortrag nebst 15 Krankenbildcrn. Wiesbaden bei Bergmann. 50 S. 1891. Preis M. 1,20.

Der Verfasser, welcher bereits in einer früheren Schrift: »Nervosität und Mädchenerziehung« bewiesen hat, dafs er nicht nur in der Lite- ratur der Schulhygiene bewandert ist, sondern auch einen scharfen Blick hat für die Erfordernisse der leib- lichen Gesundheit der Jugend und die Mifsstande bezüglich derselben in Schule und Haus wohl kennt, bietet uns in der neuen Schrift eine Anregung auf einem Gebiete, das allerdings nach unserer Erfahrung noch wenig beachtet worden ist. Die Schrift ist hervorgegangen aus einem Vortrag , gehalten auf der ZweigversammTung des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik in Weis- senfcls. In den pädagogischen Lehr- büchern wird hingewiesen auf die Notwendigkeit, dafs der Lehrer die Charaktere seiner Schüler studiere, sowohl Ziller als Stoy haben die Wich- tigkeit solcher Untersuchungen be- tont und Bilder von Kinderindivi- dualitäten von ihren Schülern ver- langt; allein wie oft wird der indi- viduellen Entwicklung zu wenig Sorgfalt seitens der Lehrer gewidmet und sie kann auch nicht gewidmet werden bei der grofsen Zahl von Schülern, die ein Lehrer zu unter- richten hat! Wie oft wird geklagt über Kirdcr, welche durch ihr Ver-

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halten Eltern und Lehrer zur Ver- zweiflung bringen, bei welchen man, wie man sagt, jeden Tag mit einer Tracht Prügel beginnen sollte, »die aber krank sind und daher kein Gegenstand des Zürnens und der Strafe, sondern des Mitleids und der liebenden Fürsorge sein sollten.« Wenn unser Auge geschärft ist für die pathologischen Verhältnisse unse- rer Kinder, wenn wir uns bemühen, einigen Aufschlufs über die körper- liche und geistige Entwicklung der Schüler zu erhalten, so würden wir manche Fehler und Härten im Unter- richt und in der Erziehung vermeiden und würden, was wir als Eigensinn, Bosheit dem Kinde schwer anrechnen, oft als psychische Störungen kennen lernen und dieselben nicht durch Mafsregeln der Zucht, sondern durch rationelle Psychiatrie zu heilen suchen Man denke hierbei auch an so manche überspannte Anforderungen der El- tern an ihre Kinder, welche jenen niemals nachkommen können; wie oft sind wir in der Lage, die armen Schüler zu bedauern, welche von den in diesem Punkte nicht zu über- zeugenden Eltern zum Besuch höherer Schulen und zu Berufsarten ge- zwungen werden, wofür die geistige Veranlagung absolut nicht vorhanden ist! Auf solche Dinge macht der Verfasser aufmerksam, dazu dient der Anfang mit 13 interessanten Schilderungen von psychisch kranken Kindern.

Die schwierige Frage bleibt frei- lich, neben dem genauen Studium der Individualitäten, wie soll sich der Lehrer die psychiatrischen Kennt- nisse erwerben? Herr Ufer meint, die Lehre von den psychischen Störungen sollte in den Grundzügen im Anschlufs an die Psychologie im Seminare gelehrt werden ; dabei sei freilich selbstverständlich, dafs nicht das ganze Gebiet durchzuarbeiten wäre, wozu schon die Zeit fehle, sondern nur diejenigen Erschei- nungen , welche dem Kindesalter eigentümlich sind, die Vorgänge und Krankheitszufälle, denen der Mensch im Kindesalter unterworfen ist. So wenig wir auch die Richtigkeit dieser Sätze verkennen, so ist uns immer

bei der jetzigen Gestaltung unserer Seminarien, welche sie noch lange nicht als Berufsanstaken erscheinen läfst, und bei dem unreifen Alter der Zöglinge, eine Vermehrung des Lern- stoffs bedenklich. Die Lektüre dieses erweiterten Vortrags giebt jedenfalls vielfache Anregung und Fingerzeige und giebt uns auch zum weiteren Studium die besten medizinischen Werke über die psychischen Störun- gen an die Hand.

Karlsruhe, Jan. 1891.

Leutz, Seminardir.

XVI.

Naturgeschichte. II. Die Kulturwesen der deutschen Heimat nebst ihren Freunden und Feinden, eine Le- bensgemeinschaft um den Men- schen. I. Die Pflanzenwelt. Von Friedrich Junge, Hauptlehrer in Kiel. Kiel und Leipzig. Lipsius& Tischer. 1891. Geh 3 M., geb. 3,80 M.

Nicht jedem Buche ist es beschie- den, eine so tiefe und weitgehende Bewegung der ganzen pädagogischen Welt hervorzurufen, wie es bei Junges »Dorfteich« der Fall war. Ref ist und das soll gleich hier bemerkt sein nicht mit Junges Grund- prinzip, der Lebensgemeinschaft, ein- verstanden, aber trotzdem glaubt er, dafs der Einflufs des Buches ein wohl- thuender gewesen ist und auch blei- ben wird.

Mit viel Spannung wurde der hier vorliegende zweite Teil erwartet. Viele werden von ihm enttäuscht sein : Die (äufsere) Anordnung nach Lebensgemeinschaften fehlt. Aber diese mögen bedenken , dafs es ein Unding ist, die gesamte Naturge- schichte in Lebensgemeinschaften bearbeitet so vorzulegen, dafs sie für alle Verhältnisse, für jede Gegend und jeden Ort pafst. Derartige Lebensgemeinschaften giebt es nicht. Der Verfasser giebt den Stoff nach dem natürlichen System angeordnet; jeder soll sich wählen, was für ihn pafst. Aus der äufseren Anordnung aber schlicfsen wollen, der Verfasser habe eingesehen, die Lebensgemein- schaft gehöre nicht in den Volks- schulunterricht, würde sicher ein

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Fehlschlufs sein. Ref. allerdings ist auch heute noch der Oberzeugung, dafs nach jenem Begriffe eine Aus- wahl des in der Schule zu behan- delnden Stoffes nicht vorgenommen werden kann und dafs seine Er- örterung weit über die geistigen Grenzen der Schüler hinausgeht ; die Lebensgemeinschaft also überhaupt nicht in die Schule gehört. Auch das auf dem Titel gebrauchte Wort »eine Lebensgemeinschaft um den Menschen« ist nicht klar und scharf und der naturgeschichtlichen Lebens- gemeinschaft entgegen.

Aber trotzdem hat das Buch noch viele Vorzüge, es ist im echt natur- wissenschaftlichen Geiste abgefafst und erhebt sich schon dadurch über sehr viele seiner Genossen.

Der Verfasser behandelt die Pflan- zen, welche von Bedeutung für den Menschen sind , von den vollkom- mensten an bis zu den Pilzen Ein allgemeinerRückblickgiebt Aufschlufs über Aufenthalt, Ernährung und Ent- wickelung des Pfianzenlcbens und über die Pflanze als Glied des Ganzen. Für jede Schule sind zur Behandlung vorgeschlagen: Getreide- (und Ge- webe-)pflanzen, Kartoffel, Obstbäume, Beerenobst, Erbse, Bohne und andere Gartengewächse, Wald- und Zier- bäume und andere derartige Pflanzen, ferner die sich breit machenden Un- kräuter und heimischen Giftpflanzen, soweit sie durch Frucht oder Kraut gefährlich werden können. Für die verschiedenen Gegenden sind auch bestimmte Vorschläge gemacht. Voran steht immer das praktisce Leben der Heimat, also Pflanzen stehen obenan von technischer, kommerzieller, ästhe- tischer, individueller Bedeutung. Hier- nach hat sich der Verfasser ganz den Grundsätzen Prof. Zillers angeschlos- sen. Wohl sagt er 'S. 31 Anmerkg.): Die Naturdinge sollen dem Menschen nicht dienen, der Mensch >mufs durch körperliche und geistige Anstrengung sich in den Stand setzen, dals er Blüten und Früchte im weitesten Sinne des Wortes für sich einheim- sen kann.« Aber Ziller hat, wenn er die menschliche Arbeit als Aus- gang der naturkundlichen Erörterung nimmt, auch nicht die »subjektive

Nützlichkeit« vornan gestellt, son- dern vor allen Dingen den sittlich- religiösen Willen, welchen auch Junge mit Recht betont, heben und för- dern wollen.

Auch in der Bearbeitung des Ein- zelnen ist das Buch gut Zillerisch. Das für den Menschen Bedeutungs- volle steht zuerst , häufig genug vor jeder naturgeschichtlichen Be- merkung. Die naturgcschichtliche Beschreibung schreitet natürlich nicht von der Wurzel bis zur Frucht vorwärts. Das erste Individuum ist gleich mit so grofser Rücksicht auf das praktische Leben behandelt, dafs man die Darlegung fast in einer An- weisung tür Gärtner suchen möchte. Von manchen Individuen (z. B. die Johannisbeere) ist überhaupt nur die praktische Bedeutung genannt. Diese Verwertung der ganzen Pflanze oder ihrer Teile ist dem Verf so wichtig, dafs er darüber einen Austausch zwi- schen Nord- und Süddeutschland ver- anlafst.

Ein grofser Vorzug des Buches liegt in seinen Anleitungen zu Ver- suchen. Diese sind, nach des Verf. eigenem Geständnis, nicht schlecht- weg andern Büchern entnommen, sondern zum grofsen Teil erst er- dacht worden. Es mag schwierig sein , diese in allen Verhältnissen anzustellen. Aber das blofse Mit- teilen der Ergebnisse der Versuche durch den Lehrer hat einen so niedrigen Wert, dafs es gut unter- bleiben kann. Auch hier soll die Naturgeschichte anschaulich sein. Das ist sie aber noch nicht, wenn der Schüler beim Unterrichte die Pflanze und das Tier wirklich (oder im Bilde) vor sich hat. In der Ausdehnung und Zweckmäfsigkeit wie bei Junge ist auf naturgeschichtliche Versuche (auf pflanzenphysiologische Anschau- lichkeit) noch nirgends eingegangen worden. Hier zeigt sich der Ver- fasser gleich ausgezeichnet als Pä- dagog und als Vertreter der Wissen- schaft. Dasselbe gilt auch , weil er das Mikroskop im Volksschulunter- richt gebraucht, Ausflüge macht und ein gut Stück Naturgeschichte im Freien vorbereiten und erarbeiten, auch besondere naturgcschichtliche

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Tagebücher von den Schülern an- legen und führen läfst.

Eine weitere vorteilhafte Eigen- tümlichkeit des Buches besteht in den vielen, kulturgeschichtlichen und volkswirtschaftlichen Anfügungen ; auch die Gesetzes- und Haushaltungs- kunde ist mehrfach berührt. Viele dieser Bemerkungen sind sofort zu gebrauchen, andere müssen je nach der Gegend verändert werden, wie das Buch überhaupt studiert sein und nicht Handlangerdienste übernehmen will. Die ganze Arbeit ist die eines erfahrenenSchulmanncs, der manchen für die Schule vorteilhaften Blick über seinen Unterrichtszweig hinausthut und seine Schüler nach jeder Seite fördern will.

Die Arbeit sollte noch mehr im Dienste der Erziehung stehen, sollte manches präziser bringen und auch die Konzentration des Unterrichts in der von Ziller betonten Weise berück- sichtigen

Das Buch ist aber als eine wissen- schaftliche Arbeit, wie sie für die Volksschule noch nicht vorlag, dringend zu empfehlen.

Neustadt a. O. Winzer. XVII.

Frauencharakter und Frauenbildung.

Vortrag, gehalten im Bildungsver- ein zu Düsseldorf am 4. März 1S91 von Frau Emma Schuback. Düssel- dorf. L.Voss & Co. 1891. 16 S. 8°.

Das Recht der Frau. Von Dr. Joh Nieden, Konrektor. Vortrag, ge- halten in Strassburg i. E. am 8. April 1891. Strassburg, Lindner. 32 S. 8°.

Zwei Schriftchen, welche sich über die vielbesprochene Frage äufsern, welches die Aufgabe der Fraucn- bildung in der Gegenwart sei. In dem ersteren äufsert sich eine Frau selbst über Eigenart und Erziehung ihres Geschlechtes, und sie besitzt dazu doppelte Befähigung infolge ihrer vieljährigen Thätigkeit als Lei- terin einer hochgeachteten ^Mädchen- anstalt, welche Thätigkeit sie mit dem Wirken einer trefflichen Haus- frau wohl zu vereinigen wufste. So ist es denn sehr erklärlich, dafs sie mit dem Streben mancher ihrer Ge-

schlechtsgenossinnen, in der Gesell- schaft genau dieselbe Stelle einzu- nehmen , wie der Mann , gar nicht einverstanden ist. Sie verwirft denn auch diese Strebungen mit echt weib- lichem Zartsinn, weist sogar der Frau die Aufgabe zu, des Mannes Gehülfin zu sein. Gegenüber den unklaren Urteilen, welche ab und zu von son- derbaren Käuzen über die Frauen- welt der Gegenwart ausgesprochen werden , weist sie hin auf die Ver- ehrung, welche die Frauen im Alter- tum, bei den Germanen und im Mit- telalter gefunden, und meint, es seien den heutigen Frauen schwerlich die guten Eigenschaften abhanden ge- kommen , welche vormals jene Ver- ehrung hervorgerufen. »Noch ist das deutsche Haus, im ganzen und grofsen genommen, die Stätte von Zucht und Sitte, der Friedenshafen, in den der Mann nach des Tages Last und Ärger- nissen freudig einkehrt, das Heilig- tum der Erinnerung, das den Jüng- ling schützt im Kampf mit den tau- sendfachen Versuchungen; denn die Ehrfurcht vor dem reinen Auge seiner Mutter, vor der keuschen Unschuld seiner Schwestern, kurz die Gesin- nung, die er aus dem Elternhausc mitbringt, ist mafsgebend für sein ganzes Leben. Das deutsche Haus ist die Stätte der Gemütlichkeit, edler Einfachheit, schlichter Frömmigkeit, der Selbstverleugnung, der Geduld, der Demut, der reinen echten Lie- benswürdigkeit, welche der Schmuck des Weibes sind.

Wie aber mufs die Bildung unserer Töchter sein, um solche Charaktere zu erziehen? Wer soll sie erziehen? Natürlich die Eltern. Das kann aber nur geschehen, wenn dieselben un- ablässig sich selbst in Zucht nehmen, stets Hand in Hand gehen. Die Kinder müssen erzogen werden zum Gehorsam, zur Wahrheitsliebe; ihr Gemüt mufs gebildet werden zu Selbstverleugnung und Freundlich- keit gegenüber den Hausgenossen, zur Überwindung spöttischen Sinnes, nicht zum Ehrgeiz, aber zur wahren Ehrliebc; sie müssen angeleitet wer- den zu gründlich ernstem Thun, zur Tüchtigkeit, zur Treue im Kleinen. Dazu ist eine treue Helferin die

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Schule, welche diese Tugenden weckt und nährt , durch Übung des Ver- standes und Nachdenkens jedem ver- nunftwidrigen Reden und Handeln entgegenarbeitet. Nichts aber hin- dert mehr eine gesunde und tüchtige geistige Entwickelung als die endlose Zerstreungs- und Vergnügungssucht unserer Zeit , über welche mit Fug und Recht ein scharfes lTrteil ge- sprochen wird , das Verschlingen wertloser Romane. Als Bestes und Wichtigstes für die Bildung der weib- lichen Jugend wird am Schlüsse her- vorgehoben die Pflege des religöscn Gefühls Man könnte meinen, das alles sei selbstverständlich und nicht gerade neu, und das mag teilweise der Fall sein. Aber auch das Selbst- verständliche kann nicht zu oft ge- sagt werden, denn es gibt gar viele verschrobene Köpfe, denen das Selbst- verständliche gar nicht so selbstver- ständlich erscheint; es kann jenen seichten, von den verbildeten Schich- ten grofsstädtischer Bevölkerungen hergeleiteten giftigen Urteilen über das weibliche Geschlecht unserer Tage nicht oft und scharf genug entgegengetreten werden; es kann das sittliche Ziel der weiblichen Bildung der Gegenwart nicht leuch- tend genug hingestellt, auf die Not- wendigkeit eines gediegenen häus- lichen Lebens nicht nachhaltig genug hingewiesen werden ; und wenn das eine Frau mit echt weiblichem Sinne thut, durch welcher immer das ernste Gemüt , der klare Verstand, ab und zu auch ein anmutiger Humor durch- scheint, so liestsichdasschr nett Das Heft ist besonders unseren Frauen bestens zur Beherzigung zu empfehlen.

In anderer Tonart spricht das Heftchen von Nieden; es ist nicht blofs vom doppelten Umfange des vorigen , es ist auch ein Mann, welcher spricht für das Recht der Frau zu reicherer Teilnahme am öffentlichen Leben, als sie den Frauen bisher von der Gesellschaft zuge- standen worden. Er findet, wie Iphi- genie, der Frauen Zustand beklagens- wert, nicht blofs im Altertum, nicht blos bei Heiden und Muhamcdanern, sondern auch in Deutschland. Die Frauen fordern gleiche Berechtigung

mit dem Manne unter Hinweis auf die Gleichwertigkeit beiderGeschlechter ; der Verfasser prüft dieselbe und ist der Ansicht, dafs das Weib dem Manne in Bezug auf physische Leistungsfähig- keit wie auf intellektuellem Gebiete nachstehe ; er findet die Ursache dieser Erscheinung darin , dafs den Mädchen nie so viele Mittel zur Ent- wickelung ihrer geistigen Fähigkeiten geboten wurden wie den Knaben. Er verlangt daher Erweiterung der Rechte der Frau und zugleich die Gelegenheit zur Aneignung einer gründlicheren Bildung, sowie die Zu- lassung zu allen Berufsarten, in wel- chen sie etwas zu leisten vermag, ohne dadurch das echt Weibliche preisgeben zu müssen. Der Beruf der Lehrerin steht ihr schon offen; Nieden verlangt dazu noch Frei- gebung des ärztlichen und Apotheker- berufes für die Frauen. Für ersteres haben sich schon um der kranken Frauen willen viele Stimmen erhoben ; den Frauen das verantwortungsvolle Amt des Apothekers zu eröffnen, möchte doch sein Bedenken haben. Dann müfste aber, fährt Nieden fort, für die erforderliche Vorbildung ge- sorgt werden durch Gründung einer eigenen medizinischen Hochschule für Frauen, oder wenigstens beson- derer Kurse an einer schon vorhan- denen Hochschule. Daran knüpfen sich weitere Wünsche, die sich auf Einrichtung von Fortbildungskursen besonders in den grofsen Städten beziehen, wie anderseits der Verfasser den erwachsenen Jungfrauen ver- möglicher Stände lebendigere Unter- stützung volksfreundlicher Anstalten, wie Kinderhorte etc. empfiehlt. Das Heft bringt viel Verständiges und Richtiges ; es unterscheidet sich aber vom vorigen, wie sich der nüchterne klardenkende Geist des Mannes von dem gemütvollen sinnigen Denken einer klugen Frau unterscheidet; es ist bezeichnend , dafs die letztere von den Pflichten, der Mann von den Rechten der Frau spricht. Crefeld. Dr. W. Buchner.

XVIII

Die zehn Gebote des Lehrers Von

Karl Moser. Entwurf einer Re-

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form des Schulwesens. Mit Muster- lcktioncn. Hamburg. Konrad Kloss. 1891. Pr. 2 M.

Das Buch empfiehlt wegen der Klagen über die Überbürdung der Schüler und über die daraus ent- stehenden Folgen direkt auf den Unterricht bezügliche Reformen; nämlich 1. die Aufstellung des Freu- denprinzips beim Unterricht ; 2. Ver- bannung der abstrakten Sprachform (welche Reform der Verfasser als Hauptsache an seinem Buche ansieht) und 3. Reformen, welche die eigent- liche Methodik betreffen. Die aufge; stellten zehn Gebote des Lehrers sind zumeist sehr allgemein gehalten, z. B. 1. Bete an die Natur und liebe die Kinder mehr als dich selbst. Manches, was das Buch bringt, ist falsch, z B. >der Geist hat von Natur das Ver- mögen des Wissens, wie überhaupt der Mensch alle anderen Vermögen und Kräfte besitzt.« In den Lek- tionen wird zu wenig die Selbst- tätigkeit der Schüler angerufen, z. B. »der Lehrer erklärt das Kartenbild und erzählt den Schülern das Wich- tigste über die betrachteten Länder;« S. 73 steht: >der Lehrer steht an der Wandkarte und hält, indem er zugleich alles Betreffende auf der- selben zeigt, den nachfolgenden Vor- trag« (über die Bewässerung der Apenninen-Halbinsel).

Die Lektionen nehmen überhaupt den gröfseren Teil des Buches ein. Die psychologische Begründung der aufgestellten Gesetze fehlt fast immer; wenn sie zu geben versucht wird, ist sie mangelhaft. Trotzdem enthält das Buch manchen beachtenswerten Ge- danken und ist jedenfalls aus voller Liebe zu den Schulkindern nieder- geschrieben worden.

Neustadt a/O. Winzer.

XIX.

0. Krilgel, Einiges aus dem Leben und Wirken des Dr. Fr. Otto weil. Rektor in Mühlhausen in Thüringen. Jena, Mauke. 1891.

Es ist freudig zu begrüfsen, dafs das Andenken an den vortrefflichen Schulmann, dessen Schriften für viele eine Quelle der Belehrung geworden

sind, durch ein« n >nnn Schuh : m warmer und Würdig r Weise cnn-.in". worden ist. Seite i-t eun K - 1 n k Ottos nach eim 1 l'i ^heh - 1 : r i « m ah-je- druckt, die sehr eh.sraUi ei a.stist \: \>x für die Klarheit Sieht i heit und Phrasenlosigkcit de- M;dillua>er Rektors. Diese «-ine Aussprache würde genügen, um Intmajsse für Im Mann zu fasser. seine Stellung in der Geschichte de-- dr nischcn wie des Zeichen I 'ntei r xhts ist hin- reichend bekannt um das l'r.tcr- nehmen zu rech: tn -;ir;i:n ein Um /es Lebensbild den <U m-eium Lehrern vorzulegen. E- sei lr.ci mit v.avtn empfohlen.

Jena. W. \< e ;

Dietrich, Fibel nach der Schreiblesp u.

Normalwortmethorie hr.vuusciv. - ig,

Appelhans u l'Unni^t t;1. ism.

gr. S°. 112 S. M

Diese Fibel /< 1 fallt ir zwei Ah- teilungen. Wie -uehdic-- Ahu ilur.._;en gliedern, zeigt sich i:i f'>:.;ciidcr l'l er- sieht :

I. Ah'cumm.

A) Die kleine:: huch-tahci in

Schreibschrift S. ; I! ine

kleinen Buchstal h n in I >: uirUsr n; alt (S. 23 29). C) Im- 1 r osdumhst 1 hen

in Schreib- und i >• ucUseiu 1 r c > m 53). Nach und r. 11 Ii einiiin; zur Erledigung : Gramm ' In s/ea :i - n .-, Phonetisches und ! m: h< .m ■;ipiiiM'iirs. (Wechsel zwischen Uhunm-n in \\\>v- tern, in Sätzen und m U leinen Lest stücken). D) Eiufüh'miie; in die Iie- tonung. Alphabet -S. >t,,-

II. Ahtciluim.

Zusammenhänge 11 di 1 .csesü:cM- in Poesie und Pro-a unter !o!ge ideii Überschriften: 1 An liehen Or.cn. 2) An frohen Zeiten. An U -.'? -n Tagen. 4) Von alten Hck. muten. 5) In unserem '.atten Krumn:^. 6. Auf weiten >\ - ; .: u m -. :s,,m- mer) : a^ Auf dem I' \ lde l> Am der Wiese, c) Am Was-, r. d Im Walde. 7) Von süsser Kruchten iS. Mit lateinischen Buchet ahen <a. V-m hohen Himmel 1X1:14111' 10 \'<>n schönen Märchen

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Dietrich legt also seinem Unter- richte Normalwörter zu Grunde und zwar Normalwörter in der Schreib- schrift. Warum mied er die Druck- schrift? Die Fibel sagt es nicht und konnte es nicht sagen. Es ist über- dies ungemein schwierig zu ent- scheiden, ob man dem Normalwörter- verfahren in der Form von Lese- schreiben oder in der Form von Schreiblesen das Wort zu reden habe ; und so oft ich auch das Für und Wider hinsichtlich beider er- wogen, immer und immer schien mir's, als habe keine Form viel vor der andern voraus, und als invol- viere die eine Form nicht viel weniger Schwierigkeiten als die andere. Da- rum mag man's getrost der Indi- vidualität des Lehrers anheimstellen, sich für diese oder jene Form zu entscheiden, und man mag es dem Lehrer umsomehr überlassen, als der Glaube an die Vorzüglichkeit der Methode wenn auch nicht Wunder, so doch wenigstens etwas Ähnliches zu wirken vermag, und als der Wider- wille gegen ein Verfahren auch das beste in seinem Erfolge beeinträchtigt.

Die Normalwörtcr überhaupt aber will Dietrich nicht entbehren. Er ist sich dabei wohl bewufst gewesen, dafs die Normalwörter neben den Vorteilen, die sie bringen, auch Nach- teile im Gefolge haben; und sein Streben mufste daher dahin gerichtet sein, diese Nachteile von jenen Vor- teilen zu sondern. Ist ihm dies ge- lungen.' Sehen wir zu. Er beseitigt die Druckschrift. Aber er geht noch weiter. Er beseitigt auch die Grofs- buchstaben, um die Schwierigkeiten der schriftlichen Darstellungen auf ein Minimum zu reduzieren. Und noch einen Schritt thut er beherzt vorwärts. Um mit ganz elementaren Formen beginnen zu können, läfst er von den ersten Normalwörtern nur die Anfangsbuchstaben schreiben.

Die erste der nnderungen will mir etwas gewagt erscheinen; denn die Kinder prägen sich die Normal- wörter, wie ja ganz natürlich, so fest ein, dafs es später nicht geringe Mühe kosten wird , eine Anders- schreibung anzueignen und dienst- bar zu machen. Die zweite Ände-

rung ist mit der ersten so eng ver- knüpft, dafs sie miteinander stehen und fallen. Da hätten wir also zwei Obelstände, welche der Dietrichseben Fibel anhaften. Aber man bedenke, dafs jede Fibel, wende sie auch diese oder jene »Leselehrart« an, mit Fehlern behaftet ist; wir haben dem- nach nur zwischen verschiedenen Übeln zu wählen. Als Normalwörter sind diese aufzuzählen: i(gel), e{sel), ei, n(est), s(eil), m(ühle), u(hr), leine, eule, o(fen), a(dler), rose, wein, maus, feile, löwe, hase, eiche, schaf, beil, taube, kühe, düte, pudel, geige, jäger, ziege, fufs, buch und faust. Es läfst sich nicht leugnen, dafs diese Normal- wörterreihe mit gutem Bedachte ge- wählt ist.

Die Bilder dazu sind zumeist sauber ausgeführt und nicht (wie in manchen Fibeln) vieldeutig.

Die Auswahl des Übungsstoffes in der ersten Abteilung mufs als be- sonders gelungen anerkannt werden. Da finden wir von den »Dornen und Disteln«, die sich in vielen Fibeln breit machen, fast keine. Dafs mög- lichst früh Sätzchen und kleine Lese- stücke zur Anwendung kommen, ist ein Vorteil , den man nicht hoch genug anschlagen kann. Solcher Übungsstoff macht nicht allein dem kleinen Völklcin grofse Freude ; nein, er ist auch unbedingt erforderlich. Wer jemals nach einer Fibel unter- richten mufste, die in dem Normal- wörterkursus nur mit Silben und Wörtern operiert und von diesem Normalwörterkursus zu dem Lesen zusammenhängender »klassischer« (nicht: »bearbeiteter«) Stücke fort- schreitet, der hat gewifs bitter er- fahren müssen, dafs in diesem Falle die Kinder auf solche Leistungen nicht genugsam vorbereitet sind, dafs daher zu lange Zeit und zu viel Mühe auf das Aneignen einer ein- zelnen Nummer verwandt werden mufs, wodurch die Freudigkeit des Könnens zum guten Teile verloren geht. Durch Einfügung besagten Übungsstoffes wird sothanem Übel- standc ein Ende gemacht *)

*) Vgl. auch: Rein, Bltedner, Pickel u. Schaller, Das erste Leachuch.

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Die Nachsilben cl, er und en treten mit Recht als »Monogramme« auf; solche »Monogramme« erleichtern die Orthoepik und beschleunigen das Lesen.

Die seltener vorkommenden Buch- staben c, x, y u. s. f. finden erst spät Verwendung, nämlich zu einer Zeit, in der gröfsere Lesepensen be- wältigt zu werden vermögen, in der also jene Buchstaben so oft vor- kommen, dafs ihnen eine öftere Reproduktion gesichert ist.

Mit Freuden begrüfsen wir es, dafs es der Verfasser gewagt hat, Hand an die »geheiligte klassische Form« mancher Stücke zu legen. Ich sage : gewagt hat ; denn heute gehört dazu Mut. Thut man doch, als gält's, die Kleinen, die kaum über das Abc hinausgekommen sind, schon zu > Schöngeistern« erziehen zu müssen. Die Umarbeitungen sind zumeist mit feinsinnigem Verständnis vollzogen: es sind die Schwierigkeiten für die Aneignung gemindert; aber der poetische Gehalt ist nicht verringert. Die Neu- bez Nachbildungen des Verfassers sind nicht minder treff- lich. (Das Lesestück mit der Über- schrift »Der Jäger und das Rebhuhn« and dem Schlüsse: »Weifst du denn nicht, dafs jeder Mutter ihre eigenen Kinder am besten gefallen?« sollte freilich gestrichen sein.)

Dietrich selbst bezeichnet als einen Vorzug der Fibel »die seines Wissens völlig neue Bezeichnung der Reihen "bez. Seiten durch Punkte, Kreuze u. s. f., welche den Kindern das Auf- finden, dem Lehrer die Kontrolle erleichtern soll.«

Mit Recht! Doch ist dieses Orien- tierungsmittel nicht «völlig neu«, wie ein Blick in Wursts Schreiblescfibel zeigt.

Die Dietrichsche Fibel nimmt natürlich auf den Sachunterricht nicht unmittelbar Rücksicht*), ent- behrt daher auch gewisser Vorteile.

•) Vgl dagegen da« bereit« erwähnte *i »« von Rein etc. Wer ein

mag, dem werden die Vorteile die ein Le hrplaniy »tem

Rekapitulieren wir, so ergiebt sich: Die Dietrichsche Fibel ver- dient allgemeine Beachtung.

Eisenach. M. Fack.

XXI.

Or. Georg Müller- Frauenstein. Hand- buch für den deutschen Sprach- unterricht in den oberen Klassen höherer Lehranstalten. Hannover, Norddeutsche Verlagsanstalt (O. Gondel) 1889 und 1890. I. Teil: Zur Sprachgeschichte und Sprach- lehre, 203 u. VIII S. II. Teil: Zur Vers-, Stil-, und Dispositionslehre, 180 u. IV S.

Ein mit grofser Liebe und Sach- kenntnis bearbeitetes Schulbuch! Allerdings nur Stoffsammlung, keine methodische Bearbeitung, aber reich an methodischen Winken und prak- tischen Vorschlägen , die einen Ver- fasser verraten, der auf langjährige Schularbeit zurückblicken kann. Der geschichtliche Abschnitt des ersten Teiles führt, sich nur auf das Not- wendigste, aber Charakteristische beschränkend, in sehr klarer Weise den Leser Schritt für Schritt von einer Erörterung über die Sprache überhaupt zum indogermanischen Sprachstamme, zu den germanischen Sprachen und endlich zur hoch- deutschen Sprache, wobei die Ge- schichte der Schrift, der Sprachlehre, derRechtschreibung und der Zeichen- setzung eine gesonderte Behandlung erfahren. Ein dankenswerter An- hang beschäftigt sich mit »den heute geltenden Hauptregeln der Recht- schreibung und Zeichensetzung.« Er ist geeignet, diejenigen eines besseren zu belehren, welche in wohlgemein- tem, aber mehr oder weniger unver- ständigem Eifer das bekannte Büch- lein »Regeln und Wörterverzeichnis zur deutschen Rechtschreibung« zu verurteilen pflegen. Doch ist der Verfasser keineswegs blind gegen gewisse Schwächen des offiziellen Schriftchens, Schwächen, die heut zu Tage von jedem einsichtigen Schul- manne schwer empfunden werden. Das geht z. B. aus seinen Fragen S. 49 hervor: »Soll wirklich »»die kölnischen Bahnhöfe«« klein, die

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»»Hamburger«« aber grofs geschrie- ben werden? Also nacheinander in Berlin der Lehrter und der schle- sische, in Dresden der Leipziger und der böhmische? Der Pfälzer Wein grofs, der pfälzische aber klein Und ebenso geht es aus den Äufse- run^en S. 51 hervor: »Die in dem Regelbuchc und dem Wörterver- zeichnisse enthaltenen Beispiele und Ratschläge würden, sollten sie in den Schulen alle eingeprägt werden, geradezu dem Sprachgefühle Ab- bruch thun, da man dann gegen 1500 Fremdwörter einlernen und erklären müfste.« Den gröfsten Raum nimmt naturlich der zweite Abschnitt »Zur Sprachlehre« ein. Er bietet keine systematische Grammatik, giebt aber troUdem über alle wichtigeren gram- matischen Erscheinungen hinrei- chende Auskunft. Diese ist um so belehrender, als sehr häufig die Fäden klar gelegt werden, durch welche ein heute herrschender Sprachgebrauch oder eine jetzt geltende Regel mit solchen, die früheren Perioden unserer Sprache angehörten, verbunden werden. Doch scheint uns der Verfasser in einigen Fällen zu grolsc Nachsicht gegen Ausdrucksweisen obwalten zu lassen, denen man zwar, selbst bei besseren Schriftstellern, nicht selten begegnet, die man aber doch als das, was sie sind, als falsch oder unschön, be- zeichnen sollte. S. 105 heifst es: »Eine weitverbreitete Nebenform des Genetivs zeigen die auf einen Zisch- laut oder auf ein unbetontes c aus- gehenden Personennamen, nämlich ens neben s: Luisens neben Luises. Doch herrscht heute wohl die regel- mäfsige Endung vor, und man fügt bei den Zischlauten in der Schrift gewöhnlich nur ein Häkchen an: Max', Fritz' Dieser letztere Weg wird jetzt auch schon bei den be- treffenden Länder- und Ortsnamen eingeschlagen, bei denen sonst auch das Vcrhältsniswort aushilft: Die Garnison Metz' oder von Metz.« Wir meinen, eine Ausdrucksweise wie »die Garnison Metz « sei durchaus unschön und verwerflich und müsse deshalb in den Schüleraufsätzen als Fehler bezeichnet werden. Freilich

hat hier das »Regel- und Wörter- verzeichnis« mit seinem »Vofs' Luise« in trauriger Weise vorgearbeitet Also wir wollen nicht lehren: »Die Garnison Metz' oder von Metz«, sondern: »Die Garnison von Metz oder der Festung Metz«. S. 127 sagt der Verfasser: »Ebenso bleibt es ungewöhnlich, dergleichen Ver- bindungen auf Personen zu beziehen, etwa: Die Leute, womit ich zu Tische safs, obgleich »wovon« auf sächliche Personenwörtcr, wie das Kind, und auf Personen in der Mehrzahl schon nicht mehr so selten bezogen wird. Trotzdem ist es nicht empfehlens- wert zu sagen: »Die Mädchen, wo- von die einen hell, die anderen dunkel gekleidet waren.« Auch in diesem Falle sind wir der Ansicht, es müfsten derartige Verbindungen nicht nur als ungewöhnlich oder nicht empfehlenswert, sondern als falsch bezeichnet werden. Der in grammatischen Dingen leider schon allzu breit sich machenden Willkür wird sonst erst recht Thür und Thor geöffnet. Das letztere geschieht auch, wenn S. 1S6 der Satz aufgestellt wird: »Sodann steht an Stelle des Indi- kativs der unabhängigen Rede der Konjunktiv der Gegenwart in der abhängigen Rede, gleichviel ob eine Gegenwart »oder eine Prätcritalform im Hauptsatze steht.« Hat die deutsche Sprache wirklich keine con- secutio temporum ? Daraus , dafs so viele Tagcsschriftstellcr sie nicht be- achten, folgt doch wohl noch nicht, dafs keine da ist. In den Sätzen des Verfassers: »Ich glaubte, ich sei wieder hergestellt« und »Ich fragte, ob der Arzt da sei, und bat, er möchte eintreten« halten wir das »sei* für durchaus ungerechtfertigt und vermögen nicht einzusehn, wes- halb hier nicht der consecutio tem- porum gemäfs »wäre* stehen sollte. Uebrigens setzt der Verfasser in dem zweiten der erwähnten Beispiele neben den conj. pracs. »sei« gegen seine Regel den conj. imperf. »möch- te«. Das ist doch Verwirrung stif- tend. Gerade Ausländer, für die er ja sein Buch mit bestimmt hat, wer- den ihm für derartige Willkürlich- keiten wenig Dank wissen. Aufser

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dem Erwähnten ist uns noch aufge- fallen, dafs S. 87 »Speisekarte« als aus zwei Hauptwörtern bestehend hingestellt wird, während es doch wohl richtiger ist, den ersten Teil des Wortes als Zeitwort zu betrach- ten und sich die Entstehung zu denken wie bei »Zeigefinger« und >Badehaus«, welche Wörter ebenfalls einen Zeitwortstamm mit einem Hauptworte durch den Bindevokal >e« verbinden. Dafs Rechen- und Zeichen- buch richtiger ist als Rechnen- und Zeichnenbuch (S. 88), dafür fehlt die allerdings nahe liegende Begründung. S. 104, wo von der Gcnctivbildung der Eigennamen die Rede ist, ver- missen wir Beispiele wie »Die Schwester Götzens von Berlichingen« oder »Friedrich von Schillers Ge- dichte; denn gerade solche Fälle pflegen dem Anfänger Schwierig- keiten zu machen. In dem Satze auf der nämlichen Seite : »Es ergiebt sich also , dafs heute männliche Hauptwörter entwedei stark oder schwach oder gemischt, weibliche und sächliche nur stark oder ge- mischt gebeugt werden können< liegt wohl nur ein Druckfehler vor, es müfste denn sein, dafs der Verfas- ser weiblichen Hauptwörtern die schwache Beugung abspricht, weil sie sich gegenwärtig (abgesehen von den bekannten Ausnahmen) nur noch in der Mehrzahl zeigt. Der zweite Teil bringt in seinem ersten Ab- schnitte einen gedrängten Abrifs der Poetik. In ihm finden sich zwar viele der in allen Poetiken ange- führten Beispiele, jedoch auch manche neue oder wenigstens nicht so all- gemein bekannte. Etwas kurz weg- gekommen ist der § 24 über die Dramatik. Hier wäre wohl am Platze gewesen, den Bau eines Dra- mas nach Exposition, Schürzung und Lösung des Knotens an einem oder einigen unserer klassischen Stücke im einzelnen darzulegen. Die Lehre von den Tropen und Figuren hat der Verfasser dem zweiten Ab- schnitte »Zur Stillehre« eingeordnet. Sehr lehrreich ist der dritte Ab- schnitt »Zur Dispositions- und Auf- satzlehre«. Erzählung, Beschreibung, Schilderung, Charakterzeichnung, Be-

trachtung, Vergleich, Entwickelung und Abhandlung werden der Reihe nach untersucht, wobei eine Menge von Beispielen aus klassischen Schrift- stellern herangezogen und besonders nach ihrer Disposition beleuchtet wer- den. Auf Einzelheiten sei hier nicht weiter eingegangen; man kann über manche ganz anderer Ansicht sein und sich doch mit dem Verfasser als auf gleichem Grunde stehend fühlen. Nur kommt es uns vor, als ob der Verfasser die Schwierigkeiten unter- schätze, die demjenigen Schüler er- wachsen, der als Einkleidung seines Aufsatzes die Form des Gespräches wählt. Es will uns scheinen, dafs man, selbst in höheren Lehranstalten, nur in seltenen Fällen die dialogische Einkleidung von den Schülern ver- langen dürfe. Bei einer etwaigen neuen Autlage möge die Ungleich- mäfsigkeit in der Schreibung des Wortes »einander« , wenn es mit Präpositionen verknüpft ist, beseitigt werden !

Eisenach. Dr. A. Blicdner. XXII.

A. Ebeling. Dr. AI. Luthers kleiner Katechismus. Urtext mit Angabe der Abweichungen bis 1580 und in der hannoverschen Landeskirche, nebst Vorschlägen zu sprachlichen Änderungen und Anmerkungen. Hannover, C. Meyer (G. Prior), 1890. 53 S. Preis: 1,20 M.

Dafs noch gegenwärtig, allerdings in anderem Sinne als zuweilen früher, eine Katechismusnot besteht, davon weils |eder Lehrer, dem die Erklärung und Einprägung des Lutherschcn Katechismus obliegt, ein Liedlein zu singen. Nicht zum geringsten liegen die Schwierigkeiten in der sprach- lichen Form. Vieles von dem, was zu Luthers Zeit allgemein verständ- lich war, ist es heutigen Tages nicht mehr. Ln Rechtschreibung und Zei- chensetzung haben sich allerdings die Katechismen der einzelnen Landes- kirchen der Fortentwickelung der deutschen Sprache wohl oder übel anpassen müssen. Die Zugeständ- nisse jedoch, die man der Grammatik und dem Ausdrucke gemacht hat,

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sind ziemlich geringe. Die Folge davon ist, dafs entweder und das ist noch der günstigere Fall in den Religionsstunden eine unverhält- nismäfsig lange Zeit auf Erklärung des rein Sprachlichen verwendet werden mufs, oder dafs die Kinder mit dem Auswendiglernen von Un- verstandenem gemartert werden. Im letzteren Falle ist es dann wirklich so, wie der Verfasser bemerkt, dafs es viel Zeit und Mühe, ja viele Tnränen den heute lebenden Kindern kostet, den Katechismus zu lernen. Ein weiterer Obelstand besteht darin, dafs die Textgestaltung, wie sie sich in den einzelnen Landeskirchen nach und nach gebildet hat, verschieden- artig ist. Die sog. Eisenacher Kon- ferenz hat im Anfange des vorigen Jahrzehnts eine neue Textgestaltung besorgt. Doch hat diese keineswegs allgemeine Annahme gefunden. Unser Verfasser wirft ihr, unzweifelhaft mit Recht, vor, dals sie auf halbem Wege stehen geblieben sei. Er selbst hat sich nun die Aufgabe gestellt, eine weitergehende und den Ansprüchen der heutigen Schule entsprechendere Textgestaltung aufzustellen. Nach einer sehr lesenswerten Einleitung, in welcher die eben angedeuteten Mifsstände eingehend erörtert wer- den, stellt er neben den Originaltext des Enchiridions der Wittenberger Ausgabe von 1542 die von ihm vor- geschlagene Textfassung, alle Änder- ungen in beigefügten Noten aus- führlich begründend. Von diesen Änderungen seien hier einige der wichtigeren namhaft gemacht. In der Erklärung des ersten Gebotes ist vor »vertrauen« der Dativ »ihm« eingesetzt, in der des achten steht »ihm Übles nachreden« statt »after- reden«, in der des zehnten »ablocken« statt »abspannen«, in der Erklärung der fünften Bitte »nichts als Strafe« statt »wohl eitel Strafe« und »für- wahr« statt des Lutherschcn »z war- ten« , im vierten Hauptstück »die Taufe ist nicht nur Wasser« statt »die Taufe ist nicht allein schlecht Wasser« und »im letzten Kapitel des Matthäus« und »im letzten Kapitel des Markus« statt »Matthäi am letzten« und »Marci am letzten« u. s. w. Auch

das »Vater unser« hat er geändert in »Unser Vater«. In pädagogischen Kreisen würde es sicherlich freudig und dankbar begrüfst werden, wenn diese Änderungen eingeführt würden.

Eisenach. Dr. A. Bliedner. XXIII

H. Schwoobow, Methodik des Volks- schulunterrichts in übersichtlicher Darstellung. Ein Lern- und Wieder- holungsbuch zur Vorbereitung aut pädagogische Prüfungen, insbeson- dere für Lehrer und Lehrerinnen, sowie für Kandidaten des Schul- und Predigtamtes. 2. vermehrte und verbesserte Autlage. 285 S. 8*. Gera 1888 Th. Hofmann. 2,60 M. Das Buch hat einen ausgesprochen

praktischen Zweck, der bei der Be- urteilung im Auge behalten werden mufs. Es kann sich also nicht darum handeln, festzustellen, ob es dem heutigen Standpunkte der pädagogi- schen Wissenschaft in allen Punkten entspricht, sondern ob es den Exa- minanden in den Stand setzt, den Anforderungen zu genügen, welche in den Prüfungen durchschnittlich an ihn gestellt werden. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, mufs das Werk als eine gelungene Lei- stung bezeichnet werden. Wer sich den Inhalt angeeignet hat, der kann den Prüfungssaal »sonder Furcht und Grauen« betreten. Denn er verfügt über den Inhalt der preufsisch-offi- ziellen Pädagogik.

Auf folgende Punkte hat der Ver- fasser besonderes Gewicht gelegt:

I. auf eine übersichtliche Anordnung des Stoffes, 2 auf Berücksichtigung der preufsischen amtlichen Vor- schriften, welche meist zum Aus- gangspunkt genommen werden, 5 auf kurze Darlegung des geschicht- lichen Entwickelungsganges, 4. auf eingehende Kritik und 5. auf an- schauliche Vorführung des Unter- richtsverfahrens. Der 1. Abschnitt enthält die allgemeine Methodik in folgenden Kapiteln: Auswahl und Ver- teilung des Stoffes; Darbietung und Auffassung des Unterrichtsstoffes ; Einübung des Stoffes; der Lehrer. Ein Anhang bringt auf 1 V, S. die

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geschichtliche Entwickelung und auf 2 ijt S. die formalen Stufen. Der 2. Abschnitt enthält die spezielle Methodik der in Preufsen obligatori- schen Fächer.

Nach S. to scheint es, als ob die Vertreter der Herbartschen Pädagogik bei der Geschichte Abrahams als Analyse >eine ausführliche Schilder- ung der Tierwelt des Morgenlandes, sowie des Nomadenlebens und der damaligen Kulturverhältnisse« vor- ausschickten, ein Irrtum, der gewifs nicht mehr vorzukommen brauchte.

Eichen. C. Zjiegler.

XXIV.

Fr. Polack, Lehrplan mit Pensenver- teilung, Lehrbericht, Lektions- plänen und Schulchronik für ein- bisdreiklassige evangelische Volks- schulen. Nach dem Grundsatze der Stoffzusammengehörigkeit auf- gestellt. 3. umgearb. Auflage. 78 S. Gera 1888. Th. Hofmann. 1 M.

Diese neue Auflage des Polack- schen Lehrplanes erscheint in ganz neuer Gestalt. »Die Erfahrung,« sagt Polack, lehrt, dafs zusammenhangslose Lernstoffe sich leicht verzetteln, keine nachhaltige Erziehungswirkung ausüben und selten zu Bildungs- und LebensstolTen werden. Wie Stoff- beschränkung, Stoffverbindung, Stoff- durchdringung und Stoffverwertung die Losung der Unterrichtsarbeit sind, so müssen sie auch die leiten- den Grundsätze für die Aufstellung eines Lehrplanes und eine Pensen- verteilung werden. Die Lernstoffe müssen nach dem Bildungsbedürf- nis der Schüler ausgewählt, auf das Nötige und Mögliche beschränkt, nach innerer Verwandtschaft auch äusserlich zusammengestellt und in innige Verbindung gebracht werden, damit sie sich gegenseitig ergänzen, erklären, vertiefen und festhalten helfen. Nicht der Drache der Voll- ständigkeit soll die Lernstoffe auswählen, und nicht mit dem künst- lichen Fangnetze des Systems sollen sie geordnet werden, sondern pädagogische Erfahrung und Einsicht soll wählen und ordnen. Was nicht durch klare Anschauung zur Vor-

Pndagojiisclie Studien. I.

Stellung geworden, in seinem Zu- sammenhange nicht begriflen.inseiner sprachlichen und geistigen Bedeu- tung nicht verstanden, in einer be- stimmten Form nicht festgehalten und in seiner Beziehung zum Leben nicht verwertet wird, das hilft wenig oder nichts zur Bildung.«

Diese Grundsätze werden aber nicht nur ausgesprochen, sondern auch befolgt Der Polacksche Lehr- plan enthält nichts Geringeres als den Versuch, unter den jetzt gelten- den gesetzlichen Bestimmungen das Prinzip der Konzentration im Lehr- plan durchzuführen. Übrigens hätte der Verfasser es auch ruhig aus- sprechen dürfen, dafs der Grund- satz der Stoffzusammengehörigkeit ein Stück Herbartscher Pädagogik und nicht ein Resultat der > Erfah- rung« schlechthin ist.

Eichen. C. Zieglcr.

XXV.

Ernst Haupt, Kurzgcfafste lateinische Formenlehre. Berlin, Friedberg & Mode. 1890. VIII und 52.

Die vorliegende lateinische Formen- lehre ist für die beiden unteren Klassen bestimmt und wie die von Perthes als Lernbuch gedacht. Vor dem Perthes'schen Buche hat sie den entschiedenen Vorzug sorgfältigerer Sichtung und engerer Begrenzung des Stoffes voraus: alle selteneren Wörter und Formen sind unerwähnt geblieben. Dem Charakter als Lern- buch entsprechend hat der Verfasser auf übersichtliche Anordnung und Darstellung , wodurch ja das Ver- ständnis und das Gedächtnis unge- mein unterstützt wird, grofses Ge- wicht gelegt: wo irgend angängig, ist nach dem bewährten Beispiel von Bromig und Scheindlcr die tabella- rische Form angewandt. Das Pen- sum der Sexta ist, soweit erforder- lich, durch gröfseren Druck von dem der Quinta abgehoben worden.

Die Genusregeln behandelt der Verfasser nach dem Vorgang von Harre (Lat. Schulgrammatik) von der Declination getrennt und unterschei- det natürliches Geschlecht, das er

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mit richtigem Blicke weiter fafst als es in den landläufigen Gramma- tiken geschieht, und grammatisches Geschlecht, wobei er die Ausnahmen und zwar mit einem Adjektivum verbunden in einem besonderen Ab- schnitt nach dem Geschlecht, nicht nach der doch nebensächlichen Ab- weichung von der Hauptregel geord- net aufführt.

Die Musterbeispiele zu den 5 Dec- linationen sind recht übersichtlich gedruckt: eine praktische Verein- fachung für den Sextaner bildet die Wcglassung des Vokativs, der erst später bei Gelegenheit, von ,mi fili' (8 10) nachgeholt wird. Dass der Vei fasser in der III. Deklination die von Perthes vorgeschlagene und für den Sextaner so aufserordentlich einfache und einleuchtende Unter- scheidung von substantivischer und adjektivischer Deklination wieder auf- gegeben hat, halte ich für einen Nachteil, der wohl durch die ge- trennte Behandlung des Adjektivs herbeigeführt worden ist. Auch würde es sich vielleicht bei einer neuen Herausgabc des Büchleins em- pfehlen, die Endungen der Deklina- tionen und Konjugationen gesondert voranzustellen, da doch wohl eine Anzahl Collegen nach der neuer- dings wieder von Waldeck (Lehr- proben XXII. 82 ff) vorgeschlagenen Methode verfahren, dem Schüler die Endungen und nicht Paradigmata ein- zuprägen.

Dals die Nominalformen des Ver- bums, soweit sie dem Sextaner noch nicht fafsbar sind, (Verfasser rechnet dahin die Part, und Inf. Futuri und Perfccti) erst im Zusammenhang mit den syntaktischen Regeln besprochen werden, ist durchaus zu billigen. Ob jedoch Verf. mit der Neuerung, statt des Supinum das Perfcctum Passivi als Stammform aufzuführen, durch- dringen wird, erscheint mir zweifel- haft; der Vorschlag hat wohl mehr die Theorie als die Praxis für sich. Ein Verbalverzeichnis hat der Verf. absichtlich weggelassen , da nach seiner Erfahrung die Schüler aus dem Übungsbuch , nicht aus der Grammatik lernen: ob dieser Satz jedoch auf alle Übungsbücher

und alle Lehrmethoden auszudehnen ist, möge dahin gestellt bleiben; jedenfalls würde man bei einer neuen Auflage des Buches ein solches Ver- zeichnis ungern missen.

Doch das sind alles Kleinigkeiten, durch welche die Brauchbarkeit des Buches unsencs Erachtens nur er- höht werden würde, von denen sie aber keineswegs abhängig ist. Auch in der vorliegenden Gestalt erscheint uns diese Formenlehre als eine recht verdienstliche Arbeit, auf welche die Collegen nachdrücklich hinzuweisen wir für unsere Pflicht halten: die Vereinigung von Gedrängtheit und Übersichtlichkeit, in welcher päda- gogisches Geschick und pädagogische Erfahrung augenfällig zu Tage treten,, würde allein schon genügen, der Hauptschen Formenlehre den Vor- rang vor vielen anderen Büchern dieser Art zu sichern.

Und wenn wir die allgemeine Seite der Erscheinung, wie sie sich uns darstellt , herausheben sollen , so möchten wir der Meinung sein, dafs solche praktische Versuche , den grammatischen Stoff im Sprachunter- richt zu vereinfachen und auf das rechte Mafs zurückzuführen, die Geg- ner des altsprachlichen Unterrichts eher beschwichtigen und leichter be- kehren werden, als manche salbungs- volle Rede mit schwungvollen Re- densarten und manche langatmige Broschüre mit allgemeinen Betrach- tungen und Erörterungen.

Jena Dr. Unrein.

XXVI

W. Seytter: Materialien zur Hei- matkunde. Im Anschlufs an Stuttgart und Umgebung bear- beitet. Stuttgart, Verlag von Emil Paulus 1890. 163 S. 2 M. Die vorliegende Materialiensamm- lung zur Heimatkunde ist mit Freu- den zu begrüfsen. Sie hat sich die Aufgabe gestellt, dem Heimatkunde erteilenden Lehrer eine praktische Handhabe zusein bei der Lösung der heimatkundlichen Aufga- be: Kenntnis der Heimat zu übermitteln, dem geographi- schen Unterricht durch Ent-

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uicklung der wichtigsten Be- griffe dieser Disziplin und Ein- führung in das Verständnisder Karte eine Grundlage zu be- reiten und zur Herzens- und Gemütsbildung unsererjugend beizutragen.

Über die Entstehung und den Ge- brauch des Buches, das überall das pädagogische Verständnis des Ver- fassers erkennen läfst, lesen wir im Vorwort: »Die ersten Anfänge dieser vorliegenden Sammlung von Materi- alien für die Heimatkunde entstan- den aus dem ureigensten Bedürfnis des Verfassers selbst. Erst im Laufe der Zeit fügte derselbe, nachdem er sich in und um Stuttgart mehr und mehr umgesehen und in die Auf- gabe, Bedeutung und Behandlung des heimatkundlichen Unterrichts praktisch und theoretisch tiefer ein- gelebt und eingearbeitet hatte, Stein um Stein dem ersten Aufbau hinzu. Er hatte bei dieser seiner erweitern- den Thätigkeit das Ziel vor Augen, eine Sammlung von heimatkund- lichem Stoff zusammenzutragen, wel- che alle Objekte unserer Heimat um- fassen sollte, die geeignet wären, einen Beitrag zur geistigen Bildung unserer Jugend zu liefern. ... Es sei zum voraus bekannt, was ja aus der oberen dargelegten Entstehung des Buches sich ergiebt, dafs letz- teres nicht nur für diese oder jene Schule, diese oder jene Klasse, für diese oder jene Schulverhältnisse und -Bedürfnisse angelegt und ge- schrieben worden, sondern dafs es allen Schulen Stuttgarts in gleichem Mafse dienen will. Demzufolge wird der Lehrer der Stoffsammlung nur das entnehmen, was er für seine Schulanstalt und seine Klasse, bezie- hungsweise die Altersstufe seiner Schüler, für nötig erachtet. Auch ist es nicht die Meinung des Verfassers, dafs alles hier gegebene Material in der sogenannten geographischen Hei- matkunde gegeben werden müsse. Er hält dafür, dafs alle Fächer ihren gewissen Beitrag zur Heimatkunde liefern sollten«.

Die Reichhaltigkeit des Werkchens ist aus folgender Inhaltsangabe er- sichtlich.

I. Teil. Vom Himmel und seinen Erscheinungen. (S. i 41).

Von der Sonne: 1. Zur Hin- leitung in die Heimatkunde. 2. Vom Himmelsgewölbe und den Himmels- körpern. 3. Vom Horizont. 4 Vom täglichen Lauf der Sonne. 5. Haupt - himmclsgegcndcn. 6. Nebenhim- mclsgcgenden. 7. Der Schatten: Richtung und Länge Erdschatten. 8. Sonnen- und Schattenseite 9. Die Winde. 10. Die Windrose, n. Von der Magnetnadel. 12. Vom Orien- tieren. 13. Tägliche Änderung der Wärme. 14. Vom Kreislaut des Wassers.

Vom Monde: 1. Vollmond. 2. Lctzes Viertel. 3. Neumond. 4. Erstes Viertel. 5. Vollmond. (2. Betrachtung) Vom Mondwechsel.

Von den Sternen: 1. Stern- bilder des nördlichen Teiles un- seres Himmels. 2 Bewegung der Sterne am nördlichen Teil unseres Himmels. 3. Sternbilder des süd- lichen Teils unsres Himmels. 4. Be- wegung der Sterne am südlichen Teil unsres Himmels.

II. Teil. Unser Heimatort (S. 41-88).

Unser Schulhaus und seine aller- nächste Umgebung. Zur Kenntnis des Stadtplans. Von den Bewoh- nern Stuttgarts und ihrer Beschäf- tigung.

III. Teil: Die nächste Umgebung Stuttgarts (S. 88—136;.

Von den Bergen. Von den Thä- lern und Gewässern. Von Feld und Flur.

IV. Teil: Die weitere Umgebung Stuttgarts (S. 136—163).

Von besonderem Wert ist die vor- liegende Matcrialansammlung selbst- verständlich für die Schulen Stutt- garts resp. Württembergs. Vieles läfst sich aber mit einigen Verän- derungen auch auf andere Gegenden übertragen Der Inhalt des ersten Teiles ist überdies an keine Örtlich- keit gebunden.

Zu loben ist der im Buche einge- haltene methodische Gang. Jede Lektion knüpft an einen mit den Schülern unternommenen Spazier- gang an. Verständiger Weise sagt der Verfasser in dieser Hinsicht:

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»Obwohl die Spaziergänge eine wich- tige Stelle im heimatkundlichen Unterricht einnehmen und so oft wie möglich ausgeführt werden sollten, so will doch, wenn am Eingang der Lektionen von einem Spaziergang die Rede ist, damit nicht gesagt sein, dafs für die betreffende Lektion eigens ein solcher zu unternehmen sei. Ein Spaziergang kann den Stoff mehrerer Lektionen berücksichtigen, obwohl hier wieder vor dem »Zuviel« gewarnt werden mufs! Jeder Unter- richtsabschnitt (Einheit?) teilt sich in drei Teile. I. Das Unterrichtsob- jekt wird angeschaut, beobachtet event. geprüft, gemessen, versucht, untersucht. IL Die Resultate wer- den auf Grund dieser Anschauungen meist in entwickelnder Weise ge- wonnen und übersichtlich zusammen gestellt. III. Das Gelernte kommt zur Anwendung und Einübung (Auf- gaben, Rätsel, Beschreibungen, Zeich- nungen). Die vom Verfasser darge- botenen Zeichnungen sind oft origi- nell. Geschichten, Sagen, Verschen, Lieder, Rätsel sind an passender Stelle eingefügt. Die wertvollen An- gaben über Höhen, Längen, Flächen, Räume etc. im »Anfang« lassen sich auch sehr gut im Rechenunterricht verwenden, wenn derselbe der For- derung der Konzentration Rechnung trägt.

Halle a. S.

H. Grosse.

XXVII.

Lüders, der Volksschulunterricht. sein Ziel, sein Stoff und seine Methode.

Lehrplänc für evangelische Schulen und Vorträge aus Lehrerkonferen- zen. 140 S. Leipzig 1SS2. Merse- burger. 1,50 M.

Der Verfasser, Rektor in Wollin, empfiehlt sein Buch »der freundlichen Beachtung kundiger Genossen des Berufes bestens« ; leider vermögen wir uns dieser Empfehlung nicht an- zuschliefsen. Dem Buche fehlt die Existenzberechtigung, weder die in ausgefahrenen Geleisen sich bewe- genden Lehrpläne noch die so über- aus dürftigen Vorträglein können eine solche begründen. Kundigen Genossen des Berufes zu sagen, dafs

es »ratsam« sei, während des Reli- gionsunterrichts »nicht im Schul- zimmcr wie der Löwe im Käfig« hin und her zu spazieren, ist einfach eine Beleidigung. An anderen Stellen freilich merkt man , dafs kundige Leser vorausgesetzt werden. Über die Rücksichtnahme auf Ethik und Ästhetik im naturkundlichen Unter- richt z. B. äufsert sich Lüders, wie folgt: »Zwar darf man, wenn man bei dieser Unterweisung ethische und ästhetische Zwecke verfolgen will, nicht plump zufassen ; man mufs aber auch nicht zu subtil verfahren, weil sonst der erwünschte Erfolg eben- falls ausbleibt. Man sei nicht zu be- sorgt, es kann in dieser Hinsicht nicht leicht zu viel geschehen.« Wer vorher nicht wulste, wie zu verfah- ren ist, weifs es jetzt sicher! Füge ich noch an, dafs der Verfasser bei dem Unterrichte in den Realien, »abgesehen von der eigentlichen Veranschaulichung, vier Hauptthätig- keiten unterscheidet, nämlich das Lesen, das ergänzende Hinzuthun seitens des Lehrers, das zusammen- fassende Abfragen und darlegende Antworten und das Notieren von wegweisenden Wörtern behufs An- fertigung einer häuslichen Ausarbei- tung«, so werden die Leser gewifs auf weitere Darlegungen verzichten und sich mit mir wundern, wie je- mand den Mut haben kann, so et- was drucken zu lassen.

Eichen. C. Ziegler

XXVIII.

Dr. Theodor Walter, Direktor der Grofsherzogl. Hessischen Real- schule zu Bingen a. Rh.: Metho- dische Untersuchungen aus dem Gebiete der elemen- taren Mathematik. Stuttgart, Berlin, Leipzig. Union Deutsche Verlagsgesellschaft. 1891. 8. A. u. d. T.:

Dr. Theodor Walter, Direktor der Grofsherzogl. Hessischen Real- schule zu Bingen a. Rh.: Alge- braische Aufgaben. Zweiter Band. Quadratische Bewegungs- aufgaben. Bewegungsaufgaben mit mehreren Unbekannten. Kreisbe-

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wegung. Spezifisches Gewicht. Ausfluß. Arbeit. Stuttgart. Ber- lin, Leipzig. Union Deutsche Ver- lagsgesellschaft. 1891. 8°. Von dem in > Jahrgang 1890, Erstes Heft, p. 54—57« bereits angezeigten Werke ist nunmehr auch der zweite Band erschienen. Referent glaubt, mit Rücksicht auf die Ausführlich- keit, mit der er den ersten besprochen hat, sich hier kürzer fassen und nur Änderungen, welche den Plan des Buches oder sonst wesentliche Dinge betreffen, erwähnen zu brauchen und zu sollen. Indem er daher nur der Vollständigkeit halber mitteilt, dals das Inhaltsverzeichnis sich auf den ersten und zweiten Band bezieht, erscheint es ihm bemerkenswert, dafs nicht allein der Verleger ein anderer geworden, sondern auch der frühere Zusatz auf dem Titel : »Für den Schul- und Selbstunterricht« weg- gefallen ist, dafs Tabellen nicht mehr fertig gegeben sind, ihre Aufstellung vielmehr, wie aus der Vorbemerkung zu § 1 zu ersehen, dem [nicht »Schü- ler«, sondern] »Leser« überlassen bleibt. Desgleichen ist das Rechnen mit Logarithmen, dessen Nutzen früher so gerühmt worden war, jetzt unterblieben, und geradezu falsche Ausdrücke im ersten Bande, wie »Weg sei kommen im zweiten nicht ferner vor, dafs aber die an- dere Form: »Der Weg von A nach B beträgt x Längeneinheiten« die durchaus richtige wäre und durch- gehends gebraucht werden dürfe, ist nicht gesagt, denn die Zahl der Längeneinheiten x ist eine unbe- kannte und willkürlich angenommene, daher die letztere Form zwar immer- hin »besser« als die erstere, allein um ganz richtig zu sein, mufste das Verbum im Conjunctiv stehen, also »betrage« statt »beträgt« heifsen, behauptet wird ja weder, dafs die Zahl x sei, noch das Folgende, son- dern nur, dafs, wenn die gesuchte Zahl x ist, das Folgende statt haben mufs. Wenn die Sonne scheint, so wird es warm. Ebenso hat Referent nicht vermocht zu erkennen, nach welchen Regeln der Logik Ein- teilungen gemacht sind, wie die fol- genden: »§ 1. Aufgaben, in denen die

Geschwindigkeit vorkommt. Erstes Muster. Um 9 Uhr vormittags fährt auf der Main-Neckar-Bahn ein Schnell- zug von Darmstadt ab nach Heidel- berg, und um dieselbe Zeit ein Per- sonenzug von Heidelberg ab nach Darmstadt. An der Kreuzung be- trägt der Weg des Schnellzugs 14 Kilometer mehr als der Weg des Personenzugs. Der Schnellzug braucht von der Kreuzung bis Heidelberg noch 29 Minuten, der Personenzug von der Kreuzung bis Darmstadt noch 75 Minuten. Wieviel ganze Kilometer beträgt die Entfernung von Darmstadt bis Heidelberg : I. Vorbemerkung. II. Vor der Kreu- zung. III. Übergangsnotiz. IV. Nach- der Kreuzung. V. Obungsbeispiele. Zweites Muster. Miles Bland, Alge- braische Gleichungen, Halle 1863. Seite ^54, No. 47. A und B reisen von C nach D mit gleichen Ge- schwindigkeiten. A geht früher weg und hat Vorsprung! Am 50. Meilen- stein von D holt A eine Herde Gänse ein, deren Geschwindigkeit 2 Meilen: Stunde beträgt. Ein Fracht- wagen begegnet ihm 8 Stunden später, der von D nach C fährt mit der Ge- schwindigkeit r°T, Meilen: Stunde. B holt die Gänsenerde am 45. Meilen- stein ein. B begegnet auch dem Frachtwagen. Von der Begegnung mit dem Frachtwagen hat B noch 2 Stunden 40 Minuten zu reisen, bis er den 31. Meilenstein erreicht. Welchen Vorsprung hatte A vor B und wie grofs ist die Geschwindig- keit der beiden Wanderern I. Vor- bemerkung. II. Die Geschwindig- keiten. III. Die Gänse. IV. Der Frachtwagen. V. Die Gleichung. VI. Das Resultat. VII. Zusammen- stellung. VIII. Obungsbeispiele« etc. Von den mathematischen Zeichen endlich wird ein ungewöhnlicher Ge- brauch gemacht, z. B. im obigen zweiten Muster-Beispiel »Geschwin- digkeit £ Meilen : Stunde« , »Ge- schwindigkeit -f\ Meilen: Stunde«, ein Gebrauch, der vermutlich (denn darüber bemerkt ist nichts) zur Ab- kürzung dienen soll, z. 1. aber un- richtigist, so auf p.45 : »45 Minuten: Meile« statt »In 45 Minuten 1 Meile». Ferner ebenda : »60 : x Meilen

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(i3o— 2x): (x— 15) Meilen« statt Meilen«, »'3°-~- Minuten«, denn

» X *^«S

nicht mit »x Meilen« oder >(x 15) Meilen« soll dividiert werden. Die Benennung ist also nicht neben den Divisor, sondern neben den Quo- tienten zu setzen. Ebenso leicht dem Mifsverständnis ausgesetzt ist auf: p. 137: > 120 : x Fufs : Sekunde«, statt

'™ Fufs in i Sekunde, » 120 : fx -f 10) Fuls: Sekunde« statt » Fuls

X 4- IO

in i Sekunde«. Die gesetzlich ge- statteten Abkürzungen bei Bezeich- nungen der neuen Maise und Ge- wichte dagegen sind nicht ange- wandt; so p. 170: »1) das Blcivolum beträgt y: 11,524 Kubikzentimeter, 2) das Verbindungsvolum betragt 4000:0,45 Kubikzentimeter, 3) das Korkvolum betragt (40,000 y) : 0,24 Kubikzentimeter« statt »betragt be- züglich 4- cem, 4°- cem, 40000^

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cem«, viclmchrsind überall, wo solche Mafse und Gewichte vorkommen, ihre Bezeichnungen ausführlich an- gegeben: Kubikzentimeter, Kubik- meter, Kilogramm, Kilometer etc.

Eisenach. H. Weifscnborn. XXIX.

Jeutsches Lesebuch für Mädchenschulen.

(Mit Berücksichtigung des hauswirtschaftlichen Unter- richts.) In drei Bänden. Heraus- gegeben von A. Ernst, Direktor der Kaiserin Augusta -Victoria -Schule in Schneidemühl und J. Tews, städt. Lehrer in Berlin. Preis geb 1,15 M., 1,45 M., 2,io M.

Das vorliegende Lesebuch will einer Reform des Mädchen- unterrichts (in der Volksschule) die Wege ebnen und ihr als Stütz- punkt dienen. Die Herausgeber liefsen sich von dem Grundsatze leiten: »Das Lesebuch soll die All- gemeinbitdung und mit ihr zu- gleich die Berufsbildung fördern« (Bcglcitwort, S. 6). Dieser Grund- satz nötigte sie, nach zwei Seiten hin Front zu machen: t. gegen die- jenigen Pädagogen, die einen Unter-

schied im Unterricht der Knaben und Mädchen grundsätzlich ver- werfen, und 2. gegen die neuerdings vielfach erhobene Forderung, die hauswirtschaftliche Unterwei- sung in den Mittelpunkt des ge- samten Unterrichts zu stellen. Mit Recht heben die Herausgeber hervor, dafs die Mädchenschule mehr wie die Knabenschule auf den zukünf- Beruf ihrer Schülerinnen Rücksicht nehmen künne , weil fast alle einst Hausfrauen werden und somit all- gemeine Bildung und »Fachbildung« oder »Berufsbildung« Hand in Hand gehen können. Aufserdem ge- brauchen auch diejenigen Mädchen, die den Hafen der Ehe verfehlen, hauswirtschaftliche Kenntnisse. Hier- nach enthält das neue Lesebuch so- wohl für die Jugend beiderlei Ge- schlechts bewährte Lesestoffe aus den Schätzen der deutschen Litte- ratur, als auch neue Lesestücke, die das Weib in seinem häus- lichen Wirken und Schaffen als Lehrerin der Kinder, als Pflegerin der Erkrankten, als Pricstcrin des Hauses, alsGe- nossin des Mannes in Freud und Leid darstellen und dem Mädchen den Weg zeigen, den es arbeitend und schaffend selbst einst wandeln soll, um die hohen Aufgaben zu er- füllen, die dem deutschen Weibe im deutschen Volks- leben für Gegenwart und Zu- kunft gestellt sind. (Begleitwort, S. 6 und 7).

Da das Lesebuch für mehrklassige Mädchenschulen bestimmt ist, also angenommen werden darf, dafs für die Realien besondere Lehrbücher in den Händen der Schülerinnen sich befinden, so haben die Herausgeber sich bei Auswahl der geographischen und naturkundlichen Stücke Be- schränkung auferlegt (Beglcitwort, S. 12). Nach unserer Meinung hätten sie noch folgende Stücke weglassen können: die Hauskatze, die Ge- treidearten,die Eiche (Band II.); am Waschfafs, die fetten Öle; der Zimmetbaum (Band Iii).

In der Geschichte namentlich der neuesten Zeit haben die Her-

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ausgcber absichtlich den Stoff etwas reicher bemessen, weil gerade für unsere Zeit der Geschichtsunterricht von hervorragender Bedeutung ist. (Beglcitwort, S. 13). Nun, aus der hervorragenden Bedeutung des Ge- schichtsunterrichts für unsere Zeit läfst sich zwar nicht die Notwendigkeit ableiten, das deutsche Lesebuch mit historischem Stoff zu belasten, aber da thatsächlich die Lehrbücher der Geschichte gerade die neueste Zeit wenig oder gar nicht berück- sichtigen, so mufs man immerhin dankbar sein, wenn das Lesebuch die Lücke ausfüllt Wir nennen von den hierher gehörigen Lesestücken: Das Wirken der Frauen im Krieg, Aus Kaiser Friedrichs Tagebuch, Kaiser Fried- rich III., Luise, Grofshcrzogin von Bad e n etc.

Im Einzelnen möchten wir Folgen- des bemerken.

Wenn ein 7jähriges Mädchen der Mutter erzählt, dafs es gern zur Schule gehe, wenn es ihr verspricht, aufmerksam zu sein und Heifsig zu lernen, so ist das ganz hübsch; das Lesebuch aber, das in der Schule gelesen wird, darf den Kindern der- artige Bekenntnisse nicht aufdrängen. Das geschieht in den beiden Gedich- ten: Schuleifer und Zur Schule (Band I). Da heilst es: »Im Früh- ling und im Winter, geh ich zur Schule gern.« »Nun, ihr Leut', ich will schon heut' lernen, dafs es eine Freud', dafs es eine Lust soll sein, bis der Abend bricht herein, dafs ich auch, wenn ich bin brav, spielen kann und ruhig schlaf« Die Herausgeber haben so viele vortreffliche Gedichte ausge- wählt und zusammengestellt, dafs sie Produkte von so fragwürdigem Ge- halt wohl hätten übergehen können.

Die Erzählung von dem »kleinen Hausmütterchen« (B. I) schliefst mit der Frage: »Bist du auch so ein Hausmütterchen, kleine Leserin?« Rez. befürchtet, dafs die Mädchen der 8. Klasse von vornherein die Absicht des Lesestückes merken und verstimmt werden.

In dem Lesestück »Was das Mädchen an und bei sich hat«

heifst es u. a. »Die Baumwolle kommt von einer Staude und steckt in Kapseln, welche aufplatzen, sobald sie reif sind, und welche die schönen weifsen Fäden enthalten, die man so vielfach gebraucht . . . Die Lava ist aus einem feuerspeienden Berge her ausgeflossen, flüssig und heifs; dann ist sie erkaltet und zu Schmuck- gegenständen verarbeitet worden.« Belehrungen über solche Dinge kommen doch zu früh für Kinder, denen man ein paar Seiten vorher die Gedichtchen vom Pudel (Wer hat hier die Milch genascht?; und vom Mäuschen \ Warum schleppst du dort mir das Stück Zucker fort?) geboten hat. Bd. I.

Sehr wunderlich nehmen sich im Munde der Kinder die Sätze aus (Das Klcttenkörbchen, Bd. I): »Mit der Klette treibt ihr oft manche Unart, ihr werft sie euch neckend an die Kleider, wohl gar in die Haare. Man kann einen besseren Gebrauch von ihr machen, liebe Kinder!«

Die Mutter spricht zum Kinde, das gerne wissen möchte, warum es stets sein Bild in ihrem Augensterne sieht: »Augen sind der Seele Fenster, sind des Lebens schönste Zier; weil ich dich im Herzen trage, schaust du aus der Seele mir.« Die Augen sind des Lebens schönste Zier? Weil die Mutter das Kind im Hc rzen trägt, darum schaut es ihr aus der Seele? Sind Herz und Seele das- selbe? Schaut das Kind aus dem Fenster der Seele, wenn es aus der Seele schaut? Und das soll ein Gedicht sein, und noch dazu für 7 bis Sjährige Mädchen!

Das Lesestück »Kaiser Wilhelm II.« (Bd. I) hat nach unserem Dafürhalten höchstens für Berliner Schulen eine Berechtigung, und auch in Berlin brauchen die Kinder im 2. und 3. Schuljahre nicht zu erfahren, dafs der Kaiser Sigismund den Burg- grafen von Nürnberg in die Mark sandte , dafs Friedrich i m Jahr 14 12 in die Mark kam, dafs ihm am iS. April 1417 die Mark erb- und eigentümlich zugesprochen ward

Die Erzählung »U-Hakcn und J-Punkte« (Bd. II) beginnt mit den

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'Worten: >Dic ganze Klasse war einig darüber, dafs Trudehen angerecht behandelt worden sei. Neun Fehler hatte ihr das Fräulein angerechnet, und doch hatte sie in der ganzen langen Arbeit nicht einen einzigen »richtigen« Fehler. Zwei U- Haken und sieben J-Punkte hatte sie ver- gessen, das war alles« u. s. f. Dem Rez. erscheint dieser Anhang höchst geschmacklos, er ist überhaupt kein Freund von Erzählungen aus dem Schulleben, die ihren Zweck eben deshalb verfehlen, weil sie denselben gar zu offen zur Schau tragen.

Auch das Märchen »Blanka und Rosalindc« würden wir ohne Be- dauern in den späteren Auflagen des Lesebuches vermissen, weil es nur geschrieben Ist zur Verdeutlichung der »Lehre« : »Die wahre Glückselig- keit besteht nicht in äufsercr Pracht und Herrlichkeit, sondern in einem ruhigen und zufriedenen Lehen» (Bd. II, S. 106). Aufserdem wirkt die Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Könige und Blanka geradezu abstofsend Der König sieht Blanka, ist von ihrer Schönheit bezaubert, heiratet sie bald hernach, läfst sich von den »Hofdamen« gegen seine Gemahlin aufhetzen (was die neidischen Schwätzerinnen eigentlich gegen die Königin vorbringen, erlährt man nicht), wird immer liebloser in seinem Verhalten gegen sie (man weifs nicht warum?), giebt ihr mit Vergnügen die Erlaubnis zum Besuch ihrer Schwester und verzichtet bereitwilligst auf ihre Rückkehr, denn »er liebt sie nicht mehr!« Von po- etischem Geiste ist in dem ganzen Märchen auch nicht der leiseste Hauch zu vernehmen.

In einzelnen Fällen haben die Her- ausgeber ein Gedicht verkürzt, zum Vorteil des Ganzen. Wir möchten ihnen noch eine andere Kürzung vor- schlagen. Das Gedicht: »Gute Nacht« von Geibel gewinnt an innerem Werte, wenn man die 3 und 6. Strophe wegläfst. Die 3. Strophe giebt nur einzelne Züge zu einem Bild, aber kein geschlossenes Bild. Der Traum wallet von Thür zu Thür, also schläft alles? Nein, denn eben

verhallet das Harfenspiel im Palast, die Menschen wollen demnach erst zur Ruhe gehen, und der Traum kommt zu früh. Wie gelangen wir nun aus dem schimmernden Palast zu dem Fergen, der im Nachen schläft? Und von dem Fergen zu den Hirten, die auf den Bergen um's Feuer Rast halten, also nicht schlafen ? Wie schön ist dagegen der Traum in der 5. Strophe als Trostspender eingeführt! In der 6. Strophe tritt auf einmal der Dichter selbst hervor; ist es denn wirklich so wichtig für uns, zu erfahren, dafs nun auch er im Frieden ruhen will, »bis glänzt der Morgenstern?« Doch wohl kaum. Alles vorhergehende hat gar keine Beziehung zu der Per- sönlichkeit des Sängers , und wir wissen ihm nicht Dank für sein über- raschendes Erscheinen zu einer Zeit, wo der Traum schon als lieber Gast bei uns eingekehrt ist.

»Macht des Weibes« von Schiller (Bd. III) ist für die Mädchen der Volksschule ganz unverständlich, auch in der Oberklasse werden alle Erklärungsversuche an dem abstrak- ten Inhalt scheitern.

Die Erzählung »Auch im Tode vereint« (Bd. III.) tritt als eine wahre Geschichte« auf, und sie wirkt auch als solche, d. h. lediglich durch ihren Stoff, von dem zu wünschen gewesen wäre, dafs der Verfasser ihn in eine gewisse poetische Ferne gerückt hätte.

Diese Bedenken gegen einzelne Lesestücke wollten wir um so we- niger verschweigen, da wir im üb- rigen dem neuen Lesebuche unsere vollste Anerkennung zollen. Es ent- hält eine solche Fülle des Schönen in Form von Gedichten und Erzäh- lungen und berücksichtigt in so ver- ständiger Weise den späteren Be- ruf der Schülerinnen , dafs wir es, soweit Volks-Mädchenschulen in Betracht kommen, jedem andern uns bekannten Volksschullesebuche vorziehen. Druck und Papier lassen nichts zu wünschen übrig.

Eisenach. O. Foltz.

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57

XXX.

H. Seherer, Schulinspektcr in Worms. Welche Anforderungen stellt unsere Zeit an die Organisation dei Volks- schule? Sammlung pädagogischer Vorträge von W. Meyer - Markau. IV. Bd. Heft 3. Bielefeld, Hel- mich. 1891. S. 12. Pr. 0,40 M.

In wohlabgerundeter Form und ohne unsachliche Gehässigkeit gegen Bestehendes wird im vorliegenden Vortrage ein alter Vorschlag aus dem Jahre 1890 der deutschen Lehrer- welt von neuem dargeboten. Leider fehlt dem Gebotenen jedweder Hin- weis auf die Geschichte dieser An- gelegenheit und eine gründliche di- daktische Begründung. Nur allein das Zeitgegebene bietet Anlafs und Grundlage der Auseinandersetzungen des Verfassers. Derselbe betont mit Recht, dafs nicht »soziale und kirch- liche Politik« getrieben, sondern eine allerdings bisher ungern berührte soziale Frage, die wichtige Frage der »Volksbildung« der Lösung näher gebracht werde. Ein Fortschritt über die nicht erwähnten Magerschen Forderungen läfst sich kaum fest- stellen. Denn Mager unterschied schon 1840 eine Volksschule , in welche die ganze Jugend des Volkes, aller Stände bis zum 10. Jahre aut- genommen werden sollten. Die- jenigen, welche von den Schülern »Volk« bleiben wollten, vollendeten ihre Bildung in einer sogen. »Deut- schen Schule«, die »Gelehrtcnschule« war für das Bedürfnis der Gebildeten des Volkes da. Verfasser empfiehlt folgende Organisation: »Die deutsche Nationalschulc vermittelt allgemeine Menschenbildung in nationaler Form. Sie legt den Grund für die gesamte Bildungsarbeit der Gegenwart und Zukunft und befähigt den Schüler, sich eine religiös-sittliche Weltan- schauung zu bilden, durch sie Ge- sinnungstüchtigkeit zu erlangen und sich an der Kulturarbeit der Gegen- wart und Zukunft mit Erfolg zu be- teiligen.« (S. 8) Aus der National- schule entwickelt sich bei ihm auch die Bürgerschule und die Gelehrtcn- schule. Um zum Wohle des Vater-

landes nicht blofs die verschiedenen Stände, sondern auch die Konfession zu vereinen, empfiehlt er mit fast »wörtlicher« Übereinstimmung des |enaer Superint. Braasch (Reform des Religionsunterricht in der Volks- schule , S. 19) einen »christlichen Religionsunterricht« im Gegensatz zu einem »dogmatischen« (S. 7). Dafs Verfasser die Lösung der »wirtschaft- lichen Frage der deutschen Volks- schule und ihrer Lehrer« als Grund- lage neuer Organisationen der Volks- schule betrachtet, zeugt von einer Würdigung eines Schlagwortes von Kehr, welches etwa lautet: Der Mangel an Realem ist der Tod des Idealen!

Halle. Dr. B. Maennel.

XXXI.

Was uns eint. Vom Herausgeber der pädagogischen Vorträge, W. Meyer- Markau, IV. Bd. Heft 2, Bielefeld, Hclmich, 1891, S. 15. Pr. 0,40 M.

Das kleine Heft erinnert nach seinem Inhalt lebhaft an die Ge- witterschwüle des grofsen Lehrer- tages zu Berlin. Man hat es mit einem Nachgewitter zu thun, das alte und neu aufgestaute Wolken ver- nichten will.

Wer bei Verfolg der Entwicklung des preufs. Volksschulwesens nur für Leiden der Lehrerschaft Augen gehabt hat, findet in dem zuweilen prickelnd geschriebenen Vortrage deren eine wohlgeordnete Sammlung. Daher kann Verfasser eine Ver- bissenheit schwer unterdrücken Die oft eigentümlich erscheinende Darstellung erhöht nicht gerade die Lesbarkeit des Gebotenen, ist aber leider durch ärgerliche Vorkomm- nisse veranlafst. Denn wer die Prefs-Stimmcn über den VIII. deut- schen Lehrertag gesammelt hat, kann selbst im Rcichsboten (Vergl. No. 132, 3. Juni 1890) von Unterlassungen lesen, deren man sich im Laufe der Zeiten gegen Schule und Lehrer- schaft schuldig gemacht hat.

Auf die Gefahr hin, zu den »Lehrer- freunden mit Gänsefüfschcn« (S. 6) gerechnet zu werden, möchte den Verdächtigungen gegen Zillcssen (S.

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i u. 2) hier gesteuert werden. Neben Dörpfeld tritt Zillcsscn energisch für eine sachgcmäfse Regelung der Schul- aufsichtsfrage ein ; er ist es auch, der die vom Verfasser mit Recht betonte Zusammenschliefsung der Lehrer- reihen anerkennt. In seinem Buche: »Was lehrt der VIII. deutsche Lehrer- tag>« ist zu lesen : »Die Lehrervereine sind nicht blofs eine historische Er- scheinung, die wir in vollem Mafse zu würdigen wissen, sondern sie bieten ihren Gliedern auch namhafte Vorteile, und sie mögen in Vertretung der äufseren Interessen der Schule und der Standesinteressen der Leh- rer auch noch fernerhin ihre nicht zu unterschätzende Bedeutung haben.«

Welcher Ausdrucksweise sich Ver- fasser zuweilen bedient, mag durch folgende Belege gekennzeichnet sein: »Die kränkelnde Pastorenzeitung mit dem falschen Namen gepäppelt« - »Wo zu auch ganz, um mit Herrn v. Hammerstein, einem der Leiter des Blattes, nachäffend zu mauscheln« »rechten Patschuli- und Rennstall- duft«. —

Ks werden die gemeinsame Be- rufsarbeit, die widrigen Verhältnisse, unter denen die Lehrer arbeiten, und die gemeinsamen Widersacher und Feinde als Gründe des Zusammen- schlusses angefühlt. A. Diesterweg beleuchtet die hierhergehörigen Punkte objektiv und unseres trach- ten« umfassender als der Verfasser durch folgende Worte : »Wo gedeiht ein Lehrcrvercin? Wo die rechte Gesinnung die Mitglieder beseelt Worin sie sich zeigt? Es ist jeder- mann bekannt. Man braucht nur daran zu erinnern Es ist die Liebe zum Beruf, die Hingebung an die Zwecke desselben, das Aufgehen in ihm die Freundschaft zu den Standesgenossen der Eifer sich nach allen Richtungen zu vervoll- kommnen — die Verwandtschaft zu allem Innern und Geistigen -■• das Gefühl der Liebe zum Vaterlande, zur Nation die Teilnahme von allem, was die Zwecke der Mensch- heit fördert, die Sympathie mit den Armen und Notleidenden, Gedrück- ten, die Sehnsucht, dazu mitzuwirken, dafs es auch durch uns in dem

Kreise unseres Wirkens immer besser werde.«

Halle. . Dr. B. Maennel. XXXII.

Friedlieb Deutsch mann, deutsche Ei- genart. Deutsches Nationalgefühl. Deutscher Patriotismus. Ein Zeit- und ein Zukunftsbild. Allen Vatei landsfreunden und Erziehern gewidmet. Hannover, C. Meyer, 1891. S. 30, Pr. 0,60 M.

Verlässer hat sich eine dankens- werte zeitgemäfsc Aufgabe gestellt. Das Gefühl, dafs wir in der Jetztzeit lebenden Deutschen uns mehr denn je unseres Deutschtums bewuist «ein müssen, ist j.i durch den Vorgang unseres Kaisers zu einer Willens- regung Vieler geworden. Es fragt sich, ob die Darlegungen des Ver- fassers den berufenen Fuhrer offen- baren, die deutschen Mitbürger und insbesondere die deutschen Erzieher zur Mitarbeit besonders anzuregen.

Rühmend darf hervorgehoben wer- den, dafs der ungenannte Vatcrlands- freund einem nicht allzu beengenden Patriotismus das Wort redet. Zu einer philosophischen Aurfassung eines Victor Hehn, welcher in einem seiner Werke sagt: »Die gröfste Vaterlandsliebe zeigten zu allen Zeiten diejenigen nationalen (Führer, die nicht die heimische Eigenart am hartnäckigsten festhielten, sondern am offensten und bereitwilligsten auf die Lehren der Fremde und den früher und anderswo erreichten Kul- turgewinn eingingen« erheben sich allerdings die schlichten Aus- einandersetzungen nicht. Aber selbst unter dem Gesichtspunkte des Ver- fassers, dafs ein Volk gegenüber an- dern Völkern sein »nationales Ge- präge« treu zu bewahren habe, kann manches Gute entwickelt werden. Und wenn es gilt, den sittlich nicht ausgereiften Landsleuten im Auslande . die Wahrheit gründlich zu sagen, so kann ihm sogar ein gewisses Ver- dienst nicht abgesprochen werden. Denn leider ist es nicht unwahr, »dafs eine Umschau unter den Lands- leuten da draufsen nicht selten zu einem Ergebnis führt, das dem

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Deutschtum wenig Gewinn verheilst.« (S. 5) Auch dürfte es nicht über- flüssig sein, wenn manchem Inländer und zwar aus der Zahl der >oberen Zehntausend« (S. 11) das nationale Gewissen geschärft wird. Aus die- sem Grunde kann es dem um die Abstellung der erkannten Mängel ernstlich Besorgten übersehen wer- den, wenn er u. a oft Erörtertes wiederholt und einzelnen Erfah- rungen allgemeineren Wert beilegt (S. 10 11, Anmcrk.) Der Schwer- punkt des Büchleins liegt aber in der Auseinandersetzung folgenden Gedankens: »Gerade die Erfahrung, dafs der Deutsche im Auslände für eine Umwcndung so leicht zugäng- lich ist, mufs einer hieraufgerichteten erziehlichen Thätigkcit die besten Aussichten eröffnen, und dies uinso- mehr, wenn der Keim schon in das empfangliche Kindesherz geprlanzt wird.« 1,5. iS) Diese zwei Drittel des Umfanges fassende Auseinander- setzung erhebt sich über manche der in pädagogischen Zeitschriften verschiedentlich schon erschienenen über denselben Gegenstand. Jedoch kann sie keinen Anspruch auf er- schöpfende Vollständigkeit erheben. Unter den Andeutungen des Ver- fassers über den nationalen Wert unserer Sprache darf z. B. unter keinen Umständen die meisterliche Vorrede zu J. u. \V. Grimms deut- schen Wörterbuche, vielleicht auch Du Bois-Reymonds Rede über eine Akademie der deutschen Sprache und des Reichspostmeisters Stephan bahnbrechende Bestrebung übersehen werden. Die Hinweise auf einen patriotisch wirksamen Sprachunter- richt sind leider oberflächlich, desgl. die über den geographischen, ge- schichtlichen, Gesangs- und Religi- onsunterricht. Indessen verdiene die Forderung: Es mufs stets Anschau- lichkeit mit Vertiefung in die Ein- zelheiten verknüpft sein (S. 24.) Der Hinweis auf den didaktischen Wert der Reisen (S. 34) und die Er- ziehung zur Vaterlandsliebe sei eine aus den Geboten der Sittlichkeit sich ergebende (S 35} volle Be- achtung. Die an einzelne ziemlich wertvolle Gedanken über den Reli-

gionsunterricht der Zukunft sich merkwürdiger Waise anschließenden schulpolitischcn Ausgriffe (S. 35) stehen wohl in geringem Zusammen- hange mit der Aufgabe, welche sich Verfasser gestellt hat. Die. Behaup- tung, dafs ein Lehrer in leichtferti- gem Scherz über manche Eigentüm- lichkeiten seines Vaterlandes den Stab bricht« (S. 36) dürfte zum Glück ein Phantasma des Verfassers sein. Eine gleiche Vermutung entsteht, so der Verfasser tadelt, dafs der Lehrer in der Schule sich auf eine Vergleichung der Völker einläfst, um dabei die Deutschen herabzu- setzen. — « iS. 31;.

Halle. Dr. B. Maennel.

XXXIII.

Lehrgang der englischen Sprache von Andreas Baumgarten, Professor an der Cantonschule Zürich, I. Teil. Dritte verbesserte Auflage. Druck und Verlag von Orell Eüfsli u. Co. Zürich 1890. X, 147 S.

Abteilung I handelt von der Aus- sprache (S. 1— -23), Abteilung II ent- hält englische Lesestücke, deutsche Uebersetzungsstücke, Grammatik (S. 24— 10S , Abteilung III gibteineZusam- menstellung der Regeln, eine Uebcr- sicht der unregelmäßigen schwachen und starken Zeitwörter in alphabe- tischer Reihenfolge und in Gruppen, Paradigmen' zum Zeitwort. Ein An- hang bringt Lesestücke, Vokabeln zu den Lesestücken von Abt. II, Aussprache von Eigennamen, ein englisch-deutsches und ein deutsch- englisches Wörterverzeichnis. Zur Uebersicht des gesamten gramma- tischen Stoffs dient ein systemati- sches Verzeichnis (S. VIII X).

In dem Buch ist das Streben nach Uebersichtlichkcit in der Anordnung und Gruppierung des Stoffs durch- aus ersichtlich.

Was die Lehre von der Aus- sprache angeht, so mufs man sich freuen, diesem wichtigen Kapitel grofse Sorgfalt zugewandt zu finden.

In Abt. II hat Verfasser aber nur ganz im Anfang (Kap. I— V) die grammatisierende Methode zu Hülfe genommen, um den Schüler

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möglichst rasch ins Zeitwort einzu- führen. Dann tritt die induktive Methode in ihr Recht. Der gramma- tische Stoff wird gewonnen an zu- sammenhängenden englischen Stük- ken von ansprechendem Inhalte. Die Beispiele, welche zur Veran- schaulichung der Regeln dienen sollen, werden in übersichtlicher Weise hinter dem Text gegeben. Doch hat Verfasser abgesehen von wenig Fallen die Regeln nicht selbst formuliert, in der richtigen Erkenntnis, dafs durch Hinzufügung der Regeln hinter die Beispiele der Zweck der Induktion verfehlt wird. An Stelle der Regel setzt er eine blofse Krage, damit die Selbsttätig- keit des Schülers nicht beschränkt, und derselbe in seinem Urteile nicht bceinrlufst werde. Das ist ein ganz besonderer Vorzug des Buches. Bezüglich des Übungsstoffs be- kennt sich Verfasser zu dem Grund- satz : Viel englisches, wenig deut- sches Übungsmatcrial. Trotzdem bietet er reichlich deutsche Übungs- stücke. Er erklärt, dies gethan zu haben aus Rücksicht auf solche Schulen, wo der Lehrer gleichzeitig mehr als eine Klasse unterrichten müsse und gern Stoff für stille Be- schäftigung habe. Die deutschen Stücke sind allerdings vielfach un- zusammenhängend an sich, aber das Material bezieht sich stet* auf be- reits dagewesene englische Stücke. Wer kein Freund von deutschen Uebersetzungsstücken ist, kann die betreffenden Stücke einfach weg- lassen. — Die Grammatik berück- sichtigt aufser der Formenlehre häu- fige syntaktische Erscheinungen. Mit unnötigem Ballast wird der Schüler verschont Dagegen giebt ihm das Buch Gelegenheit, sich eine gute Menge von echt englischen gebräuch- lichen Wendungen anzueignen. Die Aussprache der Vokabeln wird bezeichnet durch eine sorg- fältige Lautschrift.

In einigen Dingen bin ich mit dem Verfasser nicht einverstanden und gestatte mir daher etliche Bemer- kungen.

Laut und Schrift sind durchweg streng zu scheiden. Verfasser hat

beide einige Male verwechselt. So nennt er a, e (ee) i, o, u in lute, mc, green, I, no, tunc lange Vo- kale und giebt an, dafs langes a wie f « (c) I. je wie i Ü (ü) I. ± wie ai 1. o wie ö^(i)u) I. u wie jii, ü (jutt iiu) lauten. Der Ausdruck »langer Vokal« schliefst schon den Begriff des Lauts ein; nun kann natürlich ein langer a-!aut nicht ein e'-laut, ein langer i-laut nicht ein ai-laut sein etc. Es mufs heifsen : a in late hat den Lautwert von Diphtong (i-t), i den von Diphtong ai etc, Natürlich dürfen auch a in late und a in rat, i in smile und i in sit, o in home und o in not, u in tune und u in sun einander nicht als lange und kurze Vokale gegenübergestellt werden, da von lautlichen Ent- sprechungen nicht die Rede sein kann. In long haben wir nicht den Vcrschlufslaut g, sondern einen Na- sal, ausgedrückt durch die Buch- staben ng. Unverständlich ist mir die Behauptung, dafs der Vokal der Endsilbe in Worten wie father, ho- nor, sugar pleasur eigentlich stumm sei (S. 14), und die Endung in lived eine stumme Silbe heifst (S. 130).— Ueber l, m, n, anl. r und ng be- merkt Verfasser: »Die durch diese Zeichen ausgedrückten Laute dürfen gesprochen werden wie die ent- sprechenden im Süddeutschen wenngleich er für eine »ganz ge- naue« englische Aussprache noch besondere Weisungen giebt. Ich sehe es für principiell unzulässig an, dum Schüler eine nicht ganz ge- naue Aussprache als erlaubt hinzu- stellen. Zu r vor Vokalen war noch zu sagen, dafs es kein Schwirrlaut ist. Die Angabc, d und t seien wie im Deutschen zu ^bilden ist irrefüh- rend. Die englischen d t sind sup- radental. In one ist o nicht ö, son- dern mindestens uö; der durch ö bezeichnete Laut wird fälschlicher- weise gleichgesetzt mit dem quali- tativ und quantitativ verschiedenen ö in world. word etc (S 130). Eine allgemeine Angabe bezüg- lich der Artikulationsbasis im Eng- lischen wäre am Platze.

Aus der Formenlehre erwähne

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ich einige wichtige Fälle, wo ich ge- nügende Berücksichtigung der laut- lichen Geltung der Endungen ver- misse. Die lautliche Endung des regelmäfsigen Plurals ist i -f- stim- haftes s nach Zischlauten, stimmhaf- tes s nach den übrigen stimmhaften, stimmloses s nach den übrigen stimmlosen Lauten ; dasselbe gilt für den Gcnit. Sing, und den der un- regclmäfsigen Pluralc. Auf Grund von lcssons boys uncles-aunts wird aber (S. 25) festgestellt als Regel: Das Zeichen der Mehrzahl ist ein lautes s, und arrows letters cats werden (S. 54) in eine Kategorie ge- setzt. Verwirrend ist die Frage S. 54 : Welches ist das Zeichen der Mehr- zahl nach harten Zischlauten? (Bei- spiele crosses, watches, judges, pa- ges. Beim Gen. Sing, und dem des unregelmäßigen Plurals wird blofs die Schreibung (S. 54) angegeben. Als gewöhnliche Endung des regel- mäfsigen schw. Imperf. (Beisp. dres- sed, tied) bezügl. des Part, der Verg. (Beisp. lived) wird festgestellt ed, ohne Angabe der Ausspr. t, bezügl. d. - Von den Transkriptionen ge- fallen mir nicht ö für u in hut, o in none etc., w für w, ) für den stimm- haften Laut: der Laut in hut, none ist nicht gerundet und hat nichts ö-haltiges. Schüler, die bilabiales w zu sprechen gewohnt sind, können durch die Transkr. w veranlafst wer- den, dies aufs Englische zu über- tragen; i ist bedenklich für solche, die keinen Unterschied im Deut- schen machen zwischen f und }\ z. B. in reisen und reifsen. Für die Diph- tongen ii (c«), ö« {tß) sollten die ent- sprechenden Lautzeichen, nicht c ö stehen. Verfasser sagt, er habe nur dann die Bezeichnung der Aus- sprache weggelassen, wenn letztere sich von selbst verstehe. Doch kom- men Fälle vor, wo die A. bei fehlender Bez. sich nicht von selbst ergiebt, vgl. resemble, resist , disappoited, excuse, despise, noisy, reason, wis- dom. Hier sollte s bezeichnet sein. Unglcichmäfsigkeiten in der Be- zeichnung weisen auf dictionary : ary «= cir» (S. 147) und ort (S. 133), thoroughly: 54' (S. 132) und o-li

(S. 146) bury = bc=ri (S. 143) und bä'=r» (S. 132.)

Für wünschenswert hielte ich es, dafs das englisch -deutsche, sowie das deutsch - englische Wörterver- zeichnis so ausführlich wären, dafs der Schüler sich rasch jedes fehlende Wort ins Gedächtnis zurückrufen könnte, auch würde ich für das ers- tere eine ausnahmslose Transskrip- tion für angemessen halten.

Druckfehler sind : S. 23 ft = ö" st. uu, S. 134: ow 0 st. 0.

Meine Oberzeugung geht dahin, dafs B s Werk wegen der angege- benen Vorzüge ein recht gutes Hülfs- mittel für den englischen Unterricht sein wird.

Delitzsch Georg Kemlein.

XXXIV.

Prof Dr. Th. Ziegler- Strafsburg, Die soziale Frage eine sittliche Frage. 4. Aufl. Stuttgart, Göschensche Verlagshandlung 1891.

Dafs der Blick der neueren Ethik auch auf die sogen, soziale Frage gerichtet ist, ist sehr erfreulich, da die Ethik als Individual - Ethik einer wesentlichen Ergänzung durch die Sozial-Ethik bedarf. Und insofern die Pädagogik in ihrem praktischen Teil durchaus auf letzterer fufst, er- klärt es sich, dafs auch die Er- ziehungswissenschaft an den sozialen Problemen unserer Tage nicht vor- übergehen darf, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, in blinder Einseitigkeit befangen zu sein. In den gesellschaftlichen Ideen, wie sie die Ethik Herbarts darlegt , war überdies für die Pädagogik immer- fort die Mahnung enthalten, die idealen Aulgaben der Erziehung in enger Fühlung zu halten mit den sittlichen Strömungen, die die Wirk- lichkeit durchfluten. Ein Buch, wel- ches sich die Aufgabe stellt, die so- ziale Frage als eine sittliche nach- zuweisen, mufs daher von vornherein das Interesse der Erzieher in An- spruch nehmen. Ja man kann ge- radezu behaupten, dafs die soziale Frage eine Frage der Erziehung sei.

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Referent hat diesen Gedanken in mehreren Artikeln in den Grenz- boten *) darzuiegen versucht. Hierin berührt er sich sehr eng mit den Anschauungen , in denen das vor- liegende Buch sich bewegt. >Das, um was es sich handelt , sei im Grunde nichts anderes, als moralische Erziehung des Menschen im Sinne einer Umwandlung des individua- listischen Geistes in den sozialen, die Erkenntnis und Überzeugung, dafs wie alle, so auch die materielle Kultur ein Teil der sittlichen und ein zu Versittlichendes sei, dafs das, was bisher von einzelnen lediglich in ihrem eigenen Interesse gethan wurde, vielmehr zur Erhaltung des Ganzen bestimmt sei, und dafs da- rum an die Stelle einer einseitigen Berücksichtigung der Privatinteressen die höheren allgemeinen, der Blick auf das Ganze zu treten habe.« »Überwindung des egoistischen In- dividualismus durch den sittlichen Sozialismus. Das sei das Ziel.« (S. a$.) Es ist zu erreichen auf dem Weg der sozialen Reform, voraus- gesetzt, dafs derselbe zugleich ein Weg sittlicher Erziehung, der Sieges- weg des sozialen Geistes und seiner Verbreitung in der Welt ist. <S 29.) Sitte und Sittlichkeit sind langsam wachsende und werdende Mächte. Darum Schritt für Schritt! Im Ge- gebenen, am Gegebenen umbauen, weiterbauen, auf dem alten Boden in den neuen Geist hinweinwachsen, geduldig arbeiten und sich und an- dere erziehen, sittlich erziehen für den neuen Geist und in dem neuen Geist und uns so fähig machen zur Erfüllung unserer sozialen Auf- gaben — : das ist zwar nicht so viel- versprechend und so morgenschön, wie der goldene Traum vom Leben der Menschen in Utopie ; aber es ist praktischer als träumen! (S. 53.) Was aber kann auf dem Boden unserer heutigen Staats- und Gesellschafts- ordnung für diese moralische Auf- gabe geschehen? (S. 57.) Es mufs

>) J>ie zukünftigen Parteien 1890, 13. lieft. Sozialismus und Erziehung. 1890, 24. Heft. Zur Schulrede de» Kaisers Iftgo, 51 H. Die sieben 8chullraKen des Kauer* 1891, 16 II. Militaris- mus u. Schulertiehung I891, 33 H.

ein Erziehungsprozefs eingeleitet werden, der sich auf den Arbeiter und auf den Arbeitgeber erstreckt. Nichts anderes will auch P. Göhre in seinem vielgelesenen, packenden Buch: Drei Monate Fabrik- arbeiter und Handwerks- bursche (Leipzig, Fr. W. Grunow 1S91)*): »Die Arbeiterfrage ist keine blolsc Magen- und Lohnfra^e, son- dernauch eine Bildungs- und religiöse Frage ersten Ranges. i^S. S. 212) Das macht unsere deutsche Arbeiter- bewegung so furchtbar ernst, zu einem so vielköpfigen Ungeheuer. Auch G. Schmoller (Aufsätze zur Sozial- und Gewerbepolitik der Gegenwart, S. 247 ff.) ist der Über- zeugung, dafs der letzte Grund aller sozialen Gefahr nicht in der Dissonanz der Besitz- sondern der Bildungs- gegensätze liegt. Alle soziale Reform muls an diesem Punkt einsetzen. Sie mufs die Lebenshaltung, den sitt- lichen Charakter, die Kenntnisse und Fähigkeiten der unteren Klassen heben. Nach Göhre geschehe das durch eine kraftvolle, tiefgreifende Reformarbeit, durch die bedingungs- lose Erfüllung aller berechtigten Wünsche der millionenköpfigen Ar- beitermassc, durch ihre Organisation zu einem besonderen Stande und durch dessen Einpflanzung in den Rechtsboden des modernen Staates. Das ist Aufgabe der Regierung und der gesamten im Parlament ver- tretenen Gesellschaft. Die zweite, nicht geringere Hälfte jener Er- zichungsaufgabc habe sodann die Kirche zu lösen. Zunächst müsse der Grundsatz durch die Kirche zur Thatsachc gemacht werden, dafs auch ein Sozialdemokrat Christ und ein Christ Sozialdemokrat sein kann. Dazu mufs der sozialdemokratischen Weltanschauung ihr materialistisches Rückgrat ausgebrochen werden. Hier- in liegt der soziale Beruf der Kirche und der wahrhaft Gebildeten unserer Tage.

Ob freilich die Kirche wie sie jetzt ist, die Macht noch besitze, scheint Prof. Ziegler zweifelhaft. (Vergl. S. 72, 107 f.) Die Kirche hat an Ein-

•) t>. Mitteilungen tn d. H., S. 17.

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fluss und Gewalt über die Gemüter Schritt für Schritt an Boden verloren, weil sie im Dienste der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung schon dadurch den unteren Klassen verdächtig ist. Und wenn sich gegen- wärtig deutlich zwei Strömungen in der Geistlichkeit unterscheiden lassen, eine ablehnende, welche die Sozial- demokratie aufs unversöhnlichste be- kämpft und eine ihren Forderungen mehr und mehr entgegenkommende, die sich der inneren Verwandtschaft mit ihren Bestrebungen bewusst ist, so ist doch sehr zweifefhaft, ob die Kirche den Sieg davon tragen wird. Prof. Ziegler befürchtet, dass der Kampf auf die Dauer für beide Kirchen verhängnisvoll werden wird. Sie würden sich letzten Endes doch machtlos erweisen und der Kampf werde dann nur den Prozess fort- schreitender Loslösung beschleu- nigen. Von den Massen als Gegner angesehen und verlassen , aber in ihrer Machtlosigkeit auf diesem Ge- biet und darum nicht ferner mehr beachtet und geschätzt, würden sie sich und das Christentum selbst vor die Existenzfrage gestellt sehn. Wir

sehen weit hoffnungsvoller in die Zukunft, vorausgesetzt dass die viel- fach in konventionellen Formeln er- starrte und salzlos gewordene Kirche wieder Leben gewinnt dadurch, dass sie in das Leben eingeht, die be- rechtigten Forderungen der unteren Klassen zu den ihren macht und durch rastloses Aufsuchen und Be- tonen des Gemeinsamen wieder Ver- trauen und Einflufs gewinnt, selbst auf die Gefahr hin, mit den Be- sitzenden in Widerspruch zu geraten. Das bekannte Wort, es sei für den Staat weitaus am wichtigsten , dass die Millionäre zufrieden seien, das gemeiniglich dem Fürsten Bismarck zugeschrieben wird, könnte leicht für Staat und Kirche höchst ver- hängnisvoll werden.

Doch wir wollen diese Anzeige nicht unnötig ausdehnen. Ausdrück- lich möchte ich noch meine volle Zustimmung zu dem Abschnitt »Familie und Frau ; die Frauen- frage« erklären und zum Schluss den Lesern der »Studien« die Zieglersche Schrift aufs wärmste empfehlen.

Jena. W. Rein.

D. Anzeigen.

Joh. Meyer, Lesebuch der Erdkunde für Schule und Haus. 3 Bände. Gotha, Behrend 1890.

Vorl. geogr. Lesebuch stellt sich, wie andere Werke dieser Art, den Zweck, als Ergänzung zum Unter- richt lebendige Bilder von den Län- dern, ihren Produkten u. s. w. in dem Geiste der Schüler hervorzu- rufen. Ohne Zweifel erfüllt es diesen Zweck in vortrefflicher Weise, da es sich bestrebt, die landschaftlichen, die ethnographischen und Städte- bilder gleichmäfsig zu berücksich- tigen und vor allem, dem Bedürfnis unserer Schulen entsprechend, unser Vaterland reichlicher zu berücksich- tigen, als es in ähnlichen Werken zu geschehen pflegt. Der 1. Band ent-

hält: 1. Bilder aus der aJIgem. Geo- graphie; mathem. Geogr., physikal. Geogr.; Kultur-Geogr. 2. Bilder au* Asien. 3. Bilder aus Afrika. 4. Bil- der aus Amerika. 5. Bilder aus Australien. Der 2. Band umfafst Bilder aus Europa mit Ausschluss des deutschen Reichs. Der 3. Band giebt Schilderungen aus dem deut- Reich.

II.

H. Prase, Herbarts Pädagogik. Vor- trag. Strafsburg, Fr. Bull. 1890.

Der frische, anziehende Vortrag des Herrn Kreisschulinspektors Prafs bespricht 1. Herbarts Lebensgang,

2. Herbarts pädagogische Werke,

3. Die Hauptlehren der Herbartschen

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Pädagogik, 4. Die Herbartsche Schule, 5. Die Stellung der Volksschule zur Herbartschen Pädagogik bez. zur Herbartschen Schule. Der Verfasser stellt 12 Hauptichren und demge- mäis !2 Hauptfragen auf, von denen er 9 mit Ja, drei mit Nein beant- wortet. Die letzteren beziehen sich auf die Frage der kulturhistorischen Stufen, aul die Konzentration im Zillerschen Sinn und auf das Ziel der Erziehung nach Herbart.

III.

Adolph Diesterwegs ausgewählte Schrif- ten herausgegeben von Eduard Langenberg. Neue, durchgesehene Auflage. (Vollständig in 20 Liefe- rungen ä 60 Pf Je 5 Hefte bilden einen Band.)

Diesterwegs ganzes Leben und Streben, das sich auf die Hebung und Förderung des Schul- und Er- zichungswesens, wie des Lehrer- standes in gleicher Weise richtete, hat seinen treuesten und bleibend- sten Ausdruck in seinen Schriften gefunden. Die meisten derselben sind aber im Buchhandel längst nicht mehr zu haben, und die 40 Jahr- gänge der »R h ein i sehen Blätter«, sowie die 16 Bände des »Pädago- gischen Jahrbuchs«, welche er herausgab, und in welchen er seine Ansichten in fesselndster und ent- schiedenster Weise darlegte, sind nur selten irgendwo vollständig zu finden. Und doch vermögen sie ge- rade über den Mann, der bei Leb- zeiten aufs heftigste angegriffen und dessen Bild der jüngeren Lehrer- schaft oft durch schiefe und falsche Darstellungen getrübt worden ist, den rechten Aufschlufs zu geben

Daher ist die oben genannte Aus- gabe, die 1877 zum ersten Mal er- schien, freudig zu begrüfsen.

Auszug aus dem Inhalts-Verzeich- nis: Ober das. oberste Prinzip der Erziehung. Über Natur und Kul- turgemäfsheit. Worin liegt das Charakteristische geistanregender Lehrer? Über die Lehrmethode Schleiermachers. Das Prinzip des Elementarunterrichts. Über die

Methode des Sprachunterrichts. Reise nach den dänischen Staaten.

Lebensfragen der Civilisation. Über die Methode des Zahtenunter- richtes. Über die wahren und fal- schen Erwartungen von der Volks- schule. — Über den Unterricht in der populären Himmelskundc. Schiller für immer. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Goethe als Vor- bild. — Jeder Lehrer ein Natur- kenncr. Gott in der Natur. Das Lehrerbewufstsein. Die drei Nägel an dem Sarge eines Lehrers.

Lehrer- Verschiedenheit. Über Lehrer - Konlerenzen. Von der Stellung der Frau des Lehrers. Über das Lateinlernen in den höhe- ren Bürgerschulen. Daz Prinzip der modernen Pädagogik. Über die Schulinspektion. Die Volks- schule von Luther bis jetzt. The- sen zu Disputationen in Lchrcrver- einen. Die Erziehung zur Gesetz- lichkeit. — Pestalozzi. Über ln- spektion. — Konfessioneller Unter- richt.— Über politische Partcistellung der Lehrer. Individualität, Subjek- tivität des Charakters. - Astrologie, Geologie und Gcognosie. Kirchen- Ichrc oder Pädagogik. Die innere Mission. Der Formalismus. Das Volksschulwesen in Vergangenheit und Gegenwart. Die deutsche Nationalerziehung. Das Prinzip der modernen Schule. Mein Re- ligionsunterricht. — Pädagogische Blicke in die Gegenwart. über den Ursprung der Sprache. Les- sing als Pädagog. Bibel und Natur- wissenschaft. — Lcssings Nathan. Die Zukunftsschulc etc. etc.

In demselben Verlag erschien auch die neue (6) Auflage von Diesterwegs Wegweiser, zur Bildung für deutsche Lehrer bearbeitet von Karl Richter, Ausgabe in einem Bande. Diese Ju- biläumsausgabe von Diesterwegs bedeutenstem Werke, bearbeitet von dem durch seine Schriften über Diesterweg bekannten Direktor Karl Richter in Leipzig zu dem sehr billigen Preise von i1/« Mark wird gewifs allseitig willkommen geheifsen werden.

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Sibfe* Xenfcn, itiiblen unb Streben erjruge. jLmcau forbett er, baß ber fiebrer frlbft oom (Jfcifte be* Äriftrntum» burdibrungen fei unb ba* nötige pfbebologifebe metbobifrtK *erftänbni« brftfee zjine* fpc» jieBen Rated)i#mu«unterrirt|t* bebarf a natb be« i<rrfaffer« Vtctbobe nictit; u>o aber bibl. (ikidncbi*- unb ftatecbUmueunterricbt getrennt erteilt werben muffen, foQ rornigflen* ber innere 3"tanimeiibang ftanbig aufredjt erbauen werben. (OtoertfAt üebrerjeüung.)

Neu eingegangene Schriften.

Müller-Pilling. Deutsche Schulflora. Gera, Hofmann.

A. Nebe, Der kleine Katechismus Lothers. Stuttgart, Greiner u. Pfeiffer. Steger, Welche Gründe sprechen gegen eine unbedingte Durchführung der

Schulklassen. Halle, Schroedel. Braune, Rechenbuch. Halle, Schroedel.

Penneweiss-Pansegrau. Leitfaden für den Rechtschreib u. Sprach-Unterricht. Halle, Schroedel.

Schröer, Über Erziehung, Bildung und Volksintere»se in Deutschland und

England. Dresden, Damm. Hesse. Bilder aus der brandenburgisch-preu«isischen u. deutschen Geschichte.

Hannover, Meyer. Rath, Das Rechnen auf der Oberstufe. Bielefeld, Helmich. Hopp, Das Invalidität«- und Altersversicherungsgesetz in der Volksschule.

Bielefeld, Helmich. Kiessling Pfalz, Method. Handbuch für den Unterricht in der Naturgeschichte

2. Aufl. Kursus 4 u. 5. Braunschweig, Appelhans n Pfenningstorff. Falcke, Einheitliche Präparationen für den gesamten Religionsunterricht.

Halle, Schroedel. Wustmann, Allerhand Sprachdummheiten. Leipzig. Grunow. Guttzeit. Reinmenschliche Kindererziehuug. Leipzig, Sigismund u. Volkening. Bax, Vereinfachte Volksorthographie. Erfurt-Leipzig, B. Bacmeister. Hartmann-Ruhsam. Rechenbuch. 1—4 H. Leipzig-Frankfurt a/M., Kesselring=

sehe Hofbuchhandlung. Liebeskind. Über die Benutzung von Quellen im Geschichtsunterricht der

Volksschule. Jena, Mauke. Heinzig, Die Schule Frankreichs in ihrer histor. Entwicklung. Leipzig- Frankfurt, Kesselringsche Hofbuchhandlung. Jacobi, Bibelatlas. Gera, Hofmann.

Stephan, Die häusliche Erziehung in Deutschland. Wiesbaden, Bergmann.

Biedermann, Deutsche Volks- u. Kulturgeschichte. 3 Bde. 2. Aufl. Wies- baden, Bergmann.

Baumgarten, Evangel.-soziale Zeitfragen. 2. Bd. i. u. 2. Heft. Leipzig, Grunow.

Borinski, Grundzüge des Systems der artikul. Phonetik. Stuttgart, Göschen.

Hoffmann, Rhetorik für höh. Schulen. 7. Aufl. Halle, Mühlmann.

Schliepmann, Betrachtungen über Baukunst. Berlin, A. Seydel.

Fauth-Köster, Zeitschrift für den ev Religionsunterricht. Berlin, H. Reuther.

Poll, die Reform des Religion«- Unt. Weimar, Bockmann.

Molkenboer, die internat Erziehung-Arbeit. Flensburg, A. "Westfalen.

Butler, Educational Review. New -York, Holt u. C.

Neumann, Ist der bihl. Gesch.-Unt. reformbedürftig? Minden, Hufeland.

Reinecke, Plan u. Stoff für den vierstufigen Naturgeschichtsunterricht.

Dresden. Kämmerer. Bibliothek, pädag. Klassiker. Langensalza, Beyer u. S.

v. Sallwürck, I. Fr. Herbarts päd. S haften. 2 Bd. 5. Aufl.

Fr. Mann, Pestalozzi« ausgew. Werke. 2 Bd. 4. Aufl.

Ackermann, Salzmanns ausgew. Schriften. 2. B. P Grotti. Aus meinem naturgesch. Tagebuch. 3 Hoffmann, Lehrbuch der Schulgesundheitapflege. j1^ Kef er stein, Aufgaben der Schule in Beziehung auf das sozialpolitische I = Leben. ' £.

Nadler, Ratgeber für Volkaschullehrer. S. Aufl. / £

Richter, Die essbaren Pilze Deutschlands. i'^j Wesselhöft. Der Garten des Bürgers und Landmanns. 3. Aufl I.» Behling. Hilsinger, Lleburg, Prakt. Spracbbuch für Volksschulen. 3 Hefte. Rabich, Psalter u. Harfe. e Schumann, Leitfaden der Pädagogik. | .x

Schumann, Lehrbuch der Pädagogik. Ii53j Geyer, ueutsche Aufsat/.stoffe. j«5 §

Pünjer-Hodgkineon, Lehr- und Lesebuch der englischen Sprache. J * ?

Albert, Liederbuch für Schulen. Altenburg, Bonde. Müller, Ansichten über wahre Bildung. Pforzheim, Bode. Siegert, Die Periodizität in der Entwicklung der Kindesnatur. Voigtländer.

Vogelreuter, Geschichte des griech. Unt. Hannover, Meyer. Hornemann, Die Berliner Dezemberkonferenz und die Schulreform. Han- nover, Meyer.

Ufer, Geistesstörungen in der Schule. Wiesbaden, Bergmann.

Coordee, Lehrbuch der Landkarten-Projektion. Kassel, Kessler.

Ackermann, Pädag. Fragen. 1. Bd 2. Aufl. Dresden, Kämmerer.

Reinecke, Plan und Stoff für den vierstufigen Naturgeschichta-Unterricht. I Teil. Dresden, Kämmerer.

Thrändorf, Der Religionsunt. etc. Präparationen. 2. Teil. Dresden, Kämmerer.

Herberger-Döring, Theorie und Praxis der Aufsatzüf an gen 3. Teil. Dres- den, Kämmerer.

Harbort, Sozialdemokratie und Volksschule. Hannover, Meyer. Magnus, Rechenaufgaben. Hannover, Meyer.

Sterner, Geschichie der Rechenkunst. 1. Teil. München, Oldenburg, van Ekeris, Der Geschichtsunterricht. Bielefeld, Helmich. Eranken, Die Kinderhort« und deren erziehliche Bedeutung. Bielefeld, Helmich.

Richter, Neudrucke pädag. Schriften V. u. VI. Bd. Leipzig, Richter.

V. Almansor, Der Kinder Schulspiegel.

VI. Schummel, Fritzens Reise nach Dessau.

Mayer, Übungen des lateinischen Stils. Freiburg i. Br., Herder.

Müller, Piatons Apologie des Sokrates. Freiburg, Herder.

Waldeck, Praktische Anleitung zum Unterricht in der latein. Grammatik.

Halle, Waisenhaus. Härtung, Wegweiser für Lehrer zu den Sprechübungen im Englischen.

Halle, Waisenhaus. Härtung, Sprechübungen im Englischen. Halle, Waisenhaus.

Druck von O. Vits, Nauroburf *. 8.

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"LT BÖS-

Pädagogische Studien

Neue Folge

H erausgegeben

Ton

Dr. W. Rein

Profeator u. d. Universität Jena XIII Jahrgang Zweites Heft

Inhalt

A Abhandlungen: F. W. D. Krause, Der Pessimismus E. v. Hart- manns und die moderne Pädagogik.

B Mitteilungen: i. Prof. Dr. H. Steinthal, Der Philosoph Johann Friedrich Herbart. 2. Ober den Beginn des Schuljahres. 3. Eine neue amerikanisch-pädagogische Zeitschrift .4. Leibesübungen und Tumspiele in alter und neuer Zeit. 5. ELI. Haupt- Versammlung der Freunde Herbartschcr Pädagogik aus Schlesien und Posen. 6. Versammlung der Zweigvereine Altenburg, Halle, Jena, Leipzig in Weissenfcls. 7. Verein für Herbartische Pädagogik in Rhein- land und Westfalen. 8. Zum Comcnius-Jubiläum. 28. März 1892.

9. Verein für herbartische Pädagogik in Thüringen und Sachsen.

10. Prof. Dr. R. Menge, Nekrolog von Dr. O. Frick. Ii. Selbst- anzeige von J. Trüper.

C Beurteil u ngen: 1. A. Ohlert; 2. Dr. phil. Ernst O. Stie[hler; 3. Max Walter; 4. Johannes Rauschenfels; 5. Dr. Hermann Soltmann; 6. Alge (Ludwig Baetgen).

Dresden

Verlag von Bleyl & Kaemmerer

(Paul Tb. KunmtwJ

ItM

FortbildungH-Kursus in der deutschen Sprache

für englische Lehrer an der Universität Jena im Augast 1892.

Herr J. i. Flndlajr, früher Direktor des Wesley College in Sheffield, wird im August d. J. einen vierwöchentlichen Kursus für englische Lehrer abhalten, am sie in der deutschen Sprache auszubilden. An diesem Kursus können sich ebenso deutsche Studenten und Lehrer be- teiligen, die sich in der englischen Sprache vervollkommnen wollen.

Näheres durch Herrn J. J. Findlav in Jena, Erfurter Str., Villa Bejach.

Büste Herbarts.

Wir erlauben uns, unsere Leser darauf aufmerksam au machen, daas die bekannte Gipsbüstenfabrik von Wilhelm Pellegrini in Chem- nitz auf Veranlassung und nach Anweisungen des Herrn Hauptlehrers Adolf Rüde in Schulitz (Posen) eine Büste Herbarts hergestellt und damit einem vielfach vermerkten Bedürfnisse abgeholfen hat. Bisher existierte unseres Wissens keine.

Die Büste ist nach dem in Pichlers Verlage erschienenen trefflichen Bilde Herbarts modelliert. Die Ausführung ist ganz vorzüglich. Die Höhe beträgt 48 cm (für Arbeitszimmer u. dgl. passend). Die Büste kostet in Kltenbeiumnase 18 Mark, in Gips 9 Mark- Doch hat die Fabrik in entgegenkommender Weise Herrn Rüde in den Stand gesetzt, den Verehrern und Freunden Herbarts die Büste mit 10% Rabatt zu liefern, wenn sie durch seine Vermittlung bestellt wird. Herr Rüde er- teilt auf Anfragen gern Auskunft. Auch ist als Pendent die Büste von Comenius zu demselben Preise zu haben. Auf Wunsch liefert die Fabrik passende Konsolen dazu (in Elfenbeinmasse 4,50 M , in Gips 1,50 M.).

Neu eingegangene Schriften.

v. Zehender, Vortrage über Schulgesundheitspflege. Stuttgart, Enke. Kratz, Logik. | Aesthetik. > Gütersloh, Bertelsmann. Theletik. J

Wlrth, Übungsfragen zum Geschichtsunterricht. Bayreuth, Heuschmann. Patuschka, Volkswirtschaft!. Lesebuch. 2. Aufl. Gotha, Behrend. Butler, Kducational Review November 1U. New- York, Holt. Arendt, Grundzüge der Chemie. 3. Aufl. Leipzig, Voss.

M Anorgan. Chemie. 3. Aufl. Leipzig, Voss.

Leitfaden für den Unt. in der Chemie. 3. Aufl. Leipzig, Voss. Lüdemann, Plan und Stoff für den deutschen Sprachunterricht. Bremen,

Rühle u. Schlenker. Duckmeyer, Füchse mit brennenden Schwänzen. Berlin, Rentzel. Räther, Theorie u. Praxis des Rechenunt. Breslau, Morgenstern. Braune, Der Rechenunt. Halle, SchroedeL

Zimmermann, Vorschläge zur Reform der städt. Schule. Frankfurt a/M.

Reitz u. Köhler. Tromnau, Schulgeographie. Halle, Schroedel.

Kurz, Method. Lehrgang der Stenographie. Straubing, Selbstverlag.

A. Abhandlungen.

Der Pessimismus E. v. Hartmanns und die

Im Jahrgange 1890 (Heft 3, S. 129 150) der > Pädagogischen Studien < hat E. v. H. eine Abhandlung veröffentlicht, welche die Überschrift trägt: »Kann der Pessimismus erziehlich wirken?«

Diese Frage hat bereits seitens der Richtung in der modernen Pädagogik, welche auf dem Boden der Philosophie Herbarts steht, ihre Beantwortung in verneinendem Sinne gefunden, und zwar durch die Entgegnung des Professors Vogt im Jahrbuche des Vereines für wissenschaftliche Pädagogik (1891) und die an die- selbe sich anschliefsenden Verhandlungen auf der vorjährigen Hauptversammlung des genannten Vereines zu Magdeburg (s. Er- läuterungen z. Jahrbuche).

Wenn ich es nun ebenfalls unternehme, auf jene Frage zu antworten, so findet dies seine Begründung in meinem von dem soeben bezeichneten etwas abweichenden Standpunkte. Dafs es trotz des letzteren Umstandes mir verstattet ist, an diesem Orte, an welchem seitens E. v. H.s die zu beantwortende Frage gestellt wurde, die Antwort geben zu dürfen, danke ich der Freundlichkeit des Herrn Herausgebers vorliegender Zeitschrift, der mir die Spalten derselben geöffnet hat. Verarilafst zu der Antwort fühle ich mich durch die mahnenden und tadelnden Worte, welche E. v. H. am Schlüsse seines erwähnten Aufsatzes an die moderne Pädagogik, zu deren Vertretern auch ich mich zähle, richtet: die- selbe möge in sich gehen und ihre Grundsätze prüfen an dem Mafsstabe des Pessimismus, mit dem sie bisher verschmäht habe, irgendwie Fühlung zu gewinnen.

Zunächst wird es tür mich nötig sein, den zu beleuchtenden Gedanken E. v. H.s gegenüber meinen Standpunkt der Be- urteilung kurz darzulegen.

Padago«i«chc Studien. II. 5

moderne

Von F. W. D. Krause in Cöthen.

66 - I.

I. Seite 130 seiner Abhandlung lehrt E. v. H, : Den Wert des Lebens könne man an einem zweifachen Mafsstabe messen, erstens an dem der Glückseligkeit, die es dem Lebewesen bereite, und zweitens an dem der Entwicklung und des Fortschrittes sowohl der körperlichen, als auch der geistigen Organisation und der mit ihm zusammenhängenden Leistungen. In ersterer Beziehung be- kennt er sich zum eudämonologischen Pessimismus, in letzterer zum evolutionistischen Optimismus.

Mir erscheint das Verfahren, bei der Würdigung des Lebens Glückseligkeit und Fortschritt als zwei gleichartige Mafsstäbe neben einander zu verwenden, nicht glücklich gewählt, und zwar aus folgendem Grunde:

Der Standpunkt, von dem die Frage nach dem Lebenswerte gestellt wird, kann ein zweifacher sein, der spekulative und der empirische.

Innerhalb der Spekulation kommt hier nur die idealistische Richtung der Teleologie inbetracht, da die materialistische An- schauung, welche anstelle des bewufsten Zweckes den blinden mechanischen Kausalzusammenhang setzt, wenig zu einer Wertung des Lebens sich eignet. Die Würde eines Zweckes aber kann von den beiden hier inrede stehenden Mafsstäben allein die Glück- seligkeit beanspruchen insofern, als man annimmt, die Menschheit sei ins Leben gerufen, damit an ihr entweder sofort oder der- maleinst die Glückseligkeit realisiert werde, während der Fortschritt in der körperlichen und geistigen Organisation nie Zweck sein kann, sondern nur ein diesem oder einem anderen Zwecke dienendes Mittel; denn man ruft doch nicht jemanden ins Leben, damit er fortschreite, sondern damit er durch dieses Fortschreiten zu irgend einem Ziele komme.

Der Erfahrungsstandpunkt kümmert sich nicht um das Warum und Wozu; er konstatiert einfach die Thatsache des Lebens. Auf diesem Grunde setzen dann naturgemäfs Erwägungen darüber ein, ob und wie es anzustellen sei, dieses Leben, das doch ein- mal gelebt werden mufs, möglichst lebbar zu machen, aus dem- selben die seinem ruhigen Verlaufe etwa sich entgegenstellenden Hindernisse zu entfernen und es zu einem denkbarst angenehmen zu gestatten. Die Glückseligkeit ist an dieser Stelle nicht Lebens- zweck , sondern lediglich erstrebte Lebensform. Ihr gegenüber spielt auch hier der Fortschritt die Rolle des Mittel-, durch das jene Form erreicht werden kann. Selbst zu erstrebende definitive Lebensform zu sein, ist dem Fortschritte nicht gegeben, weil er bei allem hohen Werte doch den Charakter des Ruhelosen, Un- befriedigten und Unbefriedigenden an sich trägt und es vom Stand- punkte des Lebenmüssenden sinnlos wäre, einen solchen Zustand als dauernden zu erstreben.

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Man mag also jene beiden Mafsstäbe betrachten, von wo aus man will, nie fügen sie sich demselben Rahmen. Und des- wegen durften sie nicht als gleichwertig neben einander gestellt werden.

Eine eingehende Prüfung der Zweckfrage ergiebt nun, dafs alle Teleologie den Zweck des Lebens tiefsten Grundes in der Glückseligkeit suchen mufs und thatsächlich sucht, bewufst oder unbewufst, selbst die, welche unter dem Namen des praktischen Idealismus als diesen Zweck die sittliche Vollendung oder Voll- kommenheit bezeichnet und deshalb zu der Frage der Glückselig- keit anscheinend sich verhält wie Feuer zu Wasser. Wenn mir das jemand nicht zugeben zu können vermeint, so möchte ich ihn um etwas Geduld bitten; vielleicht gelingt es mir noch, ihn zu überzeugen. Welche ausschlaggebende Rolle der Glückseligkeit für die Beurteilung des Lebens vom Erfahrungsstandpunkte zu- fällt, bedarf wohl weiter keiner Erläuterung. Die Glückseligkeit ist mithin von so grofsem Einflüsse auf die Beurteilung des Lebens von beiden denkbaren Betrachtungspunkten aus, dafs sie bei dieser immer in Rücksicht gezogen werden mufs, ja für ein abschliefsen- des Urteil allein in Rücksicht gezogen werden kann.

Diese Erwägungen weisen mir meine Stellung innerhalb des Eudämonismus an. Indem ich dies ausspreche, bin ich darauf gefafst, dafs man auch mit3 zu bedenken geben wird, wie die eudä- monistischc Anschauung eine tiefere Stufe des Denkens darstelle als der bereits erwähnte praktische Idealismus. Indes vermag ich die Wahrheit dieser Behauptung solange nicht anzuerkennen, als ich nicht davon überzeugt werde, dafs der Sittlichkeit der bean- spruchte »Wert in sich selbst« auch wirklich zukomme. Bis da- hin gestatte man mir, als das einzige, dem man mit Aussicht auf allgemeine Zustimmung einen Wert an sich beimessen darf, die Glückseligkeit anzusehen. Dafs ich mit dieser Meinung mich nicht allein befinde, dafür lassen sich die Belege inmenge herbeischaffen. Iiier stehe von den vielen nur einer: »Das Glück ist eigentlich der Schlüssel aller unserer Gedanken. Jeder sucht es für sich; viele suchen es, wenn es der einzelne nicht erreichen kann, ge- meinsam. Es ist der letzte Grund alles Lernens, Strebens, aller staatlichen und kirchlichen Einrichtungen. Man mag den Eudä- monismus schelten, wenn man will. Es ist aber das Lebensziel der Menschen: Glücklich wollen sie sein, um jeden Preis.« (Hilty: --Glück*, S. I/9-) Aufserdem glaube ich eine Form des Eudä- monismus zu vertreten, die schon um deswillen keinen Rückfall in die Anschauungen des vorigen Jahrhunderts darstellt, weil sie neu ist, die vielmehr als kräftiger Fortschritt auftritt mindestens der alten Form des Eudämonismus gege nüber und die auch dem praktischen Idealismus, den ich keineswegs gering achte, insofern gerecht wird, als sie dessen Prinzip in sich aufnimmt, zudem aber

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in mehreren Punkten, z. B. in der Sicherheit ihrer Fundierung, denselben übertrifft.

2. Die Frage nach dem Werte des Lebens würde ich also in der Form stellen : Ist die Glückseligkeit der dem Menschen be- stimmte Lebenszweck oder die seitens des Menschen erstrebte Lebensform? Mit der richtigen Beantwortung dieser Frage nach der einen oder der anderen Seite hin wird dann zugleich das Urteil über den Lebenswert ausgesprochen: Im ersten Falle ist das Leben als Mittel zum Zwecke einer Realisierung der Glück- seligkeit die Nebensache, im zweiten die Hauptsache, der sich die Glückseligkeit als Form unterordnet.

Für welche Beantwortung entscheiden wir uns?

Wenn man in Rechnung zieht, dafs wir erfahrungsgemäfs und so mit denkbarster Sicherheit etwas nur über das Individual- leben wissen und zwar in seiner Beschränkung auf das irdische Leben, dafs inbezug auf alles übrige uns also jene Gewifsheit ab- geht, weil eine solche uns zu geben keine Spekulation imstande ist, und weiter, dafs uns das Erdenleben über einen etwaigen Zweck desselben keinerlei bestätigenden Aufschlufs giebt, so kann man die Würde einer gesicherten Lebensauffassung nur der An- sicht zusprechen, welche die Glückseligkeit als die vom Menschen erstrebte Lebensform ansieht.

Daraus folgt für mich, dafs ich jedes Urteil, zu welchem ich im Ablaufe der Gedankenreihe gegenwärtiger Arbeit gelange, vom Erfahr un «4 s Standpunkte auszusprechen haben werde. Man sehe mir dies nach. Ich unterschätze durchaus nicht den Wert der Spekulation. Aber ich darf sie hier nicht zuworte kommen lassen, weil ich festen Boden unter den Füfsen haben und jedem die Möglichkeit wahren möchte, die Richtigkeit der von mir vorge- tragenen Gedanken aufgrund des eigenen Erlebens und Erfahrens zu prüfen. Der Nachweis dafür wird freilich erst noch erbracht werden müssen, ob es möglich sei, bei dem zu Leistenden die Hilfe der Spekulation zu entbehren.

3. Wer das Streben nach Glückseligkeit als aussichtslos be- trachtet, den nennt man bekanntlich in dieser Hinsicht einen Pessimisten, denjenigen, welcher jenem Streben die Möglichkeit des Erfolge.1; zuspricht, einen Optimisten. Untersuchen wir, ob auf diesem Gebiete der Pessimismus oder der Optimismus be- rechtigt sei.

Der Begriff der zu erstrebenden Glückseligkeit hat als Unter- lage die Glückeslosigkeit, die Glückesarmut, das Leid des Lebens.

Wer zur richtigen Würdigung des Leides kommen will, mufs meines Erachtens erst ein Vorurteil gründlich verabschieden, das ihm tief im Blute zu stecken pflegt: die Anschauung, als ob die Welt der Menschheit wegen da sei, oder genauer, jedes einzelnen Menschen wegen. Es ist noch gar nicht lange her, dafs man allen

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Ernstes annahm, die Sonne, der Mond und die übrigen Sterne seien Beleuchtungsvorrichtungen lür die Erde, will sagen, für den Herrn der Erde, für den Menschen. Ja man meinte wohl gar, sie seien eine Art optischer Telegraphen, welche nicht nur der Mensch- heit im allgemeinen, sondern jedem einzelnen Menschen seine Schicksale verkündeten, wenn man nur die Zeichen zu deuten verstände. Zwar lächelt der Kundige heutigen Tages über diese kindliche Ansicht ; aber ganz haben wir alle noch nicht in dieser Beziehung die Kinderschuhe vertreten. So wenig Angenehmes indes für den Herrn Menschen der Gedanke hat, er mufs aus- gesprochen und mit allen seinen Konsequenzen als Wahrheit er- fafst werden : Mag die Welt da sein zu einem Zwecke, zu welchem sie wolle, der Mensch repräsentiert diesen Zweck nicht. Damit soll selbstverständlich nicht geleugnet sein, dafs die Welt zu ihrem übersehbaren Teile im Menschen gegenwärtig die » Spitze c ihrer Entwickclung erreicht zu haben scheine.

Stellte sich im Menschen der Zweck, d. h. der Endzweck, der Welt dar, so müfste deutlich erkennbar alles in der Weit nach ihm hin sich konzentrieren; alles, was da ist, müfste sich ihm fügen und ihm dienen; seine Gesetze müfsten es sein, die in der Natur herrschen. Wir sehen von alledem nichts. Die Natur hat ihre fest bestimmten Ordnungen und verzichtet keinen Augenblick zugunsten des oder gar eines Menschen auf die Durch- führung derselben, sondern setzt diese Durchführung mit unbe- dingter Rücksichtslosigkeit ins Werk. Nirgends sehen wir auch nur die geringste Spur davon, dafs die Natur geneigt sei, im Menschen ihren Herrn anzuerkennen. Der Mensch ist ein unend- lich kleines Teilchen der Natur, der letzteren ebenso viel oder so wenig wert wie jedes andere Weltteilchcn.

Die mannigfachen in der Natur wirkenden Kräfte verhalten sich gegenseitig durchaus nach dem Gesetze der Stärke, sonst vollkommen so, als wäre die eine für die andere nicht vorhanden. Und da macht es keinen Unterschied, ob diese Kräfte in leblosen Körpern oder in lebenden Wesen wirken. So reifst die stärkere Säure die schwächere ohne weiteres aus ihrer Verbindung ; so nimmt die lebenskräftigere Pflanze der an dieser Kraft geringeren die zur Existenz nötigen Stoffe weg ; so tötet das starke Tier das schwache, das ihm zur Nahrung dienen soll.

In dieses Widerspicl der Kräfte ist auch der Mensch gestellt. Er wie jedes Lebewesen hat das Bestreben, sich so ausleben zu können, wie es seiner Natur angemessen ist. Da findet er um sich herum mancherlei, was dieses Bestreben zu fördern imstande ist, vieles auch, was dasselbe hindert. Er als fühlendes Wesen bleibt dabei innerlich nicht unberührt. Das Fördernde wird ihm zum Angenehmen, das Hindernde zum Unangenehmen. Das erstere

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gewährt ihm Freude ; das andere verursacht ihm Leid. Das erstere schätzt er als Glück, das andere als Unglück.

Wie beides auf die einzelnen Menschen verteilt ist, bleibt hier aufser Betracht. An dieser Stelle haben wir es mit der Er- forschung des Durchschnittszustandes zu thun.

Ob die Gefühle des Angenehmen und besonders des Unan- genehmen mehr an der Oberfläche bleiben oder ob sie tief gehen und zu gleicher Zeit ein weiteres Bereich des seelischen Lebens unter ihren Einflufs bringen, das hängt, abgesehen von dem Ver- hältnisse der Stärke jener Einwirkung zur Widerstandskraft des Menschen, wesentlich von der Anschauung und Auffassung der Weltstellung des Menschen ab, von der soeben die Rede war.

Der Eindruck eines widrigen Geschehnisses auf einen Menschen, der sich tür den Mittelpunkt der Welt hält, ist ein ganz anderer als auf einen, der über diese Stellung zur Klarheit gekommen ist und sie in dem von mir oben entwickelten Sinne aufiafst. Der erstere wird alles Widrige als einen Eingriff in seine Herrscher- stellung betrachten, gewissermafsen als eine ihm zugefügte persön- liche Beleidigung; der andere läfst sich nicht übermäfsig stark davon treffen und findet sich damit ab, so gut es geht. Für den ersteren gestaltet sich alles Unangenehme zum > Leiden«; für den anderen ist es nur unangenehm. Was der erstere für ein grofses, ihn niederschmetterndes Unglück hält, das ist dem anderen eine Sache, die nicht gerade geringe Anforderungen an seine Wider- standsfähigkeit stellt, die aber ertragen werden mufs und des- wegen ertragen wird. Dem ersteren ist die Erde ein Jammerthal, dem anderen ein Ort, auf welchem zwar nicht alles geht, wie es zu wünschen wäre, auf dem es sich aber im grofsen und ganzen leben läfst.

Wenn wir nun beide bezüglich ihrer Anschauungen klassi- fizieren sollen, so kommen wir hinsichtlich des zweiten in Ver- legenheit. Zu den Pessimisten gehört er sicher nicht, aber auch nicht zu den Optimisten. Die Frage, ob Leid oder Freude im Leben überschiefst, ob die gegenwärtige Welt die beste oder die schlechteste ist, existiert für ihn gar nicht. Dafs es möglich ist, in ihr zu leben, beweist ihm sein eigenes Dasein, und damit genug. Er lebt eben und findet sich mit den Hindernissen des Lebens ab wie ein guter Soldat, der nach bestem Wissen und Können das ihm Übertragene ausführt, ohne weitere Reflexionen daran zu knüpfen. Er ist einfach ein Mann der Pflicht. Der erste indes trägt alle Kennzeichen eines echten Pessimisten an sich.

Wessen Stellung ist nun die richtige ?

Ganz abgesehen davon, was das Praktischere sein möchte, müssen wir die Lebensanschauung des ersteren darum eine unzu-

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treffende nennen, weil die Quelle, aus der sie fliefst, als eine trügerische sich erweist.

Diese Lebensanschauung aber giebt den Boden ab, in welchem . tiefsten Grundes aller eudämonistische Pessimismus wurzelt. Letzterer ist also schon deshalb zu verwerfen, weil er aus einer grundfalschen Auffassung der Weltstellung des Menschen ent- springt.

Kurz mag auch erwähnt werden, wie der körperliche und seelische Zustand demselben Geschehnisse bezüglich seiner Wirkung auf den Menschen einen ganz verschiedenen Charakter geben kann. Was in gedrückter Stimmung zur schweren Bürde wird, das fühlt man bei Gesundheit des Leibes und gehobenen Geistes entweder gar nicht oder erträgt es doch mit Leichtigkeit. Zudem mag darauf hingewiesen werden, dafs es vor allem das Unge- wöhnte vonseiten des Leides (und der Freude) ist, was den Menschen tief berührt.

Aber nicht nur die subjektive Stellung zu dem, was man >Leid< nennt, kommt bei der Beurteilung des Pessimismus in- betracht, sondern auch, und zwar fast noch mehr, die objektive, d. h. diejenige, bei welcher es sich um die Möglichkeit oder Un- möglichkeit handelt, dem Leide zu entrinnen. Die Möglichkeit bis zu einem hohen Grade läfst sich leicht erweisen. Wer die Unmöglichkeit behauptet, mufs seine Augen vor dem verschliefsen, was auf der Hand liegt.

Erstens sucht alles Lebende, und gewifs nicht ohne Erfolg, den widrigen Geschehnissen gegenüber sich zu stärken und wider- standsfähiger zu machen. So klammert sich der vom Sturme oft geschüttelte und mit dem Umstürze bedrohte Baum mit seinen Wurzeln fest und fester in den Boden ein. Und der Mensch ver- fährt natürlich ebenso. Um den Unbilden der Witterung besser widerstehen zu können, härtet er z. B. seinen Körper durch Baden in kaltem Wasser ab.

Zweitens trachtet alles Lebende, ebenfalls mit Erfolg, danach, vor widrigen Einflüssen sich zu bergen, soweit es geht. Das Wild sucht Höhlen und dichtes Gesträuch auf, um sich vor Regen, Schnee und kaltem Winde zu schützen. Der Mensch baut sich Wohnungen und verschliefst die Öffnungen derselben durch Thüren und Fenster.

Drittens gelingt es der Tier- und der Menschcnwelt, die Naturkräfte in ihren Dienst zu nehmen. So benutzen die Zug- vögel ihnen günstige Luftströmungen zur Unterstützung ihres Fluges beim Wandern. Und wie der Mensch Wind und Wasser, Dampf und Elektrizität und was noch sonst alles sich dienstbar zu machen gewufst hat, das lehrt ein jeder Blick ins tägliche Leben. Diese Dienstbarmachung der Naturkräfte erstreckt sich sogar auf die unter gewöhnlichen Umständen feindlichen und ge-

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fährlichen. So kreuzt der Seemann gegen widrigen Wind auf und veranlafst denselben auf diese Weise, das Schiff sich entgegen zu treiben. So benutzt der Aizt die Gifte als Heilmittel.

Bisher hat es sich um das Leid gehandelt, das dem Menschen durch die blind wirkenden Naturkräfte zugefügt wird. Wir haben gesehen, dafs sich dasselbe keineswegs als ein solches darstellt» dem man nicht begegnen könnte. Praktische Erfahrung und Ge- wandtheit, sowie theoretisches Wissen sind es hier, die leidver- mindernd so entschieden wirken, dafs bei bestimmt zu erwarten- den weiteren Fortschritten derselben das sogenannte Leid auf ein verschwindendes Minimum beschränkt wird.

Doch bei weitem nicht alles Leid widerfährt uns durch die Naturkräfte. Ein nicht geringer Teil desselben, und gerade der am unangenehmsten empfundene, wird uns durch unsere Mit- menschen zugefügt. Stellte sich nun schon das vorige als ein solches dar, dorn zu entrinnen ist, so dieses erst recht. An dem Wesen der Naturkräfte ist nichts zu ändern ; das des Menschen zeigt sich als im hohen Grade abänderbar. Für die Menschen liegt die Möglichkeit durchaus vor, von ihrer natürlichen Rück- sichtslosigkeit, die ihnen als Naturwesen ursprünglich ebenso eigen ist wie allen übrigen Naturkörpern mit den in ihnen wirkenden Kräften, zu lassen und überzugehen zur Rücksichtsnahme, zum Wohlwollen, aus Naturwesen zu Vernunftwesen zu werden. Und war es vorhin Erfahrung und Wissen, was wir als leidvermindernd erkannten, so tritt uns hier das sittliche Verhalten der Menschen zu einander als geradezu leiderlösend entgegen. Denn vermag uns Erfahrung und Wissen bezüglich der Naturkräfte im günstigen Falle nur auf ein Minimum des Leides zu bringen, ganz ver- schwinden kann das Leid solange nicht, als wir noch im Leibe wallen und somit zu diesem Teile den Naturgesetzen unterworfen sind, z. B. dem des Veigehens, wenn letzteres überhaupt ein Leiden ist. Nichts hindert uns aber, einen Fortschritt der Mensch- heit auf dem Gebiete der Sittlichkeit bis zu dem Punkte für mög- lich zu halfen, dafs ihre Glieder in reinem vernünftigen Wohl- wollen und so nach dieser Seite hin wirklich leidlos zusammen leben. Zwar gegenwärtig scheinen wir noch ziemlich weit von diesem Ziele entfernt zu sein. Indes lehrt ein kundiger Blick in die Geschichte der Menschheit, dafs trotz aller Rückfälle im ein- zelnen es im allgemeinen mit der Sittlichkeit aufwärts geht. Mögen die Schritte klein sein, sie werden doch gethan.

Aus dem letzten Abschnitte aber ergiebt sich zweierlei: erstens, dafs das Streben nach Glückseligkeit nicht etwas der Sittlichkeit Feindliches ist, wie vielfach besonders von dem Trachten nach eigener Glückseligkeit behauptet wird, sondern dafs dieses Streben die Sittlichkeit unausweichlich fordert, zweitens, dafs in dieser Forderung der zwingende Grund für die Ver-

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pflichtung der Menschheit im allgemeinen und jedes Menschen im besonderen zur Sittlichkeit liegt.

Es sei mir zwischendurch erlaubt, hervorzuheben, dafs wir zu jener Form des Fudämonismus, auf die ich oben als auf die von mir vertretene neue hindeutete, hier nun gelangt sind, dem alten egoistischen, unsittlichen gegenüber zum neuen vernünftigen, sittlichen. Würde es sich darum handeln, den beiden Arten des Eudämonismus einen kurzen, knappen Namen beizulegen, so möchte ich mich dahin entscheiden, den alten den des Habens, den neuen den des Seins zu nennen, obgleich ich mir dessen wohl bewufst bin, dafs diese Bezeichnungen als nicht ganz ein- wandsfrei sich darstellen um deswillen, weil sich die Begriffe »haben« und >sein« nicht rein genug von einander scheiden. Wie man das Haben von Geld ein Rcichsein nennen kann, so läfst sich das Klugsein als ein Haben von Klugheit ansehen. Und doch glaube ich die Ausdrücke aus folgendem Grunde festhalten zu dürfen : Die beiden Arten des Eudämonismus unterscheiden sich am kenntlichsten darin, dafs die eine in der Erwerbung von Gütern des äufsern. die andere in der von solchen des innern Besitzes ihre Erfüllung sucht. Das Wesen des Menschen wirklich nachhaltig zu beeinflussen, tiefstinnerlich zu ergreifen und umzu- gestalten, zu heben und zu veredeln, ist aber die Erwerbung von Gütern nur der letzteren Art imstande. Unter diesem Gesichts- punkte wird man die Wahl der obigen Bezeichnungen nicht ganz unzutreffend finden.

Wenn wir nun das bisher Gesagte noch einmal an uns vor- übergehen lassen, so werden wir zu der Überzeugung kommen müssen, dafs der eudämonistische Pessimismus nicht nur deshalb zu verwerfen ist, weil er einer falschen Anschauung sein Ent- stehen verdankt, sondern nun weiter auch deswegen, weil zur pessimistischen Auffassung der Leidfrage jedweder Grund mangelt sowohl nach der subjektiven, als auch nach der objektiven Seite hin, ja dafs wir nicht einmal auf dem der erstcren Seite gegen- über eingenommenen, nahe bei der Indifferenz liegenden Stand- punkte ausharren dürfen, sondern dafs die Erwägungen nach der zweiten Seite hin uns zu einer entschieden optimistischen An- schauung nötigen.

Und somit habe ich dann den von mir erstrebten sicheren Standpunkt der Beurteilung gewonnen, und zwar im »eudä- monistischen Optimismus«. -

Auf diesem Standpunkte angelangt, will ich es unternehmen, die Ansichten E. v. H.s einer Prüfung zu unterwerfen. Eine eigen- tümliche Fügung will es, dafs letzteres gerade von der Lebens- anschauung aus geschieht, welche E. v. II. als vollständig unhalt- und unbrauchbar bezeichnet.

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4. Mit den metaphysischen Erörterungen E. v. H.s, die aller- dings nicht ohne allen Einflufs auf die Stellung desselben zur Leid- frage bleiben, mich zu beschäftigen, darf ich nicht Veranlassung nehmen erstens aus dem Grunde, weil solche Beschäftigung ins endlose Weite sich dehnen und doch zu keinem nennenswerten Ergebnisse führen würde, denn man kann über solche Sachen wohl viel streiten, aber wenig ausmachen, zweitens darum, weil mir mein Beurteilungsstandpunkt die Verpflichtung auterlegt, diese Erörterungen beiseite zu lassen.

Auch bezüglich der wirklich zu beurteilenden Darlegungen E. v. H.s werde ich aus Rücksicht auf den mir zugebote stehen- den Raum mich beschränken müssen, und zwar mit Ausnahme eines Falles auf das, was in der oben genannten Abhandlung seinen Ausdruck findet.

Wir erinnern uns, dafs E. v. H. bezüglich des Eudämonismus pessimistischen Anschauungen huldigt,

Aus den Gedanken, in welchen er diese darlegt, werde ich nur wenige der wichtigsten herausgreifen. Es wird des mehreren nicht bedürfen.

Die Ausführungen E. v. H.s zeigen deutlich ein doppeltes Bestreben : erstlich, das für feindlich gehaltene Prinzip des eudä- monistischen Optimismus als unmöglich hinzustellen, zweitens, an dessen Stelle den eudämonistischen (oder »eudämonologischen«, wie E. v. H. mit einer geringen Änderung des Begriffes sagt) Pessimismus einzuführen und demselben Anhänger zu gewinnen.

In ersterer Richtung läfst er sich Seite 145 so vernehmen: >Hat der eudämonologische Optimismus recht, so hat der Eudä- monismus unzweifelhaft das letzte Wort in der praktischen Philo- sophie und läfst keinen Raum übrig für eine autonome Moral, die nicht eudämonistisch wäre, so ist die Behauptung einer echten Moral dieser unechten gegenüber psychologisch grundlos.«

Ich nehme zunächst Notiz von dem Zugeständnis, dafs dem Eudämonismus in der praktischen Philosophie unzweifelhaft das letzte Wort gebühre, falls der eudämonologische Optimismus recht habe. Dieses Recht glaube ich unantastbar nachgewiesen zu haben und schreibe nun dankend jenes Zugeständnis mir zu gut.

Angesichts des Wortes, dafs der Eudämonismus keinen Raum übrig lasse für eine autonome Moral, die nicht eudämonistisch wäre, habe ich geltend zu machen, dafs innerhalb des Eudämonis- mus im Sinne E. v. H.s, also im egoistischen, eine autonome Moral überhaupt unmöglich ist. Die Begründung der Behauptung, der Eudämonismus sei zum Prinzipe der Sittlichkeit unbrauchbar, wird gewöhnlich kurz auf folgende Weise geliefert: Der Begriff des Glückes sei ein so schwankender, dafs auf denselben nichts

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gebaut werden dürfe. Was den einen glücklich mache, sei dem andern gleichgiltig oder wohl gar zuwider, und was jemanden heute beglücke, lasse ihn morgen kalt und widerstehe ihm über- morgen. Dafs das Gute diesen Wechsel nicht mitmachen dürfe, sondern unveränderlich in seiner Würde beharren müsse, sei hand- greiflich. Vor allem aber liege für diesen Fall das Gute nicht im Menschen selber, sondern in den glücklich machenden Gegen- ständen, t— Wer diese Ausführung für richtig ansieht, und das geschieht seitens E. v. H.s sicher, dem enthält sie den Beleg für zweierlei: einmal dafür, dafs keine wirkliche Moral egoistisch eudä- monistisch sein darf, sodann dafür, was meinerseits bewiesen werden sollte, dafs die egoistisch eudämonistische Moral nicht autonom sein kann. .

Würde nun der Beweis geliefert, dafs es einen andern Eudä- monismus nicht gäbe als den egoistischen, so wäre allerdings über den Eudämonismus als Moralprinzip der Stab gebrochen, und E. v. H. hätte recht, dafs die Behauptung einer echten Moral der unechten des Eudämonismus gegenüber grundlos sei.

Allein jener Beweis ist meines Wissens nie von jemandem erbracht, ja wohl nicht einmal zu erbringen versucht worden. Auch ohne denselben hielt man die Sache für ausgemacht, hatte in seinem berechtigten Hasse gegen den falschen Eudämonismus keinen Blick für einen etwaigen richtigen und schüttete so das Kind mit dem Bade aus.

Ich dagegen darf wohl für mich in Anspruch nehmen, nach- gewiesen zu haben, dafs es neben dem unechten, egoistischen Eudämonismus einen echten, sittlichen giebt, der seiner ganzen Natur nach ebenso geeignet ist, das Prinzip einer autonomen Moral zu bilden, wie der andere unbrauchbar sich zeigt.

Von dem eudämonologischen Optimismus behauptet E. v. H. ferner auf Seite 148, dieser sei ebenso untrennbar verknüpft mit Egoismus, Utilitarismus und praktischem Materialismus, wie Pessi- mismus mit Selbstverleugnung und Idealismus. Ich dagegen hoffe gezeigt zu haben, dafs der Eudämonismus, freilich der echte, mit der Sittlichkeit so untrennbar verbunden ist, dafs er/ohne dieselbe nicht bestehen kann, wie anderseits die Sittlichkeit im Eudämonis- mus ihre eigentliche Begründung findet. Und was ich unter Sitt- lichkeit verstehe, möchte ungefähr das Gegenteil von Egoismus, Utilitarismus und praktischem Materialismus sein, wenn ich sie auch nicht für identisch halte mit Selbstverleugnung und Idealis- mus. Welchen Inhalt ich dem Begriffe »Sittlichkeit« gebe, deutete ich oben zu kurz an, um nicht mich verpflichtet zu fühlen, hier noch mit einigen Worten darauf einzugehen. Ich habe die Sitt- lichkeit in den Dienst der Glückseligkeit gestellt und von ihr ver- langt, das gegenseitige Verhalten der Menschen so zu gestalten, dafs aus dem Lebenswege eines jeden die Hemmnisse möglichst

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entfernt, die förderlichen Kräfte zur denkbarsten Entfaltung ge- bracht werden. Das aber setzt bei jedem einzelnen Menschen zweierlei voraus: Vernunft und Wohlwollen. Und diese beiden Stücke, die eigentlich eins sind, bilden denn auch für mich den Inbegriff der Sittlichkeit. Des weiteren habe ich mich an einem anderen Orte darüber ausgesprochen. Wie übrigens der Pessi- mismus v. Hartmanns dazu kommt, mit Selbstverleugnung und Idealismus untrennbar verknüpft zu sein, ist mir nicht zum Ver- ständnisse gelangt.

Indem ich nun zu der Beleuchtung einiger der Stellen über- gehe, in denen K. v. H. seinen eudämonologischen Pessimismus vertritt, möchte ich zuvörderst darauf hinweisen, dafs er in einer seiner Schriften den Versuch gemacht hat, für die Richtigkeit seiner Meinung einen sicheren Gewährsmann zu stellen, und zwar keinen geringeren als Kant, den er djn »Vater des eudämono- logischen Pessimismus* nennt. So wenig Wichtigkeit ich auch diesem Versuche, selbst wenn er gelungen sein sollte, beimessen kann, so sei es mir doch erlaubt, dem Reize nachzugeben und etwas Ähnliches zu unternehmen, Kant frischweg auch für mich zu reklamieren und ihm den Namen beizulegen: ^ Vater des eudä- monologischen Optimismus v. Der Beweis für die Richtigkeit dieses Vorgehens soll mir kaum so schwer werden, als E. v. H. der seinige geworden ist.

Kants Kampf gegen den Eudämonismus hat sich bekanntlich so gestaltet, dafs dieser Philosoph nachgewiesen hat, wie das natürliche Verhalten der Menschen zu einander, der Egoismus, <las Herausfliefsenlassen des Thuns aus den sinnlichen Gelüsten, in sich widersprechend sei. E. v. H. drückt das Seite 146 so aus: »Aller Egoismus, wofern er sieh nur rein und voll auslebt, endet mit seinem eudämonologischen Bankerotte." Dann finden beide wohl ungeteilte Zustimmung. Auch wir haben ja oben ge- sehen, dafs auf diesem Wege der Eudämonismus nicht zum Ziele kommen kann. Wenn nun Kant dem gegenüber vom Menschen ein sittliches Verhalten verlangt, ein Verhalten, bei welchem das Thun durch den vernünftigen Willen veranlafst wird, so hat er damit nicht mehr, aber auch nicht weniger gethan, als den wich- tigsten Teil des richtigen Weges zur Glückseligkeit angegeben. Und da stellt es sich dann heraus, dafs Kant, der scheinbar gröfste Gegner des Eudämonismus, in Wirklichkeit, freilich »un- bewufst«, Eudämonist gewesen ist. d. h. Gegner des falschen, unsittlichen, Anhänger des richtigen, sittlichen Eudämonismus. Und von hier aus bekommt nun sein Prinzip der Ethik, der gute Wille, von dem er behauptet, dafs er seinen Wert in sich trage, erst seine tiefe Begründung als des förderlichsten Mittels und Werkzeuges im Dienste des echten Eudämonismus; im besonderen

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werden von hier aus nun erst die beiden Formen seines kate- gorischen Imperativs recht verständlich.

Hinsichtlich der Kernfrage des Pessimismus, der Frage nach dem Leide, läfst sich E. v. H. auf Seite 139 folgendermafsen aus: Das Leid sei an und für sich unentrinnbar; es verändere zwar seine Gestalt, könne aber den Menschen nicht verlassen, solange er lebe; eine positive Glückseligkeit sei dem Menschen auch unter * den denkbar günstigsten Umständen unerreichbar.

Zunächst fällt mir bei diesen Worten die eigentümliche Scheidung ein, die E. v. H. Seite 131 innerhalb des Leides vor- nimmt. Er kennt nämlich dort ein teleologisch notwendiges und ein abstellbares Leid. Ich stehe dieser Einteilung ratlos gegen- über, wie folgende Fragen andeuten mögen : 1 . Darf das Leid als ^an und für sich unentrinnbar« bezeichnet werden, wenn ein »breiter Betrag« desselben als abstellbar anerkannt wird? 2. Welches Leid ist teleologisch notwendig, welches abstellbar? 3. >Kann< oder >darf« das teleologisch notwendige Leid nicht abgestellt werden? Im ersteren Falle: 4. Warum kann es nicht abgestellt werden, da es doch abstellbares Leid giebt? Worin liegt der spezifische Unterschied? Im anderen Falle: 5. Warum darf es nicht abgestellt werden, wenn die Möglichkeit dazu vorliegt, da doch auf diesem Wege die Glückseligkeit zu erreichen wäre?

Sodann wird hier der Ort sein, zu erwähnen, dafs E. v. H. bei seiner Behandlung der Leidfrage insofern nicht ausführlich genug zuwerke gegangen ist, als er im wesentlichen nur die Menge des Leides inbetracht gezogen hat, nicht aber die innere Natur desselben. Und das kommt daher, dafs er die subjektive Stellung des Menschen zu dem, was man Leid nennt, nicht ge- hörig würdigte. Wie der Eindruck eines Geschehnisses wesent- lich abhängig ist von der persönlichen Stellung des Menschen zu dem letzteren, habe ich oben dargelegt. Ebenso deutete ich an, wie der von irgend einer Idee begeisterte Mensch mit Freuden die Mühsale auf sich nimmt, welche vor der Verwirklichung dieser Idee überwunden werden müssen. Gewifs hatte der Professor Lazarus recht, wenn er auf der Magdeburger Versammlung sagte: «Es giebt einzelne Momente im Leben, welche von einer so er- habenen uhd gediegenen Wcrtfülle sind, dafs sie viele Jahre des Leides aufwiegen können ; ja es giebt einzelne Gesinnungs- momente, vermöge deren ein Mensch alles Leid der Welt auf sich nehmen möchte und sich vollkommen beglückt fühlt.« »

Eingehend endlich auf die zitierten Worte von der »Unent- rinnbarkeit* des Leides, mufs ich wiederholen, dafs es mit der Möglichkeit, dem Leide zu entrinnen, lange nicht so schlimm steht, wie es nach den Worten E. v. H.s scheinen könnte. Da nun die von mir nach dieser Seite hin angestellten Erörterungen zu nahe liegen, als dafs nicht angenommen werden müfste, dieselben

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wären auch von E. v. H. in Rücksicht gezogen worden, so drängt sich die Frage auf: Woher das wesentlich andere Ergebnis?

Ich glaube den Grund dafür und somit für die ganze merk- würdige Stellung E. v. H.s zu erkennen. Er liegt in einem Rechenfehler, und zwar insofern, als E. v. H. bei der Frage nach dem Glücke 'geradezu ausschliefslich das Leid inbetracht zieht. Für ihn ist von Glück erst dann die Rede, wenn das Leid voll- ständig verschwunden ist. Es besteht nur in der Leidlosigkeit, hat also lediglich negativen Charakter. Von diesem Standpunkte aus will das Wort beurteilt und verstanden sein: »Eine positive Glückseligkeit ist dem Menschen auch unter den denkbar glück- lichsten Umständen unerreichbar.« Eine wahrhaft trostlose An- und Aussicht ! Wäre sie berechtigt, so müfsten wir alle unrettbar und unweigerlich dem Pessimismus verfallen, aus dem herauszu- ziehen wahrscheinlich keinem Optimismus irgend welcher Art, und wäre es der Hartmannsche evolutionistische, gelingen würde. Aber glücklicherweise ist sie eben ein Fehler.

Hat denn E. v. H. nie etwas von glücklichen Menschen ge- hört? Da ist ja Glück, positives Glück! Will er etwa behaupten, dasselbe beruhe auf Täuschung, auf nichts als auf Täuchung? Sieht er denn nicht im Menschenleben neben dem Hinderlichen auch die Menge des dieses Leben positiv Fördernden, das sowohl durch die Naturkräfte, als ganz besonders durch die Macht, welche das sittliche Verhalten der Menschen zu einander erzeugt, dar- geboten wird ? Wahrscheinlich nicht. Denn sähe er es, er würde merken, dafs bei der Glückesrechnung nicht der Ansatz (+ o) (+ y) richtig ist, sondern allein der: (-}- x) (-f- y)*)- Und von diesem würde er gewifs nicht behaupten, dafs sich unter allen Umständen eine Minusgröfse ergäbe. Zeitweilig bei den einzelnen Menschen wird dies zwar oft der Fall sein; nun, dafür kommen andere Zeiten, in denen die Rechnung das entgegengesetzte Resultat ergiebt. Im Durchschnitte des einzelnen Menschenlebens mag es hier und da vorkommen ; stofsen einem doch Menschen auf, die vom Unglücke verfolgt scheinen. Für den Durchschnitt des Lebens der Menschheit im allgemeinen gilt es sicher nicht oder braucht es wenigstens, recht angesehen (s. nächst. Abschn.), nicht zu gelten. Und dann vergessen wir doch nicht, dafs die Menschheit von heute und morgen noch nicht auf der Höhe der Entwickelung steht ! Letztere aber ist doppeltwirkend. Mit der Verminderung des Leides geht Hand in Hand eine positive Ver- mehrung der Freude, des Glückes. Und deshalb dürfen wir ver- trauensvoll in die Zukunft blicken. Das Ziel der Entwickelung

*) x = Summe des Fördernden, y = Summe des Hinderlichen.

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unseres Geschlechtes liegt nicht unter Null, auch nicht bei Null sondern stellt eine gewichtige positive Zahl dar.

Freilich bezüglich der Entwickelung ist E. v. H. wieder ganz anderer Ansicht als ich. Er giebt letzterer in der Form Ausdruck (S. 130): > Aller Fortschritt, auch wenn er gewisse Arten des Leides abstellt, mufs immer und unvermeidlich mit Steigerung der Unlust im Ganzen bezahlt werden.« Bei diesen Worten läuft E. v. H. ein weiterer Fehler unter, indem der Begriff > Fortschritt«, sowie der mit diesem zusammenhängende > Kultur« als mit un- richtigem Inhalte erfüllt sich zeigt.

Ich will zunächst darthun, was ich unter Fortschritt und Kultur verstehe, und dann das dagegen halten, was E. v. H. so nennt.

Nur das Schreiten vermag ich als ein Fortschreiten anzusehen, das den Menschen weiter bringt auf dem Wege zu seinem Lebens- ziele, der Glückseligkeit. Es ist uns auch dasjenige schon be- kannt geworden, was allein geeignet sich zeigt, den Menschen diesen Pfad zu führen : bezüglich der Naturverhältnisse vermehrte Kenntnis und praktische Tüchtigkeit, sowie hinsichtlich des Ver- hältnisses zu unseren Mitmenschen vermehrte Sittlichkeit. »Klüger, tüchtiger und besser werden* ist mithin nach meiner Auffassung der eigentliche Inbegriff des > Fortschrittes«, »klug, tüchtig und gut sein« der richtige Inhalt des Wortes >Kultur«.

Halten wir also fest, dafs dieser Inhalt ausschlicfslich dem Gebiete des Seins in dem von mir oben entwickelten Sinne ent- nommen ist. Es erhellt sofort, dals es als eine ganz irrige An- sicht bezeichnet werden mufs, diese echte Kultur wirke unlust- steigernd ; sie vermehre die Bedürfnisse des Menschen, mache ihn unzufrieden und sei nicht imstande, ihn zum Glücke zu führen, weil sie für ein befriedigtes Bedürfnis sofort zehn noch zu be- friedigende darbiete, ja dafs nur ein Zurückkehren zu primitiven Zuständen vermöge Abhilfe zu schaffen.

Was E. v. II. im Auge hat, wenn er die soeben berührten Gedanken ausspricht, ist etwas ganz anderes. Für ihn ist nicht die Erleichterung der Lebensführung in der von mir bezeichneten Weise Fortschritt, sondern die Vermehrung des Lebensgenusses. Er sucht also die Kultur ganz in der Art des alten Eudämonis- mus auf dem Gebiete des Habens und darf sich dann freilich nicht wundern, wenn ihn das Gefundene nicht befriedigt. Aber er soll das, was er auszusetzen hat, nicht der Kultur, sondern seinem Irrtume in die Schuhe schieben. Unkultur ist nicht Kultur, wie ein Stein kein Brot ist. Wer aber den Stein für Brot hält, der ist nicht geschickt, den Nährwert des Brotes zu beurteilen. Nein; jede Stufe der wirklichen, echten Kultur ist ganz sicher eine Etappe zur vollen, d. h. überhaupt möglichen Glückseligkeit hin

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und jedes Zurückschrauben derselben ebenso sicher ein Rückschritt auch in eudämonistischer Beziehung.

Ich türchte nicht, hier Widerspruch zu finden. Wer nur ein- mal das erhebende Gefühl kennen gelernt hat, das vermehrtes Wissen und Können mit sich führt, und ganz besonders das be- seligende Gefühl, mit welchem die Förderung in der Sittlichkeit die Seele erfüllt, der wird den Gedanken weit von sich weisen, dafs gesteigerte Kultur von einer Steigerung der Unlust im Ganzen begleitet sei. Und wem könnte es in den Sinn kommen, ein Zurückschrauben der Kultur zu empfehlen! Sollte es wirklich jemanden geben, der wünschen könnte, dafs die Menschheit im allgemeinen und er im besonderen auch nur um ein Geringes untüchtiger, unwissender und weniger gut wäre? Gewifs nicht. Nun, dann ist das Hinstreben zur untersten Stufe erst recht un- denkbar. Was zurückgeschraubt, zurückgeschnitten, ja ausgerottet werden mufs, das ist die Unkultur, die Schmarotzerpflanze am edlen Baume.

Durch das soeben Gesagte erhält dann auch folgendes Wort, das ich als letztes in dieser Richtung zitieren will, seine richtige Beleuchtung: »Die erhöhte Bildung rüstet die Menschen nur mit mehr Ansprüchen und gesteigerter Intelligenz zu ihrer Befriedigung aus, macht sie blofs noch genufsgieriger, habgieriger und ehr- geiziger« (S. 147). Wir betreffen Ii. v. H. hier wieder auf einem Irrtume. Was er Bildung nennt, ist nur ein Teil derselben, zwar ein wichtiger, aber nicht der wichtigste, die Bildung des Kopfes, die allerdings bei fehlender Bildung des Herzens, will sagen bei mangelnder Sittlichkeit, naturgemäfs zu einem » Abgewitztsein auf den eigenen Vorteil« wird, wie Kant sagt. Aber wer hält denn den Teil für das Ganze! Hätte E. v. H. jenes wichtigste Stück der Bildung, eben die Sittlichkeit, nicht übersehen, so würde er anders geredet haben. Wie nötig die Bildung, natürlich die ganze, ungeteilte, die Bildung des Kopfes, der Hand und des Herzens, dem Menschen ist und wie segensreich sie wirkt, möchte auch dem blödesten Auge klar sein. Sie ist es, sie allein, die den wirklichen Kulturfortschritt ermöglicht bezw. repräsentiert.

5. Bekanntlich vergesellschaftet sich bei E. v. H. mit dem eudämonologischen Pessimismus eine zweite Lebensauffassung, welche dieser durchaus heterogen ist, der evolutionistische Opti- mismus.

Fragen wir uns zunächst, ob eine solche Vergesellschaftung theoretisch möglich und praktisch durchführbar sei.

Sie kann es meines Erachtens nur unter einer Bedingung sein, unter der, dafs der eudämonologische Pessimismus lediglich als Negation seines Gegenteils, des eudämonologischen Optimismus, auftritt. Es liegt dann nur jener allgemein gekannte Fall vor, dafs von zwei inbetracht kommenden Wegen aus bestimmten

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Gründen der eine (hier der evolutionistische Optimismus) gewählt, der andere (hier der eudämonologische Optimismus) gemieden wird. Genau gerechnet, dürfte man dann freilich nicht von einer Vergesellschaftung reden.

So Hegt indes die Sache bei E. v. H. nicht. Für ihn ist auch der eudämonologische Pessimismus eine Position, die sich mit dem evolutionistischen Optimismus verschwistert zu gemein- samem Wirken. Bei ihm handelt es sich also nicht um das Be- urteilen des Lebenswertes von dem Standpunkte des evolutio- nistischen Optimismus und somit nicht von dem des eudämono- logischen Optimismus, von welchem Falle wir bereits redeten. Es handelt sich auch nicht um die Beurteilung jenes Wertes ein- mal vom Standpunkte des eudämonologischen Pessimismus, das andere Mal von dem des evolutionistischen Optimismus; das wäre noch denk- und ausführbar, gerade wie wenn man von jenen zwei inbetracht kommenden Wegen jetzt diesen, nachher den anderen benutzte, und man würde dann E. v. H. nur den Vorwurf machen dürfen, dafs seine Anschauung keine einheitliche sei. Nein; es kommt bei E. v. H. auf das gleichzeitige Einnehmen von zwei Standpunkten der Beurteilung an; das aber ist ebenso unmöglich, wie gleichzeitig zweien Herren zu dienen, gleichzeitig zwei Wege zu gehen. Die Lebensanschauung E. v. H.s ist also nicht allein keine einheitliche, sondern auch eine theoretisch un- denk-, sowie praktisch undurchführbare.

Wir sehen denn auch in seinen Ausführungen, dafs er that- sächlich die Unmöglichkeit nicht überwindet. Er täuscht sich, wenn er meint, dafs er auf dem Boden des eudämonologischen Pessimismus stehe und den evolutionistischen Optimismus nur als »Ergänzung« dieser seiner eigentlichen Position verwende. Bei Licht besehen, erweist sich auch für ihn nur der evolutionistische Optismismus als tauglich, der eudämonologische Pessimismus aber als unverwendbar. E. v. H. ist in Wirklichkeit nichts weiter als evolutionistischer Optimist, woraus ja schon von selbst folgt, dafs er sich bezüglich aller konkurrierenden Anschauungen pessimistisch verhalten mufs. Bei allem, was er vom eudämonologischen Pessi- mismus als einer positiv wirkenden Lebensauffassung zu sagen weifs, leuchtet immer seine eigentliche Stellung hindurch. Den bezeichnendsten Beleg hierfür liefert wohl das Wort auf Seite 132, auf das ich soeben anspielte: Der Mangel eines evolutionistischen Optimismus lähme die Frische und Thatkraft des Menschen; des- halb fordere der eudämonologische Pessimismus den evolutio- nistischen Optimismus als seine Ergänzung. Das heifst doch wohl nichts anderes als: »Der eudämonologische Pessimismus läfst mich bezüglich dessen, was er leisten soll, im Stiche, und ich wende mich deshalb zu einer leistungsfähigen Anschauung, dem evolutio- nistischen Optimismus. «

P&dAfOgUche Studien. U. 6

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Fragen wir sodann nach dem Ausweise des evolutionistischen Optimismus als einer brauchbaren Lebensanschauung.

Wie ich zu dieser Frage stehe, darauf möchten schon die vorangehenden Worte hingewiesen haben. Doch mag zu genauerer Kennzeichnung meiner Stellung noch Folgendes gesagt sein.

Was den Fortschritt an sich betrifft, so ist er dem mensch- lichen Leben, solange es noch nicht zu seinem Ziele gekommen ist, so unbedingt nötig, dafs dieses ohne jenen nicht bestehen kann. Wo der Fortschritt mangelt, da tritt unfehlbar der Rück- schritt ein; denn Stillstand giebt es nicht. Und dieser Rückschritt endet mit dem Herabgesunkensein auf das Niveau des tierischen Lebens und so mit der Aufhebung des menschlichen. Wer also den Fortschritt aus dem menschlichen Leben herausnimmt, der entzieht dem letzteren die Sonne, die mit ihrer Wärme und ihrem Lichte das Leben erst möglich macht und ohne welche alles in Totenstarre versinken mufs.

Daraus folgt, dafs jede Beurteilung des menschlichen Lebens mit diesem Faktor rechnen mufs. Eine Auffassung jenes Lebens, welche sich indifferent oder gar negierend gegen das Moment des Fortschrittes verhält, ist von vorn herein gerichtet. Wie hierdurch jeder Pessimismus auch von dieser Seite her seine Verurteilung erfährt, so ergiebt sich für den evolutionistischen Optimismus, dafs er nicht allein eine brauchbare, sondern eine durchaus not- wendige Lebensanschauung ist. Ich befinde mich also in diesem Punkte mit E. v. H. in Übereinstimmung, was ich der Seltenheit wegen besonders hervorzuheben mir erlaube. Freilich bin ich ge- zwungen, beim nächsten Schritte mich wieder von ihm abzu- wenden.

Mir kommt in Erinnerung das Wort von der Steigerung der Unlust, die mit der Erreichung jeder weiteren Stufe des Fort- schrittes verbunden sein soll, und da drängt sich mir die Über- zeugung auf, dafs ein solcher Fortschritt sich selbst verneinen müfste ; denn die Steigerung der Unlust wird schliefslich auch den Willen zum Fortschreiten ertöten. Wenn E. v. H. annimmt (S. 132), dafs der Glaube an die Besserung der Glückslagc durch den jeweilig erstrebten Kulturfortschritt nicht eher enttäuscht werde, als bis die neue Errungenschaft gesichert sei, dafs also der Fortschritt in eudämonistischer Beziehung ein fortwährendes Hinters- Licht-geführt-werden darstelle, so" läfst sich dem entgegenhalten, dafs erwicsenermafsen die Menschen nicht so thöricht sind, wie uns dies E. v. H. glauben machen möchte. Einmal, zweimal mag so etwas geschehen. Dann aber wird man des Irrtums gewahr geworden sein und das Fortschreiten hübsch lassen, das einem vermehrte Unlust bringt, die zu erstreben keinem einfällt und zu deren Erstrebung niemand verpflichtet werden kann. Man sieht, die unglückliche Verqnickung des evolutionistischen Opti-

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mismus mit dem unhaltbaren eudämonologischen Pessimismus bei E. v. H. zieht ihre Kreise weiter: Der ungeratene Bruder er- schlägt den wohl geratenen, der ihm auf die Beine helfen soll.

Ich dagegen habe nicht nötig, meine Lebensanschauung, den eudämonistischen Optimismus neuer Fassung, mit irgend einer andern zu verbinden, um etwas Brauchbares zu bekommen. Der eudämonistische Optimismus, wie ich ihn verstehe, enthält schon ganz von selbst den evolutionistischen Optimismus, und zwar als so integrierenden Bestandteil, dafs mit der Entfernung des letzteren der erstere haltlos in sich zusammenfiele. Anderseits findet der letztere in dem ersteren so ausschliefslich seinen Nährboden, dafs mit der Ausscheidung des ersteren der letztere ohne Stütze zu Boden sinken und verkommen würde. Meine Lebensauffassung erweist sich mithin als eine vollkommen einheitliche und fest gefügte.

6. Jetzt bin ich soweit gelangt, mich der Beantwortung der Frage zuwenden zu können, die E. v. H. als Überschrift über seinen uns hier beschäftigenden Aufsatz gestellt hat: »Kann der Pessimismus erziehlich wirken?«

Sollte etwa jemand dieser Frage gegenüber vermuten, E. v. H. habe, wie sich das wohl hätte erwarten lassen, bestimmte Vor- schläge über die Gestaltung der Erziehung im Zeichen seines eudämonologischen Pessimismus gemacht, so irrt er sich. Nur allgemeine Andeutungen finden wir, die weder imstande sind, ein erkennbares Bild jener Gestaltung zu liefern, noch auch geeignet sich zeigen, die Überzeugung davon zu erwecken, dafs E. v. H. auf dem Gebiete der Erziehung zuhause sei. Denn wenn er z. B. Seite 133 sagt : Eine optimistische Pädagogik, welche von der Über- zeugung ausgehe, dafs das Leben ein hohes Gut sei und dafs sein Besitz an sich schon eine positive Glückseligkeit verleihe, werde unbedenklich mit strengen Erziehungsmafsregcln und harten Strafen ihre Zwecke verfolgen, weil sie nicht daran zweifele, dafs die Glückseligkeit des Lebens trotz der durch diese Erziehungs- mittel zugefügten Unlust den Zöglingen einen hinreichenden Lust- überschufs lasse. Eine pessimistische Pädagogik, welche das Leben ohnehin als ein überwiegend leidvolles betrachte, werde Bedenken tragen müssen, zu den vielen unvermeidlichen Übeln noch neue hinzuzufügen, so vermögen dem kundigen Erzieher, der seine erzieherischen Mafsnahmen nach ganz anderen Gesichtspunkten zu treffen gewohnt ist, solche Worte nur ein Lächeln abgewinnen.

Ich habe mich also lediglich mit dem eudämonologischen Pessimismus als dem seitens E. v. H.s empfohlenen neuen Prin- zipe der Erziehung auseinanderzusetzen.

Dabei werde ich mich unter Berücksichtigung des Voran- gehenden kurz fassen dürfen. Wie meine Antwort auf die obige Frage ausfallen mufs, darüber befindet sich wohl niemand im Zweifel.

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Der Pessimismus E. v. H.s, welcher, wie wir gesehen haben, als Lebensauflfassung einer haltbaren Begründung entbehrt und zudem als vollständig unbrauchbar sich erweist, kann selbstver- ständlich bei der Erziehung schon um deswillen in keiner Weise Berücksichtigung finden.

Bedenken wir ferner, wie geradezu feindlich der Pessimismus zu allem Fortschritte und somit zu aller Bildung, aller Kultur sich stellt, so liegt auf der Hand, dafs die Erziehung diese Lebens- anschauung mit allen Kräften von sich tern zu halten bemüht sein mufs.

Ich befinde mich da zum zweiten Male mit E. v. H. in Über- einstimmung. Auch für ihn ist ja der Pessimismus das allem Fortschritte feindliche Prinzip. Als Beweis für diesen über- raschenden Umstand steht sein uns schon bekanntes Wort da: Der Mangel eines evolutionistischen Optimismus lähme die Frische und Thatkraft des Menschen. Dasjenige aber, was so recht als der Inbegriff dieses Mangels auftritt, was seiner innersten Natur nach die Frische und Thatkraft des Menschen zu lähmen bestimmt zu sein scheint, ist eben der eudämonologische Pessimismus v. Hartmanns.

Wozu mag dann aber E. v. H. jene Frage nach der Erzieher- fähigkeit des eudämonologischen Pessimismus gestellt und sich zudem mit einer bejahenden Beantwortung derselben abgemüht haben, wenn er selbst sich den Boden unter den Füfsen weg- ziehen wollte? Ich weifs es nicht.

Meine Aufgabe ist nur, mit aller Entschiede nhe it zu betonen. Der Pessimismus kann nicht erziehlich wirken; er verhält sich auch nicht etwa indifferent, sondern direkt feindlich gegen die Erziehung, und deshalb haben Pessimismus und Erziehung keinerlei Gemein- schaft mit einander.

7. Dann bleibt mir noch eins zu thun übrig. Wenn ich oben sagte, der Nachweis dafür wurde noch erbracht werden müssen, ob es möglich sei, bei dem hier zu Leistenden die Hilfe der Spekulation zu entbehren, so ist jetzt die Zeit gekommen, diesen Nachweis zu liefern. Es liegt mir also noch ob, meine Lcbens- anschauung als Prinzip der Erziehung zu prüfen und die Frage zur Beantwortung zu bringen : Kann der eudämonistische Optimis- mus, wie ich ihn lehre, erziehlich wirken?

Wer wollte darauf nicht mit einem überzeugungsvollen, fröh- lichen »Ja< antworten, wenn er auch nur einen kurzen Rückblick auf das Vorgeführte geworfen hat! Und ich füge hinzu: Der eudä- monistische Optimismus wirkt nicht nur so obenhin gesagt erzieh- lich vielleicht neben manchem andern, von dem man dasselbe sagen könnte. Nein; er allein ist es, welcher der Erziehung Ziel

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und Wege so sicher und umfassend angiebt, dafs neben ihm nichts weiter zu Worte zu kommen braucht und vermag. Das bedarf einer Begründung.

Die Erziehung im weiteren Sinne ist die Einwirkung auf die Menschheit zu dem Zwecke, sie ihrem Entwickelungsziele näher zu bringen, im engeren Sinne die Einwirkung auf die Jugend in der Absicht, dieselbe in wenig Jahren annähernd auf die Höhe der Kultur zu heben, bis zu welcher die Menschheit während der langen Zeit ihres Lebens in den einzelnen Kulturschichten gelangt ist. Aus dem letzteren folgt, dafs Kulturentwickelung und Er- ziehung Ziel und Weg zu diesem Ziele gemeinsam haben müssen.

Hieran läfst sich nun ersehen, ob beides klar erkannt ist und in den richtigen Bahnen läuft. Der Begriff der Kultur wird richtig gefafst sein, wenn letztere der Erziehung ein würdiges, erstrebens- wertes Ziel bietet. Die Erziehung wird die richtigen Mittel wählen, wenn diese den Entwickelungsmitteln der Kultur gleichartig und imstande sind, auf geradem Wege zu jenem Ziele zu führen.

Legen wir diesen Mafsstab an den eudämonistischen Optimis- mus, immer selbstverständlich an den, welchen ich vertrete.

Dieser sucht das Entwickelungsziel der Menschheit in der Glückseligkeit derselben. Ist dieses auch für die planmäfsige Er- ziehung ein würdiges und erstrebenswertes Ziel? Es läfst sich nach meinem Urteile etwas Schöneres und Herrlicheres nicht er- denken. Wird in dieser Form das Ziel umfassend angegeben, oder kann man sich etwas vorstellen, was neben demselben er- strebenswert wäre? Mir wenigstens ist dies nicht möglich. Bieten ferner die für den Kulturfortschritt bezeichneten Wege auch für die Erziehung die richtigen Bahnen dar? Für mich liegt der Kulturfortschritt darin, dafs die Menschen in der Sittlichkeit, im Wissen und im Können immer tüchtiger werden, weil dieses die Bedingungen der Glückseligkeit sind, wie wir oben gesehen haben. Eine Erziehung also, die sich diesen Prinzipien anbe- quemte, müfste darauf ihr Absehen richten, ihre Zöglinge zu guten, kenntnisreichen, körperlich und geistig starken und ge- wandten Menschen zu machen. Ob diese Erziehung in den rich- tigen Bahnen laufen würde? Ich höre das überzeugungsvolle, fröhliche »Ja«, auf welches ich oben rechnete.

Glücklicherweise nun ist es gar nicht nötig, die Erziehung nach diesen Prinzipien zu reformieren, nicht die Erziehung im weiteren Sinne denn der in meinen Augen berufenste Erzieher, der Staat, betrachtet als Ziel seines Wirkens einzig und allein, seinen Bürgern das Glück zu bringen, und sucht dies ganz im Sinne des wahren eudämonistischen Optimismus auf dem Wege zu erreichen, dafs er durch seine Veranstaltungen die ihm Ange- hörigen sittlich tüchtig, kenntnisreich, sowie körperlich stark und gewandt zu machen strebt, auch nicht die Erziehung im engeren

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Sinne, wenigstens soweit die Schulerziehung inbetracht kommt denn das Wissen und Können erstrebte schon die alte Lern- schule; die sittliche Erstarkung und seelische Tüchtigkeit schreibt die besonders durch Pädagogen Herbartscher Richtung ins Leben gerufene Erziehungschule auf ihre Fahnen, und in der neuesten Gestaltung dieser Schule ist man nun auch bemüht, der Vervoll- kommnung in körperlicher Kralt und Gewandtheit, sowie im prak- tischen Können einen breiteren Raum zu gewähren.

Kann ich also für mich nicht das Verdienst in Anspruch nehmen, der Erziehung neue Wege zu zeigen, so doch vielleicht jenes, zu den mit klarem Blicke von der Erziehung betretenen richtigen Bahnen im sittlichen Eudämonismus das wahre Prinzip aufgezeigt zu haben. Und damit möchte dann auch der Beweis der vollständigen Zulänglichkeit dieser Lebens- anschauung geliefert sein.

B. Mitteilungen. I. Der Philosoph Johann Friedrich Herbart.*)

Von Professor Dr. H. Steinthal in Berlin.

Ja wohl, für einen Philosophen, der vor nunmehr 50 Jahren, den 14. August 1841, aus der Zeitlichkeit geschieden ist, wage ich es, die Auf- merksamkeit des Lesers in Anspruch zu nehmen. Ich weifs es, wie un- günstig gegenwärtig die Stimmung der deutschen Gelehrten gegen die Philosophie der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ist; wie dieselbe teils verachtet, teils gehafst wird. Vielleicht aber haben diejenigen Recht, welche im deutschen Nationalgeist schon Zeichen eines Umschwunges zu erkennen glauben, und welche eine Neubelebung des deutschen Idealismus als nahe bevorstehend erwarten.

Als meine Meinung oder Hoffnung ab^er, oder als meinen Wunsch will ich gleich am Anfang aussprechen, dafs, wenn die erwartete Sinnesänderung eintreten wird, dann nicht wieder die nächste Vergangenheit völlig ver- leugnet und dafür eine entgegengesetzte ältere Anschauungsweise gepflegt, sondern die wahrhaften Ergebnisse früherer und späterer Zeiten zusammen- gefaßt und fortentwickelt werden mögen; dafs die Jugend nicht wieder in üblicher Unart kurzweg spreche: nicht so, wie unsere Eltern, sondern ent- gegengesetzt; dafs sie vielmehr in gründlicher Kritik den Grundsatz be- thätige: Prüfet alles und behaltet das Beste, d. h nicht das Beste von allem, sondern das Beste in allem; behaltet alles, insofern Gutes darin ist

*) Avt lum Beiblatt xum Berliner Ta^ebUtt : Der Zeitgeist, 18«! No. 33.

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Und in Herbart ist viel Gutes. Sein gröfstcs Verdienst, das ich vor- anstellen mufs, ist dies, dafs er die Psychologie begründet hat. Wenn hiermit allerdings behauptet wird, dafs man in den früheren Jahr- hunderten eine Wissenschaft, welche den Namen Psychologie verdient hätte, noch gar nicht gekannt habe, dafs sich nur hier und da und nicht gerade immer bei den berühmtesten Denkern einzelne glückliche psychologische Lichtstrahlen finden: so dürfte ich hiergegen kaum Widerspruch zu fürchten haben. Eher dürfte bestritten werden, dafs Herbart wirklich der Schöpfer der Psychologie sei.

Dieser Zweig der Wissenschaft gehörte früher zur Philosophie; und wie nun jeder Philosoph oder jede philosophische Schule ihre Metaphysik, ihre Ethik u. s. w. hatte, so hatte sie auch ihre Psychologie, welche von den anderen Schulen nicht anerkannt werden konnte. Was dies besagen will, kann man sich leicht vorstellen. Kein Physiker oder Mathematiker schafft und lehrt seine Physik, seine Mathematik, sondern er arbeitet an der Physik, d. h. an der Physik aller, an der einzigen, welche Aufgabe des menschlichen Erkennens ist, und deren Sätze, wenn sie richtig sind, oder insofern sie deren Autor dafür galten, auch von allen anderen Physikern dafür anerkannt werden sollen und müssen. Erst dann ist eine Disziplin geboren, wenn sie dahin gediehen ist, dafs ein Grundstock von Lehrsätzen, welche sie aufstellt, von allen angenommen wird, die sich um sie bemühen, und wenn diese Männer im Eifer ihre Wissenschaft zu fördern, einander in die Hände arbeiten, sodafs der Eine da beginnen kann, wo der Andere aufgehört hat; wenn also der glückliche Fund des Einen von allen als glück- lich gepriesen wird.

Gerade so aber verhält es sich mit der Psychologie, seitdem Herbart ihr die Grundlage gegeben hat. Er hat diese geschaffen nicht für sich und seine Schule; sondern wer auch immer diese Wissenschaft betreibt oder in Zukunft betreiben wird, mufs sich auf den Boden stellen, den Herbart derselben bereitet hat, und ist dann sicher, dafs sein Anbau nach den Grundsätzen geprüft werde, nach denen er selbst verfahren ist. Wie also jemand, der von der Mathematik eines Pythagoras oder Thaies berichtet, ewig geltende Wahrheit darlegt, wie weit sich auch seit jenen Männern Mathematik und Astronomie entwickelt haben mögen: so legt auch, wer von Herbarts Psychologie berichtet, die unumstöfslichen Prinzipien der Psychologie dar.

Von allem was geworden ist, gilt, dafs es nicht aus nichts, sondern aus etwas geworden ist, aber aus etwas ganz anderem, als nun das neu Entstandene sich zeigt. So ist auch die Psychologie in Herbarts Geist aus der ganz unpsychologischen Metaphysik seines Lehrers Fichte erwachsen. Das von Fichte gestaltete Problem des eine Aufsenwelt setzenden Ich (ein Problem, welches seine Zeitgenossen in eine der heutigen Welt ganz unbe- greifliche Aufregung versetzte) veranlafste Herbart zu der Frage: und was st denn dieses Ich? und führte ihn weiter zu einer Zersetzung aller dahin einschlägigen Begriffe. So ergab sich ihm für das Ich, dafs dasselbe nichts anderes sei, als die Beziehung der vielen Vorstellungen einer Person zu

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einem einheitlichen Bewufstsein. Es ist weder eine Substanz noch eine Kraft ; sondern, dafs jemand weifs, er denke und wolle, was er gestern ge- dacht und gewollt hat, oder auch er denke und wolle heute anders als gestern; dafs jemand weifs, er besitze jetzt, was er in vergangenen Tagen erworben habe, oder auch er besitze es nicht mehr, weil er es verloren habe; kurz, dafs jemand weifs, wie er war, und so^ar hofft, wie er sein werde dies ist sein Ich.

Dies führte nun weiter zur Ansicht von einer Welt von Vorstellungen, welche im Bewufstsein eines Menschen leben, und welche sich hier nach eigentümlichen mechanischen Gesetzen gegen einander bewegen. Was wir Verstand, Phantasie u. s. w. nennen, sind nicht Kräfte und Mächte, welche Gebilde verschiedener Art schaffen; es sind nicht gesonderte Fähigkeiten der Seele, Erkenntnisse und Gedanken solcher Art zu schaffen; sondern es sind nur die mannigfachen Formen oder Weisen, wie sich Vorstellungen mit einander verbinden.

Niemand glaubt heute noch, dafs es in der Natur eine besondere Kraft gebe, Lebenskraft geheifsen, welche die lebenden Wesen schaffe und erhalte, indem sie sich die leblosen Stoffe eigenmächtig unterwerfe. Die Naturforscher haben vielmehr gezeigt, dafs das Leben schliefslich ein Er- zeugnis derselben Stoffe und Kräfte ist, welche sich auch in der leblosen Natur wirksam zeigen, nur dafs dieselben, um Leben hervorzubringen in gewissen Mafsen und in gewisser Weise mit einander verbunden sein und in einem System von Wechselwirkung stehen müssen. Längst aber, bevor es den Naturforschern gelungen war, die falsche Annahme einer Lebens- kraft zu verbannen, hatte Herbart erkannt, dafs Vernunft, Verstand, Ur- teilskraft u. s. w. nicht Kräfte seien, welche den Menschen vernünftig, ver- ständig u. s. w. machen, so wenig die Lebenskraft lebendig macht ; sondern es ist eine gewisse Beziehungsform und Verbindung der Vorstellungen, deren Ergebnisse, uns vernünftig, verständig erscheinen, und, was die Hauptsache ist, Ergehnisse welche zu Strebungen, Willen geworden, sich als fähig er- wiesen, sich in der Natur durch Praxis zu verkörpern.

Um zu solcher Erkenntnis zu gelangen, war es denn nötig, wie der Chemiker die Natur -Körper in Elemente zerlegt, der Physiker die Natur- Ereignisse auf einfachste Gesetze zurückführt, so auch das ausgebildete Bewufstsein der Menschen aus den ursprünglichsten Gebilden zusammen- zusetzen und entstehen zu lassen. So erwies sich die Vorstellung vom Ich auf den verschiedenen Stufen der geistigen Entwickelung und nach der Eigenheit der Charaktere von sehr verschiedenem Gehalt; und wie das Ich, ergaben sich alle Kategorien der Metaphysik und Logik, wie Ding und Eigenschaft, Substanz und Accidens, Ursach und Wirkung, auch Zeit und Raum, nicht als eine fertige, der Seele angeborene Mitgift, sondern als in der Geschichte der Menschheit und im einzelnen Menschen erzeugte Formen der Vorstellungs-Bewegungen.

So ist die Psychologie, wie Herbart sie gegründet hat, ganz unab- hängig von seiner Metaphysik und hat nicht mehr Voraussetzungen als die Physik und als sich durch die Thatsachen in jedem Augenblick bestätigen

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lassen; sie ist eine wirkliche empirische Wissenschaft. Der Sache wegen mufs ich hinzufügen, dafs dieselbe durch die Bemühungen der Physiologen nach unten hin eine wertvolle, notwendige Ergänzung gefunden hat in der Theorie der Siunes-Empfindungen und der sinnlichen Wahrnehmungen, kurz in dem, was mit Recht physiologische Psychologie genannt wird. Auf diesem Gebiete ist die Thätigkeit des Bewufstseins so sehr von den Funk- tionen der Nerven und des Gehirns bedingt, dafs nur die Vereinigung von Physiologie und Psychologie die hier gestellten Aufgaben zu lösen vermag. Dafs hier auch das Experiment zur Mitwirkung herangezogen wird, genau so wie es in der Physik und Physiologie überhaupt geschehen mufs, ist selbstverständlich. Dafs z. B. der eigentümliche Klang, welcher bei dem Violinspiel ein anderer als beim Flötenspiel u. s. w. ist, durch die Zu- sammenfassung einfacher (Ober- und Unter-) Töne im Ohre entsteht, läfst sich nur durch das Experiment erweisen, welches die über- und Unter- Töne gesondert darstellen und zusammenfassen kann. In neuester Zeit aber hat man auch für das der Psychologie ganz besonders angehörende Gebiet der zusammengesetzten Vorstellungen das Experiment zu Hille herangezogen. Ich will diese Bemühungen nicht ohne weiteres verurteilen ; ich will sie als einen Versuch, wie weit man damit kommen mag, gelten lassen. Nur finde ich hier viel jugendlichen Enthusiasmus und jugendliche Überhebung, welche meint, auf die Selbstbeobachtung der Psychologen mit voller Verachtung herabsehen zu können. Doch das Weitere gehört nicht an diesen Ort.

Herbart selbst hat versucht, mathematische Rechnung in ganz eigent- licher Form in die Psychologie einzuführen, und ein Mathematiker von Fach, Drobisch, hat diese Versuche aufgenommen und fortgesetzt. Auch hierüber enthalte ich mich des Urteils. Nur bin ich dem Leser schuldig, zu erwähnen, dafs es Herbart als Ideal vorschwebte: mit derselben Sicher- heit und Bestimmtheit, mit welcher der Astronom die Bewegungen und Stellungen der Gestirne berechnet, psychologisch auch die Bewegungen und Stellungen der Vorstellungen im Bewufstsein zu berechnen. Hatte er sich hier einer täuschenden Hoffnung hingegeben, so war es die Täuschung eines grofsen wissenschaftlichen Sinnes.

Der Leser hat nun wohl gesehen, dafs der Philosoph Herbart, dessen leibliches Leben die Mitte unsres Jahrhunderts nicht erreicht hat, geistig immer noch zur Gegenwart gehört. Dasselbe soll nun ein Blick auf die Pädagogik zeigen, deren eigentliche wissenschaftliche Behandlung geschaffen zu haben ebenfalls ein Verdienst Herbarts ist. Es hat vor ihm verdienst- volle Pädagogen gegeben ; ich will nur an Rousseau und Pestalozzi er- innern, und auch an Niemeyer. Indessen geben diese Männer in ihren Schriften dem Erzieher und Lehrer doch immer nur vortreffliche Rat- schläge und Winke, die aber der theoretischen Begründung entbehren, welche nur die Psychologie geben kann. Die Aufgabe des Erziehers ist ganz analog der des Gärtners. Dies wird vom allgemeinen Bewufstsein schon durch die Worte >Baum-Schule« und >Kinder-Garten« in hinläng- licher Klarheit ausgesprochen. Der Gärtner soll den Pflanzen, die seiner

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Pflege anvertraut sind, die Lebens-Bedingungen, wenn die Natur dieselben versagt, künstlich zuführen, wie Feuchtigkeit, Wärme, die geeignete Erde; der Lehrer mufs den Zögling innerhalb doch verhältnismäfsig nur weniger Jahre in eine Lage setzen, dafs derselbe fähig wird, sich auf das Durch» Schnitts - Mafs der nationalen Bildung zu erheben. Dazu bedarf jener botanischer Kenntnisse, dieser psychologischer Einsicht.

Noch wichtiger aber als der Weg des Unterrichts und der Erziehung ist das Ziel. Ich kann mich nicht enthalten, hier die Rede zu zitieren, die Lazarus auf Herbart bei der Enthüllung des Denkmals in Oldenburg zum too jährigen Geburtstag am 4. Mai 1876 gehalten hat, und in der er ein glänzendes Bild von der Persönlichkeit und den Schöpfungen Herbarts entworfen hat. (Ideale Fragen, 3. Aufl. S. 9): »Psychologie ist die Mutter der Pädagogik. Wenn wir die Gesetze des Geschehens, die Normen des Werdens im innern Leben des Menschen erkennen, dann sind wir auch imstande, die gegebenen Kräfte zu gedeihlicher Entwickelung zu leiten. Aber . . : nicht blofs für den äufseren Nutzen, nicht zum Schein und Schmuck, nicht zur flüchtigen Befriedigung oder herrschenden Überlegen- heit soll gelernt werden, was gelernt wird; sondern aller Unterricht soll einen erziehenden Einflufs üben. Den Charakter zu bilden, den sittlichen Willen zu reinigen und befestigen, das Interesse des Menschen zu er weitern, zu erhöhen und von der Enge und Dürre des Eigenlebens zu be- freien; dem Geiste edle Nahrung und Regsamkeit zu geben, im Gemüt Wärme und Tiefe zu erzeugen; jede Menschenseele durch die Erkenntnis ewiger Wahrheit zu veredeln, aber auch durch die Wahrheit des Ewigen, Unendlichen und Heiligen zu weihen und zu erheben; dies alles hat Herbart als den Gegenstand einer Erziehung erkannt, welche, in sich völlig geeinigt, auf die Bildung des ganzen, sittlichen und selbsttreuen Menschen gerichtet sein soll.«

Dieser Zweck wird der Erziehung von der Ethik diktiert. Hier tritt Herbart in recht auffallender Weise in einen Gegensatz zu der, seine Zeit beherrschenden spinozistischen Richtung. Spinoza giebt in einem Werke als streng zusammengehörende Teile seine Metaphysik und seine Ethik. Diese ist ganz auf jene gebaut. Ein analoger Zusammenhang beider Dis- ziplinen, der nur äufserlich nicht so schroff wie bei Spinoza hervortritt, zeigt sich auch bei Kant und bei Schleiermacher. Herbart hingegen hat die Ethik sowohl von der Methaphysik als auch von der Psychologie strengstens gesondert. Man kann also seine Ethik lesen und beurteilen, annehmen oder verwerten, ohne im mindesten metaphysische oder psycho- logische Fragen zu berühren. Dennoch flielst sie nicht minder aus der- selben Denkweise.

Es ist nämlich Herbart eigentümlich, dafs er sich für seine philo- sophischen Untersuchungen die Probleme von der Erfahrung diktieren läfst. In den Naturwissenschaften wie im gemeinen Leben spricht man von Sein und Werden und Veränderung, von Wesen und Schein, von Ding und Eigenschaft, von Einheit und Vielheit, Verbindung und Trennung, von Raum und Zeit und vom Ich. Man gebraucht diese Ausdrücke ohne jedes

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Bedenken. Soll man aber sagen, was dieselben bedeuten, welche Berech- tigung sie haben, so gerät man in Verlegenheit, und die Verlegenheit wird um so gröfser, je länger und sorgfältiger man über den Inhalt jener Wörter nachdenkt. Diese Schwierigkeiten zu lösen ist die Aufgabe der Metaphysik; diese ist also die Wissenschaft von den Grundbegrifien unseres gewöhn- lichen wie unseres wissenschaftlichen Denkens.

In ganz analoger Weise beginnt Herbart auch die Ethik und, was dazumal besonders auffällig war, zugleich die Ästhetik. Du lobst und du tadelst; du findest eine gewisse That gut, recht, edel, und eine andere böse, unrecht, gemein; du rühmst ein Kunstwerk als schön und verwirfst ein anderes als häfslich. Warum thust du das eine und das andere? Die Antwort hierauf will Herbarts Ethik und Ästhetik geben. Diese Dis- ziplinen erhalten wie die Metaphysik die Anrcgnung durch die tägliche Er- fahrung; die Ausführung jedoch wird konstruktiv, apriorisch Der Mensch, sagt Herbart, trägt Ideen in sich; an diesen mifst er jede praktische That und jedes künstlerische Gebilde. Was diesen Ideen entspricht, findet er löblich, was denselben widerspricht, tadelnswert Aufgabe der Ethik und Ästhetik ist demnach, die Ideen darzustellen als die Mafsstäbe, an denen wir jede That und jedes Bild messen, um demnach Lob oder Tadel zu erteilen.

Die Ästhetik hat Herbart selbst nie ausgeführt ; den Sinn seiner Ethik aber soll uns Lazarus (Ideale Fragen S. 8) aussprechen : »Mannigfaltig sind die Bestrebungen der Menschen; . . . aber völlig unsrer Neigung, unsrem Willen, der erfinderischen und zwecksetzenden Phantasie entzogen, doch berufen, sie alle in den Dienst zu nehmen, stehen dem Menschen die ewigen Ideen als unentrinnbare Forderung gegenüber . . . Die Gestaltung und Erkenntnis der Ideen ist in den Zeiten und Menschen verschieden, in der Geschichte wechselnd und fortschreitend, aber an sich sind sie ewig, die treibende Kraft des Fortschritts: An die Stelle des Unvollkommenen soll das Vollkommene treten; der Zug und Druck des begehrlichen, ab- springenden, widerstreitenden Wollens soll der inneren Freiheit des Gemütes weichen; Streit und Hader soll die Gerechtigkeit schlichten und gedeihliche Ordnung stiften ; jeder menschlichen Handlung soll lohnende und strafende Vergeltung folgen nach dem Gesetz der Billigkeit; Wohl- wollen soll den Eigenwillen überwinden, Güte und Liebe soll den Eigen- nutz und Eigenwillen besiegen« dies sind nach Herbart die fünf ethischen Ideen, welche das ganze praktische Getriebe unserer heutigen Gesellschaft bilden.

Ich habe schon bemerkt, dafs Herbart von der Ethik aufs strengste alles Psychologische fernhielt. Wie der Theologe nicht danach fragt, in welcher Weise Gott dem Menschen sein göttliches Gesetz geoffenbart haben könne, so lehnt Herbart eine Erklärung des Ursprungs der ethischen Ideen ab. Er, der es als eine entschiedene Anforderung an die Psychologie hin- stellte, zu zeigen, wie die metaphysischen und logischen Kategorien sich im Bewufstsein des Menschen bilden, begnügt sich für die ethischen Ideen mit dem Ausspruche: möchte man sich ihren Ursprung psychologisch er-

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klären können oder nicht, ihre Erhabenheit, die Würde ihrer Gebote und die Strenge ihrer Forderungen bleibt immer dieselbe. Es scheint mir in der That die Scheu vor ihrer Heiligkeit, welche ihn niemals in seinem Leben daran denken liefs, die Ideen in ihrem Werden zu zeigen.

Er trieb diese Scheu bis zum Schaden seiner Sache. Was konnte er denn erwidern, wenn man ihm vorgehalten hätte, die Grundidee, die Idee der inneren Freiheit, sei unmöglich, sei von keinem menschlichen Gemüte ausführbar? Er kannte die zu seiner Zeit in gewichtigen Kreisen geltend gemachte Vorstellung von einer gründlichen Verderbtheit des Menschen- geschlechts, von einer Unverbesserlichkeit böser Charaktere und anderer- seits den Begriff einer absoluten Freiheit beide bekämpfte er; aber mir scheint, er habe sich dabei der tüchtigsten Waffe begeben, nämlich des psychologischen Nachweises der Möglichkeit der bedingten Freiheit.

Von der Psychologie, der Pädagogik und der Ethik aus hätte ein gerader Weg zu einer Wissenschaft der Politik geführt. Auch hat Herbart in der That ganz vorzügliche Grundgedanken über das Leben, das Ge- deihen und den Verfall der Völker geäussert, aber doch nur in vereinzelten Sätzen. Wie mir scheint, hat er in seinem praktischen Verhalten völlig unter den Einflüssen seiner Zeit gestanden. Er war ein echter Zeitgenosse Goethes, und vielleicht weniger als an diesem könnte man in Herbarts Leben irgend einen unedlen Zug auffinden. Wir alle von heute, auf den Kampf gestellt, haben für ein in sich vom Schönen und Wahren gesättigtes Leben keine rechte Würdigung. Herbart lehrte in Göttingen als Kollege der berühmten sieben Professoren, schlots sich ihnen aber nicht an. Ihm mochte es genug scheinen, dafs er den Konflikt nicht heraufbeschworen habe, und er mochte das Wohl der Göttinger Universität, einer Bildungs- stätte nicht blos für Hannoveraner, sondern für das gesamte Deutschland, ja für alle Kulturvölker, nicht geschädigt sehen und mochte dieselben höher stellen, als die hannoversche Verfassung. Die Gottlosen, die den Eid ge- brochen hatten und den Lehrer der Ethik wie viele andere Beamte ver- hindert hatten, dem von ihnen geschwornen Eide treu zu bleiben, diese werden, so dachte Herbart, für ewig von der Idee des Rechts verdammt werden.

Ich komme zum Schlufs Wie sehr Herbarts Gedanken ein Ferment in den gegenwärtigen Geistern bilden, könnte schon der über Deutschland verbreitete Verein der Pädagogen zeigen. Indessen, gerade darum, weil Herbarts Philosophie eine lebendige ist, kann und mufs sie einer Kritik unterworfen werden. Ich kann es nicht oft genug wiederholen und nicht dringend genug namentlich der Jugend ans Herz legen, dafs Kritik ganz etwas anderes ist, als Polemik: diese ist im besten Falle zerstörend; jene, die Kritik, baut auf, ist schöpferisch, positiv. Sie sucht den gedanklichen Keim einer Theorie auf und entwickelt diesen nach dem Sinne hin, der demselben innewohnt, bei fortgesetzter, immer tiefer eindringender Er- forschung der Thatsachen.*) Wenn wir uns mit gerechtem Stolze rühmen,

•) Sehr wahr. Leider «Cheine o heutzutage viele «r eine absprechende Beurteilung der Leistungen Herberte mehr Interesse in haben, als an einer genauen Einsicht In dl« Sache selb«

Der Herausgeber.

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unser heutiges Deutschland sei nicht mehr das, was es vor 50 Jahren war, so kann freilich Herbarts Ethik unser heutiges Getriebe nicht mehr um- schliefsen, und auch seine Pädagogik reicht (vielleicht!) nicht mehr aus, wie auch seine Psychologie eine Erweiterung schon erfahren hat. Wie sehr nun aber auch Herbart der Ergänzung bedürfen mag (ich will darüber nicht urteilen), was wir zu thun haben, das hat er uns gesagt: dafür zu sorgen, dafs das deutsche Volk »eine beseelte Gesellschaft« werde, das heifst eine Gemeinschaft, in welcher jedes Mitglied den Grundgedanken des Ganzen kennt und seine besondere Stellung im Getriebe des Ganzen weifs und durch die That erfüllt.

2. Über den Beginn des Schuljahres

an den Gymnasien Frankreichs hat der Pariser Professor Lavissc Ge- danken geäufsert*), welche alle, die es mit der erziehenden Seite des Unterrichtes Ernst nehmen, aufs Angenehmste berühren. Die erziehende Seite all unserer schulischen Veranstaltungen kann nicht oft und eindring- lich genug betont werden. Wir nehmen darum einschlägige Vorschläge wo immer wir sie linden und prüfen vorurteilsfrei ihre Richtigkeit und Brauchbarkeit für unsere Anstalten. Unter diesem Gesichtspunkte mögen hier die Hauptgedanken des interessanten Artikels Aufnahme finden.

Der Verf. desselben hat selbst 13 mal die Rückkehr nach dem Gym- nasium am Beginne des Schuljahres erlebt, die letzte ist ihm aber genau so unangenhm und peinlich erschienen wie die erste. Er hat gegen diesen schroffen Übergang aus der freien Ferienzeit in das gebundene Schulleben mit seiner schweren geistigen Arbeit einen heftigen Widerwillen behalten, welcher ihm jetzt noch auiserordentlich lebhaft vor der Seele steht. Er schildert diese Rückkehr zu Beginn des neuen Schuljahres ungefähr so:

Die Zöglinge kehren am Vorabende des Schulbeginnes in ihre Anstalten zurück. An der Thür finden sie nur den Pförtner und einen Lehrer, der die Rückkehr beaufsichtigt. Ihr erster Weg aus der Studierstube führt nach dem Schlafsaal**), der erste Akt ihres neuen Schullebens besteht im Schlafen. Am nächsten Morgen weckt sie die Glocke, in kleinen Gruppen ziehen sie nach den Studierstuben. Erst in der ersten Freiviertelstunde löst sich die Zunge der alten Bekannten; die Neulinge aber irren wie verloren umher. Dann folgt die Messe, dann die erste Schulstunde, in welcher Stundenplan

•) Zuerst erschienen Im Journal des D. batn unter dein Titel .La rentree de* claases", dann nuchj-'edriickt in verschiedenen politischen und pädagogischen Zeitschriften, u. a. In No. 10 der Revne pc*dagogique, deren Hedakt. daxu die Bemerkung in seht, die so nächst nur für die Gymnasien geltenden Oedanken seien nicht minder wert mit Rücksicht auf die Volks- und Mittelschulen, so- wie die Seminare erwogen und beherslgt so werden.

♦•) Mit den staatlichen Gymnasien Frankreichs sind Internate verbunden.

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und Bücherverzeichnis mitgeteilt werden. Das ist der Anfang. Im Schul- hause aber herrscht an diesem Tage ein aufgeregtes Treiben. Man sieht Eltern, besonders Mütter, ihre Kinder vom Direktor zum Aufseher (censeur) der Anstalt, von da zum Wirtschafter (l'e'conome) führen, im Warteraum noch einmal Abschied nehmen u. s. f., alles in grofser Eile. Mit derselben Eile erledigen natürlich die Beamten an diesem Tage ihre Geschäfte, alles trägt den Stempel der Hast, des Ungemütlichen an sich. Das kann dem Wiederkehrenden oder Neueintretenden unmöglich eine angenehme Perspektive für das neue Schuljahr eröffnen. Aber weit schlimmer als dies ist der Mangel an gemeinsamem Zusammenwirken, es fehlt der einheitliche Geist, der <csprit de la maison», welcher dem Ganzen Organismus das wahre, innere Leben giebt. «Bei Wiederbeginn des Schuljahres (la rentree) wie er heute üblich ist, sind Zöglinge, Eltern, Lehrer, Beamte alle auf eigene Rechnung da, jeder für sich .... Aber die Anstalt, der Gesamt- Organismus, welchersich aus allen diesen Wesen zusammensetzt, und welcher notwendigerweise aus all den Geistern einen Gemeingeist erzeugen sollte, wo ist er, und wenn er vorhanden ist, warum läfst er sich nicht ver- nehmen ?€ Dem Verfasser ist es kein Zweifel, dafs dieser Schulbeginn eine «manifestation collective de la maison» sein müsse. Zur Erzielung der- selben macht er folgende Vorschläge:

Zunächst sollten die Schüler schon am Vorabend von dem Direktor oder dem Anstaltsaufseher freundlich empfangen werden, man sollte ihnen die Hand zum Grufs bieten. In der Studiersube machen sie sich mit dem Lehrer bekannt, der die Neulinge älteren Schülern zur ersten Führung zu- teilt. Man lasse sie dann eine Stunde lang plaudern, lachen, sich kennen lernen, bevor sie den Schlafsaal aufsuchen.

Der nächste Tag sollte einen festlichen Stempel tragen. Am Morgen noch keine Schulstunden , dagegen gegenseitiges Bekanntmachen ! Der Lehrer des vergangenen Jahres übergiebt seine Schüler dem Nachfolger, jeden begleitet mit einigen Worten, sei es mit guten, sei es mit ermahnenden, ernsten. Nachmittags kommen alle Schüler mit ihren Lehrern in der Aula zusammen. Die Eltern und Vertreter der Unterrichtsbehörde sind auch da. Der Saal ist festlich geschmückt. Musikalische Aufführungen er- öffnen die Feier. Zwei Redner wurden schon früher bestimmt, der Stoff des Vortrages vorher gemeinschaftlich beraten, in erster Linie dem Inte- resse der Zöglinge angepafst, nicht wie es am Ende des Schuljahres bei der Preisverteilung üblich ist, voll von Lobeserhebungen der Wissen- schaften, von ewig wiederkehrenden Gemeinplätzen und für die Schüler unverständlichen Redensarten. Am Abend endlich vereinigt alle noch einmal eine gemütliche Unterhaltung, in welcher besonders Eltern und Kinder in buntem Durcheinander die letzten gemeinsamen Stunden ver- bringen.

Man wende nicht ein, dafs diesen feierlichen Aktus am Nachmittage des ersten Schultages die Feier der Preisverteilung am Ende des Schul- jahres ersetze: die Teilnahme an derselben ist nicht allgemein, da sie den Schülern freigestellt ist, Inhalt und Form der Vorträge ist für die Akademie

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berechnet, die Auswahl der Konzertstacke willkürlich, das Verlesen des «palmares», der Preisliste, rein äufscrlichcr Natur. Auch hier müfste es besser werden. Gerade der Jahresschlufs bietet Anlafs zu einer Fülle von erziehlich wirkenden Betrachtungen über Studien, sittliches Verhalten Einzel- ner und ganzer Klassen u. s. f. Das «palmares» ist überall dasselbe und man führt sich doch nicht überall gleichmäfsig auf! Je spezieller diese Betrachtungen wären, welche der Unter-, der Mittel- und der Oberstufe angepafst sein müssen, desto mehr würden die Zuhörer davon günstig be- einflufst. Kurz, der Schlufs des Jahres müfste eine Rechenschaft des Ge- wissens der Anstalt («une recapitulation de conscience») bilden.

Jene freundliche Aufnahme und gemütvolle Aufmunterung zu Beginn des Schuljahres und diese Rückschau am Ende desselben, beides in festliche Formen gefafst, müssen die Eckpfeiler des Schuljahres bilden. Sie werden das Bcwulstsein von der gemeinschaftlichen Verantwortlichkeit bei den Lehrern erhöhen, die Schüler aber werden sich als Teile eines Ganzen, als Glieder einer lebenden Gemeinschaft fühlen lernen, der «esprit de la maison» zum allgemeinen Wohle gefördert werden.

Diesen Ausführungen des Verfassers, welche sein tiefes Verständnis für das innere Wesen solcher Schulorganismen zeigen, brauchen wir wohl nichts beizufügen. Was notwendig ist, ist ein Vergleich dieser Zustände mit denen daheim im engsten Wirkungskreise und eine Beherzigung der überzeugungsvoll und warm vorgebrachten Vorschläge. Das mufs aber dem Einzelnen überlassen bleiben.

Jena. Edm. Scholz

Das herbartische System hat in Amerika kürzlich eine erweiterte An- erkennung gefunden in einer neugegründeten pädagogischen Zeitschrift. Es ist dies die Kducotloual Review, welche seit dem ersten Jan. 1891 in New-York erscheint (Verlag von Henry Stolt u. Co.) und von Dr. Nich- olas Murray Buttlcr, Professor der Philosophie am Columbia College, N. Y., herausgegeben wird Unter den Mitarbeitern befinden sich die be- kanntesten und besten der pädagogischen Denker Amerikas. Es werden hier nicht nur Untersuchungen und Erörterungen über pädagogische Pro- bleme, die von unmittelbarem Interesse für das Schulwesen Amerikas sind, angestellt, sondern es wird auch ein prüfender Blick auf Systeme und Resultate fremder Staaten, insbesondere Europas, geworfen, und zwar in einer viel fruchtbareren Weise, als es sonst bei irgend einer amerikanisch- pädagogischen Zeitschrift der Fall gewesen ist. Mit Ausnahme des August

3. Eine neue

-pädagogische Zeitschrift

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und September erscheint die Review monatlich. Der Preis des Einzel- heftes beträgt M. 1,40; der jährliche Abonnementspreis für die zehn Hefte, 12 Mk.

Schon in dem ersten Hefte wurde eine Reihe von Artikeln über «Das herbartische System der Pädagogik, > von Dr. Charles de Garmo. Präsident des Swarthmore College angefangen.*) Diese Artikel stellen das herbartische System als Ganzes zum ersten Male den Pädagogen Amerikas dar, doch innerhalb ganz eng begrenzter Umrisse. Der Verfasser hebt weiter die Bedeutung des betreffenden Systems für die Pädagogen der ver- einigten Staaten hervor, indem er den wissenschaftlichdn Charakter des Wesens als besonders wertvoll dem gegenwärtig herrschenden Empiris- mus gegenüber betont. Zunächst erwähnt er die Gliederung der her- bartischen Philosophie in Metaphysik, Psychologie, Ethik und Pädagogik und fährt mit einer kurzen Darstellung der Hauptzüge derselben (mit Ausnahme der Metaphysik) fort.

Behufs der Psychologie hebt er die grofsen Verdienste Herbarts, als Be- gründer der empirischen Psychologie und Widerleger der alten herkömmlichen Hypothese der drei Seelenvermögen hervor und giebt einen ganz kurzen Oberblick der herbartischen Psychologie. Bei der Ethik erwähnt er haupt- sächlich die Methode Herbarts alle moralischen Gesetze auf nicht weiter zurückführbaren Grund begriffen aufzubauen. Dann zählt er die fünf Grund- ideen auf. Die Abhandlung über das. System der Pädagogik nimmt weitaus den gröfsten Teil der drei Artikel in Anspruch, obschon der Verfasser in so wenigen Worten kaum mehr als eine Zergliederung in den Haupt- punkten geben konnte. Hier zunächst erwähnt er die Idee der «gleich- schwebenden Vielseitigkeit des Interesses», und die verschiedenen Inter- essen, die man zu zählen pflegt. Dann berührt er die Dreiteilung des pädagogischen Gebiets in Unterricht, Regierung und Zucht, und schliefst eine kurze Bestimmung dieser Begriffe an. Endlich berührt er in ähnlicher Weise die Prinzipien der Konzentrazion und der formalen Stufen, und die Pflege des religiösen Gefühls ohne Rücksicht auf die dogmatische Religion.

Wir können den Schluls des Verfassers wohl zugeben, dafs es eine schwierige Aufgabe sei, ein so wichtiges und weit entwickeltes System in drei kurzen Artikeln, selbst in den allgemeinsten Hauptzügen darzustellen. Nichts desto weniger müssen wir uns gestatten ein Wort der Kritik anzu- schliefsen. Es erscheint uns nötig, dafs ein Umrifs der Hauptzüge

*) Prof. de Garmo wurde- 1849 In Wisconsin geboren. Den ersten Unterrloht erhielt er in den B&rgerachulen «eine* Heimatstaates. Später bezog er das Lehrerseminar von Illinois, State» Normal, von welche er 1873 abging. Von da ab war er 10 Jahre an denm Volksschulen von Illinois ttt&tlg, wahrend weloher Zeit er S Jahre den Sehnten von Naples vorstand. Im Jahre 1883 ging er mit seiner Frau ins Ausland und studierte 3 Jahre auf den deot sehen Universitäten Jena nnd Halle, welch letztere ihm 1884$ den Grad eines Dr. Ph. verlieh. Nach Amerika zurückgekehrt begab er

Sprachen ein. Diesen behielt er, bis er als Professor der Philosophie und Pädagogik an die Staats - uuiversit&t zu Champalgne berufen wurde.

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dieses Systems vor allem das Ineinandergreifen und die gegenseitige Unterstützung der Grundwissenschaften (Psychologie, Ethik und Pädagogik) stark hervorheben soll. Unseres Erachtens ist dies keineswegs in den be- treffenden Artikeln der Fall. Im Gegenteil ist z. ß. die Darstellung der Formalen Stufen sehr wenig im Einklang mit der Psychologie Herbarts, was allerdings der Fall sein soll, da die sogenannten Formalen Stufen keine willkürliche Schabtone, sondern eine durch die geistigen Gesetze bedingte Methode des Verfahrens im Unterricht überhaupt aufzeigen. Zufolge dieses Mangels bietet die Abhandlung über die Formalen Stufen nur dem schon Orientierten etwas Verständliches dar.

Betreffs der Formalen Stufen möchten wir betonen, dafs diese gar nicht berührt werden sollten ohne den Begriff der methodischen Einheit zur Geltung zu bringen, was für eine vernünftige Anwendung und für ein richtiges Verständnis der Formalen Stufen unbedingt notwendig ist.

Um noch eines von mehreren Beispielen anzuführen, glauben wir, der Verfasser habe noch lange nicht genügend den Zusammenhang der drei Prinzipien betreffs des Nach- und Nebeneinanderreihens des Stoffes, und der methodischen Behandlung des letzteren, hervorgehoben. Diese Be- dingtheit der Idee der Konzentration durch die der kulturhistorischen Stufen, und die der Idee der Formalen Stufen durch die Idee der Konzen- tration wird sehr häufig zu wenig beachtet, während die Praxis, der Ur- heber und Fortsetzer des Systems, beweist, dafs eine freie und vernünftige Beobachtung dieses Zusammenhangs dem Hauptziele des erziehenden Unter- richts, bez. der Bildung des Gesamtcharakters, am günstigsten wirkt.

Sonst sind die Artikel des Hrn. De Garmo klar und gut ge- schrieben und verdienen die Beachtung und Dankbarkeit der amerikanischen Pädagogen. Wir können der Meinung des Verlassers wohl beistimmen, dafs es kein anderes, so inhaltreiches und bedeutendes System giebt. Ob- schon er Bedenken zu tragen scheint, ob das ganze System in den Schulen der Vereinigten Staaten angewandt werden kann, glauben wir doch, dafs die Versuche der Zukunft die Allgemeingültigkeit der herbartischen Grund- prinzipien auch für diese Schulen beweisen werden. Im Schlufs empfiehlt der Hr. Verfasser den Pädagogen Amerikas ein eingehendes Studium des in seinen Artikeln im Umrifs geschilderten Systems, und bemerkt, dafs der Kreis der amerikanischen Herbartianer stets wächst. Unter denselben be- finden sich einige der ernstlichsten Erzieher Amerikas, von denen bald neue , treffende Auffassungen und Dienste auf dem Gebiete des Schul- wesens zu erwarten sind.

In dem Hefte für Februar erschien eine Übersetzung einzelner Teile aus dem amtlichen Bericht über die Rede des Kaisers vor der Kommission für Schulreform in Berlin.

Pädagogische Studien. U

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In dem März-Hefte befindet sich eine kurze Abhandlung über »The results of the Prussian Commission on School-reform«, von Henry Wood, und im Hefte für April eine Diskussion der Bewegung für eine Einheits- schule in Deutschland, von L. R. Klemm. In demselben Hefte erschien eine sehr günstige Anzeige der »Pädagogik im Grundrifs« (Sammlung Göschen, Stuttgart 1890) von Prof. Dr. W. Rein, Jena. Besonders hervor- gehoben werden die Klarheit der Sprache, die besondere Füglichkeit. als übersichtliche Einleitung in die Pädagogik zu dienen und die trefflichen und reichhaltigen Literaturnachweise.

Im Mai-Heft erschien eine Abhandlung über Geschichtsunterricht in den unteren Schulen (The Teaching of History in the Elementary Schools) von Lucy M. Salmon.

Nach einer kurzen historischen Einleitung seit Diesterweg zählt die Verfasserin die vorhandenen Mängel auf, die auf dem Gebiete des Ge- schichtsunterrichts vorherrschen. Unter den Richtungen, die sich inbezug auf Geschichtsunterricht geltend gemacht haben, werden die Folgenden angestellt: 1. Ein wachsendes Interesse an dem Studium der Geschichte. 2. eine Anerkennung der Vorteile, die man durch eine Vergleichung ver- schiedener Unterrichtsmethoden gewinnt. 3. Der vorherrschende Einflufs der deutschen Ideen. 4. ein offenbares Mifsverhältnis in dem Ansehen der Geschichte in den höheren Anstalt«n und in den Volksschulen.

Nach Angabe dieser Punkte, und besonders nach Hervorhebung des zuletzt erwähnten Mifsverhältnisses, das sich in dem Mangel an Geschichts- unterricht überhaupt in den Volksschulen in der kurzen Zeit, die darauf in den höheren Schulen verwandt wird, offenbart, geht die Verfasserin von dem Standpunkt aus, dals dieses Fach von Anfang an berücksichtigt werden mufs; und zwar mit dem Gedanken, dafs ein Hauptdienst dieses Studiums sei, den Verstand im Fällen von Urteilen zu üben. Weiter erwähnt sie das Prinzip der Konzentration als eins, das irgendwie angewandt werden mufe. wenn je die vollen Kräfte der Zöglinge zur Geltung gebracht werden sollen. Über das W i e wagt sie aber nicht zu entscheiden. Durch ihre eigenen Worte sieht man sogleich, dafs die Verfasserin schon unter dem Einflufs herbartischcr Gedanken st.ht. Es zeigen die in den Fufsnoten von ihr zitierten Werke, dafs sie schon eine gründliche Leserin herbartischer Schriften ist. Im betreffenden Artikel hat sie ja sogar einige Hauptprinzipien des Systems (obschon nicht gerade als herbärtisch bezeichnet) im Allge- meinen für erforderlich anerkannt, obschon in einem Satze die folgende Meinung geäufsert wird: »Es kann sein, dafs es nicht möglich noch klug ist, alle Fächer den ganzen Schulkursus hindurch um Robinson, Grimms Märchen und biblische Erzählungen rotieren (!) zu lassen.« Dieser Satz zeigt eine noch recht mangelhafte Auffassung der Konzentration, die man vielleicht erst erwarten kann, wenn die betreffende Person Gelegenheit gehabt hat, das Prinzip in richtiger praktischer Anwendung zu beobachten.

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Trotzdem will sie das Prinzip angewandt sehen und fuhrt einige treffliche Beispiele an aus »dem dritten Schuljahr«. Im Schlüsse werden folgende Forderungen aufgestellt: i. Ein bestimmter, allgemeiner Eindruck des Fortschreitens der geschichtlichen Ereignisse, vaterländischer und aus- ländischer. 2. Eine ziemliche Anzahl geschichtlicher Thatsachen, als Material. 3. Gebrauch des Materials, Assimilation durch die Thätigkeit der Urteilskraft und Vernunft. 4. Endlich, weit mehr Unterricht in der Ge- schichte für die Elementarschulen (Volksschulen).

In ihren Schlufsfolgen und besonders in ihrer Forderung, dafs die Geschichte in den Volksschulen zur Geltung gebracht werde, sowie dafs die vollen Kräfte der Zöglinge durch das Prinzip der Konzentration ge- weckt werden, können wir der Verfasserin beistimmen und ihr und den- jenigen anderen, die sich für die Lösung der betreffenden Probleme inter- essieren, ein weiteres, gründliches Studium herbartischer Prinzipien in ihrem Zusammenhang empfehlen.

Jena Van Liew.

4. Leibesübungen und Turnspiele in alter und neuer Zeit.

Die Kräftigung des Körpers durch Schwimmen, Bogcnschiefscn, Ringen und Laufen war schon den ältesten Völkern eigen und bildete den Haupt- bestandteil ihrer Jugenderziehung. Waren doch Kampf und Krieg des Mannes vornehmstes Geschäft, das erlernt werden mufstc. Mit diesen Äufserungen einer allerdings noch rohen und ungezügelten Kraft verband die fortgeschrittene Kultur allmählich höhere, geistige Zwecke. In dieser Hinsicht gebührt dem erleuchteten Griechenvolke das grofse Verdienst, durch Verbindung von gymnastischen Spielen und musischer Kunst eine harmonische Ausbildung des Menschen erzielt zu haben. Im alten Rom, dem Kriegerstaate ist eine ähnliche Erscheinung nicht wahrzunehmen; wohl wurden auch dort recht lleifsig Körperübungen veranstaltet, aber alle Thätigkeiten dieser Art dienten nur dem einen Zwecke: der Wehrhalt- machung und der Kriegstüchtigkeit. Nicht anders als der Römer fafste der heidnische Germane die Leibesübungen auf; das Werfen der Lanze, das Schiefsen mit Pfeil und Bogen, Laufen, Reiten, Schwimmen dies alles war nur Vorbereitung auf den Krieg, wie überhaupt alies Spielen der Jugend jener Zeit ein kriegerisches Gepräge trug. Einige Jahrhundertc später, zur Zeit der Blüte des Rittertums, fanden Bewegungsspiele und körperliche Ausbildung auf den Burgen eifrige Ptlege; umfäfste die ritter- liche Erziehung doch nicht weniger als nachfolgende sieben Künste (pro- states): Reiten, Schwimmen, Pfeilschicfsen, Fechten, Jagen, Schachspielen

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und Verse machen. »So waren die Burgen Anstalten für ritterliche Spiele, körperliche Übung und geistige Kultur. (Cramcr.) Wie aber sah es im Mittelalter mit den Leibes Übungen aller derer aus, deren Stand das Kämpfen im Felde ausschlofsr Von Bewegungsspielen kannte der gewöhn- ic hc Mann eigentlich nur das Ballspiel. Dies wurde bei allen Volksfesten auf dem freien Wiescnplane, oder, und dies war namentlich in den Städten späterer Jahrhunderte der Fall, in eigens dazu erbauten Häusern, den Ballhäusern, aufgeführt. Von geschichtlicher Bedeutung bleibt wohl für alle Zeiten das Ballhaus in Versailles, in welches Bailly den dritten Stand führte, und woselbst er die Deputierten schwören liefs, sich nicht eher zu trennen, bis die Konstitution des Königreichs aul gediegener Grundlage erbaut und gefestigt sei. Als mit der Zeit Musik und Ballspiel, die früher innig mit einander verbunden waren, sich trennten, blieb doch noch der Name »Ball« für unsere Tanzfestlichkeiten bestehen. Man ersieht hieraus, welche Bedeutung genanntem Bewegungsspiele beigelegt wurde. Andere Spiele waren dem niederen Volke wenig oder gar nicht bekannt. Wie konnte dies auch anders sein in einer Zeit, in welcher die Ertötung des Fleisches gewissermafsen als Erziehungsmaximc obenan gestellt wurde? War doch die Kirche des Mittelalters in dem Wahne befangen, dafs das sündhafte Fleisch auf eine hygienische und ästhetische Kultur keinen An- spruch erheben dürfe, dals der Christ nur dem Geiste leben müsse. Wohl fehlte es auch nicht an Pädagogen, die mit Wort und Schrift für die leib- liche Ausbildung eintraten. Erwähnt sei nur Luther, welcher die »Leibes- übungen und das Ritterspiel für nützliche Künste hielt, die geschickte Gliedmafsen am Leibe machten und die Gesundheit erhielten.« Auch Zwingli ist ein warmer Fürsprecher der »Fechtübungen«. Montaigne fordert: »Es ist nicht genug, den Zögling geistig anzustrengen, auch die Muskeln müssen gekräftigt werden. Auf die Spiele und Leibesübungen, das Laufen, das Ringen, den Tanz werden wir grofsen Fleifs verwenden müssen. Ich wünsche, dafs der äufsere Anstand und ein gefälliges Wesen zugleich mit der Seele sich bildete. Man erzieht nicht eine Seele, nicht einen Leib, sondern einen Menschen, man mufs nicht zwei daraus machen und nicht das eine ohne das andere bilden wollen, sondern sie wie ein Paar an einen Wagen gespannte Pferde gleichmäfsig leiten.« Comenius suchte die Leibes- übungen in das allgemeine System des Schulunterrichts einzuführen, in dem 15. Kapitel seiner grofsen Unterrichtslehre verbreitet er sich ausführlich über die betreffende Materie. Leider wurden die Wünsche und Forde- rungen der soeben genannten Männer nicht erfüllt, ihr Ruf verhallte unge- hört in einer unruhvollen und schweren Zeit. Erst dem vorigen Jahr- hundert, seiner philosophischen und pädagogischen Strömung sollte es vor- behalten bleiben, nach dieser Seite eine Wandlung zum Bessern folgen zu lassen. Ich brauche nicht lange bei der Ausführung vorstehender Behaup- tung zu verweilen, die Bestrebungen eines Rousseau, Basedow, Salzmann sind ebenso bekannt wie die eines Jahn und seiner Anhänger, nicht minder ihre harte und ungerechte Verurteilung seitens der Regierungen. In unserer Zeit ist es wieder besser geworden. Lauter als jemals hallt jetzt

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der Rui nach Leibesübungen durch die pädagogische Welt, namentlich seitdem die Erörterung der Überbürdungsfrage gezeigt, dafs unsere Jugend mehr spielen mufs. >Wenn unsere Jugend spielt, dann fällt auch die Über- bürdungsfrage.« Das ist die Resolution, zu welcher die Mitglieder des Schulvereins der Rheinlande und Westfalens sich entschlossen. Die Lösung einer hohen und herrlichen Aufgabe fällt demnach den Bewegungsspielen zu, sie sollen sein ein Ausgleicher einer einseitigen geistigen Bildung durch Förderung körperlicher Gewandtheit und Rüstigkeit. Aber auch die sitt- liche Seite des Menschen sollen sie stärken und pflegen. Ein bekannter Freund der Leibesübungen äufsert sich ungefähr in nachfolgender Weise: »Im geselligen Zusammensein mit Seinesgleichen lernt der Schüler allmäh- lich einsehen, dafs ohne Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze etwas Rechtes nicht gedeihen kann; er lernt seiner Natur Zwang anthun, sein eigenwilliges und trotziges Wesen aufgeben. Im Turnen und beim Spiel wird ihm ein Mals gegeben, seine Kraftmehrung zu erkennen, eine Richterwage geboten, seinen Eigenwert zu prüfen, ein Spiegel vorgehalten, sich in seiner wahren Gröfse zu schauen.« So ist das Spiel einem sitt- lichen Anschauungsunterrichte vergleichbar, der den zukünftigen Bürger mit allen den Eigenschaften auszurüsten sucht, welche zum Leben in Ge- meinde und Staat unentbehrlich sind. Pflegen und fördern wir also das Spielen, so stellen wir unsere Thätigkeit in den Dienst einer Sache, die in sozialer Hinsicht von grofser Bedeutung ist. Allerdings ist mit dem An- regen zum Spiel und dem Spiclenlassen unsere Aufgabe noch nicht gelöst, wie in allen andern Fächern, so gilt es auch hier, Lust und Liebe zum Ding, Interesse für das Spielen zu erwecken, dafs nicht blofs die schul- pflichtige, sondern auch die der Schule entwachsene Jugend noch spielt. In dieser Hinsicht können wir von unsern Nachbarn im Norden, Westen und Süden noch viel, recht viel lernen. Englands Rasenplätze, (bowlinggrecns), sind berühmt, die Ballspiele daselbst aufserordentlich mannigfaltig, sie werden von den Frauen um die tansy cakes (Wurmkrautkuchen?), von den Männern um Geldsummen, von den Kindern der Belustigung wegen ge- spielt. Neben England verdient Italien mit seinen kostspieligen Ballplätzen und beliebtem ginoco di ballonc Erwähnung. Auch in Frankreich regt es sich allerorten, die reifere Jugend zum Bewegungsspiele zu ermuntern; die hitzigsten und leidenschaftlichsten »Patrioten« stehen an der Spitze dieser Bewegung. Allerdings merkt man auch hier die Absicht und wird ver- stimmt. In unserm deutschen Vaterland ist Görlitz die Stadt, welche be- züglich der leiblichen Ausbildung an der Spitze aller deutschen Städte steht. Dort hat der Verein »Handfertigkeit und Jugendspiel« das Spiel zu wirklichen Volksfesten gestaltet, die sich reger Beteiligung erfreuen.

»Nicht nur der gröfste Teil der Schüler des Gymnasiums, des Real- gymnasiums, der höheren Bürgerschule und der drei oberen Klassen der Gemeindeschule nimmt an den festgesetzten Spieltagen an den Übungen freiwillig teil, sondern auch der Versuch, die der Schule entwachsenen jungen Leute, die Lehrlinge des Kaufmanns- und Handwerkerstandes für die Spiele zu gewinnen, ist in überraschender Weise geglückt. An jedem

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Sonntag finden sich um 3 Uhr nachmittags oft etwa 200 dieser Lehrlinge auf dem städtischen Turnplatze ein, um unter Leitung des Oberturnlehrers Jordan und einiger dafür gewonnenen Gemeindeschullehrer sich der harmlosen Freude des Spielens hinzugeben. Auch hat sich bereits eine Vereinigung von zum Teile den höheren Standen angehörigen Männern gebildet, welche sich allwöchentlich zu bestimmter Stunde zur Übung von geeigneten Spielen auf dem städtischen Turnplatze zusammenfinden.« Dr. Eitner. Dafs die gute Sache immer weiter gedeihe, mufs der Wunsch eines jeden Freundes wahrer Volkswohlfahrt sein.

Nachdem ich einen kurzen Überblick über Entstehung und Bedeutung des Jugendspiels gegeben, wende ich mich Jzu Ausführungen, die mehr praktischer Natur sind. Diese Erörterungen betreffen die 3 Fragen:

1. Welcher Art sollen die Spiele sein?

2. Welche Zeit eignet sich zum Einüben?

3. Wie verhalten wir uns beim Spiel?

Die Beantwortung der ersten Frage läfst sich nicht genau fixieren. Wie in allen anderen Disziplinen, so gilt auch hier der Grundsatz: Indi- vidualisiere, beachte Alter, körperliche Entwickelung. Für kleinere Schüler eignen sich demnach die leichtesten und einfachsten Bewegungsspiele (Haschen, Blindekuh und ähnliche), gröfsere finden Lust an solchen Übungen, die ihren Mut, ihre Kraft, List und körperliche Rüstigkeit heraus- fordern. (Ball- und Jagdspiele, Ringen u. drgl.) Es liegt aufserhalb des Rahmens dieser Arbeit ein Verzeichnis der für die verschiedenen Klassen passenden Spiele anzugeben; bemerkt sei nur noch, dafs das Spiel jedem Schüler Gelegenheit geben mufs, seine Kräfte zu regen und seine Ge- wandtheit zu zeigen, dafs auch hier der Grundsatz gilt: »Schliefs* an Be- kanntes dich an.» Die von dem Schüler mitgebrachten Spiele mögen be- nützt werden, ein Aufdrängen fremder Spiele dürfte nicht ratsam sein, dem Takte und der richtigen Auswahl des Lehrers ist hier ein weites Feld eröfinet. Von dem uns zu Gebote stehenden Material erwähne ich:

Wafsmannsdorf, Lieder und Liederrcigen,

Dr. Kloss, Das Turnen im Spiel,

Spielbücher von Lausch, Stangenberger und Seidel,

Dr. Eitner, Jugendspiele.

Letztgenanntes Schriftchen enthält nicht blofs Spiele für Knaben, sondern auch für Erwachsene, im Anfang giebt der Verfasser eine kleine, aber gediegene Auswahl recht gefälliger Reigenspiele für die oberen Klassen der Volkschulen.

Welche Zeit eignet sich zum Spiel, wann üben wir dasselbe?

In der Turnstunde, wofern besondere Spielstunden auf dem Lektions- plane nicht angesetzt sind. Über die Frage, welcher Teil der Turnstunde der zum Spiel geeignetste ist, wurde schon öfters gesprochen. Jede vor- gebrachte Meinung hat ihre Berechtigung, doch dürfte nach meinen lang- jährigen Beobachtungen die letzte Viertelstunde empfehlenswert sein. Zu

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Anfang der Turnstunde oder in der Mitte derselben zu spielen, ist nicht rätlich, da durch die mehr oder weniger freie Bewegung im Spiel eine leicht erklärliche Aufregung eintritt, welche die für das Turnen so nötige Strammheit und Ruhe in bedenklicher Weihe absorbiert. Das Spiel zu Ende der Stunde giebt dem Schüler noch einmal Frische und Heiterkeit und schliefst, da die gymnastischen Übungen gewöhnlich die letzte Unter- richtsstunde ausfüllen, das erziehliche Geschäft des Tages in schöner Weise ab. Was in der Turnstunde gelernt wurde, soll nun aber auch weiter ge- . übt, wiederholt werden. Dies führt mich zu der Forderung, in den gröfsern Pausen die Schüler zum Spielen anzuhalten. Mancher Kollege hält dies viel- leicht für ein unbilliges Verlangen, da die Pause auch zu des Lehrers Er- holung dienen soll. Die Sache sieht aber gar nicht so schlimm aus, als es scheint Unbeaufsichtigt dürfen wir unsere Schülerschar nicht lassen, wer dies thet, versäumt einfach seine Pflicht als Erzieher. Nun wissen wir alle, dafs die Jugend freie Bewegung verlangt und liebt, warum sollen wir also unsere Knaben und Mädchen nicht anhalten, anstatt des wüsten Laufens, Tobens und Schreiens ein passendes Spiel aufzuführen? Nur müssen diese Bewegungen eine etwas freiere Gestalt annehmen als in der Turnstunde. Nicht jeder Schüler ist während der sogenannten Freiviertelstunde zum Spiele aufgelegt, ver aus irgend einem Grunde Dispens zu erhalten wünscht, dem # sei er gewährt. Auch die Auswahl des Spieles mag den Spielenden über- lassen bleibtn, indem uns dadurch treffliche Winke betreffs Anordnung und Auswahl des Spielstoffs gegeben werden. Dafs auch bei Volksfesten, grölseren Auszügen usw. gespielt werde, füge ich nur der Vollständigkeit wegen an.

Nunmehr vende ich mich zur Beantwortung der letzten Frage: Wie vernähen wir uns beim Spiel?

Nachdem oie nötigen Andeutungen und Winke gegeben, tritt der Lehrer mehr in c*n Hintergrund. Seine Stellung ist hier eine andere als im übrigen Unterrichte; selbstverständlich behält er die Leitung des Ganzen in seiner Hand und schlichtet allenfallsige Meinungsverschieden- heiten und Streitigkeiten. Alles schulmeisterliche Dreinreden, alle Pedanteric, die überall, auch du frohe Laune des munteren Knaben zu rügen sucht, erzeugen nur Verstimmung und verderben die Lust am frohen Spiel. Ich habe hierdurch schon angedeutet, wie ich mich zu der schon oft auf- geworfenen Frage, ob auch der Lehrer mitspielen soll, verhalte. Nicht jedem ist es gegeben, vom ermahnenden und lehrenden Pädagogen zum heitern Spielgenossen seher Schar überzugchen, nicht jeder ist zum Jugend- spiel disponiert. Der eriste, strengere Charakter kann nicht mitspielen, und er soll es auch nicht In der Elementarklasse, die vorzugsweise von jüngeren Kollegen geführt wird, mag es hier und da einmal erlaubt sein, je älter aber der Schüler, desto weniger ist das Mitspielen des Lehrers rätlich und angezeigt. Die ->ft gehörte Behauptung, durch die direkte Be- teiligung des Lehrers am Spei würde ein festes Band zwischen ihm und seiner Klasse geschlungen, wrlerlege ich mit dem Hinweis, dafs wir, auch ohne mitzuspielen, unsern Seitdem dennoch zeigen können, wie sehr wir

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5. III. Haupt-Versammlung der Freunde Herbartscher Pädagogik aus Schlesien und Posen.

Die Versammlung tagte am 2. und 3. Oktober in Glogau. Die Vor- versammlung am Abend des ersten Tages wurde von dem Vorsitzenden. Gymnasialdirektor Dr. Altenburg in Wohlau, cröfnct. Er und der Vor- sitzende des Glogauer Herbartkränzchens, Gymmsiallehrer Bähnisch, be- grüfsten die Erschienenen herzlichst. Grüfse md Glückwünsche wurden der Versammlung durch Hauptlehrer Rüde au? Schulitz übermittelt von Lehrer Francke in Leipzig, Schriftführer des Y. f. w. P., Seminardirektor Dr. Staude in Koburg, Lehrer Grosse in Falle, Universitäts - Professor Dr. Willmann in Prag, Lehrer Jetter in Baach (Vürttembcrg), Lehrer Ziegler in Eichen, Schulrat Professor Dr. Ballauf in VAre», Seminarlehrer Dr. Cape- sius in Hermannstadt (Siebenbürgen), Privatdoienten Dr. Glöckner in Leipzig Oberlehrer Dr. Göpfert in Annaberg, Semnar- Oberlehrer Hausmann in

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uns für ihr Thun interessieren; schon ein blofser Zuruf, ein Wort freund- licher Ermunterung wirkt wohl gerade so viel als thatsächliches Eintreten in die Reihe der Spielenden Und wo bleibt, wenn der Lehrer sich dieser oder jener Spiclgruppe angeschlossen hat, die letzte Instanz, wenn Mei- nungsverschiedenheiten ausbrechen? Einer muls doch über den Parteien stehen : der Lehrer. Darum also noch einmal : Kein Mitspielen seitens i5es Lehrers. Die andere Krage, ob der Turn- resp. Spieluntcrricht du ch den Klassenlehrer oder eigens dafür ausgebildete Fachlehrer erteilt werden soll, beantwortet sich von selbst bei dem Hinweis auf die Einheitlichkeit des ganzen Unterrichtsgetriebes.

Ich bin am Schlüsse meiner Ausführungen. Vermögen wir durch die Pflege des Bewegungsspieles die erziehliche Aufgabe von der harmonischen Ausbildung des Körpers und Geistes zu lösen, können wir der wirtschaft- lichen Sache einen Dienst leisten durch Heranziehung der reiferen Jugend zum Spiel, das den verderblichen Sonntagsvergnügungen, als da sind Kartenspiel und überreicher Biergenufs einen wirksamen Damm entgegen- stellt, fördern wir endlich die nationale Sache durch Heranbilding eines kräftigen Volkes, der besten Garantie für das Gelingen grofser Thaten in schwerer Zeit: dann haben wir unsere Pflicht nach Kräften erfillt. Wohl bleibt noch viel, unendlich viel zu thun übrig, der Erfolg kann a*er schliefs- lich nicht fehlen, wenn wir uns bei allen Veranstaltungen leitet lassen von dem bekannten Satze :

»Für unser Volk ein Herz.« Alzey. Mathes.

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Weimar, Seminardirektor Helm in Schwabach, Direktor Dr. Just in Alten- burg, Lehrer Krell in Dresden, Lehrer Lehmensick in Dresden, Lehrer Dr. Macnncl in Halle, Lehrer Tews in Berlin, Direktor O. W. Beyer in Wenigenjena, Lehrer Trüper in Jena, Seminarlehrer Pickel in Eisenach, Oberlehrer Krusche in Leipzig, Professor Dr. Menge in Halle, Pfarrer Rolle in St. Graba bei Saaifcld, Professor Falke in Arnstadt, Schuldirektor und Redakteur Scyfcrt. Letzterer schrieb an Hauptlehrer Rüde: »Ich würde Ihnen verbunden sein, wenn Sie davon Kenntnis nehmen wollten, dafs die »Deutsche Schulpraxis« sich die Förderung der praktischen Herbartschen Forderungen jeder Zeit angelegen sein lassen wird.« Mittelschullehrer Grabs in Glogau bestellte Grüfsc vom Seminardirektor Schulrat Spormann in Steinau, Universitäts-Professor Rein in Jena, Lehrer Granos in Exin und Lehrer Korbowicz aus Argenau, z. Z. in Paris, Rektor Prüfer in Glogau überbrachte Grüfse von einer Anzahl von Herbartfreunden aus Görlitz und von Lehrer Sturm aus Breslau.

Dann cirkulierten in der Versammlung Verzeichnisse der auf Herbart irgendwie bezüglichen Schriften von 52 hervorragenden Schriftstellern. Den Herren Verfassern, welche dem an sie gerichteten Ersuchen bereit- willigst entsprochen hatten, drückt der Unterzeichnete auch an diesem Orte seinen wärmsten Dank aus.

Hauptlehrer Rüde hatte unter erheblicher Beihilfe mehrerer Herren aus Glogau, sowie auswärtiger Herren und Verlagsfirmen eine Ausstellung der Herbartlitteratur, soweit sie ihm zugänglich war, für die Versammlung veranstaltet. Es sollte damit ein Einblick in den Umfang und die Tiefe der bezüglichen Litteratur und Anregung zum Studium gegeben werden. Das Unternehmen war dem Veranstalter eine Vorarbeit für eine heraus- zugebende Herbart-Bibliographic.

Es wurde beraten, in welcher Weise in den beiden Provinzen für die Verbreitung der Herbartschen Pädagogik zu wirken sei. Für die Haupt- versammlung wurde die Tagesordnung festgesetzt.

Zum Schlüsse der Vorversammlung gab Rüde einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Herbartschen Bestrebungen im Anschlüsse an einige von ihm zum 50. Sterbetage Herbarts in Ziltcsscns Deutscher Lehrerzeitung veröffentlichte Artikel, welche demnächst in erweiterter Ge- stalt in dem Verlage der genannten Zeitung als Broschüre erscheinen.

Die Hauptversammlung am nächsten Tage zählte gegen fünfzig Teil- nehmer. Erster Punkt der Tagesordnung war Grabs Vortrag über »Die Zucht und ihre Mafsregeln nach Herbart«. Der Vortragende be- handelte mit der ihm eigenen Gründlichkeit alle hierher gehörigen Punkte. Der Hauptinhalt des Vortrages findet sich in folgenden Leitsätzen ver- dichtet:

1. Alle Erziehungssorgen und Thätigkeiten lassen sich zusammen unter die Trias fassen: Regierung, Unterricht, Zucht. Letztere ist ein sehr wich- tiges Geschäft; denn ihr Thätigkeitsbereich ist das Gebiet der Über- zeugungen und Entschliefsungen.

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2. Weil in der Praxis Regierung und Zucht nicht genügend aus- einander gehalten werden, ist eine reinliche Sonderung geboten.

Die Regierung schafft die Vorbedingungen für Unterricht und Zucht, ihr ist es nur um eine Regelung des äufseren Betragens durch Anwendung von ;iufseren, d. h. nicht ins Gemüt eingreifenden Mitteln zu thun, ihr Zweck ist Fcrnhaltung von Unordnung, Schaden, Streit. Die Zucht dagegen, A clche die Bildung des Charakters bezweckt, wendet sich stets ans Innere und beruht auf Wohlwollen, Vertrauen, Einsicht und freier Entschliefsung.

3. Der Charakter ist konsequentes Handeln oder Erdulden. Derselbe ri wuchst aus der vollen Hingabe an das sittliche Ideal, beruht auf dem Wilsen vom eigenen sittlichen Können und bedarf der moralischen Wach- samkeit und steten Zügelung des Begehrens.

4. Der Angriffspunkt der Zucht ist die Individualität des Zöglings, ha her mufs das Charakteristische derselben nach der objektiven und sub- lrkuven Seite bekannt sein.

lUnter dem objektiven Charakter versteht man die wechselnden Bc- \\ :i tseinsvorgänge, die Einfälle, Wünsche, Belehrungen, Neigungen, Ent- m l.hefsungen, welche ununterbrochen entstehen, unter dem subjektiven ill< s. was der Zögling im Laufe seines Werdeprozesses als das Wahre, iiiic, Schöne und darum Normierende erkannt und woraus die Thätig- s<. !U_n der Selbstkritik, der Sclbstnötigung, Selbstbeherrschung entspringen).

5. Aufgabe der Zucht ist daher fortgesetzte Beobachtung des Zög- lings hinsichtlich der Entwickelung seines Selbst-, Ehr-, Rechts-, Schön- n us- und Mitgefühls, seiner Gewöhnungen und Grundsätze; aber auch die LM-eborne Anlage mufs erforscht werden, hauptsächlich ob er Beharrlich- st t des Wollens besitzt.

6. Da das Prinzip des Charakters das Handeln ist, so mufs die Zucht !- n Zögling vielfach zu gebotenem Handeln veranlassen und das Handeln .ms freiem Willen begünstigen und gestatten. Ein vorzügliches Werkzeug Ii i Zucht sind die Arbeiten in der Schule und zu Hause.

7. Für die Handhabung der Zucht im allgemeinen gilt folgendes :

a) Sie sucht Vertrauen und Zuneigung zu erzeugen, indem sie den kindlichen Frohsinn erhält und den kindlichen Gemütsbewegungen nachgeht

b) Sie ruft durch angemessene Arbeiten, welche dem Zögling gelingen und Beifall eintragen, die Uberzeugung vom eigenen Leistungsvermögen hervor und hebt das Selbstgefühl zu einer inneren, sittlichen Macht empor.

c) Sie unterstützt die Grundsätze des Zöglings im Kampfe mit den ik Gehrungen, Einfällen, Affekten, mit schlechtem Umgange.

d) Sie schärft durch Mifsbilligung, welche durch eine Abtönung der 1<. rsönlichen Begegnung Ausdruck erhält, durch Tadel und Strafe das de wissen.

e) Sie verstärkt durch Wort und Beispiel die innere Autorität der sitt!ichen Maximen.

f) Sie begleitet den Zögling jenseits der Schwelle des Schulhauses, der Schulzeit und wandelt die Autorität zu Freundschaft.

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8. Eine Hauptforderung an den Lehrer ist, dals er seine ganze Kraft auf das Erziehungswerk konzentriere und dem Schüler die immer gleiche Stirn zeige.

9. Besondere Hemmnisse der Zucht sind

a) formaler Natur: Mangel an Festigkeit des Wollens in vielseitigem Interesse, öftere Störung der Gemütslage;

b) organischer Natur: Fehlerhafte Ausbildung des Selbstgefühls, Fehlen des Wahrheitssinnes.

10. Besondere Veranstaltungen der Zucht sind Schülerausllugc Kimler- gottesdienste, Individualitätsbilder, Schulgärten etc.

Die Debatte erging sich namentlich auf die Unterscheidung von Regierung und Zucht, objektivem und subjektivem Charakter Die Thesen wurden ohne Debatte angenommen.

Gleich darauf sprach Dr. Altenburg über »Die Charakterbildung in ihren Beziehungen zum Zeitgeist und zur Reform des Schul wesens.« Während der erste Vortrag ein ideales Bild zeichnete losgelost von den gegenwärtigen Zeitverhältnissen, behandelte der zweite das Thema der Charakterbildung mit Rücksicht auf Zeitbedürfnisse. Ks erhebe sich gegenwärtig fast allgemein die Forderung nach Reform des Schu-wesen?. Da gelte es, in sich zu gehen, und so dränge sich denn auch die Krage auf: Haben wir nicht vielleicht zu viel Wert auf das Wissen gelegt und es vernachlässigt, dieses in That umzusetzen? Und der Charakter der gegen wärtigen Gesellschaft bestätige diese Vermutung. Es fehle unserem Ge- schlechte an Frische und Ursprünglichkeit des Empfindens, an der Fähig- keit, sich für etwas ehrlich zu begeistern. Es fehle die Arbeitsfreudigkeit Gewisse Züge des Zeitgeistes, z. B. das Strebertum, deuten auf den Wider- spruch zwischen Reden und Thun hin, der auf einem klugen, aber herz und thatenlosen Wissen beruhe.

Zur Charakterisierung des Zeitgeistes warf Redner Schlaglichter au! die auf- und absteigende Kurve in der moralischen und kulturellen Kn: wickelung der Griechen und der Römer. Von der hier zutage tretenden sittlichen Zersetzung ging der Redner auf die Ideale des lho;.hentum- und des neuen Testaments über, wo Ganzheit und Geschlossenheit des Wesens als Grundtypus des Charakters zu finden sei. Diese Ganzheit nun sei auch von uns mit aller Intensität anzustreben Dabei sei ein Zwei faches im Auge zu behalten: die Ganzheit sei nicht blols im einzelnen Menschen herzustellen, sondern auch im Verhältnis des einzelnen zur Ge - samtheit. Zum Schlüsse wurden die beiden wichtigen Begriffe des Interesses und der Konzentration behandelt.

Nach einer Pause wurde zum dritten Punkte der Tagesordnung ge- schritten, Rüdes Vortrag über »Quellen im Geschichtsunterricht (mit besonderer Berücksichtigung der Kulturgeschichte)«. Die Geschichte- ist einer der jüngsten Unterrichtsgegenstände, namentlich der Volksschuh Daraus ist es auch zu erklären, dafs ihre Methodik verhält msmäfsig wenig ausgebaut ist. Erst in den letzten Jahrzehnten hat man ihr besondere Pflege zugewandt, namentlich auf Seite der Herbartschen Schule, hin

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gehend wurden behandelt die Bedeutung und die Stellung des historischen Unterrichts in der Erziehungsschule, die propädeutischen Kurse zu dem- selben, die Fra^c nach der Einführung bezw. Eingliederung der Kultur- geschichte, die methodische Behandlung und Erarbeitung des Geschichts- stoffes und bezüglich des letzten Punktes besonders auch die Bedeutung historischer Quellcnstoffe. Diese Frage in Flufs gebracht zu haben, ist ein Verdienst der Herbartschen Schule. Der Vortrag ging auf die biographisch- chronologische Anordnung des Geschichtsstoffes und auf die gewöhnliche Art der Darbietung, den Vortrag des Lehrers ein. Die Anwendung der Ouellenstoffe schliefst die rein biographische Methode aus und widerstrebt der Darbietung des Stoffes wesentlich durch den Vortrag. Es wurden die Vorzüge und Nachteile des letzteren und der Quellenbcarbeitung abge- wogen. Dann wurde auf die Geschichte der in Rede stehenden Be- strebungen eingegangen. Eingehend wurde über das Verfahren Schillings, Blums und Albert Richters an der Hand der betreffenden Quellenbücher referiert. Biedermanns Vorschläge zur Betreibung des kulturgeschichtlichen Unterrichtes und der Standpunkt der Zillcrschcn Schule in dieser Frage fanden genaue Erörterung. Weiterhin hiefs es: Politische und Kultur- geschichte müssen im Kausalzusammenhange geboten werden. Bei Bieder- mann tritt nun die erstere in allzugrofsc Abhängigkeit von der letzteren. Sie wird nur soweit behandelt, als sie zur Erklärung der Zustände dient, Dabei liegt die Gefahr ihrer Unterschätzung nahe. Ein anderes Verfahren besteht darin, dafs die Kulturgeschichte sich der politischen einfügt. Wo die Ereignisse ein Verweilen bei den Zuständen verlangen oder gestatten da wird auf dieselben eingegangen, sonst nicht. Es ist ersichtlich, dafs diese Betrachtungsweise der Willkür einen grolsen Spielraum läfst. Wir selbst nehmen folgenden Standpunkt ein: Es mufs unbedingt der Kausal- zusammenhang zwischen politischer und Kulturgeschichte gewahrt werden Das Verhältnis darf jedoch nicht einseitig aufgefafst werden, wie es bei Biedermann geschieht, wenn er die Ereignisse nur als Ursachen der Zu- stände erscheinen läfst, und wie es andererseits in einer Bemerkung von Hermann und Krell hervortritt, welche sie nur als Folgen innerer Zustände betrachten. Diese treiben zu den Ereignissen, und die Ereignisse bewirken die Zustände oder bereiten sie wenigstens vor. Dieser Gesichtspunkt sei der leitende bei der historischen Betrachtung. Zum Schlüsse wurde über die selbständige Behandlung der Quellenstoffe abgehandelt. Aus dem Vor- trage wurden folgende Forderungen gezogen:

I. Die Darbietung des geschichtlichen Stoffes isowohl des politischen als des kulturgeschichtlichen) geschieht neben der darstellenden Form wesentlich durch das Lesen von Quellen seitens der Schüler, da dieses Verfahren

a) mehr als jedes andere den Vorzug epischer Breite und Anschau- lichkeit der Darstellung in sich schliefst.

b) die Selbstthätigkeit des Schülers in hervorragendem Mafse in An- spruch nimmt,

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c) ihn daran gewöhnt, selbständig zu lesen und die Belehrung an den Quellen zu suchen.

II. Der Vortrag seitens des Lehrers tritt der Erarbeitung des Stofles durch Quellen ergänzend zur Seite.

III. Abgerundete Quellen stücke verdienen vor Quellensätzen den Vorzug, da sie mehr als diese

a) eine geordnete Totalauffassung ermöglichen,

b) ein nachhaltiges Interesse zu erzeugen vermögen. Quellensätze können zur Ergänzung der Quellenstücke verwendet

werden und zwar umsomehr, je reifer die Verstandesbildung und je nach- haltiger das historische Interesse des Zöglings ist.

IV. Die Auswahl der Quellen mufs folgende Gesichtspunkte unmittel- bar im Auge behalten:

a) Das rein Zuständliche wird angängigst in ein Werden aufgelöst oder wenigstens an eine Handlung gebunden;

b) die Weckung eines gleichschwebenden vielseitigen Interesses als nächster Unterrichtszweck und

c) die Heranbildung eines sittlich-religiösen Charakters als letztes Er- ziehungsziel wird angestrebt.

Die Versammlung erkannte die hohe Bedeutung der Quellenlektüre für den Geschichtsunterricht an, nahm aber zu einzelnen Fragen nicht Stellung.

Schulitz. Adolf Rüde.

6 Versammlung der Zweigvereine Aitenburg, Halle, Jena,

Leipzig in Weissenfeis.

Die diesjährige gemeinsame Sitzung fand Sonntag den 8. November in Weifsenfeis (Schumanns Garten) statt. Den Vorsitz führte der Zweig- verein Leipzig (Dr. Glöckner, Privatdozent). Vorträge wurden gehalten von Ufer-Altenburg über das Wesen des Schwachsinns mit besonderer Berücksichtigung von Sollier, Psychologie de l'idiot et de Hmbdcile. Paris, 1891. An der Debatte beteiligte sich namentlich Trü per- Jena, der Vorsteher einer Anstalt für schwer erziehbarc Kinder. Inbezug auf die pädagogischen Folgerungen, die aus den psychologischen Grundlagen ge- zogen werden können, kamen die beiden Herren zu entgegengesetzten Forderungen, insofern Ufer für Schwachsinnige die Dressur, Trüper die vielseitige Bildung empfahl, wie bei geistig normalen Kindern. Scholz- Jena gab sodann eine Kritik der Hcimatskunde des Hauptmanns Rott, die dahin zusammengefafst werden kann, dafs das Buch zwar ganz in den

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Bahnen Fingers und seiner Nachfolger wandelt, aber in starken Ober- treibungen sich von einer gesunden psychologischen Grundlage so weit entfernt, dafs es nicht empfohlen werden kann. Dr. Rofsbac h-Altenburg führte in dem 3. Vortrag eine Reihe geschichtlicher Unrichtigkeiten vor und machte zum Schlufs Bedenken gegen die Behandlung von historischen Gedichten als Ausgangspunkten der methodischen Einheiten geltend. End- lich regte Dr. Wohlra be- Halle bei schon vorgeschrittener Zeit die hoch- wichtige Frage der Lehrerbildung an, die wohl verdient in herbartischen Kreisen einer erneuten gründlichen Prüfung unterzogen zu werden.

In den geschäftlichen Verhandlungen wurde der Beschlufs gefafst für Mitteldeutschland einen Thüringer Verein für wissenschaftliche Pädagogik ins Leben zu rufen. In den Vorstand werden gewählt Professor Rein und Dr. Glöckner. Als Bevollmächtigte werden ernannt Dr. Just-Altcn- burg, Dr. W oh 1 r a b e - Halle, Dr. Beyer- Jena, Fr. Francke-Leipzig. Das Recht der Erweiterung durch Hinzuziehung neuer Mitglieder wird dem Vorstand übertragen. (S. nachstehende Mitteilung: Der Verein der Her- bartschen Pädagogik für Thüringen und Sachsen.)

7. Verein für Herbartische Pädagogik in Rheinland und

Westfalen.

Zu der 14. Hauptversammlung des Vereins, die am 28. Dezember 1891 zu Elberfeld stattfand, waren mehr als 200 Teilnehmer erschienen. Unter ihnen befand sich zur Freude aller Anwesenden auch Herr Rektor Dorp fei d, der Nestor der bergischen Lehrerschaft, der trotz seiner 68 Jahre sich mit jugendfrischer Begeisterung und Rührigkeit (an den Be- sprechungen beteiligte. Die Versammlung, die von 9*^ Uhr Morgens bis 7 Uhr Abends dauerte, wird wegen ihres erhebenden Verlaufs noch manchem lange in Erinnerung bleiben : ein älterer Freund hielt sie für die schönste, der er in seinem Leben beigewohnt habe. Bei Eröffnung der Konferenz trug der Elberfelder Lehrergesangverein unter Leitung seines Dirigenten, des Königl. Musikdirektors Alfr. Dreycrt, zwei trefflich gesungene Männer- chöre vor, nämlich 1. O bone Jesu, von Palestrina. 2. Du Hirte Israels, von ßortmanski, wodurch der Tag in schöner Weise eingeleitet wurde.

Als erster Verhandlungsgegenstand stand auf der Tagesordnung das Thema: Die freie Schulgemeinde im Licht der heimatlichen Schulgeschichte. Wir wollen hier auf die Einzelheiten des einleitenden Vortrages nicht eingehen, da derselbe demnächst im Druck erscheinen wird. Er bildet nämlich das erste Kapitel der von Herrn Dörpfcld ver- fafsten Denkschritt über die Schulgemeinde, einer Schrift, die durch

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den vom Minister von Gofsler eingebrachten Schulgesetzentwurf veranlafst wurde. Sie enthält im ganzen 8 Kapitel. Das 2. Kapitel betrachtet die Schulgemeinde vom Standpunkte des Familienrechts an der Erziehung, das 3. von dem der Zweckmäfsigkeit, das 4. von dem der Gewissensfreiheit, das 5. legt dar, was die Schulgemeinde im Blick auf das Selbstverwaltungs- prinzip bedeutet, das 6. nimmt Bezug auf den ewigen Streit zwischen Staat und Kirche um die Schule, bei dem der Lehrer seither die Kosten be- zahlen mufste, das 7. lenkt den Blick auf die Bedeutung der Schulgemeinde für die Pädagogik, das Schulamt und den Lehrerstand, das S. legt dar, was die Schulgemeinde bedeutet im Hinblick darauf, dafs die Schulverwaltung vor allem die Aufgabe hat, das Interesse für die Schulerziehung zu wecken.

Das erste Kapitel, das auf der Versammlung zum Vortrag kam, geht vom dem Gedanken aus, dafs die Dinge, die eine geschichtliche Entwicke- iung gehabt haben, auch nach diesem ihrem Entwickelungsgange betrachtet werden müssen, wenn ihr wahres Wesen recht begriffen werden soll. An der Hand der bergischen Schulgeschichte wurde nun Aufschlufs gegeben über den Begriff, die Bedeutung, die Organisation und die Segnungen der Schulgemeinde. Das Ergebnis der Untersuchung gipfelte in folgenden Sätzen :

1. Die Schulgemeinde ist ein Verband von Familien auf Grund des Elternrechts zur gemeinsamen Erziehung der Jugend.

Die gemeinsame Erziehung bedingt, dafs die betreffenden Familien in den wichtigsten Erziehungsgrundsätzen übereinstimmen, also vor allem gewissenseinig sind.

2. Im Vergleich zur Kommunal- und zur Kirchengemeinde-Schule be- zeichnet die Entstehung der Schulgcmcindc den Höhepunkt der Schul- entwickelung.

Die beiden ersteren Formen sind nur unvollkommene Vor- und Durch- gangsstuien.

Die zeitliche Reihenfolge der drei Formen stellt auch genau ihre Rangstufenfolge dar.

3. Nicht die kleine Einzel-Schulgemeinde, sondern ein grösserer Schul- gemeinde-Verband mufs die Schullasten übernehmen, also zunächst der innerhalb einer bürgerlichen Gemeinde.

Diese Weise der Schulunterhaltung hat daher lediglich den Sinn, dafs die beteiligten Schulgemeinden eine gemeinsame Schulkasse gegründet und deren Verwaltung der Kommunalbehörde übertragen haben.

Der Letzteren können daher nur diejenigen Rechte der Schul- gemeinden zufallen, welche sich auf die Verwaltung der Schulkassc be- ziehen, die übrigen Schulrechte verbleiben nach wie vor der einzelnen Schulgemeinde.

4. Die Schulgemeinde ist von grofser erziehlicher Einwirkung auf die Bevölkerung :

a. sie belebt in den Familien das Interesse an der Schulbildung und ihren Anstalten, regt in ihnen den freien Opfersinn an und

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wendet ihn der Schule zu, stärkt in ihnen das Bewulstsein ihrer Mündigkeit in Erziehungsangelegenheiten, ermöglicht ein ge- deihliches Zusammenwirken von Schule und Haus und verleiht der Bevölkerung das Geschick zur Selbstverwaltung; b. sie dient in gleich forderlicher Weise dem Schulamte: sie ver- hilft diesem zu der ihm gebührenden Achtung, wirkt nachhaltig ein auf die berufliche Tüchtigkeit, persönliche Ehren- haftigkeit, standesgemäfse Haltung, Besonnenheit und Selbständigkeit des Lehrerstandes und hilft auch dessen äufsere Lage angemessen aufbessern. Während der Nachmittagssitzung kam das Thema: Zweck und >Auf- gabe der Elternabende« zur Verhandlung, über welches Herr Danz (Barmen-Wichlinghausen) den einleitenden Vortrag hielt. Der Vortragende begründete folgende Thesen:

1. Die Elternabende haben den Zweck, eine Verbindung zwischen Schule und Haus herzustellen und dadurch ein gedeihliches Zusammen- wirken beider in der Erziehung zu ermöglichen.

2. Demgemäls besteht ihre nächste Aufgabe darin, über Ziele und Mittel der Erziehung richtige Begriffe zu vermitteln, insbesondere den über die Schule verbreiteten Vorurteilen entgegenzuarbeiten.

3. Die Elternabende sollen ferner Eltern und Lehrer veranlassen, die an den Kindern gemachten Beobachtungen gegenseitig auszu- tauschen und eine Verständigung darüber zu suchen, wie den besonderen Bedürfnissen der einzelnen Kinder entgegenzukommen ist.

4. Die Elternabende haben weiter die Aufgabe, ein Vertrauens- verhältnis zwischen Eltern und Lehrern anzubahnen und die Familien mit dem für das Gedeihen der Schulerziehung notwendigen Interesse für die Schule zu erfüllen.

5. Die Elternabende sollen ferner den Eltern Gelegenheit geben, sich bei dem Lehrer Rat zu holen in betreff der Berufswahl und der Fort- bildung der der Schule entwachsenen Kinder; insbesondere noch soll den Eltern die dringende Notwendigkeit einer Sittenbeaufsichtigung der halbwüchsigen Jugend ans Herz gelegt werden.

Auch an diesen Vortrag schlofs sich eine lebhafte Besprechung an, in welcher von allen Seiten ebenso die Notwendigkeit wie die Zweckmäfsig- keit derartiger Veranstaltungen betont wurde. Herr Dörpfeld und Herr Horn wiesen dann noch in eingehender Weise auf die Erfahrungen hin, die sie in früheren Jahren bei diesen Unternehmungen gesammelt hatten.

Elberfeld. A. Lomberg.

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8. Zum Comenius-Jubiläum. 28. März 1892.

Verzeichnis der über Comenius erschienenen Schriften,

Bilder u. s. w.*)

Jul. Beeger u. Fr. Zoubek, J. A. Comenius, nach seinem Leben und

seinen Schriften etc. Mit Stahlstich-Portrait Leipzig, Max Hesse. Bericht über die Vorversammlung der Comenius-Gcsellschaft am 9. u.

10. Oktober 1891. Münster, Verlag der Comenius-Gesellschaft. Bötticher, W., Die Erziehung des Kindes in seinen ersten sechs Jahren

nach Pestalozzi und Comenius. Znaim 1892 Briese, M. E., Pädagogische Verwandtschaft zwischen Comenius u. Aug.

Herrn. Franckc. Leipzig, Sigismund u. Volkening (Päd. Sammelmappe,

Heft 102).

Buddensieg, Joh. Wiclif und seine Zeit. Zum 500 jähr. Wiclif- Jubiläum.

Halle a. S. (Schriften d. Vcr. f. Ref.-Gesch. 8 u. 9). Castens, A., Was muss uns veranlassen, im Jahre 1892 das Andenken an

Comenius festlich zu begehen? Znaim 1892. Castens, A., Über »Eins ist not« von Comenius. Znaim 1892. Comba, E., Histoirc des Vaudois d'ltalic P. I. Avant la rdforme. Paris 1887. Reproduktion des Kupfertitcls der 1057 zu Amsterdam erschienenen Opera

didactica ommia des Comenius, besorgt von R. Aron Zu beziehen

durch G. Nauck (Fr. Rühe), Berlin SW 12. Stahlstich-Portrait des Comenius. Nach dem Stich von A. Weger ir\

Leipzig. Verlag von Sigismund u. Volkening. F>üste des Comenius, 65 cm hoch bei K. Pcllegrini, Prag, Ferdinandstr. 136. Comenius' Zehn Sittengebote. Entworfen und herausgegeben von Jos.

Klika. Auf einer 110 X So cm grossen Wandtafel. Verlag v. K Jansky

in Tabor.

Comenius' Schola ludus d. i. Die Schule als Spiel. Ins Deutsche über- tragen von Wilh Bötticher. Langensalza 1S88.

C om e nius, Das Testament der sterbenden Mutter. Deutsch mit Lebens- Abrifs des Comenius. Leipzig 1866.

Comenius, Passions-, Oster- und Himmclfahrtspredigten. Herborn 1882 (£u beziehen durch Schergens in Bonn.)

Comenius, Panegersie, deutsche Übersetzung in C.'s Ausgewählte Schriften, herausg. von Beeger u. Leutbecher. Leipzig, Sigismund u. Volkening.

Comenius" Mutterschulc. Mit einer Einleitung hrsg. von Alb. Richter. Leipzig 1891.

Criegern, Herrn Ferd. v., Joh. Arnos Ccmenius als Theolog. Ein Bei- trag zur Comcnius-Litteratur. Leipzig u. Heidelberg 1881.

*) Ein Venteiehni* der Orifclnalttcliriftcn des Comenius bei /.otibek (8. I0o f.) und be; yffurth (8. 139 f.). Vorgl. W. Müller, Comenius uJs SystPinntlter der l'ii •laguiflk.

Pädagogen* Studien. II. ^

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Ziegler, A., Beiträge zur älteren Geschichte des Gymnasiums zu Lissa. Lissa 1855.

9. Verein für herbartische Pädagogik in Thüringen

und Sachsen.

Schon vor Jahren auf der Vorversammlung zu Nürnberg Pfingsten 1888*) hat der Herausgeber d. Z. darauf hingewiesen, wie notwendig es sei, die Organisation des Vereins für wissensch. Pädagogik dadurch zu vervollkommnen, dafs das über Deutschland ausgespannte Netz von Zweig- vereinen in verschiedene Gruppen zusammengeschlossen werde, die den regen Gedankenaustausch zwischen den Freunden der hcrbartischen Päda- gogik innerhalb bestimmter Provinzen und Landschaften sich zur Aufgabe stellen.

Mehrere solcher Gruppen entfalteten in den letzten Jahren ein reges pädagogisches Leben. So der Verein für herbartische Pädagogik in Rhein- land und Westfalen, in Posen und Schlesien, in Unterfranken, in der Schweiz u. s. w.

Eine ähnliche Verbindung bildeten seit einer Reihe von Jahren die Zweigvereinc Altcnburg, Halle, Leipzig und Jena. Auf der letzten Zusammenkunft in Weifsenfcls im Herbst 1891 wurde der Gedanke ange- regt, diese Vereinigung auf Thüringen auszudehnen.

Unser Vorschlag geht nun noch weiter, insofern er dahin zielt, eine Verbindung der Herbartfrennde in ganz Mitteldeutschland, namentlich in Thüringen und Sachsen herbeizuführen.

Mit der Vorbereitung auf die erste Thüringische Versammlung, die im Herbst 1892 stattfinden soll, wurden Dr. Glöckner-Leipzig und Prof Rein -Jena beauftragt.

Dieselben haben sich dahin geeinigt, für den Herbst 92 Zeit und Tagesordnung wird später bekannt gegeben werden die Herbartfreunde Thüringens und Sachsens zu einer Versammlung nach Erfurt einzuladen, um die endgiltige Einrichtung des Vereins für Mitteldeutschland zu schaffen. Zu diesem Zwecke sollen nachstehende Satzungen, die dem Verein für

•) S. KrlSuterungeu »uro J«l rbnch XX, S. b.

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Rheinland und Westfalen nachgebildet sind, der Versammlung zur Be- sprechung bez. zur Annahme vorgelegt werden:

Satzungen des Vereins für herbartische Pädagogik in Thüringen

und Sachsen.

I. Vom Zweck des Vereins,

§ i. Der Verein hat die Förderung der Schulerziehung auf Grund der Herbartischen Pädagogik zum Zweck.

§ 2. Zur Erreichung dieses Zweckes hält der Verein in jedem Jahre eine Hauptversammlung ab. Um für die auf dieser Versammlung statt- findenden Verhandlungen eine gemeinsame, breite und sichere Grundlage zu gewinnen, strebt der Verein überall die Gründung von Ortsvereinen an. Damit die Arbeit derselben sich nicht zu sehr zersplittere und auch der Gesamtheit zu gute komme, macht der Verein aufmerksam auf Schriften und Aufsätze, die sich zum gemeinsamen Studium besonders empfehlen.

II. Von der Mitgliedschaft.

§ 3. Mitglied kann jeder werden, der den Bestrebungen des Vereins zugeneigt ist.

§ 4. Der Eintritt in den Verein geschieht durch schriftliche An- meldung bei den Vorstandsmitgliedern; der Austritt erfolgt auf demselben Wege

III. Von den Beitragen.

§ 5. Jedes Mitglied zahlt einen jährlichen Beitrag von 1 M., der von den Bevollmächtigten des Vereins erhoben und dem Rechnungsführer ein- gehändigt wird.

§ 6. Beiträge sind im Januar jeden Jahres zu entrichten.

IV. Von der Recbnnngsablagc.

§ 7. Die Rechnungsablage erfolgt in der Herbstversammlung. Zur Prüfung der Jahresrechnung besteht ein Ausschufs von zwei Mitgliedern, der alljährlich von der Versammlung neu gewählt wird und dieser über das Ergebnis der Prüfung Bericht zu erstatten hat.

V. Vom Vorstand.

§ 8. Der Vorstand besteht aus fünf Personen: dem Vorsitzenden, dem Schriftführer, deren Stellvertretern und dem Rechnungsführer.

§ 9. Die Vorstandsmitglieder werden in der Herbstversammlung auf drei Jahre gewählt. Wiederwahl ist gestattet. Die Wahl geschieht durch Stimmzettel, doch ist, wenn kein Widerspruch erfolgt, auch die Wahl durch Zuruf zulässig. Bei der Wahl entscheidet absolute Stimmenmehrheit, bei Stimmengleichheit das Los.

VI. Von den Berolliriiichtijrten.

§ 10. Der Vorstand ist ermächtigt, zur Regelung der Vereins- angelegenheiten eine beliebige Zahl von Bevollmächtigten zu ernennen. Sie nehmen die Vereinsschriften in Empfang, besorgen deren Absendung an die Mitglieder ihres Bezirks, sind bei der Einziehung der Jahresbeiträge behülflich, setzen sich namentlich die Gründung und Unterhaltung vori

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Ortsvereinen zur Aufgabe und suchen überhaupt auf alle Weise die In- teressen des Vereins zu fördern.

VII. Vnn der Hauptversammlung.

§ n. Alljährlich wird eine Hauptversammlung abgehalten, und zwar in den Michaelisferien.

§ 12. Die jedesmalige Tagesordnung wird vom Vorstande einen Monat vor der Sitzung zur Kenntnis der Mitglieder gebracht werden.

§ 13. Zu der Hauptversammlung sind von den Ortsvereinen besondere Vertreter zu entsenden. Diese haben über die Thätigkeit der Ortsvereine im verflossenen Jahre kurzen Bericht zu erstatten.

§ 14. Die Versammlung bestimmt den nächsten Versammlungsort.*)

VIII. Ton den Abänderungen der Satzangen.

§ 15. Abänderungen der Satzungen können nur in der Hauptver- sammlung vorgenommen werden; es entscheiden dabei drei Viertel der Anwesenden.

Leipzig und Jena, Februar 92.

Dr. Glöckner. Prof. Rein.

Anmeldungen unter Beilage des Jahresbeitrags von 1 M. nehmen schon jetzt die Unterzeichneten entgegen. Es wird noch besonders darauf hingewiesen, dafs die Mitgliedschaft im Thüring -sächs. Verein nicht die Teilnahme an dem Hauptverein für wiss. Pädagogik zur Voraussetzung hat.

10. Nekrolog von DDr. 0. Frick.

Von Prof. Dr. R. Menge in Halle a/S.

Dienstag den 19. Januar 1892, mittags 12 Uhr verstarb im 60. Lebens- jahre infolge von Influenza Dr. theol. und phil. Otto Paul Martin Frick, der Direktor der Franckeschen Stiftungen zu Halle a. S., ein Schul- mann, der unsern Lesern wohlbekannt ist als eifriger Förderer des er- ziehenden Unterrichts. Er wurde geboren am 21. März 1832 in Schmitzdorf bei Rathenow, wo sein Vater Pastor war. Nachdem er am Joachimsthalschen Gymnasium Michaelis 1851 die Reifeprüfung abgelegt hatte, studierte er in Berlin und Halle Philologie und Geschichte. 1855 bestand er seine Staatsprüfung und erwarb sich die Doktorwürde. 1855—1857 verbrachte er in Konstantinopel als Hauslehrer bei dem preufsischen Gesandten von Wildenbruch. Hier unterrichtete er den jetzt so berühmten dramatischen Dichter Ernst von Wildenbruch, der seinem Lehrer stets grofse Anhänglich-

•) Vielleicht dürft« m aioh empfehlen, einfech zwischen Erfurt and Leipsig su wechseln. Beide StUdte liegen Im Mittelpunkt der betr. Länder und heben gnte Eleenbahnverbindangcn.

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keit und Hochachtung bewahrt hat. Während seines Aufenthaltes am Bosporus wurde auf dem Hippodrom in Konstantinopel von den Engländern die bronzene Schlangensäule ausgegraben , die einst den Untersatz des goldenen Dreifufses bildete, den die Griechen nach der Schlacht bei Platää in Delphi aufgestellt hatte. Frick ;war Zeuge dieser Ausgrabung und ver- öffentlichte nach seiner Rückkehr ins Vaterland: Das Platäische Weihgeschenk in Konstantinopel, Leipzig 1859. Auch über den Bosporus und die Troas schrieb er mehrere beachtenswerte Aulsätze. Sein Aufenthalt im Orient, seine Kenntnis Griechenlands und Italiens, die er auch damals bereist hatte, trugen ihm überhaupt reiche Früchte, auch für seinen Unterricht, in dem die genaue äufsere und innere Anschauung des Schauplatzes der Handlung stets eine grofse Rolle spielte. Ja auch sein rasches Aufsteigen zu hohen Stellungen brachte er selbst in Zusammenhang mit seiner, besonders für jene Zeiten, so ungewöhnlichen Vorbildung. Nur sieben Jahre war er Gymnasiallehrer in Berlin, Essen, Wesel, Barmen. Bereits 1864 wurde ihm die Gymnasial- direktion in Burg anvertraut, wo er vier Jahre mit grofsem Erfolg thätig war. Nachdem er dann 1867—1874 das Gymnasium in Potsdam, 1874— 1878 das in Rinteln geleitet hatte, wurde er als Rektor der Latina an die Franckeschen Stiftungen in Halle a. S. berufen, deren Direktor damals Dr. Adler war. Als dieser nach wenigen Jahren starb, wurde Frick Michaelis 1880 Direktor der Stiftungen. War er bis dahin nur im engeren Kreise der Berufsgenossen bekannt gewesen, so lenkte er jetzt die Aufmerksamkeit vieler auf sich, indem er ernste Versuche machte, die Unterrichts- weise am Gymnasium zu bessern Er hatte richtig erkannt, dafs vor allen Dingen die Vorbildung der Gymnasiallehrer für ihren Beruf eine zweckmäfsigere werden mufste, und eröffnete deshalb 1881 bereits das einst von A. H. Francke begründete, aber eingeschlafene Seminarium praeeep- torum. Auf der sächsischen Direktoren-Konferenz des Jahres 1883 hatte er mit Friedet das Referat über die Frage: Inwieweit sind die Herbart- Ziller-Stoyschen Grundsätze für den Unterricht der höheren Schulen zu verwerten? Durch Veröffentlichung dieses Referates brachte er Aufregung in weite Kreise. Er fand zunächst mehr Widerspruch als Anklang. Seine Gegner waren teils im Lager der strenggläubigen Theologen, teils in dem der Schulmänner. Jene Uelsen sich erst allmählich überzeugen, dafs sich gläubiges Christentum mit Herbartscher Didaktik vereinigen lasse, diese bekämpften eine Lehrmethode mit Eifer, welche dem Nicht- kenner die freie Entwickelung der Lehrerpersönlichkeit zu hemmen schien. Aber auch die Gleichgesinnten fanden sich zusammen, und von ihnen unterstützt lieis Frick seit 1884 erst mit Richter-Jena, später mit Meier-Schleiz die Lehrgänge und Lehrproben erscheinen, deren 30. Heft unmittelbar vor Fricks Tode ausgegeben worden ist. Wir haben über diese Zeitschreift zu verschiedenen Malen berichtet. Besonders die Hefte, welche Aufsätze von Frick selbst enthalten, sind wertvoll ; denn sein reicher Geist fand immer neue Gesichtspunkte, unter denen er, sei es die Lehrtätigkeit im allgemeinen, sei es einzelne Zweige derselben, betrachtete, und seine Leser zum Nachdenken und zum Nachprüfen ihrer eigenen

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Thätigkeit veranlafste. Das Seminarium praeseptorum gab ihm Gelegenheit seine Theorien zu erproben, und die Praxis brachte seinen schöpferischen Geist immer wieder auf neue Gedanken. Schon gereiften Kollegen suchte er seine Theorien nicht aufzuzwingen; aber niemand in seiner Umgebung konnte sich dem Einflüsse des unablässig thätigen Mannes entziehen, und die ganzen Stiftungen, welche Schulgattungen aller Art umschliefsen, wurden mehr und mehr von seinem Geiste durchdrungen, so dafs die zahlreichen Gäste, welche fortwährend aus allen Ländern zu Besuch kamen, das Wirken dieses Mannes erstaunt bewunderten.

Eifrig bemüht war er auch den Gymnasiallehrplan aus dem Zu- stande eines blofsen Aggregates überzuführen in den eines Organismus Der Schüler sollte heimisch gemacht werden in den drei Reichen: Natur, Geschichte, Gott. Neben rechter Stoffauswahl und gründlicher Stoffdurch- dringung sollte die Stoftverbindung angestrebt werden, indem der ganze Unterrichtsstoff um grofse Gedankencentren gruppiert würde. Für den Lehrplan der Prima besonders hat Frick Grundlagen geschaffen, die von allen beachtet werden müssen, die den Unterricht erziehend gestalten wollen.

Wie er auch auf längst von andern angebauten Gebieten neue Schätze zu heben wufste, bezeugen seine Erklärungsschriften zu deutschen Klassikern: zu Klopstock, dessen Oden besonders er durch glückliche Auswahl und sinnige Erklärung für die deutsche Schule wiedergewonnen hat, und zu den >Schuldramen« von Lessing, Goethe, Schiller, die er ästhetisch eben- sowohl wie psychologisch in einer Tiefe erfafst hat, wie wir es kaum anderswo finden. Es ist schmerzlich, dafs er dieses, sein umfangreichstes Werk nicht zu Ende führen konnte, bei Waüenstein ist es abgebrochen.

Wollten wir ein Vollbild des Verstorbenen zeichnen, so würden wir noch viele Seiten an ihm herausheben müssen und würden doch hinter unserm Ziele zurückbleiben. Denn solch eine reich entwickelte Persönlich- keit, die auf dem Gebiete der Schule, der Kirche und des politischen Lebens so kräftig gewirkt hat, kann von einem Einzelnen kaum gewürdigt werden. Wir verzichten also auf Vollständigkeit. Aber eines seiner Ver- dienste mufs noch erwähnt werden. Wenn es endlich gelungen ist, die revidierte Bibelübersetzung zustande zu bringen , die in diesem Jahre in der Canstcinschen Bibelanstalt herausgegeben wird, so ist das nicht zum geringsten ihm zu danken. Er war der Vorsitzende der Revisionskommis- sion und hat durch verständnisvolle und kluge Vermittelung die verschiedenen Bestrebungen, welche sich geltend machten, zu einem Ziele hin zu lenken gewufst. Die theologische Fakultät zu Halle hat ihn dafür geehrt, indem sie ihn zum Doctor theologiae honoris causa ernannte. Er selbst hat über das allmähliche Gelingen des denkwürdigen Bibelwerks noch vor wenigen Wochen Zeugnis abgelegt auf der Generalsynode in Berlin, deren Mitglied er war, und die Vorrede zu dieser Ausgabe hat ihn bis zuletzt beschäftigt; noch unmittelbar vor seinem Tode ist sie im Druck vollendet worden.

Sein Geist war immer auf Erweckung wahrer Vaterlandsliebe und Aufbau des Reiches Gottes auf Erden gerichtet. So ist es eine schöne Fügung, dafs sein Leben seinen Abschlufs gefunden hat mit dieser Gabe

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an das deutsche Volk, an seine evangelischen Glaubensgenossen. Gern hätte er es noch erlebt, dafs der deutschen Jugend eine Schulbibel in die Hand gegeben würde; aber der Tod hat ihn abgerufen, bevor dieser Plan greifbare Gestalt gewonnen hatte.

II. Selbstanzeige.

„Die Farn II fen rechte an der öffentlichen Erziehung."

2. Aufl. Langensalza, Beyer & S.

In meinen früheren littcrarisch-kritischen Bemerkungen »Zum Kampfe um die Schule« habe ich die Leser d Bl. aul einen herrschenden falschen Gegensatz in der Schulverfassungsfrage hingewiesen, der sie nie zur Lösung kommen lassen kann. Dafs der vorausgesagte Kulturkampf auf dem Schul - gebiete schon so bald den hohen Grad der Erregtheit erreichen würde, den er uns im preufsischen Abgeordnetenhause gezeigt hat, und dafs die preufsische Regierung mitsamt der deutschkonservativen Partei dabei ins Windthorstsche Lager übergehen und in der Schulfrage den Reformationsstandpunkt preisgeben würde, das habe ich allerdings nicht gedacht, so verlockend auch die ultramontanen Scheingründe für ein evangelisch-konservatives, dem landläufigen Tiberalismus mit seiner Simultan- schule und seiner kirchlich-religiösen Gleichgültigkeit und Kälte abgeneigtes Gemüt erachtet werden mufsten.

Anstatt darauf zu sinnen, wie sich die öffentliche Jugenderziehung vor dem starken politischen und sozialen Wellenschlage, insbesondere auch vor dem direkten Hasse der Sozialdemokratie schützen liefse, hat die in den oberen Kreisen überhandnehmende Furcht vor dem roten Gespenst sich von dem Centrum einen Schutzgesetzentwurf diktieren lassen, der die Schule fortan zu demselben Gegenstande der Verachtung und des Hasses machen wird, wie die Geistlichen, die die Hüter aller Volksbildung werden sollen und die religiösen Gemeinschaften, deren Konfession in der Schule besonders zu lehren ist, in den sozialdemokratischen Massen es längst sind.

Noch sind die Würfel nicht gefallen; noch wäre es möglich, die Bil- dung der Volksmassen vor der Umarmung römischer Gelüste wie vor der Abneigung der Familien zu schützen. Allein die politischen Parteien wissen keinen Ausweg.

Wir kennen einen solchen, und unsere pädagogische Richtung von Herbart bis Dörpfeld hat ihn fast einmütig als den einzig zweckmäfsigen empfohlen. Dieser Ausweg bildet das Familicnprinzip in der Schul- verfassung, wie ich es in meiner, 1890 in erster Auflage bei Beyer & Söhne in Langensalza erschienenen Schrift: »Die Familienrechtc an der öffentlichen Erziehung« in seiner Fortentwickelung dargestellt habe.

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Dieselbe erscheint nun binnen Kurzem in zweiter, sehr erweiterter und mit einem Vorwort von Herrn Prof. Rein begleiteter Auflage. Ins- besondere wird sie neben der Kennzeichnung der ultramontanen Ziele und Gefahren auch den Entwurf und seine Gefahren beleuchten, um dann auch die genetische Darstellung unseres neutralisierenden Prinzips mit einer Reihe von »Richtlinien für eine gesetzliche Regelung des Schulwesens« abzuschliefsen, welche Herr Prot. Rein und der Unterzeichnete dem hiesigen Zweigverein für wissenschaftliche Pädagogik zur Besprechung unterbreitet hatten.

In der achttägigen Hunnenschlacht des Abgeordnetenhauses sind nur die politischen und kirchenpolitischen Ansichten zur Geltung gekommen. Einige pädagogische dienten höchstens als Aushängeschild. Unsere Schritt will ein rein pädagogisches Prinzip abermals zum Ausdruck bringen.

Möge jeder Leser dieses Blattes an seinem Teile beitragen , dafs ein solches, von jedem unabhängig denkenden Pädagogen als allein richtig anerkanntes Prinzip zum Heile des künftigen Geschlechtes in dem Kampf um die Schule nicht überhört werde !♦>

Jena, im Februar 1892 J. Trüper.

C. Beurteilungen.

1.

A. Ohlert. Die Lehre vom franzö- sischen Verb. Ein Hilfsbuch für die systematische Behandlung der Verbalflexion auf der Mittelschule. Hannover b. C Meyer 1887.

A. Ohlert. Die Behandlung der Ver- balflexion im französischen Unter- richt. Eine Begleitschrift zur »Lehre vom französischen Verb.« Han- nover b. C. Meyer 1887.

A. Ohlert nimmt unter den Schul- männern , die in der fremdsprach- lichen Reformbewegung hervorgetre- ten sind , mit Recht eine hervor- ragende Stellung ein. Gleich weit von Extremen entfernt wahrt er einen durchaus selbständigen Stand-

punkt, der begründet liegt in wissen- schaftlicher Beherrschung sowohl der neueren Sprachen als auch der Päda- gogik. So sind denn auch die vor- liegenden beiden Schriftchen höch- ster Beachtung wert, selbst wenn man nicht in allen Punkten dem Verfasser vollständig zustimmen kann. Die Grundsätze, die er seiner Lehre vom französchen Verb zu Grunde gelegt hat, sind folgende:

1) Die französische Grammatik muss auch einer strengen Unter- scheidung zwischen Laut und Schrift . aufgebaut sein.

2) Die Lehre vom französischen Verb ist auf die beiden allgemeinen, die ganze sprachliche Entwicklung regelnden Prinzipien, das Betonungs-

*) Wir machen hier auglelch auf eine hervorragende Schrift untere« Dörpfeld aufmerksam ; Dm FondamenUtfiek einer gerechten, gesunden, freien und friedlichen Schul Verfassung. Hilchen- bach, Wlexaud t8M. Vergl. Deutsche Rundichau, Aprllheft 1892. (D. H.)

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ge8etz und das Verstummungsgesetz zu begründen.

3) Diese allgemeinen Lautgesetze sind nicht bei der Flexion des Ver- bums allein zu erörtern, sondern in ihren verschiedenen Erscheinungs- formen von der ersten Unterrichts- stunde an dem Schüler zum Bewufst- sein zu bringen, derart dafs die Eigen- tümlichkeiten in der Lehre vom Verb nur als die Konsequenz längst be- kannter Gesetze empfunden werden.

4) Ebenso ist die auf physio- logische Gründe zurückzuführende An- und Ausgleichung der Laute zu behandeln (Lautvermittelungsgesetz).

5) Formen, die zu ihrer Erklärung vulgärlateinische Grund- und alt- französische Zwischenformen erfor- dern, bleiben unerklärt.

6) »Hinweise auf das (klassisch) Lateinische gehören nicht in die Grammatik , sondern in einen be- sondern Anhang.«

Mit diesen Grundsätzen kann man sich gewifs ohne grofse Bedenken einverstanden erklären; hüten mufs man sich nur, dals man (bes. durch 1 u. 4) nicht zu systematischer Behand- lung der Lautphysiologie und zur Anwendung der Lautschrift sich ver- leiten läist. Ohlert scheint in letz- terer Beziehung gewisse Neigungen zu haben ; es finden sich in der »Lehre vom französischen Verb« eine häufige Anwendung phonetischer Transscriptionen. Nach meiner Mei- nung sollten sie aus allen Büchern für die lernende Jugend verschwinden. Manche Meinungen und Forde- rungen des Verfassers sind nun in den seit Erscheinen der beiden Hefte verflossenen Jahren teils in die Praxis aufgenommen, teils doch so allge- mein anerkannt, dafs ihrer prak- tischen Durchführung kaum noch Hindernisse im Wege stehen, soweit es auf die Lehrerwelt ankommt. Trotzdem bleiben diese beiden Werk- chen noch in mancher Beziehung lesenswert, und gern empfehle ich sie an dieser Stelle.

n.

Dr. phil. Ernst 0. Stiehler, Streifzüge auf dem Gebiete der neusprach-

lichen Reformbewegung. Marburg b. Elwert 1891. 0r phil. Ernst 0. Stiehler, Zur Metho- dik des neusprachlichen Unter- richts. Zugleich eine Einführung in das Studium unserer Reform- schriften. Nebst einem ausführ- lichen Quellenverzeichnisse Mar- burg bei Elwert. 1891. Seit mehr denn 10 Jahren wogt nun der Kampf um die Reform des Sprachunterrichts im allgemeinen, des neusprachlichen im speziellen. Aus den verschiedensten Ständen sind Kämpfer hervorgetreten: Neben Pädagogen und speziellen Fachlehrern erschienen Laien, verschiedenen Be- rufsarten angehörend, auf dem Plan. Es ist danach nicht zu verwundern, wenn der Gegenstand des Kämpfens nachgerade in materialer und formaler Hinsicht erschöpft erscheint und keine eigentlich neuen Gedanken und Ge- sichtspunkte mehr hergeben will, und dem entsprechend auch Schriften, welche die Reform zum Gegenstände haben, keine Ausbeute mehr liefern an fruchtbaren Gedanken, die nicht schon bekannt, nicht selten allge- meiner anerkannt, zuweilen freilich noch verkannt oder, wenn sie es nicht besser verdienen, schon ein für allemal abgethan wären.

Diese Überlegung scheint mir auch auf die vorliegenden beiden Schrift- chen von Ernst Stiehler zu passen. Dennoch möchte ich sie hiermit nicht einfach abgethan haben. Sie geben beide zusammen ein recht voll- ständiges und gerade darum dankens- wertes Bild von der gesamten Reform- bewegung, zugleich die Überzeugung weckend, dafs die Geister mehr und mehr zur Ruhe kommen, dafs be- sonders eine mittlere Partei mehr und mehr die Oberhand gewinnt und so das Durchdringen einer mafsvollen, besonnenen, die Hauptpunkte der Klagen treffenden Reform gewähr- leistet, wie sie in den beiden ge- nannten Schriften des Verfassers selbst bedeutend zum Ausdruck kommt. Zum Beweise führe ich die Hauptergebnisse der Betrachtungen Stiehlers hier an, es den Liebhabern überlassend, die Ausführungen im einzelnen in den angenehm ge-

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schriebcncn Schriftchen nachzulesen. Die »Streifzüge« behandeln im I. Teil »Die wissenschaftliche Grammatik im Sprachunterrichte und die Stellung der Grammatik bei den Reformern überhaupt « Das Ergebnis dieses Kapitels ist. »Die französische wie die englische Grammatik ist auf das für die Schüler unbedingt Nötige zu beschränken. Danach ist sowohl das Lehrbuch wie die Methode ein- zurichten. Deshalb ferner, weil sie durchaus keine Zeitersparnis be- deutet, weil sie noch gar nicht voll- ständig ausgebaut, endlich weil sie weder konsequent durchgeführt noch durchführbar ist, ist auch die soge- nannte »wissenschaftliche« gramma- tische Methode im praktischen Schul- unterricht nur bei den Kapiteln zu verwenden, bei welchen sie den Schülern wirklich ohne Zeitverlust zu gröfserer Klarheit verhelfen kann.«

Im zweiten Teil behandelt Stiehler die Lautphysiologie im Schulunter- richt und bekennt sich als energischer Gegner ihrer systematischen Ver- wendung, desgleichen als Gegner der Lautschrift. Und hier freue ich mich ganz besonders, ihn ganz als ineinen Kampfgefährten zu finden und den Standpunkt einnehmen zu sehen, den ich im Jahre 1886 und 1890 in meinen Arbeiten »Zur Neu- gestaltung des französischen Anfangs- unterrichts« und »Schriftliche Ar- beiten im neusprachlichen Unterricht« (Programme des Grolsh. Realgym- nasiums zu Eisenach) mit besonderem Nachdruck verteidigt habe. Ganz recht: unsere Schulaussprache des Englischen und Französischen ist ge- wifs nicht so schlecht, wie ein Traut- mann, Kräuter, Vietor u.a. sie machen wollen, aber es kann und mufs ihrer Pflege weit mehr Beachtung ge- schenkt werden als bisher, um zu erreichen, was hier erreichbar ist. Das kann aber nicht durch Ein- führung einer systematische Behand- lung der Lautphysiologie in den Unterricht geschehen und durch ge- sundheitswidriges Drillen der Schüler in irgend einer Lautschrift. Die Lehrer mögen, oder vielmehr müssen notgedrungen wenigstens mit den feststehenden Ergebnissen der Laut-

hysiologie bekannt sein und in der taatsprüfung einen dahingehenden Nachweis führen, weil sie eben mit allem bekannt sein müssen, was ge- gebenen Falls den Unterricht er- leichtern, das Lernen sicherer und erfolgreicher machen kann. Aus der Schrift »zur Methodik des französi- schen Unterrichts« führe ich beson- ders folgende Sätze an: »Die Forde- rung der Reformer, die Lektüre in den Mittelpunkt des Sprachunter- richts zu stellen, ist als berechtigt anzuerkennen. Das Schulgesetz ver- langt, dafs auf sie das Hauptgewicht gelegt werde. Nach der jetzigen Anlage unserer Grammatiken ist diese Forderung, falls die Stundenzahl in den neueren Sprachen nicht erhöht ' werden kann, nicht erfüllbar Es mufs deshalb der bisherige ausge- dehnte grammatische Unterrricht ein- geschränkt werden; namentlich sind syntaktische Feinheiten durchaus der Lektüre zuzuweisen. Was diese selbst angeht, so sind Einzelschrift- steller nur in den Oberklassen zu lesen, von ganz leichten abgesehen, die vielleicht der Untersekunda zu- zuweisen wären ; in die Mittel- und Unterklassen gehört das Lesebuch. In den letzteren wird das Lese- buch zunächst durch das mit zusam- menhängenden fremdsprachlichen Übungsstücken versehene gramma- tische Lehrbuch ersetzt. Die poe- tische Lektüre der Geistesheroen unserer Nachbarvölker darf dem Primaner eines Gymnasiums oder Realgymnasiums keinesfalls ver- schlossen bleiben « Das Obersetzen in die fremde Sprache glaubt Stiehler nicht entbehren zu können. Seine Gründe dafür, die alten, allbekannten, leuchten mir freilich nicht ein, und ich mufs auf dem in meiner Abhand- lung: »Die schriftlichen Arbeiten im neusprachlichen Unterricht« (Pro- gramm 1S90) durchaus verharren. Stiehler sagt: »Leichte, dem Ver- ständnisse des Schülers angepafste, jede Zweideutigkeit im Inhalte aus- schliefsende deutsche Ubersetzungs- stückc sind für höhere Lehranstalten, die es ja mit bewufster Spracherler- nung zu thun haben, ihrer formal- bildenden Kraft wegen nicht zu ent-

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behren, besonders auch deshalb nicht, weil durch sie erst der Schüler innc wird, inwieweit ersieh den fremdsprachlichen Stoff zu eigen gemacht hat!« Dafs die formale Bildung hier wieder figuriert , ist durchaus nicht über- raschend, denn sie nimmt unter den menschlichen Vorurteilen noch einen zu festen Platz ein, um sobald ver- trieben werden zu können selbst durch so kräftige Angriffe wie die des Direktors Ackermann. Verwun- derlich sieht es auch aus, die »be- wufste Spracherlernung« als einen Grund für das Übersetzen in die fremde Sprache angeführt zu sehen. Man weifs kaum recht, was man daraus machen soll Gehört das Übersetzen in die fremde Sprache zu den notwendigen Merkmalen einer bewufsten Spracherlernung ? oder dokumentiert sich die Sprachcrler- nung der Schüler in dem Ubersetzen als eine bewufste? Ich wüfste nicht, wie sich beides erweisen liefsc. Soll das Lernen an sich idurch Über- setzen) ein bewufstes sein oder soll nur die Übung des auf welchem Wege immer Gelernten eine bewufste (durch Übersetzen) sein ? Aber möge der Sinn sein welcher er wolle sollte dem Verfasser nicht das An- fertigen freier Arbeiten mehr gefallen, gerne vorausgesetzt, dafs auf der jeweiligen Stufe das Erlernte zu einem bewufsten d. h. systematisch geord- neten und beherrschten Wissen ge- worden ist? Das letzte Argument für die Übersetzungen, dafs nämlich der Schüler inne wird, inwieweit er sich den fremdsprachlichen Stoff zu eigen gemacht hat, entbehrt jedes festen Untergrunds und beweist nur, wie sich der Verfasser im Irrtume befinden mufs bezüglich der that- sächlichen Geistesthätigkeit des Schülers beim Übersetzen in die fremde Sprache. Dafs übrigens der Verfasser seine »nicht zu entbehren- den deutschen Übersetzungsstücke, die den fremdsprachlichen jedesmal folgen müssen,« nicht aus Einzcl- sätzen, sondern aus zusammenhängen- den Texten bestehen lassen will, die der jeweiligen Bildungsstufe des Schülers angepafst und in gramma-

tischer, lexikographischer und phra- seologischer Hinsicht sich möglichst an die vorausgehenden fremdsprach- lichen Stücke anschliefsen müssen«, beweisen, dafs er auf diesem Gebiete der Reformfrage keineswegs ganz veralteten Anschauungen huldigt Aber ich zweifle, ob er sich ganz die Schwierigkeiten klar gemacht hat, die gerade seine Forderungen be- züglich des Übersersetzens für den Leh rer sehr schwer, wenn überhaupt in genügenderWciseerfüllbar machen. Wie sich der Verfasser eine Lektion für die Unter- und Mittelstufe denkt, giebt er uns in folgender an: i) Zu- sammenhängender französischen eng- lischer) Text: Anekdote, Fabel, Er Zählung oder Beschreibung Im Fran- zösischen bis nach Überwindung der Lautlehre für die ersten Lektionen Sätze, die aber nicht ohne allen Zu- sammenhang sein dürfen; im Eng- lischen ein kleines zusammenhän- gendes Lesestück von Anfang an.

2) In Anlehnung an den fremd- sprachlichen Text ein Questionnairc oder Fragen in der Fremdsprache, auf welche die Antworten selbst vom Schüler zu finden sind. 3) Im An- schlufs hieran ein zusammenhängen- des deutsches Übersetzungsstück, welches sich in späteren Lektionen vom gegebenen fremdsprachlichen Texte unabhängiger gestalten darf 4) Genaue Angabe der Art einer ver- langten Umformung des an der Spitze stehenden fremdsprachlichen Textes; z. ß. Erzähle die obige Anekdote in der ersten Pers. Plur. d. Passe döf. wieder! 5) Hinwcisaufein bestimmtes, eng begrenztes Gebiet der Gram- matik, welches durchzunehmen ist, oder der entsprechende grammatische Text selbst.« Wie ich über die For- derung 3 denke habe ich im Vorher- gehenden genügend angedeutet. Zu 1 möchte ich bemerken, dafs die Aussprache an sich kaum ein Grund sein dürfte, nicht mit einem zu- sammenhängenden Stück wie im Englischen anzufangen. Eine andre Frage wäre, ob ein solcher Anfang praktisch ist, ob es sich nicht mehr empfiehlt, Anschlufs zu suchen beim Apperzeptionsstoff der Schüler, d. h. bei den Schülern bekannten

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aus dem französischen stammenden Fremdwörtern. Ich habe vor 5 Jahren selber einen dahingehenden Versuch gemacht und vollkommen befrie- digende, ja überraschende Ergebnisse erzielt; mit Rücksicht auf das mir vorgeschriebene Lehrbuch mufste ich diese Art Anfangsunterricht auf- geben. Einen aufserordentlich über- zeugenden und wohldurchgeführten derartigen Anfangsunterricht hat Charles Toussaint (aus Amiens) im dritten Heft vom >Aus dem päda- gogischen Seminar zu Jena, heraus- geg. v. Prof. Rein, geliefert; ich empfehle allen, die sich für diesen Weg im Anfangsunterricht inter- essieren, den kleinen Aufsatz zu lesen. Zu 5 wäre zu erwähnen, dafs diese Forderung schärfer zu fassen ist. Mit einem blofsen Hinweis auf die Grammatik ist's nicht gethan; es mufs ein ganz bestimmtes Stück von den Schülern erarbeitet und sich zum Bewufstsein gebracht werden (bewufste Spracherlernung!); sonst wird auch über die eingeschränkteste Grammatik keine sichere Herrschaft erlangt.

III.

Max Walter. Der französische Klassen- unterricht I. Stufe. Entwurf eines Lehrplans. Marburg b. El wert 1888.

Orau, Freund, tit alle Theorie.

Das Unterrichten ist eine so emi- nent praktische Arbeit, dass man sich schier verwundern mufs, wie es möglich war, dafs sich in einer Ecke dieses Arbeitsfeldes , näm- lich auf dem Gebiete des Sprach- unterrichts ein theoretischer Kampf erheben konnte, der Jahrlang dauerte, bevor der Versuch gemacht wurde, durch praktische, thatsächliche Aus- führungen zu zeigen, wie die theore- tischen Auseinandersetzungen eigent- lich gemeint seien, wie sie sich in der Anwendung ausnahmen. Es ist das ja immer noch etwas Anderes, als einen wirklichen Versuch mit einem methodischen Grundsatz in der Schule zu machen. Denn das ist den meisten beteiligten Lehrern nicht möglich, weil es mit einst- weilen noch bestehenden Lehrvor- schriften, denen sie nachkommen müs-

sen , sieht nicht vereinbaren läfst, weil Lehrbücher und Pensen vor- geschrieben sind, womit »ich das Neue nicht zusammenfügen will, oder was sonst im Wege stehen mag. Es ist auch recht gut, dafs nicht ohne Weiteres die Schüler zum Ver- suchsobjekt aller möglichen, oft genug abenteuerlichen methodischen Theo- reme gemacht werden können. Da- tieren ist es sehr wünschenswert dafs, wenn jemand glaubt, bestimmte theoretische Korderungen erheben zu müssen, er selber durch Entwurt eines Plans die Ausführbarkeit und die Vorzüge seiner Vorschläge dar- zuthun versucht. So wird die Prü- fung dieser wesentlich erleichtert und ihr eventueller Sieg und allge- meine Annahme und Durchführung rascher gesichert und erlangt Auf dem Gebiete der neusprachlichen Unterrichtsreform haben nun im gan- zen bisher die theoretischen Schriften überwogen; erst in den letzten Jahren haben sich berufene Männer daran gemacht, zu untersuchen, inwieweit sich die Anforderungen der Theorie im Klassenunterrichte bewähren und verwenden lassen. Unter denjenigen, die hier vorangegangen sind, mufs neben Kühn in erster Linie Max Walter (Direktor in Bockenheim' genannt werden, der sich mit seinem Schriftchen » Der französische Klassen- unterricht« den Dank aller Freunde der Reform verdient hat. Der hierin mitgeteilte Entwurf eines Lchrplans für die Unterstufe hat noch den Vorteil, dafs er aus der Schulpraxis herausgewachsen, in ihr bewährt ist. Denn der Herr Verfasser war in der glücklichen Lage, sowohl in Cassel an der Realschule, als auch in Wies- baden am königlichen Realgymnasium mit Genehmigung seiner vorgesetzten Behörde nach Grundsätzen der Rc- formbestrebungen unterrichten und so seine praktischen Vorschläge selbst vorher erproben zu können. Eine eingehende Besprechung des Lehr- plans würde hier wohl zu weit führen, ohne den Lesern doch genügenden Nutzen zu bringen ; denn es gilt hier mehr wie je : Lies selber. Ich be- gnüge mich daher mit einer allge- meinen Empfehlung, welche die Ar-

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beit in aufserordentlichem Mafse ver- dient. Es braucht darin noch nicht zu liegen, dafs man in allen Punkten unbedingt mit dem Verfasser in allem übereinstimmt; dafs nicht manches anders und ebensogut, vielleicht besser gemacht werden könnte. So z. B. glaube und hoffe ich, dafs der Verfasser sich im Lauf der Zeit noch anders zur Lautphysiologie und Laut- schrift stellen wird, will sagen, dafs er zur Ueberzeugung gelangt, diese beiden Dinge seien von der Schule zurückzuweisen.

Einstweilen wollen wir es ihm schon anrechnen, dafs er kein fana- tischer, nicht einmal ein unbedingter Förderer ist. Wie ich über den An- fang des Unterrichts mit zusammen- hängenden Stücken denke; ist be- kannt, ich glaube eben, dafs sich überhaupt der neusprachliche Unter- richt am vorteilhaftesten mit analy- tischem Material etwa in einem propädeutischen Kursus anfangen läfst.

Ganz besonders verdient nach meiner Meinung allgemeinen Beifall der Abschnitt über die schriftlichen Arbeiten, bezüglich deren die Reform- gedanken vielleicht noch am wenig- sten allgemeinere Annahme gefunden haben, und in deren Form noch am schärfsten die alte gramatisierende Methode des Sprachunterrichts zum Ausdruck kommt, ja bei denen selbst sonst der Neuerung gewonnene Männer die alte Methode als not- wendig und zu recht bestehend an- sehen und fordern.

IV.

Johanne« Rauschenfels, Methodik des französischen Sprachunterrichts in Mittel- und Bürgerschulen. Leip- zig b. Brandstetter. 1890.

Der Verfasser ist der Meinung, dafs in den bisher erschienenen methodischen Schriften, die den fran- zösischen Unterricht betreffen, die Mittelschule und ihre nächsten Ver- wandten nicht in genügender Weise berücksichtigt worden sind, und es darum nicht überflüssig sei, auch für diese Schulen einen einschlägigen Führer zu schatten.

Prinzipiell mufs ich hier gleich aus- sprechen, dafs ich einen wesent- lichen Unterschied in der Methode des Sprachunterrichts, zumal im Be- ginn, zwischen höheren und Mittel- schulen nicht zugeben kann. Das Ziel im Sprachunterricht der letzteren ist ein anderes als bei den höheren Schulen, aber doch nur, sozusagen, quantitativ; die letzteren können und sollen mehr erreichen, weil sie mehr Zeit für den Unterricht zur Ver- fügung haben. Sie werden daher die von der Behörde aufgestellten Ziele eher erreichen als Mittelschulen Übn <*ens würde ich diesen Zielen gegenüber, soweit sie die mündlichen und schriftlichen Bethätigungcn der Schüler anlangt, nicht so kleinmütig sein, wie der Verfasser. Ich glaube, es läfst sich auch in sechsklassigen und solchen achtklassigen Schulen, die erst mit dem fünften Schuljahr den französischen Unterricht be- ginnen, mehr erreichen als auswendig gelernte bonjour-Tiraden und me- chanisches Kopieren von gegebenen Briefmustern. Freilich um auf diesem Gebiete mehr zu erreichen, ist frühere Übung, Übung von Anbeginn des Unterrichts an, nötig. Das kann oder thut der Herr Verfasser bei weitem nicht in hinreichender Weise. Das liegt z. T. daran, dafs er zu sehr an dem >Satz< festhält und nicht rasch genug, oder besser, von An- fang an zusammenhängende Stücke hat, an dem von vorneherein mannig- fache Übungen mündlich wie schrift- lich, sich vornehmen lassen. Ich möchte dem Verfasser dringend die Arbeiten von Kühn und Walter ans Herz legen; ich glaube er würde zu anderen Ansichten über diesen Punkt gelangen. Auch denke ich, dafs er dann besonders seine Mei- nung und Wertschätzung der Über- setzungsübungen zu Gunsten freier Arbeiten ändern wird. Abgesehen von diesen Aussetzungen mufs ich sagen, dafs mir diese Methodik nicht übel gefallen hat. Gerade für den Anfang könnte der Verfasser die Sache für Lehrer und Schüler wesent- lich erleichtern, wollte er analytisches Material verwerten, am besten zu kleinen Stücken verarbeitet

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V.

Dr. Hermann Sortmann, Der fremd- sprachliche (französische) Unter- richt an der höheren Mädchen- schule. Leipzig b. G. Fock. 1889.

Verfasser möchte sich an dem Meinungsaustausch mit seiner Schrift beteiligen, der sich über die Reform des Sprachunterrichts entsponnen hat. Üas gelingt ihm in schätzens- werter Weise. Zwar irgend welche neue Gedanken sind mir bei ihm nicht entgegengetreten. Daraus mache ich ihm aber keinen Vorwurf, da das Thema durchaus allseitig und voll- ständig durchgearbeitet erscheint Das hindert aber durchaus nicht, immer und immer wieder ein ceterum censeo vernehmen zu lassen, um Verstockte zu erweichen, Schwan- kende ganz zu gewinnen, Feste mit dem frohen Bewufstsein zu erfüllen und zu stärken, dafs sie sich auf dem Wege nicht allein befinden. Und ich meine, die Schrift von Soltmann kann nach diesen Seiten hin wirksam sein. In angenehmer Form und klarer Zusammenstellung fafst sie die Kerngedanken zusammen , die bis jetzt in Sachen der Reform des Sprachunterrichts ans Licht getreten sind und giebt in meist erschöpfender Weise die Gründe für und wider dazu, um zum Schlufs selbst eine bestimmte feste Stellung einzuneh- men. Diese Stellung ist auf Seiten der Reform, für die er, ohne sich in Extreme zu verlieren, entschieden und wirkungsvoll eintritt. Dafs er gerade die Mädchenschule vertritt, hängt mit seiner persönlichen Thätig- keit zusammen. Er mag übrigens auch wohl recht haben , dafs die Kolleginnen noch mehr als bei dem scharfen Blick, den das weibliche Geschlecht für das praktisch Gute und Brauchbare so hervorragend be- sitzt, recht verständlich ist, sich von den Reformbestrebungen fern gehal- ten haben. Indessen giebt es lobens- werte Ausnahmen wie ich hier in Eisenach weifs; auch ein praktischer Versuch, der alle Beachtung verdient, ist von Frl. v. Schmitz-Aurbach ge- macht worden und nicht ohne schö- nen Erfolg geblieben.

VI.

S. Alge, Leitfaden für den ersten- Unterricht im Französischen. Unter Benutzung von >Hölzels Wand- bildern für den Anschauungs- und Sprachunterricht« und mit Auf- gaben zum Selbstkonstruieren durch die Schüler. Zweite Auf- lage. St. Gallen b. Huber & Cie. 1890.

In den »Begleitworten« zu vor- stehendem Leitfaden äufsert sich der Verfasser: »Das vorliegende Lehr- mittel hat speziell die Bedürfnisse der schweizerischen Secundar- oder Bezirksschule (Realschule) und ähn- licher Institute im Auge. Schülern solcher Anstalten will das Lehr- und Lernbuch dazu verhelfen, dafs sie ein- fach Geschriebenes, das sachlich und sprachlich nicht über ihren Ideenkreis hinausgeht, verstehen, mit Hülfe des Wörterbuchs leichte Erzählungen und Beschreibungen, die vorgelesen und besprochen worden sind, sowie eigene Erlebnisse und Briefe einfach und ohne allzugrobc Verstöfsc nieder- schreiben, sowie in den elementar- sten Redewendungen des täglichen Lebens sich einigermafsen bewegen können.« Zur Erreichung dieses Ziels hält Verfasser vor allen Dingen die Aneignung eines zweckmässigen Wort- schatzes und der unentbehrlichsten Gesetze der Formenlehre und Syntax für notwendig. Die Methode, die der Verfasser beim Unterricht ein- schlägt, ist ganz geeignet, zum Ziele zu führen. Er benutzt auch die Wandbilder von Holzel, die ja viel- fach, zumal im Anfangsunterricht als Hilfsmittel dienen; wie denn ja über- haupt die Benutzung von Bildern nicht etwas ganz Neues ist, ich er- innere an Lehmann, Ducotterd, Böhm. Erfreulich ist, dafs Alge die Aus- sprache auch ohne Lautphysiologie fertig bringt und an schriftlichen Übungen nur freie Arbeiten der Schüler verlangt, dagegen die Über- setzungen als nutzlos verwirft.

Eise nach, Ende März 1891.

Ludwig Baetgen.

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Fauth-Köster, Zeitschrift für den ev. Relig.-Unt. III, 2. Berlin, Reuthersche Verlagshandlung.

6. Hlrth, Aufgaben der Kunstphysiologie. 2 Teile. München, Hirths

Kunstverlag. E. Heim, Praktische Violinschule. Köln, Tonger. Hohmannsche Violinschule. Köln, Tonger.

Brümmer, Deutschlands Helden. Stuttgart, Greiner u. Pfeiffer. Schneider, Deutschland in Lied, Volksmund u. Sage. Hilchenbach, Wiegaud. Heinz«, Prakt. Anleitung zum Disponieren deutscher Aufsätze. 5. Aufl.

5 Bande. Leipzig, Eingelmann. Bongaertz, Zur Feier des Geburtstages Wilhelm II. 6. Aufl. Düsseldorf,

Schwann.

Wagner, in die Natur. 7. Aufl. Bielefeld, Helmich. Juling, Taschenbuch der höh. Schulen Deutschlands. Leipzig, Kummer. Adam, Geschichte des Rechnens u. des Rechenunterrichts. Quedlinburg, Vieweg.

Schulreform u. Turnunterricht. Bielefeld, Helmich. Nebe, Comenius als Mensch, Padagog u. Christ. Bielefeld, Helmich. Welzhofer, Sophokles Antigene. Berlin, Seehagen. Obly-Kolb, Im Liohte des Herrn. Stuttgart, Greiner u. Pfeiffer. Heilmann, Forderungen der gegenwärtigen Zeit an den Volksschulunterricht.

Halle, Schroedel. Pilllng, Lehrgang des botan. Unterrichts. Gera, Hofmann. Feierstunden. Zum Besten des Jütting-Denkraals. Bielefeld. Helmich. Grimm, Wie hat sich der Geschichtsunt. zu gestalten. Hamm, Breer u.

Thienemann.

Schmitz, Gesundheitsspiegel für Jedermann. Freising, Datterer. Grimm. Wegweiser für das Rektorenexamen. Hamm, Breer u. Thienemann. Grimm, Wegweiser für das Mittelschulexamen. Ebendaselbst. Butler, Educational Review. New- York, Dezember 91. Januar 92. Königbauer, Schemata u. Lehrproben. Bamberg, Buchner. Ommerborn, Der Geschichtsunterricht. Berlin, Ulrich u. Co. Lehrer-Prüfnngs- u. Informations-Arbeiten. 24. Heft. Minden, Hufeland. Grumme, Die wichtigeren Beschlüsse der Berliner Schulkonferenz. Gera, Hofmann.

Knotne, Einheitl. Chorgesangbuch. Halle, Schroedel. Tromnan, Erdkunde. Halle, Schroedel.

Eichert, Schulwörterbuch zu den Commentaren des Jul. Casar vom Gall. Kriege. Breslau, Korn, ,. Schulwörterbuch zu den Commentaren des Corn. Nepos. 2. Aufl. Breslau, Korn. Neudrucke päd. Schriften.

VII. Sohapp, Vom Schulwesen. I T •„ t> t>;,.i,*a. VIII. Comenius, Mutterschule. / LeiP«& R Echter. Müller-Frauenstein, Von H. v. Kleist Marie Ebner-Eschenbach. Hannover, Ost.

Müller-Pilling, Deutsche Schulflora. 1. T. Hofmann, Gera.

A. Gutzmann u. H. Gutzmann, Medizin. -pädag. Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde. Berlin, Fischer.

Butler, Educational Review. New York, Holt u. C.

Meyer, Neue Bahnen. Gotha, Bohrend.

Dörpfeld, Evang. Schulblatt. Gütersloh, Bertelsmann.

Schenckendorff u. Schmidt, Ueber Jugend- und Volksspiele. Hannover- Linden, Manz u. Lange.

Schulze, Nicht versetzt! Würzen, Thiele

A. Böhmes Rechenbücher. Berlin, Müller.

Stuckl, Materialien f. d. naturgesch. Unt. Bern, Schmid, Francke u. Co. Stucki, Das Rechnen im Anschluss an den Realunt. Ebenda».

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Wiggo, Die Stellang des Lehrers etc. Bielefeld, Helmich.

Müller, Latein. Lese- u. Übungsbuch. Altenburg, Pierer.

Muller, Wörterverzeichnis etc. Ebendas.

Janke, Der Beginn der Schulpflicht. Bielefeld, Helmich.

Elm, Die deutsche Steilschrift. Ebendas.

Moltke, La guerre de 1870. Hannover, C. Meyer.

Lepp, Wichtige Gesundheitsregeln. Augsburg, Kranzfelder.

Forst, Cborgesangschule. Kiel und Leipzig, Lipsius u Fischer.

Mitteilung über den IX. Deutschen Lehrertag.

Die alte Schulstadt Halle, welche vor mehreren Jahren auch den Verein l'ttr wissenschaftliche Pädagogik beherbergte, wird in den Pfingst- tagen dieses Jahres auch den grossen deutschen Lehrer- Verein in ihren Mauern begrüssen.

Entsprechend der alten Mahnungen des eifrigsten Förderers der freien Lehrer-Vereine, A. Diesterwegs? verbindet der Deutsche Lehrer- Verein zur Zeit mehr als 1400 Zweigvereine mit gegen 45 000 Mitgliedern. Von dieser stattlichen Anzahl wollen zahlreiche Vertreter eintreffen, um die Interessen der Volksschule, sowie die mit deren Hebung engverbun- denen eigenen Interessen im gemeinsamen Gedankenaustausch zur Geltung zu bringen.

Es werden folgende wichtige Vorträge zu diesem Zwecke entgegen- genommen und zur Besprechung gelangen : Schulinspektor Scherer -Worms über „Die allgemeine Volksschule", Rektor Rissmann Herlin über „Die Lehrerbildung", Lehrer Helmke-Magdeburg über „Die Erziehung verwahr- loster Kinder".

Wie der Berliner Lehrertag, nimmt auch der zu Halle eine p&da-

Sogische Gedächtnisfeier in .seinen Plan auf. Es wird die Feier der 00jährigen Wiederkehr des Geburtstages des ersten Svstematikers unter den Pädagogen, des am 28. März 1592 geborenen Aaos Comenius begangen. Die Gedächtnisrede hält der bekannte Abgeordnete und Lehrerfreund, Pastor prim. Sei fTarth Liegnitz.

Zum bevorstehenden Comenius-Feste empfehle ich ein

Comenius-Portrait

68X&B cm im feinsten Chromo mit 16 Farben ausgeführt zu Mk. 2.30 mit Postversendung za Mk. 2.80.

Dasselbe am Blindrahmen und auf Leinwand autgespannt in antiken Rahmen mit vergoldeten Friesen eingesetzt za 8 Mk. Kiste für ein Bild Mk. 1.20, für jedes weitere um Mk. O.40 mehr.

Bei Bestellung lulle Bahnstation anzugeben.

V. ÜTenbert:

Ghromolitograflsche Kunstanstalt Prag-Smlcbow.

Diesem Heft liegt ein Prospekt von H. A. Pierer, Altenburg bei, welchen wir gefälliger ßerucksigtigung empfehlen. ^

Druck von G. PMtt in Naumburg ». 8.

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Pädagogische Studien

N e u e F o 1 g e

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Herausgegeben

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Dr W. Rein

l'rnfrw.r <i. <l. I'nirersifüt .Ana

XTTI Jahrgang Drittes Heft Inhalt

Abliuiidlinigeii: i. M. Fack, Zur Beurteilung des Langeschen P.uchcs über Apperzeption. 2. Dr. K. Lange, Erwiderung. Mitteilungen: 1. Fr. Franke, Stimmen aus Sachsen über Reform des Religionsunterrichts. 2. Fr. Franke, Etwas vom Lesen und Lesebuch in der Volksschule. 5. C. Kahle, Die für die Schule bearbeiteten Pilzwerke. 4- „Verein von Herbartfreunden" im Eise- nacher Oberland.

Ke nr teil 11 tigen: i. Jul. Gutersohn; 2. G. Ebener ; Chr. Ufer, 4 Charles Toussaint (Baetgen); 5. Joh. Voeckelt; 6. Th. Zieglcr; 7. Hans Schliepmann (Rein ; S. W. Pfeifer (Holl- kamm;; (). Wartenberg; 10. VV. Müller; 11. Dr. H Müller Hauptj ; 12. Dr G. Stephan (Ackermann); 13. Pädagogische Sammelmappe; 14. A. Renncbe rg (Göpfert) , 15. Dr. Matthias Drbal, 16. W. Kaiser; 17. F. W. Dörpfeld Grosse); i*<. Karl Grundscheid /Maenneb; 19. G. Wustmann (Rüde); 20. H.Zcmm- rich Kranke:; 2i.f'.Jacobi (Scholz); 22. Dr. J. Nieden (Winzer). An/eitffn: 1. Alumneums- Erinnerungen; 2. Müller und Pilling.

Dresden

Verlag von Bleyl & Kaeiumerer

l'nul Th. Kaeminerer)

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Erklärung.

Herr Seminardirektor Gleicbmann hat id. Nr. 23 der Mannschen ^Deutschen Blätter f. e. U.u ein« Erklärung veröftent licht, in welcher er Herrn Dr. Glückner anlasslich »einer im 24. Jahrbuch des Vereins f. w. P. abgedruckten Kritik der Gleiohmannachen Schritt „Über Herbarts Lehre von den Stufen des Unterrichts" (2. Auti. Langensalza 1891) unter Anderem der Ehrabschneiderei beschuldigt und der Generalversammlung dos Vereins f. w. P. bei Besprechung der Lehre von den Stuten Anstand empfiehlt.

Hiermit geht Herr Gleichmann zu weit und ich kann diese Aus- lassungen nur der Erregung zuschreiben, welche nun einmal im Gefolge von litterarischen Kritiken sich häufig einzustellen pflegt. Nicht bloss desshalb, weil Herr Gleichmanu von einem „Auf wände von Gelehrsamkeit"* des Herrn Dr. Glöckner spricht, unter welchem doch allgemein eine sachliche Argumentation verstanden wird, sondern insbesondere deshalb, weil HeiT Dr. Glöckner die Gesinnung des Herrn Gleichmann, auf der doch allein die zu schonende Ehre beruht, am Schlüsse seiner Ausfüh- rungen ausdrücklich belobt. Zuzugeben ist, dass Herr Dr. Glöckner im letzten Teile seiner Abhandlung Herrn Gleichmann gegenüber einige sehr wenig verbindliche Ausdrücke gebraucht; aber es ist doch auch zu bedenken, dass verbindliche Formen zwar vielleicht ein wünschens- wertes, jedoch nicht notwendiges Requisit wissenschaftlicher Abhand- lungen sind. Was jedoch die „Bitte** um Anstand in der Generalver- sammlung des Vereins f. w. P, betritt*, so wäre ich, sofern Herr Gleich- mann einen versteckten Vorwurf damit erheben wollte, genötigt, Ver- wahrung dagegen einzulegen. Noch nie ist in der langen Zeit von 24 Jahren eine diesfällige Klage erhoben worden. Indessen dürfte auch diese Ermahnung zum Anstände, zum Teil wenigstens, auf Rechnung der innern Erregung zu setzen sein. Der Satz des Herrn Gleichmann jedoch, dass auch ausserhalb Leipzigs noch viele Leute Herbart verstehen, erinnerte auch daran, das« hierbei auch die Supposition eines Gegen- satzes zwischen den Schülern Stoys und Zillers, die Herr Gleichmann zu machen scheint, von Einfluss gewesen sei.

Einer solchen Supposition gegenüber sehe ich mich im Namen des Vereins f. w. P. zu der Erklärung verpflichtet, dass ein Gegensatz zwischen den Schülern Stoys und Zillers auf Grund des jj 2 der Satzungen nicht besteht und nicht bestehen kann. Wenn schon von einem Gegen- satz die Rede sein soll, dann besteht er zwischen Herbart, Ziller und Stoy einerseits und anderseits Willmann, welcher übrigens, weil er die Wirksamkeit des Vereins für eine verdienstliche hält, weder aus dem Vorstande noch aus dem Verein ausgetreten ist und, wie ich glaube, auch nie austreten wird. Weil aber die prinzipielle Anschauung der Schüler Stoys und Zillers identisch ist, so erkläre ich mich hiermit auch bereit, jede sachliche Berichtigung der Glöcknerschen Darlegungen, sie mag von welchem ehemaligen Schüler Stoys immer herrühren, in das Jahrbuch aufnehmen zu wollen. Dadurch, dass Herr Dr. Glöckner sich auf den historischen Standpunkt stellte, kann jene Berichtigung durch den Hinweis auf die Quellen über jeden Streit erhoben werden. Hieran möchte ich mit Rücksicht auf die Mitteilungen des Herrn Gleich- mann die Bitte schliessen, es möchten, um die Authenticität zu erhöhen, einige der Herren in Thüringen, welche Stoys Äusserungen im Kolleg über formale Stufen kennen, sich vereinigen, um die diesbezügliche Anschauung Stoys zusammenzustellen und mir für die Veröffentlichung im Jahrbuch gefälligst mitzuteilen. In ähnlicher Weise verfuhren ja auch die Schüler Hegels nach dessen Tode.

Zum Schlüsse kann ich nicht umhin, mein Bedauern darüber aus- zusprechen, daes Herr Gleichmann aus dem Verein ausgetreten ist, und zwar ungefähr um dieselbe Zeit, als er mit der Veröffentlichung seiner Abhandlung über die Formalstufen umging. Hätte er auch nur einen

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A. Abhandlungen.

Beurteilung des Langeschen Buches über Apperzeption.*)

Von M. Fack in Eisenach.

Motto: »Sagen Sie mir nicht das, was Ihnen gefällt, sondern das, was Ihnen nicht gefällt.«

Mendelssohn.

I.

Was versteht Lange unter Apperzeption?**)

Es wäre leicht, mit einer Definition zu antworten. Allein was würde sie uns bieten? Jede Definition bezieht sich auf das genus pro.rimum, verdeutlicht also einen Begriff nur um ein weniges. Könnte sie aber auch mehr bieten, d. i. könnte sie die Merkmale eines Begriffes aufzeigen, es wäre uns dennoch wenig damit ge- dient. Wir verstehen eben von einem Begriffe den Inhalt nur dann , wenn wir seinen Umfang kennen. Und noch eins ist zu bedenken. Wer begriffliche Ergebnisse kontrollieren will, mufs die konkreten Grundlagen dazu ins Auge fassen. Wir haben also zunächst einige von den Apperzeptionsakten selbst zu be- trachten.

II.

Erstes Beispiel. (Vgl. S. 4, 5 u. 6.)

Nehmen wir an : Einem neugebornen Kinde (das sehen kann) bietet sich die Erscheinung einer Sonnenfinsternis dar. Licht- strahlen kommen von dem hellen Abschnitte der Sonnenscheibe

*) Über Apperzeption. Eine psychologisch-pädagogische Monographie. Plauen, Neupert. 1 89 1 * . **» S. 1-33.

['ad.iyo^isct-.i; Studien. III 9

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und fallen aut die Netzhaut im Auge des Kindes. (Ein physi- kalischer Vorgang.) Die Sehnerven werden erregt und die Er- regungen bis zu den zentripetalen Sinnesflächen fortgeleitet. (Ein physiologischer Vorgang.) Das Kind erhält einen Kom- plex von Empfindungen, d. i. eine Wahrnehmung. (Ein psy- chischer Vorgang.) Dabei dürfte das Kind (mit seiner unaus- gebildeten Seele) stehen bleiben. Anders bei dem Erwachsenen (mit seiner ausgebildeten Seele). Er sieht manches, was das Kind nicht sieht, gewinnt also eine vollständigere Wahrnehmung. Da, wo das Kind nur Unteilbares sieht, unterscheidet er ge- winnt also auch eine deutlichere Wahrnehmung. Beides ist nur mit Hilfe alter Vorstellungen möglich. Der Erwachsene weifs zudem, wie es kommt, dafs sich die Sonne verfinstert. Er sagt sich : Eine dunkle Scheibe tritt allmählich in das Lichtfeld der Sonne. Es ist der Mond, der uns seine unerleuchtete Seite zuwendet. Der Erwachsene begreift also die Erscheinung als Wirkung gewisser Ursachen. Er sagt sich weiter : Vorzeiten regten sich die Menschen über die seltene Erscheinung auf. Jetzt thun sie das nicht mehr: sie wissen, dafs es mit »rechten Dingen' dabei zugeht. Schematisieren wir die Sachlage. Es handelt sich zunächst um einen Perzeptionsvorgang. Der Erwachsene nimmt das wahr, was das Kind auch wahrnehmen kann. Es handelt sich weiter um einen Apperzeptionsvorgang. Erster Teilvorgang: Der Erwachsene nimmt (mit Hilfe alter Vorstel- lungen) das wahr, was das Kind nicht wahrnehmen kann. Der Perzeptionsvorgang und ein Teil des Apperzeptionsvorganges voll- ziehen sich m i t einander. Das Resultat beider ist eine ziemlich vollständige und deutliche Wahrnehmung. Wer nur perzipiert (wie das Kind), gewinnt eine unvollständige und undeutliche Wahr- nehmung. Wer zugleich apperzipiert (wie der Erwachsene), ge- winnt dagegen eine vollständigere und deutlichere Wahrnehmung. Zweiter Teilvorgang: Die vollständigere und deutlichere Wahr- nehmung wird gewissen »geistigen Elementen« eingefügt. Er- gebnis: Lange redet von einem Apperzeptionsvorgange, wenn mit Hilfe alter Vorstellungen eine vollständigere und deutlichere Wahrnehmung (als es ohne die Hilfe alter Vorstellungen ge- schehen könnte) erworben, und wenn zudem diese Wahrnehmung gewissen »geistigen Elementen« eingefügt wird. Oft wird eine Wahrnehmung nicht (als Wahrnehmung) apperzipiert. Sie ver- wandelt sich dann in eine Vorstellung. Wird sie später ge- wissen anderen Vorstellungen eingefügt, so ist sie nach Lange ebenfalls apperzipiert worden.

Zweites Beispiel. (Vgl. S. 2.)

Das Kind A hört in einem Satze das Wort Sperling. Wie reagiert das Kind darauf? Es erinnert sich alsbald an den Sper-

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ling, den es täglich im Schwalbenneste am väterlichen Hause ge- sehen hat. Kurz: Es ist ein Sprachsymbol gegeben, und es wird der symbolisierte Inhalt dazu aufgesucht. Damit ist die Wahr- nehmung, die das Symbol repräsentiert, apperzipiert worden. Er- gebnis: Lange redet also auch von einem Apperzeptionsvorgange, wenn zu einem Symbole das Symbolisierte aufgesucht wird.

Drittes Beispiel. (Vgl. S. 2.)

»Wieviel erzählen dem erfahrenen Menschenkenner nicht Ge- bärden und Mienenspiel!« Verdeutlichen wir uns das.

Ein Menschenkenner sieht einen Menschen mit auffallenden Gebärden. Er sagt sich: Ich erinnere mich, dafs ich zuweilen ähnliche Gebärden an mir beobachtet habe. Immer waren sie der Spiegel meiner Seele, d. i. ich hatte diese Gebärden, weil dies und das mich in der Seele bewegte. Nun sehe ich diesen Menschen mit den gleichen Gebärden. Er ist kein anderer Mensch als ich, mithin mufs auch in seiner Seele das vorgehen, was bei mir die gleichen Gebärden erzeugte. Es handelt sich also um solche Gedankeninhalte, die in kausaler Beziehung zu einander stehen, d. i. um Ursachen und Wirkung. Die Wirkung ist wahr- nehmbar. Die Ursachen sind nur vorstellbar. Die Ursachen werden mit Hilfe eines Schlusses gefunden. Ergebnis: Lange redet also auch von einem Apperzeptionsvorgange, wenn zu einer Wirkung die Ursachen aufgesucht werden.

Viertes Beispiel. (Vgl. S. 10.) A sieht am Wege ein Individuum von Poa annua. Er erkennt : Es ist ein Gras, subsumiert also eine Wahrnehmung, d. i. ein individuelles Gebilde, unter einen Begriff. Ergebnis: Lange redet von einem Apperzeptionsvorgange, wenn ein individuelles Gebilde (eine Wahrnehmung oder Vorstellung) unter einen Begriff subsumiert wird.

Fünftes Beispiel. (Vgl. S. Ii u. 29.)

A sieht eine Linde. Er erkennt: Es ist die Linde, an der ich vor Jahren den Bau der Knospen untersuchte. Es entstand also eine Wahrnehmung, und eine Vorstellung reproduzierte sich. Es wurde testgestellt, dafs beide sich auf das gleiche Objekt be- ziehen. (Wiedererkennen!) Ergebnis: Lange redet also auch von einem Apperzeptionsvorgange , wenn einer Wahrnehmung (oder Vorstellung) das Bewufstsein hinzugefügt wird, dafs sie sich auf einen Gegenstand bezieht, von dem früher schon eine gleiche oder fast gleiche Vorstellung erworben wurde.

Sechstes Beispiel. (Vgl. S. 11.)

»Dem Knaben, der, Gespenstergeschichten im Kopfe und Furcht im Herzen, den einsamen Schulweg über das öde Moor wandert, werden im Nu die Erscheinungen seiner Umgebung zu

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schreckenden Spukgeistern. Im raschelnden Laube vernimmt er den gespenstigen Gräberknecht, im Knistern des Röhrichts die unselige Spinnerin; und wie es unter seinem Fufse brodelt, wie aus dem berstenden Moore das Wasser zischend hervorquillt, da hört er die gespenstische Melodie des ungetreuen Geigenmannes, da sieht er sie leibhaftig vor sich, die unglückliche Frau, die um ihre arme, verlorene Seele klagt. . . .«• In diesem Falle werden also undeutliche Wahrnehmungen anderen Wahrnehmungen ein- gefügt, die aus Vorstellungselementen hergestellt sind. (Illusionen!) Ergebnis: Lange redet also auch von einem Apperzeptions vor- gange, wenn undeutliche Wahrnehmungen anderen Wahrnehmungen eingefügt werden, die aus Vorstellungselementen hergestellt sind.

Siebentes Beispiel. (Vgl. S. 16 u. 17.J

Ein Kind hört aus einem Klaviere einen Akkord ertönen. Es nimmt den Akkord als etwas Ganzes auf, perzipiert also blofs. Ein Musiker dagegen hört in dem Akkorde die Töne h, d, f u. gis erklingen; er hat die Wahrnehmung apperzipiert. Freilich gab es auch für ihn eine Zeit, in der er den Akkord nur perzipieren konnte. Gegeben ist also ein Reizkomplex, d. s. verschiedene Reize, die sich gegenseitig beeinflufst haben. Und es entsteht in der Seele des Musikers anfangs eine Wahrnehmung, die dem Reiz- komplexe entspricht, später aber eine solche, die gleich ist der Summe der Einzelwahrnehmungen von den Reizen in ihrer Iso- lierung. (Es handelt sich auch hier, wie Volkmann richtig bemerkt hat, um Sinnestäuschungen.) Ergebnis: Lange redet also auch dann von einem Apperzeptionsvorgange, wenn in einer Wahr- nehmung, die ein Reizkomplex erzeugte, und die man bisher nur als etwas Unteilbares auffassen konnte, wenn in dieser Wahr- nehmung die Summe von Einzelwahrnehmungcn wahrgenommen wird, die die jenen Komplex bildenden Reize in ihrer Isolierung erzeugen würden.

Achtes Beispiel. (Vgl. S. 17.)

Wir sehen die Abkürzungen »z. B.^ und ergänzen »um eispiel«. Wir nehmen also von einem Ganzen nur Teile wahr und fügen die fehlenden Teile in Vorstclllungsform hinzu. Er- gebnis: Lange redet also auch dann von einem Apperzeptions- vorgange, wenn einer unvollständigen Wahrnehmung die fehlenden Teile oder Wahrnehmungselemente in der Form des Vorstellens hinzugefügt werden.

Damit genug der Beispiele!*)

Rekapitulieren wir. Lange redet von einem Apperzeptions - vorgange: 1) wenn mit Hilfe alter Vorstellungen eine Wahr-

Es könnten noch mehr Beispiele aufgezählt werden. Dals diesem »Mehr« eine gröfsere Bedeutung zukommt, als man vermutlich glaubt, wird sich bald ergeben.

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nehmung erworben wird, und wenn zudem diese Wahrnehmung »gewissen geistigen Elementen « eingefügt ist, 2) wenn zu einem Symbole das Symbolisierte aufgesucht wird ,

3) wenn zu einer Wirkung die Ursachen aufgesucht werden,

4) wenn ein individuelles Gebilde unter einen Begriff subsumiert wird, 5) wenn einer Wahrnehmung (oder Vorstellung) das Bewufstsein hinzugefügt wird, dafs sie sich auf einen Gegenstand beziehe, von dem früher schon eine gleiche oder fast gleiche Vorstellung erworben worden sei, 6) wenn undeutliche Wahr- nehmungen anderen Wahrnehmungen eingefügt werden, die aus Vorstellungselementen hergestellt sind, 7) wenn in einer Wahr- nehmung, die ein Reizkomplex erzeugte, und die man bisher nur als etwas Unteilbares auffassen konnte , wenn in dieser Wahrnehmung die Summe von Einzelwahrnehmungen wahrge- nommen wird, die die jenen Komplex bildenden Reize in ihrer Isolierung erzeugen würden, und 8) wenn einer unvollständigen Wahrnehmung die fehlenden Teile oder Wahrnehmungselemente in der Form des Vorstellens hinzugefügt werden.

III.

Da haben wir also den Umfang des Begriffes »Apperzep- tion«. Nun ist dessen Inhalt anzugeben. Um ihn zu finden, müssen wir auf das achten, was den einzelnen Beispielen, die den Umfang des Begriffes ausmachen; gemeinsam ist. Also: Was ist das Gemeinsame in unseren Beispielen? Ich habe mich ver- geblich bemüht, es zu finden; die Beispiele sind eben zu ver- schieden. Doch Lange will das Gemeinsame gefunden haben. Er schreibt: »Fassen wir . . . zusammen, was im Prozesse der Apper- zeption Wesentliches sich ereignet. Zunächst gelangt eine äufsere oder innere Wahrnehmung, eine Vorstellung oder Vorstellungs- verbindung ins Bewufstsein, die . . . eine gröfsere oder geringere Erregung der Vorstellungs- oder Gefühlskreise herbeiführt. Infolge- dessen steigen (dem psychischen Mechanismus oder einem Willens- anstofse folgend) eine oder mehrere Gedankengruppen empor, die zu der Perzeption in Beziehung treten. Indem beide Massen mit- einander verglichen werden, wirken sie mehr oder weniger um- gestaltend aufeinander ein; es bilden sich wohl selbst neue Ge- dankenverbindungen, bis endlich die Perzeption dem mächtigeren, älteren Vorstellungsverbande mit jenem Denkinhalte eingereiht wird. Dadurch gewinnen alle beteiligten Faktoren an Erkenntnis- und Gefühlswert; insbesondere aber wird der neuen Vorstellung eine Klarheit und Regsamkeit zu teil, die sie für sich nie erlangt haben würde. Apperzeption ist sonach diejenige seelische Thätig- keit, durch welche einzelne Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Vorstellungsverbände zu verwandten Produkten unsres bisherigen Vorstellungs- und Gemütslebens in Beziehung gesetzt, ihnen ein-

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gefügt und so zu gröfscrer Klarheit, Regsamkeit und Bedeutung erhoben werden. * tS. 32 u. 33.)

IV.

Betrachten wir diese Darstellung zunächst an sich. Sie ent- hält eine Zusammenfassung, nämlich eine Zusammenfassung des »Wesentlichen« im Apperzeptionsvorgange. Von Wesentlichem hätte nicht die Rede sein sollen; denn nur mit Rücksicht auf Zwecke kann Wesentliches und Unwesentliches unterschieden werden. Lange denkt offenbar an das, was allen Apperzeptionsvorgängen gemein- sam ist. Unsere Darstellung enthält die Zusammenfassung zwei- mal, das eine Mal in freierer Form, das andere Mal in Form einer Definition. Enthält aber auch die eine Form, was die andere ent- hält? Sehen wir zu. In jedem Apperzeptionsvorgange handelt es sich um zwei Gedankeninhalte. Es ist selbstverständlich, dafs diese Gedankeninhalte nur im Bewufstsein miteinander in Wechselwirkung treten können, und es ist ebenso selbstverständ- lich, dafs sie auf einem der Reproduktionswege ins Bewufstsein kommen müssen. Lange hatte also nicht nötig, beides in der Definition noch besonders anzudeuten; er konnte mithin die beiden Anfangssätzc der ersten Zusammenfassung in der zweiten Zu- sammenfassung, d. i. in der Definition, unberücksichtigt lassen. Weiter. In der ersten Zusammenfassung findet sich der Satz: »Indem beide Massen miteinander verglichen werden, wirken sie mehr oder minder umgestaltend aufeinander ein.« In der zweiten Zusammenfassung fehlt er. Er darf da offenbar nur dann fehlen, wenn das, was er ausdrückt, nicht allen unseren Beispielen ge- meinsam ist. Ist das so, so mufs er freilich auch in der ersten Zusammenfassung gestrichen werden. Wir fragen daher: Werden in all den acht Beispielen die zweierlei Gedanken verglichen? Wir denken an das zweite Beispiel: Das Symbol wird nicht mit dem Symbolisierten verglichen. Wir denken weiter an das dritte Beispiel: Die Ursachen werden ebenfalls nicht mit der Wirkung verglichen. Kurz: Nicht in allen Beispielen werden die zweierlei Gedankeninhalte verglichen. Daher fehlt der Satz: »Indem beide Massen« u. s. f. in der zweiten Zusammenfassung mit Recht und mufs auch in der ersten gestrichen werden. In der ersten Zusammen- fassung steht weiter der Satz: »Dadurch (durch die Apperzeption) gewinnen alle beteiligten Faktoren an Erkenntnis- und Gefühls- wert ; insbesondere aber wird der neuen Vorstellung eine Klarheit und Regsamkeit zu teil, die sie für sich nie erlangt haben würde.« Darauf beziehen sich die Worte der zweiten Zusammenfassung: » so zu gröfserer Klarheit , Regsamkeit und Bedeutung erhoben werden.» Die zweite Zusammenfassung verschweigt also, dafs auch die apperzipierenden Gedankeninhalte durch den Apper- zeptionsakt an Erkenntnis- und Gefühlswert gewinnen, und dies

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mit Recht. Die zweite Zusammenfassung verschweigt zudem, dais der apperzipicrte Gedankeninhalt durch die Apperzeption an Ge- fühlswert gewinnt. Oder soll dies durch das Wort »Bedeutung; angedeutet werden? Es könnte sein; allein warum fehlt dann dieses Wort in dem Satze der ersten Zusammenfassung: »Ins- besondere aber wird der neuen Vorstellung eine Klarheit und Regsamkeit zu teil, die sie für sich nie erlangt haben würde?« Offenbar liegt hier eine Ungenauigkeit vor. Aber wir dürfen diese unberücksicht lassen, dürfen auch dahingestellt sein lassen, ob die apperzipierten Gedankeninhalte durch die Apperzeption an Ge- fühlswert gewinnen oder nicht; das Warum wird sich bald er- geben. Es bleibt uns diese Definition übrig: Apperzeption ist die Thätigkeit, durch die ein Gedankeninhalt (= Wahrnehmung, Vor- stellung oder Vorstellungsverband) einem verwandten Gedanken- inhalte eingefügt und so zu gröfserer Klarheit und Regsamkeit erhoben wird.

Enthält nun diese Definition wirklich das Gemeinsame in unseren Beispielen? Deutlicher wird der Sinn in zwei Fragen: Erste Frage: Wird in jedem der Beispiele ein Gedankeninhalt dem anderen eingefügt? Zweite Frage: Wird dem apperzipierten Gedankeninhalte immer eine gröfsere Klarheit und Regsamkeit zu teil? Wenn man bedenkt, wie die gröfsere Regsamkeit erzielt wird,*) so mufs man sie für alle Beispiele zugeben. Allein wie steht's mit der gröfseren Klarheit? Lange selbst sagt mit Rück- sicht auf gewisse Fälle, in denen >die Apperzeption nichts weniger als gründlich verfährt t, »dafs in solchen Fällen die Apperzeption die objektive Wahrheit und Klarheit der Wahrnehmung vermehre, werde man nicht behaupten können.« (S. 20.) Und ein Blick auf unser sechstes Beispiel lehrt, dafs Lange recht hat. Mithin ist das Wort »Klarheit« in der Definition zu streichen. Nun zur ersten Frage: Wird in jedem der Beispiele ein Gedankeninhalt dem anderen eingefügt? Was heifst das: einen Gedankeninhalt einem anderen einfügen? Lange schreibt: »Eine Wahrnehmung wird anderen Seelenerzeugnissen eingefügt, heifst . . . nur so viel als: sie wird mit ihnen zeitlich und inhaltlich so intensiv zu- sammengedacht, dafs fortan eins das andere regelmäfsig reprodu- ziert.« (S. 16.) Sehen wir darauf hin unsere Beispiele an.

Viertes Beispiel: Der Begriff Gras kommt in mein Bewufstsein. Erinnert er mich an alle Individuen von Poa annua, die ich jemals

*) S. 19: »Durch ihre (der apperzipierten V.) Einfügung in einen gröfseren, wohlgeordneten, von lebhaften Gefühlen begleiteten Gedanken- kreis tritt sie zu so vielen Gliedern in äufsere und innere Beziehung, dafs ihr eine regelmäfsige Reproduktion gesichert ist . .

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als Gräser erkannt habe? Reproduziert hier wirklich ein Ge- dankeninhalt regelmäfsig den anderen? Die Erfahrung sagt: nein'. In diesem Falle sind also die sog. apperzipierten Gedankeninhalte nicht apperzipiert gewesen. Daraus folgt: Lange darf die Apper- zeption nicht als eine Einfügung eines Gedankeninhaltes in einen anderen bezeichnen. Damit bricht seine ganze Definition zusammen. Gesetzt aber auch, das »Einfügen« wäre nicht so streng zu nehmen, als es Lange selbst genommen hat, gesetzt also, das »Einfügen« wäre so zu deuten: der eine Inhalt wird mit dem anderen zusammen vorgestellt. Auch bei dieser Annahme kann ich die Langesche Definition nicht gelten lassen. Hier der Grund dafür. Sehen wir das erste unserer Beispiele an. Lange selbst sagt zur Verdeutlichung dieses Beispieles: »Wir sehen zu- gleich vermöge der durch frühere Beobachtungen erlangten Vor- stellungen und Fertigkeiten manches, was dem unerfahrenen Menschen verborgen bleibt, und wir fugen der Wahrnehmung aus unserem Inneren zahlreiche geistige Elemente bei, die in der Empfindung überhaupt nicht gegeben sind.« (S. 6.) Der Apper- zeptionsvorgang verläuft also in zwei Teilvorgängen: Erster Teil- vorgang: Der Erwachsene nimmt (mit Hilfe alter Vorstellungen) das wahr, was das Kind nicht wahrnehmen kann. Zweiter Teil- vorgang: Die vollständigere und deutlichere Wahrnehmung (das Resultat des Perzeptionsvorganges und des ersten Teiles des Apperzeptionsvorganges) wird gewissen »geistigen Elementen« ein- gefügt. Es ergiebt sich ohne weiteres: Lange hat in seiner De- finition jenen ersten Teilvorgang ganz und gar übersehen; das erste Beispiel ist somit von der Definition ausgeschlossen. Er- gebnis: Die Langesche Definition ist nicht für alle Beispiele gültig, also für die Beispiele, die Lange selbst ausgeführt oder angedeutet hat.

VI.

Die Vorgänge, die unsere Beispiele vorführen, sind eben zu verschieden; darum sollten sie auch nicht mit dem gleichen Namen belegt werden. Was wäre übrigens damit gewonnen, wenn sich irgend ein Momentchen Gemeinsames nachweisen liefse, und wenn dieses Momentchen in einer Definition Ausdruck fände? Was wäre damit für das Verständnis der einzelnen Prozesse gewonnen? Es wäre doch nur eine Beziehung zwischen ihnen festgestellt, nämlich die der partiellen Identität, und weiter nichts.*) Wozu auch einen Prozefs als Apperzeptionsprozefs bezeichnen! Ist es nicht viel klarer, z. B. zu sagen : Der Schüler hat zu der Wirkung die Ursachen aufgesucht oder zu einem Symbole das Symboli- sierte? — Weiter. Lange hat unter dem gleichen Namen so gar

*) Ein kleiner formaler Gewinn ist und bleibt das freilich.

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verschiedene' Prozesse zusammengefafst. Kein Wunder daher, wenn er in der Charakterisierung dieser Prozesse im allgemeinen dies oder das behauptet, was nur dem oder jenem davon zukommt, i Der Gedanke an die so gar verschiedenen Beispiele drängt im.; auch den Satz auf: Die Langesche Monographie ist zum Teil eine verkappte Encykl opädie. **) Über die meisten der bereiten Elementarprozesse***) finden wir in jedem besseren Kompendium der Psychologie gleiche Auskunft. Zudem weist da^ Langesche (wie ganz natürlich) diese Stoffe in einer Anordnung auf. die der Aneignung Schwierigkeiten bereiten. In diesem Punkte steht die Langesche Monographie einem Kompendium noch nach.

VII.

Es ist kein Leichtes, sich durch das Langesche Buch hin- durchzuarbeiten, sei's auch nur durch wenige Bogen Lange geht zwar bei seinen Darlegungen von Beispielen aus Allem die Beispiele sind zu kompliziert und daher für den Leser nicht durchsichtig genug. Freilich kann es vorkommen, dal's man auf die Benutzung solcher Beispiele eingeschränkt ist. AS »er dann gilt es, sie dem Leser bis ins einzelnste zu verdeutlichen Auch das hat Lange zumeist versäumt.

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Dazu kommt noch, dafs hier und da kleine Ungenau ig- keiten mit unterlaufen. Einige davon deuteten wir bereits an; es mögen aber noch einige aufgezählt sein.

I. Was versteht Lange unter Wahrnehmung- Erste Stelle: »Mit tausend Reizen stürmt die Natur auf seine (des Menschen) Sinne ein . . . Und die Seele antwortet auf diese Reize mit Empfindungen, mit Vorstellungen; sie bemächtigt sich der Aufsenwelt, indem sie dieselbe wahrnimmt.« (S. u L'nter Wahrnehmung versteht also Lange das Bewufstw erden von Nervenreizen. Die Worte »Empfindungen« und »Wahrnehmungen (wahrnehmen) c sind identisch gebraucht.

Zweite Stelle: »Im Augenblicke der Wahrnehmung ver- hält sich die Seele durchaus aktiv, indem sie . . . auf Veranlassung einer Nerventhätigkeit eine von dieser inhaltlich ganz verschiedene Funktion vollzieht. Wie die Aufsenwelt auf die Seele wirkt, wie diese infolge bestimmter Sinnesreize eine entsprechende, ihrer Natur gemäfse Thätigkeit entfaltet, das ist's, was in den Em-

*) Vgl. z. B. die beiden Zusammenfassungen.

**) Vgl. S. 33: »Sie (die Apperzeption) ist der Vorgang des Wachstums der Seele, geistige Entwicklung«.

***) Vgl. die angeführten Beispiele unter II.

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pfindungen uns unmittelbar zum Bewufstsein kommt.« (S. I.) Die Worte »Empfindungen« und »Wahrnehmungen* sind wieder identisch gebraucht.

Dritte Seile: »Die Thatsache aber, dals jeder der Wahr- nehmenden etwas zu der Empfindung hinzubringt und so sie be- reichert, verändert (?), spricht zweifellos für die Aktivität der Seele, die dem veranlassenden Sinnesreize gegenüber die Haupt- sache thun und die Wahrnehmung jenem Reize gemäfs erzeugen mufs.« (S. 3.) Nach dieser Stelle sind Empfindungen und Wahr- nehmungen zu unterscheiden.

Vierte Stelle: >So kommt es, dafs bei fast allen neuen Perzeptionen der bisherige Seeleninhalt sich geltend macht, dafs wir in der Wahrnehmung mehr gewahr werden, als eigentlich die Gegenstände derselben uns darbieten ... Es darf sonach der Prozefs der Wahrnehmung nicht als ein so einfacher gedacht werden . . . Sie ist nicht blofs das Bewufstwerden von Nerven- reizen. Zur Empfindung gesellt sich vielmehr in der Regel eine Verschmelzung ihres Inhaltes mit ähnlichen Vorstellungselementen und Gefühlen.« (S. 3.) Die Wahrnehmung schliefst also aufser Wahrnehmungselementen noch geistige Elemente ein. Empfin- dungen und Wahrnehmungen sind zu unterscheiden.

Fünfte Stelle: 'Natürlich erhalten wir von der fortwährend sich ändernden Sonnenscheibe verschiedene Gesichtsempfindungen, die zu einer Einheit verbunden und auf denselben Gegenstand bezogen, ein Bild der Sonnenfinsternis geben: Die Perzeption ist eine Wahrnehmung.« (S. 4.) Also: Empfindungen und Wahr- nehmung schliefsten wohl Empfindungs-, nicht aber Vorstellungs- elemente ein.

Sechste Stelle: »Er (der Mensch in den ersten Monaten seines Lebens) wird dem gegebenen Inhalte nichts hinzufügen, ja nicht einmal alles, was zu sehen ist, gewahr werden. . . . Ganz anders bei dem Erwachsenen. Er gewinnt von derselben Natur- erscheinung eine weit reichhaltigere, schärfere und klarere Wahr- nehmung. Wir bemerken nicht blofs die allmähliche Verfinsterung der Sonne, sondern wir erkennen auch zugleich die Ursache der- selben . . . Wir fügen dem die beruhigende Gewifsheit hinzu, dafs hierbei alles mit rechten Dingen zugehe . . ., ein Gedanke, welcher der ungewöhnlichen Wahrnehmung ein gut Teil ihrer gemütsauf- regenden Kraft nimmt. Woher diese inhaltreiche und verhältnis- mätsig sehr deutliche Wahrnehmung*).« . . . (S. 4 und 5). In dieser Stelle wird das Wort »Wahrnehmung« unmittelbar nach-

*) Vgl. S. 17: »Wir erinnern an die durch eine Sonnenfinsternis uns übermittelte Wahrnehmung, die gar manches enthält, was unmittelbar nicht gesehen werden kann, sondern durch unser Denken in die Perzeption hin- eingetragen wurde.«

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einander in verschiedenem Sinne gebraucht: Das eine Mal denkt Lange an das Bewufstwerden von Nervenreizen, das andere Mal an psychische Gebilde, die Wahrnehmungs- und Vorstellungs- elemente einschlielsen.

Siebente Stelle: »Wir fügen der Wahrnehmung aus unserem Inneren zahlreiche geistige Elemente bei, die in der Empfindung überhaupt nicht unmittelbar gegeben sind. (S. f>. i Wahrnehmungen und Empfindungen sind nicht zu unterscheiden. Die Wahrnehmung schliefst geistige oder Vorstellungselemenie nicht ein. Welches ist da der rechte Sinn des Wortes Wahr- nehmung (und des Wortes Empfindung)?

2. Was versteht Lange unter Perzeption-

Erste Stelle: »Gesetzt, es biete sich uns die selten» Er- scheinung einer Sonnenfinsternis dar. Lichtstrahlen fallen aut die Netzhaut unseres Auges . . . Hierdurch werden die peripherischen Enden der Sehnerven zu einer Thätigkeit veranlasst . . . Zu diesen in dem Beriche der Aulsenwelt sich abspielenden Vorgängen tritt nun . . . eine rein innere Thätigkeit . . . Das ist der psychische Akt, mit dem die Perzeption*) abschliefst . . . Nur das neugeborene Kind dürfte ... bei der Perzeption des äufseren Eindruckes stehen bleiben ... Er (der Mensch in den ersten Monaten seines Lebens) wird dem gegebenen Empfindunghinhalte nichts hinzu- fügen, ja nicht einmal alles, was zu sehen ist, gewahr werden . , (S. 4.) Der Erwachsene gewinnt also eine vollständigere Wahr- nehmung als das Kind. Die vollständigere Wahrnehmung wird als Perzeption bezeichnet.

Zweite Stelle: »Wir nehmen von der Sonnenfinsternis einmal nur das wahr, was wir der ursprünglichen Natur unserer Seele gemäfs empfinden mülsten, wenn sie wie die des Säuglings noch unausgebildet wäre. Es vollzieht sich eine Perzeption. Aber wir sehen zugleich vermöge der durch frühere Beobachtungen erlangten Vorstellungen und Fertigkeiten manches, was dem un- erfahrenen Menschen verborgen bleibt, und fügen der Wahrnehmung aus unserem Innern zahlreiche geistige Elemente bei . . Die Perzeption wird zur Apperzeption.« (S. 6.) Es ergiebt sich Die vollständigere Wahrnehmung des Erwachsenen enthält mehr als eine Perzep tion; mit Perzeption darf nur das bezeichnet werden, was der Mensch in den ersten Monaten seines Lebens von der Sonnenfinsternis wahrgenommen haben würde.

Dritte Stelle: »Manche schwache, unklare und flüchtige Perzeption würde fast unbemerkt an unserem Innern vorübergehen, wenn nicht die hinzutretende Apperzeptionsthätigkeit sie im Hewufst-

*) Vgl. auch S. 7, Zeile 8 ff. u. S. 9.

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sein festhielte. Diese schärft die Sinne, d. h. sie verleiht den Sinnesorganen ein höheres Mafs von Energie, so dafs das spähende Auge nun sieht und das lauschende Ohr hört, was für gewöhnlich unbeachtet bleibt.« (S. 16.) In dieser Stelle kann bei dem Worte Perzeption nur an Sinnesreize gedacht werden.

Welches ist nun der rechte Sinn des Wortes Perzeption? 3. Auf den zwei ersten Seiten des Langeschen Buches wechseln fast rcgelmäfsig die Worte: Empfindung (empfinden), Wahrnehmung (wahrnehmen) und Vorstellnng (vorstellen). Das Wort Empfindung wird viermal gebraucht, Wahrnehmung neunmal und Vorstellung achtmal. Wozu dieser Wechsel, da doch immer an die gleiche Sache gedacht wird ? Denkt der Leser, wenn er ein anderes Wort liest, nicht auch, es müsse sich ein anderes dabei vor- stellen lassen?

IX.

Im Anfange des Buches erörtert Lange in 44 Zeilen das Erkenntnisproblem, d. i. die Streitfrage, ob wir die Dinge an sich wahrnehmen können oder nicht. Ich mache geltend: Der Gedanke, dafs wir von den Dingen an sich nichts wissen können, oder dafs unsere Wahrnehmungen nur Symbole für die Dinge an sich sind, dieser Gedanke liegt dem gewöhnlichen Bewufstsein fern, ja sehr fern. Es ist daher bedenklich, das Erkenntnisproblem in wenigen Zeilen abzuthun; und dies umsomehr, als das Langesche Buch auch für Leser geschrieben ist; die nicht philosophisch geschult sind. Es ist daher weiter bedenklich, dafs Lange die Erörterungen über das Erkenntnisproblem an den Anfang seines Buches gesetzt hat; und das ist doppelt bedenklich in einem Buche, in dem die Beachtung des Lernprozesses so nachdrücklich gefordert wird. Zudem behaupte ich: Ein anderes ist die Erkenntnistheorie und ein anderes die Apperzeptionstheorie. Das Verständnis des einen ist unabhängig von dem Verständnis des anderen.

2. Erwiderung.

Von Dr. K. Lange in Plauen.

Der Herr Herausgeber dieser Zeitschrift hat mich ersucht, vorstehender Kritik ein Nachwort hinzuzufügen. Hier ist es.

I. Die Ausstellungen des Herrn Fack beziehen sich in erster

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Linie auf den von mir vertretenen Begriff der Apperzeption, von dem er behauptet , dafs er ganz verschiedene geistige Vorgänge unter einem und demselben Namen zusammenfasse.

I. Zum Erweise dessen sucht er zunächst an einer Reihe von Beispielen den Umfang des Begriffes, d. h. die Arten der Apperzeption vorzuführen. Gegen seine Klassifikation der ein- zelnen Apperzeptionsvorgänge habe ich zuvörderst einzuwenden, dafs sie nicht einem einzigen, sondern zwei ganz ver- schiedenen Einteilungsgründen folgt: einem logischen (wie z. B. bei den unter 2 4 aufgezählten Apperzeptionsprozessen) und einem psychologischen. Diese unberechtigte Ver- mischung ganz entgegengesetzter Betrachtungsweisen verschuldet es, dafs ihm verwandte psychische Vor- gänge als völlig unvergleichbar erscheinen. Sie bietet ihm weiter die Möglichkeit, die Reihe der Apperzeptionsvorgänge ins Unendliche zu verlängern und so dem Begriffe der A. selbst den Schein des Unbestimmten und Schwankenden zu verleihen. Ich bestreite keineswegs, dafs unter Umständen auch die logische Auffassung, welche die geistigen Vorgänge nach dem Inhalte der Vorstellungen einteilt, zulässig ist. Aber hier, wo es sich um die Feststellung des Wesens der A. handelt, kann nur ein einziger, nämlich der psychologische Einteilungsgrund mafsgebend sein, eine Betrachtungsweise, die nicht nach dem besonJeren Inhalte der einzelnen Vorstellungen, sondern nach der Art ihres Verlaufes die Apperzeptionsvorgänge gruppiert. Diese psychologische Be- trachtungsweise wird zu Unterscheidungen wie aktive und passive, innere und äufsere A., nimmer aber zu der achtgliedrigen Apper- zeptionsreihe des Herrn Rezensenten führen. Und so kann man zu den von ihm angeführten Beispielen sich bekennen (obwohl sie nicht durchgängig, wie es doch billig gewesen wäre, dem an- gegriffenen Buche entnommen sind), ohne seine Gruppierung der Thatsachen als eine geeignete Grundlage zur Ge- winnung des Apperzeptions begri f f es anzusehen.

Auch die von Herrn Fack gegebene Deutung der Apper- zeptionsbeispiele fordert wiederholt zum Widerspruche heraus. So besteht beim 5. Beispiel der Apperzeptions Vorgang nicht blofs darin, dafs einer Wahrnehmung das Bewufstsein hinzugefügt wird, man habe von dem Gegenstande derselben schon eine Vorstellung erworben, sondern es stellen sich mit diesem Bewufstsein auch frühere Vorstellungen und Gefühlselemente ein, die sich auf den Gegenstand der Wahrnehmung beziehen. Diese reproduzierten Seeleninhalte können unter Umständen der Wahrnehmung eine ganz neue Bedeutung , einen besonderen Gefühlston verleihen ein Beweis, dafs mehr als ein Bewufstseinsakt hinzukam. Ferner wird bei der im 6. Beispiel erwähnten Illusion die undeutliche Wahrnehmung nicht einer andern Wahrnehmung, sondern einer

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Gruppe starker und mit lebhaften Gefühlen verknüpfter Vor- stellungen eingefügt. Nicht tritt neben die i. Wahrnehmung eine 2., sondern die reproduzierten Vorstellungselemente geben jener eine andere, falsche Deutung, so dafs der Knabe zu sehen und zu hören glaubt, was in Wirklichkeit nicht wahrzunehmen ist.

Und wie hier, so bedarf auch beim 1. Beispiel, wie unten nachgewiesen werden soll, die Darstellung des Kritikers der Berichtigung.

2. Nachdem Herr Fack den Umfang des Apperzeptionsbe- griffes festgestellt hat, prütt er die von mir gegebene Darstellung seines Inhaltes. Er findet, dafs die erste Zusammenfassung der Begriffsmerkmale mit der zweiten, der Definition, nicht überein- stimme. Sehr richtig bemerkt er, dafs die erste Zusammenstellung noch unwesentliche Merkmale aufführe, welche die zweite »ver- schweige«. Und er kann nicht umhin, diese auffallende Thatsache als eine Ungenauigkeit zu rügen.

Aber wie, wenn diese Art der Begriffsbestimmung nun be- absichtigt war, wenn es dem Verfasser des Buches zunächst darauf ankam, die wichtigsten der beschriebenen Apperzeptionsvorgänge in kurzen Zügen zu zeichnen und so dem Leser das Gesamtgebiet derselben möglichst gedrängt vor Augen zu führen, unbekümmert darum, dafs auch unwesentliche Merkmale noch mit unterliefen? Wie, wenn der psychologische Weg der Begriflfsbildung auch hier eingehalten, wenn von der unvollkommenen Auffassung allmählich hingeleitet werden sollte zu der geläuterten, von der ausführlichen Beschreibung und Erklärung der Hauptbeispiele zur endgiltigen Feststellung der wesentlichen Merkmale, zur Definition? Gewifs hätte diese Begriffsentwicklung noch ausführlicher, meinetwegen auch vollkommener gegeben, es hätten was eine künftige Auf- lage vielleicht nachholen wird die unwesentlichen Bcgriffsmerk- male ausdrücklich als solche bezeichnet werden können, statt dais sie stillschweigend weggelassen wurden. Aber dafs hier der Darstellung nicht Unklarheit des Denkens, sondern ein bestimmter didaktischer Zweck zugrunde liegt, hätte doch de m H errn Kri tiker nicht so ganz verborgen bleiben sollen.

3. Nach diesem leichten Geplänkel richtet er die ganze Wucht seines Geschützfeuers gegen meine Definition des Apperzeptions- begriffes. Er behauptet zunächst, dafs in ihr das Wort »Klar- heit« zu streichen sei. Dafs ich es selbst für ein wesentliches Merkmal nicht halte, wird von ihm ausdrücklich bezeugt. Wenn ich es trotzdem in die Erklärung aufnahm, so geschah es wieder aus didaktischen Gründen. Es sollte dem Bewufstsein des Lesers die pädagogisch wichtige Thatsache nahe gelegt werden, dafs allerdings in den meisten Fällen der apperzipierte Seeleninhalt durch die Aneignung an Klarheit gewinnt. Um jegliche Unklar-

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heit auszuschliefsen , hätte das Wort mit den folgenden durch ein >oder< in demselben Sinne verbunden werden können, wie vorher von »einzelnen Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Vor- stellungsverbänden« gesprochen wird. Dafs auf diese Weise die Definition um ein weniges an logischer Strenge einbüfst, will ich gern zugeben. Aber wie wenig oft mit logisch unanfechtbaren Erklärungen da, wo es sich um die Einführung in das Verständ- nis wichtiger wissenschaftlicher Begriffe handelt, anzufangen ist und wie wenig oder wieviclerlei sich bei ihnen denken läfst, zeigt kein Begriff schlagender als eben der der A. *) Und so schien mir's hier , wo es sich nicht um logische Schulübungen , sondern um möglichste Verdeutlichung eines Begriffes handelte, im Interesse des Lesers geboten, ein so wichtiges Kennzeichen gewisser Apper- zeption^akte mit aufzuführen.

4. Herr Fack bestreitet weiter, dafs bei der A. ein Seelen- inhalt dem andern eingefügt werde. Denkt man sich dieses Einfügen als ein so intensives Zusammensein zweier Seelen- inhalte im Bewufstsein, dafs einer den andern in der Folge regel- mäfsig reproduziere und reproduzier en müsse, so scheint allerdings der im 4. Beispiele beschriebene Vorgang nicht unter den Begriff der A. zu fallen.

Allein, man kann sich die Einfügung eines Seeleninhaltes in einen andern doch auch so vorstellen, dafs der eine den andern zwar nicht notwendig und in jedem Falle, aber doch verhält- nismäfsig oft und leicht reproduziert. So ist es in der That, und so wars von mir auch im Grunde genommen gemeint. Dementsprechend wird allerdings, wie ich mit Vergnügen dem Herrn Rezensenten zugestehe, der von ihm angeführte Satz auf S. 16 meines Buches besser folgende Fassung erhalten: »Eine Wahrnehmung wird anderen Seelenerzeugnissen eingefügt, heifst daher: sie wird mit ihnen zeitlich und inhaltlich so intensiv zu- sammengedacht, dafs fortan eins das andere leicht zu reprodu- zieren vermag.« Und in gleichem Sinne ist die S. 19 ent- nommene Bemerkung zu ändern.

Giebt man dies zu , dann wird allerdings jeder apperzipierte Seeleninhalt dem Aneignungssubjekte eingefügt; denn darüber besteht kein Zweifel, dafs die apperzipierte wie die apperzipierende Vorstellung vor anderen sich leicht reproduzieren. Und so wird es wohl dabei bleiben müssen, dafs d ie Ei n rc ih u n g eines Seelenin ha Ites in andre verwandte Vorstellungen

*) Vgl. z. B. folgende Definitionen: >A. ist die Bewegung zweier Vor- stellungsmassen gegen einander zur Erzeugung einer Erkenntnis.« Oder: »Sie ist das mittels reproduzierter Vorstellungen vollzogene Ergreifen eines geistigen Inhalts.« »Sie ist der Eintritt einer Vorstellung in den Blickpunkt des Bewufstseins.«

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ein wesentliches Merkmal des Apperzeption s- begriffes ist.

Dem Herrn Kritiker ist übrigens nachträglich selbst der Ge- danke gekommen, dafs ich, wie er sich ausdrückt, »das Einfügen wohl nicht so streng genommen habe« , als er anfänglich meinen Worten entnehmen zu müssen glaubte. Unter dieser Voraus- setzung scheint er seinen Widerspruch gegen die Aufnahme dieses Merkmals in die Definition fallen zu lassen. Denn was er sonst noch gegen letztere vorbringt, bewegt sich auf einem ganz an- deren Gebiete.

5. Er greift schliefslich , um sie zu bekämpfen, auf sein erstes Beispiel zurück, das von der Wahrnehmung einer Sonnen- finsternis handelt. Aber hier widerfährt ihm ein recht fatales Mifsverständnis. Er legt sich nämlich meine Darstellung des be- treffenden Seelenvorganges so zurecht , als unterschiede ich im vorliegenden Apperzeptionsakte zwei sich zeitlich getrennt voll- ziehende Teil Vorgänge: 1. Der Erwachsene nimmt wahr, was das Kind nicht wahrnehmen kann. 2. Die auf diese Weise aus der Perzeption entstandene vollständigere und deutlichere Wahrnehmung wird gewissen geistigen Elementen eingefügt. Hieraus ergebe sich »ohne weiteres,« dafs in meiner Definition der 1. Teilvorgang ganz übersehen und dafs sie daher nicht für alle von mir auf- geführten Beispiele giltig sei.

In Wirklichkeit verhält sichs anders. Sobald der Erwachsene den betreffenden Vorgang an der Sonnenscheibe als Sonnen- finsternis erkennt, hat er bereits die Perzeption (d. i. das, was auch das unerfahrene Kind von der Himmelserscheinung wahr- nehmen kann) apperzipiert, d. h. in den Zusammenhang verwandter Vorstellungen eingefügt. Denn diese sind es ja, welche der Per- zeption den Eindruck des Unerhörten, völlig Fremden nehmen und sie als etwas Bekanntes erkennen lassen. Das braucht im ersten Augenblicke noch keine besonders tief gehende und abgeschlossene A. zu sein. Aber sofort treten andere zur apperzipierenden Vor- stellungsgruppe gehörige Elemente hinzu, welche die Perzeption bereichern helfen. Der Erwachsene weifs, dafs der Mond die Ursache der Sonnenverdunklung ist und so sieht er, wie eine dunkle Scheibe in das Lichtfeld der Sonne eintritt. Es fallt ihm ein, dafs während der seltenen Himmelserscheinung leuchtende Fackeln an der Sonnenscheibe beobachtet werden können und nun erkennt das durchs Fernrohr verstärkte Auge in gewissen bewegten Lichtmassen die Protuberanzen. Er hat von einem die Sonne umgebenden Lichtkranze gehört, und so findet er die dem gewöhnlichen Auge unerkennbare Corona.

Wenn hier die A. sich in einem kurzen, aber doch immerhin mefsbaren Zeitraum vollendet, so werden dagegen bei dem wohl- vorbereiteten Beobachter, der im Zustande der Erwartung alle

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Apperzeptionshilfen bereit hält, Perzeption und Apperzeption in einem einzigen Akte der Wahrnehmung augenblicklich vor sich gehen. So viel Einzelwahrnehmungen aber auch der wohlunter- richtete Erwachsene bei der Beobachtung der Sonnenfinsternis mehr erhält als das unerfahrene Kind sie treten doch nur her- vor auf Veranlassung entsprechender reproduzierter Seeleninhalte. Seine Gesamtwahrnehmung von der Himmelserscheinung gewann an Klarheit und Vollständigkeit, weil und soweit bei ihrer Ent- stehung apperzipierende Vorstellungen mitwirkten. Diese sind die Ursache, jenes die Wirkung. Je vollständiger und energischer sich die A. vollzieht, desto reicher wird auch die Wahrnehmung. Was folgt hieraus?

a) Es werden vom Erwachsenen nicht neue Einzel- wahrnehmungen gebildet und diese in ihrer Gesamt- heit erst den verwandten Elementen der Seele einge- fügt, sondern das Hervortreten dieser geistigen Ele- mente und die Entstehung neuer Teil Wahrnehmungen ist in der Regel ein einziger Apperzeptionsakt. Nur in- soweit, als mehrere solche Apperzeptionsakte in der Wahrnehmung von der Sonnenfinsternis gegeben sind, kann von Teilvorgängen der allmählich fortschreitenden A. die Rede sein.

b) Die vollständige und deutliche Wahrnehmung von der Sonnenfinsternis ist nicht der Gegenstand, sondern das Ergebnis eines Apperzeptionsvorganges.

c) Wenn der Erwachsene sonach im Gegensatze zu <lem unerfahrenen Kinde die Perzeption von der Sonnenfinsternis apperzipierend zu einer viel reicheren und schärferen gestaltet, so hat jene unzweifelhaft, wie die angefochtene Definition behauptet, an Klarheit, Regsamkeit und Bedeutung gewonnen. Damit ist zugleich erwiesen, dafs jener Begriffserklärung auch für den besprochenen Apperzeptionsvorgang volle Giltigkeit zukommt und dafs der Herr Rezensent letzteren mit Unrecht von ihr ausschliefst.

Er hat eben bei ihm, wie es scheint, an die Fälle der aktiven A. gedacht, wo eine neueintretende Wahrnehmung zunächst keine Apperzeptionshilfen findet, an die Fälle, wo zwischen der Per- zeption und ihrer Einfügung in verwandte Gedankenkreise ein längerer Zeitraum liegt. Aber hier trifft dies, wie auf S. 7 meines Buches ausdrücklich bemerkt wird, durchaus nicht zu; hier kommt jede Einzelwahrnehmung wie die Gesamtwahrnehmung zu stände »unter dem wesentlichen Einflüsse der A. und gleich- zeitig mit ihr.« Was also von einer ganz anderen Gruppe von Apperzeptionsvorgängen gilt, hat Herr Fack irrtümlicherweise -auf vorliegendes Beispiel übertragen.

Pädagogische Studien. III. 10

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Er hat weiter in dem von ihm angeführten Satze: »Wir sehen zugleich vermöge der durch frühere Beobachtungen erlangten Vorstellungen und Fertigkeiten manches, was dem unerfahrenen Menschen verborgen bleibt, und wir fügen der Wahrnehmung aus unserm Inneren zahlreiche geistige Elemente bei, die in der Em- pfindung überhaupt nicht gegeben sind« die beiden Haupt- sätze in ein ganz andres logisches Verhältnis zu einander gesetzt» als nach den vorausgehenden Darlegungen zulässig ist. Nicht im Verhältnis der zeitlichen Aufeinanderfolge stehen die in beiden Sätzen behaupteten Thatsachen, sondern in dem der Gleichzeitig- keit, der Wirkung und Ursache: weil wir der Perzeption aus unserm Innern zahlreiche geistige Elemente beifügen, die in der Empfindung unmittelbar nicht gegeben sind, sieht der Erwachsene manches, was dem unerfahrenen Menschen verborgen bleibt. Ich denke da z. B. an die Vorstellungen von der Art und Weise, wie der Mondschatten die Sonnenfinsternis bewirkt, an Seelen- inhalte also, die nicht auf dem Wege der Wahrnehmung, sondern mittelbar durch Vergleiche und Schlüsse erworben werden. Diese führe ich in gedachtem Satze neben den »durch frühere Beobach- tungen« erlangten Vorstellungen von der Sonnenfinsternis als eine zweite Art apperzipierender Vorstellungen auf, worauf schon das die beiden Hauptsätze verbindende »und« hindeutet. Was macht aber der Rezensent aus diesem nicht miisverständlichem Satze? Er spricht von der durch die A. bereits erzeugten vollständigen und deutlichen Wahrnehmung, wo doch dem ganzen Zusammen- hange zufolge nur die Perzeption gemeint sein konnte. Er be- hauptet, »jene Wahrnehmung werde gewissen geistigen Elementen eingefügt,« während es doch umgekehrt auf S. 6 meines Buches heifst : »geistige Elemente fügen wir der Wahrnehmung (d. i. Perzeption) bei.« Nur durch solche ge waltsa me Deu- tung und offenkundige Verdrehung des klaren Wort- lautes konnte Herr Fack dazu gelangen, meine Dar- stellung mit der Begriffserklärung in Widerspruch zu setzen.

Damit bricht aber, um mich seines Ausdrucks zu bedienen, sein ganzes kritisches Gebäude in sich zusammen. Es ist ihm nicht gelungen, zu widerlegen, dafs im Apper- zeptionsvorgange ein Seeleninhalt i. verwandten Pro- dukten unsres bisherigen Vorstel lungs - und Gemüts- lebens eingefügt und dadurch 2. zu gröfserer Regsam- keit und Bedeutung erhoben wird. Diese zwei wesent- lichen Merkmale, die wahrlich mehr als »ein Momentchen Gemein- sames« einschliefsen, unterscheiden die A. genügend von anderen psychischen Thätigkeiten. Dafs sie bei aller Erkenntnisthätigkeit und mittelbar auch bei den Gefühls- und Willensakten sich wirk- sam erweist, spricht doch nicht gegen die Richtigkeil ihres Be-

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griffs, und wenn hier ein weithin herrschendes Gesetz des Seelen- lebens sich in verschiedenster Anwendung kundgiebt, warum soll man es nicht als solches anerkennen? Das heilst noch lange nicht, eine »verkappte Encyklopädie« bieten ein Vorwurf, der leicht genug wiegt, so keck er auch allen Vertretern der Apper- zeptionstheorie — also auch einem Leibniz, Herbart, Lazarus, Lotze, Wundt u. a. entgegen geschleudert wird. Die »besseren psychologischen Kompendien« übrigens, bei denen Herr Fack sich betreffs der seelischen Elementarvorgänge»» lieber Rats erholen möchte, handeln fast ohne Ausnahme auch von der A. und zwar meist in ähnlichem Sinne, als es von mir geschehen. Wenn sie hierbei nachträglich die Bedeutung der A. für viele jener elemen- taren Prozesse betonen und trotzdem jene Elementarvorgänge erst für sich darstellen , als gäbe es gar keine A. , so kann ich darin weder eine besondere Folgerichtigkeit, noch eine besondere Klarheit der Darstellung erkennen'.

II. Herr Fack behauptet weiter, dafs der Begriff der Wahr- nehmung von mir in verschiedener Bedeutung gebraucht worden sei. Zunächst wird er mir zugestehen müssen, dafs ich ihn auf S. 4 genau bestimmt und von der Empfindung schart unter- schieden habe, und auch darüber, wie sich zu beiden Begriffen die Vorstellung verhält , läfst die Abhandlung nicht im Zweitel. Es ist selbstverständlich und leicht nachzuweisen, dafs überall, wo es darauf ankam, jene 3 verwandten Begriffe scharf aus ein- ander zu halten, auch für den betreffenden Begriffsinhalt das ent- sprechende Wort gewählt worden ist. Wo dagegen eine solche Unterscheidung nicht nötig und beabsichtigt war, wo etwas be- hauptet wurde, was jedem der drei Begriffe in gleichem Mafse und vollem Umfange zukam, da ist allerdings aus stilistischen Gründen, der Abwechslung halber, öfters ein Name statt der an- deren gebraucht worden. Das ist nicht nur vollkommen zulässig, sondern auch anderwärts üblich. Wie breit und umständlich müfste die Darstellung werden, wenn überall, wo etwas ausgesagt werden soll, was sowohl von der Empfindung als von der Wahr- nehmung und Vorstellung gilt, keines dieser Wörter die anderen vertreten und der Leser die selbstverständliche Verallgemeinerung nicht vollziehen dürfte ! Wenn daher der peinliche Herr Inquisi- tor mir vorrechnet, dafs ich auf zwei Seiten das Wort Empfin- dung viermal , Wahrnehmung neunmal und Vorstellung achtmal angewandt habe, während doch immer an die gleiche Sache ge- dacht werde , so frage ich ihn : Woher wissen Sie das letztere ? Es steht Ihnen frei, bei jedem Wort nur an das zu denken, was es eben zunächst bezeichnet und es wird auch bei solch pe- dantischer Strenge noch ein guter und richtiger Sinn herauskommen. Es wird aber auch erlaubt sein, da, wo der Zusammenhang keine Zweifel zuläfst , ein Wort als den Vertreter der beiden anderen

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aufzufassen und so eine Behauptung selbstdenkend zu verallge- meinern. Der Herr Rezensent, der selbst einmal (im 6. Beispiel) von Wahrnehmungen spricht, »die aus Vorstellungselementen her- gestellt sind« (!), würde sicher diese Thatsachen nicht übersehen haben, wenn es ihm eben, nach seinem Motto zu schliefsen, nicht darauf angekommen wäre, mir nur Unangenehmes zu sagen.

Inwieweit und in welchem Sinne bei der Wahrnehmung von der Sonnenfinsternis von Perzeption die Rede sein kann, das ist oben unter I 5 so eingehend erörtert worden, dafs ich mir ein nochmaliges Eingehen auf diesen Begriff wohl ersparen darf.

III. Was endlich die einleitenden Sätze auf S. I 2 meiner Abhandlung anbelangt, so halte ich nach wie vor den Hinweis auf den subjektiven Charakter unsrer Wahrnehmungen für einen ge- eigneten Ausgangspunkt zur Einführung des Lesers in das Wesen der A. Natürlich konnte mir nicht in den Sinn kommen, da- bei »das Erkenntnisproblem in einigen Zeilen abthun zu wollen <. Aber was hier über die Aktivität der wahrnehmenden Seele vor- ausgeschickt wurde, ebnet in der That der Einsicht in den Ver- lauf der geistigen Aneignung die Weije. Zudem beschränkt sich die Darstellung so auf das Allernotwendigste und allgemein Zu- gestandene, dafs jeder Gebildete, der mindestens über die Ent- stehung der Sinnesempfindung unterrichtet ist, den Ausführungen des Buches zu folgen vermag. Wenn daher der Herr Rezensent dies im Hinblick auf die »nicht philosophisch geschulten Leser < bestreitet, so scheint er mir doch die Bildung unsres Lehrer- standes zu unterschätzen. Kür Lehrer ist ja das Buch vornehm- lich geschrieben, und wer von ihnen zu ihm greift, wird sicherlich mit den Elementen einer rationellen Psychologie vertraut und so befähigt sein, »sich durch das Buch hindurchzuarbeiten«.

Wenn Herr Fack die (d. h. alle) Beispiele des letzteren zu kompliziert und doch auch wieder nicht deutlich genug und bis ins einzelnste ausgeführt findet, so will ich mit ihm darüber nicht rechten. Ich glaube ihm auch ohne weiteres, dafs «es ihm kein Leichtes gewesen ist, sich durch das Buch hindurchzuarbeiten, sei's auch nur durch wenige Bogen« die Animosität seiner Kritik verrät es ohnedies. Aber dafs es allen oder den meisten Lesern so sauer falle, mufs ich doch entschieden bestreiten. Zahl- reiche Aufserungen von Freunden des Buches, sowie die That- sache, dals es auf den Seminaren den Schülern vielfach zur Lek- türe empfohlen und seit Jahren in kleineren oder gröfseren Lehfer- vereinigungen studiert wird, beweisen das Gegenteil. Das sage ich nicht, um das Buch zu loben, sondern um dem Herrn Kritiker zu zeigen, dafs auch der Schriftsteller es nicht allen Leuten recht machen könne. Geht es mir doch mit seiner Kritik ähnlich wie

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ihm mit meinem Buche: Bei aller Anerkennung des Scharfsinns und der dialektischen Kunst, die sie verrät, kann ich doch leider nicht sagen, dafs sie mich erheblich gefördert hat und dafs ihr selbst bewufster, herausfordernder Ton den thatsächlichcn Ergeb- nissen derselben entspricht.

B.

I. Stimmen aus Sachsen Uber Reform des Religions- unterrichts.

Mitgeteilt von Fr. Franke in Leipzig.

i) Die amtliche Leipziger Zeitung brachte kurz nach Pfingsten in<m einen Bericht eines Herrn R. B. über den Vortrag des Superintendenten Braasch aus Jena auf dem Thüringer Kirchentag in Weida. Wir setzen die Hauptforderungen des Vortrages selbst als bekannt voraus"), wollen aber den angeführten Bericht etwas ins Auge fassen, da derselbe weder als Mus' er pädagogischer Überlegung noch als Wiedergabe der allgemeinen Stimmung gelten kann.

Herr R. B. berichtet: »Ziel (des biblischen Geschichtsunterrichts,' s >ll sein, die Jugend für die biblischen Gestalten, insbesondere für den Herrn Jesus Christus im Herzen zu erwärmen und zu begeistern«. Wohl! es giebt nichts Höheres als dies, wenn Herr R. B. unter Wärme und Begeisterung nicht einen Gefühlsrausch versteht, der an bestimmten Orten oder bei ge- wissen Anlässen den Menschen erfafst, bei Eintritt in die berufliche Arbeit u. s. w. aber wieder der nüchternen Selbstsucht Platz macht, sondern eine Sinnesweise, in welcher Begeisterung für den Herrn Jesus Christus ^fest« geworden ist. (Ebr. 13,9.) Die Methode dieser Erwärmung und Be- geisterung ist nun gewifs eine wichtige Sache; auch eine schwierige- Es scheint nicht so: »Der Unterricht in der bibl. Geschichte mufs natürlich sein, d. h. er bat nichts weiter zu thun, als die Geschichte in einer für die Kinder fafslichen, womöglich sie fesselnden, anmutigen Weise zu erzählen. Das Abdestillieren und Einpauken katechismusartiger Sätze ist ein voll- kommener Missgriff.« Also: falslich erzählen! Gut. Womöglich fesselnd, anmutig, d. h. also, wenn nicht möglich, dann nicht fesselnd und nicht anmutig. Bleibt noch die Fafslichkeit! Aber wie steht es bei der blofsen

*) Vgl. Staude« Aufsatz im 4. Hefte des vorigen Jahrgangs der »Päd Stu>J.<

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Fafslichkeit mit Wärme und Begeisterung1 Und giebt es aufser dem Er- zählen nichts als Abdestillieren und Einpauken katechismusartiger Sätzer Was bedeutet ferner neben solchen Behauptungen das vorausgeschickte Zugeständnis, es sei richtig, >die Aneignungsfähigkeit als bestimmend für den Gang des Unterrichts anzusehen.« und die Anwendung der fünf Nor- malst ufen auf jede Einheit gehe von diesem richtigen Grundsatze aus:

Herr Superintendant Braasch selbst stellt allerdings neben das Er- zählen noch kurze Erläuterungen und Denkfragen, die man wenigstens als Andeutung dessen, was noch zu thun ist, ansehen kann. Nach Herrn R. B. dagegen hat der Unterricht nach dem Erzählen »weiter nichts zu thun.' Nun wird es begreiflich, dafs er die wissenschaftlich bestimmten formalen Stufen »Normalstufen« nennt, die Freunde derselben aber als Pythagoräer der bekannten Art glaubt brandmarken zu müssen: »Wer eine Zeit lang in der Zwangsjacke der Normalstufcn gesteckt hat, der wird Braasch aus vollem Herzen beistimmen. Bei uns in Sachsen macht sich die wissen- schaftliche Pädagogik ja seit einigen Jahren nicht mehr so breit, immerhin finden sich an jeder Lehranstalt noch vereinzelte Vertreter dieser »Schule<. Zu fürchten ist freilich, dafs Braasch bei ihnen wenig Gehör finden wird, so wenig wie Oskar Jäger seinerzeit mit seinen scharf treffenden Pfeiler, in seinem »pädagogischen Testament« erreicht hat: Das jurare in verba magistri ist nirgend so entwickelt wie in diesen Kreisen, und leider nirgend so verderblich wie in der Schule.«

Herr B. würde wohl einen angemesseneren Ton gefunden haben, wenn er die Anerkennung Braaschs. dais es der »von Herbart ausgehenden Schule um die grofse Sache sehr ernstlich zu thun ist«, nicht seinen Lesern und sich selbst verschwiegen hätte. Dafs Herr Braasch auch gegen die »theologisierendc Methode« des Unterrichts sich mit erfreulicher Schärfe ausgesprochen hat, erfährt der Leser gleichfalls nicht, obwohl es sich auch »bei uns in Sachsen« gegen dieselbe regt, vgl. z. B. Hempel, Zum Kate- chismusunterrichte (Leipzig 1885) S. 3,46,64,75.

21 Die Behauptung, dafs sich in Sachsen die »wissenschaftliche Päda- gogik« nicht mehr so breit macht, erhielt eine unerwünschte Beleuchtung durch die Neunte Allg. Sächs. Lehrerversammlung in Dresden (Michaelis 1891;, die Befürchtung des Herrn R. B. aber, dafs die ihm notwendig erscheinenden Reformvorschläge wenig Gehör finden würden, wurde in un- erwünschter Weise bestätigt. An die evangelisch-lutherische Landessynode war die Petition gelangt, das hohe Kirchenregiment zu ersuchen, auf ver- fassungsmäfsigem Wege im Lektionsplane der Elementarvolksschule für die vier letzten Schuljahre wöchentlich fünf (statt vier) ganze Stunden dem Religionsunterrichte zuzuweisen, und die Synode hatttc beschlossen, diese Petition dem hohen Kirchenregimente zur Erwägung zu überweisen. Auf der genannten Versammlung hielt nun Oberlehrer Zemmrich aus Zwickau einen Vortrag über die Krage: Bedarf die Volksschule einer Ver- mehrung der Religionsstunden?*) Er bestritt im allgemeinen nicht

•) In erweiterter Form im Dru;'c erjxhlenen. Zwickau, 1891 47 S. 60 Pf.

das Vorhandensein der von den Petenten angeführten Cbelständc, be- kämpfte aber den vorgeschlagenen Weg zur Beseitigung derselben und stellte dafür die Forderung auf, dafs die intensive Trefflichkeit, >die in aller. Religionsstunden der intensiven Wichtigkeit des Gegenstandes entsprechet« mufs« (Herbart), gesteigert werden müsse. (S. 16.) »Die Volksschule bedarf zum Zwecke der Vertiefung des religiösen Wissens einer Reform der religiösen Unterweisung.« (S. 29.) Er ist mit Seminardirektor Schöppa überzeugt, >dafs das Kind den Glauben und dem Glauben gemäfs leben nicht durch Sätze der Glaubens- und Sittenlehre, sondern im Anschauen konkreter Personen, vor allem der Person Christi, lernt.« (S. 30.) Aber damit »das Kind in seinem Wissen das ordnende Prinzip nicht ver- misse und sich nicht in der Fülle des Einzelnen verliere, ersteht noch die Notwendigkeit der Zusammenfassung der Teile des Systems, des kleinen Katechismus.« iS. 41.)*) Weil ihm nun feststeht, »dafs der Katechismus nicht als eine Abstraktion für sich gelehrt werden kann, sondern immer im Zusammenhange mit dem geschichtlichen Personenleben, an welchem die Wahrheit angeschaut, erkannt, ergriffen und festgehalten wird« (und weil doch das, was mit Kindern zus amm engefalst werden soll, bei denselben vorhanden sein muls), so will Herr Zemmrich aus dem Vollen der bib- lischen Geschichte die Katechismussätze ableiten (oder wie man auch sagen kann, abdestillieren und einpauken) lassen. Dann ist auch kein Grund vorhanden, wie Braasch in den zwei letzten Schuljahren besonderen Katechismusunterricht zu treiben; auf der Oberstufe sollen beide vereinigt werden (und auf der Unterrichtsstufe geschieht es eigentlich meistenteils schon,. »Aus dem Nebeneinander der derzeitigen beiden Hauptzentren der religiösen Unterweisung mufs ein Ineinander, ein Ganzes gcschatTen werden.« (S. 30.)

Der Vortragende verfocht somit kurzgesagt die formalen Stufen im Religionsunterrichte nebst den nächsten Voraussetzungen und Folgerungen. Wenn sich nun wirklich, wie Herr R. B. sagt, an jeder Lehranstalt nur vereinzelte Vertreter der Zwangsjacke rinden, so mufste der Vortrag einen gründlichen Durchfall erleben. Die Versammlung aber nahm die zu- sammenfassenden Thesen beinahe einstimmig an. Soweit es sich dabei um Ablehnung der Vermehrung der Stundenzahl handelte, wird dieses Er- gebnis nicht überrascht haben. Dafs auch der positive Teil des Vor- trages Zustimmung fand, mag der Eine den gediegenen Ausführungen des Redners, der Andere der inneren Gewalt der Sache selbst zuschreiben. Jedenfalls wurde die konzentrierende, lehrplangestaltende Kraft der formalen Stufen überzeugend dargelegt, und zwar ohne dafs die kurzen Ter- mini gebraucht wurden. Wir sind daher auch weit davon entfernt, Einen der Zustimmenden gegen seinen Willen zu »unserer« Schule zu zählen. Aber diese Schule, das ist klar geworden, hat auch nicht nötig, sich irgend

*) Der Katechismusunterricht ist auch nach Braasch »eint gedrängte Zusammenfassung der Heilswahrhelten« .

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jemandem zum Trotze »breit zu machen.« Vor einigen Jahren mufsten die Freunde derselben wie die Juden beim Baue des zweiten Tempels in der einen Hand immer die Waffen tragen, und da hörte man es wohl häufig klirren. Waffenschlag klang noch zwischen die Worte des friedliebenden Mannes, der auf der siebenten Sachs. Lehrerversammlung (Michaelis 1&S4 in Freiberg) über wissenschaftliche und Volksschulpädagogik sprach. In diesem Jahre hat die Versammlung kritisch - positive Dar- legungen, die zwar nur ein einzelnes Gebiet beleuchteten, aber vom Stand- punkte des Ganzen aus, objektiv -ruhig und zustimmend hingenommen.

2. Etwas vom Lesen und Lesebuch in der Volksschule.

Von Fr. Franke in Leipzig.

Unter dieser Oberschrilt bringt die Zeitschrift lür den deutschen Unterricht im 5. Jahrg. S. 527 ff einen Aufsatz von Karl Strobel in Berlin, in welchem ein beachtenswerter Vorschlag für Neugestaltung der Lese- bücher gemacht wird »Ruhe und Mufse für das Lesen zur Unterhaltung und Ergötzung findet man nicht mehr. Ein ganzes Buch versteht unsere Zeit nicht mehr zu lesen und in Ruhe zu geniefsen. Sich liebevoll in den Inhalt hinein zu versenken, ihn auf Herz und Gemüt einwirken zu lassen, langsam die genossene geistige Nahrung zu verdauen, daraus Entschlüsse zu festen Grundsätzen zu fassen und Begeisterung für hohe, hehre Thaten zu empfangen: das scheint unserem Geschlecht nicht mehr möglich zu sein.« In dieser Strömung schwimmt auch die Schule mit, obwohl man merkwürdigerweise »sich überall des Fehlerhaften, ja durchaus Falschen dieser Richtung bewufst ist (? f. unten) und im Wort und Schrift da- gegen ankämpft. Damit recht viel Stoff des Bildenden und Belehrenden aus allen Unterrichtsfächern durchgearbeitet (?) werden kann, werden die Lesestücke recht klein gemacht, in lauter Häppchen zerschnitten und in recht bunter Mannigfaltigkeit dargeboten, damit die Kinder immer von einer Stunde zur anderen, oft gar in einer und derselben Stunde, aus einem Stoff in den andern, aus einer Darstellungsweise in die andere ge- zerrt werden, damit sie nippen von allem, aber niemals essen; naschen, aber niemals kauen und verdauen lernen. Es ist auch hier die »Häppchen- litteratur«, welche vorherrscht und den Stoff liefert.«

Um eine Umkehr zu bewirken, schlägt nun Verf. für die kursorische Lektüre in sechsklassigen Schulen folgende Bücher vor: Für 'Klasse V: Kinder- und Hausmärchen der Gebr. Grimm (einige sind fortzulassen); für Klasse IV: Lokalsagen der Stadt, des Kreises oder der heimatlichen

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Provinz; für Klasse III: Deutsche Sagen (z. B. der Gebr. Grimm mit Aus- wahl); für Klasse II und I eine Schulausgabe in einem Bande von Gustav Freytags Bildern aus der deutschen Vergangenheit. Nach dieser Auswahl ist dann die Schülerbibliothek zusammenzustellen; für jede Klasse soll eine kleine Anzahl von Schriften in je 12 15 Exempl. vorhanden sein und vom Lehrer des Deutschen (Klassenlehrer) verwaltet werden. Unter den vorge- schlagenen Büchern finden wir Heys Fabeln, Willmanns Lesebuch aus Homer und aus Herodot; Goldschmidts Geschichten aus Livius, deutsche Heldensagen, den Simplicissimus u. a.

Für das statarische Lesen wünscht Verf. ein kleines Litteraturbüchlem, welches den Fordeiungen der Allg. Bestimmungen entsprechend etwa 150 poetische und prosaische Stücke enthalten müfste. Auch hier möchte er für die einzelnen Klassen Hauptgruppen bilden, und zwar nach Autoren, und setzt daher als Hauptstoffe an: Für Klasse VI Heysche Fabeln , für Klasse V Fabeln von Luther und Gedichte von Hoffmann von Fallersleben; für Klasse IV Fabeln von Lessing sowie Fabeln und poetische Er- zählungen von Geliert; für Kl. III Hebel und Uhland: für Kl II und I Schiller und Goethe.

Diese Vorschläge wären in der That geeignet, in die Lesebuch-I.itte- ratur einen frischen Zug zu bringen und oft beklagte Übelständc, nament- lich die Zusammenhangslosigkeit zu beseitigen. Auch zeigt die Anordnung der Stoße einen glücklichen Blick für das, was den Altersstufen kongenial ist. Leider aber unterläfst es 'Herr Strobcl gänzlich, sich mit verwandte n Bestrebungen aus einander zu setzen, und obwohl er in der Begründung unzweifelhaft auf thatsächliche Übelstände sich stützt, so scheint uns sein Heilmittel doch zu sehr auf den deutschen Unterricht allein be- rechnet zu sein. Seine Vorschläge sind unserer Meinung nach sozusagen einseitig-gut, was wir durch einige Bemerkungen nachzuweisen suchen wollen.

Der Tendenz der Zeitschrift gemäfs gilt ihm, wie wir annehmen, der deutsche Unterricht wenn nicht als gegenwärtiger, so doch als zukünftiger, d. h. notwendiger Mittelpunkt des gesamten Unterrichts. Wir würden unsere Meinung über diesen wichtigen >Punkt« anders fassen, wollen aber zunächst nur vom Lesebuche reden. Dieses soll in der That »einen Mittel- punkt bilden für den gesamten Unterricht, es soll helfen die Einheit in dem Unterrichtsgange herstellen und erhalten, welche aufserdem bei den verschiedenartigen Lehrfächern, die in der Schule zu treiben sind, fort- während gefährdet erscheint«, und im besonderen soll es die Grundlage bilden für den Unterricht in der Muttersprache. *)

Denkt man nun sogleich an die beiden Arten des Lesens, für die es^Stoffe auszuwählen gilt', so ist abgesehen von den allgemeinen Be- stimmungen—die volkstümlich-klassische Litteratur, die Herr Str. zusammen- gestellt hat, gewifs das Nächstliegende. Wir werden auch an den Stoffen

*) Jahrb. des V. f. w. P. 10, S. 14.

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selbst nur wenig auszusetzen haben: aber der Standpunkt, von dem aus dieselben angesehen werden, bedarf einer genaueren Bestimmung. Mit Ruhe und Mufse zum Zwecke der Unterhaltung und Ergötzung lesen zu lernen, ist zwar sehr wertvoll, aber für den Pädagogen, der doch mehr ist oder sein soll als ein wohlwollender, klug ratender Freund in Sachen der Lektüre, liegt dieser Wert darin, dafs ein höherer Zweck dadurch ge- fördert wird. Herr Str. kennt dieses Höhere gar wohl und nennt es beim richtigen Namen. Soll aber der Knabe wirklich geistige Nahrung kauen und verdauen lernen, soll Herz und Gemüt genährt, soll der Wille für hehre Thaten gekräftigt werden, dann kann der deutsche Unterricht bez. der Lehrer des Deutschen allein nicht die Auswahl, Zubereitung und Darbietung der Geistesnahrung bestimmen, welche ein so wichtiges Lehr- mittel wie das Lesebuch dem Kinde zuführen soll. Mit anderen Worten: Der Inhalt des Lesebuches ist aus dem Ganzen des Unterrichts heraus zu bestimmen, damit er wieder auf den ganzen Menschen wirken kann.

Wenn wir aber von Bestrebungen sprachen, die denen des Herrn Str. verwandt seien, so meinten wir freilich den Ausdruck Bestrebungen strenger, als uns eigentlich lieb ist. Falls es nämlich gilt, das gesicherte pädagogische Wissen der Gegenwart an diesem einen Lehrmittel zu zeigen, mufs man gestehen, dafs nur Anfänge und vorläufige Entwürfe vorliegen. Unsere Grofseltern vielleicht noch hatten •'in ihrem Rochowschen Kinder- freund, in Hempels Schulfreund und ähnlichen Büchern das, was wir unseren Kindern jetzt geben möchten : Ein einheitliches ganzes Buch, in das sie sich liebevoll versenkten, aus dem sie für Geist und Herz Nahrung sogen, aus dem*) sie mit eigenem Ergötzen ihren Enkeln vorlasen, wie Schreiber d. Z. selbst erlebt hat. Und noch weiter zurück waren Bibel, Gesangbuch und Katechismus »die ganzen Bücher«, in die man sich liebevoll versenkte, die auf Herz und Gemüt wirkten, trotzdem sie nicht blofs in den Kopf, sondern oft genug auch auf und an denselben kamen! Andere Zeiten, andere Lesebücher; unsere Zeit wird Häppchen behalten, so lange sie der- selben würdig ist. Die bessere Einsicht ist längst da, aber jedenfalls nicht

so vorbereitet, wie Herr Str. S. 528 annimmt; er hat da wohl von fernem Zukünftigem geredet (2. Sam. 7,19).

Um nun aber auf die »verwandten Bestrebungen« in der Gegenwart zu kommen, so haben wir vornehmlich im Sinne von Rein, Pickel und Sehe 11 er das Lesebuch für das zweite Schuljahr; das Historische Lesebuch für das dritte und vierte Schuljahr; die Ausgewählten Gedichte für den Geschichtsunterricht. Bezüglich des Zweckes der- selben vgl. man Rein, Pickel und Scheller: »Das dritte Schuljahr«, 4- Aufl. S. na, sowie die Lesebuchentwürfe der folgenden »Schuljahre«. In diesen Lesebüchern und Entwürfen nehmen die geschichtlichen Stoffe eine hervorragende Stellung ein, jedenfalls aus denselben »nationalen Gründen«,

•1 Nämlich aus dem früher selb« gebrauchten Exemplar!

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•die Herr Str. für seine Auswahl geltend macht. Auch die Auswahl im Einzelnen triflt, wenn wir von dem Unterschied zwischen kursorischem, statarischem und privatem Lesen zum Teil absehen, weil ja alle drei nach demselben Plane entworfen sind, oft zusammen, wahrscheinlich aus denselben pädagogischen Gründen, welche die Verf. anführen, vgl. auch Ziller, Grund- legung, 2. Aufl. S. 312: »Auf dem Gebiete der Geschichte und Litteratur ist dem "aus grauer Vorzeit überlieferten, altbewährten und abgeklärten Erbgute, den mit unvergänglichem Leben erfüllten Werken in klassischen Darstellungen immer die erste Stelle im Unterrichte einzuräumen«. Nun aber der Unterschied! Reins historische Stoffe sollen gröfstentcils inhalt- lich in den Geschichtsstunden durchgearbeitet werden, und dem deutschen Unterrichte bleibt es dann überlassen, in seiner Weise an dem Stoffe weiter zu arbeiten oder auch nicht. Herr Str. stellt aber diese Stoffe (z. B. Grimms Märchen, Heimatsagen, deutsche Sagen) für das Lesen auf, ohne danach zu fragen, ob etwa der Geschichts- oder besser der Ge- sinnungsunterricht dieselben Stoffe brauche und benutze und bez. wann dies der Fall sei. Z. B. bilden zwölf Grimmsche Märchen in Reins »Erstem Schuljahr« den Hauptgesinnungsstoff für das erste Schuljahr, wo sie zu er- zählen sind, während sie im Lesebuche des zweiten Schuljahres als Lese- stoff wiederkehren. Herr Str. verlangt für dieselbe Altersstufe gleichfalls Grimmsche Märchen ; der ganzen Richtung seiner Arbeit gcmäfs soll aber die inhaltliche Betrachtung (soweit im kursorischen Lesen eine solche überhaupt zulässig ist) bei diesem Lesen selbst stattfinden, d. h. unserer Meinung nach in ungenügender Weise. So sollte man auch weiterhin über das Lesen von Heimatsagen oder deutschen Heldensagen gar nichts ausmachen wollen, ohne einen beHtiintnten Plan im Geschichtsunterricht und eine geregelte Bezugnahme auf den entsprechenden Stoff im Lese- buche vorauszusetzen. Uns ist der wirkliche Fall bekannt, dafs in einer achtklassigen Schule das fünfte Jahreslescbuch eine ganz annehmbare Prosabearbeitung der Nibelungensage bis zu Siegfrieds Tode enthält, das sechste Lesebuch den zweiten Teil der Sage hinzufügt, im siebenten Schuljahre der Geschichtsunterricht die Sage anfasst und im achten Schul- jahre die »Heldensagen« in der »Litteratur« daran kommen! Das mag eine hervorragende Verkehrtheit sein , aber unrichtig ist es doch wohl auch, wenn der Geschichtslehrer die Sage durcharbeiten soll, der Schüler die Bearbeitung im Lesebuche hat und doch beides der Zeit nach nicht zusammenpafst. Das könnte aber, wenn der deutsche Unterricht allein den Inhalt des Lesebuches bestimmte, nur dadurch vermieden werden, dafs der Geschichtslehrer seinen Plan nach dem Lesebuche ent- würfe. Ob Herr Str. diese Lösung will, ist nicht ersichtlich und darum vorläufig nicht anzunehmen; zur Regulativzeit wurde es in Preufsen bei sämtlichen gemeinnützigen Kenntnissen so gemacht. Vgl. übrigens »das dritte Schulj.« S. 112.

Derselbe Mangel an Rücksicht auf den Geschichtsunterricht würde sich auch bei Uhlands Balladen u. s. w. (Sttobels III. Klasse) zeigen, falls

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nicht die in Betracht kommende Zeit des Mittelalters in derselben Klasse vorkommt.

Wenn ferner Schiller und Goethe den obersten Stufen zugewiesen werden, so ist das gewifs richtig, obwohl viele kleine Poesien auf früheren Stufen möglich wären. Aber nach welchen Weisungen sollen wir aus- wählen? Und wird da nicht hinsichtlich des Inhaltes wieder ein Vielerlei entstehen, trotzdem immer derselbe Dichter zu uns spricht? Herr Strobel legt hier leider zu ausschliefslich litterarische Ganze vor. Fassen wir, nachdem wir über die historischen Stofte genügend gesprochen haben, die Gruppen des statarischen Lesens besonders ins Auge. Wir finden eine gewisse Einheitlichkeit des Inhalts, der Denkart, Stimmung und Dar- stellung vor und können auch die Anordnung (Hey, Luther, Lessing, Geliert) vielleicht nicht tadeln. Soll man aber und damit gehen wir wieder über den litterarischen Gesichtspunkt hinaus die Kinder wirklich mehrere Jahre vorwiegend mit der nüchternen Lebensklugheit der Fabeln nähren? Das ist wohl zu viel. Hier sprechen für den Erzieher Gründe, welche schwerer wiegen als die litterarische Ganzheit! Schon eine kleine Anzahl von echten Lehrfabeln, nach einander ausführlich behandelt, wird die Kinder sättigen. Sic merken bald, dafs es immer wieder auf das >Hellesein« abgesehen ist, und wo eine tiefere sittliche Weisung sich er- giebt, wie etwa in der Erzählung vom alten Löwen, da bewirkt die Ein- kleidung nicht selten eine gewisse Kühle, welche der richtigen Wert- schätzung hinderlich ist. Ganz anders wirkt freilich die Fabel dann, wenn sie sich in den kindlichen Gedankenkreis einordnen läfst als neue, etwa lustigere oder gröbere Ausführung eines auch sonst noch er- und bear- beiteten Gedankens, oder wenn sie gleich in einem gröfseren Zusammen- hange auftritt, wie etwa die Uneinigkeit der Glieder bei der Auswanderung nach dem heiligen Berge. Die inhaltliche Behandlung nicht nur der grofsen, sendern auch der kleinen Stücke mufs oft vom Sachunterrichte besorgt oder wenigstens getragen und gestützt werden. Man beobachte Knaben, welche beim Ring des Polykrates das erste Wort vom antiken Schicksalsglauben hören. Verwerflich sind die einzelnen und kleinen Stücke nicht an sich, sondern nur insofern sie im Gedankenkreise des Kindes Häppchen bleiben, d. h. wenn sie sich an Hauptstoffe nicht anschliefsen lassen oder wenn für diesen Anschlufs nicht genug gethan wird. Es könnte sogar grofse Stoffe geben, die im Kindcsgemüte > Happen« bleiben.*) Neben den persönlichen Mittelpunkten für die Lektüre, die eine ge- wisse Berechtigung haben, entstehen dann auch s ach Ii che Sammelpunkte aller Art, es entstehen Anhaltspunkte für Stimmungen, für deren wieder- kehrende Erzeugung dieselben oder auch andere Poesien benutzt werden» u. s. f., wie aus den »Schuljahren« des Näheren zu ersehen ist. Um es nun

*) Bliedncr hat in »einem Schillerletcbuch (Dresden, 1883) kleinere Lesest Qcke xu- sammengestellt, die »ich auf »eminarien an die Lektüre Schillerscher Werke anschliefsen. Vgl. Päd. Stud. 1882, Heft 1, besonders S. 94 f. und Jahrb. des V. f. w. P. 15, S. 10s & Man ver- gleiche Bliednera Plan (Stud. a. a. O. S. 28) mit dem Strobels!

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kurz zu sagen : Man mufs stets auf psychologische Ganzheit der Eindrücke hinarbeiten. Die I i tte r a ris che Ganzheit der Stoffe unterstützt das, ist aber nicht immer vorhanden und für sich allein selten zureichend. Ebendarum ist die Entwerfung eines besseren Lesebuchs nicht Sache des deutschen Unterrichts blofs, sondern der Pädagogik. Wir vermuten, dafs ein so bearbeitetes Lesebuch Herrn Strobel gefallen würde durch seine Ausscheidung vieler Stoffe, auch durch Aufnahme neuer, vor allem aber durch sachgemäfse Anordnung, durch Konzentrierung aller Wirkung aut den Hauptpunkt: Bildung des ganzen innern Menschen. Von den gang- baren Lesebüchern würde es sich vorläufig auch dadurch unterscheiden, dafs es nicht gehen wüftie. Die noch frei bleibende Zeit ist durchaus nicht überflüssig. Es liegt im Interesse der Sache, dafs einstweilen »die Litteratur zu diesem Zwecke durchsucht, das passende Material aus der- selben ausgehoben, gesichtet und auf die einzelnen Lehrstufen verteilt werde, um dasselbe für einen künftigen Bedürfnisfall bereit zu haben.* *.i Darum freuen wir uns der Zusammenstellung des Herrn Str. und seines Feldzuges gegen die >Häppchen« und wollen an dieser Stelle die Kunde davon weiter tragen.

3. Die für die Schule bearbeiteten Pilzwerke.

Von C. Kahle- Ilmenau.

Während man noch vor wenigen Jahren die herrlichen Fiizgcbilde im Walde draufsen achtlos überging, das Urteil über ihren Wert oder Un- wert den Pilzkundigen oder den Gourmands überliefs, und in den Schulen sowohl durch den Mund des Lehrers, als auch durch das Lesebuch belehrt wurde, sie ruhig stehen zu lassen,**) da zu häufig Vergiftungen durch sie herbeigeführt würden, ist man jetzt ganz anderer Ansicht geworden. Nach- dem nämlich die Naturwissenschaft durch chemische Analysen klar dar- getban hat, dafs die Pilze Eiweifs, Zucker, Stickstoff, Gummi, Apfelsäure, phosphorsaure Salze und aufserdem noch das ihnen eigentümliche Fungin, welches am besten mit dem Kleber des Roggens verglichen werden kann enthalten, ist man auf die Pilze als Volksnahrungsmittel aufmerksam ge- worden, und hohe und höchste Behörden bemühen sich, der Pilzkenntnis Eingang in den Schulen zu verschaffen. So sind denn auf Anordnung der Behörden sowohl, wie aus eigenem Schaffenstriebe eine Reihe sogenannter »Pilzbücher für Schule und Haus« entstanden, die den Zweck haben sollen.

♦) »Das dritte Schulj.« S. 112. *♦) »Nimm dir vor, sie alle in Ruhe tu lassen«. Vaterl. Lesebuch v. Frarckt

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über den Wert der Pilze als Haushaltungsmittel , über ihr Sammeln und Verwenden als Nahrungsmittel den Schülern Aufschi uls zu geben.

Wenn ich nun in nachfolgenden Zeilen versuchen will eine kritische Übersicht der für die Schule bearbeiteten Pilzwerke zu geben, so tritt wohl zunächst die Beantwortung der Frage an mich heran: Wie mufs ein gutes Schulbuch über Pilze eingerichtet sein, um seinem Zwecke zu entsprechen ?

Ich beantworte diese Frage dahin: i. Es darf nicht zu viel enthalten. Es wäre unnütz dem Kinde ein Buch in die Hände geben zu wollen , was in möglichst vollständiger Aufzählung alle Pilze unserer deutschen Wälder beschreibt, giftige, wie ungiftige, geniefsbare ,%wie ungeniefsbare. Diese Vielheit würde nur verwirren, nur Unklarheit, statt Klarheit in den Köpfen der Kinder erzeugen.

2. Es darf aber auch nicht zu wenig enthalten. Ganz verfehlt wäre es, nur die efsbaren Pilze oder auch nur die am häufigst vorkommenden eis- baren Pilze in Beschreibungen vorzuführen , es mufs hierbei eine Erwei- terung durch Vergleichung ähnlicher Pilze stattfinden. Gerade die genaue Vorführung von den unterscheidenden Merkmalen sonst' sich ziemlich gleichender Pilze ist für die Schule von hohem Werte, da nur durch sie eine Verwechselung schädlicher und nützlicher vermieden werden kann.

3. Die Einzelgebilde müssen in klarer Ausführung, nicht stichwörter- artig beschrieben werden; jeder einzelnen Beschreibung mufs eine, mög- lichst durch alle Abschnitte durchgeführte Disposition zu Grunde liegen.

4. Eine einleitende mehr wissenschaftliche Einteilung darf wohl auch bei dem Schulbuche erwünscht sein. Wenn auch längere Ausführungen über Sporenkeimung, Sporenlager, Anhefte weise der Sporen etc fehlen sollen, so mufs doch eine klar ordnende Übersicht der beschriebenen Pilze nach den allgemein geltenden Regeln beigefügt sein, damit der Schüler befähigt werde, schon durch die äufseren Merkmale schliefsen zu können, zu welcher Art von Fruchtträgern fein zu bestimmender Pilz zu rechnen ist.

5. Es mufs eine übersichtliche, klare Anweisung über das Sammeln, Trocknen, Einmachen, Verwenden im Haushalte etc. geben. Dabei wird das Buch vorzuziehen sein, welches sich nicht in allgemeinen Allgemein- heiten ergeht, sondern womöglich Einzelrezepte bietet, oder doch wenigstens angiebt, welche Pilze zu dieser und jener Speise Verwendung verdienen.

6. Es soll von guten Abbildungen oder noch besser von guten Mo- dellen begleitet sein. Die Anschauungsmittel müssen naturwahr sein so- wohl der Grösse als der Farbengebung nach , sie müssen den Pilz nicht als Einzelgebilde, sondern in charakteristischen Gruppen in allen seinen Werde- und Vergehensstufen , auch in der Zerstörung durch seine Feinde betrachten. Gute Modelle sind guten Zeichnungen stets vorzuziehen, da auch die besten Zeichnungen den Pilz nicht so getreu wiedergeben können, als ein Modell, was von einem wirklichen Pilze abgegossen ist.

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Pilzbücher wachsen jetzt wie Pilze aus der Erde heraus , und zumal an solchen, die treue Ratgeber für Schule und Haus sein wollen, ist kein Mangel. Bei vielen der mir vorliegenden Werke und Wcrkchen macht sich aber ein Überhasten breit, das zu einer Oberflächlichkeit geführt hat, die kaum zu glauben ist. Auf 16 , 20 Seiten, von denen noch die Hälfte durch Vorrede, Art des Sammeins aufgenutzt wird, mit fragwürdigen Bil- dern in der Form der Neu-Ruppiner Bilderbogen und oft noch schlechter als diese versehen, soll da dem Schüler und der Hausfrau die Erkenntnis der Pilze geboten werden, soll in ihnen Vertrauen und Liebe zu der un- gewohnten, bis jetzt mit argwöhnischen Blicken betrachteten Nahrung er- weckt werden. Wiewohl der Hauptzweck meiner Arbeit darin zu suchen ist , auf die wertvollen Bücher , die wirklich brauchbar sind , aufmerksam zu machen, will ich doch wenigstens durch Vorführung von zwei minder- wertigen, von denen noch dazu eins im Auftrag einer Regierung verfafst ist, meiner eben gemachten Behauptung beweisen.

Von den besseren Pilzbüchern erwähne ich:

1. Lenz, nützliche, schädliche und verdächtige Pilze. 1888, 9. Aufl. 224 Seiten (Thienemann-Gotha.) 6 M.

2. Dr. Roll, J., unsere efsbaren Pilze in natürlicher Gröfse dargestellt und beschrieben mit Angabe ihrer Zubereitung. 14 Tafeln in Farben- druck. 3. Aufl. (Tübingen : Hr. Laupp.) 2 M.

2a. Ferdinand Werneburg, Eisenach. Die am häufigsten vorkommenden efsbaren Pilze. Im Auftrage des Grofsh. S. Staatsministeriums zu Weimar zum Zwecke der Verbreitung in den Schulen bearbeitet. (Weimar: Herrn. Böhlau 1890.) Preis 0,60 M.

3. Praktikus, der kleine Pilzsammler. 1888. 52 Seiten. (Stuber- Würz- burg.) 0,80 M.

4. Wünsche, die Pilze, 1877, 322 Seiten. (Teubner-Leipzig.) 4,40 M.

5. Arnoldi, Sammlung plastisch nachgebildeter Schwämme. 1872/87. 1./21. Lieferung Nr. 1 290. (Thienemann-Gotha.) ca. 180 M.

6. Dürfeid, V., Nachfolger, Pilzkabinet. 117 Nummern, 4 Nummern bilden eine Lieferung. Beschreibung des Pilzes auf das zugehörige Standbrett aufgedruckt. (Dürfeids Nachfolger, Oschatz, Sachsen.) Preis der Lieferung 6 M.

Nicht zu empfehlen sind:

7. Richter, Max, die vorzüglichsten efsbaren Pilze Deutschlands. 1891. 26 Seiten und 8 Tafeln. (Beyer & Söhne, Langensalza.) 1,50 M

8. Schlitzberger, S., Unsere häufigeren efsbaren Pilze in 22 naturge- treuen und fein kolorierten Abbildungen nebst kurzer Beschreibung und Anleitung zum Einsammeln und zur Zubereitung. Im Auftrage der Königl. Regierung zu Kassel. 6. Aufl. 20 Seiten. (Cassel 1890, Th. Fischer.) i,6o M.

Das Lenzsche Werk ist erst vor kurzer Zeit neu aufgelegt und von Prof. Wünsehe herausgegeben worden. Mit grofser Pietät hat der Neu- bearbeiter die Form dieses ersten aller volkstümlichen Pilzbücher zu

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wahren gewufst, während seine geschickt bessernde Hand überall zu er- kennen ist. Als Schulbuch ist es zu breit angelegt, auch entsprechen die farbigen Abbildungen nicht mehr den Anforderungen der Jetztzeit. Gar manche Zeichnung ist hinsichtlich der Ausführung für verfehlt zu erachten, so Agaricus melleus. Marasmius oreades, Polyporus confluens u. a. m. Die volkstümliche Beschreibung aber könnte sich jeder Verfasser von Pilz- büchern für Schulzwecke zu eigen machen. Es wird immer für die Hand des Lehrers eines der brauchbarsten Bücher bleiben. Hoffentlich kommt auch die Verlagshandlung dem so oft geäufserten Wunsche nach und giebt zu dem trefflichen Inhalt bei der nächsten Auflage auch treffliche Bilder. Auf der Höhe der technischen Wiedergabe von Pilzen in Farbendruck, steht das Röllsche Werk. Der Verfasser ist, so weit meine Kenntnis wenigstens reicht, der erste nächst dem Schlesier Weberbauer, der nicht wie z. B. Lenz, Einzelbilder bietet, sondern charakteristische Gruppen. Freilich sind auch hier einige Zeichnungen für verfehlt zu erachten, doch kann eine Verbesserung in der nächsten Auflage hierin leicht Wandel schaffen. Die Beschreibungen, welche, jedem Bilde beigeheftet sind, tragen eine einheitliche Disposition nach folgenden Gesichtspunkten: Gröfse und Gestalt, Hut, Blättchen, Stiel, Fleisch, Standort. Zeit. Die Merkmale sind in kurzen Stichwörtern angegeben, fast überall zutreftend und genau. Sollte das Werk als Schulbuch seiner schönen Abbildungen wegen zu wählen sein, so könnte ich doch meine Bedingungen nicht fallen lassen. Die Beschreibungen müssen für die Schüler ausgeführt sein. Die Ver- wirklichung meiner 2. Forderung hat der Herr Verfasser angebahnt, so beim knolligen Blätterschwamm, beim giftigen Reitzker. Doch sind diese Vergleichungen noch nicht genügend. Die Ratschläge über Sammeln und Zubereiten der Pilze erhöhen die praktische Bedeutung dieses sehr zu empfehlenden Werkes.

Das Werkchen von F. Werneburg, Sekundarlehrcr in Eisenach, ist im Auftrage des Grofsh. S. Staats-Ministeriums zu Weimar herausgeben und an die Lehrer des Grofsherzogtums verteilt worden. Es steht ganz auf dem Boden des Röllschcn Werkes, gehören doch die dem Röllschen Werke beigefügten Bilder auch zu ihm. So nahe es nun auch nach Ein- teilung, Stoffanordnung etc. dem genannten Pilzbuche kommt, so finden wir in seinem Inhalte doch ein gutes, ja vortreffliches Stück eigener Arbeit. Keine Beschreibung ist schablonenhaft, am alt Hergebrachten hängend, jede beweist, dafs eigenes Studium, klares Anschauen und Vergleichen in ihr geboten wird. Vollständig gelungen ist dem Verfasser die vorhebende Vergleichung der ähnlichen giftigen mit den efsbaren Pilzen. Die jeder Gruppe vorangeschickte einleitende Übersicht ist klar und durchsichtig ge- arbeitet und ohne nennenswerte Verstöfse. Auch die Regeln über Ein- sammeln, Trocknen etc. sind gut geordnet, wenn sie gleich, wie auch Ver- fasser fühlt (Seite 22), reichhaltiger sein könnten, zumal ja das Buch für die Schulen sein soll. Es müfste wohl besser heifsen: Für die Hand des Lehrers; denn für ein Schulbuch ist es doch teilweise zu skizzenhaft be-

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handelt. (Vergleiche 2 und 5 meiner aufgestellten Forderungen.) Das kleine Pilzbuch von dem Pseud. A. Praktikus (No. 3 des Verz.) steht so ziemlich meinen Forderungen für ein Schulpilzbuch zustimmend gegenüber, wenngleich in ihm mancher Abschnitt recht kurz weggekommen ist, z. B. die ganze Abhandlung über den praktischen Wert der Pilzkunde. Die schwarzen eingeschalteten Holzschnitte sind charakteristisch gearbeitet, aber doch, weil farblos, für Schüler mit wenig gebildetem Auge wertlos. Die Verlagshandlung machte sich um die Pilzkunde recht verdient, wenn sie eine neue Auflage herausgeben und die gerügten Mängel in ihr be- seitigen würde. Wenn auch kein Schalerbuch, doch ein vortreffliches Handbuch für Lehrer, ein mir besonders auf meinen Pilzausflügen liebge- wordener Freund ist das von Prof. Dr. Wünsche herausgegebene gröfsere Werk: Die Pilze. (No. 4 des Verz.) Ich kann mein in der Päd. Warte (No. 6 1891) gefälltes Urteil nur hier aufs neue bestätigen: Was Erfurths Flora von Weimar den Pflanzenfreunden, das wird dieses Werk allen Pilzfreunden sein, vor allen Dingen denen, die nicht, weil es die Mode, just auch einmal in Pilzen machen wollen, sondern die diese in sich abge- schlossene Wunderwelt in der grolsen wunderbaren Welt so recht ge- nau verstehen und kennen lernen wollen.

Die unter 5 u. 6 des Litt. Verz. näher gekennzeichneten Werke sind keine eigentlichen Pilzbücher, sondern geben nur Anschauungsmittel für den Unterricht in fafslicher Darstellung mit beigefügter skizzenhafter Be- schreibung und kurzer Angabe, ob der dargestellte Pilz efsbar oder giftig ist.

Das Arnoldische Werk ist allgemein bekannt, aber wohl nur darum so weit verbreitet, weil man noch keine besseren Pilzmodelle kannte. Der gröfste Fehler an den Modellen ist der, dafs sie einzeln geboten werden. Nur bei einigen, z. B. beim Steinpilz, hat der Herausgeber zwei Exemplare des einen Pilzes geboten. Viele, wie Reizker, Eierschwamm, Ringpilz, Gichtlorchel u. a. m., dürften eine Neumodcllierung vertragen, die Farben- wiedergabe ist oft verfehlt. Wenn der Herausgeber nicht seinen Stolz in der Menge der dargestellten Pilze (gegen 300), sondern in getreuerer Wiedergabe der wichtigsten in charakteristischen Gruppen suchen wollte, so wäre den Schulen mehr als bisher mit seinem sonst viel Liebe zur Sache zeigenden Unternehmen gedient.

Victor Dürfeid Nachfolger, Oschatz in Sachsen, ist meiner Forderung bezüglich der Gruppierung näher gekommen. Vor mir stehen Steinpilz, Ringpilz, Trüffel, Semmelpilz, Filzröhrling und Kuhpilz. Jeder Pilz ist in 2wei Exemplaren auf einem hölzernen Gestell gegeben. Das Stativ ist mit Moos beklebt. Besser würde es sein, auf dem Stativ den Standort eines jeden Pilzes zu markieren, durch Nadeln, Gras, steinigen, lehmigen Boden etc., was ohne grofse Schwierigkeiten geschehen kann. Die Modelle sind von natürlichen Pilzen abgegossen, die Farbenwiedergabe ist meist gut, nur die Lamellen sind etwas flüchtig behandelt. Alles in allem ein für Schulen brauchbares Werk, besonders wenn eine passende Auswahl vorgenommen

Pädagogische Studien. III. 1 1

wird. Die Trüffel ist in dem gegebenen Durchschnitt falsch gemalt, die marmorierenden Adern sind nicht fadenförmig, sondern keilig zugespitzt zu zeichnen.

Hier wäre wohl auch das von mir verfafste, mit plastischen Pilzdar- stellungen begleitete Pilzbuch , welches bei A. Schenk (Maukes-Verlag> Jena erschienen ist, zu erwähnen. Inwieweit es mir gelungen ist, den von mir aufgestellten Anforderungen an ein gutes Pikbuch gerecht zu werden, dies zu beurteilen überlasse ich gern andern. Erwähnen will ich nur, dafs ein hohes Grofsh. S. Staatsministerium die Modelle warm empfohlen und die Stadt Eisenach dieselben öffentlich für das Publikum ausgestellt hat.

Von einer recht oberflächlichen Arbeit geben die beiden unter No 7 und 8 aufgeführten Pilzbücher Zeugnis! S Schlitzberger hat auf 20 Seiten die ganze Pilzkunde abgethan in einem Texte, der zahlreiche Härten und Unbestimmtheiten« aufweist. Was sind, geehrter Herr Verfasser, blutent- mischende Surrogater Haben Sie wirklich selbst die zu beschreibenden Pilze ausgewählt? Wächst wirklich Collybia esculenta so, wie Sie dieselbe beschrieben haben, in Ihrer Gegend? Sind Sie nicht zu bescheiden, wenn Sic behaupten, dafs Ihre lithographischen Darstellungen den künstlerischen und pädagogischen Forderungen im höchsten Mafse entsprächen? Kennen Sie Weberbauers Pilzbilder und haben Sie vielleicht dieselben als Mafsstab bei Ihrem Urteile angelegt? Sind Ihre Ziegenlippe und Ihr Schmerling wirklich Pilze aus dieser Welt? - Ich kann nur warnen vor diesem Pilz- werke und mich wundern, wie die Königl. Regierung in Kassel dieses Schriftchen 6 Auflagen hat erleben lassen. Einen Vorteil hat das Werkchen übrigens. Es ist billig, wenn auch schiecht.

In demselben Fahrwasser steuert Herr Max Richter mit seinem Pilz- werke, das die berühmte Schulbuchverlagsanstalt von H. Beyer und Söhne mit grofsen Kosten herausgegeben hat. Beschreibungen wie Abbildungen sind äufserst dürftig, die Ratschläge zum Sammeln und Trocknen hinterm Schreibtische erfunden, aber nicht der Praxis entnommen, kaum eine Zeichnung genügend, viele, wie Steinpilz, Trüffel, Stoppelpilz. Semmelpilz, ganz verfehlt. Es ist wirklich schade um die grofsen Geldopfer, die die Verlagshandlung sowohl für die Bilder, als auch für den geschmackvollen Umschlag aufgewendet hat.

Jedermann, der diese Werkchen näher und aufmerksamer prüft, wird mein zwar hartes, doch gerechtes Urteil bestätigt finden. Und alle, denen es ernst damit ist, die Förderung der Pilzkenntnis zu einem praktischen Er- gebnis zu führen, werden mit mir wohl darin übereinstimmen, dafs bei einem Versuche, wie bei dem, die Pilze trotz des natürlichen Widerwillens gegen sie nach und nach zu einem Volksnahrungsmittel zu machen, alle die Werke, die in ihrer oberflächlichen Darstellung eher verwirren als klären mehr schaden als nützen, nicht hart genug be- und verurteilt werden können.

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3. „Verein von Herbartfreunden" im Eisenacher Oberland.

Am 26. November 11*91 wurde in Ö c hs e n von Lehrern des IV. Verw. Bez. des Grofsh. S. W. ein »Verein von Herbartfreunden« gegründet. Zum Vorsitzenden wurde Fuchs-Geisa ernannt. Mitgliederanzahl: 9. Die Sitzungen finden in ^tägigen Zwischenräumen statt. Versammlungsort ist Ochsen. Die Mitglieder des Vereins sind zumeist ehemalige Schüler des Herrn Professor Dr. W. Rein und sandten aus Verehrung ihrem Lehrer herzlichste Begrüfsung. Herr Schulrat Kögler, Schulinspektor des IV. Verw. Bez., hiefs die Bestrebungen des Vereins willkommen und sicherte ihm ein leb- haftes Interesse zu. Der Verein trat als Körperschaft dem »Verein f. w. Päd.« bei. Im Lesezirkel befinden sich : Rein, Studien Just, Praxis »Neüe Bahnen« Dörpfeld, Ev. Schulbl. Mann, Blätter f. erz. Unt. Die Zeitschriften sind gröfstenteils von Herrn Prof. Dr. Rein dem Verein freundlichst geliehen. Seit Februar 1892 besitzt der Verein eine Bibliothek. Sie enthält bis jetzt 60 Werke.*) Der Zweck des Vereins ist die Förderung des Verständnisses für wissenschaftliche, speciell her- bartsche Pädagogik. Um die sich an die Vorträge anschliefsenden Be- sprechungen möglichst vielseitig zu gestalten, ist die Einrichtung getroffen, dafs der Vortragende acht Tage vor der Sitzung jedem Mitgliede die Thesen übermittelt. Ferner erfolgt an jedem Vereinstage eine Um trage, wobei die Mitglieder sich gegenseitig auf litterarische etc. Neuigkeiten aufmerksam machen. Die Versammlungen waren trotz Wetter und Weg stets gut besucht.

Am 10. Dezember 1891 sprach Röder -Urnshausen über: »Meine physiologisch-psychologische Beobachtungstabelle für die Incipicntenklassu im Jahre 1891». Im Anschlufs an die im Hartmannschen Sinne an- gestellten Erhebungen Röders wies Fuchs -Geisa auf seine Beobachtungs- tabelle hin, welche die aufsteigende Körper-, Geistes- und Charakter- bildung des Kindes während der ganzen Schulzeit fixiert. F. wird später ' ausführlich darüber referieren. Am 23. Dezember 91. und 14. Januar 1892 brachte Rausch -Ochsen seine gründliche Arbeit »Wie wird die Hcrbart- Zillersche Richtung den psychologischen Anforderungen des I. Schul- jahres gerecht1« zum Vortrag. Anschliefsend hieran referierte Fuchs- Geisa am 28. Januar und 11. Februar 92 über »Die Märchen«. Die teilweis neuen Gesichtspunkte und die unbedingte Rückführung auf Herbart gaben Anlafs zu längeren Besprechungen. Zugleich sprach Fuchs über »Die Neue Deutsche Schule« des Dr. Göring. Ferner am 25. Februar über «Robinson und das II. Schuljahr«. In diesem Referat fordert F. streng durchgeführte Konzentration und bringt ferner in Vorschlag, die biblischen Geschichten, deren Einstellung das Schulgesetz verlangt, als Erzählungen Robinsons auftreten zu lassen. Eingehend besprach F. das Rechnen im II. Schuljahre und zwar unter Berücksichtigung des von ihm verfassten * Robinsonrechenbuchs«. Am 7. März sprach Goldschmidt- Geisa über:

♦) Den gutigen Spendern staltet der Verein auch an dieser Stelle herzlichsten Dank ab! Freunde det Sache werden um Umerstiluung der Bibliothek f t uudlichsigebeun.

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»Psychologische Vertiefung einzelner bibl. Geschichten«. Ref. wies nach, dafs in den bibl. Gesch. der psychologische Fortgang sowohl, als auch die ästhetische Darstellung der Welt ganz und gar gewahrt sei. In seinem Einzelbild »Zwei Müttcr< (Hagar u. Sarah) gab G. ein praktisches Betspiel. Auch brachte derselbe mehrere »Warum- und Weilfragen« aus der Natur- geschichte zur Besprechung. Themata für die nächsten Konferenzen sind: Lchrprobe in »Sachrechnen: Rausch-Öchsen«. »Über Schulhygieine« unter Berücksichtigung der schulischen Einrichtungen in Geisa : Herr Dr. med. J. Bottmann. »Deutsch im I. Schuljahre« : Röder-Urnshausen.— »Geschichte im III. Schuljahre« : Tröger- Wiesenthal. »Gesellschaftskundc in der Volksschule« und »Meine naturkundlichen Beobachtungshefte»: Fuchs-Geisa etc

Die Freude, mit der jedes einzelne Mitglied die Sache des Vereins fördert, ist der beste Beweis für die Wichtigkeit ähnlicher Zusammenkünfte. Möchte dem jungen Verein eine schöne Zukunft beschieden sein.

Allen Freunden der Herbartschen Pädagogik sendet der Verein herzlichen Grufs und Handschlag'

Geisa, März 1892. F.

C. Beurteilungen.

1.

Jul Gutersohn Zur Frage d 1 R form des nt jusiu i\< hiiclicn Unh u:hls. \ ortrag, gehalten l'lingi-teii jS->7 an der Jahi esve. Sammlung d Ver- eins aladnnix n .duldet, ; 1 l.icr an <adtsc.it n diitc'sctiul n, Karls- ruhe hei . , tun 1SS8

Jul Gutersohn /.*.r Meth-i V iks fia mdspraehlichen Untern- , t V^-r- trag, gehalu n am l \' . .< [ \.\o- logcn-Tage zu Stuttgart, l'i 1 ,-ten 1890. Karlsruhe bei Ikau ; 1 SS8.

Ich liabe immer das Gcluh? als ob nebe n Münch vi n<!rn in clerki li>rni>e- Wcguug, sei es für oder gegen. i.if- gi tu lenen l'ersönlu hkciten . uim Jemand eine höln rr tVerlM nat/ung veniierte ais Jul ( jut< i l ihn. i>as ist i.icht unerklärlich L: . ininu in Fragen der K<fo.iu eine m lir selb- stan nge Stellung ein ; in \v< sc ,. fliehen Punktin I Imt er sie n u i. h darf ich wohl sagen - ab, festhakend am

Alten. Das geschieht nicht aus bor- nierter Voreingenommenheit für die- ses oder gegen das Neue, sondern auf Grund sorgfältiger Überlegungen. Denn «ein Blick erscheint nach beiden Seiten hin ungetrübt und läfst ihn die Mängel des Alten so gut wie die Besserungen des Neuen sehen. Was er dagegen an Gründen gegen manche Gedanken der Reform vorbringt, hat Hand und Fufs und mufs teils unbe- dingt zugestanden werden, und kann teils nur durch weitere praktische Entwicklung der noch zurückge- wiesenen Ideen überwunden werden. Die vorliegenden beiden Vorträge, zu verschiedenen Zeiten und bei ver- schiedenen Gelegenheiten gehalten, sind im wesentlichen gleichen Inhalts, und begründen Gutersohns Stellung zur Reform und in methodischen Fragen des Sprachunterrichts, wie er sie auf Grund der Psychologie und Pädagogik gewonnen hat Folgende vier Punkte kennzeichnen diese Stel-

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lung: G. ist gegen systematische Behandlung der Lautphysiologie in der Schule, gegen Einführung einer Lautschrift in den Unterricht, gegen zusammenhängende Lesestncke im Anfangsunterricht . gegen die Ab- schaffung der Übersetzungen in die fremden Sprachen. In den beiden ersten Fragen hat er sicher schon jetzt die Mehrzahl der Lehrer für sich; in den beiden andern, glaube ich, wird er selber über kurz oder lang mit der Mehrheit der Re- former gehen. Er will also den An- fangsunterricht nicht an zusammen- hängende Lesestücke anknüpfen, son- dern an Einzelsätze, weil das Er- lernen einer Fremdsprache ein Apperzeptionsprozefs sei, der wesent- lich nur nach einem synthetischen Verfahren zur Durchführung gelangen könne. D. h. dadurch, dals vom Ein- fachen zum Zusammengesetzten, vom Laut zum Worte, dann zum Satze und zuletzt zum zusammenhängenden Lesestücke vorwärtsgegangen wird. Sollte sich ein verständiger Mensch finden, der dieser Forderung nicht zustimmen müfste? Möge man seine Methode nennen wie man will, dieser Weg mufs durchlaufen werden, will man erspriefslichc F.rgebnisse zei- tigen; mag ich ein Lesestück, Satz oder Wort zu Grunde legen, diese Bahn muss durchschritten werden Wenn von den Reformern so nach- drücklich das Lesestück gefordert wird, so geschieht das sicher nicht wenigstens ist das meine Auf- fassung — um diesen von der Psycho- logie als notwendig vorgeschriebenen Gang zu verlassen, sondern um ein ungeheuer wichtiges Moment in den Unterricht hineinzubringen , nämlich das Interesse. Dieses kann nur ein zusammenhängendes Lesestück, nie ein einzelner, für sich beste- hender Satz dem Lernenden ent- gegenbringen und wecken. Das Inter- esse für irgend einen wertvollen Inhalt sei es auch in noch so be- scheidenen Grenzen soll dem Schüler helfen, ihn führen und treiben, die fremde Form sich zu eigen zu machen. Es will mir auch gar nicht in den Sinn, dafs das Lesestück an sich dem Lehrgange, den G. für not-

wendig hält, im Wege sein sollte. Das Lesestück besteht ja doch aus einzelnen Sätzen, die, soweit sie zur Betreibung, Erarbeitung und Erler- nung der Grammatik überhaupt Ver- wendung finden sollen, auch einzeln durchgearbeitet werden müssen und können, ganz nach dem Grundsatze vom Leichteren zum Schwereren, vom Einfachen zum Zusammenge- setzten. Ich weifs überhaupt nicht, ob die Begriffe analytisch und syn- thetisch in der Methodik nicht die Schuld tragen an mancherlei Mifs- verständnissen und selbst Irrtümern. Das scheint mir daher zu kommen, dafs diese beiden Begriffe im Lern- prozefs so eng mit einander ver- knüpft sind, in so reicher und un- aufhörlicher Wechselbeziehung ste- hen, sich gegenseitig so durch- dringen, dafs es nicht thunlich er- scheint, sie scharf zu trennen. >Lernen« sagt G. richtig, ist nichts weiter, als ein Perzeptions- und ein Apperzeptionsprozefs d. h. einerseits Aufnahme neuer Vorstellungen durch sinnliche Wahrnehmung und An- schauung , andererseits Aneignung neuer Vorstellungen durch deren An- schlufs an bereits bekannte, ältere Begriffe. Der Zögling bringt zum Unterricht einen bestimmten Ge- dankenkreis mit, und Aufgabe der Lchrthätigkeit ist es nun , erstens diese bereits vorhandenen Gedanken in ihre Bestandteile zu zerlegen, dem Unterrichtszwecke gemäfs zu ordnen und zu berichtigen : zweitens aber gilt es dann, diesen verhältnismäfsig be- schränkten Kreis über seine Grenzen hinausdurch Neues und Unbekanntes zu erweitern. Bei der ersteren dieser Thätigkeiten, der Zerlegung und Sichtung des bereits Bekannten, mufs der Unterricht zergliedernd und er- läuternd vom Zusammengesetzten zum Einfachen schreiten : er ist in diesem Falle analytisch. Wenn es sich aber darum handelt, den Ge- dankenkreis zu erweitern, neue und bisher fremde Elemente zu den be- reits vorhandenen hinzuzufügen, so ist der Unterricht synthetisch." - Deutlicher kann man die Nachbar- schaft der beiden Begriffe nicht vor die Augen stellen, ihren inneren Zu-

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sammenhang nicht klar legen, ja ihre gegenseitige Unentbehrlichkeit nicht nachweisen. Die analytische Zer- legung und Sichtung des einschlägigen Begriffsmaterialsbei Beginn derunter- richtlichen Übermittlung irgend eines Lerngegenstandes ist bei der Er- weiterung des Gedankenkreises not- wendig und jedesmal vorauszu- schicken. Der Arbeitsprozefs, der nicht allein dieser Erweiterung den Weg bahnt und ihr dauernden Er- folg verspricht, sondern oft genug sie unmittelbar bewirkt und herbei- führt. So z. B., wenns man den An- fangsunterricht im Französischen an- schliefst an dasjenige aus dieser Sprache, was der jugendliche Geist so nebenher aufgenommen hat und mehr oder minder unbewufst in sich beherbergt, so wird man ohne Zweifel durch Zerlegung, Sichtung und Er- läuterung, also auf analysischem Wege, aus diesen toten Vorstellungs- masfen klare Begriffe und Kennt- nisse maehen.

Doch genug von diesem Punkte. Ich habe mich etwas länger und aus- führlicher darüber ausgelassen, weil ich für notwendig und nützlich er- achtete, zu versuchen zur Klärung eines höchst wichtigen Begriffs bei- zutragen. — Bevor ich die Be- sprechungder beiden Vorträge Guter- sohns schliefse, berühre ich noch kurz seine Stellung zu den Ober- setzungen in die Fremdsprachen. Er will sie beibehalten; doch will mir scheinen, als ob er nicht immer dabei beharren wird ; er erklärt ja jetzt schon gelegentliche freie Ar- beiten für zulässig Jedenfalls ist es erfeulich, dafs ein Mann wie Guter- sohn sich über die Reformbewegung wie folgt ausläfst: »Es ist unzweifel- haft, dafs durch die Reformbewegung auf dem Gebiete des neusprachlichen Unterrichts eine Menge nützlicher und richtiger Anregungen in das Schulleben hineingetragen worden sind. Da aber die Ausgestaltung des Lehrverfahrens im einzelnen noch vielfach der Klärang und Er- probung unter verschiedenen Schul- verhältnissen bedarf, so ist es wün- schenswert, dass dem Lehrer die nötige Freiheit bezüglich Wahl der

Methode und der Lehrmittel mög- lichst uneingeschränkt gewährt bleibe.«

II.

Gottfried Ebeners französisches Lese- buch für Schulen und Erziehungs- anstalten. In drei Stufen. Neu bearbeifet von Dr. Adolf Meyer. III. Stufe. Neunte, der neuen Bear- beitung zweite Auflage. Hannover b. Carl Meyer iS«*o.

Die neusprachliche Reformbewe- gung ist einer Gattung von Schul- büchern, den Lesebüchern, günstig gewesen, über deren Nutzen und Berechtigung vor einem bis zwei Jahrzehnten die Meinungen sehr aus- einandergingen und sich ganz zu Un- gunsten zu wenden schienen. Die Reform verlangt von Anfang an zu- sammenhängende Lesestücke, und damit das Lesebuch, das nach Mei- nung sehr vieler (und ich schliefse mich denen an) den Schüler durch die ganze Schule hindurch begleiten soll. Freilich waren die vorhandenen derartigen Werke den Forderungen der Reform wenig oder gar nicht entsprechend, so dafs eine Reihe neuer Erscheinungen ans Licht trat, um den Bedürfnissen zu genügen. Doch gaben die älteren Lesebücher den Wettbewerb keineswegs auf; sie suchten sich zcitgemäfs zu re- formieren und neuen Forderungen anzupassen. Die III. Stufe des alten, wohlrcnnomierten Ebnerschen Lese- buchs in seiner neuesten Auflage ist ein Beispiel dafür. Die nicht un- wesentlichen Änderungen, die der jetzige Herausgeber, Adolf Meyer, hier hat eintreten lassen, zeigen das Betreben, zwei Gesichtspunkten, die in der Reformbewegung hervorge- treten sind, Rechnung zu tragen. Diese Gesichtspunkte betreffen das Ziel des fremdsprachlichen Unter- richts. Es soll eine möglichst weit- gehende Beherrschung der Sprache und zwar in ihrer gegen wär tigen Form erreicht werden, um dann vermittelst dieser Herrrchaft einen Einblick, eine Einsicht in die Ver- hältnisse und Zustände des fremden Landes, in die geistige Bedeutung

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und Eigenart des fremden Volkes zu gewinnen. Dementsprechend soll der Unterricht sich vor allem mit der heutigen Sprache befassen und die Lektüre solche Schriftwerke um- fassen, deren Inhalt die Kenntnis des bctreftcnden Landes und Volkes zu vermitteln und zu fördern ge- eignet sind. Und nach dieser Seite hin thut nun die vorliegende III. Stufe des französischen Lesebuches von Meyer-Ebener einen entschie- denen Schritt, indem einerseits eine Anzahl von Lesestücken neuerer und neuester Schriltsteller ältere ver- drängt haben, sodann die Abschnitte aus der Geschichte, Naturkunde, Länder- und Völkerkunde vorzugs- weise, z. T. ausschliefslich Frankreich und die Franzosen behandeln. Ganz neu hinzugekommen ist ein recht umfangreiches Kapitel, das eine Über- sicht über die französische Litera- turgeschichte bietet. Über die Be- rechtigung einer solchen Übersicht läfst sich wohl streiten. Ich we- nigstens zweifle, dafs ein dauernder Gewinn für die Schüler daraus ge- zogeu werden kann; der ergiebt sich uns aus der Lektüre der Werke selbst. Bougeault sagt ganz richtig: »Pour bien connaitre l esprit litte* raire d une nation, il ne faut pas seulement laudier ä une certaine epoque et dans un petit nombre d auteurs dont la perfection est cite*ecomme modele; il faut encore remonter aux origines de la langue, en discerner les Clements primitifs et la suivre ä travers I histoire , dansson ddveloppe- ment et ses progres.« Das ist eben- so richtig wie für die Schule unaus- führbar und auch ganz nutzlos. Hier heifst es, sich weise beschränken auf das Allcrwichtigste und Beste. Weitangelegte Übersichten verführen uns zu leicht zu flachem Phrasen- werk. Von dieser nach meiner Meinung wenig notwendigen Er- weiterung des Buches abgesehen, kann ich es nur warm empfehlen.

III.

Chr. Ufer, Französisches Lesebuch zur Geschichte der deutschen Befreiungskriege. Altenburg bei Pierer. 1887.

Chr. Ufer, französisches Lesebuch (Beglcitstoffe zur Geschichte der Entdeckungsreisen. Altenburg bei Pierer. 188«

Nichts wird den Erlolg des ge- samten Unterrichts mehr und nach- haltiger zu fördern und zu gewähr- leisten imstande sein, als die Kon- zentration im Sinne der Herbart- Zillerschen Pädagogik Dafs eine solche Konzentration in einer nach allen Seiten hin befriedigenden Weise nicht leicht herbeizuführen ist, be- weisen mir die vorliegenden beiden Bücher vom Ufer ; und das will immerhin etwas sagen, da doch Ufer auf dem Gebiete der Pädagogik, speziell als Vorkämpfer für Herbart- Zillersche Gedanken eines weiten, wohlverdienten Rufes sich erfreut. Inhaltlich läfst sich nun freilich gegen die Uferschen Bücher nichts Wesent- liches einwenden ; im Gegenteil, in dieser Beziehung zeigen sie eine gute Sachkenntnis und viel Takt des Verfassers. Was anderes ist aber mit der formalen Seite der aus- gewählten Stücke. In dieser Be- ziehung zeigen sie einen sehr ver- schiedenen Grad der Schwierigkeit. Neben Erckmann-Chatrian, dessen Stil von mittlerer Schwierigkeit ist, stehen Leute wie Thiers, der für die oberste Stufe höherer Lehranstalten passende Arbeit bietet, Sdgur, Cha- teaubriand u. a. Dann Dichter wie Beranger, Delavigne, Victor Hugo. Das alles soll von ein und denselben Schülern gelesen werden, und zwar von Schülern, die ungelähr auf der Mittelstufe ihrer französischen Kennt- nis stehen. Für die Realgymnasien z. B. käme die Obertertia in Be- tracht; ja, l'Histoire d'un Consent de 1813 (auch Waterloo und l'Invasion desselben Verfassers) lese ich mit meinen Obertertianern aber Thiers oder gar Beranger und Victor Hugo wage ich ihnen nicht vorzusetzen. Ein weiteres Bedenken scheint mir aus dem Anfang der Bücher zu entspringen. Eins und an mehr ist nicht zu denken raüfste doch in einem Schuljahre gelesen werden ; ich habe aber starke Zweifel, dals es möglich sein wird, es ganz zu be- zwingen, es sei denn, dafs mindestens

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3 Stunden wöchentlich zur Verfügung stünden. Wenn aber nicht einmal eine der beiden Sammlungen, die doch wohl nach dem Wunsch des Verfassers am liebsten beide abge- than werden sollten, bewältigt werden kann so fürchte ich, dafs man beim Gebrauch dieser Lesebücher nicht so ganz aul seine Rechnung kommt. Immerhin sind die beiden Arbeiten Ufers als ein beachtens- werter Versuch zu begrüfsen, das Französische der Konzentrationsidee dienstbar zu machen, der sicher weitere und crlolgreiche Bemühungen im Gefolge haben wird.

IV

Charles Toussaint. Über den Anfang des französischen Unten ichts ' Auf- satz im IU. Hefte von Prof Reins: Aus dem pädagogischen Universi- tät^ Seminar zu Jena.) Langen- salza bei Herrn. Beyer & Söhne 1891.

Den hier angezeigten kleinen Auf- satz habe ich mit ausserordentlichem Interesse gelesen und kann ihn allen Freunden eines wahrhaft naturge- mäfsen , d. h. auf psychologischen Grundsätzen beruhenden Unterrichts- ganges in den Fremdsprachen, dringend empfehlen. Er bringt einen durchgeführten Versuch, und zwar einen erfolgreichen Versuch, den französischen Anfangsunterricht mit analytischem Französisch, das den Schülern schon in Gestalt von Fremdwörtern bekannt ist oder durch Leitung des Lehrers leicht von ihnen selbst gefunden werden kann. Für mich ist dieser Versuch deshalb besonders interessant, weil ich selber einen solchen auf gleicner Grundlage und auf ähnlichem Wege mit Quartanern gemacht , den ich freilich nicht zu Ende führen konnte, weil er mich hinderte, das Pensum meines Lehrbuchs, an das ich ge- bunden war , zu absolvieren ; der mich aber die feste Überzeugung gewinnen liefs, dafs es ein guter Weg sei, um eine feste Grundlage zu gewinnen für sichere Kenntnisse im Französischen. Hier finde ich nun die vollste Bestätigung meiner

Erfahrung in Toussaints Arbeit, die dadurch besonders an Wert gewinnt, dafs sie aus der Feder eines Fran- zosen stammt.

Dafs selbstverständlich der Vor- rat an analytischem Französisch nur zu einem Vorkursus ausreicht, braucht nicht verschwiegen zu werden, und zwar deshalb nicht, weil soviel ge- rade genügend ist, um diejenigen Schwierigkeiten hinwegzuräumen, die den ersten Antang des fremdsprach- lichen Unterrichts so hindernd um- geben, und um die Grundmauern zu errichten, auf denen sich eir. festes Gebäude verhältnismäfsig leicht wird ausführen lassen.

Eise nach. Ende März 1891.

Ludwig Bactgen.

V.

Joh Vockelt, Vorträge zur Einfuhrung in die Philosophie der Gegenwart. München 1S92, C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. 8°. 230 S. 4.50 M.

Bei dem engen Zusammenhang, der zwischen Philosophie und Päda- gogik besteht, kann es nicht be- fremdlich erscheinen , wenn die Leser der >Päd. Studicn< auf eine philosophische Schrift aufmerksam gemacht werden, die sich die Auf- gabe stellt, die Bedeutung der Philo- sophiein ihrem Verhältnis zu Wissen- schaft und Leben der Gegenwart einem weiteren Kreis darzulegen.

Scheinbar schwebt die Philosophie oftmals in einsamen Höhen über die strebenden und kämpfenden Men- schen dahin. In Wirklichkeit zieht sie einerseits aus dem Boden des Kulturlebens mannigfache Nahrung, anderseits greift sie in die verschie- denen Gebiete menschlichen Strebens umgestaltend ein.

Diese letztere Wirksamkeit ist es, die den Erzieher vor allem fesseln dürfte. Daher empfehlen wir in erster Linie die Lektüre des 6. Vor- trags: Philosophie und Kultur. S. 167 ff., unseren Lesern. In dem- selben legt der Verf die Einflüsse des Kulturlebens auf die Philosophie in Kürze dar; ausführlicher sodann den reformatorischen Beruf der

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Philosophie. Er tritt für denselben ein, weil er meint, nur übergrofse akademische Vornehmheit oder eine verkehrte Ansicht von der Natur des kulturgeschichtlichen Fort- schrittes könnten es verkennen lassen, dafs der Philosophie eine wichtige reformatorisch - kulturge- schichtliche Aufgabe obliege. Auch Heibart spricht ihr diese zu, aller- dings unter gewissen Einschrän- kungen. In seinem Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie (Har- tenstein I, S. 58, Anmerkung 2.) meint er, der einzelne Denker solle es niemals unternehmen, unmittel- bar aul das Zeitalter einzuwirken. Das sei eine Anmafsung, so lange als noch die verschiedenen Systeme der Philosophie einander wider- sprechen. Nur vereinigte Kräfte, gleich denen der Mathematiker und Physiker , könnten eine so grofse Wirkung hervorbringen, die heilsam und von selbst allmählich und durch viele Mittelglieder auf das Ganze der menschlichen Angelegenheiten über- geht.

Letzteres triftt nun ohne Zweifel da zu: wo eine Anzahl von Erziehern von den gleichen philosophischen Grundanschauungen getragen eines Geistes sich bemühen, das heran- wachsende Geschlecht in dem Sinne ihres Ideals zu beeinflussen und so das geistige Leben der Nation bis zu einem gewissen Grad zu be- stimmen.

Die Philosophie Herbarts hat nun dieses Schicksal gehabt. In den Kreisen der Fachphilosophen im allg. als abgethan betrachtet ist sie in der That mehr als irgend ein anderes philosophisches System in dem Leben der Nation wirksam, wenn man die erzieherischen Mächte, die in Bewegung gesetzt werden, überhaupt als wertvolle Faktoren in der Entwicklung der Völker be- trachten will. Beweis dafür : Die bleibenden , wertvolleren Arbeiten auf dem Gebiete des Erziehungs- wesens bewegen sich fast durchweg in der Richtung herbartischen Den- kens; eine Reihe pädagogischer Fachzeitschriften stellen sich die Aufgabe, das herbartische Erziehungs-

system und damit auch seine philo- sophische Gedankenarbeit zu ver- breiten; und die gleiche Absicht verfolgen eine grolse Anzahl von Vereinen. Ich nenne nur den Ver- ein für wissenschaftl. Pädagogik mit 750 Mitgliedern, den Verein für herbartische Pädagogik in Rheinland und Westfalen mit ',50 Mitgliedern u. s. w. Immer mehr breitet sich das Netz dieser Vereine über das gesamte Reich aus und immer mehr dringen herbartische Ideen, obwohl von den Universitäten vielfach aus- geschlossen, in die Kreise des Vol- kes ein.

Diese Thatsachen scheinen von dem Verf. der vorliegenden Schritt im letzten Vortrag nicht gebührend gewürdigt zu werden , ganz abge- sehen davon, dafs das herbartische System durch die Pädagogik auch die aufserdeutsche Kultur zu beein- flussen beginnt und Fäden zwischen den gebildeten Nationen spinnt, die dazu dienen werden, das Band zwischen den Kulturvölkern immer fester zu 'knüpfen.

Warum aber äufsert gerade das herbartische System diese Wirkung1 Einlach deshalb, weil der Begründer es nicht verschmähte, der Ethik als normativer Wissenschaft eine Kunst- lehre anzufügen, die Pädagogik, die uns zeigt , wie das Ideal , das die praktische Philosophie gezeichnet hat für den einzelnen wie für die Gesamtheit, in das Leben einzu- führen sei. Dafs sie hierbei keinen sicheren Schritt thun kann, ohne sich der psychischen Bedingungen bewufst zu werden, unter denen die Einzel- wie die Volksseele zu funk- tionieren pflegt, treibt Herbart zu psychologischen Untersuchungen hin, die unbestritten den Anfang einer neuen Entwicklung der Psychologie bedeuten

In der Ethik und in der Psycho- logie liegt der Schwerpunkt seines Systems Die Konsequenzen sind in der Pädagogik gezogen. Heil dem Volke, wo sie Einflufs gewinnen, da sie ein freies und frisches Leben, eine gesunde und naturgemäfse Erziehung dem heranwachsenden Geschlecht verbürgen!

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Hier liegt also der mächtige Einflufs eines philosophisch - päda- gogischen Systems auf die geistige Entwicklung often zu Tage. Wenn daher der Verf. S 175 sagt: »Auf die Leibniz-Wolrische, die Kantischc und Hegeische Philosophie ist dann bis jetzt keine weitere Philosophie gefolgt, die auch nur in annähernd gleicher Weise das Kulturleben zu durchdringen vermocht hätte« , so müssen wir dem entgegen halten, dafs allerdings auf dem Gebiete des Erziehungswesens die Herbartische eine Macht gewonnen hat. die aller- dings mehr im Stillen wirkt, nicht sehr augenfällig, aber darum nicht minder wirksam.

Wenn es wahr ist, dafs sich in unserem Jahrhundert die Kultur- bewegungen weit mehr als ehedem unter der Mitwirkung planmäfsig vor- bereitender Arbeit vollziehen, wenn die zu erstrebenden Fortschritte jetzt zielbewufst ins Auge gefafst werden, so wird man ohne Zweifel der Erziehung eine gröfsere Bedeu- tung zumessen müssen, da ja sie gerade es ist, die in durchaus ziel- bewufster Weise die jugendlichen Geister in eine Bahn zu bringen versucht , die bestimmend für das ganze Leben sein soll In solchem Verstände beteiligt sich die Philo- sophie als Erziehungswissenschaft in hohem Mafse an der Kulturarbeit. Sie will als solche nichts geringeres als unter Benutzungder vorhandenen Ge- müts- und Willenskräfte dem heran- wachsenden Geschlecht ein Gepräge geben, das das sittliche Leben der Nation zu bestimmen vermag.

Dabei kommt die doppelte Auf- gabe der Philosophie, die fortschritt- liche und die konservative voll und ganz zur Geltung, das Weitertreiben zu neuen Zielen und das Hinweisen auf das Tüchtige und Grofse der gegenwärtigen Kultur, wie sie der Verf. in vortrefflicher, anziehender Weise am Schlüsse seines Buches schildert, wobei die vortretenden Schäden nicht verschwiegen werden sollen. Wie gern hören wir von ihm, dafs auf vielen Gebieten des öffentlichen Lebens das Uniformieren viel zu weit getrieben wird, nament-

lich auf dem des Unterrichts, dafs eine Hauptsache für jede kraft- volle und reichhaltige Kultur darin besteht, dafs das Eigenartige der Individualität nicht von allen Seiten her eingeengt und beschnitten, son- dern zu freier Entfaltung gebracht werde. Und wie gern stimmen wir dem Verf. bei, wenn er weiterhin die Überschätzung von Wissen und Wissenschaft bekämpft und auf das. was uns not thut, hinweist: auf die Bildung des Charakters. (S. 195. Ist das letzte Kapitel für Erzieher besonders anregend, so soll damit doch nicht gesagt sein, dafs nicht auch die vorausgegangenen in ihrer durchsichtigen und mafsvollen Dar- stellung das Interesse fesseln wür- den. In denselben behandelt der Verf. 1. Die Philosophie des 19 Jahrhunderts. 2. Aufgabe der Philo- sophie als Wissenschaft, Erkenntnis- theorie. 3. Metaphysik, Naturphilo- sophie , Philosophie des Geistes. 4. Philosophie und Leben. 5. Philo- sophie und Religion. In den An- merkungen endlich S. 199 230 ist ein reiches Material zeitgenössischer Litteratur mit treffenden, kritischen Bemerkungen niedergelegt.

Jena. W. Rein.

VI.

Professor Dr. Th Ziegler, Die Fragen der Schulreform. Zwölf Vor- lesungen. Stuttgart, Göschensche Verlagshandlung.

So warm wir die Schrift des Prof. Ziegler» Die soziale Frage eine sitt- liche Frage« im i. Heft d. Z. em- pfehlen konnten, so scharf müssen wir das vorliegende Buch desselben Verf. verurteilen.

Nicht als ob wir persönlich be- fangen wären durch die absprechen- den Urteile des Verf. hinsichtlich der herbartischen Pädagogik und besonders der Jenenser Übungs- schule. *) Denn inbezug auf das erste meint es der Verf. nicht so schlimm, da er in seinen »Vor- lesungen« Willraann und Schiller

•) Ver»l. »An. dem Päda«. Univenitlts-Se mi- liar tu Jena Heft 3, Seite XIII f.«

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rühmend empfiehlt , die doch der vom Verf. verpönten Richtung ohne Zweifel sehr nahe stehen, und inbezug auf das zweite fühlt sich die ver- urteilte Schule nicht getroffen, da sie den Verf. in diesem Betracht nicht als sachverständigen Beurteiler ansehen kann , und zwar aus Grün- den, die in dieser Zeitschr. 1889, S. 248 bereits angegeben wurden. Dieselben wiesen darauf hin, dafs Herr Prof. Ziegler in der genannten Schule einmal 2—3 Stunden hos- pitiert habe. Selbst wer die reichste Erfahrung auf dem Gebiete der Lehrerbildung besäfse , würde sich scheuen, auf Grund so ungenügender Beobachtung allgemeine Urteile zu fällen und können wir sagen zu wiederholen. Herr Professor Zicgler hatte dabei nicht einmal Kenntnis von den äufseren Einrichtungen des Seminars. Er verwechselt in seiner Beurteilung das Praktikum mit dem Theoretikum. Den Schwerpunkt der gesamten Seminar-Arbeit, das Kriti- kum, übersieht er vollständig. Auch verwechselt er den Begriff der Musterschule mit dem der Übungs- schule u. s. w. Er ist also auf diesem Gebiet ein durchaus inkompetenter Richter.

Dieser Eindruck wird durch die vorliegende Schrift noch verstärkt. Was Herr Prol. Ziegler z. B. über Lehrerbildung redet, ist in höchstem Grad dilettantisch. Wir nehmen zwar gern das Zugeständnis an, dafs ein prinzipielles Hindernis seitens der Universität der praktisch-päda- gogischen Ausbildung der Lehrer nicht im Wege steht, können aber seinen positiven Vorschlag nur be- lächeln. In den beiden letzten Semestern des Universitätsstudiums sollen praktische Übungen vorge- nommen werden. »Aber keine Übungschule, denn wer wird seine Kinder in einen solchen Vcrsuchs- taubenschlag (?) schicken mögen?« (In Jena geschieht dies allerdings seit mehr als 40 Jahren! Herrn Prof. Zieg- ler stehen sehr gern Zuschriften von Eltern zu Gebote , wenn er solche wünscht, damit er selbst nicht weiter- hin etwas thue , was er andern dringend abrät, nämlich ohne ge-

nügendes Material sofort zu gene- ralisieren.) >Auch keine Beteiligung am regelmäfsigcn Gymnasialunter- richt; denn das wird sich nur in den seltensten Fällen machen lassen und müfstc bei zahlreicher Beteiligung an diesen Kursen eine Störung des Schulbetriebs herbei- führen.« Was werden die preufsi- sehen Gymnasial - Seminare dazu sagen? »Endlich auch nicht jedes- mal ad hoc beliebig und neu heraus- gegriffene Jungen bald aus dieser bald aus jener Schule und Klasse, zu denen sich kein Verhältnis ge- winnen läfst. Sondern das ganze Jahr hindurch müssen es dieselben acht bis zehn Jungen sein, am besten Tertianer, die dem Leiter der Übungen und den teilnehmenden Studenten allmählich bekannt werden, so dafs sich eine Art von Klassen- bewufstsein und Klassenverhältnis, die Möglichkeit disziplinarischer Beobachtungen und intellektueller Beurteilung des einzelnen heraus- bildet; sie werden dann, etwa am Mittwoch Nachmittag, in ihren Schul- fächern und im Anschlufs an das eben in der Schule Behandelte von den Studenten unterrichtet, und zwar von jedem stets in zwei auf- einander folgenden Stunden, damit er das zweite Mal gleich besser mache, was er das erste Mal ver- fehlt hat und sich zugleich durch Repetition oder Veranstaltung einer kleinen schriftlichen Arbeit über das in der ersten Stunde durchgenom- mene Pensum überzeugen kann von dem, was die Jungen acht Tage zu- vor bei ihm gelernt oder nicht ge- lernt haben.«

Auf solche Weise, versichert der Herr Verf., läfst sich »erheblich mehr als nichts erreichen«. Mehr als nichts geben wir zu; »erheblich« mehr, darüber hegen wir starke Zweifel. Denn die vorgeschlagenen Mittwochs-Übungen sind im Grunde nichts anderes als die berüchtigten katechetischen Lektionen. Wer an ihre Wirkung glaubt, ist entweder sehr naiv, oder er macht es wie der Vogel Straufs, der den Kopf in den Sand steckt, wenn er nichts sehen und hören will.

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Überdies läuft die von Herrn Prof. Ziegler vorgeschlagene Lehrerbildung auf weiter nichts als auf ganz aufser- liche Dressur hinaus, soweit man sie in 2 Mittwochsstunden im Semester andressieren kann. Denn wenn er, wie es auf Seite 152 geschieht, die Pädagogik nicht als Teil der Philo- sophie gelten läfst, sondern sie gc- wissermafsen aufteilen will an den Philologen, Neusprachler, Mathema- tiker, Historiker u s. w , so ist sie ihm eben weiter nichts als eine simple Rezeptsammlun^ für den Unterricht, die jeder Beliebige sich aneignen und weitergeben kann.

Kin merkwürdiger Widerspruch, zu dessen Losung uns jeder Schlüssel fehlt, liegt hier vor Der Verfasser ist im Innersten davon überzeugt, dafs die Bildungsfrage ein Teil der grofsen sozialen Krage ist, dafs in ihr der sittliche Krziehungsprozefs eingeschlossen liegt, der uns allen not thut. I>ie Wissenschaft der Erziehung aber, welche diese Bil- dungsfrage prinzipiell zu losen sucht, und nachweisen will, wie der Er- zichungsprozefs im einzelnen und in der Gesamtheit einzuleiten und fortzuführen sei. die Pädagogik also, schrumpft bei ihm zusammen zu einem Präge- und Antwortspie!, ge- nannt praktische Übung, die so nebenbei an einem Nachmittag in der Woche mit abgemacht werden kann.

Es verlohnt sich nicht, mit einem solchen Standpunkt sich des weiteren auseinander zu setzen. Wo die Gegensätze so tief ^ehen hinsicht- lich der Auffassung der Pädagogik als Wissenschaft dürfte man ver- geblich auf eine Verständigung hoffen. Wo eine grofse Gedankenarbeit ohne weiteres als nicht vorhanden betrachtet und gesicherte Ergeb- nisse als falsch hingestellt werden können, wie das z. B. im zweiten Kapitel >Erziehen und Unterrichten« in mehr als naiver Weise geschieht, da kann man eben nur warnen und

*) Vergl. Di Ii he y, Über die Möglichkeit einer allgemein gültigen pädagogischen Wissen- schaft. XXXV. Sltiungbericht der K. I'r. Aka- demie der Wittenschalten zu Berlin.

sich wundern, dafs ein so ernst denkender Mann, wie er uns in der »Sozialen Frage« entgegen tritt, mit solchem Leichtsinn über Erziehungs- fragen sprechen kann, wie er es in der vorl. Schrift fertig bringt. (S. 14 ff.]

Einige Stichproben genügen: »Die eigentliche Aufgabe der Schule ist der Unterricht, und das Wesen der von ihr geübten Erziehung Hegt vielmehr im Generalisieren, nicht im Individualisieren.« »Falsch ist auch die Unterscheidung eines erziehen- den oder erziehlichen Unterrichts von dem übrigen, vermutlich (sicj also nicht erziehenden Unterricht. Dem muls das Wrort entgegenge- stellt werden: aller Unterricht wirkt erziehlich«, wenn er nur gut ist. Denn das ist das ganze Geheimnis, das ist die erste und hauptsächlichste Pflicht des Lehrers, einen guten Unterricht zu geben.« »Sittlich wert- voll ist auch beim Lernen immer in erster Linie das Selbsterarbeitete, das nicht blofs gedächtnifsmälsig An- geeignete, sondern das durch Nach- denken Gewonnene. Und das ist in der Schule am intensivsten zu er- zielen und möglich bei dem Unter- richt in fremden Sprachen und in der Mathematik, und daher stehe ich nicht an, diese Fächer Im die am meisten erziehenden und mora- lisch wirksamsten zu erklären.«

Dies dürfte für die Leser der »Studien« genügen zur Beantwortung der Frage, ob Herr Professor Zieg- ler das Recht beanspruchen darf, in den Fragen der Schulreform ge- hört zu werden.

Jena, im Dezember 1891.

W. Rein.

VII.

Hans Schllepmann, Betrachtungen über Baukunst. Berlin 1891. Polytech- nische Buchhandlung, A. Seydel. 8. 110 S.

Was soll die Anzeige dieses Buches in einer pädagogischen Zeitschrift? Mehr als man auf den ersten Blick meinen könnte. Denn dasselbe ist geschrieben unter dem grofsen Ge- sichtspunkt, durch die Kunst unser

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Volksleben zu verinnerlichen, zu ver- edeln. Einesteils soll unser Volk in seinen breiteren Schichten zur Freude an dem Schönen erzogen, andern- teils die Kunst auf gesunden Boden gestellt werden. So geht durch das Buch auch ein starker sozialer Zug. Die Kunst darf nicht blofs auf die sogen. Gebildeten beschränkt bleiben, sondern sie mufs wahrhaft volkstüm- lich sein, wenn sie schöpferisch auf- treten will. Dabei soll sie, weit ent- lernt, ein schöner Zeitvertreib zu sein, einer der höchsten Krzieher des Volkes werden. Wie hierbei die Schule mittelst eines rationell ge- pflegten Zeichenunterrichtsmitwirken kann, dies hat Referent des öftern nachdrücklichst betont. Mit der Schule Hand in Hand soll die Bildung des Schönheitssinnes im Hause, in der Familie gehen. Wie sehr letzte- res, die Pflege der Kunst mit Be- ziehung auf die Architektur, bei uns im argen liegt, wird vom Verfasser eindringlich dargelegt. Er deckt aber auch die Quellen auf, wie hier gegen- über einer entnervenden Modesucht durch Rückkehr zu dem Einfachen, Natürlichen, Bäuerlichen eine innere Gesundung herbeigeführt werden kann. Namentlich die Abschnitte: >Das kleine Haus« und >Unser Zim- mer« haben meinen vollen Beifall. Es ist wahr: Besitzen wir nur erst wieder ein Rückgrat von natürlicher Kunstempfindung im Volke, drängt es uns erst, alles Umgebende unge- künstelt schön zu gestalten, dann wird auch diese volkstümliche Kunst das werden, was sie nach ihrem heiligsten Berufe sein mufs : Ein Er- zieher des ganzen Volkes zu edler Freude.

Jena. W. Rein.

VIII.

W. Pfeifer, Theorie und Praxis der einklassigen Schule. Gotha bei Thienemann. Teil I. Die theore- tische Grundlegung. 145 Seiten. 1,60 Mk. Teil II Der Religions- unterricht. 228 Seiten. 3 Mk. Verfasser giebt im Teil I Allge- meines über Organisation der ein- klassigen Schulen überhaupt, dann spricht er von der Bedeutung der

einklassigen Seminarübungsschulc, ferner von den fünf Hauptstücken der einkJ. Schule, nämlich von ihrer Gliederung in Abteilungen, vom Stundenplan, von Auswahl und An- ordnung der Unterrichtsstoffe, von der Arbeits- und Zeitverteilung in der einkl. Schule, vom Helfersystem und von der Darstellung des Unter- richts. Ein Anhang bringt eine Studie über Bcll-Lankaster-Schulen und über die wechselseitige Schuleinrichtung. Es folgen noch Anweisungen über Einrichtung der Listen und Tabellen, sowie die gesetzlichen Bestimmungen über die äufsere Einrichtung der Volksschule. Teil II behandelt die Grundlinien des Religionsunterrichts, giebt Winke zu pädagogischer Ge- staltung desselben, unterzieht die Religionsbücher einer kritischen Be- trachtung, skizziert den im Buche befolgten einheitlichen Lehrgang für den evang. Religionsunterricht und ergänzt die Skizze durch Bemer- kungen über unterrichtliche Darstel- lung. Im Anhang finden wir eine Übersicht über die Litteratur des Re- ligionsunterrichts nebst Unterrichts- proben aus derselben.

Die Vorzüge des Buches sind in gewisser Hinsicht nicht unbe- deutend. Man sieht auf jeder Seite, dafs der Verfasser von rechter Liebe zur einkl Schule beseelt ist, dafs er ihre Bedürfnisse aus eigener Erfahrung kennt, über den Unter- richt in ihr reiflich nachgedacht, vielfältige Versuche darüber ange- stellt, auch die Litteratur dieser Schulart verfolgt und die gemachten Vorschläge auf ihre Durchführbar- keit hin geprüft hat. Hie Spezial- fragen der einkl. Volksschule finden Teil I, Seite 47—114 eine ausführ- liche Behandlung, mit welcher dem Lehrer solcher Schulen allein ge- dient ist^ Die Leser der Studien werden gewifs darin mit dem Ver- fasserübereinstimmen, dafs in erzieh- licher Hinsicht nicht der Halbtags- schule, sondern der einkl. Schule der Vorzug gebührt, dafs die Ver- einigung der Geschlechter in diesen Schulen im allgemeinen eine För- derung des sittlichen Lebens der Kinder bedeutet, dafs der Religions-

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Unterricht das vornehmste Fach und die heilige Schrift das w ichtigste Buch der Schule ist, und dass die Konfes- sionsschule der Simultanschule vorzu- ziehen ist. Es wird das Buch für die gegenwärtige, durch die Verfügungen der Unterric h ts- bchörden geregelte Praxis desVolksschulunterrichts den Lehrern einklassiger Schulen ein zuverlässiger Ratgeber sein. Ja man könnte es mit Benutzung einer be- kannten Rezensentenphrase das beste seiner Art nennen, denn unter den, den gleichen Gegenstand behandeln- den Werken von Liese, Mehlifs, Hedemann und Heinemann kann höchstens das letztgenannte sich mit ihm messen. Seine Bedeutung be- steht vor allem darin, dafs in ihm der Versuch gemacht ist, den Re- ligionsunterricht aus seiner Zer- splitterung zu befreien und seine Unterfächcr zu einem einheitlichen Lehrgänge zu vereinigen. Dieser Versuch mufs, soweit er im Rah- men der Anordnung nach konzentr. Kreisen und unter Zu grun d ele g ung e in es an den Lauf des Kirchenjahres sich anschließenden Ganges über- haupt gelingen konnte, als ein gelungener bezeichnet werden. An die Ur- und Patriarchengcschichte ist der i. Artikel, an Richter- und Königszeit das I. Hauptstück, an das Leben Jesu der 2. Artikel nebst dem IV. und V. Hauptstück, an Apostel- und Kirchengcschichte der 3. Ar- tikel und das III. Hauptsttick ange- schlossen. Gleich passend sind den einzelnen Gruppen BibellesestofTe, Kirchenlieder und Sprüche beige- fügt. Charakteristisch ist dabei, dafs in einigen Wochen die Behandlung der bibl. Geschichten, in andern die der Katechismusstücke über- wiegt. So wird in der i.~ 4. Schul- woche neben der Apostel- und Kirchengeschichte das 3. Gebot, in der 5. 6. Woche der 3. Artikel , in der 7 8 Woche das III. Hauptstück, in der 9. Woche neben der Schöpfungs- geschichte der 1. Artikel behandelt u. s. w. Der Unterricht durchläuft zwei Kurse nebst einem Vorberei- tungskursus, der von Ostern bis

Pfingsten jedes Jahres reicht, und in welchem mit den Kindern des 1. Schuljahres über Gott und den Hei- land geredet wird. Daneben wieder- holen die Kinder des 1. 4. Schul- jahres, »namentlich durch Selbstbe- schäftigung«, die Geschichten aus dem Leben Jesu. Von Pfingsten an wird das 1. 3. Schuljahr zu einer Abtei- lung vereinigt und erledigt den Kursus der Unterstufe, nämlich die einfachsten und kindlichsten Erzäh- lungen aus der Ur- und Patriarchen- geschichtc, von Moses und David, dann die Geburtsgeschichte des Hei- landes und die kindlichsten Erzäh- lungen aus dem Leben und Wirkeu des Herrn. Die Oberstufe besteht von Ostern bis Pfingsten aus dem 5.-8. von da an aus dem 4.-8 Schuljahr. Sie erledigt nacheinander Apostelgeschichte , Ur- und Pa- triarchengeschichte usw. und schliefst mit der Passionsgeschichte. Die wichtigsten Stoffe werden alljährlich, andere minder wichtige alle drei Jahre einmal eingehend behandelt, sonst nur wiederholt.

Lobend möchte noch im Anhange des 1. Teiles der Studie über Bell- Lankaster-Schulen zu gedenken sein. Es ist freudig zu begrüfsen, dafs auf diese Weise in den Lehrern ein- klassiger Dorfschulen historischer Sinn geweckt und ihr Blick auf die Vergangenheit gelenkt wird, die oft erst die Gegenwart verstehen und in die Zukunft blicken lehrt.

Allein diese Vorzüge dürfen uns nicht abhalten, auf die Mängel des Buches hinzuweisen. Dieselben be- stehen in der Anordnung der Reli- gionsstoffe nach konzentr. Kreisen und in ihrem Anschlufs an das Kirchenjahr. Verfasserist ein wärmer Anhänger jener Anordnung, nach welcher in jedem Jahre das ganze Gebiet eines Faches, hier des Reli- gionsunterrichts, durcheilt wird. Ihre extremste Form, die einjährigen Unterrichtskurse, verteidigt er (Teill, Seite 80) mit der Behauptung, sie böten eine gröfsere Bürgschaft für Sicherheit und Vertiefung des Wis- sens und ferner »das Bewufstsein erlangter Sicherheit, das mit der Fähigkeit leichterer Durchdringung

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bei wiederholter Vorführung ge- wonnen wird, schwächt das Inter- esse keineswegs ab.« Hier ist, wie man sieht, Interesse als Mittel zur Auffassung der Stoffe, d. h. als Aufmerksamkeit gefafst. Der Her- bartschen Pädagogik ist es bekannt- lich Zweck des Unterrichts und be- deutet jenen Zustand geistigen Le- bens, in welchem die Aneignung neuer Vorstellungen mit Leichtigkeit und Lust erfolgt und in dem die rastlose Erweiterung des Vorstel- lungsschatzes zu einem unzerstör- baren Bedürfnis geworden ist. Inter- esse in dieser Bedeutung aufgefafst kann nur durch machtvolle, andau- ernde Einwirkung grofser, unzer- stückter Gedankenmassen erfolgen. Eine solche ist bei den konz. Kreisen nicht möglich, und darum müssen wir sie verwerfen, mögen sie auch wirklich, was noch sehr fraglich ist, gröfsere Sicherheit des Wissens geben, als andere Anordnungen. Dem erziehenden Unterrichte liegt es eben nicht in erster Linie am Wissen, sondern an sittlich-religiöser Ver- edelung der Zöglinge. Diese aber, welche nicht nur in der Aneignung religiöser Stoffe, sondern vor allem in der selbsthätigen Erarbeitung reli- giöser Ideen aus denselben und in der Anwendung dieser Ideen auf Wollen und Handeln der Zöglinge besteht, wird durch die konzen- trische Anordnung gehindert, wenn nicht unmöglich gemacht. Wie sollen sechs bis siebenjährige Kinder es fertig bringen, den Ideengehalt auch der kindlichsten Erzählungen aus dem Leben und Wirken des Herrn selbstthätig zu gewinnen und anzu- wenden. Zu einer solchen Arbeif müssen sie erst fähig gemacht werden, und auch dann noch mufs der Ideenfortschritt der biblischen Erzählungen sorgsam beachtet werden. Letzteres geschieht aber bei den konzentr. Kreisen nicht, und das ist ein zweiter Grund, warum wir sie verwerfen müssen, we- nigstens in der Ausartung, welche sie im Religionsunter- richt angenommen haben und die eben im alljährlichen Durch- laufen des ganzen Gebietes besteht.

Dieselbe hat mit den echten kon- zentrischen Kreisen, wie sie sich allein im Rechnen noch rein erhalten haben, wenig gemein. Diesen letz- teren entspricht Zillers Anordnung der religiösen Stoffe viel mehr.*) Was würde Herr Pfeifer sagen, wenn man ihm empfehlen wollte, das Leichteste aus allen Zahlenräumen im ersten Schuljahre zu behandeln, das Gelernte im zweiten und dritten Schuljahr zu wiederholen und als- dann, mit der Behandlung des un- begrenzten Zahlenraumes beginnend, vom 4. S. Schuljahr an alljährlich sämtliche Zahlenräume zu behandeln? Eine ähnliche Anordnung empfiehlt er im Religionsunterricht. (Siehe Teil II, Seite 52—53.) Wie sich dort im Rechnen keine Einsicht in die Zahlenverhältnisse der höheren Zah- lenräume würde erzeugen lassen, so in Religion keine Einsicht in die religiösen Ideen. In beiden Fällen mufs die Auffassung eine oberfläch- liche bleiben. Ein liebevolles Ver- tiefen in den Stoff ist bei der An- ordnung nach konz. Kreisen undenk- bar. Sie verführt obendrein den Lehrer, seine Schule im Religions- unterricht weniger sorgfältig als im Rechnen zu gliedern, (Teil I, S. 52 bis 33), hier vier, dort nur zwei Ab- teilungen zu bilden. Mit der An- ordnung nach konz. Kreisen fällt auch der Anschlufs an das Kirchen- jahr. Bei demselben hat der Ver- fasser zwar das Ärgste zu vermeiden gewufst. Der dreimal wiederholten Vorführung der einfachsten Erzäh- lungen alten und neuen Testaments folgt nicht sogleich die Apostelge- schichte und dieser die übrigen Perioden, sondern das vierte Schul- jahr beginnt, da es erst von Pfingsten an mit der Oberstufe verbunden wird, mit der Patriarchengeschichte. Welche Vorbereitung aber die Apostelgeschichte erfährt, sieht man daraus, dafs Ur- und Patriarchenzeit in 6 Wochen, der 1. Artikel in 2 Wochen, Richter- und Königszeit nebst dem 1. Hauptstück in 9 Wochen, das Leben Jesu in 12 Wochen, der 2. Artikel nebst dem

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♦) Siehe Ev. Schulblatt 189t Heft 6.

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4. und 5. Hauptstück in zusammen 4 Wochen jahrlich behandelt wird Verlasser giebt sich einer Täuschung hin, wenn er vielleicht meinen sollte mehrmals wiederholte oberflächliche Auffassungen würden zuletzt doch eine gründliche herbeiführen. Der Gedanke, die Schule und ihren Re- ligionsunterricht mit dem kirchlichen Leben in Verbindung zu setzen, ist ja an sich gut. Er läl'st sich jedoch nur an den Perikopen ausführen. Diese müssen, zu Schulandachten um- gestaltet, jene Verbindung bewirken. Die zur unterrichthehen Behandlung bestimmten Religionsstoffe dagegen müssen in grofsen, zusammenhängen- den, dem Ideenfortschritt der heiligen Geschichte entsprechenden Stoff- gruppen angeordnet werden, ganz wie es Zillers Anordnung nach kul- turhistorischen —

Doch da fällt dem Rezensenten eben ein, wie trefflich sich Herr Pf. gegen alle gewappnet hat, die ihn vom Standpunkte der Herbart-Ziller- sehen Pädagogik anzugreifen wagen könnten. Leuten dieser Art begeg- net er sehr von oben herab, setzt sich auts hohe Pferd und spricht wie folgt : »Wenn aber jemand so klug ist, einzuwenden, es ginge wohl nient, dals man z. B. aus der Zeit des ungeteilten Königreichs in dem einen Jahre nur das Lebensbild Sauls betrachte, weil dann die Ent- wickelung des Reiches (Jottes oder die Kulturentwickelung des jüdischen Reiches nicht gehörig dargestellt werden könnten (und was der- gleichen gelehrte Redereien noch sein mögen;, so will ich mit ihm nicht rechten. »Sehe jeder, wie er's treibe, sehe jeder, wo er bleibe.« Meine Vorschläge haben sich in der dargelegten Weise als völlig durch- führt >ar im wirklichen Schullehen er- wiesen.* (Teil II, S. 551 Mit dem Schlufs scheint der Verfasser auf die vermeintliche Undurchführbar- keit der kulturhistorischen Anord- nung in der einklassigen Schule an- zuspielen. Allein dieselbe ist nichts als ein allerdings noch nicht oft ge- nug wiedcrlegter Aberglaube.*) Und

*i Siolic Florin. Mt-lhodik der Gcs.untichule. Zürich bei Schullhc»s. und Hollkainm, Lehrplan

ist die Durchführbarkeit vielleicht ein Beweis für die Richtigkeit einer Anordnung? Der gröfste Schlendrian ist oft sehr leicht durchführbar. Ziliers Idee der kulturhistorischen Stufen ist zwar in der einkl. Schule nicht allzu leicht durchzuführen, aber es ptlegt beim Guten über- haupt so zu sein, dafs seine Ver- wirklichung Mühe und Nachdenken kostet. Durchführbar aber ist sie und wirkt segensreicher als die kon- zentr. Kreise. Zum Glück lassen sich grofse pädag. Reformideen nicht mit dem leichten Geschütz .on Redensarten über den Haufen werfen. Auch wir lieben gelehrtes Gerede nicht und haben uns deshalb gehütet, irgend welche Kunstausdrücke der Herbart'schen Pädagogik ohne Not zu gebrauchen. Die Sache läfst sich, wenn auch weitläufiger, ohne sie darstellen Es ist zu bedauern, dafs Herr Pf. diese Pädagogik »insbeson- dere ihre vorzügliche Fortbildung durch Ziller« *r so schief beurteilt und so sehr durch ihre Aufserlich- ketten in seinen Vorurteilen gegen sie bestärkt wird. {Teil II, Seite 25—26 u. a a. O ) Leid thut es uns auch, das Wort »einer zuchr- loscn Pädagogik, wie Stoy es nennt, I Encyklopädic, Par 17, S. 26) das Wort. »Sehe jeder wie ers treibe usw., in einein Werke angeführt zu finden, das seiner oben genannten Vorzüge wegen gewifs in viele Leh- rerhände kommt.

Drackenstedt.

F. Ho II kämm. IX.

Wartenberg. Lehrbuchder lateinischen Sprache als Vorschule der Lek- türe. Kursus der Quinta. Hannover, Norddeutsche Verlagsanstalt.

Der zweite Teil des vorliegenden Übungsbuches schliefst sich in Anlage und Methode naturgemäfs eng an den ersten Kursus an, den ich im vorigen Jahrgange S. 247 f. besprochen habe, bezeichnet aber diesem gegen- für einfache Volksschulen. Jahrbuch XXIII de» Verein» für u i>»cn»chaul. Päd .ig l)re»den 1601.

l'rof. l>r F. >chul*e in d. Vorred« *u Spencers Krziehutigslehre.

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aber in mehrfacher Hinsicht einen •wesentlichen Fortschritt.

Sehr vernünftiger Weise ist der von der Grammatik vorgeschrie- bene Gang des Unterrichtes ziemlich streng eingehalten worden. Nur eine Umstellung möchte ich befür- worten. Ich halte es nämlich für praktischer, die Adjektiva erst nach Absolvierung aller Substantiva zu besprechen : es müfsten also § 7 und § 8 ihre Plätze wechseln ; dann würde sich auch die Steigerung sofort an die Eigenschaftswörter anschliefsen.

Ferner hat der Verfasser durch zweckmäfsige Beschränkung des Lernstoffes dem Schüler das Lernen sehr erleichtert, doch bedürfen die Besonderheiten der ersten Deklina- tion nicht einer so ausführlichen Einübung. In der zweiten Deklina- tion könnte vulgus und der Vokativ <lens fehlen. In der dritten Deklina- tion, mit deren Stammtheorie ich mich nie befreunden werde, möchte fallen: § 3 lepus, mas, mus. linter; § 6 febrim , febri , sedum , faucium, fraudium, marium, murium; § 7, 1 compos, pubes, superstes; § S artus- und acus. § 7, 2 genügt es, inopum und memorum zu erwähnen. Schliefs- lich ist das sogenannte Supinum in § 37 ganz zu streichen.

Auf eine langsam vorschreitende Entwicklung und verständliche Dar- stellung des Lernstoffes ist besonde- res Gewicht gelegt worden» Doch bringen die §§ 20—23, 25 und 32 zu viel Neues auf ein Mal. Auch sollten die Kompositia von ferre und von ire vom Simplex getrennt behandelt werden. In ähnlicher Weise mufs § 40 zunächst das partieipiumconiune- tum und erst dann der ablativus absolutus eingeübt werden.

Die Übungsstücke sind nach sehr richtigen Grundsätzen ausge- arbeitet worden. Einzelsätze finden sich blofs § 12, 13, 14, 16, 19, 20, 32, 35, 36, und 3<). Im übrigen werden nur zusammenhängende Stücke ge- boten. Zwar ist die Darstellung an- fangs sehr einfach ; aber je weiter man fortschreitet, um so mannigfal- tiger wird die äufsere Fügung, um so fester der innere Zusammenhang. Dabei ist die richtige Mitte gehalten

Pädagogische Studien. III.

worden zwischen einem zerstreuen- den bunten Vielerlei und einem er- müdenden und den übrigen Unter- richt nicht genugsam fördernden Einerlei des Inhaltes. Naturgcmäfs sind Erzählungen aus der römischen und der griechischen Geschichte be- vorzugt worden ; man findet aber auch naturgeschichtliche Beschrei- bungen, ethische Betrachtungen und Ermahnungen, Aussprüche berühmter Männer usw. Deutsche Stücke sind leider nur § 15, 28, 3S, 41 und 44 zur Wiederholung eingestreut worden.

Im grofsen und ganzen ist also der zweite Teil viel brauchbarer als der erste. Ich kann ihn jedoch nur dann empfehlen, wenn 1) Gram- matik, Übungsstücke und Wortkunde getrennt werden; wenn 2) die Zahl der deutschen Stücke vermehrt wird und zwar durch solche, die sich eng an die betreffenden lateinischen Stücke anschliefsen ; wenn 3) das Wörterverzeichnis zu einer Präpara- tion in der Reihenfolge der einzelnen Lesestücke umgearbeitet wird.

Annaberg. Ernst Haupt.

X.

W. Möller, Lateinisches Lese- und Übungsbuch. I Für Sexta. II Für Quinta. Altenburg, H. A. Pierer. Das vorliegende, hübsche Übungs- buch zerlegt den grammatischen Lehrstoff in seinem ersten, für Sexta bestimmten Teile in 25 Abschnitte: I Erste Deklination; II Zweite Dek- lination; III Adjektiva auf us, a, um und er. a, um; IV Maskulina, V Fe- minina, VI Neutra der dritten Dek- lination ; VII Adjektiva der dritten Deklination und Neutra auf e, al, ar; VIII sum, fui, esse; IX Vierte Deklination ; X Fünfte Deklination ; XI Erste Konjugation; XII Regel- mäfsige Steigerung; XIII Zweite Konjugation; XIV Fürwörter; XV Vierte Konjugation; XVI Dritte Kon- jugation.

Davon gehören die Neutra auf e, al und ar nach Abschnitt VI, die Steigerung nach Abschnitt VII, die Fürwörter aber zwischen die erste und die zweite Konjugation.

Von den nun noch folgenden Ab- schnitten (XVII die wichtigsten Aus-

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nahmen von den Hauptgenusregeln der dritten, vierten und fünften Dek- lination; XVIII die wichtigsten Aus- nahmen von der Regel über den gen plur. der Substantiva der dritten Deklination; XIX pluralia tantum; XX Apposition, neutrum pluralis, Infinitiv als Subjekt; XXI Zahlwörter; XXII Adverbia und deren Steiger- ung; XXIII Präpositionen; XXIV Komposita von sum; XXV Depo- nentia) gehören lediglich die Zahl- wörter in das Pensum der Sexta. Denn es kann nicht oft genug und nicht scharf genug betont werden, dafs in Sexta einzig und allein die regelmäfsige Formenlehre zu behan- deln ist, während jede, auch die ge- ringste Abweichung nach Quinta ver- wiesen werden mufs. Immerhin mufs anerkannt werden , dafs das vorliegende Übufigsbuch vielen an- dern gegenüber durch die Verlegung des Unregelmäßigen in einen beson- deren Anhang einen grofsen Fort- schritt bezeichnet.

Der zweite, für Quinta berech- nete Teil umfafst 13 Abschnitte: 1 Unregelmäfsigc Steigerung, II Un- regelmäßigkeiten der Deklination in Form und Geschlecht, III Erste Konjugation. IV Zweite Konjugation, V Dritte Konjugation, VI Vierte Konjugation, VII Zahlwörter, VIII Fürwörter, IX verba anomala, X accusativus cum infinitivo, XI Parti- zipialkonstruktion , XII Supinum, XIII coniugatio periphrastica.

Offenbar steht Abschnitt I, VII und VIII an falscher Stelle , Abschnitt XII aber gehört nicht in das Pensum der Quinta. Dagegen wird ein kur- zer Abschnitt über die Konstruktion der Stadtnamen sehr vermifst.

In beiden Teilen verdient die Zer- legung des grofsen Pensums in viele kleine Pensa ganz besondere Aner- kennung. Ferner wird im ersten Teile mit Recht die vierte Konju- gation vor der dritten behandelt und zwar wird hier praktischer Weise die Perfektgruppe vor der Präsens- gruppe behandelt. Doch ist das Verbalverzeichnis def dritten Kon- jugation für Sexta viel zu reichhal- tig ausgefallen.

Der Verfasser will dem Schüler

das Lateinlcrnen möglichst erleich- tern. Deshalb bietet er, um vor allem das Interesse zu erwecken, nur zusammenhängende Stücke, die im ersten Teile in reicher Ab- wechselung von Deutschland und Griechenland, von Minerva und Diana, von den Töchtern des Land- manns, von den Dichtern, von Sizi- lien , von dem Garten des Grofs- vaters u s w. handeln. Auch von Herkules und Theseus, von den alten Deutschen und den Römern wird in rliefsender Sprache erzählt. Mit besonderer Vorliebe und mit grofsem Geschick ist ferner der Stoff aus dem Sagenkreise der Ilias und Odys- see geschöpft worden. Dadurch läfst sich allerdings eine fruchtbare Verbindung zwischen Latein, Deutsch und Geschichte herstellen, sodafs der Schüler in diesem Vorstellungs- kreise recht heimisch wird. Aber auch Fabeln, Briefe und Gespräche die dem Schüler besonders will- kommen sind, fehlen nicht.

Die Übungsstücke des zweiten Teiles sind fast durchgehends der griechischen Sage und Geschichte entnommen: Herkules, Theseus, Jason, Kadmus, Kodrus, Solon, Cyrus, Kambyses, Darius, Miitiades, Leo- nidas, Themistokles , Alcibiades, Sokrates, Pelopidas, Epaminondas, Alexander werden besprochen aber leider nicht immer in der histo- rischen Reihenfolge.

Die deutschen Stücke sind wie bei Holzweifsig durchaus Umschrei bungen der entsprechenden lateini- schen Abschnitte; doch sind mit Recht nicht allen lateinischen Stücken deutsche nachgebildet worden. Hin und wieder ist der lateinische und der deutsche Ausdruck mangelhaft

Den Schlufs beider Teile bildet ein Wörterverzeichnis in der Reihenfolge der einzelnen Paragra- phen, an dessen unterem Rande syn- taktische und stilistische Regeln in ziemlicher Anzahl beigefügt worden sind.

Von den erwähnten Bedenken ab- gesehen verdient das Buch empfohlen zu werden. Auch Druck und Aus- stattung ist sehr gut.

Annaberg. Ernst Haupt.

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XI.

De viris illustribus. Lateinisches Lesebuch nach Repos, Livius und Curtius. Bearbeitet von Dr. Hans Müller. Hannover, Carl Meyer (Gustav Prior).

Das vorliegende, sehr beachtens- werte lateinische Lesebuch für Quarta bringt in seinem ersten Teile Bil- der aus der griechischen Geschichte. Als Grundlage dient Cornelius Ncpos d. h. aus seinen Lebensbeschrei- bungen sind diejenigen ausgewählt worden, die hauptsächlich gelesen werden, nämlich: Miltiades, Themi- stokles, Aristides, Pausanias, Cimon, Lysander, Alcibiades, Epaminondas und Pelopidas. Die letzteren müssen ihre Plätze tauschen. Aufscrdem vermisse ich Thrasybul , Konon und Agesilaus. Statt dessen findet man eine sehr hübsche Lebensbeschrei- bung Alexanders des Grofsen, in der nur eine Beschreibung der Belage- rung von Tyrus und der Tod des Kütus fehlt

Der zweite Teil enthält Lebens- beschreibungen berühmter Männer, die in die Geschicke des römischen Volkes mächtig eingreifen: Kamillus, die Decier , Pyrrhus, Hamilkar, Hannibal und Scipio. Mit grofser Freude wäre es zu begrüfsen, wenn dieser Teil, am Anfang und am Ende vermehrt, zu einem Lesebuche für Quinta umgearbeitet würde. Im übrigen könnten die Decier fehlen; ebenso M Kalpurnius Klamma in Abschnitt XIV, während ebenda Duilius und Regulus selbständig zu gestalten sind. In der Lebensbe- schreibung des Hannibal vermisse ich den Transport der Elefanten über die Rhone, die Ersteigung der Alpen, den Zug des Klaudius Nero.

In Rücksicht aut den Standpunkt der Klasse, für welche das Lesebuch bestimmt ist, und um eine von Un- richtigkeiten jeder Art freie Dar- stellung zu gewinnen, ist der Her- ausgeber mit dem ursprünglichen Wortlaute sehr frei meiner Ansicht nach zu frei umgegangen. Immer- hin ist anzuerkennen, dafs die Er- zählungen mit grofsem Geschicke sprachlich und inhaltlich so gestal-

tet sind , dals das Lesen unbehin- dert fortschreiten kann. Doch sind einzelne Sätze zu schwer oder zu lang geraten z. B. 5,16 ff., 6,30 ff., 11,33 ff-- i-->5 ff-» '3-2 ff- und 32 ff., 16,13 ff., 17,33 ff., 20,32 ff., 44,15 ff., 49,29 ff, 50,31 fi., 51,29 ff.

Wegfallen könnten die meisten Jahreszahlen, ferner aus verschiede- nen Gründen 13,21 26; 17.21 23; 80,32- Si ,1 7 ; 87,6 30; aufserdem 6,14 ab aliis tum; 24,4 qui dilige- batur; 25,25 qui venerant; 76,19 quae seiungunt. Auch sollte 25,«) matrem in matrimonium duxisset ge- lesen werden anstatt ex matre liberos proereavisset.

Im einzelnen ist mir das häufige nihil antiquius habeo quam ut und ita factum est ut aufgciallen. Sodann steht öfter nec anstatt neque, primo statt primum, plures statt complures, mox statt brevi, nondum statt noniam, donce statt dum. cum tem- porale statt cum historicum, qui mit dem Indikativ anstatt mit dem Kon- junktiv, der Plural statt des Singu- lars, wenn die Subjekte Sachen sind. Ferner lies 2,17 cum diceret statt dicens; 40,30 pro nihilo puto statt nihili facio; 54,38 de Camillo statt Camilli; 62,13 auxilio statt admini- culum; 65,21 und 33 Humen statt amnem und amnis; 93,30 boves an statt bubus.

Die Wortkunde auf S. öS— 12S. welche als Präparation gedacht ist, zeigt leider viele Mängel Vor allem ist eine grofsc Anzahl Wörter, die der Quartaner gar nicht wissen kann, unerwähnt geblieben. Ich vermisse I 2 regione potiri, res constituere. I 8 impetum sustinere, I 9 opinio est und imperii cupidus , II 4 loco cedere , II 7 dolo uti, II 12 orare atque rogare, III 2 scribere in testa, contendere, VI 3 fidem aeeipere, nuntiare Spartam, VI 4 crudelitate uti, VII 13 regno privare, VII 15 splendor et dignitas, VIII 1 laude dignus, praetermittere, ingenii facul- tates, VIII 4 adire Epaminondam, VIII 8 a societatc recederc. X 2 patientia laborum , X 3 admiratione prosequi, X 7 se permittcre in fidem, X 9 regnum occupare, X 13 parri- cidium, X 14 conscriberc , X 15

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medii hostes, vires corporis recipere, X i»> petere Dareum, X 19 utribus portare, dtvinis honoribus colcre, acoptus, X 22 introducere, X 23 inquietam noctem agere, soranum capcre, alto somno comprimi, tem- pus instat, X 27 animos recipere,

X 32 occulerc, mitigare, X 34 gratiam inire, tcctis ignem adicere, X 36 vi et armis, X 40 vox deficit, XI 4 pracdam concedere, XI S ad nihilum redigere, XI »j animum accendere,

XI 16 anseres alere, XI 20 indu- stria in rebus gcrendis uti, egregius in omni fortuna , XII 3 nox inter- venit, XII 4 nox opprimit, XII 5 pugnam inire, XII 8 extra ordincm,

XII 9 ad sensum vulneris, XII n maior quam homines esse solent, XII 12 ardor anrmorum, XII 15 proe- lio lacessere, XIII <> in subsidiis colto- care, XIV 4 vigor, XV 2 obicere, Alpes petere, XV 3 Unter und ratis,

XV 7 sacrorum causa, XV 10 ani- mos confirmare, XV 12 satis magnae copiae, XV 13, aequo Marte disce- dere, magno impetu invadere, XV 18 consilia inire, XV 19 Juppiter optitmis maximus, XV 22 plures praeter consuetudinem, XVI 1 infi- nitum est, XVI 2 omnium consensu,

XVI 3 gaudio cxsultans, XVI 4 hono- rem petere. rem agere, XVI 5 adire hiberna, XVI 10 silentium facere, XVI 13 imperare frumentum, XVI 18 favore uti, decernere provin- ciam.

Öfter werden Vokabeln, die schon früher vorgekommen sind, erst an einer späteren Stelle erwähnt. So gehört z. B. VII 13 magna pecunia nach VII 11, X 11 aegre nach X 10, X 31 prosequi nach X 3, XI 19 in contionem prodire nach XI 14, XIV 2 cura nach XIII 3, XV 13 extem- plo nach XV 10, XVI 5 contionem advocare nach XVI 4. Umgekehrt gehört XVI 5 contionem dimittere nach XVI 9, und I 1 devincere nach I 2.

Innerhalb der einzelnen Kapitel ist die genaue Aufeinanderfolge der Wörter nie eingehalten worden. Auch sind öfter mehrere Kapitel zusammen durchgenommen worden.

Der deutsche Ausdruck läfst mitunter zu wünschen übrig. Ich er-

wähne. Damit umgehen dafs, es ist soweit dafs , zur Erholung der Körper, auf den Kampf erpicht, behaften mit, Truppen ausschiffen, auf Athen losgehen, das Wasser bei Seite lassen , einer Strafe würdig sein, dem Siege im Wege stehen, die Anschuldigung des Mordes ver- nichten, das Andenken entstellen, sich vorbeifahren, einen Gang führen, einen Weg lassen, den OberbefcM auf jemand übertragen. An über- flüssigen Fremdwörtern begegnen: Litteratur, Lektüre, Historiker, Stu- dium, Medizin, Charakter, talentvoll, Audienz, Partei, Terrain, Signal, Depot, Magazin, Quartier.

Schliefslich sind mir folgende Druckfehler aufgefallen: 6,3 Arte- simio; 6,18 Graecas; 6,29 certiorum; 8,22 nave; 21,36 Antaxcrxem : 25,24 perniciossimum ; 34,36 conpluribus; 37,6 coniux; 52,11 miscrunt, 53,17 Romanit; 58,37 incolume; 59,28 libe- raverat ; 67,32 : 280; 85,12 dopo- siturum; 02,30 Scipionen; 97,13 disiderio. Im übrigen ist Druck und Ausstattung sehr gut.

Annaberg. Ernst Haupt XII.

Stephan, Dr. G. Die hausliche Er- ziehung in Deutschland wäh- rend des achtzehnten Jahr- hunderts. Wiesbaden J. F. Berg- mann. 1891.

Man hat das achtzehnte Jahrhun- dert das pädagogische genannt. Wer aber das so auflassen wollte, dafs in ihm die Erziehungspraxis einen be- sonders hohen Entwickclungsgrad erreicht habe, würde sich sehr irren. Jene Bezeichnung ist nur insoweit wahr, dafs im vorigen Jahrhundert, im Zusammenhang mit der »Aul- klärung«, ein besonders lebhafter Kampf gefuhrt wurde gegen die Thorheiten, deren man sich in der körperlichen Pflege und der geistigen Bildung der Jugend schuldig machte. Diesen Kampf führen eine Menge von Erziehungsschriften und päda- gogischen Aufsätzen, in denen Philo- sophen, Schulmänner, Geistliche und Ärzte sich bemühten, die Verkehrt- heiten der damaligen Erziehungs-

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praxis nachzuweisen und ein ratio- nelleres Verfahren zu empfehlen.

AVer Fehler bekämpfen will, mufs sie zunächst schildern. Das ge- schieht denn in der pädagogischen Litteratur des vorigen Jahrhunderts in so eingehender Weise, dafs wir aus dem Studium jener Schriften ein sehr anschauliches Bild davon ge- winnen. Wenn dabei vorzugsweise der Thorheiten in der häuslichen Erziehung gedacht wird, so erklärt sich das daraus, dafs bei dem so wenig entwickelten Schulwesen der Schwerpunkt des gesamten Erzieh- ungsgeschäftes, und zwar auch in- betreff der geistigen Bildung, viel mehr als jetzt in dem Hause lag, das, wenn die Verhältnisse irgend es gestatteten, die Kinder durch »Hofmeister« oder »Gouvernanten« unterrichten liefs. Wer durch Wort oder Schrift dazu beitragen wollte, dafs für das heranwachsende Ge- schlecht besser gesorgt wurde, mufste bei der Reform der häus- lichen Erziehung anfangen.

Es ist das Verdienst vom Ver- fasser der obengenannten Schrift, mit staunenswertem Fleifse jene reiche Litteratur und aufserdem eine ganze Menge Biographieen studiert und daraus ein einheitliches, an- schauliches Bild von der häuslichen Erziehung des vorigen Jahrhunderts mit ihrer allmählichen, wenn auch sehr langsamen Entwickelung zu besseren Zuständen zusammenge- stellt zu haben. Dr. Stephan bietet damit, wie dies auch Professor Biedermann, der Verfasser der >Deutschen Volks- und Kultur- geschichte für Schule und Haus«, in einer vorausgeschickten Empfehlung rühmend anerkennt, eine Ergänzung der Kulturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, die als eine sehr wertvolle anerkannt werden mufs. Eine solche Arbeit ist eine sehr dankenswerte nicht blofs des- halb, weil mit Recht die Darstellung der Menschheitsentwickelung nach der kulturhistorischen Seite jetzt überhaupt betont wird, und jede Er- gänzung des reichen Stoffes will- kommen geheifsen werden mufs, sondern auch, weil eine genauere

Kenntnis der im ganzen nun glück- lich überwundenen mifslichen Zu- stände des Erziehungswesens den Blick schärft für die Fehler, die man jetzt in der Erziehung macht, wie für das, was uns hier not thut. Dafs nicht alles, was in der Erziehungs- praxis jetzt anders geworden ist, darum schon ein Fortschritt ist. dafs es vielmehr der »guten alten Zeit« auch nicht an Lichtseiten gefehlt hat, bedarf nicht erst eines Nach- weises Die Geschichte kann um so eher eine Lehrmeisterin werden, je mehr man aus ihr einen Einblick gewinnt in das Detail der Zustände und ihrer Entwickelung. Wir können daher die Dr. Stephansche Schrift, die in folgenden Abschnitten: I. »Allge- meines Über die häusliche Erziehung in Deutschland während des i8. Jahrhunderts.« II. »Die körperliche Erziehung.« III. »Die Bildung des Verstandes durch das Haus.« IV. »Die Bildung des Gemüts und des Willens, die Erziehung zu Sittlichkeit und Sitte.« V. »Das Verhältnis zwischen Privat- und Schulerziehung. Die Stellung des Hauses zur Schule« r das reiche Material behandelt, nicht nur den Lehrern, sondern auch allen andern, die den Erziehungsfragen ihr Interesse zuwenden, namentlich Vä- tern und Müttern, sehr empfehlen. Namentlich die letzteren können viel daraus lernen. Nicht der geringste Gewinn würde die Einsicht sein, dafs auch in unseren Tagen, wo man sich daran gewöhnt hat, für Er- ziehungsrückstände hauptsächlich die Schule verantwortlich zu machen, die Hauptarbeit der Erziehung vom Hause gethan werden mufs, wie die weitere Einsicht, dafs hier, wo man noch vielfach in den Fehlern vergangener Zeiten stecken geblieben ist, noch vieles als recht verbesserungsbe- dürftig erweist.

Eisenach. Ackermann. XIII.

Pädagogische Sammelmappe. Vorträge, Abhandlungen etc. für Erziehung & Unterricht. 125. Heft. Pädago- gische Studien für Eltern, Lehrer und Erzieher. 15. Heft. Leipzig,

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Verlag von Sigismund und Volke- ning.

Dieses Heft der pädagogischen Sammelmappe enthält als ersten Autsatz: Die Geographie in der höheren Mädchenschule von J. G Mailänder, Rektor der städt. höheren Mädchenschule in Schw. Hall. Der Aulsatz gliedert sich in A. Die Auf- gabe der Geographie in der höheren Mädchenschule; B. die Behandlung und C. die Sto ffvertei lun g.

Wir begegnen durchweg wertvollen Gedanken, und jeder Lehrer der Geographie wird bei der Lektüre des Aufsatzes etwas lernen können. Nur ist nicht recht einzusehen, war- um der Verfasser die Einschränkung in der höheren Mädchenschule hier zugefügt hat .dennscincAusführungen

vielleicht den kürzesten Abschnitt, C. die Stoffverteilung, ausgenommen gelten für den geographischen Unterricht überhaupt. Nach dem Thema erwartet man eine Aussprache darüber, wodurch sich, der Natur des weiblichen Geschlechts und der Eigentümlichkeit der höheren Mäd- chenschule entsprechend, der geo- graphische Unterricht hier von dem auf anderen Schulen unterscheidet.

Besonders gut hat mir gefallen, was der Verfasser über die Be- deutung der geographischen Heimat- kunde sagt >die Heimat ist der Spiegel des Weltalls« Freilich be- schränkt er nicht schulmeisterlich diesen Zweig der Heimatkunde auf einige Schuljahre, sondern er ver- langt stete Rückkehr zu ihr, wie schon das angezogene Wort beweist. Auch die Ausführungen über Be- nutzung der Karte, über das geo- graphische Zeichnen stehen auf der Höhe der heutigen Anschauung, die die fieberhafte Erregung über das Zeichnen als Allheilkraut, über die selbstgezeichnete Karte glücklich uberwunden hat. Interessant ist die Angabe des Verfassers, wonach er selbst seine in früheren Jahren ge- fertigten Unterstützungsmittel für das Zeichnen jetzt verwirft; und so wie ihm ist es ja gar manchem An- hänger »der zeichnenden Methode« ergangen. Sehr richtig finde ich die

Ansicht, dafs jeder Luxus in den Anschauungsmitteln unnötig ist.

Nicht einverstanden bin ich mit der Meinung des Verfassers über das Verhältnis der Geographie zur Geschichte; er will beide Fächer getrennt marschieren lassen. Er fragt z. B. »Was fangen wir mit den Ländern an, deren Geschichte wir überhaupt nicht behandeln-« Ste- hen wir denn immer noch auf dem encykJopädischcn Standpunkt, dafs alles in der Schule behandelt werden müsse! Für die Geschichte hat ihn der Verfasser sichtbar aufgegeben, aber für die Geographie behält er ihn noch bei. Dann weiter, Griechen- land und Italien soll in der Ge- schichtsstunde vor der griechischen und römischen Geschichte betrachtet werden, »aber nur nach seinen historischen Beziehungen« warum nicht gleich nach allen für den Unterricht möglichen Beziehungen- Hängt denn wirklich das Wohl und Wehe des geographischen Unter- richts davon ab, dafs ein Land gerade dann behandelt wird, wenn die zufällig beliebte Stoffverteilung es fordert5 Ich habe auch in dem vorliegenden Aufsatz vergeblich nach einem triftigen Grund dafür gesucht, warum man Italien in der geo- graphischen Stunde behandelt haben solle, wenn die Geschichte des Landes in der Geschichtsstunde auf- tritt.

Auch kann ich mich nicht einver- standen erklären mit der logisch geordneten Besprechung nach immer wiederkehrenden Gesichtspunkten: »i. Lage; 2. Grenzen etc.«, denn dadurch erhält der Unterricht ein schablonenhaftes Gepräge. Jedes Land mufs nach Gesichtspunkten, die seiner Eigentümlichkeit ent- sprechen, durchgenommen werden.

An folgenden Sätzen habe ich An- stofs genommen : »Gab es doch eine Zeit, wo die Alpen als etwas Häfs- liches bezeichnet wurden! Und welche Änderung hat hier ein geographischer Unterricht herbeigeführt!« (S. 7.) Glaubt der Verfasser wirklich, dafs der geographische Unterricht hier Wandel geschaffen hat? Wird ferner die Geographie beweisen,

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»dafs Rom geringer ist, als das be- scheidene Athen; und dafs es mehr Wert hat, die Felder anzusäen, als die Ernte unter die Füfsc zu treten (5. 8): Mifs verständlich ist der Satz (S. u): »Wenn wir bezüglich der Reliefs auch nicht verlangen, dafs unsere Mädchen von der Um- gebung solche anfertigen, wie sie aul der Pariser Weltausstellung (!) von einer Töchterschule angestaunt wurden« . . . Verfasser meint doch nicht, dafs die Reliefs von einer Töchter- schule angestaunt wurden.

Das voliegende Heft enthält an zweiter Stelle eine ebenfalls sehr lobenswerte Arbeit von Mittelschul- lehrer E. König: Die Umge- staltung der methodischen Handbücher und Leitfäden im physikalischen Unterricht an Volksmittelschulen.

XIV.

Grundrifs der Erdkunde. Ein geogra- phisches Lern- und Aufgabenbuch für die oberen Klassen gehobener Volksschulen, für Mittelschnlen, die unternKlassen derGymnasäen, Real- und höheren Bürgerschulen, für Lehrer-Präparandenklassenetc.von A. Rennebcrg, Rektor zu Mühl- hausen in Thüringen. Zweite ver- besserte Auflage. Preis 80 Pfg. Leip- zig, Verlag v.Carl Merseburger 1890.

Dieser Grundrifs zeichnet sich aus durch seine Anordnung. Sehr oft stehen die Länder-, Gebirgs-, Fluls- namen so neben- und unter einander, dafs dadurch das Kartenbild in etwas nachgeahmt wird, wenigstens für den, der die Karte kennt. So hat der Schüler für die Wieder- holung eine gewifs wertvolle Repro- duktionshilfe. Die Hauptsachen sind gut zusammengestellt.

Ausstellungen: (S. 5.) >Die nördliche Halbkugel ist der Sonne abgewandt« (von der Sonne): (S. 6). Der jährliche Wechsel der Wärme ist eine Folge der schrägen Stellung der Erdachse« ich glaube nicht, dafs der Parallelismus entbehrt werden kann); »die astronomischen

Jahreszeiten, das ist diejenige Zeit des Jahres, in welcher die Wärme ungefähr gleich ist, sind: Frühling, Sommer, Herbst und Winter». Mit diesen astronomischen Jahreszeiten stimmen die physischen oder wirk- lichen nicht überein und doch soll die Wärme ungefähr gleich sein?! Die physischen Jahreszeiten heifsen auch: Frühling etc.! (S. 8.) Jede Lichtphase stent etwa eine Woche am Himmel, (also z. B. der Voll- mond! ; S. 91. »Nahe bei einander stehende vereinigt man zu Stern- bildern, z. B. der Orion« (ein solches Sternbild ist der Orion) ; (S. \o.) Man zählt jetzt 325 Asteroiden; (S. i2.) »Die Bewohner der West- feste sind meist weniger gewaltig und kolossal, z. B. Tieer und Jaguar* (»Tiger und Jaguar«) mülsten ohne »z. B.« in Parenthese gestellt sein). Wann wird die politische Geographie den traurigen Vorzug verlieren, durch kleineren Druck die Augen der Kinder verderben zu dürfen!

Eisenach Dr. Göpfert.

XV.

Dr. Matthias Drbal (weil. k. u. k. Landes- Schulinspektor): Lehrbuch der empirischen Psychologie. Zum Unterrichte für höhere Lehr- anstalten sowie zur Selbstbeleh- rung leichtfafslich dargestellt. Fünfte verbesserte Auflage. Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller, k. k. Hof- und Universitätsbuch- händler 1892. X und 298. -— Preis geb. 4 M.

Das bekannte Kompendium der Psychologie von Drbal ist zunächst für den Unterricht an höheren Lehr- anstalten verfafst und besonders in Österreich, wo in den Gymnasien ein philosophisch - propädeutischer Kursus vorgeschrieben ist, vielfach mit grofsem Erfolg in Gebrauch ge- nommen. Es soll aber ferner auch dem Selbststudium dienen. Und dazu ist es vortrefflich geeignet. Es gilt als das populärste gröfsere Werk unter den systemati- schen Darsellungen der Her- bartschen Psychologie. In Hinsicht auf die Selbstbelehrung

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bietet es eine leicht übersichtliche Darstellung der Erscheinungen desgeistigenLebensmitRück- sicht aufihre Erklärung dar.

Das Buch erschien zuerst i. J. 1868 , die vierte verbesserte Aurlage (1885) konnte der verdiente Verfas- ser noch selbst besorgen. Nach seinem Tode (1885) übernahmen auf Wunsch des Verlegers die bekannten Hcrbartianer Prof. Cornelius- Halle und P Flügel- Wansleben die Bearbeitung der neuen (5.) Auflage. Darüber kann man sich freuen. Die Bearbeiter sind mit Recht bemüht gewesen, dem Drbalschen Lehrbuch der Psychologie »seinen bisheri- gen Charakter im wesentlichen zu erhalten.« Demgemäfs hat die formale Behandlung des Stoffes und der Umfang des Werkes keine erhebliche Änderung erfahren, wäh- rend im einzelnen ja zahlreiche Ergänzungen vorgenommen sind. Manche Weitschweifigkeit und Un- genauigkeit wurde beseitigt, manche neuere Forschung hat Berücksich- tigung gefunden. Die hinzugefügten litterarischen Angaben können sich namentlich denen nützlich erweisen, welche den einen oder den andern Punkt einer umfassenderen Unter- suchung unterwerfen wollen. Trotz- dem ist der Umfang des Werkes etwas geringer geworden (die 4. Auf- lage hatte 311 S., die 5. Auflage nur 298 S.). Die früheren Vorzüge des Buches klare und gründliche Darstellung, treffliche Beispiele und Citatc aus der Geschichte und den Klassikern sind in der Bearbei- tung von Cornelius und Flügel ge- wahrt worden.

Halle a. S. H. Grosse.

XVI.

Schweizerisches geographisches Bilder- Werk für Schule und Haus unter Mitwirkung der Herren Kunstma- ler W. Benteli und Schulinspek- tor G. Stucki herausg. von W. Kaiser (vorm. Anderen), Kunstverlag Bern. Preis für die Tafel fr. 5=4 M.

Zu den älteren geographischen Bildern von Lejh mann- Leipzig und

den künstlerisch ausgeführten Ge- ograph. Charakterbildern« von Hol- zel (Wien) ist neuerdings das schweizerische geograph. Bil- derwerk hinzugetreten. Da das- selbe in Norddeutschland noch we- nig verbreitet ist, die früheren Samm- lungen aber passend ergänzt, so dürfte hier ein näheres Eingehen am Platze sein.

Die Gröfse der Tafeln beträgt 60:80 cm (ähnlich Hölzelj. Die Bilder sind in 16 bis 18 Farben nach Original -Ölgemälden in feinstem Ölfarbendruck ausgeführt. Sie können sich getrost neben die be- rühmten Hölzeischen stellen; sie sind wie jene für die Fern Wirkung berechnet, aber anmutiger in ihrem mehr hellen, freundlichen Kolorit Während Holzel Objekte aus allen Weltteilen zur Anschauung bringt, beschränkt sich das vorliegende vor- treffliche Bilderwerk in der Haupt- sache auf die Schweiz. 1 Die Höl- zeische Sammlung hat nur ein aller- dings prächtiges (Doppel-) Bild aus diesem Gebiet: »Das Berner Ober- land«.)

Die erste Serie liegt komplet vor und umfafst folgende Bilder:

1. Staubbach mit Lauterbrunner- thal.

7. Eiger, Mönch und Jungfrau.

3. Genfersec, Montreux, Chillon, Dent du Midi.

4. Vierwaldstättersee, Rüth, Tells- kapelle, Urirotstock.

5. Bern mit Aarethal und Berner- aipen.

6. Rhonegletscher, Furkastrafse.

Später sollen erscheinen:

Zürich mit See und Alpen. Rhein- fall. Via Mala. St. Moritz mit See und Alpen. Lugano mit San Sal- vatore. Genf mit Mont Saleve.

Eine weitere Fortsetzung ist in Aussicht genommen.

Zu jedem Bild erscheint je ein Heft Kommentar, deutsch von Schul- inspektor Stucki in Bern, französich von Prof. Viret in Lausanne. Das Heft (16 Druckseiten) kostet 25 Cts.

Das Schw. geographische Bilderwerk ist ein den Unterricht belebendesVeranschaulic hungs-

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mittel, es bietet eine Auswahl von Ansichten der herrlichsten Gegenden jenes unvergleichlichen Landes. Aber die schönen und billigen Blätter sind auch als Schmuck fürunsere Schulräume und "Wohnzimmer recht geeignet. Die Reproduktion, besorgt von der bekannten Kunst- anstalt Frey und Konrad in Zürich, ist naturgetreu, plastisch und in ihrer Farbenstimmung so malerisch, dafs man seine wahre Freude daran hat. Die Bilder bieten einen wirk- lichen Begriff von der gewaltigen Schönheit der Hochalpennatur. Sie führen das Hochgebirge treu und wahr uns vor Augen, mit Vermeidung blofs äufserlicher Effekthascherei. Herrlich sind besonders der Staub- bach, die Jungfrau, der Vierwald- stättersee und der Genfersee.

In dem Kommentar zu den einzelnen Bildern von Stuck i, einer Autorität auf dem Gebiet des geo- graphischen Unterrichtes, wird zu- nächst in direkter Erläuterung zum Bild eine Schilderung der auf letz- teren dargestellten Naturschönheiten gegeben. Dann folgen physikalisch- geographische Belehrungen , eine Uebersicht der betreffenden Gegend in geologischer, physo-geographi- schcr und anderer Beziehung, eine Beschreibung der kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung des Ge- bietes, ja auch ein Abrifs der Ge- schichte desselben. Kurz, man er- fährt so vieles über das auf dem betr. Bilde dargestellte Stück Erde, als sich sagen läfst, und dies alles im angenehmen Erzählerton , nicht in der trockenen Schulweisheit.

Die Herausgabe dieses Bilder- werkes ist ein patriotisches Unter- nehmen, das wir allseitiger Unter- stützung empfehlen.

H. Grosse.

XVII.

F. W. Oörpfeld (Rektor): Enchiri- dion der biblischen Ge- schichte oder: Fragen zum Verständnis und zur Wiederholung derselben. 15. Aufl. Gütersloh, Druck und Verlag von C. Berteis* mann 1891 (VIII und 60 S.) Preis: 40 Pf.

Prof. Witte- Pfor ta sagt im > Jahres- bericht über das höhere Schulwesen« 1888 (III. Jahrg.), Ergänzungsheft, über Dörpfelds »Enchiridion/ Fol- gendes : »Eine wahre Fundgrube didaktischer Weisheit in der Behand- lung der biblischen Geschichte für reifere Schüler bietet ein kleineres, nur 60 Seiten umfassendes Büchlein, das zur übersichtlichen Vorführung des Stoffes, zur logischen Gliederung und verständigen Einprägung des- selben dem Lehrer die dankens- werteste Handreichung thut. Das ist F. W. Dörpfelds Enchiridion der biblischen Geschichte... In dem unscheinbaren Büchlein steckt eine ernste und anerkennens- werte Arbeit. Jede biblische Ge- schichte erhält neben ihrer Haupt- überschrift noch Teilüberschriften für ihre kleineren Abschnitte, und jeder Abschnitt wird durch eine Reihe von Fragen, die Nachdenken anregen und nur durch urteilende Antworten, zuweilen auch nur durch mehrere Sätze erledigt werden kön- nen , in lichtvoller und oft geist- reicher Weise erläutert. Es liegt auf der Hand, welche Vorteile eine derartige Behandlung dem Lehrer für die Besprechung und dem Schüler für die Wiederholung darbietet« (S. 17 fl.).

Wir haben diesem Urteil nicht viel hinzuzufügen. Das Buch er- . leichtert nicht blofs das Einprägen des Stoffes, sondern ergiebt ein »solches Behalten, dafs die Vor- stellungen auch für denkende Ver- arbeitung möglichst disponibel sind.« Dörpfeld bietet für jede biblische Geschichte (seit der 12. Aufl.) zu- nächsteine logische Gliederung; sodann folgen Repetitionsfragen, die thunlichst judieiöser Art sind (also nicht abwickelnde und zer- pflückende Notizenfragen). Diese Frageform crschliefst, das liegt auf der Hand, ein reiferes und tieferes Verständnis der biblischen Ge- schichte. Vor allem ist es die Innen- seite der Geschichte, welche durch die Dörpfeldsche Einteilung und die Unterfragen aufgedeckt wird , also einerseits der psychologische Unter- grund der handelnden Personen

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ihre Überlegungen, Motive und Ab- sichten — und andrerseits der Kausal- zusammenhang der Ereignisse. Da- zu sind die Fragen kurz und regen das selbständige Nachdenken an.

Eine Anweisung zur Benutzung des Küchleins rindet sich in der methodischen Bcgleitschrilt : E i n Wort über Anlage, Zweck undüebrauchdesEnchiridions der biblischen Geschichte« (Gütersloh, Bertelsmann"; , welche in kurzem in neuer Autlage erscheinen wird. Vielleicht entschliefst sich der Verfasser, jene Abhandlung nicht wieder separat, sondern mit einigen andern religionsunterrichtlichen Auf- sätzen, die früher im >Ev. Schulblatt« erschienen sind, zusammen in einer gröfseren Schrift herauszugeben. Die psychologische Begründung der betreffenden methodischen Grund- sätze hat der Verfasser geliefert in der Schrift: »Denken und Ge- dächtnis«, eine psychologische Monographie« v Auti Gütersloh, 1S861, - speziell für den Geschichts- unterricht S. 120 - 149.

H. Grosse.

XVIII.

Karl Grundsoheid, Das Schulwesen Englands. Sammlung päda- gogischer Vorträge, herausg. von W. Meyer-Markau, III. Bd. Heft 12, S. 28, Pr. 0,75 M Bielefeld, Hel- mich 1891.

Einsicht zu nehmen in das Schul- wesen eines fremden Landes darf stets zu den reizvollsten pädago- gischen Bethätigungen gezählt wer- den. Demjenigen, welcher bereits eine klare Vorstellung von heimischen Schulverhältnissen besitzt, kann da- her nur geraten werden, eine Um- schau über die eigenen vier Pfähle hinaus zu thun schon im Interesse der eigenen pädagogischen Weiter- bildung. Aber auch der Gesamt- heit, dem Lehrerstande, wie dem Vaterlande, dütfte daraus ein Nutzen entspringen, zumal wenn wirkliche Ergebnisse des Einblickes durch Druck veröffentlicht werden. Es ist hierbei zu erinnern an Wieses »Deutsche Briefe über englische Er-

ziehung« und Raydts >Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper; englische Schulbilder in deutschem Rahmen «

Der Verf. erhofft mit seiner Ver- öffentlichung offenbar etwas Ähn- liches zu erwirken. Und er ist dazu berechtigt, da er durch den Schul- dienst sich mit englischem Schul- wesen ziemlich vertraut gemacht hat.

Seine Darbietungen gliedern sich, wie folgt: t. Das Schulwesen im all- gemeinen. 2. Einteilung der eng- lischen Schulen und ihre Gruudübel. 3. Vorbildung der Lehrer und ihre soziale Stellung. 4. Die Wirksam- keit des englischen Lehrers in der Schule. 5 Ferien.

Die im ganzen lesbaren Darstel- lungen des Verf. geben zu folgenden Einwänden Anlafs:

!. Bei der Fülle des Stoffes ist es zu bedauern, dafs Verf. sich vor- nimmt, »das Schulwesens Englands« auf knapp 28 Seiten darzustellen. Eine Überschrift, etwa Meine An- schauungen über das englische Schul- wesen — wäre vielleicht enttäuschend gewesen.

2. Wenn man auch im allgemeinen sein Urteil nicht abhängig machen kann und dar! von dem Zeitpunkte, in welchem eine litterarische Er- scheinung auftritt, so mufs doch in- bezng auf den Abrifs des Verf. er- klärt werden, dafs zur Bildung eines Urteils über das jetzige engl. Schul- wesen dessen Veröffentlichung un- zeitgemäfs erscheint. Wer die Ent- wicklung der Schulgesetzgebung ver- folgt hat, wird die Wirkungen der in diesem Jahre im Parlament be- ratenen »Elementary Education Bill« und damit die Klärung der lange Zeit brennenden Angelegenheit, ob »Free Schools and Public Manage- ment« abwarten, ehe er ein Bild des heutigen englischen Schulwesens giebt Verfasser hat scheinbar eine laxe Durchführung des im Forster- schen Elementarschulgesetze beton- ten Schulzwanges vom Jahre 1870 nur in kleineren Ortschaften kennen gelernt; Rez. kann über eine dies- jährige Besichtigung Londoner Schu- len berichten, die ihm eine schier entgegengesetzte Meinung bilden

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licls. Diese Thatsachen ergeben den Beweis für eine zur Zeit recht ungeeignete Bildung eines vorsich- . tigen und darum allgemeingültigeren Urteils über das heutige englische Schulwesen. Auch hinsichtlich des vom Verf gekennzeichneten zweiten Grundübels in demselben darf auf die El. Educ. Bill hingewiesen wer- den, in deren Kostenbewilligungs- Paragraphen eine Zeitdauer des Zu- schusses von 10 sh. für jedes Kind im Alter von über 3 und unter 15 Jahren vorgesehen ist, welche also eine bedeutsame Verlängerung der Schulzeit früher 5—13 Jahr andeutet.

3. Erörterungen über die Ein- teilung der englischen Schulen hätte dem Verf. Gelegenheit bieten können, einesteils der recht zweckmäfsigen und zuweilen prächtigen Einrich- tungen der Stiftungsschulen zu ge- denken, sowie andernteils die für unsere Verhältnisse so nachahmungs- werten Besserungsanstalten (Boys and Girls' Industrial Homes) mit auf- zuzählen.

Bei den mit Recht zu geifselnden Schattenseiten bezüglich der Lehrer- bildung und der Zucht in der Schule durfte der Verf. in seiner Skizze nicht auch das Rühmenswerte im englischen Schulwesen vergessen. Sollte nicht die bauliche Einrichtung eines Londoner Volksschulhauses, welche bei aller Einfachheit im Äufseren eine überraschende Zweck- mäfsigkeit und Berücksichtigung der Hygiene erkennen läfst, oder die Thatsache, dafs selbst für eine 6 stufige Schule mit 6 nicht gerade überfüllten Klassen 8 Lehrkräfte zur Verfügung stehen, ferner dafs die Kleinkindcrschule in die Volksschule eingegliedert, dafs schliefslich den Mädchen der ärmsten Volksklasse Haushaltungs- und Kochunterricht erteilt wird sollten diese Punkte nicht hervorzuheben sein als rüh- mens- und nachahmungswert? Und wenn Verf. Londoner Schulen nicht kennen gelernt hat, sondern eben noch in der Entwicklung zurück- gebliebene in kleineren Städten, so war von englischen Schulen im all- gemeinen wohl nicht zu urteilen.

Unser deutsches Volksschulwesen hat zwar die Kämpfe hinter sich, welche in England zur Zeit toben; aber es würde dem Vaterlande ein schlechter Dienst geleistet, das Gute im Auslände nicht daheim anzuer- kennen Hat doch die kaiserliche Pädagogik verschiedene ihrer For- derungen durch Anschauungen in England gebildet!

Halle a. S.

Dr. B. Maennel. XIX.

Gustav Wustmann, Allerhand Sprach- duntmheiten. Kleine deutsche Gram- matik des Zweifelhaften, des Fal- schen und des Häfslichen. Ein Hilfsbuch für alle, die sich öffent- lich der deutschen Sprache be- dienen. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow. 1891. Preis geb. 2 Mark

Von der genannten Schrift mufste vier Wochen nach der ersten Aus- gabe das 4. Zehntausend gedruckt werden. Einen derartigen Erfolg hat in Deutschland selten ein Buch aufzuweisen ; und oft sind es noch äufserc Ursachen, die einen Massen- absatz bewirken. In unserem Falle hat aber der innere Gehalt des Werkchens das allgemeine Interesse wachgerufen.

Das Buch ist aus einer Reihe von Abhandlungen aus den Grenzboten entstandan Schon diese Aufsätze haben in den interessierten Kreisen viel Anerkennung gefunden. Der Verfasser hat sie erweitert und er- gänzt, den Stoff besser angeordnet und bietet uns nun eine vollständige, kleine deutsche Grammatik des Zweifelhaften, des Falschen und des Häfslichen. Übrigens darf man da- bei nicht an eine trockene syste- matische Grammatik denken. Die Darstellung atmet Geist und Le\>en. Sie ist kernig, hier und da wohl etwas derbe, aber der AusHufs der Begeisterung für unsere schöne Sprache, der gerechten Entrüstung über alles Gesuchte, Gekünstelte, Unschöne und Fehlerhafte.

Der Verfasser bekämpft schon in der Einleitung den sog. papiernen Stil. Wie in anderem, so erinnert

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uns das Buch auch hierin an Hilde- brands treffliches Werk.

Die Schreibsprache hat «ich eine Menge von Dingen zugelegt, die in der lebendigen Sprache Rar nicht vorkommen. Sie sagt welcher für der, in welchem für worin, der- selbe für er, auf demselben für darauf, woselbst für wo. Sie bringt dieGlicdmafsen der Sprache in eine verzerrte Stellung, schreibt z. B. : und hat das Direktorium nach reif- licher Erwägung sich entschlossen, statt: und das Direktorium hat sich nach reiflicher Erwägung entschlossen u. s. w.

Auch gegen das Aktendeutsch, gegen die Flickwörter, gegen die Provinzialismen, namentlich die Austriacismen, gegen die Galli- cismen und Anglicismen spricht sich Wustmann energisch aus. Das Kapitel über die Fremdwörter überhaupt gehört zu dem Interessan- testen, was wir über diese Ange- legenheit gelesen haben.

Als die Hauptursache der Ver- wilderung unserer Sprache, den eigentlichen Herd und die Brutstätte dieser Verwilderung bezeichnet Wust- mann die Tagespresse. Die Zeitungs- sprache habe weiterhin unsre ge- samte Schriftsprache angesteckt. Wustmann tadelt, dafs heute bei einer Buchbesprechung so selten die Darstellung, der Stil des Buches beurteilt werde ; der Inhalt des Buches sei alles geworden, die Form bedeute nichts mehr.

Das Werkchen hat drei Haupt- abschnitte. Der erste handelt über die Formenlehre, der zweite über die Wortbildungslehre, der dritte über die Satzlehre. Was sollen wir aus dem reichen Inhalte heraus- greifen? Wir geraten in die gröfste Verlegenheit. Altes, alles ist lesens- wert und sehr interessant. Man wird von dem Buche nicht wieder los- kommen, wenn man erst ein Kapitel gelesen hat. Und was das beste ist: man gewinnt dadurch ein weiter- dringendes Interesse für die ange- regten Fragen.

Einige Kapitelüberschriften wollen wir hier anführen : Name oder Namen? Generale oder Generäle? Verein

Leipziger Lehrer. An Bord Sr. Maj. Schiff. Gedenke unser oder unsrer 1 Hingebung oder Hingabe5 Speisekarte oder Speisenkarte5 Neue Wörter. Modewörter. Schwulst. Be- dingen. Es wurde sich. Die statt- gefundene Versammlung. Weimar- lose und Neapelmotive. Shakespeare- dramen und Bismarckbeleidigungen. Herr Lammers-Brcmen. Die Samm- lung Göschen. Die Familie Nach- folger. Der Buchtitelfehler. Fräu- lein Mimi Schulz, Tochter u. s. w. G. Fischer, Buchbinderei. Seitens. Ab Zwickau. Aus: »Die Grenz- boten«.

Auch, was Wustmann über den fliefs enden Stil sagt, ist beher- zigenswert. »Man spricht so viel von fliefsendem Stil, beneidet wohl auch den und jenen um seinen rliefsenden Stil. Ist das Sache der Begabung, oder ist es etwas erlern- bares? Zum Teil beruht das, was man rliefsenden Stil nennt, unzweifel- haft auf der Klarheit des Denkens und der Folgerichtigkeit der Ge- dankenentwicklung, zum Teil auch auf dem Rhythmus es wird viel zu viel stumm geschrieben, während man doch nichts drucken lassen sollte, was man sich nicht selber laut vorgelesen hat ! Zum gröfsten Teil aber beruht es auf gewissen technischen Handgriffen beim Satz- bau — Handwerksvortelchcn könnte man sagen , die man eben kennen mufs, um sie anwenden zu können. Unbewufst oder unwillkürlich wendet sie niemand an. . . Auf jeden Fall sollte jeder Schriftsteller die folgenden stilistischen Haus- und Lebensregeln beobachten: i) Schreibe Verba, nicht Substantiva ! 2) schreibe Substantiva, nicht Pronomina! 3) schachtle nicht, sondern schreibe Nebensätze! 4) schreibe laut! schreibe nicht immer blofs für die Augen, sondern vor allem für die Ohren!«

Auf Vollständigkeit kann das Buch seiner Anlage nach keinen Anspruch machen. Es will nur anregen, die Augen öffnen, das Sprachgewissen anstacheln, es will ein Notmittel sein gegen einen Notstand. Was jeder richtig macht, darauf geht es nicht erst ein. »Und wenn kein anderes,

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das eine Verdienst nimmt dieses Büchlein für sich in Anspruch, dafs es zum erstenmale in weiterm Um- fange auf die lebendige Sprache hin- gewiesen hat.<

Wenn jemand zur Abfassung dieses Buches berufen war, so war es Wust- mann. Er war früher fünfzehn Jahre lang an einem Leipziger Gymnasium von der untersten bis zur obersten Klasse Lehrer des Deutschen. Seit elf Jahren ist er Leiter der Stadt- bibliothek und des Ratsarchivs der Stadt Leipzig. Seit fünfundzwanzig Jahren ist er dabei schriftstellerisch und namentlich auch bei der Heraus- gabe von Zeitschriften thätig ge- wesen. Tausende von älteren Schrift; stücken, tausende von Manuskripten der Gegenwart, die er zum Druck vorzubereiten hatte, sind durch seine Hände gegangen Er hat beobachtet und gesammelt, wie wenige.

Im Heft 12, 1892, der Grenzboten veröffentlicht Wustmann eine Er- klärung gegen Angriffe, die von ver- schiedenen Seiten gegen sein Werk gerichtet worden sind: Randbemer- kungen zu Dr. Wustmanns Allerhand Sprachdummheiten. Untersuchungen über wichtige Gegenstände der deut- schen Sprachlehre von Professor Karl Erbe. Stuttgart, Adolf Bonz u. Komp., 1892. Bechstein in der Zeitschrift für den deutschen Unterricht (VI, 1, S. 64—72).

Jüngst ist noch eine Schrift er- schienen, die sich gegen Wustmann wendet: In tyrannuneulos! Streit- schrift zur Verteidigung der deut- schen Sprachfreiheit von Dr. Karl Kaerger. Berlin, Gergonne u. K. 1S92. »Auf einen groben Klotz ge- hört ein grober Keil« ist das Motto der Schrift. Das sagt viel. Noch genauer hätte der Verfasser seinen Standpunkt bezeichnet, wenn er variiert hätte: . . . >gehört ein schmutziger Keil«. Die Schrift trotzt von Anzüglichkeiten, so dafs man sie nur mit Widerwillen zuende lesen kann. Einen besonderen Hafs scheint Kaerger auf die Schulmeister ge- worfen zu haben. Ausdrücke, wie Schulmeisterzunft , Schulmeisterei, gallige Schulmeister, Schultyrann, bakelschwingcndes Tyrannunkelge-

zücht, scheinen ihm so recht von Herzen zu kommen.

Kaerger heifst alle Neubildungen gut, insofern sie nicht gegen die Logik verstofsen. Doch auch schlechte Neubildungen will er nicht ausge- merzt wissen. Auch der sprachliche Bastard habe eben durch sein Dasein die Daseinsberechtigung. Das sagt genug.

In der FreradwÖrterfrage nimmt Kaerger einen eigenartigen Stand- punkt ein, den er als den Sprach- bereicherungsstandpunkt bezeichnet.

Die Sprache Kaergers ist gesucht originial und erinnert darin an Joh. Scheer und Viktor Hugo. Wir fuhren folgende Ausdrücke an: Mitfahrtner, zusammengepfennigt, vollgegellt, Bu- chjeht, erkecken, Konkretisierung, Verthatsächlichung, die nachsiebziger Zeit, Deutschland hat auch in Über- see festen Fufs zu fassen begonnen, jubelnärrisch , gelachdonnert und gelachhagelt , Entfrcmdwörtcrung, Deutschwort, die Dürft, der Nach- fertiger, die Entthätigung und An- thätigung. Erjährung, Typistik, Sta- tistigramm, Hundner, entreinigen, verunmöglichen, Selbstentfriedigung, eine Etlichkeit, vorbeispielen.

Für Leute, die mir und mich nicht unterscheiden können, ist das Buch nicht bestimmt; aber es setzt auch nicht allzuviel voraus. Zu- nächst ist es für Lehrer berechnet; aber auch Schüler können es mit Vorteil benutzen und jahrelang darin gesunde Nahrung finden. Jedem, jedem, dem es darum gethan ist, ein gutes Deutsch zu reden und zu schreiben, ist es dringend zu em- pfehlen.

Schulitz. Adolf Rüde.

XX.

H. Zemmrloh, Oberl. in Zwickau: Be- darf die Volksschule einer Ver- mehrung der Religionsstunden1 Vortrag u. s. w. Zwickau, R. Zück- ler. 47 S. 8. Preis 60 Pf. Über Veranlassung, Inhalt und Schicksal dieses Vortrags s. oben S. 150.

In demselben wird warm und, wie wir glauben, überzeugend der Nach-

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weis geführt, dafs ein'Vorschlag, der, wenn auch vielleicht unbewufster- weise, auf dem Boden des didak- tischen Materialismus steht, die Schä- den unseres religiösen Lebens nicht heilen kann. Herr Z. geht den noch vorhandenen Erzeugnissen des Ency- klopädismus scharf zu Leibe und legi dann einen Lehrgang für die vier letzten Schuljahre dar. der in den Grundzügen mit Thrändorf und tlen >Schuljahren« übereinstimmt. Kür diejenigen, welche nicht unmittel- bar bei der Vermehrung der Stunden- zahl interessiert sind, ist dieser Ab- schnitt (S. 30—44) wohl der Haupt- teil der Schrift. Was hier vorge- schlagen wird, läfst sich ausführen,

sobald die Lehrer wollen oder

dürfen. Möge die Schrift nach beiden Seiten Gutes wirken!

Leipzig. Fr. Franke.

XXI.

C. Jacobi, Bibel-Atlas zum Gebrauche an Lchrcrseminaricn, Gymnasien und Realschulen, sowie für Geist- liche und Lehrer. Siebente, vollständig umgearb. und erweiterte Aull, des >Atlas zur bibl. Ge- schichte*. Gera, Th. Hofmann, 1891. 9 Karten und 44 S erklären- der Text, 4 °, Pr. 1.20 M.

Hilfsmittel für den Religionsunter- richt, wie das vorliegende, sind ein Bedürfnis, welches noch lange nicht genügend erkannt ist. Sie recht- fertigen sich aus der didaktischen Forderung, dafs auch ein so eminent gesinnungsbildendes Fach, wie der Religionsunterricht, einer klaren Er- fassung zunächst der äufseren, vor allem der kulturellen Verhältnisse bedarf, wenn es seinen Zweck voll und ganz erreichen will. Das ist umsomehr der Fall, als unserem Em- pfinden jene entfernten Zeiten und Räume zunächst fremd sind wir uns mit Sorgfalt in dieselben einleben müssen, bevor wir den Kern der Handlungen erfassen können, welche in und auf ihnen sich abspielten.

Der Bibel-Atlas will indes nur die geographischen Seiten des Unter- richts in der bibl. Geschichte fördern helfen. Daraus kann man dem Verf.

keinen Vorwurf machen. Aber der Gedanke wäre bei einer neuen Be- arbeitung zu erwägen, ob die rein geographischen Artikel des erläutern- den Textes (es sind mehr als 450I nicht einer gründlichen Auswahl unterzogen werden könnten, um an Stelle der ausgeschiedenen solche über kulturelle im engeren Sinne) Verhältnisse treten zu lassen. Es würde so ein Hilfsmittel im kleinen entstehen wie es Rieh ins biblisches Handwörterbuch im grofsen ist. Sonst ist der Schüler der höheren Schule doch gezwungen, das Fehlende sich auf andere Weise zu verschaffen. Es wird sich bei genauerem Zusehen gewifs ergeben, dafs viele unrichtige geographische Objekte durch weit wichtigere aus dem damaligen Leben ersetzt werden können, ohne dafs sich der Umfang wesentlich ver-

Söfsert. Einige gute Cliches von egenständen der damaligen Kultur, ohne die es allerdings nicht abginge, würden wohl auch leicht zu erwerben sein.

Zu dem Bibel-Atlas, wie er jetzt vorliegt, wäre aber noch in Kürze zu bemerken 1) zum erläutern- den Text: Die Erläuterungen sind unglcichmäfsig Athen und Babel ('S. 11 kommen beispiels- weise viel schlechter weg als Xaloth oder Zoar (S. 46t, ersteres mit dürf- tigen geogr. Angaben, letzteres mit einer einzigen ethymologischen An- merkung. Selbst wenn man sich auf eine eingehende Behandlung dieser Orte in der Profangeschichte berufen wollte, so wären doch in diesem Handbuche mindestens die Punkte kurz und prägnant anzugeben, welche die Beziehungen zur bibl. Geschichte aufdecken, bei Athen z. B. die eigentümliche geistige Ver- fassung der Gemeinde, zur Zeit der Wirksamkeit des Paulus, bei Babel das, was einem Teil der Juden das Exil unerträglich gemacht, andere ihr Vaterland vergessen liefs u. s. w. Ferner sind die Erläuterungen un- vollständig: Samaria und Peräa sind gar nicht genannt, Galiläa und Judäa ausführlich behandelt. Und doch ist Samaria, selbst seiner Lage nach rein geographisch aufgefafst,

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für so manche eigentümliche Er- scheinung im Verhalten der Juden, im Auftreten Jesu u. s. f. von Be- deutung. 2) Zu den Karten: Warum fehlt eine Karte von Ägyp- ten? Gosen ohne Zusammenhang mit dem ganzen Lande ist für das Verständnis schwer zu fassen, auch geographisch abgesehen von dem kulturellen Hintergründe. Wie in anderen Atlanten, so fehlt auch bei der vorliegenden Karte von Palä- stina (No. 4) bei der Darstellung der Depression eine Darstellung der raschen Senkung. Die Schichten über dem Meeresspiegel werden von 200 zu 200 m mit anderen Farbentönen bezeichnet, warum nicht auch die unter dem Meeresspiegel? Diesen Fehler findet man allgemein. Für die beiden Stadtpläne von R. Jerusalem (No. 6 u. 7) sind ver- schiedene Mafsstäbe gewählt. Das erschwert den Vergleich der Aus- dehnung der Stadt zur Zeit des Titus und in der Gegenwart ganz wesentlich. Karte No. VIII ist in der Farbengebung zu grell. Die Reisen des Paulus durch Macedonien und Achaia sind kaum kenntlich.

Doch mögen diese und manche andere Mängel in erster Linie auf Rechnung des niedrigen Preises (M. 120) zu schreiben sein. Jedenfalls ist die Erweiterung dieser Auflage durch den Text und die Beigabe einzelner Karten ein Fortschritt und der Bibel- Atlas auch was die Ausstattung be- trifft preiswert; er kann zum Ge- brauche auch schon in seiner jetzigen Form wohl empfohlen werden.

Jena.

E. Scholz.

XXII.

Deutsche Gedichte nebst einem An- hange von Sprüchen, Sprichwörtern und Rätseln zum Auswendiglernen. Zusammengestellt und herausge- geben von Dr. Johannes Nieden, Konrektor. Preis: geb. 1 M. Strafs- burg i. E. Verlag von E. Lindner. 1891. V u. 186 S. 8 °.

Das Buch, dessen Einführung vom Kaiserlichen Obcrschulrat gestattet ist, ist für Mittelschulen, besonders

wohl für zehnklassige höhere Mäd- chenschulen bestimmt. Es wird aber auch Seminaristen und Semina« ristinnen sehr gut bekannt machen mit dem poetischen Stoß', in den diese ihre zukünftigen Schüler ein- zuführen haben. Die Gedichte sind nach zuverlässigen Quellen der Kaiserlichen Universitäts-Bibliothek zu Strafsburg i. E. herausgegeben; einzelne wurden, da es sich hier um eine Schulausgabe handelt, gekürzt.

Die Ausgabe bezweckt, die sich für die Schule eignenden Gedichte stets beisammen zu haben auch dann, wenn einzelne Teile des Lese- buchs abhanden kamen. Es können auf diese Weise die in früheren Schuljahren gelernten bequem wie- derholt werden. Das Wertvollste des Schullesebuchs das Dichter- wort — prägt sich so gewisser ein und ist in seiner Wirkung sicherer. Die Auswahl der Gedichte ist bei den bestehenden verschiedenen Richtungen und Neigungen nicht leicht. Mancher vermifst wohl auch das eine und andere z B. »Der Wegweiser« und >Der Winter« von Hebel, P. Gerhardts »Sommerlied«, Bürgers >Lied vom braven Manne«, Geroks »Zum neuen Jahr«, Freilig- raths »Löwenritt«, Körners »Aufruf«. Für diese bringt die Sammlung andere Goldkörnlein. Was sie giebt ist mit einem feinen Verständnis der Kindesnatur und des reichen Schatzes der Litteratur ausgewählt. Der Standpunkt des Herausgebers ist bei allem Vorwiegen einer gesunden Religiosität kein frömmelnder. Das Buch giebt mehrere Beweise eines solchen, vorurteilsfreien Blickes. Nicht alles Gegebene ist in der Schule bekannt; aber alles dürfte sich bald Heimatsrecht in ihr er- werben. Mit Recht sind Kindes- lieder, Sprüche, Sprichwörter und Rätsel aufgenommen; erstere wer- den zu einer Erinnerung an die schöne Kinderzeit, häufig sind sie ein Schatz und Schutz für kommende bewegte Tage; letztere sind ein aus- gezeichnetes Mittel, die Schüler in Spannung und eifriges Suchen zu versetzen. Das eine und das andere Gedicht blieb vielleicht weg.

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weil der Herausgeber in erster Linie weniger für Knabenschüler arbeiten wollte.

Das Buch wird nicht nur während der Schulzeit, sondern auch nach derselben von Segen sein, das Schul-

buch wird zu einem viel gebrauchten Familienbuche werden.

Die Ausstattung (Druck und Papier), welche für das Auswendiglernen nicht bedeutungslos ist, ist recht gut und der Preis ein niedriger.

D. Anzeigen.

i.

Alumneuma Erinnerungen von einem alten Kreuzschüler. Leipzig, Gru- now. 1,50 M.

Der Verfasser, von 1854—1862 Alumnus der Kreuzschule in Dres- den, schildert mit grofser Treue die häusliche Einrichtung und das täg- liche Leben der damaligen Alumnen, die Verfassung und die mannigfachen Pflichten und Leistungen des Sänger- chores unter dem Kantor Julius Otto, endlich die Verpflegung und die bescheidenen Genüsse und Ver- gnügungen. Da viele dieser Ein- richtungen noch Reste alten Kloster- schullebens waren, die bald darauf mit der Übersiedlung in das neue Haus verschwanden, so bildet das Büchlein einen höchst interessanten Beitrag zur deutschen Schulge- schichte.

II.

Müller und Piding Deutsche Schul- flora zum Gebrauch für die Schulen und zum Selbstunterricht. I. Teil. Verlag von Th. Hofmann in Gera, gr. 8 °.

I* lora von Deutschland. Illustrier- tes Pflanzenbuch. Anleitung zur

Kenntnis d. Pflanzen etc. von Dr. W. Medicus. Lief. 2 u. 3. 8 °. Aug.

Gotthold in Kaiserslautern.

Das Müller und Pillingische Werk soll 240 unsrer gewöhnlichsten ein- heimischen Pflanzen in bunten Habi- tus-Bildern und Blütenanalysen zur Anschauung bringen. Im Anschlufs daran erscheinen 2 Texthefte, die von Bau, Leben und Pflege der Pflanzen, sowie von der Verwendung der Tafeln beim Unterricht handeln werden. Der mir vorliegende erste Teil enthält 48 Tafeln, welche meist der Darstellung je einer Pflanze ge- widmet sind und aufser dem deut- schen und lateinischen Namen und dem Platz der dargestellten Pflanze im Linntischen System eine kurze Figurenerklärung iühren. Die Bilder sind in Farben und Zeichnung sehr ansprechend und wohl geeignet, das Interesse an der Pflanzenwelt zu be- leben und dem Laien ihr Studium zu erleichtern.

Den Abbildungen der neuen Liefe- rungen des Medicusschen Werkes wäre eine etwas sorgfältigere Aus- führung zu wünschen.

Jena. Büsgen.

halben Druckbogen semer Broschüre dem Organ des Vereins, an dessen Adresse sie ja gerichtet ist, dargeboten und an der Diskussion teilge noinmen, so wäre die schriftliche Kritik am Ende vielleicht ganz über- flüssig geworden. Durch persönliche Berührung kann gar mancher Zwist im Keime erstickt werden, die Isolirung aber leistet unter gewissen Umständen der Entwicklung von Feindschaften Vorschub. Und das ist doch im Interesse des Lehrstandes zu beklagen. Denn wenn die Re- gierungen wahrnehmen, dass auch unter Mannern, welche eine gemein- same Grundanschauung haben, die Meinung derjenigen, welche Pädagogik für ein Aggregat von individuellen Ansichten halten, bekräftigt wird, dann können sie sich für berechtigt halten, zur Beendigung des Streits auch rein pädagogische Entscheidungen zu treffen und die Standesautonomie der Lehrerschaft muss darunter leiden.

Wien, 25. Juni 1892.

Theodor Vogt.

Einstweilige Anzeige.

Thüringische Versammlung

von

Freunden der tierbartisclien Pädagogik im Herbst d. J. zu Erfurt Anmeldungen nimmt der Unterzeichnete entgegen. Jahres- beitrag 1 Mark. (Siehe „Pädag. Studien" 1892, 1. Heft.) Nähere Mitteilungen im 4. Heft dieses Jahres. Tagesordnung:

1. Lehrerbildung. 2. Schul Verfassung;. 3. Mitteilungen aus dem Seminar Herbarts

Jena. W. Rein.

Neu eingegangene Bücher

H. T. Luken«, Die Vorstellungsreihen u. ihre päd Bedeutung. Gütersloh, Bertelsmann.

Helmke, Die Behandlung jugendlicher Verwahrloster etc. Halle Schroedel Steokel, Allg. Heiniatakunde, Ebenda».

Braune, Ergänzungsheft zu d. Rechenbuch für Volksschulen. Ebenda«.

De Garmo, Ethical Training in the Public Schools. Philadelphia 1SU2.

L'lntermedialre des chercheurs et curieux. Paris 1S92.

Grohmann, das Obererzgebirge etc. Annaberg, Graser.

Freye, Mind Charts. San Bernardino California. 1891.

Butler, Educational Review. New- York, Holt and Comp.

The Forum. New-York 1891.

Das Übersetzen ins Griechische u. Lateinische. Berlin 1892. Reinhardt, Die Frankfurter Lehrpläne. Frankfurt a. M., Diesterweg Böhme, Rechenbücher 7. u. b. H. Berlin, Müller. Tröger, Kleine i'ranzös. Sprachlehre. 1. u. 2. T. Breslau, Kern. Brandes, Beschreibung, Zeichnung, Modell, Natur. Holzminden, Stock. Latt, Gedächtnisblatt zum 300jähr. Geburtstag des Comenius. Bielefeld Helmich.

Schneider, Die Schrift und der Schreibnnterricht. Ebenda».

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Gressler. Der Schulgesetzentwurf. Bielefeld, Helmich. Tews. Der preuss. Schulgesetzentwurf. Leipzig, Klinkhardt. Beyschlag. Gegen die neue Volksschulgesetz-Vorlage. Berlin, Walther Hacket, Die Weltanschauung des neuen Kursus. Freie Buhne, Berlin,

Fischer.

Richter, Gegen den neuen Entwurf des Volksschulgesetzes. Berlin 92. Oelbriiok, Der preussische Volksschulgesetzentwurf. Jena. Fischer. Religionsunterricht in der Volksschule etc. Strassburg, Schmidt. Joel. Moral, Religion u. .Schule. Stuttgart, Cotta

Rein Zur Schulgesetzgebung. Deutsche Rundschau. Aprilheft. Berlin, Patel.

Dörpfeld, das Fundamentstück etc. Hilchenbach, Wiegand. Hentschel. 10. Jahresbericht über die Thatigkeit -1er Handarbeits-Schule zu Zwickau.

Ricken. Eletnentarbuch der französ. Sprache. Berlin, Gronau.

Grohmann. Das Obererzgebirge uud seine Hauptstadt Annaberg in 8age u. Geschichte. 2. H. Annaberg, Graser.

Rothfuchs, Bekenntnisse aus der Arbeit des erziehenden Unterrichts Mar- burg. El wert sehe Buchhandlung.

Ganser, Schule u. Staat. Graz, Leuschner u. Lubensky.

Sohmarje, Das Katechet. Lehrverfahren. 2. A. Flensburg Westphalen.

Franks, Schulwörterbuch. Leipzig, Wartig.

Sprockhofs kleine Anthropologie. Hannover. Meyer.

Schaarschmidt. Bibl. Geschichten. Braunschweig, Appelhans u. Pfennigstorff. Richter, Geschichtsbilder. Leipzig, Wartig. Sprockhofs Grundzüge der Anthropologie. Hannover, Meyer. Baenitz-Kopka, Lehrbuch der Geographie. Bielefeld u. Leipzig, Velhagen

U. Klasing.

Ohlert. Schulgrammatik d. franz. Sprache. Hannover, Meyer. Ohlert, Lese- u. Lehrbuch der franz, Sprache. Ebenda». Buchners, Sammlung französ. Lehrmittel. Bamberg, Buchner. Ohlert Der Unterricht im Französischen. Hannover, Meyer. Ohlert. Französ. Lesebuch. Ebendas. Eschweiler, Haus u. hule. Bielefeld, Helmich Meyer-Markau, Sammlung päd Vortrage. Bielefeld, Helmich.

1. v. Schenkend ort? über die Ziele des deutschen Vereins für Knabenhandarbeit.

i. Meyer- Markau, Das entschleierte Bild des Volksschullehrers.

3. Hochegger. Uber die Knltnrantgabe des Lehrers u. die Notwendig- keit eines freien Lehrerstandes. Petzold, Leitfaden für deu Unterricht in der astron. Geographie, Bielefeld

u. Leipzig, Velhagen und Kissing. Blbliotheca Paedagogica. Köhler, Leipzig.

Lambeck. Handwörterbuch der engl. u. deutschen Sprache. Leipzig, Ree 1 am.

Müller Vierstellige Logarithm.-Tafeln. Stuttgart, Maier.

Linnarz, Methodik des Gesang- Unterrichts. Minden i. W., Manowsky.

Stotzner, Ratichianische Schritten I. Leipzig, R. Richter.

Wiget, Die formalen Stufen des Unterrichts. 4. Aufl. Chur, Rieh.

Univernity Extension. New- York. Haseltine Shinn.

Butler, Educational Review. New-York, Holt and Co.

Dörpfeld, Ev. Schulblatt. Gütersloh, Bertelsmann.

Meyer, Neue Bahnen. Gotha, Behrend.

Wunderlioh, III. Grundriss der geschichtl. Entwicklung des Zeichenunter- richtes. Erlen berger, Stuttgart.

Diesem Heft liegt ein Prospekt von Wilhelm Emmer in Berlin bei,

welchen wir besonderer Beachtung empfehlen. D. V.

Druck von <i. Püti in Naumburg ». 8.

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i

e Studien

Neue Folge

Herausgegeben

von

Dr W. Rein

Professor a. '1. L'm'vern'täC Jma

XIII Jahrgang Viertes Heft

Inhalt

A Abhandlungen: Dr. Karl Ernst, Theorie und Praxis im päda- gogischen Seminar.

B Mitteilungen: i. C. Ziegler, XI. Kongrcfs für erziehliche Knaben- handarbeit zu Frankfurt a. M. 2. Fr. Franke, Hauptversammlung des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik. 3 Mathes, Der geographische Unterricht auf der „IV. Stufe". 4- Dr. B. Maennel. Vom IX. Deutschen Lehrertage zu Halle a. S. 5. Herbart. Ideen zw einem pädagogischen Lehrplan für höhere Schulen. 6. G. K e 1 1 e r , Der grüne Heinrich. Berlin 1889. 7. Aus dem Pädagogischen Universitäts-Seminar zu Jena.

C Beurteilungen: Robert Werneckc (F. Hollkamm).

Dresden

Verlag von Bleyl & Kaemmerer

iPanl Th. Kümmerer)

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I

Heric litte miir.

In meiner Besprechung der Wustmannschen und der Kaergerschen Schritt (III. lieft 1892. 3. ih7— 1^/ hat der Setzer einen Abschnitt an eine unrichtige Stelle gebracht, wodurch der Sinn entstellt worden ist. Was hier aU letzter Abschnitt erscheint, gehört hinter: „Er hat beob- achtet wie wenige* (S. 189) bezieht sich also auf Wöstmanns, nicht

Verein der Freunde herbartischer Pädagogik in Thüringen.

Schon vor Jahren auf der Vorversammlung zu Nürnberg Pfingsten 18£K*) hat der Unterzeichnete darauf hingewiesen, wie notwendig on sei, die Organisation des Vereins für wissenseh. Pädagogik dadurch zu vervollkommnen, dafs das über Deutschland ausgespannte Netz von Zweig- vereinen in verschiedene Gruppen zusammengeschlossen werde, die die Vereinigung der gleicbgesinnten Lehrer an den verschiedenen Anstalten und einen regen Gedankenaustausch zwischen den Freunden der herbax- tischen Pädagogik innerhalb bestimmter Provinzen und Landschaften sich zur Aufgabe stellen.

Mehrere solcher Gruppen entfalteten in den letzten Jahren ein reges pädagogisches Leben. So der Verein für berbartische Pädagogik in Rhein- land "und Westfalen, in Sachsen, Posen und Schlesien, in Unterfranken, in der Schwei/, n. s. w.

Eine ähnliche Verbindung bildeten seit einer Reihe von Jahren die Zweigvereine Altenburg, Halle, Leipzig und Jena. Auf der letzten Zusammenkunft in Weifsentels im Herbst 1891 wurde der Gedanke an-

Mit der Vorbereitung auf die erste Thüringische Versammlung, die im Herbst 1K92 stattfinden soll, wurden Dr. Glockner-Leipzig und Prof Rein -Jena beauftragt.**)

Letzterer gestattet sich nun, die Herbartfrennde Thüringens zu einer Versammlung nach Erfurt auf den 22. und 23. Oktober d. J. einzu- laden, um die endgiltige Einrichtung des Vereins für Mitteldeutschland zu schaffen

Anmeldungen nimmt schon jetzt der Unterzeichnete entgegen. Jena, im September I8t»2.

Als Gegenstände der Verhandlung sind in Aussicht genommen:

1. Die LehrerblldungBfrage (Direktor Dr. Wo hlrabe-Halle a. S.)

2. Die Schul verfa«nunffBf rage. (Direktor Tr tiper- Jena.)

X. Mi (teil ii iigt-n aus dem Päd. Seminar Herbarts in Königsberg von Dr. Kehrbach-Berlin.

Ort der Versammlung: Erfurt- Vogels Garten. Vorveraammlung: Sonn- abend, d. 22. Okt. Abend* 8>/e Uhr: Hauptversammlung: Sonntag, d. 23. Okt. Vorm. 11 Uhr. Über Wohnungtn erteilt Auskunft Herr Brandt- Erfurt,

*) S. Ertiluteruatfcii »um Jahrbncli XX, S. U.

Mittler» olle Ist Herr Ut. Olüokmr- Leipcig inrtickgetretf-n, da «ine ähnlich« V«r« elnlRuruf für daa K tilKr«lch Sachen Im Werke IM.

"*) NÄhert« wird Anf«ny Oktober <lur, h eine b*«ondere KinUdungBMhrifl <\eu MltglieiU-rn bekannt gatuaotu wor l. ti.

Kaergers Schrift.

Adolf Rüde.

Prof. Dr. W. Rein.

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A. Abhandlungen.

Theorie und Praxis im pädagogischen

Seminar.

Von Dr. Karl Ernst.

Motto: »Wer da weifs Gutes zu thun, und thut e* nicht, dem ist es Sünde« CJak. 4, 17).

Der Volksschulmethodik ist in der letzten Zeit von hochan- sehnlicher Seite viel Schmeichelhaftes gesagt worden, man hat den Gymnasiallehrern die sorgfältig durchgebildete Lehrweise der Volksschule als Muster hingestellt und die Methodik, wie sie an den Gymnasien herrscht, als eine zurückgebliebene bezeichnet. Solche Urteile sind als Zeugnis für das auf den stolzen Höhen des humanistischen Gymnasiums aufkeimende pädagogische Interesse höchst erfreulich, aber für die Volksschule und besonders für die Lehrersrminare könnten sie leicht gefährlich werden, denn nichts ist ja einer gesunden Weiterentwickelung verderbenbringender als der Wahn, dafs man's bereits so herrlich weit gebracht habe. Sollte sich nun vollends herausstellen, dafs die Urteilenden ihre günstige Meinung mehr aus Büchern über die Volksschulmethodik als aus der Anschauung der Praxis gewonnen haben, und dafs zwischen den schönen Theorien, wie sie in Schulkunden und Leit- fäden paradieren, und der Praxis, wie sie in der Niederung des alltäglichen Seminar- und Volksschulunterrichtes geübt wird, ein himmelweiter Unterschied besteht, so wäre ein verfrühtes Aus- ruhen auf den Lorbeeren Pestalozzis, Diesterwegs und anderer Meister nur um so verhängnisvoller.*)

*) Ein Artikel in den Grenzboten »Die 1 Volksschullehrer und die Volksschule» (51. Jahrg. No. 19) könnte etwas ernüchternd wirken, wenn er nicht in der Kritik zu rasch verallgemeinerte und in seinen positiven Vor- schlägen zu armselig wäre.

Pädagogische Studien. IV. 13

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Dafs die Volksschulen in den letzten Jahrzehnten ganz wesent- liche Fortschritte gemacht haben, wird kein Billigdenkender in Abrede stellen wollen, aber mit den Leistungen sind zugleich auch die Anforderungen gewachsen, die die Gegenwart an die Schule stellen mufs. Früher genügte es, wenn der Volksschüler leidlich lesen, schreiben und rechnen gelernt hatte und seinen Katechis- mum samt den nötigen »Beweisstellen, Kernliedern« und biblischen Geschichten gut auswendig wufste, jetzt verlangt man, dafs ein der Schule entwachsender Jüngling etwas Verständnis und Interesse für seines Vaterlandes grofse Vergangenheit und für die Einrich- tungen und Vorgänge des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens erlangt hat, man wünscht, dafs religiöses Fühlen und Denken in seinem Herzen einigermafsen Wurzel geschlagen hat, und er den Angriffen einer materialistischen Sozialdemokratie nicht ganz wehr«- los gegenübersteht. Kurz zusammengefafst lautet die Forderung der Gegenwart an die Volksschule: Mehr Bildung und weniger blofser Gedächtniskram, mehr Erziehung und weniger Abri chtung!

Zur Lösung dieser Aufgaben bedarf der Lehrer ein hohes Mafs psychologisch-pädagogischer Bildung. Diese Bildung in immer höherem Mafs zu erlangen ist eine Lebensaufgabe für den rechten Lehrer, die pädagogischen Seminare haben die Pflicht, ihren Zög- lingen zur Lösung dieser Aufgabe die rechten Wege zu zeigen und ihnen zur Überwindung der Anfangsschwierigkeiten behilflich zu sein. Nun sind aber alle derartige Veranstaltungen zu einer planmäfsigen Einführung junger Leute in die Kunst des Lehrens und Erziehens sehr jungen Datums ; daher ist es ganz natürlich, wenn man auf diesem schwierigen Gebiete vielfach noch nicht allzuweit über das Stadium des Versuchens und Probierens hinaus- gekommen ist. Wollte man nun die Diskussion über die zu lösenden Probleme jetzt schon einschlafen lassen, so würde man der Sache selbst den gröfsten Schaden zufügen. Viel besser ist's, man folgt dem Rate, den Luther seinem Kurfürsten in Bezug auf die Behandlung der Sekten gab: >Man lasse die Geister auf einander platzen und treffen. Werden etliche indes verführet, wohlan so geht's nach rechtem Kriegslauf: wo ein Streit und Schlacht ist, da müssen etliche fallen und wund werden ; wer aber redlich ficht, wird gekrönt werden.« Der wissenschaftliche Streit, der die Erkenntnis zu fördern sucht, darf ja nicht ver- wechselt werden mit dem sittlich absolut mifsfälligen Streite der Willen *), denn wenn bei einer solchen theoretischen Auseinander- setzung die Gesinnung die rechte ist, so sind die Willen der Streitenden einig in dem Streben nach der objektiven Wahrheit,

*) Zillcrs Ethik (i. Aufl.) S. 197. Vergl. Lieb mann, Analysis der Wirklichkeit, Seite 671, Anmerkung.

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und wo das der Fall ist, gilt Lcssings Behauptung*): Es sei, dafs noch durch keinen Streit die Wahrheit ausgemacht worden : s o hat dennoch die Wahrheit bei jedem Streite gewonnen. Der Streit hat den Geist der Prüfung genährt, hat Vorurteil und Ansehen in einer beständigen Erschütterung erhalten; kurz, hat die geschminkte Unwahrheit verhindert, sich an der Stelle der Wahrheit festzusetzen.« Daher wird jeder Lehrer, dem es ernst ist mit den heiligen Aufgaben seines Be- rufes, eine sachliche und nicht blofs negierende, sondern auf- bauende Kritik über die Art der Einführung in die Praxis und Theorie der Pädagogik dankbar begrüfsen und den Kritiker nicht als Feind, sondern als getreuen Mitarbeiter betrachten.

Bevor man sich über die Wege, die zur bessern methodischen Ausbildung der Lehrseminaristen einzuschlagen sind, verständigen kann, mufs man sich über das Ziel, das einem pädagogischen Seminare nach dieser Seite hin gesteckt werden kann und darf, klar sein. Vollendete Schulmeister, das ist wohl selbstver- ständlich, kann kein pädagogisches Seminar entlassen, auch der methodische Charakter bildet sich erst im Strome der Welt. Die Frage kann also nur lauten : Was mufs das pädagogische Seminar den abgehenden Zöglingen mitgeben, damit sie befähigt sind, mit der Zeit tüchtige Schulmeister zu werden? In seiner Rede »Vom wahren Fortschritt in der Schule« sagt Herder: »Wer die Sache fafst, hat den Verstand der Sache ; sein Verstand ist auf- geschlossen; er spricht mit seinen eigenen Worten, was er erkennt, aus; Lust und Freude ist in ihm; er darf nicht ge- zogen werden; der innere Verstand der Sache zieht ihn; er mufs hervorgeben, was er einsah, was er mit Wohlgefallen nicht etwa nur. sondern mit Inbrunst erkannte. Diese Funken des Er- kennens sind himmlische Funken, semina aeternitatis. Wer blofs das Bild der Sache hat, kann auch und zwar sehr ange- nehm diskurieren ; Bild aber ist einmal nicht die Sache ; vom Bilde diskurieren und genossene Wahrheit anschauen, ist nicht dasselbe. Worte endlich hersagen, gut und bestimmt hersagen, ist gut und mag gut sein, gerade aber nur für die, die an der Sache oft am wenigsten teilnehmen; sie werden also ge- trieben und müssen getrieben werden, weil der Geist sie nicht weckt, weil keine innere Zuspräche zwischen dem zu Er- kennenden und unserer Erkenntnis durstigen Seele sie zum Ge- nufs zwingt und einladet.« Was sind aber auf pädagogischem Gebiete solche himmlische Funken, solche semina aeternitatis ? Sind es die aufgespeicherten Schätze des Examenwissens in Psycho- logie, Geschichte der Pädagogik, allgemeiner und spezieller Metho-

*) »Wie die Alten den Tod gebildet,« Vorrede.

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dik u. s. \v. ? Schwerlich! Es ist eine bekannte, kaum ernstlich von irgend einem Sachverständigen geleugnete Thatsache, dafs keine Art von irdischen Schätzen so vergänglich ist, wie die in den Kammern des Gedächtnisses aufgespeicherte Examenweisheit. Was nur des Examens wegen gelernt wird, ist für die meisten wenige Wochen, höchstens Monate nach dem Examen in alle Winde verflogen, von aeternitas also keine Spur. Oder soll der abgehende Seminarist feste Lehrgewohnheiten mit hinausnehmen ins Leben? Nun, wenn die Gewohnheiten gute sind, so wäre das so übel nicht; aber die Hauptsache ist es nicht. Blofse Gewohn- heiten vollends ohne methodisches Urteilen und Denken machen den Anfänger im Lehramte zur Kopie seines Lehrers, seinem Thun fehlt dann die Frische der Selbständigkeit und der Trieb zum Weiterstreben; daher fordert Herder in der bereits ange- führten Rede mit Recht: >Jeder Lehrer mufs seine eigene Methode haben, er mufs sie sich mit Verstand erschaffen haben, sonst frommt er nicht.« Selbstverständlich hat Herder damit nicht sagen wollen, dafs jeder Lehrer eine besondere nur ihm eigentümliche, von allen andern abweichende Methode haben müfste, denn das hiefse nichts mehr und nichts weniger, als von jedem Lehrer fordern, dafs er ein pädagogisches Originalgenie sei; vielmehr ist der Sinn der Forderung offenbar der: Wer mit Ein- setzung seiner ganzen Person wirken soll, dem müssen die Grund- sätze und Richtlinien seines Wirkens zu einem Bestandteil seines Ich, seines innersten Wesens geworden sein. Das können sie aber nur werden, wenn sie ein Erzeugnis eigenen Forschens und Nachdenkens sind. Sind sie das, dann wird dem Thun eines solchen Lehrers die innere Lust und Freude nicht fehlen, von der oben die Rede war, dann wird der innere Verstand der Sache ihn ziehen, hervorzugeben, was er >mit Inbrunst erkannte« . Diese Selbständigkeit des Urteilens, diese innere Lust und Freudig- keit des Thuns, das sind jene Imponderabilien, die durch kein noch so peinliches Examen nachgewiesen werden können, und die dennoch die beste, bleibendste Frucht eines guten Unterrichts sind. Aufgabe des pädagogischen Seminars ist es also, das Her- vorwachsen eines solchen in der eigenen Erfahrung und dem eigenen Urteilen des Zöglings wurzelnden pädagogischen Ge- dankenkreises vorzubereiten und zu fördern.

Wie geschieht das? Dogmatische Darbietung eines psycho- logischen und pädagogischen Systems, selbst wenn sie nicht in dozierender, sondern in frageweise »entwickelnder« Form erfolgt, kann durch sich selbst lebendiges pädagogisches Urteilen und Denken nicht erzeugen. Der abgeschnittene Gipfel eines Baumes treibt keine Blüten und Blätter. Ein vorgetragenes oder »ent- wickeltes« System wird im Examen pflichtschuldigst reproduziert werden und seinem glücklichen Besitzer eine gute » Zensur in

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Pädagogik c einbringen, aber Leben, pädagogisches Leben kann es ihm nicht einflöfsen. Nur wenn die Grundelemente des Systems aus der lebendigen eigenen Erfahrung stammen, wird das System triebkräftig und für die Schulthätigkeit wirkungsvoll sein.

Pädagogische Erfahrungen hat jeder Schüler in reichem Mafse gemacht, längst bevor er zum Nachdenken über unterrichtliche Fragen und Erziehungsaufgaben angeregt wurde, denn viele Jahre lang hat er bereits unter den Einwirkungen der Erziehung und des Unterrichts seiner Lehrer gestanden. Aber so wertvoll diese Erfahrungen auch sind und so wichtig es daher auch ist, dafs im Seminar ein pädagogisch wohl angelegter Unterricht erteilt wird, zur Grundlage für den Aufbau des Systems wird man diese Er- fahrungen doch nicht machen können, denn sie sind doch ein- seitig nur die Erfahrungen dessen, auf den eingewirkt wurde, und aufserdem fehlte diesem noch vollständig das rechte Beobachtungs- organ, mittelst dessen er am Erfahrungsobjekt das Wesentliche vom Zufälligen scheiden mufste. Daher werden die Erfahrungen der eigenen Schulzeit am besten erst nachträglich, wenn Teile des pädagogischen Gedankenkreises sich bereits gebildet haben, von diesen aus apperzipiert.

Auch die Grundwissenschaften der Pädagogik, Psychologie und Ethik, sind dem Schüler, der in die letzten Seminarklassen eintritt, nichts völlig Neues. Die Ethik hat sogar im Religions- unterrichte eine sorgfältige Behandlung erfahren, und die Haupt- grundzüge einer empirischen Psychologie haben sich bei ver- ständiger methodischer Behandlung des Gesinnungsunterrichtes und der Litteraturkunde von selbst ergeben. Sind die Einzelsysteme, die sich dort zunächst zerstreut vorfanden, sorgfältig gesammelt und geordnet worden, und wird der Sinn für Selbstbeobachtung in rechter Weise wachgerufen, so verfügt der Schüler sehr bald über ein gut Stück lebendigen psychologischen Wissens. An diesen soliden Unterbau kann dann der Psychologieunterricht weiterführend anknüpfen, und die Pädagogik kann ihre Folgerungen ziehen.

Die bei weitem reichste und beste Nahrung wird aber ein guter Pädagogikunterricht aus der Cbungsschulpraxis ziehen müssen. „Jeder erfahrt nur, was er versucht," soll also der Praktikant eines pädagogischen Seminars richtige Erfahrungen sammeln als Grundlage für ein späteres System, so mufs ihm Ge- legenheit und Anleitung gegeben werden, richtige Versuche zu machen und die Erfolge solcher Versuche zu beobachten. Der Übungsschulthätigkeit gegenüber treten alle andern Veranstaltungen zur praktischen Ausbildung des Seminaristen völlig zurück und nehmen nur eine dienende Stellung ein. Von ganz bestimmten Teilzielcn, wie sie die Praxis der Übungsschule bietet, mufs aus- gegangen werden, ein solches Ziel mufs dem Zögling als das erste

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pädagogische Problem hingestellt werden, was er mit Hilfe des Lehrers zu lösen hat. Hier hat er seinen Scharfsinn zu erproben und der Lücken seines Wissens und Könnens sich bewirfst zu werden, das wird ihn empfänglicher machen für die Anweisungen und Handreichungen seines Instruktors. Die Fragen der allge- meinen Pädagogik, der höchsten Prinzipien des Unterrichts existieren auf dieser Anfangsstufe tür den Praktikanten noch gar nicht. Erst wenn eine reiche Erfahrung und vielseitigeres päda- gogisches Nachdenken wiederholt zu verwandten Grundsätzen und Verfahrungsweisen geführt hat, erst dann werden die übergeord- neten Reihen ausgebildet. Und bringt's das Seminar nicht zu einem völlig abgeschlossenen System, nun so ist der Schaden auch nicht zu grofs. Die Fülle der Anschauungen, die er gewonnen und denkend verarbeitet hat, setzen den Abgehenden vollkommen in den Stand, nun eine systematische Darstellung der Pädagogik allein zu studieren und zu verstehen.

Die eigentliche Kerntrage für ein pädagogisches Seminar lautet also: Wie mufs die Übungsschule eingerichtet und be- nutzt werden, damit der Anfänger in ihr und durch sie die rechten Grundlagen für sein praktisches Können und theoretisches Verstehen gewinnt?

Die Vorläufer der Obungsschulen waren die berüchtigten > Katechesenjungen«, die für Geld gemietet wurden, damit Theo- logiestudierende an ihnen ihre Kunst im Abfragen, Zergliedern und Beweisen gewisser Katechismussätzc erproben konnten. Dafs das ein durchaus unerlaubtes Experimentieren mit Kindesseelen war, sah man nicht ein, dafs eine solche Verwendung des religiösen Unterrichtsstoffes als blofses Übungsobjekt durchaus unwürdig war, fühlte man nicht. Das charakteristische Merkmal dieser Einrich- tung, die übrigens an vielen Universitäten noch immer fortlebt, besteht also darin, dafs es auf eine wirkliche, planmäfsige Bildung des als Übungsobjekt dienenden Schülers gar nicht abgesehen ist Seine Bildung erhält der Katechesenjunge in seiner Schule, hier in der Katechesenstunde ist er nur das an sich gleichgültige Ob- jekt, an dem der Praktikant sich übt. Durch die Gründung der Übungsschulen an den Seminarien hat man prinzipiell mit diesem System gebrochen. Man hat ausgesprochen, dafs alles, was mit dem Schüler vorgenommen wird, seinen Zweck im Schüler haben mufs, nicht aufser demselben. Eine rechte Übungsschule ist eine Erziehungsschule, in welcher Anfänger im Erzieherberufe unter steter Aufsicht von erfahreneren Lehrern ihres Amtes walten und sich dadurch für die spätere selbständige Amtsführung tüchtig und geschickt machen.

Man hört auch bisweilen die Forderung aussprechen, die Übungsschule müfste eine Musterschule sein. Nun recht ver- standen ist dieser Forderung sehr wohl beizustimmen. Der junge

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Lehrer, der hinaustritt ins Leben mufs ein Vorbild in seiner Seele tragen, nach dem er sich bei seinem Wirken zunächst richten lcann, es fragt sich nur, worin das Musterhafte an der Übungs- schule zu bestehen hat. Soll man, um die Leistungen der Schule andern Schulen gegenüber möglichst zu steigern, bei der Auswahl der Schüler hauptsächlich die Kinder aus bessern Ständen berück- sichtigen ? Damit würde man doch offenbar nicht die Anstalt zu einer musterhaften machen, sondern nur das Schülermaterial, und eine solche Anstalt könnte der junge Lehrer sich auch nicht zum Vorbilde nehmen , vielmehr müfste er sich verständiger Weise sagen: Was die Übungsschule unter so günstigen Umständen er- reichen kann, daran darfst du dich gar nicht wagen. Oder soll die Übungsschule musterhaft sein, durch ihren retchen Lehrmittel- apparat ? Ich würde aus einem reichen Lehrmittelapparat lieber auf beneidenswerte Kassenverhältnissc schliefsen und möchte fast behaupten: Je mehr in der Ubungsschule die Verwendung eines künstlichen und kostspieligen Lehrmittelapparates sich breit macht, um so mehr verliert die Übungsschule für den künftigen Volks- schullehrer an Vorbildlichkeit. Aber mit den einfachsten Mitteln, mit reicher Veranschaulichung aus dem praktischen Leben, mit selbstgefertigten Apparaten einen guten naturkundlichen Unterricht geben, das wäre mustcrgiltig und nachahmenswert. Weiter sollte eine Übungsschule musterhaft sein in der Beobachtung anerkannter pädagogischer Grundsätze, in der Vorbereitung für die Unterrichts- stunden, in der gewissenhaften Berücksichtigung der schwachen Schüler, in der gründlichen Durcharbeitung und geschickten Ver- wendung des heimatkundlichen Materials. An dem dummen Wett- streite, durch möglichst rasches Lesen- und Schreibenlernen die Schüler anderer Schulen auszustechen, sollte sich eine übungs- schule nie beteiligen; dagegen darf sie eine Ehre dareinsetzen, dals sie ihre Ziele erreicht, ohne die Kinder (und Eltern) mit vielen Hausaufgaben zu quälen. Die Übungsschule soll also Muster- schule sein, aber sie soll es nicht werden vermöge günstiger äufserer Umstände, sondern durch eigene Kraft.

Um dem jungen Lehrer den Übergang in die freie Praxis möglichst leicht zu machen, ist das Schülermaterial den Be- völkerungskreisen zu entnehmen, unter denen die Anfänger im Lehramte gemeiniglich zunächst zu wirken haben. Die Schwierig- keiten der unterrichtlichen und besonders der erziehlichen Arbeit wachsen im allgemeinen nach unten zu. Daher ist es entschieden empfehlenswert, wenn der Praktikant vor allem mit der Behand- lung der Kinder aus dem Stande der Arbeiter und der kleinen Gewerbtreibenden vertraut gemacht wird. Ein wohlgezogenes Kind aus guter Familie verstehen und lieb gewinnen ist keine Kunst; aber jene armen Wesen, die ohne rechte Muttertürsorge und ohne Zucht des Vaters aufwachsen, in ihrem Wesen zu be-

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greiten, das rechte Mitleid mit ihnen zu fühlen und den rechten Weg zu ihren Herzen zu finden, das ist schwer, ott sehr schwer, das will gelernt sein. Aufgabe einer rechten Übungsschule ist, die Praktikanten in das Studium der Kindesseelen, die durch Roheit des Benehmens, schwache Auffassungsgabe und mangelndes Urteil zunächst abstofsend wirken, planmäfsig einzuführen und ihnen zu zeigen, wie auf Grund eines solchen Studiums die Mittel zu wählen und anzuwenden sind, mit denen man auch unter solchen schwierigeren Verhältnissen das Ziel erreicht. Manche rohe Mifs- handlung Schwachbegabter Kinder würde unterbleiben, wenn die Übungsschulen den Anfänger mehr mit den Schwierigkeiten seiner späteren Amtsführung vertraut gemacht hätten.

Ein bei Übungsschulen ganz unvermeidlicher Übelstand ist die Vielheit der Lehrkräfte. Es mufs daher durch einen guten Lehrplan dafür Sorge getragen werden, dafs diese Vielköpfigkeit nicht zu einer Zersplitterung der Unterrichtsarbeit wird. Dieser Lehrplan mufs auf Grund psychologisch-pädagogischer Erwägungen von den Lehrern der Übungsschule unter Leitung des Direk- tors aufgestellt und festgesetzt weiden. Selbstverständlich mufs er den gesetzlichen Bestimmungen, unter denen die Seminar- zöglinge später zu arbeiten haben, vollkommen entsprechen; aber weiter, als die gesetzlichen Bestimmungen es fordern, darf die Beeinflussung von aufsen nicht gehen. Der Lehrplan mufs, wenn er recht durchgeführt werden soll, das eigene Werk des Kollegiums sein. Was von aufsen aufgezwungen wird, und mag es an sich noch so vollkommen sein, ist und bleibt Schablone, was dagegen aus dem geistigen Leben und Streben des Kollegiums heraus- gewachsen ist, wird auch bei der Durchführung von dem Geiste getragen werden, der es erzeugte. Im einzelnen wird natürlich jeder Kollege einige Zugeständnisse machen müssen, aber da es gilt, ein geschlossenes Zusammenwirken herzustellen, so wird er auf individuelle Wünsche gern verzichten.

Schwieriger als beim Lehrplan läfst sich die Einheitlichkeit inbezug auf das methodische Verfahren im einzelnen her- stellen. Wenn man die bunte Musterkarte von pädagogischen Rezepten und Rezeptchen, die heute der Welt angepriesen werden, überschaut, so scheint der Versuch, ein Kollegium in dieser Hin- sicht unter einen Hut zu bringen, fast aussichtslos. Es scheint aus diesem Chaos der Meinungen nur zwei Auswege zu geben. Entweder man zwingt allen, die demselben Kollegium angehören, dieselbe Methode auf, oder man läfst jeden ungestört seine eigenen Wege gehen. In beiden Fällen werden die Praktikanten die Zeche bezahlen müssen. Für die aufgezwungene Methode wird kein Lehrer sich wirklich begeistern können, denn es ist eben psycho- logisch einfach unmöglich, dafs ich mit Wärme für eine Sache eintreten und wirken kann, die gegen meine Überzeugung ist. Wo

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aber der Lehrer blofs der Pflicht gehorchend für eine Methode eintritt, da wird er schwerlich den Praktikanten Interesse einzu- flöfsen vermögen. *) Wird dagegen allen Methodenfreiheit gewährt, so kann es kommen, dafs der Praktikant zwischen unvereinbaren Gegensätzen hin und her gestofsen wird. Es giebt nur einen Weg, der Aussicht auf Erfolg hat, das ist der Weg gemeinsamen wissenschaftlichen Studiums und regen Meinungsaustausches. Ein Kollegium, das ernstlich an seiner Weiterbildung arbeitet, wird mit innerer Notwendigkeit zu einer ziemlich weitgehenden, für die Praxis völlig ausreichenden Übereinstimmung in den Grundprinzipien ge- führt werden. Die Wahrheit ist ja nur eine, also müssen auch die Wege aller redlich und vernünftig Suchenden sich allmählich immer näher kommen. »Das Genie, sagt Goethe, das ange- borene Talent begreift Gesetze und leistet ihnen den willigsten Gehorsam. Nur das Halbvermögen wünschte gern seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen zu setzen und seine falschen Griffe unter dem Vor- wand einer unbezwinglichen Originalität und Selbständigkeit zu beschönigen.« Unsere Psychologie ist bereits weit genug ent- wickelt, um die Hauptgesetze des geistigen Lebens deutlich er- kennen zu lassen, es kommt also nur darauf an, dafs ein Kollegium sich gründlich in das psychologische Denken hineinarbeitet und den festen Vorsatz fafst, die Resultate dieses Denkens für die Praxis fruchtbar zu machen. Die Mannigfaltigkeit der philo- sophischen Schulen scheint mir dabei durchaus kein Hindernis für die Einheit pädagogischen Handels zu sein. Die Schulpraxis hat es ja nicht mit der metaphysischen Seite der Psychologie, sondern mit der empirischen zu thun. Es soll auch in dem be- treffenden Kollegium durch die Beschäftigung mit psychologischen Problemen nicht etwa ein von allen geglaubtes psychologisches Dogma erzeugt werden**), sondern es wird nur eine gröfsere

*) Darum ist es entschieden verkehrt, wenn methodische Fragen von oben herunter als blofse Machtfragen behandelt und einfach auf dem Wege der Verordnung erledigt werden. Ist dann ein Lehrer so unglücklich, trotz aller Verordnungen das Nachdenken über pädagogische Probleme nicht lassen zu können, so mufs er als unruhiger Geist und unbotmäfsiger Beamter behandelt werden. Damit könnte man die Methodik auf den Standpunkt der Kirchhofsruhe bringen, wenn es nicht Leute gäbe, denen die Sache höher steht als ihr Vorwärtskommen. >Unser wohlgeordnetes Schulwesen in seinem bis ins Kleinste hinabreichenden staatlichen Zuschnitt hat für Be- geisterung im Dienste einer Idee gar keinen Raum. Es gleicht einem grofsen Fabrikbetrieb; wohlgeschult steht jeder an der zugewiesenen Steile und bedient die Maschine in vorgeschriebener Weise.«

(Seminarinspektor Andrea N. B. 1892, S. in.) **) Übereinstimmung im Dogma, d. h. in der allgemeinen pädagogischen Theorie ist oft nicht viel mehr als eine Übereinstimmung in gewissen Phrasen. Es sollte auch hier heifsen: Zeige mir deine Theorie an deiner Praxis, so will ich dir auch meine Theorie an meiner Praxis zeigen.

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Ubereinstimmung des Denkens, eine Fähigkeit gegenseitigen Ver- stehens und wechselseitigen Förderns angestrebt. Eine schablonen- hafte Einheit in der Methodik ist überhaupt kein zu erstrebendes Ziel. Der Geist ist es, der da lebendig macht, und wo der rechte methodische Geist, da ist Freiheit. Die Lehrerindividualitäten sollen nicht unterdrückt und in eine einzige Form geprefst, sondern sie sollen durchgebildet werden durch das Studium alles dessen, was grofse Geister erforscht und erdacht haben.

Ein solches geistiges Zusammenarbeiten der Lehrer der Übungsschule ist aber nur möglich bei annähernd gleichem und nicht zu tief bemessenem Bildungsstande. Der blofse geschickte Praktiker, so wohl verwendbar er auch sonst sein mag, genügt hier nicht, denn es gilt, eine wissenschaftlich durchgebildete, auf allgemeingiltigen Grundsätzen ruhende Theorie im praktischen Handeln zu bethätigen und vor den Augen der Schüler zu er- proben. Die Übungsschule mufs in der Hauptsache die Anschau- ungen und Erfahrungen liefern, auf denen die Theorie der allge- meinen Pädagogik für das Schülcrbewufstsein ruht. Offenbar kann aber die Übungsschule diesen Dienst nur leisten, wenn ihre Lehrer pädagogisch wissenschaftlich durchgebildet sind. Der blofse Prak- tiker dagegen hat sich auf Grund der landesüblichen Rezeptehen eine gewisse Gewandtheit im Unterrichten angeeignet, er hat älteren -erfahrenen Lehrern einige besondere Kniffe und Kunstgriffe ab- gelauscht. Um die psychologische Begründung seines Unterrichts- verfahrens hat er sich nie viel gekümmert. Wozu auch? Hat er denn nicht in seiner Praxis > die Erfahrung gemachte, dafs seine Methode zum Ziele führt? Er liebt es, das bekannte Goethe- Wort im Munde zu führen: >Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldener Baum'. Nur übersieht er dabei, dals es der Teufel ist, dem Goethe diesen guten Rat in den Mund legt, und dafs derselbe Teufel uurz vorher triumphierend hinter Fausts Rücken gesagt hat: »Verachte nur Vernunft und Wissen- schaft, des Menschen allerhöchste Kraft, ... so hab* ich dich schon unbedingt.« In seinen jungen Jahren hat der Praktikus wohl auch einmal von Psychologie und ihrer Anwendung auf Pädagogik, von allgemeinen Prinzipien der Erziehungs- und Unter- richtslehre gehört, er hat auch eine »gute Zensur in Pädagogik« erhalten ; aber das war alles Examenweisheit, mit den Niederungen des alltäglichen Unterrichts, mit den kleinen Mafsnahmen einer einzelnen Lektion hatten diese von gelehrten Citaten strotzenden Vorlesungen nichts zu thun, sie hielten sich vielmehr in einer ge- wissen vornehmen Höhe. Für so vornehme Gäste ist in der ein- fachen Volksschule kein Platz, darum hat unser Praktikus nach glücklich bestandenem Examen die Pädagogikhefte in den wohl- verdienten Ruhestand versetzt und sich bei erfahrenen Kollegen erkundigt, wie sie es machen, so ist er zu seiner »altbewährten

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Methode« gekommen. An eine wissenschaftliche Diskussion ist natürlich einem solchen Schulmeister gegenüber nicht zu denken, denn allen aus Psychologie und Ethik herbeigeholten Gründen gegenüber, stützt er sich auf den unerschütterlichen Felsen seiner Erfahrung. Bei der hohen Schulbureaukratie steht übrigens der Herr Praktikus sehr gut angeschrieben, denn neue pädagogische Probleme haben ihm noch nie viel Kopfzerbrechen gemacht, daher hat er auch nie an der Vortrefflichkeit des in den alten Bahnen wandelnden Schulorganismus gezweifelt, in vorgeschriebener Weise hat er Jahr für Jahr das vorgeschriebene Pensum in der vorge- schriebenen Zeit eingepaukt. Vom Studium neuerer Untersuchungen über pädagogische Fragen hat er sich wohlweislich fern gehalten, lieber hat er nach des Tages Last und Mühe sich des Abends >bei einem Skätchen oder Schaf köpfchen erholt«.*) Aber dieses idyllische Dasein pafst unmöglich in eine Übungsschule. Den Lehrseminaristen gegenüber gilt es, die einzelnen Mafsnahmen des Unterrichts als Glieder eines planmäfsig angelegten Systems er- zieherischer Bestrebungen klarzulegen und so die Praxis mit der Theorie in Übereinstimmung zu bringen. Folglich bedarf der Übungschullehrer derselben pädagogischen Durchbildung, wie der, welcher Pädagogik im Seminar lehrt. Das Beste freilich würde es sein, wenn eine möglichst weit durchgeführte Personalunion das Hand in Handgehen von Theorie und Praxis begünstigte.

Aus dem allen scheint mir hervorzugehen, dafs man zur Leitung der praktischen Übungen in der Übungsschule nicht Leute heranziehen darf, von denen man nicht die gleiche Bildung fordert, wie von den übrigen Seminarlehrcrn. Vielmehr scheint mir die Sache so zu liegen, dafs eine mittelmäfsige Lehrkraft in den Unter - und Mittelklassen des Seminars viel leichter und unschädlicher verwendet werden kann als in der Übungsschule.

Wo und wie übrigens der Übungsschullehrer sich die für seinen Beruf nötige theoretische Bildung aneignet, das muls vor- läufig eine offene Frage bleiben. Unsere Universitäten bieten ihm , so lange sie ohne praktisch - pädagogische Seminare sind, zur pädagogischen Ausbildung keine Gelegenheit.**)

Aber nicht blofs das Wirken des einzelnen Übungsschullehrers muls ein bewufst -planmäfsiges sein, sondern auch die Schule als Ganzes mufs das Bild eines wohlgeordneten Organismus' zeigen, bei dem ein Glied dem andern und zugleich dem Zwecke des grofsen Ganzen dient. Dieses gedeihliche Zusammenwirken anzu- bahnen ist die Aufgabe des Direktors der Übungsschule. Er wird

*) Ich bemerke ausdrücklich, dafs ich nicht ein realistisches Porträt, sondern ein ideales Gesamtbild gezeichnet habe.

**) Meines Wissens hat augenblicklich nur Jena ein Seminar mit Übungschule. (S. >Aus d. päd. Universit.-Seminar zu Jena«. 4 Hefte. Langensalza.)

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dieselbe um so vollkommener lösen, jemehr es ihm gelingt, in dem Kollegium den Geist pädagogischen Forschens und Strebens zu wecken und zu pflegen. Auf dem Wege des Befehlens und Anordnens läfst sich wohl eine gewisse äufsere Gleichmäfsigkeit herstellen, aber dieser Erfolg ist mit dem Tode alles individuellen Lebens teuer genug erkauft. Wo die Lehrerpersönlichkeiten nur Rädchen sind an der Unterrichtsmaschine, die vom Direktor in Gang gesetzt wird, da darf man sich nicht wundern, wenn die Er- ziehungsproduktc auch Dutzendwaren sind. Nicht die Er- tötung der Lehrerindividualität zu Gunsten eines äufserlichen Schablonentums kann also Aufgabe des Direktors sein, sondern Pflege und Durchbildung. Die Einheitlichkeit des Strebens in der Übungsschule mufs durch gemeinsame pädagogische Studien und praktische Arbeiten der Übungsschullehrer allmählich an- gebahnt werden. Der Direktor mufs dabei mehr durch das, was er selbst ist, durch sein Beispiel und durch die planmäfsige Leitung der gemeinsamen Arbeiten, als durch die Macht, die ihm seine Stellung verleiht, wirken. Darum scheint es mir auch unumgänglich nötig, dafs der Direktor an der Arbeit der Übungsschule sei bstt hat i g Anteil nimmt. Nur wer selbst mitten in der Arbeit steht, hat für die Mitwirkenden das rechte Ver- ständnis und zum Mitraten die innere Berechtigung. Ein Direktor, der jederzeit bereit ist, durch sein eigenes praktisches Wirken in der Übungsschule sein Verständnis und seine Teilnahme für die Volksschulpraxis zu bethätigen, wird für Rat und Weisung viel empfänglichere Herzen finden, als der, welcher immer nur als Ju- piter tonans über den Niederungen der Kinderschule schwebt.

Wollte ein Direktor auf jedes pädagogisch anregende Wirken den Lehrern der Übungsschule gegenüber verzichten und sagen : »Ich will die Individualitäten schonen und erwarte daher, dafs die Kollegen der Übungsschule mir Vorschläge im Bezug auf die Ver- besserung des Lehrplans zur Beurteilung vorlegen,* fo wäre das entschieden falsch, denn der Direktor ist nicht an die Spitze ge- stellt, um abzuwarten, sondern um voranzugehen, schlummernde Kräfte zu wecken, frischem Eifer die rechten Wege der Bethätigung zu eröffnen. Thut er das nicht, so wird sich sehr leicht eine Stockung und Versumpfung des pädagogischen Lebens geltend machen, die in ihren Übeln Folgen durch kein noch so peinliches Kontrolieren der Schularbeit quitt zu machen ist. Wollte ein untergeordneter Kollege aus eigenem Antriebe mit Vorschlägen hervortreten , so könnte er leicht in den Verdacht kommen , als wollte er dem Direktor vorgreifen und sich eine Rolle anmafsen, die ihm nicht zukommt, oder er würde in den Augen der Kollegen als ein unruhiger Geist gelten, der mit seinen Projekten die Ruhe des kollegialen Lebens stört. Giebt dagegen der Direktor die An- regung zum pädagogischen Weiterarbeiten und übernimmt er die

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Leitung, so thut er nur, was seines Amtes ist, und jedermann wird das ganz in der Ordnung finden.

Die gesetzlichen Organe gemeinsamen pädagogischen Arbeitens sind die Konferenzen. Wenn sich vorläufig durch dieselben für die Förderung der methodischen Schularbeit nicht viel erreichen läfst, so liegt der Grund hierfür in der mangelnden wissenschaftlich pädagogischen Durchbildung der Lehrer. Eine fruchtbare päda- gogische Diskussion ist nur möglich, wenn das psychologisch pä- dagogische Denken der Diskutierenden eine gewisse Reife und innere Freiheit erlangt hat, d. h. wenn man sich gewöhnt hat, seine Ansichten nicht nur mit blinder Hartnäckigkeit zu vertei- digen, sondern dieselben zu begründen und, wo die Gegengründe es fordern, autzugeben. Wahrhaft segenbringend wird die Konfe- renzarbeit erst dann, wenn in allen Beteiligten das Streben lebendig ist, sich zu verständigen und auf Grund dieser inneren Über- windung vorhandener Gegensätze ein gemeinsames planmäfsiges Streben nach einem einheitlichen Ziele zu pflegen. Soll man nun aber, weil unter den gegenwärtigen Umständen eine solche Kon- ferenzarbeit zunächst wenig Aussicht auf Erfolg hat, die Hände in den Schofs legen und die Konferenzen ausschliefslich zur Fest- setzung der Zensuren und Behandlung der Disziplinarfälle ver- wenden ? Ich sage : Nein ! Geringe Aussicht auf Erfolg entbinden nicht von der Pflicht, nach Erfolg zu streben. Ist es schon jeder gewöhnlichen Schule gegenüber Pflicht des Lehrerkollegiums, nach bewufster Einheitlichkeit der Erziehungsarbeit zu streben, so wird die Pflicht um so ernster, wenn man es mit der Einführung von Anfangern zu thun hat. Wie sollen diese angehenden Lehrer zu einer planmäfsig geschlossenen Schularbeit angeleitet werden, wenn in der Übungschule selbst jeder einzelne Lehrer blofs seinen natür- lichen Neigungen nachgeht? Man werfe mir hier nicht etwa ein, für die Einheit der Übungsschularbeit sorge eine straffe Direktion. Ich bin weit entfernt, den Wert einer energischen Direktion zu unterschätzen, aber geistiges Leben kann man nun einmal mit dem Korporalstocke nicht wecken, und selbst bei der gröfsten Unter- würfigkeit kann das Kollegium doch nicht Leistungen hervor- bringen, welche nun einmal nur die Frucht eines bestimmten geistigen Lebens sind. Es bleibt also nichts anderes übrig, als dieses geistige Leben auf dem naturgemäfsen Wege der Anregung und Pflege zu schaffen. Also tüchtige Konferenzarbeit*), reger Meinungsaustausch, und der Segen kann nicht ausbleiben.

Vom Üben hat die Übungsschule ihren Namen, also wird Ein-

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*) Dafs zu diesen Konferenzen immer das ganze Kollegium zugezogen wird, ist nicht empfehlenswert, viel fruchtbarer werden Spezialkonfercnzen mit den Lehrern derselben Klasse, derselben Fächer oder nahe verwandter Fächer sein. Die Seele des Ganzen mufs der Direktor sein.

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Übung der Praktikanten ihre Hauptaufgabe sein. Und je mehr man bedenkt, in wie hohem Mafse die spätere Lehrerthätigkeit des jungen Mannes von den Eindrücken der Übungsschulpraxis abhängt, um so ernster wird man es mit der Anleitung und Unter- weisung der Anfänger nehmen müssen. Wie wird nun diese Unter- weisung der Praktikanten am zweckentsprechendsten eingerichtet, wie wird die Schule, in der der angehende Lehrer einst die ersten Schritte ohne Leitung und beständige Auf- sicht thun mufs, am sichersten und vollkommensten vor verkehrten Experimenten bewahrt?

Zwei grofse Hauptgrundsätze streiten, so scheint mir, um die Herrschaft. Die gewöhnliche Praxis bewegt sich meist zwischen den äufsersten Gegensätzen in der Mitte. Das neue Institut der Übungsschule hat begreiflicher Weise die Geister nicht mit einem male neu schaffen können, und so ist es ganz natürlich, wenn trotz der neuen Einrichtung die alten Wege zunächst weiter gewandelt und dem Praktikanten nur Einzellektionen anvertraut werden. Die Kinder der »Seminarschule«, so argumentiert man, dürfen nicht als Experimentierobjekt für Anfänger angesehen und behandelt werden, daher hat der betreffende Seminarlehrer den Unterricht in der Hauptsache selbst zu geben und dadurch die Erreichung des vorgeschriebenen Zieles zu ermöglichen. Die Praktikanten dürfen sich nur mit zerstreuten Einzellektionen oder »Vorträgen« (wie sie an manchen Orten sehr bezeichnend genannt werden) be- teiligen. Bisweilen wird wohl auch noch die Einrichtung getroffen, dafs neben dem fortlaufenden Unterrichte der Übungsschule be- sondere Instruktionskurse der Praktikanten hergehen, da wird denn bald die, bald jene Abteilung der Seminarschule bestellt, damit der Praktikant sich an ihr den oder jenen katechetischen Kunstgriff einüben kann. Im letzteren Falle spielen die Kinder ganz entschieden dieselbe Rolle, wie die alten gemieteten Experi- mentierjungen, nur setzt es jetzt keine Bezahlung mehr. .

Das Experimentieren will man also durch die Einzellektionen möglichst einschränken, das ist das eine Ziel ; aber zugleich glaubt man noch etwas anderes zu erreichen. Wenn nämlich der Prak- tikant an Einzellektionen ohne Zusammenhang sich begnügen kann und mufs, dann ist es auch möglich, ihn im Laufe von 2 Jahren in die Praxis aller Fächer der Übungsschule auf allen Stufen ein- zuführen, und das ist doch, so meint man, unbedingt nötig, denn man weifs ja nicht im voraus, welche Alterstufe und in welchen Fächern der angehende Lehrer einst zu unterrichten haben wird. Also huldigt man dem Grundsatze: Von allem naschen und in nichts vertiefen, multa non multum!

Prüfen wir nun, wie es mit dem Werte dieser Argumente steht. Die Übungsschule soll also vor dem Experimentieren möglichst verschont bleiben. Aber wie? Ist nicht die Übungs-

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schule gerade dazu ins Leben gerufen worden, dafs die Anhänger unter beständiger, den Erfolg sichernder Anleitung und Aul sieht ihre Erstlingsversuche abmachen und über das Stadium des Experirr.entierens möglichst rasch und mit möglichst wenig Schaden für die Schüler herauskommen? Wenn man nun ihre praktische Thätigkeit auf möglichst wenig vereinzelte Lektionen einschränkt, wird da der Zweck der Übungsschule nicht voll- ständig verfehlt r Und ist etwa das Experimentieren der Anfanger aus der Welt geschafft, wenn man es in der Übungsschule aufs äufserste einschränkt? Sicher nicht! Die Experimente und An- fängerversuche, die der Praktikant in der Übungsschule unter An- leitung und Aufsicht nicht machen durfte, die mufs er nun draufsen im Leben unter viel ungünstigeren Verhältnissen nachholen. Ist denn nun aber durch dieses Opfer, das der Praktikant in Gestalt einer äufserst mangelhaften praktischen Vorbildung bringen mufste, der Zweck wirklich erreicht, ist die Übungsschule vor Anfänger- experimenten geschützt? Der Grundsatz, dafs der Praktikant von allem naschen mufs, sorgt dafür, dafs es nicht der Fall ist. Wenn alle von allen Gerichten der Übungsschule kosten sollen, dann müssen die Schüsseln rasch reihum gehen. In einem Jahre in demselben einen Fache ein Viertelhundert Anfängerlektionen, das genügt doch sicher, um dem Ganzen den Charakter des Experi- mentierens aufzuprägen.

Die Folgen, welche das System der zerstreuten Einzellektionen für den Praktikanten haben mufs, können nicht zweifelhaft sein. Vor allem kann ein Gefühl der Verantwortlichkeit für gewisse Unterrichts- und Erziehungsresultate beim Praktikanten gar nicht aufkommen. Das Resultat einer einzelnen Unterrichtsstunde hängt ja, wie jeder, der nur etwas von Psychologie weifs, zugeben wird, in sehr hohem Malse von dem bisherigen Gange des Unterrichts, von den Gewohnheiten, die in der Klasse ausgebildet wurden, und der Beweglichkeit und Verwendbarkeit früher ausgebildeter Ge- dankenkreise ab. Wie soll sich nun ein Praktikant verantwort- lich fühlen für etwas, das zum gröfsten Teil ohne sein Zuthun zu stände gekommen ist? Dazu kommt aber noch ein Anderes. Eine wesentliche Vorbedingung für das Gelingen einer Unterrichts- stunde ist die Vertrautheit des Lehrers mit dem Wissen und Wesen der Kinder. Eine solche Vertrautheit läfst sich aber nur durch längeren Umgang erlangen. Wer nur eine Lektion hält, der wird über das Tasten und Versuchen nicht allzuweit hinaus- kommen. Dabei ist es für den Praktikanten noch ganz besonders hinderlich, dafs er bei dieser ersten und vielleicht einzigen Lektion stets mit einer nicht geringen Befangenheit zu kämpfen hat, welche die naturgemäfse Folge der ungewohnten Lage ist. Erst eine Reihe von zusammenhängenden Lektionen würden den Anfänger fähig machen, brauchbare unterrichtliche Erfahrungen zu

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gewinnen und zu benutzen. Auf Ausbildung fester unterricht- licher Gewohnheiten mufs natürlich bei diesem System last voll- kommen verzichtet werden, denn eine Gewohnheit kann sich nur ausbilden, wenn dasselbe oder ein verwandtes Verfahren wieder- holt geübt wird. Nun hängt aber gerade von solcher unterricht- lichen Gewohnheit im Schulleben sehr viel ab. Einzelne kleine Mifsgriffe, ein falsch gestelltes Fragewort, eine unvollständige Frage u. dgl können den Erfolg der Unterrichtsstunde nicht wesentlich in Frage stellen, wenn aber ein Lehrer sich nicht gewöhnt hat, auf das Denken der Schüler einzugehen, gewonnene Gedanken- reihen geläufig zu machen, auf Reihenbildung und zusammen- hängendes Denken und Sprechen hinzuarbeiten, dann wird sein Unterricht erfolglos sein, selbst wenn Frage und Antwort in seinen Stunden stets Schlag auf Schlag folgen.

Noch unerfreulicher werden die Folgen des vielfachen Wechsels der Praktikanten für die Übungsschüler sein. In 40 Schulwochen in demselben Fache 20 bis 25 Praktikanten als Objekt für An- fangsversuche dienen, das ist kein Vergnügen und bringt ent- schieden keinen Vorteil. Von einer Stetigkeit in der Behandlung der Kinder kann keine Rede sein, ein wechselseitiges Sicheinleben ist einfach unmöglich. Ein konsequentes planmäfsiges Üben, eine strenge Gewöhnung an ein einheitliches Unterrichtsverfahren kann nur in sehr beschränktem Mafs durchgeführt werden. Auch das Gesinnungsverhältnis zwischen Schülern und Lehrer wird ein ganz verkehrtes. Die Übungsschüler fühlen sehr bald, dafs der Praktikant eigentlich auch nur ein Schüler ist, dafs ihre Unter- weisung nicht der Hauptzweck dieser Lektionen ist, sondern dals man sie hier nur als Übungsobjekte benutzt, an denen heute der morgen jener seine Studien macht. Diese Erkenntnis läfst es natürlich zu keiner rechten vertrauensvollen Hingebung an die Person des Lehrenden kommen, und damit ist besonders auf dem Gebiete des Gesinnungsunterrichtes jede Möglichkeit eines tiefer- gehenden Unterrichtserfolges einfach abgeschnitten.

Einigen besonders auffälligen Mängeln des Systems der Einzel- lektionen sucht man durch um so fleifsigeres Hospitierenlassen ab- zuhelfen. Durch Zuschauen soll sich also der Praktikant die Er- fahrungen und Fertigkeiten erwerben, die er durch eigene Übung der Unterrichtskunst nicht gewinnen kann. Dafs man durch Zu- sehen keine Fertigkeiten erwirbt, das liegt zu klar auf der Hand, als dafs ich drüber nur ein Wort weiter verlieren möchte. Fabri- cando fit faber sagten die Alten, und wenn heute jemand einem Turnlehrer begreiflich machen wollte, dals er seinen Schülern die rechte Turnfertigkeit hauptsächlich durch Vorturnen beibringen könnte, so würde der gute Mann wahrscheinlich ausgelacht werden. Eine teilweise Berechtigung hat dagegen die Behauptung, dafs durch Hospitieren pädagogische Anschauungen und Erfahrungen

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gewonnen werden können. Wenn ein bereits erfahrener Lehrer, der sich das offene Auge und den empfänglichen Sinn nicht durch Eitelkeit hat rauben lassen, bei einem andere Bahnen wandelnden Kollegen hospitiert, so kann er allerdings in wenig Stunden recht reiche Erfahrungen sammeln. Sehr bald wird er nämlich herausfinden, worin das Eigenartige in dem Verfahren des betreffenden Kollegen beruht, und er wird auch beurteilen können, in wie weit gerade dieses Eigenartige auf den Unterrichtsprozefs fördernd oder hemmend einwirkt. Was ihn zum Auffassen und Beurteilen befähigt, ist seine bereits gewonnene und durch methodisches Nachdenken verarbeitete Erfahrung. Ein Turnlehrer, der dem Turnen einer Musterriege zuschaute, wird möglicher Weise sehr viel lernen, während ein Laie im Turn- fache, der genau dasselbe sieht, sich vielleicht ganz gut unterhält, aber nichts lernt. Zwischen Sehen und Sehen ist eben ein Unter- schied und das blofs Aufnehmen mit den Sinnesorganen ist noch längst keine pädagogisch wertvolle Anschauung oder Erfahrung. Bleiben wir einmal bei dem Beispiel des Turnens stehen. Wie wird eine turnerische Erfahrung gewonnen und worin besteht sie? Ich denke so : Man sieht eine bestimmte Übung vormachen und gewinnt so ein Bild von der gelingenden Übung, nun geht man selbst daran, die Übung nachzumachen, man versucht und lernt beim Versuch die Schwierigkeiten kennen und schätzen und erfahrt zunächst, wie man nicht zum Ziele kommt. Endlich kommt man vielleicht mit Unterstützung eines guten Vorturners dahin, dafs man den rechten Ruck im rechten Moment anwendet, und nun gelingt die Übung. Der Turner hat eine neue Erfahrung ge- wonnen, sie besteht in der Vorstellung der Muskelgefühle, welche das gelingende Thun begleiteten. Wird nun der Ablauf der Reihe durch häufige Wiederholung immer glatter und sicherer, so ent- steht eine Fertigkeit. Turnerische Erfahrung wird also zunächst nur durch wirkliches Turnen gewonnen. Wenn aber jemand be- reits über eine reiche, vielseitige turnerische Erfahrung verfügt, so ist er nun auch in der Lage, durch blofses Zusehen diese Er- fahrung noch weiter zu bereichern. Sieht er nämlich eine ihm bisher unbekannte Übung vormachen, so bleibt's bei ihm nicht bei der blofsen Gesichtwahrnehmung, vielmehr reproduziert jeder einzelne Teil der Gesichtswahrnehmung diejenigen Muskelge fühle, die einst mit ähnlichen Stellungen oder Bewegungen, wie sie jetzt wahrgenommen werden, verbunden waren. Der Turner sieht die Übung nicht blofs, sondern er turnt im Innern bereits mit. Die Anwendung auf die Pädagogik kann ich wohl dem geneigten Leser überlassen , er wird mir dann vielleicht zugeben , dafs massenhaftes Hospitieren für Anfänger eine ganz nutzlose Zeitver- schwendung ist. Erst wenn der Praktikant durch eigenen Unter-

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rieht für praktisch pädagogische Fragen die nötigen apperzipieren- den Vorstellungen gewonnen hat, kann er mit einigem Nutzen hospitieren.

Auch eine theoretische Unterweisung, und wenn sie bis in die kleinsten Einzelnheiten des Unterrichtsverfahrens ausgeführt würde, kann den Mangel an Erfahrung und Übung nicht ersetzen. In seinen Schulreden sagt Herder: »Hast du je einem Kinde aus der philosophischen Grammatik Sprache beigebracht? Aus der ab- gezogensten Theorie der Bewegung es gehen gelernt? Hat ihm die leichteste oder schwerste Pflicht aus einer Demon- stration der Sittenlehre begreiflich gemacht werden müssen, und dürfen, und können?« Es dürfte wohl heutzutage kaum eine Richtung in der Pädagogik geben, die in ihren theoretischen Dar- legungen die ausschlaggebende Bedeutung der Anschauung leug- nete; aber vom theoretischen Zugeständnisse bis zur konsequenten praktischen Handhabung ist ein sehr weiter Weg, und die Art und Weise, wie Pädagogik wohl in den meisten Fällen gelehrt wird, ist ein deutlicher Beweis dafür, dafs man Theorien lehren kann ohne das geringste Bedürfnis zu fühlen, diese Theorie auf seine eigene Unterrichtspraxis anzuwenden und diese nach jener zu gestalten. Wenn diese Nutzlosigkeit der pädagogischen Theorie sich aber schon beim Lehrer der Theorie selbst zeigt, wie kann man erwarten, dafs es bei den Schülern anders sein soll? Begriffe ohne entsprechende Anschauungen sind eben leer und mit Wort- hülsen kann man im günstigsten Falle eine gute Prüfung ablegen, aber fürs Leben hat man nichts gewonnen, keimkräftige, ent- wicklungsfähige Gedanken hat man nicht in sich aufgenommen. Da- raus ergiebt sich mit Notwendigkeit der Schlufs: Theoretische Unterweisungen können mangelnde gute Anschauungen und Er- fahrungen nicht ersetzen, sondern müssen sich vielmehr auf solche Anschauungen gründen, wenn sie anders einen höheren Wert haben wollen als den des Examenfutters. Man werfe mir hier nicht ein, dafs ja jeder Schüler, der die Schule 12 bis 13 Jahre lang besucht hat, genügende Erfahrungen gesammelt haben müfste, um einen zusammenhängenden Vortrag über Theorie der Pädagogik mit wirklichem Nutzen anhören zu können; denn erstens dürften solche Erfahrungen dem Schüler in vielen Fällen nur zeigen, wie man es nicht machen darf, wenn man auf das Geistesleben des Zöglings erfolgreich einwirken will, und zweitens sind Erfahrungen, die der Zögling macht, durchaus nicht zu verwechseln mit den Erfahrungen, die der Erziehende bei Ausübung seiner Erzieher- thatigkeit gewinnt. Der Leidende erfährt eben bei dem nämlichen Vorgange etwas anderes als der Thätige. Oder kann vielleicht die Phantasie die fehlende wirkliche Erfahrung durch eine blofs vorgestellte ersetzen? Der Vorschlag scheint beachtenswert, denn auch im Gesinnungsunterricht suchen wir ja die Erfahrung, die

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der wirkliche »Umgang« bietet, durch einen 'idealen Umgang« des Zöglings mit den grofsen Geistern der Vorzeit zu ergänzen. So könnte, scheint es, auch der Unterricht in der Pädagogik von Beispielen ausgehen, welche blofs mit Hüte der Phantasie erlebt werden; aber so kann nur der denken, der vom Wesen der Phantasie eine sehr oberflächliche Vorstellung hat. Die Phantasie ist nicht, wie man so olt annimmt, eine völlig freischaffende Kraft, sondern sie kann nur bauen, wenn das Baumaterial d. h. die Vorstellungs- elemente vorhanden sind. Die Möglichkeit zu phantasieren ist also nur dann gegeben, wenn auf dem betreffenden Gebiete be- reits eine Summe von elementaren Erfahrungen vorliegt. Wer bereits mehrfach unterrichtet und die Natur des kindlichen Denkens kennen gelernt hat, wer mit der vollen Teilnahme des Unter- richtenden die geistigen Vorgänge, die zum gewünschten Ziele führen, verfolgt hat, nur der kann sich lebendig in einen Unter- richtsgang, über den ihm nur berichtet wird, hineinversetzen.

Dazu kommt noch, dafs allen Auseinandersetzungen erst dann das rechte Interesse von Seiten der Praktikanten entgegenkommt, wenn diese in der Praxis des Unterrichts auf Probleme gestofsen sind, die eine Lösung fordern, auf Vorgänge, die eine Erklärung als erwünscht erscheinen lassen. Mit Fragen mufs also der Schüler an die Theorie herantreten, Rat und Hilfe für die Praxis mufs er von ihr erwarten und bei ihr suchen. Dazu gehört aber, dafs er sich seiner Hilfsbedürftigkeit und Ratlosigkeit be- wufst geworden ist.

Die Geschichte der Pädagogik wird dem Zögling später Gelegenheit geben, über die oberen Regionen des pädagogischen Lehrgebäudes zu reflektieren und sich an der Hand der grofsen Meister in die Prinzipien einzuarbeiten; aber den Anfang kann Geschichte der Pädagogik auch nicht machen, denn Geschichte setzt zu ihrem Verständnis voraus, dafs man eine gewisse Fähig- keit besitzt sich in Zustände und Geistesvorgänge der Vergangen- heit hineinzuversetzen. Wer Geschichte der Pädagogik mit rechtem Verständnis und rechter innerer Teilnahme studieren will, mufs schon etwas erfahren haben von der Lust und dem Leid des Suchens nach dem rechten Wege zum Kinderherzen.

Also mit einem Worte: Wer schwimmen lernen will, muls ins Wasser, und wer lehren lernen will, mufs mitten hinein ins Schulleben. Mit Einzellektionen kann ihm nicht gedient sein, denn im Vorbeigehen hat noch niemand ein Handwerk gelernt, geschweige denn eine Kunst.

Nun wäre noch ein Vermittclungsvorschlag möglich. Die Herren, die durchaus den Praktikanten von allen Gerichten ein bifschen kosten lassen möchten, könnten sagen: »Gut, du sollst einmal recht haben, bloise Einzellektionen geben keine wertvollen Unterrichtserfahrungen, daher wollen wir die Praktikanten gleich

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je 4 oder 5 Unterrichtsstunden hintereinander halten lassen. Dann können sie die nächsten Wirkungen ihres Unterrichts selbst beo- bachten, können die Fehler der ersten Unterrichtsstunde, die ja zum Teil eine Folge der Befangenheit waren, bei ruhigerem Blute vermeiden, können es lernen, wie man gröfsere unterrichtliche Ganze bearbeitet und zusammenhängende Resultate gewinnt. < Es läfst sich nicht leugnen, dafs mit der Durchführung dieses Vor- schlags schon etwas gewonnen wäre, aber allzuviel ist es nicht. Vor allem hat der arme Übungsschüler nichts gewonnen, denn wenn der Praktikant sich etwas eingerichtet hat, wenn der Unter- richt anfangt teste sichere Gestalt anzunehmen, dann wird ge- wechselt und die Stümperei beginnt von neuem. Auch der Prak- tikant kommt nicht so weit wie er kommen müsste. Für jede Kunst ist ja Übung die Hauptsache. Keinem Musiklehrer wird es einfallen, zu einem neuen Übungsstück überzugehen, wenn der Schüler beim ersten den Fingersatz mühselig zustande bringt, sondern nun läfst er Übungen folgen, bis eine gewisse Geläufigkeit erzielt ist. Dabei ist er überzeugt, dafs die Geläufigkeit, die beim ersten Stück erzielt wurde, auch dem zweiten zu gute kommen wird. Ähnlich ist's in der Unterrichtskunst. Wenn der Praktikant ein- gesehen hat, wie er's machen mufs, um zum Ziele zu kommen, dann beginnt das Üben, das Ausbilden von festen Unterrichts- gewohnheiten , und erst wenn diese gewonnen sind , ist wirklich etwas erreicht. Mit der wachsenden Sicherheit des Auftretens und der zunehmenden Fertigkeit in der Benutzung der Unterrichtsmittel stellt sich bei Schülern ein Gefühl der Befriedigung, ein Lust- gefühl des Gelingens ein. Nun hat er erst eine volle und ganze Erfahrung gemacht. Ohne dieses freudige Bewufstsein des Ge- lingens fehlt seinen Unterrichtsversuchen die Beglaubigung für die Richtigkeit seines Thuns. Nur der wird einer Methode mit vollster eigenster Überzeugung sich hingeben, der die Befriedigung eines erfolgreichen Wirkens selbst erfahren hat.

Wenn die bisherigen Darlegungen richtig waren , so ergiebt sich jetzt der Schlufs : Ohne zusammenhängenden Unter- richt des Praktikanten keine wirkliche Einführung in die Schulpraxis, und ohne gründliche Einfüh rung in die Schulpraxis keine fruchtbare Behandlung der pädago- gischen Theorie.

»Thörichter Schwärmer,« so höre ich die Herrn Kollegen lächelnd sagen, »wie lange willst du denn die jungen Leute im Seminar behandeln, wenn du sie so gründlich in die Methodik jedes Faches auf jeder Unterrichtsstufe einführen willst?« Nun nur gemach, meine lieben Herrn Amtsbrüder, so einfach und leicht ist die Widerlegung denn doch nicht. Wer in aller Welt hat denn behauptet, dafs es nötig sei, den Praktikanten in alle Fächer auf allen Stufen einzuführen? Von mir stammt diese Be-

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hauptung sicher nicht, sondern von Ihnen, und ich will Ihnen nun nachweisen, dafs Ihre Behauptung auf einer ganz falschen Voraus- setzung beruht. Die Forderung, dafs der Praktikant in alle Fächer auf allen Stufen eingeführt werden müfste, hätte nur dann einen vernünftigen Sinn, wenn die Methodik in jedem Fache und auf jeder Stufe eine ganz andere wäre. Nun ist aber in Wahrheit die Methodik etwas Formales, das sich als solches auf allen Stufen und annähernd auch in allen Fächern wiederholt. Modifikationen erleidet das Unterrichtsverfahren je nach den Altersstufen und Fächern, auf die es angewendet wird, aber ein völlig Neues, Be- sonderes ist es auf keiner Stufe und in keinem Fach. In alle be- sonderen Modinkationen, die das Unterrichtsverfahren durch Stoff und Schülermaterial erleidet, kann man übrigens den Praktikant auf keinen Fall einführen, denn der Stoff ist selbst innerhalb des- selben Faches oft sehr verschieden, so dafs jede Einheit oft ihre eigenartige Ausgestaltung fordert, das Schülermaterial zeigt gleich- falls je nach den Gesellschaftskreisen, aus denen es sich rekrutiert, ein sehr verschiedenes Gesicht. Also bleibt nichts anderes übrig als dem Zögling die konkrete Ausgestaltung seiner späteren Praxis selbst zu überlassen. Damit er aber dazu fähig werde, mufs die Übungsschule dafür sorgen, dafs methodisches Denken und Handeln wenigstens auf einigen Gebieten ihm zur festen Ge- wohnheit wird. Ist der Praktikant auch nur auf einem Gebiete methodisch klar und sicher, so wird er von selbst den Trieb in * sich fühlen und die Fähigkeit besitzen, sich mit Hilfe guter An- weisungen in ein anderes Fach einzuarbeiten.

Mein Vorschlag geht also dahin: Den Unterricht in der Übungsschule geben in der Hauptsache nur die Seminaristen unter beständiger Anleitung und Aufsicht eines Seminarlehrers. Jeder Praktikant behält ein Fach längere Zeit, anfangs am besten ein ganzes Semester hindurch. Das massenhafte Hospitieren kommt in Wegfall. Der Praktikant übernimmt, nachdem er ein beziehend- lich 2 Stunden in dem betreffenden Fache beim Seminarlehrer hospitiert hat, den Unterricht selbst und behält ihn ununterbrochen bis zum Schlufs der für ihn festgesetzten Übungszeit.

Die Vorteile, die dieses Verfahren bietet, liegen klar auf der Hand. Vor allem kann jetzt der Seminarlehrer die Lektionen des Praktikanten nicht mehr als Beiwerk betrachten, dessen schäd- liche Folgen man durch den (selbstverständlich vortrefflichen) eigenen Unterricht wieder gut macht, vielmehr ist er gezwungen, die Resultate, welche die Übungsschule erreichen soll, durch den. Praktikanten zu erreichen. Nun genügt es nicht mehr, dafs er einem unbeholfenen Praktikant zum Schlufs eine recht schlechte Note giebt und damit sein Gewissen beruhigt, jetzt wird vielmehr jeder schlecht eingerichtete Praktikant in gewisser Beziehung eine

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lebendige Kritik seines Instruktors. Für die Leistungen eines Praktikanten, der unter meiner Leitung nur I bis 2, höchstens 4 Stunden hält, kann mich kein vernünftiger Mensch verantwortlich machen wollen, aber für die Ausbildung eines Praktikanten, der ein Semester unter mir arbeitete, fühle ich mich verant- wortlich.*)

Für den Praktikanten liegt das Bedeutungsvollste der neuen Einrichtung darin, dafs er das volle Gefühl der Verantwortlichkeit für seinen Unterricht haben kann und haben mufs. Das giebt seinem Streben einen ganz andern Sporn, als wenn er sich bei jedem vereinzelten Auftreten sagt: Deine ^Lektion« betrachtet der Scminarlehrer doch nur als eine störende Unterbrechung seiner eigenen planmälsigen Arbeit und als einen Hemmschuh, der dem raschen Vorwärtsschreiten angelegt wird. Weiter bildet sich beim Praktikanten durch die wiederholte Vornahme verwandter Unter- richtsthätigkeiten ein Gedächtnis des methodischen Wollens ais, und damit ist die erste Grundlage für den methodischen Charakter des zukünftigen Lehrers gewonnen. Durch die Be- schränkung der Übungsschulfächer wird weiter dem Prakti- kanten Gelegenheit gegeben, sich mit seinem Instruktor gehörig zusammen zu leben und zusammen zu arbeiten. Das ist aber von groiser Wichtigkeit. Bei dem ruhelosen Wandern von Fach zu Fach , von Klasse zu Klasse lernt der Praktikant keinen Lehrer der Übungsschule recht kennen und verstehen, er empfangt von keinem einen nachhaltigen, tiefen Eindruck, vielmehr werden die verschiedenen Eindrücke von verschiedenen Individualitäten**) sich gegenseitig hemmen und aufheben. Darin sehen nun allerdings gewisse Leute einen ganz besondern Vorteil, denn auf diese Weise wird, wie sie meinen, dem Praktikanten »die Freiheit des metho- dischen Denkens und Handelns < gewahrt. Natürlich liegt hier wieder der gewöhnliche falsche Begriff von Freiheit zu Grunde. Frei, meint man, ist der, der sich nach eigenem Urteil ohne fremde Beeinflussung entscheidet. Damit hat man aber nur die äufsere formale Freiheit gekennzeichnet, die innere Freiheit setzt ein von persönlichen Willkürlichkeiten, Launen und Vorurteilen unbeeinflufstes, nur durch stichhaltige Gründe bestimmtes Urteil voraus. Unvollkommene Kenntnis, mangelhaftes Verständnis und unausgeglichene Gegensätze sind also weit entfernt, die Grund-

*j Um Mifsdcutungen vorzubeugen, bemerke ich ausdrücklich, was an sich selbstverständlich ist, dafs die Leistungen des Praktikanten Produkt der beiden Hauptfaktoren, der natürlichen Anlage und der planmäfsigen Ausbildung sind, und dafs die Leistung des Instruktors durchaus nur mit Rücksicht auf die Anlage des Praktikanten beurteilt werden darf.

**) Individuen mit etwas ausgeprägter Eigentümlichkeit werden die Lehrer bleiben, selbst wenn die leitenden Kreise noch so sehr bemüht sind, alle Untergebenen in die Uniform ihrer »bewährten Methode« (kon- zentrische Kreise u. dgl.) hineinzuzwingen.

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lagen für ein in methodischer Hinsicht freies Denken zu bilden. Vielmehr kommt der der vollen Freiheit am nächsten, der am tiefsten und allseitigsten in eine Sache eingedrungen ist. Der Weg zur Freiheit geht also durch die Vertiefung, daher ist es auch für den Anfänger in der Schulpraxis von der gröfsten Bedeutung, dafs er sich zunächst mit dem Unterrichtsverfahren eines Lehrers gründlich vertraut macht. Später kann und soll er die be- sonderen Vorzüge anderer Lehrweisen ebenso gründlich kennen lernen, aber zugleich oder in zu kurzen Absätzen darf ihm das Vielerlei sicher nicht geboten werden, denn das verwirrt, macht aber nicht frei.

Die gründliche Vertiefung zunächst in ein Fach wird den Praktikanten auch rascher und sicherer zur Einsicht in das Wesen der Methode führen. Wird der Praktikant beständig von einem Fach ins andere geworfen, so sind die neuen Eindrücke so mannig- faltig und so verworren, der Praktikant hat so viel mit der sach- lichen Seite zu thun, dafs er die gleichbleibenden Zijge des methodisch Formalen im Unterricht gar nicht klar genug als solche erkennen und würdigen lernt. Ist dagegen der Praktikant dauernd in demselben Unterrichtsfache beschäftigt, so treten für sein Be- wufstsein den fortschreitenden Unterrichtsstoffen gegenüber die sich gleichbleibenden Grundzüge der Methode scharf und bestimmt als solche hervor. Hat dann ein angehender Lehrer in der Seminarpraxis die Grundzüge der Methodik in konkreter An- wendung auf eine beschränkte Anzahl von Unterrichtsfächern kennen gelernt, so wird es ihm leicht fallen, dieselben Verfahrungs- weisen auf verwandte Fächer anzuwenden. Natürlich wird man gut thun, für jeden Praktikanten die Fächer so auszuwählen, dafs er die Hauptseiten des Unterrichts durch je einen Vertreter kennen lernt und sich zugleich im Verkehr mit den verschiedenen Alters- stufen übt. Dabei kann auf die Individualität des Praktikanten die gebührende Rücksicht genommen werden. Man wird z. B. einen Praktikanten, bei dem das empirische Interesse besonders stark entwickelt ist, zunächst mit Naturkunde beschäftigen, da- gegen wird man sich wohl hüten, Praktikanten, bei denen die In- teressen der Teilnahme nur in sehr geringem Mafse sich zeigen, den Gesinnungsunterricht in einer Oberklasse zu übertragen. Diese Rücksichtnahme ist man vor allem auch den Übungsschülern schuldig. Beim Abgange bekommt dann ein Abiturient be- scheinigt, in welchen Fächern und bei welchen Altersstufen er in der Übungsschule thätig war, und für welches Gebiet des Unter- richts er sich besonders eignet. Mit den üblichen Ziffern- zensuren kann kein Direktor etwas anfangen, denn sie geben ihm in keiner Hinsicht ein Bild von der Begabung und der Verwend- barkeit des jungen Lehrers. Wenn ein Praktikant z. B. in den Geschichtslektionen sich die Zensur i erworben hat, im Rechnen

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aber mit der 3 bedacht worden ist, so bekommt er als Gesamt- zensur die 2, das heifst, er bekommt eine Zensur, die er in Wirk- lichkeit nicht verdient hat, sondern die ihm von seinen Lehrern ausgerechnet wurde. Wenn dagegen dem Direktor statt nichts- sagender Zahlen ein pädagogisches Individualitätenbild des ab- gehenden Seminarzöglings übergeben wird, so wird beiden Seiten mehr gedient sein. Der Direktor weifs, was er mit dem Anfänger zu thun hat, und was er ihm zumuten kann, und der Anfänger ist sicher, dafs ihm im allgemeinen kein Fach übertragen wird,, für das er vorläufig noch nicht Manns genug ist. Bei dieser Art den abgehenden Schüler zu charakterisieren würde man auch davon absehen müssen, die letzte Entscheidung von den Zufällig- keiten einer oder einiger »Probelektionen« abhängig zu machen. Auch das wäre sicher ein grofser Forschritt. Jeder Seminarlehrer würde im Einvernehmen mit dem Direktor dem Abgehenden, der unter ihm gearbeitet hat, ein besonderes Zeugnis ausstellen, auf diese Weise wäre für eine gerechte Beurteilung viel besser ge- sorgt, als das bei dem jetzigen Ausrechnen der Durchschnitts- zensur möglich ist.

Wie ist nun, das würde die letzte und wichtigste Frage sein, tür eine gründliche und nachhaltige Einführung des Praktikanten in das ihm übertragene Fach zu sorgen? Wie richtet man es ein, dafs der Praktikant von seiner Unterrichtsthätigkeit möglichst viel Nutzen und der Übungsschüler von den Erstlingsversuchen mög- lichst wenig Schaden hat?

Vor allem ist das Lehrerkollegium verpflichtet, für Herstellung eines psychologisch wohl durchgebildeten Lehrplanes Sorge zu tragen. Dieser Plan mufs allen Praktikanten zugänglich gemacht werden, damit jeder einzelne sich jederzeit darüber orientieren kann, wie seine Teilthätigkeit sich dem grofsen Ganzen einzu- ordnen hat. Die gesetzlichen Bestimmungen bieten blofs den grofsen Rahmen, und lassen im allgemeinen der Ausgestaltung im einzelnen genügenden Spielraum. Ein wirklich brauchbarer Lehr- plann kann nur durch verständnisvolles Zusammenwirken ver- schiedener Kräfte geschaffen werden, daher wäre es sehr zu wünschen, dafs die verschiedenen Seminare in Programmabhand- lungen und Aufsätzen in Fachblättern die Resultate ihres Forschens und Überlegens sich gegenseitig zugänglich machten. Aber wenn wir auch vorläufig noch nichts Vollkommenes zu bieten haben, der Plan, in den die Arbeit des Praktikanten sich eingliedern soll, mufs diesem zu beständiger Berücksichtigung vorliegen.

Das Nächste ist die spezielle Vorbereitung für die einzelnen Lektionen. Soll der Praktikant befähigt werden, sich selbständig vorzubereiten, so mufs ihm das Wesen einer guten Präparation an konkreten Musterpräparationen, die ihm in gröfserer Zahl vor- zulegen sind, gezeigt werden. Allgemeine akademische Vorlesungen

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über das Wesen der richtigen Frage, über Vertiefung und Be- sinnung, über Formalstufen u. s. w. sind leeres Gerede, so lange nicht ein reiches Anschauungsmaterial den Worten des theore- tischen Vortrags Inhalt und Bedeutung giebt. Vereinzelte Muster- lektionen, die dem theoretischen Lehrgange beigegeben werden, genügen in keiner Weise, selbst wenn sie an sich noch so muster- gültig sind. Nur aus einer reichen, vielseitigen Anschauung lassen sich wertvolle allgemeine Begriffe und Regeln gewinnen. Diese Musterpräparationen, die dem Lehrgange, in den der Praktikant zunächst eintreten soll, zu entnehmen sind, müssen nach allen Seiten gründlich durchgesprochen werden; dann mufs dem Prak- tikanten Gelegenheit gegeben werden, zu beobachten, wie sich die Sache in der praktischen Durchführung gestaltet. Sehr oft wird ja der Lehrer durch das Verhalten der Schüler genötigt, von dem Plane, den er sich entworfen hatte, in einzelnen Stücken abzu- weichen, um erst auf Umwegen dem Ziel, welches er sich gesteckt hatte, wieder zuzustreben. In einer an die gehaltene Lektion sich anschliefsenden Besprechung, werden dann die Gründe, die zu diesen Abweichungen nötigten, aufgesucht und besprochen. Nun erst ist der Praktikant fähig, einen Präparationsentwurf zu liefern. Dieser mufs selbstverständlich vom Scminarlehrer korrigiert und zwar so korrigiert und ergänzt werden, dafs so weit als möglich jedem Fehler im Unterrichte vorgebeugt ist. Der Seminarlehrer darf also nicht etwa meinen, er dürfe den Schüler auch einmal irre gehen lassen, um ihn durch Schaden zur rechten Einsicht zu führen. Eine solche Art des Experimentierens ist um der Schüler willen von der Übungsschule völlig ausgeschlossen. Der Praktikant wird, ohne dafs es der Seminarlehrer verhüten kann, noch oft genug die Folgen verkehrter Maisnahmen in seiner Praxis kennen lernen. In der Übungsschule mufs mit allen Kräften dahin gestrebt werden, dafs die jungen Leute positive Erfahrungen über Wesen und Wirkung einer psychologisch gut begründeten und streng durchgeführten Methode sammeln. Am besten ist es, wenn der Seminarlehrer alle Unter- richtseinheiten zugleich mit dem Praktikanten schriftlich ausarbeitet und an diesen seinen Entwürfen Jahr für Jahr die durch die wachsende Erfahrung gebotenen Ergänzungen und Berichtigungen anbringt. Es liegt ein nicht zu unterschätzender heilsamer Zwang in der Gewöhnung an ein solches schriftliches Präparieren. Grofse pädagogische Geister mögen sich den Eingebungen des Augenblicks überlassen oder sich mit einer kurzen Überlegung vor der Stunde begnügen, wir Schulmeister gewöhnlichen Schlages aber wollen mit der Feder in der Hand sammeln und nachbessern, damit unser Unterricht immer vollkommener werde.

Bei der Anleitung zum selbständigen Entwerfen von Präpa- rationen ist der Praktikant auch zu einer gewissenhaften und ver-

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ständigen Benutzung der bereits vorhandenen Litteratur anzuleiten. Es ist ein ganz thörichter Wahn, wenn man meint, ein Anfänger könne auf Grund der theoretischen Darlegungen über Formal- stufen und einiger vereinzelter Musterbeispiele aus eigener Kraft für alle Fächer richtige Präparationen entwerten. > Allgemeine Be- griffe und grofser Dünkel, sagt Goethe, *i sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unheil anzurichten, und ist ein Künstler nicht ge- neigt, von höher ausgebildeten Künstlern der Vor- und Mitzeit das zu lernen, was ihm fehlt, um eigentlicher Künstler zu sein, so wird er im falschen Begriff von bewahrter Originalität hinter sich selbst zurückbleiben < Wenn also ein Anfänger fremde Lehrgänge und Lehrproben studiert, und aus ihnen zu lernen sich bestrebt, so verliert er nicht etwa seine Freiheit und Selbständigkeit, sondern er schafft für eine wahre, echte Freiheit die rechte Grund- lage. Wer eine Methode nach allen Seiten durchdacht und selbst- ständig geprüft hat, der ist frei, wer aber ohne gründliche Studien seinen zufälligen Ansichten und Meinungen folgt, der ist ein Sklave seiner eigenen Ignoranz. Das Wesen einer Methode und die Art ihrer Anwendung läfst sich aber Anfängern nicht anders veran- schaulichen als durch zusammenhängende Unterrichtsbeispiele ; daher würden die Übungsschullehrer der Volksschule einen sehr grofsen Dienst leisten, wenn sie auf den verschiedenen Unter- richtsgebieten für methodisch gut durchgearbeitete Lehrgänge Sorge trügen. Mit solchen Lehrgängen ist der Praxis mehr gedient als mit den gelehrtesten Vorlesungen über Psychologie und allgemeine Methodik. Die Furcht, solche Lehrgänge könnten als Eselsbrücke benutzt werden, darf niemanden von der Darbietung derselben ab- halten, denn wer wollte den Bau einer Brücke unterlassen, weil möglicher Weise auch einmal ein Esel dieselben benutzen könnte ? Mit der Darbietung der Lehrgänge müfste aber eine gründliche, unbefangene Kritik Hand in Hand gehen. Wertlose Fabrikware, wie sie der Büchermark jetzt in grofser Fülle aufzuweisen hat, müfste als solche entschieden gekennzeichnet werden.

Die mit Unterstützung des Seminarlehrers gewonnene Präpa- ration darf aber für den Praktikanten durchaus nicht zu einer Fessel werden, die ihn hindert, auf das Denken der Schüler unbe- fangen einzugehen. Daher ist es ganz falsch, wenn man die Prä- paration Frage für Frage auswendig lernen läfst. Wer mit dem Rüstzeug einer wohlmemorierten Fragereihe vor die Klasse tritt, der hat nur die eine Angst, dafs ihm der schöne Zusammenhang durch verkehrtes Antworten der Schüler gestört werden möchte, daher geht sein Streben vor allem dahin, die Schüler möglichst in den Gedankengang hineinzuzwingen, den er sich am Studiertische

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ausgearbeitet hat. Das ist natürlich das reine Gegenteil vom psychologischen Verfahren, dessen Hauptgrundsatz lautet: Vom kindlichen Gedankenkreise ist auszugehen, und dem kindlichen Vorstellun gs verlauf e hat sich der Lehrer anzubequemen. Die beste Vorbereitung besteht also darin, dafs der Praktikant den Gedankengang seiner Lektion sich nach allen Seiten gründlich zurecht legt und sich für verschiedene Möglichkeiten im voraus rüstet. Um jede unnötige Befangenheit zu beseitigen, wird man dem Praktikanten gestatten, seine Präpa- ration auf dem Katheder vor sich zu haben, damit er im Notfalle durch einen raschen Blick den verlorenen Faden wieder finden kann. Diese Vergünstigung ist um so ungefährlicher, je strenger der Seminarlehrer darauf dringt, dafs die Gedankenbewegung der Schüler für den Verlauf des Unterrichts mafsgebend ist.

Gerät der Praktikant trotz sorgfaltiger Vorbereitung beim Halten der Lektion auf Abwege, so hat der Seminarlehrer durch rasches und entschiedenes Eingreifen die Sache wieder ins rechte Gleis zu bringen. Selbstverständlich mufs dabei mit dem nötigen Takt- gefühl verfahren werden. In den Augen der Übungsschüler darf die Einmischung des Seminarlehrers nie den Charakter einer .Korrektur des Praktikanten annehmen, denn das würde für das rechte Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler verhängnisvoll sein. Vielmehr mufs der übungsschülcr in diesem Eingreifen eine freund- liche Unterstützung erkennen, die vor allem ihm selbst zu teil wird und die ihn in den Stand setzen soll, seine Aufgabe zu lösen. Soll der Praktikant von dem Eingreifen des Seminarlehrers den rechten Nutzen haben, so mufs dieser ihm die Möglichkeit bieten, den Faden des Unterrichts möglichst bald selbst wieder aufzu- greifen. Das ist auch sehr leicht möglich, sobald eine sorgfältige und eingehende Präparation alle gröfseren Verirrungen im voraus unmöglich gemacht hat. Der Fall, dafs man einen Praktikanten während der Unterrichtsstunde einfach abtreten lassen mülste, darf meiner Ansicht nach gar nicht vorkommen. Träte er wirklich ein, so wäre das ein Zeichen dafür, dafs man entweder dem Prak- tikanten ein Unterrichtsfach anvertraut hat, dem seine Kraft noch nicht gewachsen ist, oder dafs man in der Vorbereitung für die Lektion nicht sorgfältig genug verfahren ist. In beiden Fällen läge die Schuld auf Seiten der Seminarlehrer.

Die gehaltene Lektion wird natürlich kritisiert. Aber zwischen Kritik und Kritik ist ein grofser Unterschied. Es giebt Leute, die glauben, die Kritik sei um so gründlicher, je kräftiger und ver- nichtender die Worte sind, in denen sich das Urteil des Kritikers ausspricht. > Verfehlt, ganz verkehrt, resultatlos, ungeschickte das sind so die Hauptwaffen, mit denen diese Spezies haupt- sächlich operiert. Schon im gewöhnlichen Leben sind derartige

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Kritiken ganz wertlos. Mit vollem Rechte ruft daher Geibel einem Herrn Kritiker zu:

»Hafs mich, so viel du willst, Doch wütet ich gern weswegen, Denn nicht an deinem Hafs, Am Grund ist mir gelegen.«

Die Gründe des Verwerfungsurtciles das ist gewöhnlich der schwächste Punkt der ganzen Kritik, und oft kann man einen sehr gewaltig auftretenden Kritiker sehr schnell beruhigen, wenn man ihn um genaue Angabe des kritisierten Sachverhalts und des bessern Verfahrens an Stelle des verfehlten bittet. Darauf war der Herr Kritikus nicht getafst, denn aufs Bessern kam es ihm ja im Grunde genommen gar nicht an, er wollte dem Objekte seines Aburteilens nur seine Überlegenheit zum Bewufstsein bringen, der Kritisierte sollte wissen, dals noch einer über ihm steht, der seine Thätigkeit je nach Belieben billigen oder mifsbilligen kann. Mit einer solchen Kritik ist natürlich am allerwenigsten der Obungsschule gedient, denn sie würde den Praktikanten nicht fordern, sondern höchstens verbittern. Hier gilt's recht gewissen- haft dem Winke des Dichters zu folgen :

»Das ist die klarste Kritik der Welt, Wenn neben das, was ihm mifsfällt, Einer was Eigenes, Besseres stellt.«

Nimmt man die beiden Geibelworte zusammen, so hat man das Rezept für eine gute, segenbringende Kritik, es lautet : I . Gründe, 2. Verbesserungsvorschläge.

Um die Gründe für ein mifsbilligendes Urteil darlegen zu können, mufs man zunächst den Thatbestand ganz objektiv zur Darstellung bringen. Eine gute Kritik ist also nur möglich auf Grund eines sorgfältigen Stundenprotokolls. Oft wird die ganze Thätigkeit des Kritikers nur darin bestehen, dafs er dem Prakti- kanten den Verlauf eines bestimmten Teiles seiner Unterrichts- stunde Schritt für Schritt vorführt und ihn veranlafst, sich selbst zu kritisieren. Oder der Seminarlehrer weist auf den unzweifelhaft mangelhaften Erfolg einer Unterrichtsstunde hin und sucht nun an der Hand des Stundenprotokolls mit dem Praktikanten zu- sammen nach den Ursachen des Mifserfolgs. Ist man auf diese Weise ohne alle Erregung auf beiden Seiten und ohne allgemeine »Generalurteile« einig geworden über den bestimmten Punkt, an dem die Lektion verbesserungsbedürftig war, und hat man sich über die Gründe des Mifserfolges verständigt, so giebt der Seminar- lehrer klar und bestimmt seine Verbesserungs vorschlage. Bei diesem Verfahren gewinnt der kritisierte Praktikant die Über- zeugung, dafs es dem Seminarlehrer wirklich blofs um die Förderung seiner pädagogischen Einsicht und Kunstfertigkeit zu thun ist,

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und dafs demselben nichts ferner liegt, als die Absicht kränken und niederbeugen zu wollen. Die Seminarlehrer könnten hier von einem guten, geübten Vorturner sehr viel lernen, diesem wird es nicht einfallen, einem Anfanger, dem eine Übung mifsglückt ist, eine vernichtende Strafpredigt in möglich derben Ausdrücken zu halten. Vielmehr begnügt er sich, auf den Fehler, der das Mifs- lingen herbeiführte, aufmerksam zu machen, und dann wird die Übung unter freundlichem Zuspruch und mit leiser Unterstützung von Seiten des Vorturners noch einmal versucht. So führt der Vorturner den Anfänger zu einer gelingenden Thätigkeit, aus der die rechte Erfahrung und damit die feste Grundlage späteren selbständigen Thuns gewonnen wird. Hätte der Vor- turner sich aber hingestellt und den unglücklichen Tolpatsch tüchtig abgekanzelt und blamiert, so wäre derselbe so klug und so geschickt gewesen wie zuvor, und die Übung wäre ihm bei der nächsten Wiederholung um so sicherer mifslungen, da zum lähmen- den Bewufstsein der eigenen Unbeholfenheit jetzt noch die Furcht vor neuen Demütigungen hinzugekommen ist.

Soll das Verhältnis zwischen Seminarlehrer und Praktikant- das rechte sein, so mufs letzterer in ersterem einen treuen Freund, einen sicheren Helfer in allen etwaigen Nöten der Unter- richtsstunde erblicken. Es mufs alles vermieden werden, was den Verdacht erwecken könnte, als sitze der Seminarlehrer blofs da, um das nötige Material für eine abfällige Kritik und die geeigneten Unterlagen für eine schlechte Zensur in »Lehrfertigkeit« zu sammeln. Daraus folgt, dafs sich der Kritiker vor allem vor klein- licher Nörgelei zu hüten hat. Sicher mufs der Praktikant auch auf kleine Versehen, z. B. falsche Wortstellung bei der Frage, falsche Hilfeleistung bei Schülerzusammenfassungen u. dgl., auf- merksam gemacht werden, aber man mufs das Kleine als Kleines behandeln und nicht, um nur recht streng zu erseheinen, aus der Mücke einen Elephanten machen.*)

Auch zur Selbstkritik und zu rechtem gegenseitigen Kritisieren müssen die Schüler angeleitet werden. Bevor ein Praktikant kritisiert wird, erhält er stets selbst das Wort zur Selbst- kritik. »Generalurteile« wie z. B.: »Mein Unterricht war verfehlt« werden auch hier nicht geduldet, denn sie sind wertlos. Bezeich- net dagegen der Praktikant den Punkt, an dem er irre gegangen ist, richtig, so verhilft ihm der Seminarlehrer auf Grund seines Stundenprotokolles zu einem klaren Bilde des Unterrichtsverlaufes und stellt ihm dann anheim, selbst den Fehler und seine Ver- besserung zu bezeichnen. An der Art, wie diese Selbstkritik ge-

♦) Mücken seigen und Kamele verschlucken ist allerdings eine »alt- bewährte Methode« gewisser Leute.

übt wird, erkennt der Seminarlehrer am besten das wachsende pädagogische Verständnis seiner Praktikanten. Je mehr der An- fänger lernt, Erfahrungen der Unterrichtsstunde sich zu nutze zu machen und sein Verfahren darnach zu vervollkommnen, um so reifer ist er. Zur Kritik eines andern wird der Praktikant erst dann veranlagt, wenn er selbst einige Einsicht in das Getriebe des Unterrichts erlangt hat. Zunächst wird man ihn dann veran- lassen, in den Fächern zu hospitieren, deren Betrieb er bereits durch eigene Praxis kennen gelernt hat. Von seinem Seminarlehrer hat er auch bereits die rechte Handhabung der Kritik gelernt, und so ist er in den Stand gesetzt, dem Unterrichte eines andern in rechter Weise mit kritischem Auge zu folgen. Ein solches Hospitieren ' mit nachfolgender Kritik schärft das pädagogische Denkvermögen und ist eine gute Vorbereitung für dte spätere Weiterbildung junger Lehrer in Vereinen und Kon- ferenzen.

Ihren Abschlufs findet die Thätigkeit des Praktikanten in seinem Unterrichtsfache durch ein Examen, das er mit seiner Klasse womöglich im Beisein des Direktors abzulegen hat. Das Thema für diefes Examen wählt der Direktor aus dem behandelten Unterrichtsstoffe aus und teilt es dem Praktikanten am Abend vor der Prüfung mit. Die Art, wie zu prüfen ist, hat der Praktikant früher bei zusammenfassenden Repetitionen über gröfsere Unter- richtseinheiten kennen gelernt. Es kommt nicht darauf an, durch möglichst zahlreiche geschickte Fragen den Kindern eine Reihe Einzelantworten abzulocken und so den Schein zu erwecken, als wüfsten sie etwas Ganzes, sondern das ist die Hauptsache, dafs die Kinder in zusammenhängender Rede zeigen, wie sie den Unter- richtsstoff sich angeeignet und verarbeitet haben. Einzelfragen dürfen durchaus nur nötig werden und zur Anwendung kommen, wenn es gilt Ergänzungen und weitere Ausführung des Haupt- gedankens zu veranlassen. Dieses Schlulscxamcn wird dem Prak- tikanten und dem Seminarlehrer die Früchte ihrer gemeinsamen Arbeit zeigen und zugleich dem Direktor die beste Unterlage für die nötigen pia desideria bieten.

Ich bin zu Ende mit dem, was ich vorläufig über Theorie und Praxis im Lehrerseminar zu sagen hätte, und möchte nur wünschen, dafs meine Vorschläge den Erfolg für das Schulleben haben möchten, den ich bei ihrer Veröffentlichung im Auge hatte. Ich bin weit entfernt, den Herren Kollegen meine Ansichten als alleinige Wahrheit aufnötigen zu wollen; aber zu einer Verhandlung über diesen wichtigen Gegenstand möchte ich Veranlassung bieten. Der Einzelne kann leicht irren, kann gewissen Lieblingsgedanken zu viel Einflufs einräumen, die Kritik verhilft ihm zur Befreiung, indem sie ihn zu neuer gründlicher Prüfung nötigt. Ich habe mit

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der Kritik nach der negativen und positiven Seite den Anfang gemacht. Vivat sequens!

B. Mitteilungen.

1

. i

* «I

I. XI. Kongress für erziehliche Knabenhandarbeit zu

Frankfurt a, W.

Nach einer Begrüfsungsversammlung am Abend des 10. Juni fand am ii. Juni zunächst eine Besprechung der Werkstatt- Lehrer und -Leiter und eine Sitzung des Gesamtausschusses statt, worauf Herr v. S chenkendorff- Görlitz um io Uhr die 6. Hauptversammlung des deutschen Vereins für erziehliche Knabenhandarbeit eröffnete, zu der sich etwa 250 Teilnehmer aus allen deutschen Gauen eingefunden hatten. Besondere Vertreter hatten entsandt: Das Preufs. Kultus- und das Kriegsministerium, das Württemb. und das Hessische Ministerium , der Badische und der Eis. Lothr. Ober- schulrat, die Regierungen zu Kassel, Wiesbaden und Würzburg, mehrere Lehrervereine und eine grofse Anzahl deutscher Städte; aus dem Auslande: die Erziehungsdirektion Basel-Stadt, das Luxemburgische und das Belgische Ministerium. Es erhielt das Wort Herr Direktor Dr. Götze -Leipzig zu seinem Vortrage über die Frage: »Soll die Knabenhandarbeit vornehmlich in den Dienst der Erziehung, oder des Schulunterrichts gestellt werden?> Zwei Richtungen, so führt Dr. Götze aus, sind unter den Freunden unserer Sache zu unterscheiden; die einen verlangen einen Arbeitsunterricht, der in engster Beziehung zum übrigen Unterricht, besonders zur Raumlehre und zum Zeichnen, steht und die Begriffe dieser Fächer im vollsten Sinne des Worts »verkörpern> will; die anderen forderen einen reinen Arbeits- unterricht, der einen selbständigen Gang einschlägt und seine Weisungen aus sich selbst nimmt. Den reinen Werkstattunterricht vertritt Lehrer Groppler-Berlin, den ersten Schulinspektor Sc he rer- Worms. Dr. Götze stand vorher auf dem Standpunkte des Schulhandarbeitsunterrichts, hat aber durch seine praktische Erfahrung die Überzeugung gewonnen, dafs sich die beiden Anschauungen gegenseitig korrigieren und ergänzen und darum zu verschmelzen sind. Ein Handarbeitsunterricht, der sich lediglich durch die Forderungen des übrigen Unterrichts bestimmen läfst , ist nur dann zu er- teilen möglich, wenn der Schüler durch den selbständigen Arbeitsunterricht das technische A.B. C. zu beherrschen gelernt hat, und ein reiner Werk-

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Stattunterricht ohne jede Beziehung zum Schulleben versinkt leicht in tech- nische Einseitigkeit und handwerksmäfsiges Thun. Beide Formen müssen sich deshalb in fruchtbarem Zusammenwirken gegenseitig unterstützen. Vor dem Eintritt in die Debatte bemerkt Gropplcr, dafs er voll auf dem Boden des Referenten stehe, ein Gegensatz sei zu unrecht konstruiert. Die Debatte selbst zog sich sehr in die Länge, weil sie viele Punkte berührte, die mit dem Vortrag nicht das geringste zu thun haben. Sogar die »Schuljahre» mufsten sich den Vorwurf gefallen lassen, freilich ohne dafs sie benamset wurden, dafs sie nicht aus der Praxis herausgewachsen seien. Schulinspek- tor Sc her er verteidigt seinen Standpunkt, der die technische Schwierig- keit auch beachte, und macht Mitteilungen über die dahin zielenden Ver- suche in den Wormser Schulen, die einen guten Erlolg versprechen. Er bekämpft den Verein, weil er die Arbeit als »unersetzbares Erziehungs- mittel« bezeichne und nun nicht die Konsequenz ziehe, dafs er dann ob- ligatorisch sein müsse. Folgende These, vom Stadtschulrat Pfundtner- Breslau beantragt, gelangt mit einem Zusatz von Groppler zur Annahme: »Die Knabenhandarbeit soll in erster Linie in den Dienst der allgemeinen Erziehung, aber auch in den Dienst der Schule gestellt werden. Für die gegenwärtige Entwicklung der Sache ist die Thätigkeit der Schülerwerk- stätten neben der Schule notwendig: jeder Versuch aber, den Arbeits- unterricht bereits jetzt mit der Schule zu verbinden, ist mit Freude zu be- grüfsen.«

Nunmehr erhält das Wort Stadtschulrat Dr. R oh meder- München zu seinem Vortrage: »Wer soll den erziehlichen Handarbeitsunterricht leiten, der Handwerksmeister oder der Lehrer?» Die Ausführungen gipfelten in folgenden Sätzen, die einstimmig angenommen wurden: »Der Unterricht in der Knabenhandarbeit verfolgt vor allem erziehliche Zwecke, obgleich die Ergebnisse desselben mittelbar dem praktischen Leben wieder zugute kommen. System und Methode dieses Unterrichtes müssen deshalb nach pädagogischen Gesichtspunkten ausgebildet werden. Dann wird die Hand- arbeit zu einem wertvollen, zeitgemäfsen Erziehungsmittel der Schule werden. Hieraus ergiebt sich, dais die unmittelbare Leitung des Handarbeitsunter- richtes dem berufsmäfsigen Erzieher, d. i. dem Lehrer, zukommt. Die unterstützende und beratende Mitwirkung der Vertreter des Gewerbes je nach den besonderen örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen wird seitens der Schule dankbar begrüfst.» Nach Erledigung der geschäftlichen Sachen wurde der Vereinstag kurz vor 2 Uhr geschlossen.

Der öffentliche Kongrefs, der für die weiteren Kreise berechnet ist, wurde am 12. Juni um elf Uhr durch einen Männerchor eingeleitet und durch v. Schenckendorff mit einem Bericht über die Fortschritte der Bewegung in den beiden letzten Jahren eröffnet. Nach einer wahrscheinlich unvollkommenen Statistik bestehen in Deutschland 253 Schülerwerkstätten; davon entfallen aufPreufsen 148, auf Sachsen 53, auf Bayern 15, auf Sachsen- Weimar 9 und auf Bremen, Württemberg und Elsafs-Lothringen je 6. Gegen 1888 bedeutet das einen Zuwachs von 54 o/0. Im Namen der Schulbehörden ihrer Länder begrüfsten den Kongrefs die Herren: Geh. Regierungsrat

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Brandl -Berlin, Oberschulrat Wall raf- Karlsruhe , Geh. Oberschulrat Gr e im -Darmstadt und Reg. u. Schulrat Dr. Sch lern m er- Strafsburg. Da Rektor Rifs mann -Berlin am Erscheinen verhindert war, mufste die Ge- dächtnisrede auf Comenius ausfallen, und von Schenkendorff ergriff das Wort, um in einem Vortrage »Über die soziale Frage und die Erziehung zur Arbeit in Jugend und Volk» die idealen Ziele der Handarbeitsbewegung und ihre Berechtigung klar zu legen. Lange anhaltender Beifall lohnte den Redner. Darauf wurden die Verhandlungen des Kongresses um i V* Uhr geschlossen.

Mit dem Kongrefs war eine sehr umfangreiche Ausstellung von Schüierarbeiten verbunden, die dem Vereine sicher manchen neuen Freund zugeführt haben. Je nach dem Alter der- Schüler und der Zeit ihrer Teil- nahme an der Arbeit waren die Gegenstände natürlich von gröfserer oder geringerer Vollendung, aber es waren durchschnittlich sehr anzuerkennende Leistungen und nicht wenige, die als hervorragend bezeichnet werden müssen.

Eichen b. Hanau. C. Ziegler.

2. Hauptversammlung des Vereins für wissenschaftliche

Pädagogik.

Von Friedr. Franke in Leipzig.

Der V. f. w. P. hielt seine 24. Hauptversammlung in den Pfingsttagen 1892 in Zwickau ab. Ich versuche hier wie im vorigen Jahre in wenigen Hauptzügen ein Bild der daselbst vollbrachten Arbeit zu geben und ver- weise im übrigen auf die im Herbste erscheinenden »Erläuterungen zum 24- Jahrbuche.«

Zu der Vo r ve rsammlun g am 2. Pfingsttag abends hatte sich der Saal des Hotels »zur Tanne» ziemlich gefüllt Herr Oberl. Zemmrich be- grüfste die Erschienenen im Namen des »Päd. Vereins« und der »Pfycho- logisch-pädagogischen Sektion«. Aus seinen Ausführungen möge hier noch die Mitteilung Platz finden, dafs die lateinische Schule in Zwickau schon vor der Reformation einmal 900 Schüler hatte. Der Vorsitzende, Herr Prof. Theod. Vogt aus Wien, wies auf die Behauptung (Erläuterungen zum 22. Jahrb. S. 5) hin, »dafs die Intensität des pädagogischen Interesses mit der Gröfse der Städte abzunehmen scheine«, und meinte, dafs es wenigstens keiner Entschuldigung bedürfe , wenn der Verein eine »kleine Stadt« , in welcher aber eine lebhafte pädagogische Thätigkeit herrscht, aufsuche. Die Basis unserer Vereinsthätigkeit sei der Glaube an die hohe Aufgabe der

PXdacogUche Studien. IV. 15

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Erziehung, und eine besondere Mission des Vereins sei es, diese Aufgabe allezeit fest- und hochzuhalten und nicht, wie im Drange der Geschäfte so mancher Erzieher thut, sich mit der Erreichung näher liegender, aber minderwertiger Ziele zu begnügen. Der erziehende Einflufs des Lehrers neben dem der anderen Erzieher gründe sich aber auf die Thatsache, dafs veränderte Anschauungen nach und nach den ganzen Menschen umgestalten. Nur sei dazu stofsweise , fragmentarische Thätigkeit unzureichend . und da unser Verein eine teilweise Umbildung der pädagogischen Anschauungen bezweckt, so sei unsere stetige Art der Vereinsbarkeit der anderer Vereine, z. B. auch der der allg. Philologenversammlung vorzuziehen.

In warmen Worten gedachte der Vors. noch eines verstorbenen her- vorragenden Mitgliedes, des Direktors Dr. Frick, jder abweichende An- schauungen in friedlicher Weise verfochten habe; der mit uns die Staats- pädagoyik in ihrer heutigen Gestalt bekämpfte ; der amtlich und litterarisch ein Mittelpunkt verwandter pädagogischer Bestrebungen war. Die Ver- sammlung ehrte da» Andenken dieses Mannes durch Erheben von den Sitzen.

Die Mitteilungen aus den Zweigvereinen standen unter dem Zeichen der Frage: Besondere Vereine oder nur Vertretung unserer Ge- danken in anderen Vereinen ? Handelte es sich doch für die sächsischen Mitglieder darum, Stellung zu nehmen zu dem Vorschlage des Herrn Prof. Rein ('vgl. Heft 2, S. 116 f.), eine »Verbindung der Herbartfreunde in ganz Mitteldeutschland« herbeizuführen. In Zwickau besteht in dem »Päd. Verein« eine »Psychologisch-pädagogische Sektion«. Die letztere wurde 1870 gegründet und arbeitete anfangs Werke Benekescher Richtung (z. B. Drefslers Psych, u. Logik), später vorwiegend solche Herbartischer Richtung durch (,z. B. Hesses Schreibunterricht, Langes Apperception, Lazarus' Leben der Seele, Zillers allg. Päd., Dörpfelds Denken und Gedächtnis, Nohlowskys Ethik, Herbarts Umrifs und das Abc der Anschauung). Höchste Zahl der Teilnehmer war 30. In Plauen, Chemnitz, Dresden, Leipzig bestehen besondere Vereinigungen, ebenso auch in Magdeburg (nach sechsjährigem Bestehen auf 82 Mitgl. angewachsen), in Magdeburg-Land, in Schönebeck, Löderburg, Zerbst und Umgegend. Neben dem Magdeburger Herbartverein leitet Herr Rektor Dr. Felsch noch kleinere Kurse für Psychologie, so dafs auf einmal 12 Exempl. von Volkmanns Psychologie bezogen wurden» Aulser- dem soll zu Michaelis eine erste Versammlung die Herbartvereine im Re- gierungsbezirke Magdeburg zusammenschliefsen und Arbeiten diskutieren, die den Mitgliedern vorher im Schulblatt der Provinz Sachsen vorgelegen haben. Ein ähnlicher Plan besteht in Zerbst, und diesem Vorbilde schlössen sich die sächsischen Besucher an , nur mit dem Unterschiede , dafs kein besonderer Verein gegründet wurde, »in den man eintritt, aus dem man austritt, in dem man besondere Steuern zahlt« ; sondern es soll in den nächsten Michaelisferien in Chemnitz eine freie Versammlung abgehalten werden, zu der jedermann Zutritt hat, die Verhandlung soll gedruckt vor- liegende Unterlagen haben eventuell sollen in einem geeigneten Blatte besondere Arbeiten erscheinen), und die erste genaue Mitteilung dar-

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über sollen die Mitglieder erhalten durch die > Mitteilungen des V. f. w. P.« oder in anderer Weise.

Die Meinung ging noch weiter dahin, später Sachsen in mehrere kleinere Kreise zu teilen ; eine Landesversammlung werde der weiten Reise wegen niemals viel mehr Besucher haben als z. B. eine Versammlung der Kreis- hauptmannschaft Dresden für sich, und für kürzere Reisen brauche dann wie bei den bisherigen Weifsenfclser Zusammenkünften nicht immer eine Ferienwoche in Aussicht genommen zu werden. Die von der weiten Reise hergeleiteten Schwierigkeiten würden sich bei einem Verein für Thüringen und Sachsen noch erhöhen, aufserdem könne wegen der Ungleichartigkeit der gesetzlichen Einrichtungen etc. die besondere Aufgabe solcher Zweig- verbände, den thatsächlichen Verhältnissen möglichst viel abzuringen , bei der Teilung besser erreicht werden. Das waren die Gedanken, die in dem Beschlüsse festgelegt wurden.

Ob dieser Beschlufs die beste Lösung der Frage ist, soll hier nicht weiter Untersucht werden. Bestimmend wirkte wohl auch die Erwägung mit, dafs man in Mitteldeutschland wenigstens aller 2, 3 Jahre die Pfingst- versammlung einmal in der Nähe hat, während in anderen Gegenden die Sache anders liegt. Wünschen wir einstweilen den freien Versammlungen so viel Glück, wie einige Zweigvereine bereits haben! Herr Dr. Glöckner in Leipzig und der Unterzeichnete hatten in einem Rundschreiben noch den Vorschlag gemacht, das Jahrbuch etwas weniger umfangreich erschei- nen zu lassen und dafür die Erläuterungen bezw. Mitteilungen durch eine möglichst vollständige fortlaufende Übersicht der Zweigvereinsthätigkeit zu erweitern. Es wurde aber von einer »Verkleinerung« des Jahrbuches ab- geraten, und für das andere ist dann in der kontraktlichen Bogenzahl kein genügender Raum, immerhin ist Erläut. 23, S 64 f. ein Anfang gemacht, der fortgesetzt werden wird. Im Zusammenhang damit steht auch der am folgenden Tage gelafstc Beschlufs, die nächste Pfingstversammlung ein Stück nach Westen zu legen, bezüglich des Ortes aber dem Vorstände nach Verständigung mit den rheinländischen Mitgliedern die Entscheidung zu überlassen.

Die im Inhaltsverzeichnisse des Jahrbuches gegebene Tagesordnung wurde dahin abgeändert, dafs Prof. Reins Arbeit >Zur Schulgesetzgebung« an die Spitze treten solle.

Die wissenschaftlichen Verhandlungen (Dienstag und Mittwoch) fanden in der Aula des Realgymnasiums statt.

1. Rein, Zur Schulgesetzgebung.

Die Debatte spiegelte einigermafsen die politische Erregung des ver- gangenen Jahres wieder. Zunächst wurde bemerkt, der für eine mehr po- puläre Zeitschrift geschriebene Aulsatz hätte für das Jahrbuch um- bez. ausgearbeitet werden müssen, besonders auch mit Rücksicht auf die Arbeit von Rolle : die Selbständigkeit der Schule inmitten von Staat und Kirche (Päd. Stud. 1&89, S. 193). Dies konnte der Vors. damit entkräften, dafs über den aktuellen Gegenstand zunächst nur die auch anderweit bekannt gewordenen Jenaer Thesen ins Jahrbuch kommen sollten, schliefslich aber

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dieser Aufsatz (als letzte Arbeit! aufgenommen wurde, weil er für die Dis- kussion doch eine bessere Unterlage bilde. Mit der Kürze und ursprüng- lichen Bestimmung der Arbeit hingen aber wohl alle Ausstellungen an der Arbeit oder auch an der Idee selbst mehr oder weniger zusammen. So vor allem die Meinung, der ganze Streit drehe sich jetzt um des Kaisers Bart, da der Staat zur Zeit und noch auf lange hinaus unmöglich so viel Macht aus der Hand geben werde; das wurde eigentlich nicht bestritten, aber die Macht durch vernünftiges Zureden, d. h. durch eingehende Dar- legungen und durch Konzentrierung der Kräfte zu erobern sei gerade die Aufgabe (vgl. übrigens Jahrb. S. 317 über die Unfähigkeit der Büreau- kratic), und eine kräftige Aufforderung dazu schlofs später diese Debatte. Ferner die Meinung, dafs in dem vorliegengen Entwürfe der Familie zu viel Rechte zugewiesen würden, d.h. mehr, als sich aus der Sache heraus begründen liefsen; hiergegen verwies man auf die vorhandene Littcratur, auf die vermittelnden Glieder vom Schulvorstande an aufwärts sowie da- rauf, dafs in einem künftigen Geschlcchtc das Interesse der Familie an der Erziehung viel gröfser sein müsse. Erst dann könne man ihr auch mehr Rechte anvertrauen. Durch welche Mittel dieses Interesse zu wecken, zu stärken sei, darüber beriet man am Abend des ersten Versammlungstages in einer freien Versammlung, und hier wurden namentlich über die Eltern- abende*) lehrreiche Mitteilungen gemacht, so aus dem einen Orte, dals die Lehrer solche Abende abhielter. und die Geistlichen mifsvergnügt zu- sähen, aus dem andern der umgekehrte Fall.

Die weitere Besprechung drehte sich um die Frage : Wie verhält sich hinsichtlich des Erziehungsideals die Schule zur Kirche und zu den Kirchen5 Hierbei kam hauptsächlich folgendes zur Aussprache : Die von Dörpfeld u. a. geforderte Sonderung der Schulen nach Bekenntnissen« hat nichts gemein mit dem Streben derer, welche die Sozialdemokratie durch kirch- liche Hierarchie bekämpfen wollen (S. 3oq). Auch geht diese Forderung bekanntlich nicht hervor aus religiöser Engherzigkeit, und sie hat nicht den Zweck im Auge, Beschränktheit und Engherzigkeit methodisch zu pflegen. >Was die Konfessionalität anlangt, so wäre es gewifs zu mifs- billigen, wenn aus engherzigem Konfessionalismus z. B. geschichtliche That- sachen gefälscht oder die Unterschiede zwischen Protestanten und Katho- liken, Reformierten und Lutheranern mehr hervorgehoben würden als die den verschiedenen Konfessionen gemeinsamen Überzeugungen, oder wenn durch konfessionelle Lehren ein entschiedener Aberglaube gefördert und das allgemeine Wohlwollen eingeschränkt werden sollte. . . . Einen jeden sollte das Bewufstsein, dafs seine konfessionelle Ansicht selbst nicht über allen Zweifel zu erheben sei, duldsam gegen die konfessionellen Ansichten anderer machen, und einem jeden sollte auf solche Duldung auch ein recht- licher Anspruch zugestanden werden.« Ziller, Grundlegung, 1. A. S. 462 f. Hiernach ist auch die Simultanschulc nicht gänzlich verpönt, falls die Eltern sich dahin geeinigt haben, s. Jahrb. S. 313, Punkt 6 und Ziller a. a. O.'S.

S »i Lomberg-Elberfcld, Lck»ätxc de» Niederrhein. Herbart Verein*, Elberfeld. 1892.

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463 : »Ist einmal das Bedürfnis gemeinsamer Schulen vorhanden, so mufs der Lehrer (1) im stände sein, sich auch auf den Standpunkt der Konfession zu versetzen, der er selbst nicht angehört, und in ihrem Sinn mit allem Ernst konsequent fortzudenken.« Nach diesen Voraussetzungen gilt nun die Forderung ohne Einschränkung: Der Zögling soll zu individueller Gestalt geführt werden! Hiernach ist dann die paritätische oder die Simultanschule nicht die beste Einrichtung, wie von einer Seite behauptet wurde, sondern ein Notbehelf. Ein Lehrplansystem, das auf Charakter- bildung angelegt ist, läfst sich bei abgesondertem Religionsunterricht nur unvollständig entwerfen und ausführen. Ferner läfst sich das Urteil der Kinder über geschichtliche Personen, falls es verschieden ausfällt, nicht durch blofses Reden so beeinflussen, dafs ein an sich richtigeres Urtei dem Charakter des Kindes entstamme oder in denselben übergehe. Die Geschichtswissenschaft sollte gewifs über eine Person, über eine Thatsache nicht verschieden urteilen, aber die Auffassung der Thatsachen selbst ist nicht selten schon streitig. In der Erziehungsschule aber handelt es sich gar nicht um blofse Aneignung von Thatsachen, sondern um Stärkung des Charakters, und dieser Unterricht darf nicht aufgeschoben werden, bis etwa die Schüler verschiedener Konfessionen »durch einen vermittelnden Gedankenkreis sich einander genähert haben.« (Ziller a.a.O.) Das ethische Erziehungsideal in abstracto ist allerdings nur eins, aber die Erziehungs- arbeit darf nicht Ziel und Ausgangspunkt verwechseln, sie mufs zunächst den wirklichen Menschen hinnehmen und nach und nach dem Ziele näher zu führen suchen. Zur individuellen Gestaltung ist auch ein deutlich ausgeprägtes Schulleben, wie es sich zeigt in der Feier der Feste, in der Wahl der Gebete und Lieder, in der Berücksichtigung häuslicher Gebräuche u. s. w., nötig. Jede Schule habe ihren bestimmten Charakter, auch in religiöser Hinsicht, einzelne Schüler anderer Konfession behandle man als Gäste. In irgend einer nahen oder fernen Zukunft kann ja, wurde gesagt, eine neue Gestalt der Religion, des Christentums die Schule von der Rücksicht auf derartige Spaltungen entbinden. Vgl. Ziller, Gründl. S. 463: Es ist nämlich recht wohl möglich, dafs eine ins allgemeine Be- wufstsein übergegangene richtigere psychologische Lehre über die Freiheit oder über die Möglichkeit der Besserung bestehende Konfessionsunter- schiede aufhebt und die dadurch Getrennten vereinigt.

Wie das historische Urteil ist auch das ethische Ideal nicht ganz dem Streite entrückt. Zwar hat Kant gesagt, die Frage, was gut oder böse sei, könnten nur Philosophen in Unordnung bringen, aber diese haben davon auch ausgedehnten Gebrauch gemacht! Trotz allem, was sich gegen die Kirchen sagen läfst, erhält doch die Mehrzahl der Familien ihre Ideale durch die Kirche, wenn auch nicht wissenschaftlich bestimmt und nicht immer in reinster Gestalt, sondern so, dafs das Konfessionelle als ein Bestandteil des Ideals erscheint. Lösen sich die Familiengenosscnschaften zu sehr von den Kirchen (Jahrb. S. 313, Punkt 6), dann entsteht die Gefahr, dafs rein wirtschaftliche Gesichtspunkte die Schule beherrschen. In der That fand man es auffällig, dafs der Herr Verf nicht von Erziehung, sondern nur von

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»Bildung« spricht, die zwar dem Vereine Wissen und Veredlung, im ge meinen Leben aber nur Wissen bedeutet. Nach dem Verlaufe der De- batte konnte man sagen, dafs es sich noch nicht blofs um Eroberung der Macht, sondern noch vielfach um Klärung und Annäherung der Ansichten handelt

2. Glöckner, Die formalen Stufen bei Herbart und seiner Schule. Mit Rücksicht auf Gleichmanns Schrift u. s. w.

Die Abhandlung enthält zunächst eine Darstellung der Lehre Herbarts (S. 184 202), worüber sich keine eigentliche Debatte entspann. Es folgt sodann eine Kritik der G I eic hmann sehen Auffassung < bis S. 220 ', wobei man am längsten verweilte. Hier lag die Hauptfrage: Wie Zillers Stufen von denen Herbarts zu unterscheiden seien. Dafs sie zu unterscheiden seien, wurde von keiner Seite bestritten. Gleichmann sieht in Zillers Lehre nur eine Verengerung der Herbartischen und sucht die Unzulässigkeit dieser Verengerung nachzuweisen ; dagegen sucht wiederum Glöckner nachzuweisen, dafs Gleichmann eigentlich die Zillersche Aus- und Umgestaltung vorwiegend im Kopfe habe und in dieselbe die Herbartische Form nachträglich wieder hineinzuzeichnen suche (S. 260), dabei aber beiden Gewalt anthue.

Nach Willmann und Glöckner sind Herbarts vier Stufen eine beson- dere Anwendung der Vertiefung und Besinnung, welche die allgemeinen Bedingungen der Vielseitigkeit sind. Der Wechsel von Vertiefung und Besinnung findet bei jedem Unterrichte statt, in der besonderen Form der vier Stufen aber nur bei zusammenhangslosem Stoffe, und bei letzterer Art entstehen aus dem zusammenhangslosen Stoffe durch die Behandlung »kleinste Gruppen«, d. h. kleinste systematische Ganze. Z.B. ist die Odyssee ein zusammenhängender Stoff , und bei der Lektüre wechseln nur im allge- meinen Vertiefung und Besinnung nach Lehrabschnitten. Aber bei den einzelnen Abschnitten erhält der Schüler hier eine Vorstellung z. B. vorn Kriegswesen der Alten und daneben eine andere über häusliches Leben oder Religion u. s. w. Jede einzelne Vorstellung über Kriegswesen aber assoeiiert sich mit etwaigen früheren, ferner mit späteren Vorstellungen, und am Ende der Odysseelektüre entstehen systematische Gruppen, wie sie die Letebücher Willmanns am Schlüsse haben; z. B. im Lesebuch aus Homer: das Land; die Landschaft und das Klima; Beschäftigungsweise der Bewohner; Stadt und Haus; die Familie; die Gemeinde; der Gottesdienst Das sind zusammenhängende Systeme, deren einzelne Teile aber vorher nicht zusammenhängen. So bilden die Stufen Herbarts ein allgemeines Schema, das der Lehrer immer, auch beim analytischen Unterricht, im Kopfe haben mufs, um gegebenen Falles darnach zu handeln, aber keine strenge Anweisung, die einzelnen Leht abschnitte durchzunehmen. (VgL die Zusammenfassung S. 219 f.)

Das ist die Interpretation der Lehre Herbarts, die der Verf. zu ver- treten hatte. Dr. just verwies zunächst auf eine S. 217 219 nicht erwähnte Stelle aus Herbarts Encyklopädie § 165: »Ganz genau so (d. h. nach An-

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leitung der Begriftsreihe Klarheit u. s. w.) die Philosophie zu lehren, er- lauben die äufseren Verhältnifse nicht. Das Gedränge dessen, was gelehrt und gelernt, vollends was gelesen wird, gestattet höchst selten, dals man irgend einen Lehrgegenstand in irgend einem Fache so stufenweise durch- arbeite. Ob der Philosophie jemals die Zeit kommen wird, auf diese Weise studiert und wahrhaft zum Gebrauche zubereitet zu werden, das läfst sich nicht voraussehen.« Au! diese Stelle und auf sonstige abweichende An- sichten gründete dann Just die Meinung, Herbart habe es mit der Durch- führung sein er Stufen theoretisch strenger gemeint, aber der äufseren Hindernisse wegen nur praktisch etwas zurück gelassen. Nach Lotts Mit- teilungen an Vogt wandten in Herbarts Seminar die Übenden die Stufen in verschiedenem Grade an, je nach Individualität und äufseren Verhält- nissen. Glöckner meint dagegen, dafs Herbart strenge Durchführung seiner Stufen wünscht, zum Zweck der Gliederung und Beweglichkeit der Vorstellungsmassen; wenn er aber nicht bei jedem Lehrabschnitte Durch- führung derselben verlangt, so geschieht das nicht aus Nachgiebigkeit* sondern weil nicht jeder Abschnitt Veranlassung giebt.

Dje vom Verf. S. 199 gleichgesetzten Begriffe »Glied« und »Gruppe« möchte Dr. Felsch so trennen: Das Glied gehört zu einer Reihe homo- gener Vorstellungen, die Gruppe umfafst heterogene Vorstellungen. Hiernach wäre bei »kleinsten Gliedern« sofort zu systematisieren (nur die höheren Bestimmungsstufen folgen erst später), Gruppen dagegen nicht so- gleich. Die Frage bleibt dabei aber noch: Ist dieses Kleinste ein syste- matisches Ganze im obigen Sinne oder ein Lehrabschnitt wie Zillers Einheiten?

Weiter (S. 220 260) spricht die Abhandlung über die Schicksale der Herbartschen Stufen in seiner Schule, insbesondere bei Stoy <\Vaitz, Kern), Willmann und Ziller. Nach des Verf. Meinung sind Zillers Stuten ein Versuch, Herbarts Lehre von den Stufen sowie überhaupt alle für die Aneignung wichtigen Begrifte, ferner auch die Forderungen und Vorbilder anderer Pädagogen zu einem Kanon des Lehrverfahrens zusam- men zu fassen (229). Hierbei hat er die Stufenlehre in eigentümlicher Weise umgestaltet. Da nun in der älteren Generation Herbartischer Päda- gogen die Lehre von den Stufen nur wenig, fast gar keine Beachtung gefunden hat (224), Ziller dagegen bestimmtere Weisungen brachte und eine rege Thätigkeit entfaltete, so kam es, dafs ein Teil des pädagogischen Publikums den Unterschied übersah und wohl von sklavischem Nachtreten seitens Zillers sprach.

Zunächst sind Zillers Stufen nur berechnet auf die Bearbeitung kon- kreten, empirischen Stoffes zum Zwecke der Herausarbeitung des Allge- meinen. Begrifflichen, während bei Herbart Einzelnes und Zusammengesetztes (gleichviel ob konkreter oder abstrakter Art) sich gegenüberstehen. (Stud. 1891, S. 245.) Dieser empirische Stoff, »dasselbe Neue«, fafst dann das Durchlaufen der Stufen zu einer »Einheit« zusammen (Ziller, Allg. Päd. 2 A. S. 294), während bei Herbart die Einheit (d. h. aber nicht ein Lehrabschnitt, sondern die Vereinigung des Einzelnen) durch das System, also durch

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logische Gewalt, erst hergestellt wird. Damit hängen dann weitere Mo- difikationen zusammen:

a) Die Association wird wesentlich Abstraktion (234), und die System- stufe, fügt der Vors. hinzu, sieht (neben den zufälligen Gruppierungen) vor allem auf Feststellung des in dem Stoffe der Einheit enthaltenen Systems. Dabei aber erfolgt (233) der Ubergang zum fachwissenschaftlichen System bei Ziller oft zu rasch, d. h. bevor der Schüler im stände ist, den systematischen Ort für einen neuen Begriff selbst zu finden oder die Zweck- mäfsigkeit einer gegebenen Anordnung deutlich einzusehen. Es wird aber bestritten, dafs bei Ziller das Einzelne nur im Gegensatze zum Begrifflichen, nicht zum Zusammengesetzten überhaupt steht.

b) Die Durcharbeitung wird, nachdem der selbständige analytische Unterricht abgewiesen ist, durch ein Ziel eröffnet, und diesem folgt eine analytische Vorbesprechung (235), welche Herbart gar nicht kennt (2391. Es wurde aber aul »Umrifs« & 125 hingewiesen: »Für den eigentlichen synthetischen Unterricht setzen wir nun voraus, dafs der blofs darstellende und der analytische während des ganzen Laufs der Jugendlehrzeit überall an den passenden Orten zu Hilfe kommen.« Es mag noch erinnert werden an § 110: »Während geschickte Darstellungen eine Wirkung thun, als ob der Erfahrungskreis des Zöglings sich erweiterte, kommt die Analyse zu Hilfe, um die Erfahrung belehrender zu machen.« . . . »Die Erfahrung assoeiiert zwar das, was sie giebt; will man aber diese schon vorhandene Association in das Werk der Lehrstunden eingreifen lassen (wie es ge- schehen soll), so mufs Erfahrenes und Gelerntes zusammen passen; dazu gehört , dem Vorrat , welchen die Erfahrung darbot , die mangelnde Klarheit und die gehörige Bezeichnung durch die Sprache nahzubringen.« Doch stehen, wurde entgegnet, diese Weisungen nicht in Verbindung mit den Stufen.

Zu dem letzten Teile der Arbeit: Kritik der Gleichmannschen Auf- fassung des Verhältnisses der formalen Stufen (Herbarts) zu den übrigen didaktischen Begriffen (S. 260—279) wurde nichts wesent- liches bemerkt. Der Verf. selbst bedauerte, in diesem Teile sich einige Male zu stark ausgedrückt zu haben.

3. Just, Zur Lehre von den formalen Stufen des Unterrichts.

Ob Ziller den Begriff der Stufen Herbarts sowie ihre Anwendung auf die Lehrabschnitte verengt habe (S. 280—289), das konnte nun kein Streitpunkt mehr sein. Dr. Felsch warf aber die Frage auf: Kann Viel- seitigkeit, als deren Bedingungen die Stufen Herbarts dargestellt werden, nur durch diese Stufen erzeugt werden? Kann ebenso allgemein- giltiges Wissen, das Ziel der Zillerschen Stufen, nur so erzeugt werden? Dr. Glöckner möchte z. B. den Begriff vom Aorist, für den die deutsche Sprache kein Analogon hat, nicht entwickeln aus mehreren oder vielen Bei- spielen, die selbst vorerst gar nicht verständlich sein würden, sondern aus dem Gegensatz zu den deutschen Zeitformen; also den Begriff nicht aus seinem empirischen Stoffe, sondern aus verwandten Begriffen. Die Debatte

kehrte aber zu der oben angeregten Frage von der Vertrühung der Ab- straktion zurück. Dr. Just weist S. 286 den ersten beiden Schuljahren einen propädeutischen Unterricht, der nicht nach Zillers, sondern nach Herbarts Stufen verläuft, zu. Man erklärt dies daraus, dafs der selbständige analytische Unterricht noch nicht überwunden sei.

Dr. Lange hält eine einheitliche Unterrichtsform für alle Altersstufen für wünschenswert und behauptet ferner, die Zillersche Lehre habe auch auf späteren Stufen zu verfrühten Abstraktionsversuchen geführt. Nicht aligemeine Begriffe schlechthin dürften das Ziel des Systems sein, sondern Zusammenfassung dessen, was der Schüler nunmehr wirklich hat, ohne Rücksicht auf den Abstraktionsgrad.

Hinsichtlich der Gestaltung der Zillerschen Unterrichtsein- heiten (S. 289 294) hat Just dem Abstraktionsteil der Einheit mit Gleich- mann ein besonderes Ziel vorangestellt, das man lieber blofs Überleitungs- frage nennen möchte. Den von Ziller geforderten zeitlichen Abstand des zweiten Teils der Einheit will aber Dr. Just mit Gleichmann nicht (S. 292). Zu Justs Gründen wird bemerkt, Ziller wollte geradezu, dafs beim Abstraktionsprozefs das konkrete Wissen nicht mehr lebendig sei, sondern wieder herauf geholt werden mufste. Unmittelbare Wiederholung hat ge- ringeren Wert als solche, die etwas später erfolgt. Am letzten Abschnitte des Aufsatzes (Altersstufen, Teilnahme) wurden keine wesentlichen Aus- steilungen gemacht.

4. Schilling, De r system atisc he Stoff im Geschichtsunter richte.

Der Aufsatz bekämpft im allgemeinen die Ansicht Bodensteins (Stud. 1891, S. 129 ff.), welcher aus dem geschichtlichen System alle Zahlen, Ober- sichten, das Kulturgeschichtliche und Religiöse verweist und nur Ethisches in demselben für angemessen hält. Für gröfsere Schüler wird von Dr. Schil- ling ein durchschossener Leitfaden empfohlen, der nach der Durcharbeitung eine Art gesellschaftliche Ethik enthalten würde.

Man wünscht, dafs die Darlegung nicht gleich vom System, sondern vom Zwecke" des Geschichtsunterrichts (»Verständnis des Lebens der Gegenwart«, Fähigkeit, in dasselbe richtig einzugreifen) hätte ausgehen sollen. In dem Verhältnis des individualethischen zum sozialethischen, zum religiösen System liegen noch Schwierigkeiten ; man verweist auf Dörpfelds Repetitorium des humanistischen Realunterrichts, das auch eine Gesellschaft- slehre enthält. Im Geschichtssysteme selbst seien drei Bestandteile zu unter- scheiden: a) Historisch-Thatsächliches; b) Historisch-Ethisches: Grundsätze für das Leben der Gesellschaft; ob auch des Einzelnen, wird bestritten; c) Historisch- Psychologisches darüber, wie Staat, Kriegs- wesen, Sitten u. s. w. werden, sich verwandeln, vergehen ; hier können Ent- wickelungsgesetze oder Ansätze zu solchen gefunden und festgehalten werden.

Gegen die Definition von Gesetz als »konstantes Abhängigkeits- verhältnis u. s. w.« (S. 90^ wird die von Montesquieu vorgezogen: Gesetze sind die notwendigen Beziehungen, in welchen die Dinge ihrer Natur

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nach stehen. Daraus freilich zu folgern, dafs gesetzmäfsige Erkenntnis uns für immer verschlossen bleiben müsse, macht nach Lorenz dem For- scher die Geschichte unleidlich. Der Vors. gab einige Beispiele dafür, wie aus Thatsachen allgemeine (sozialethische u. a.i Sätze zu gewinnen sein könnten. Z. B. aus der 9. Präparation von Krell und Hermann über Otto I. auf der Synthesenstufe der konkrete Satz: Durch Einigkeit erlangten die Deutschen die nationale Unabhängigkeit; auf der Systemstufe der ab- strakte, und zwar sozialethische Satz: Einigkeit ist für Erhaltung der nationalen Selbständigkeit notwendig. Man glaubte aber, nach dem oben Mitgeteilten, dafs schon der »konkrete« Satz für Volksschüler ein »syste- matischer« sei und der abstrakte auf eine höhere Besinnungsstufe gehöre. Bei der folgenden Verhandlung wurde in vollständigem Gegensatz zu Bodenstein vorgeschlagen, in das historische System nur Tabellen. Zahlen und Ähnliches aufzunehmen, die ethischen und religiösen Gedanken aber dem Religionsunterrichte zu überweisen. Überhaupt wurden mehrere der hier aufgeworfenen Fragen beim nächsten Gegenstande mehr ins Einzelne verfolgt.

5. Schilling, Friedrichs des Grofscn Regierungsantritt.

Diese Geschichtspraparation soll zeigen, wie Quellenstücke aus des Verfassers Quellenbuche zur Geschichte der Neuzeit» für den Unterricht in einer Prima des Gymnasiums oder Realgymnasiums nutzbar zu machen sind. In der »neuen Ära« tritt der Regent als Diener des Staates auf, und es bereitet sich der Übergang vom ständischen zum Vertretungsstaate vor

Neu ist auf der Stufe der Methode der zusammenfassende, möglichst klare und schöne Vortrag des Lehrers. Verf. macht diesen Vorschlag nicht als Kompromifs, sondern hält ihn für die notwendige Ergänzung der Lektüre der Quellenstücke, die kein abgerundetes Bild bieten

6. Hollkamm, Nachträge zum Lehrplan für einfache Volks- schulen.

Der Aufsatz bezweckt die Anwendung dessen, was das vorige Jahr- buch über den Lehrplan der einklassigen, ungeteilten Volksschule gebracht hatte, auf die zweiklassige Schule mit zwei Lehrern. Die Vorschläge selbst veranlafsten keine Debatte. Die anwesenden Besucher aus dem Königreich Sachsen hielten wohl alle ihre zweiklassige Halbtagsschule (unter einem Lehrer) für die beste einfache Schulform. Mancher wird aber mit Er- staunen gehört haben, dafs in Preufsen die Halbtagsschuie in etwa 10000 Orten als allerdings nur geduldetes Mittel dient, einem Lehrer nicht 1 X und mehr, sondern 2 >< 80 und mehr Kinder anzuvertrauen ider Zedlitzsche Entwurf stellte die Maximalzahlen auf 60 + 60 fest). Die einklassige Schule dagegen bietet zwar anstrengende, aber in der Regel kürzere Arbeit, 20, 24, selten 32 Stunden für den Lehrer, dagegen für die Kinder mehr Stunden, als in der sächsischen Halbtagsschule Für die Erziehung durch Verkehr, Schulleben u. s. w. bieten diese einfachen Formen manche Vorteile, aber die Erziehung durch den Unterricht kommt sehr zu kurz.

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7. Hausmann, Zum Unterricht in der Algebra. Der Aufsatz enthält Kritisches zu Wilks Aufsatz im 23. Jahrbuche, zum Teil aber, wie gesagt wurde, »mehr Wünsche als Gegensätze«. Die Debatte bestand hauptsächlich aus einigen Gegenbemerkungen Dr. Wilks. So zu S. 133, dafs er nicht zur Bildung des sittlichen Charakters, genauer der sittlichen Ideen, sondern zur Charakterbethätigung Zahlenkennt- nisse für notwendig erklärt habe. Die Lehre von den imaginären und komplexen Zahlen lehnt er für die Erziehungsschule auch jetzt noch ab, als Forderung der Gesellschaft sowohl wie als Muster wissenschaftlicher Darlegung und als Mittel gegen die leichtfertige Skepsis der Gebildeten, vgl. Erläuterungen zum 23. Jahrb. S. 42—44.

8. Wiget, Herbart und Pestalozzi.

Die Arbeit bringt den Schlufs der Darstellung der methodologischen Prinzipien Pestalozzis (Die sittlich-religiöse Bildung) und sodann Pestalozzis Ansichten über Aufgabe und Methode einer Erziehungswissenschaft. (Die von der Überschrift und Jahrb. 23, S. 196 verheifsene »Vergleichung der Erziehungstheorien Pestalozzis und Herbarts« soll, trotzdem die diesjährige Arbeit »Schlufs« heifst, nach der Versicherung des Vors. erscheinen, sobald sie aus dem Tintenfafs erstanden ist.)

Zu dem Vorliegenden wird nur im allgemeinen bemerkt, dafs die An- klänge an Kant, von dem P. zwar wohl nichts gelesen, aber durch münd- lichen Verkehr Kenntnis erhalten habe, nicht genug hervorgehoben seien. Dasselbe sei mit Pestalozzis Rücksicht auf die gesellschaftliche Seite der Erziehung der Fall ; hierdurch würden die harten Ausdrücke S. 31, 37 über die »Kollektivansprüche unseres Geschlechts« u. s. w. in ein anderes Licht treten.

Die Behauptung (S. 30), dafs P. »von Anfang an« die Idee einer um- fassenden Erziehungstheorie vorgeschwebt habe, wurde bestritten. Im Schweizerblatt, in Lienhard und Gertrud finden sich die Belege dafür, dafs er anfangs gerade gegen Theorie und Kunstrcgel die Schäden der Zeit durch Thaten des Genies heilen wollte; dies war seine Sturm- und Drang- periode. Im späteren Leben hat er dieselbe auf seinem Gebiete nicht so weit überwunden wie Goethe und Schiller auf dem ihrigen.

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9. Thrändorf, Die Pflege des Patriotismus in Haus und Schule.

Die vor einem Seminarcötus gehaltene Sedanrede hat, wurde gesagt, jedenfalls der Pflege des Patriotismus in hohem Grade gedient, sie spricht aber weniger von der Pflege als vom Begriffe des Patriotismus. Der Satz vou Fichte (S. 73): »Charakter haben, und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend« möge der Jugend gegenüber sehr wirksam sein, beruhe aber auf der falschen Lehre, dafs der Charakter ursprünglich an- geboren sei.

Trotzdem so die letzten Arbeiten bei der Besprechung sichtlich zu kurz kamen, war doch die übliche Zeit schon überschritten, und die Versamm- lung mufste geschlossen werden. Erwähnt mag noch sein, dafs am Dienstag

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nach dem gemeinschaftlichen Essen von den Zwickauer Mitgliedern ein Teil der Besucher in das Kohlengebiet, ein anderer in die Marienkirche und sodann in die Ratsbibliothek geführt wurde. Sehr. d. Z. war bei der ersten Partie, vernahm aber am Abende von einem Teilnehmer an der zweiten, dafs dieser beim Anblick der Handschriften Luthers und aller der Seltenheiten der Ratsbibliothek in Versuchung geraten sei, sich heimlich einschliefsen zu lassen, aber derselben noch glücklich widerstanden habe!

Die Präsenzliste enthielt I09 Namen, und zwar 35 aus Zwickau selbst, 59 aus dem übrigen Sachsen, 6 aus Thüringen, 7 aus der Provinz Sachsen, ferner Prof. Lazarus aus Berlin und den Vorsitzenden, Prof. Vogt, aus Wien. Wie man sieht, hat der Lchrertag in Halle den Besuch etwas beeinfluist.

Möge den »Zwickauern« die Erinnerung an die Pfingsttage so ange- nehm sein, wie es den fremden Besuchern, wenn ich von mir aus schliefsen darf, ist. Und nunmehr auf fröhliches Wiedersehen zur fllnfuii&miuizigftten Hauptversammlung !

3. Der geographische Unterricht auf der „IV. Stufe".

Im 3. Hefte der »Pädagogischen Studien« vom Jahre 1891 macht K. Bodenstein den methodisch-kritischen Versuch, geeignetes Material für die Systemstufe im Geschichtsunterricht anzudeuten. Die Mängel, welche der Referent an den auf der IV. Stufe des genannten Faches auftretenden Sätzen hervorhebt (Verwechslung von Konkretem und Abstraktem, Zu- sammenstellungen, die nicht ein Ergebnis der Abstraktion, der Association sind, die nur vorgenommen werden, zwecks festerer Einprägungen, zum bessern Behalten des Stoffes etc. lassen sich nach meinem Dafürhalten auch an den »Systemen« des geographischen Unterrichts unschwer er- kennen. Auch in dieser Disziplin stellt man »Zusammenfassungen« auf, die weiter nichts sind als gedrängte Wiederholungen und Beschreibungen des be- handelten Stoffes. Schreibt doch Ufer in seiner Vorschule der Pädagogik Herbarts: »Bei naturkundlichen und geographischen Stoffen besteht die be- griffliche Fassung in der kurzen und knappen, alles Wesentliche ein- schliefsenden, alles Unwesentliche ausschliefsenden Beschreibung oder Dar- stellung des Gegenstandes.« Dafs eine solche Auffassung der IV. Stufe etwas Unrichtiges ist, liegt wohl klar zu Tage, eine kurze übersichtliche Darstellung ist denn doch noch lange kein Abstrahieren und kann darum auf keinen Fall als nächste Folge einer Association anzusehen sein. Schwer- lich wird man auf diese Weise der Forderung gerecht: »Auf der System- stufe ist die Ablösung des Allgemeinen von dem Individuellen anzustreben, sind die Merkmale durch bewufste und absichtliche Vergleichungen durch das Denken hervorzuheben und von dem Konkreten zu isolieren. Der

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Unterricht hat die Aufgabe, den Schüler anzuleiten, die gleichartigen Dinge mit Absicht und Aufmerksamkeit zu vergleichen und die allgemeinen Merk- male ausdrücklich zusammenzustellen. Vergleichung und Zusammenstellen des Begrifflichen: das mufs die Artikulation des unterrichtlichen Ab- straktionsprozesses sein.« Die citierten Sätze zugegeben, kann wohl von der Giltigkeit nachfolgender »Systeme« keine Rede mehr sein: Beobachtungen aul einem Spaziergange und Besprechung: I. Die Welt über uns. Es hatte geregnet. Die Luft war klar und frisch. Wind wehte scheinbar gar nicht, aber an dem Rauche der Schorn- steine, der nach Süden zog, erkannten wir seine Richtung. Er kam von Norden. Bald merkten wir auch, dafs die scheinbar stillstehenden Wolken nach Süden getrieben waren. Man konnte zwei Arten von Wolken be- obachten, Haufenwolken und Streifenwolken. Wir erinnerten uns, diese am häufigsten bei Sonnenuntergang, jene bei Entstehung eines Gewitters gesehen zu haben. Später sahen wir noch Schäfchenwolken. Diese sind Eis ()), jene Regenwolken u. s. w.

Systematische Zusammenfassung:

Luft. Klar, trüb, nebelig, frisch, schwül. Kalt t schwer); warm leicht) u. s. w.

IL Die Welt um uns. A der natürliche Zustand, i. Das Starre. An der Promenade sehen wir Überreste der alten Festungsmauer; die Promenade ist durch Zuschütten der Gräben entstanden, die Pflastersteine sind Por- phyr, das Trottoir Sandsteine, die Häuser sind von Ziegel- und Thon- steinen. Wo kommen die Ziegelsteine, die Thonsteine, der Porphyr, die Sandsteinplatten her? Hinführen an Ort und Stelle.

Der Ochsenberg ist eine Hochebene oder Plateau, ein gröfseres Plateau ist ein Tafelland, Terrassen bei Giebichenstein, Kuppen, eben- falls u. s. w.

Systematische Zusammenstellung:

Gesteine: Porphyr, Sandstein, Lehm- und Ziegelstein. Veränderung des Festen durch Menschen: Festungsgräben, Promenaden, Thongruben u. s. w. Veränderung auf natürlichem Wege: durch Wind, Wetter u. s.w. Das Relief des Landes, Tief-, Hochebene, Tafelland, Kuppenberge u. s. w.«

Diese Beispiele aus »Lehrproben und Lehrgänge von Dr. Frick« be- weisen wohl zur Genüge, wie wenig Wert gerade auf die Systemstufe des geographischen resp. heimatkundlichen Unterrichts gelegt wird. Auch die in den »Schuljahren« aufgeführten Systeme können nicht befriedigen, die Verfasser haben ihre diesbezüglichen mustergiltigen Ausführungen nicht so in die Praxis umgesetzt, wie man es hätte erwarten dürfen. »Den Übungen der Association,« so lesen wir im 3. Schuljahr, »reiht sich aufs engste die unterrichtliche Thätigkeit der Systemstufe an. Das Begriffliche, Gesetzliche und Charakteristische wird nun in der Gestalt, die es im Geiste des Schülers angenommen hat, für sich festgestellt, geordnet, den andern schon erarbeiteten Stoffen eingereiht, um so nach und nach das fachwissen- schaftliche System zu gewinnen. Demnach handelt es sich zunächst um Eintragungen ins Systemheft und zwar:

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a) um Formulierung des sprachlichen Ausdrucks für das gewonnene Begriffliche durch die Kinder unter Beihilfe des Lehrers. Hierher gehören die durch intensiven Vergleich gewonnenen Ergebnisse des Abstraktions- prozesses z. B. die Begriffe: Längs- und Querthäler, Ketten- und Massen- gebirge, Wasserscheiden und Bifurkationen etc.; die biologischen Gesetze des Erdendaseins (Einflufs des Klimas, der Produkte, der Bodenfiguration auf die Bewohner u. s. w.) und die Gesetze von der Wechselwirkung der tellurischen Kräfte;

b) um Aufzeichnung der charakteristischen Übersichten.«

So wünschenswert, ja so dringend notwendig die Erfüllung der erst- genannten Forderungen ist, so wenig dürfte wohl Wert zu legen sein auf das unter b) Gesagte; denn die Betonung des letztern Punktes auf der IV. Stufe halte ich für unrichtig. Über das Zeichnen im geographischen Unterrichte zu sprechen, gehört nicht hierher, soll es gepflegt werden, so weise man ihm doch einen Platz auf der II. Stufe an, da ja das Darstellen weiter nichts als ein Aneignen ist. Was soll nun auf der IV Stufe auf- treten, wenn das Zeichnen in das Systemhelt als nicht haltbar erscheint? Darauf giebt uns das unter a) Gesagte befriedigende Auskunft; das dort Verlangte läfst sich in einer gut organisierten Volksschule recht wohl er- füllen, wie der Schreiber dieses aus eigener Erfahrung berichten kann. Meine Systeme bezichen sich teils auf ethnographische, teils auf physi- kalische, volkswirtschaftliche und soziale Verhältnisse; viele derselben be- rücksichtigen die Wechselbeziehungen zwischen Klima, Land und Frucht- barkeit, wieder andere suchen die Einwirkungen des Menschen auf die Erdoberfläche darzustellen und die Verbindungen zu betonen, welche zwischen Beschäftigung und Charaktereigenschaften des Menschen bestehen, eingedenk der bekannten Forderung Pescheis: »Das Abhängigkeitsverhältnis der menschlichen Gesellschaft von der physischen Beschaffenheit des Wohn- orts etc. bedarf einer stärkeren Betonung.« Zur Illustrierung des Ange- deuteten seien hier einige meiner Systeme angeführt:

Je weniger ergiebig der Boden, desto gröfser der Fleifs der Bewohner;

Ergiebigkeit des Bodens ist abhängig von klimatischen Verhältnissen, aber auch von dem Fleifse der Bewohner ;

Ackerbau erfordert weniger Menschen, ernährt aber auch weit weniger als Industrie;

Die Beschäftigung bceinflulst den sittlichen Zustand der Gesellschafts- klassen ;

Ackerbau ist die erste Grundlage des Staates, der Gemeinde;

Durch den Ackerbau wird der Mensch zum Menschen gesellt, in friedliche, feste Hütten wandelt er das bewegliche Zelt;

Reichtümer des Landes führen zur Erschlaffung des Volkes;

Die Lebensweise der nordischen Völker ist eine ganz andere als die- jenige mehr südlicher Breiten;

Die Bauart der einzelnen Völkerschaften ist abhängig von der Lage des Landes und der Beschäftigung der Bewohner;

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Die Kleidung verschiedener Nationen ist eine verschiedene, sie richtet sich nach dem Klima des Landes ;

Länder mit heifsem, feuchtem Klima sind Herde ansteckender Krank- heiten;

Waldreiche Gebirgsgegenden zeichnen sich durch gesundes Klima aus u. dgl.

Der erste dieser Systemsätze ergiebt sich ohne weiteres nach Be- sprechung, resp. Vergletchung des Fichtelgebirgs, des Erzgebirgs hinsicht- lich der Beschäftigung der Bewohner; bei Betrachtung anderer Gebirgs- gegenden ist von neuem auf den aufgestellten Satz Bezug zu nehmen; denn wie im naturkundlichen Unterrichte so kann auch hier mit der Feststellung des Ergebnisses die Aufgabe noch nicht beendet sein. Unser Induktions- schlufs wird bedeutend an Sicherheit gewinnen, wenn eine weitere Be- tätigung gesucht wird ; wenn wir auch hier das »Erfindungstalent« recht flcifsig anrufen, so müssen unsere Bemühungen mit Erfolg gekrönt werden.

Der Satz: »Ackerbau erfordert weniger Menschen, ernährt aber auch weit weniger als Industrie,« läfst sich leicht gewinnen nach einer ver- SJeichenden Betrachtung von rheinischem Schiefergebirge Königreiche Sachsen und brittischen Inseln, auf welch letzteren dieser Gegensatz klar zu erkennen ist.

Selbstverständlich mufs es dem einzelnen Lehrer überlassen bleiben, dem betreffenden Systemsatze eine bestimmte Formulierung zu geben, weitere Andeutungen darüber zu. machen, dürfte wohl überflüssig sein, da vorliegende Arbeit zu einer bessern Gestaltung des geographischen Unterrichts nur anregen will. Aus dem oben Gesagten geht schon hervor, dafs nicht in jeder Geographiestunde das »System« berücksichtigt werden kann, und ich glaube nicht, dafs ein solches Verfahren als eine päda- gogische Unterlassungssünde zu betrachten ist, denn in jeder Lektion ge- nannter Disziplin den Denkprozefs vorzunehmen, dürfte vielleicht etwas gewagt erscheinen, man kommt dann sehr leicht in die Lage, alles andere zu bringen als Sätze, die durch Abstraktion sich finden lassen. Es liegt dies in dem Wesen des angezogenen Faches, die Betrachtung z. B. eines Flufsgebietes läfst wohl recht gut Vergleichungen mit einem andern Flusse zu, das Gleichartige kann zusammengestellt, das Gegensätzliche unter- schieden werden, für das begriffliche Denken aber bleibt wenig übrig. Wiget führt den Gedanken ungefähr folgendermafsen aus: »Es giebt Ge- biete, wo der Unterrichtsstoff selten Anlafs zu Abstraktionen bietet, wie in der Geschichte und Geographie. Die chronologische Tabelle und die Merkworte für den Gang der Erzählung sind keine Begriffe, die Vergleichung von Einst und Jetzt, die Zusammenstellung verschiedener Phasen einer ge- schichtlichen Entwickelung erhellt durch den Kontrast das Konkrete, ohne seine logische Beschaffenheit zu ändern. Was an wirklichen Begriffen ge- wonnen wird, beschränkt sich auf Stücke der Verfassungs- und Gesetzes- kunde. Ähnlich verhält es sich mit der Geographie. Wenn einmal die geographischen Grundbegriffe gewonnen sind, so schreitet der Unterricht von Land zu Land, von Flufsgebiet zu Flufsgebiet fort, ohne dafs neue

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Begriffe entstehen oder ein in der Bildung begriffener wesentlich weiter entwickelt würde. Man witd kaum behaupten wollen, dafs ein Abstraktions- pro zefs eintrete, wenn zum Rhein die Rhone hinzukommt, wenn die Flufs- karte der Schweiz vervollständigt wird, wenn sich einige Bergketten am St. Gotthard zusammenschliefsen oder die Kantone nach ihrer Einwohnerzahl oder Konfession gruppiert werden. Dals in diesen begrilTsarmen Regionen das Ganze der formalen Stufen nur dann Anwendung finden kann; wenn einmal ein Begri ff zu abstrahieren ist, liegt aufder Hand. < So ganz »begriffsarm« dürfte nun wohl der geographische Unterricht doch nicht sein, vorausgesetzt, dafs man es versteht, Gebietsteile, die nach irgend einer Hinsicht Ähnlichkeiten aufweisen, nach einander zu besprechen und dann den Abstraktionsprozefs vorzunehmen. Wenn Dr. Staude in dem Religionsunterricht eintritt »für die Verringerung der Systeme nach Zahl und Umfang und demgemäfs auch für das Zusammenlegen einzelner Er- zählungen zu gröfseren Einheiten, besonders wenn diese Gruppen von dem nämlichen Hauptgedanken durchzogen sind,« so mufs auch im geographischen Unterrichte die Forderung berechtigt sein: Erst nach Betrachtung einer Anzahl Länder und Heraushebung des Ähnlichen beginnt die Arbeit des begrifflichen Denkens und die Zusammenfassung des Erarbeiteten in kurze Sätze, die fest einzuprägen sind. Auf ein Mehr oder Weniger in der Zahl der betreffenden »Synthesen« kommt es wohl nicht an, das auszuwählen bleibe dem einzelnen Lehrer überlassen, Hauptsache ist, »die Heraushebung des Begrifflichen« und »die Entwickelung der biologischen Gesetze und der Gesetze von der Wechselwirkung der tellurischen Kräfte.« (Dafs diese Mafsnahmen in der Oberklasse, die Feststellung der geographischen Grund- begriffe in der Mittelklasse vorgenommen werden, bedarf nur der An- deutung.)

Wird ferner bei Aufstellung der Systeme, resp. schon auf der III. Stufe auf die heimatlichen Verhältnisse mehr Bezug genommen, ein Moment, dem leider immer noch nicht die gebührende Beachtung geschenkt worden ist, so werden unsere Schüler bald einsehen, dafs die Länder, von denen man dachte, »da liegt das Geld wie Stroh,« noch nicht entdeckt sind, und dafs überall noch manches zu wünschen übrig bleibt. Gerade durch die System- sätze, die das volkswirtschaftliche Leben betreffen, ist uns ein gutes Mittel in die Hand gelegt, den Sinn für die vaterländischen Einrichtungen zu fördern und zu pflegen, den Schüler erkennen zu lassen, wie eine wohl- wollende Staatsregierung und Fleifs und Stetigkeit seitens der Bewohner die ersten Bedingungen zu einer gedeihlichen Entwickelung des wirtschaftlichen Lebens, zu einem zufriedenen und menschenwürdigen Dasein bilden.

»Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis. Ehrt den König seine Würde, ehret uns der Hände Fleifs,«

das ist ein System auf welches der geographische Unterricht oft zurück- kommen mufs; dieser Satz soll des Mannes Kompafs sein, wenn wildbewegte

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Wogen sein Lebensschifflein umbranden, wenn der Sirenengesang aller derer ertönt, die ihn auf jene schroffen Eilande locken, von denen kein Schiffer zum sichern Port die Fähre lenkt. So tritt unser Unterricht in- direkt in den Dienst der Sozialpolitik und feiht einer hohen Sache seine helfende Hand. Fürwahr eine schöne Aufgabe, deren Lösung des Schweifses und der Arbeit eines jeden Lehrers wert ist!

Alzey. Mathes.

4. Vom IX. Deutschen Lehrertage zu Halle a. S.

Ein Bericht von Dr. B. Macnnel.

Man hat den Massenversammlungen jede Berechtigung abgesprochen; überflüssig, ja gefährlich sind die Tagungen namentlich der deutschen Lehrer- schaft genannt worden. Wie steht es mit der Wahrheit dieser weitum- gehenden Meinungen?*) Es ist ja allerdings nicht zu bestreiten, dafs bei einer Vereinigung von fast 2000 Schulleuten die Pädagogik als Wissen- schaft nicht gefördert werden kann. Auch mufs zugegeben werden, dafs der in politisch bewegter Zeit (5. Aug. 1848) gegründete »Allgemeine Deutsche Lehrer-Verein< nicht mehr benötigt ist, den deutschen. Einheitsgedanken auch von einer nicht zu unterschätzenden Seite zu pflegen; die Jetztzeit hält eben eine Betonung des Verbrüderungsgedanken bei Zusammenkünften gröfseren Stiles für überflüssig. Trotzalledem kann aber dem Lehrertage seine Berechtigung nicht abgesprochen werden. Was der Jenenser Natur- phÜQSOph Oken von den Wanderversammlungen der Naturforscher sagte (1823), das gilt auch von denen der deutschen Lehrer: »Dergleichen Zu- sammenkünfte sind für den eigentlichen Zweck der Versamlung, nämlich die persönliche Bekanntschaft, die erspriefslichsten. Man spricht von Herz zu Herz, man spricht über die verschiedensten Dinge, man spricht in fröh- licher Stimmung, und so lernt man sich kennen, sich schätzen und gefafstc Vorurteile, vielleicht Abneigungen verscheuchen.» Aber nicht blofs nach der gesellschaftlichen Seite hin empfiehlt es sich, grofse Lehrerversamm- lungen zu besuchen; auch und nicht zum geringsten Teile finden Volksschule und Volksbildung ihre Förderung dabei. Man denke nur an eine neue Erfahrung, eine neue Idee, welche rasche und weite Verbreitung verdienen. In dem gröfsten Kreise der Berufsgenossen mufs das Neue und Bedeutende verkündet werden, um eine sogen. Stimmung für dasselbe zu

*) Vergl. „Über pädagogische Diskussionen und die Bedingungen, unter denen sie ntitren Jkönnen,« in Fr. Mann, Pädagogisches Magazin, Heft a. 189a, Beyer u. 8. Langental«.

Pädagogische Studien. IV. 16

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erzeugen. Und wer regelmäfsig mit Berufsgenossen sich zusammenfand , wird mit manchen neuen Erfahrungen, neuen Ausblicken bereichert nach Hause zurückgekehrt sein, um sie dann in Ruhe prüfen und vielleicht an- wenden zu können. Schliefslich dürften die Standesinteressen ihren besten Schutz, ihre beste Pflege in den Massen Vereinigungen finden. Nur der Zu- sammenschlufs Vieler kann berechtigten Klagen über Mifsstande aller Art im Berufe einen wirksamen Ausdruck geben; »die Lehrervereine mögen

so erklärt auch der Herausgeber der »Deutschen Lehrerzeitung« , P. Zillefsen in »Was lehrt der VIII. Deutsche Lehrertag«, S. 42 in Ver- tretung der äufseren Interessen der Schule und der Standesinteressen der Lehrer auch noch fernerhin ihre nicht zu unterschätzende Bedeutung haben».

Kann mit wenig Worten nachgewiesen werden, dafs die Lehrertage nicht Überflüssig sind, so ist auch deren Ungefährlichkeit bei einigem guten Willen leicht zu erkennen. Der gute Wille darf freilich nicht durch Partei- fanatismus erstickt sein. Letzterer lälst wirklich häufig der Lehrerschaft wenig Wohlwollen zukommen. Wie kann man z. B. ein Wohlwollen finden in den Verdächtigungen, welche die Neue Preulsische Zeitung 1S92 (N. 270)» Reichsbote (135), Eichsfeldia (129), Germania (129) erheben. Sie behaupten z. B., dals aut den Lehrertagen unter der Maske der Gesamtvertretung aller deutsehen Lehrer nur der »kirchen- und vielleicht religionsfeindliche Teil«

und nur das »phantastische, liberale Lehrertum« vertreten sei. Es ist ja leider wahr, dafs sich die Mehrzahl deutscher Seminarlehrer von den grofsen Lehrervereinigungen fernhält; es ist ferner mit Bedauern zuzu- gestehen, dafs der »Katholische Lehrerverband« ein kleines Ganze ohne Fühlung zum grofsen Ganzen bildet; ist aber der grofse Hauptteil und es waren 71 000 Lehrer durch 190 sogen. Delegierte zum Dt. Lehrertage vertreten nun der »kirchen- und vielleicht religionsfeindliche Teil« , das »phantastische, liberale Lehrertum« ? Ja das Wohlwollen treibt die zu zweit genannte Zeitung sogar zu folgender Mahnung an die Behörden : »Es wäre endlich an der Zeit, dafs man aufhörte, diesem phantastischen liberalen Lehrertum, wie es auf diesen sogenannten Lehrertagen das grofse Wort führt, durch Begrüfsungsreden und Telegramme seitens der Behörden den Bart zu streichen. Es ist dadurch viel gesündigt worden. Die unsinnigen Aufstellungen des Hallenser Lehrertages zeigen aufs Neue, dafs es nötig ist, diesem radikalen mafslosen Strebertum entgegen zu treten.« Und doch betonte dieselbe Zeitung in einem Leitartikel N. 132, 1890 zur Erklärung »radikaler» Äufserungen anläfslich des VIII. Lehrertages: »Wir müssen es wiederholt aufs schmerzlichste bedauern, dais die Regierungen den Lehrern gegenüber nicht so ihre Schuldigkeit gethan haben, wie es nötig ist.«

Dafs der IX. Deutsche Lehrertag zu Halle weder überflüssig noch gefährlich zu bezeichnen ist, möchte auch die Tagesordnung bekunden. Eine Sammlung der Gedanken zur Würdigung der Manen des edlen Corac- nius, dessen dreihundertjährige Geburtsfeier die Verhandlungen einleiten sollte, kann unmöglich als überflüssig und gefährlich bezeichnet werden. Und die Festrede des Pastor Primarius Seyffardt aus Liegnitz be-

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kannt als Parlamentarier, als Herausgeber der Werke Pestalozzis und der Preufsischen Schulzeitung schilderte wirklich nicht, wie die Eichsfeldia (129) meint einen >etwas seltsamen Heiligen«, welcher allein lehrt, >die Schule darf kein Anhängsel der Kirche sein und sich nicht von ihr beherr- schen lassen«. Der Festredner kennzeichnete vielmehr den frommen und friedfertigen Bischof 1. als selbständigen Pädagogen, welcher dem Schul- wesen feste Gestalt gegeben hat, 2. als weitblickenden Schulpolitiker, welcher das gesamte Schulwesen einheitlich durchführte, und 3. als Freund des Volkes und der Schule, welcher in der Beschaffung ausreichender Existenz- mittel für letztere den Grund der sich steigernden Lebenskraft erkannte.

Bei diesen Hauptpunkten fand sich reichlich Gelegenheit, überraschen- den Beziehungen zu jetzigen Schulverhältnissen nachzugehen, und der Redner durfte der Hoffnung Ausdruck geben: Möge das Testament des Comenius bald in Erfüllung gehen, und mögen Lehrer wie Schulbehörden in der Nacheiferung dieses Pädagogen ihren Dank für sein Erstrebtes bezeugen!

Manche Anklänge aus der Festrede tönten zum Teil wieder aus dem folgenden ersten Beratungsgegenstande : »Die allgemeine Volks- schule in Rücksicht auf die soziale Frage« von Schulinspektor Sc herer- Worms.

Der sehr gewandte Redner hatte sich eine wohl auch nicht über- flüssige, aber für manchen Parteipolitiker doch gefährliche Aufgabe gestellt, die von ihm schon vor Jahresfrist in einer Abhandlung beleuchtet wurde : >Welche Anforderungen stellt unsere Zeit an die Organisation der Volks- schule?« Eine Besprechung in dieser Zeitschrift (XIII. Jahrg. 1.) hatte den Verf. aufmerksam gemacht auf das Fehlen eines geschichtlichen Abrisses und einer didaktischen Begründung. In seiner für den Hallischen Lehrer- tag erweiterten Vorlage wurde der Versuch gemacht, den ersten Teil dieser Lücke auszufüllen, indem der Vortragende auf Comenius und Pestalozzi verwies. Vermifst wurden die Stimmen aus der herbartischen Schule, die gerade durch ihre entgegengesetzten Urteile zu späterem vertieften Nach- denken Veranlassung gegeben hätten. Es wäre z. B. zu prüfen gewesen: Warum spricht Herbart von »einer verfrühten Trennung der Kinderwelt durch die Trennungen im Staate« (ed. Willmann II, 39) und nennt es »keinen Ruhm für die verschiedenen Stände, wenn sie möglichst weit aus- einandertreten« (ed. Hartmann, XII, 266.) Und warum fordert Ziller: »Man darf daher nicht eine Einheit der Schulen für die Anfänge der Bil- dungszeit herstellen wollen.« (Allgem. Päd. 1884, 81 u. Grundlegung, 1884, 503 ff.) Ferner dürfen Magers bedeutsame Vorschläge vom Jahre 1840 auf keinen Fall übersehen werden; sie müssen um ihrer Originalität willen eigentlich die Grundlage bilden für weitere Gedanken. Schliefslich konnte der leider zu früh verstorbene O. Frick erwähnt werden. Auf Grund seiner Ideen Über die »Einheit der Schule« streift er auch den hier in Frage stehenden Gedanken z. B. in den Lehrproben und Lehrgängen, XXVI, 119 ff. und erklärt: »Wenn mir mein Gefühl sagt, dafs die Her- stellung eines gewissen gemeinsamen Unterbaues aller höheren Schulen

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nur noch eine Frage der Zeit ist, zu welchem wir kurz über lang durch eine Art Naturnotwendigkeit gedrängt werden, dafs alle anderen Mittel an ihm vorbeizukommen nur zu kleinem Flickwerk führen, dem schlimmsten Hemmnis jeder organischen Entwickelung : dann fühle ich mich verpflichtet, mir die äufserste Grenze klar zu machen, bis zu welcher nur ein gemeinsamer Unterbau von höheren Schulen zulässig erscheinen könnte «

Dafs Redner auch die Zwangsschule der Sozialdemokraten mit ihren unpädagogischen Grundsätzen charakterisierte, führte wenigstens zu einer didaktischen Begründung seiner allgemeinen Volksschule nach der nega- tiven Seite hin.

Der zweistündige freie formvollendete Vortrag schlofs mit folgenden Forderungen ab:

1. a) Staat und Gemeinde sollen für die gemeinsamen Bildungsbedürf-

nisse nur gemeinsame, allen in gleicher Weise zugängliche Bildungs- anstaltcn erriehten.

b) Insbesondere soll für den allen notwendigen Elementarunterricht nur eine Art von öffentlichen Schulen vorhanden sein und sollen daneben auf Kosten des Staates oder der Gemeinde besondere Vorschulen für höhere Lehranstalten, Mittel- und höhere Töchter- schulen nicht errichtet, noch organisch damit verbunden werden.

c) Die bestehenden Vorschulen höherer Lehranstalten und die Ele- mentarklassen der Mittelschulen und höheren Töchterschulen sind aufzuheben.

2. Auf diesem gemeinsamen Unterbau, der allgemeinen Volksschule, bauen sich auf:

a) Die niedere Bürgerschule und deren Fortsetzung, die Fort- bildungsschule.

b) Die höhere Bürgerschule (Mittelschule oder Realschule).

c) Die höheren Lehranstalten.

3. Die vorhandenen Einrichtungen, welche begabten ärmeren Kindern den Besuch der höheren Lehranstalten ermöglichen (Befreiung vom Schulgelde, kostenfreie Alumnate etc.), bedürfen einerweiteren Ausdehnung und werden der öffentlichen wie privaten Fürsorge empfohlen.

Die Vorführungen haben die Neue Preufs. Zeit., N. 270 zu folgendem Geständnis veranlafst: »Sie (d. a. V.) hat in der That etwas Bestechendes, da sie versucht, einen Boden zu schatten, auf dem sich alle Bevölkenings- klassen, Arm und Reich, Hoch und Niedrig zusammen finden können.« Dann fügt sie aber hinzu: >Der Elementarunterricht mufs ein anderer sein für solche, welche mit ihm ihre Bildung abschliefsen . als für solche welche ihn nur als Vorbereitung für eine höhere Bildung betrachten. Werden beide Gattungen von Kindern zugleich unterrichtet, so mufs notwendig die eine leiden.« Zur Beantwortung einer in erster Linie pädagogischen» Frage gehört pädagogische Bildung; ein schwach begründetes »kann« und »mufs« dürfte daher für pädagogische Urteile kaum maisgebend sein. Oder

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es könnte auf Grund der Erfahrung, welche Süddeutschland laut Bericht des Berliner Tageblattes (N. 281, 1892) gewinnen durfte, mit gleichem Rechte erklärt werden: Weil z. B. der bair. Kultusminister Dr. v. Müller selbst seine Knaben oft des Morgens bis an die Thür der »Deutschen Schule« wie der off. Name für die allgemeinen Volksschule lautet führt, und weil auch die Mädchen der besser gestellten Stände fast durchweg ihre erste Bildung in der Volksschule empfangen so mufs dieselbe in ganz Deutsch- land eingeführt werden! Ist diese in Rede stehende Frage pädagogisch reiflich begründet, dann dürften auch um des allgemeinen Volkswohls willen kirchliche und politische Parteien nicht die Antwort wesentlich be- einflussen wollen.

Der zweite Beratungsgegenstand: »Die Vorbildung des Volksschul- lehrers« von Rektor Rifsmann aus Berlin widerlegt nicht minder die be- kannten Vorurteile über die Lehrertage: Die gewinnende Ruhe und Be- stimmtheit des Vortragenden, sowie die Vermeidung einer frivolen Auffassung des Bestehenden geben der Überzeugung Raum, dafs hiermit eine wichtige, nicht so bald von der Diskussion verschwindende Frage angeregt worden ist. Die Leser dieser Zeitschrift werden nur dabei die besonders charak- teristischen und von ernstester Erwägung zeugenden Aussprüche Herbarts und seiner Freunde vermissen, welche vielleicht eine nicht unwichtige Er- gänzung zu geben vermögen. Die gediegenen Ausführungen Rifsmanns verdienen nach dieser übersehenen Seite hin eingehend geprüft zu werden.*)

Der Vortrag zeigte folgenden Gedankengang : Man hat in weiten Kreisen wenig Neigung, das Streben nach erweiterter Bildung des Volksschullehrers zu fördern. Der Lehrerstand leidet unter einer traditionellen Mifsachtung; dasselbe ist von seiner Arbeit, wie der Pädagogik überhaupt zu sagen: Nur die richtige Erkenntnis des Wesens und Zweckes der Erziehung kann die Grundlage für eine richtige Beurteilung abgeben. Die Erziehung legt die Elemente des Wissens und Könnens zur Anbahnung eines sittlichen Charakters, oder zur Erzielung einer harmonischen Gesamtbildung. Zu diesem vorgezeichneten Ziele für die Jugend bedarf der Volksschullehrer einer reichen, gediegenen Allgemeinbildung, sowie einer auf Seelenkunde gegründeten Fachbildung.

Das Urteil der Lehrer selbst, wie zahlreicher Lehrerbildner bezeugt, dafs die Vorbildung des Volksschullehrers gegenwärtig diesem Ideale nicht entspricht Nicht kann dieselbe parallel laufen derjenigen des Lehrers an den höheren Schulen und statt durch das Seminar durch die Universität gehen. Die Universität bildet vorzugsweise Gelehrte für ein bestimmtes Fach, während der Volksschullehrer ein Allgemein-Gebildeter sein soll; die pädagogischen Veranstaltungen der Universität sind zur Zeit meist so mangelhaft, dafs dieselben einen Pädagogen nicht auszubilden vermögen. Daher erscheint es geratener' eine Reform der Seminarbildung anzustreben. Eine Reform derselben ist nötig, weil die bestehende den Seminaristen überbürdet. Sie drängt ihm Leitfadenwissen auf und läfst ihn in viel zu viel

•> Sie an dieier Stelle auch nui amudeuten, hief»e einer bereit» in Angriff enomnaeoen Arbelt vorgreifen.

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Stunden lernen und immer wieder lernen, statt ihn studieren zu lassen. Dazu mufs das Seminar eine allgemeine und weiter noch die pädagogische Fachbildung bezwingen.

Dies Unding fuhrt zur Einrichtung von Proseminaren oder Präparan- denschulen und weist dem Lehrer einen Bildungsgang zu, an dem kein Angehöriger anderer Stände teilnimmt. Daher verlangt der Lehrerstand, dafs ihm zu seiner Vorbildung gestattet werde, eine der höheren Schulen zu besuchen. Kann so die allgemeine Bildung zu einem Abschlüsse gebracht werden, dann darf das Seminar im wesentlichen der Fachbildung dienen. Da die religiöse Bildung bereits in der allgemeinen Vorbildungsanstalt ihren Abschlufs gefunden hat, und das Seminar als Fachschule aufgefafst wird so kann dasselbe als interkonfessionelle Anstalt eingerichtet werden. Nur ein nicht konfessionelles Seminar wird endlich imstande sein, ohne Neben- rücksichten pädagogischen Zwecken zu dienen.

Ein weiterer Hauptmangel besteht in der teilweise ungenügenden Be- schaffenheit des Lehrpersonals am Seminar. In die ersten Stellen werden oft Theologen und Philologen berufen, die weder eine genügende pädago- gische Bildung noch eine genügende Kenntnis des Volksschulwesens besitzen und unten stellt man blutjunge, kaum dem Seminar entwachsene Leute als Hilfslehrer an.

Zu bekämpfen ist ferner das Zwangsinternat, die Schöpfung einer Richtung im Lehrerbildungswesen, welche ängstlich bemüht ist, den Volks- schullehrer vor Luft und Licht zu bewahren und ihn nach bestimmter Schablone zu drillen, anstatt ihn zur Selbständigkeit zu erziehen. Die Seminarorte seien gröfserc Städte, damit die dort vorhandenen Bildungs- mittel auch der Lehrerbildung nutzbar gemacht werden können.

Sollten diese Vorschläge zur Durchführung gelangen, so möchte auch die Frage der Schulaufsicht zu einem gewissen Abschlüsse gebracht sein. Der Volksschullehrer, der den dargelegten Bildungsgang durchgemacht hat, kann hervorragende praktische Leistungen vorausgesetzt von einem Schulaufsichtsamte nicht mehr ausgeschlossen werden.

Als Leitsätze wurden nach lebhafter Besprechung, an welcher sich u. a. die Herren Prof. Dr. Rein aus Jena und der Reg.- und Schulrat Schöppa aus Magdeburg beteiligten, von der Versammlung angenommen:

1. Die gegenwärtige Vorbildung des Volksschullehrers kann gegen-

über den heutigen Anforderungen an den Lehrerberuf nicht als genügend anerkannt werden.

2. Behufs einer zweckmäfsigeren Gestaltung derselben erscheint in

erster Linie eine solche Organisation der Lehrerbildungsanstalten notwendig, dals dieselben im wesentlichen nur der pädagogischen Fachbildung zu dienen haben.

3. Die als Grundlage der letzteren unerläfsliche allgemeine Bildung

ist am zweckmäfsigsten durch Absolvierung einer der bestehen- den höheren Bildungsanstalten, zu erwerben.

4. Es ist unerläfslich, dafs die an den Seminaren wirkenden Lehrer

neben der erforderlichen wissenschaftlichen Bildung auch eine

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durch eigene Erfahrung gewonnene genügende Kenntnis des Volks- schulwesens besitzen. Ja, durch geeignete Veranstaltungen an den Hochschulen mufs es ermöglicht werden, dafs der seminaristisch gebildete Lehrer seine pädagogische Bildung so erweitern kann das ihm die -Berechtigung als Lehrer und Leiter der Seminarien» zu erteilen ist.

5. Eine Sonderung der Seminare nach der Konfession ihrer Zöglinge

ist aus der Eigenart dieser Schulgattung nicht zu begründen. Vielmehr folgt aus der Auffassung des Seminars als einer Fach- schule die Einrichtung paritätischer Anstalten.

6. Es empfiehlt sich, die Seminare an gröfseren Orten oder doch in

deren Nähe enzulegen, damit die an solchen Orten vorhandenen mannigfachen Bildungsmittel den Zöglingen nutzbar gemacht wer- den können.

7. Das Internat ist nicht als eine für die Erziehung der künftigen

Lehrer unentbehrliche Einrichtung, sondern lediglich als eine Ver- anstaltung zur Unterstützung bedürftiger Zöglinge zu betrachten. In keinem Falle darf die Hausordnung desselben eine solche sein, welche die Zöglinge von der Aufsenwelt abschliefsen und die Ent- wickelung selbständiger Charaktere hindern würde.

8. Dem Volksschullehrer ist auf Grund seiner Seminarbildung unter Voraussetzung hervorragender praktischer Leistungen die Be- fähigung zur Bekleidung eines Schulaufsichtsamtes zuzuerkennen.

Nach der Eichsfeldia (N. 129, 1892) erklärte die Delegierten- Versamm- lung des katholischen Lehrer-Verbandes, zu welcher ein Bischof und einige Schulräte offiziell erschienen waren, sich gegen die »überspannten und ver- derblichen Bestrebungen der modernen Pädagogik bezüglich der Lehrer- bildung und der Volksschule, weil sie der Ruin der menschlichen Gesell- schaft seien, und betonte die heiligen Rechte der Kirche und der Schule«. Der Reichsbote (N. 135, 18^2) geht über solche allgemeinen Redensarten hinaus und hebt zwei Punkte hervor: 1. Die Volksschullehrer wollen Cha- raktere heranbilden! »Man denke sich die Kinder der Volksschule und feste Charaktere! Was würden diese Herren aus der Volksschule machen, wenn sie ihnen überlassen würde! In Grund und Boden würden sie dieselbe ruinieren! 2. Die Volksschullehrer fordern eine höhere allgemeine Bil- dung 1 »Die stolzen Herren haben nur vergessen zu sagen, wo dann die jungen Leute herkommen sollen, welche die Kosten für eine solche Vor- bildung tragen können, und wo die Gemeinden und der Staat die Mittel hernehmen sollen, um dann diesen gelehrten Schullehrern ein ihrer Vor- bildung entsprechendes Gehalt und entsprechende Schulhäuser zu ver- schaffen. Es wird keinem Menschen einfallen, so grofse Opfer an Zeit und Geld aufzuwenden, um sich dann mit dem Gehalt eines Lehrers zu be- gnügen.« — Diesen letzten Gedanken greift auch die Neue Preufs, Zeit. (N. 270) auf und sagt: »Der Beruf des Volksschullehrers wird stets ein be- scheidener bleiben. Darum ist er aber nicht minder achtbar und bedeut-

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sam.« Zu einer erziehlichen Aufgabe »bedarf es weniger eines grofsen Mafses von Kenntnissen, als einer gründlichen Herzensbildung auf dem Boden des lebendigen Christentums.« Die Deutsche Warte (N. 134, 1892) kann dagegen erklären: »Den deutschen Volksschullehrern könnte es materiell besser gehen. Kein Wunder wäre es deshalb, wenn sie sich mit ihrer materiellen Lage beschäftigten. Aber nein, nichts dergleichen! Mit nichts Anderem be- schäftigten sie sich, als wie sie sich geistig fördern, wie sie die Volksschule auf ein höheres Niveau bringen können. Wahrlich, das ist ein Idealismus, wie er in unserer Zeit der materiellen Begehrlichkeit und des sozialen Neides sich nicht oft wiederfindet.«

Verschiedene Prefsstimmen sind, wie das auch von Ehrengästen zu Halle mehrfach ausgesprochen wurde, darin einig, dafs die Forderung einer möglichst gründlichen allgemeinen Vorbildung »gewifs höchst ehren- voll für den Lehrerstand« ist. Und wenn das Nachdenken über diese wichtige Angelegenheit noch nicht mit Rifsmanns wertvollen Darbietungen für abgeschlossen gehalten wird, so bekundet der Lehrerstand selbst am besten, dafs ihm die Vorbildungsfrage eine Lebensfrage ist, welche das Wohlwollen mafsgebender Kreise sich erwerben wird.

Die letzte Vorlage des IX. Deutschen Lehrertages, »Die Behand- lung der verwahrlosten und sittlich gefährdeten Jugend« von Lehrer Helmke aus Magdeburg zeigte, wie sich Kriminalistik und Pädogik die Hand reichen. Getrieben von der Liebe zum heranwachsenden Ge- schlechte, waren vom Vortr. mit grofsem Fleifse statistische Nachweise zusammengestellt, welche unter Bezugnahme auf die praktische Pädagogik zu folgenden Leitsätzen sich herausgestalteten:

1. Nur eine sorgsame Erziehung, nicht aber eine einzelne Strafe, die

blofs ein Glied in der Kette der Erziehungsmafsnahmen sein kann, vermag einem sittlich verdorbenen oder gefährdeten Jugendlichen diejenige sittliche Reife und Charakterstärke zu verleihen, welche allein auf die Dauer von Strafthaten abhält.

2. Aus mehrfachen erziehlichen Gründen mufs die Strafunmündigkeit

mindestens bis zum 14. Lebensjahre ausgedehnt werden.

3. Sowohl über bereits sittlich verwahrloste Kinder unter 14 Jahren,

ganz gleich, ob ihre Verwahrlosung bereits in einer Strafthat Ausdruck gefunden hat oder nicht, als auch über solche Kinder» deren sittliche Verwahrlosung zu befürchten steht, weil bereits Anfange derselben deutlich erkennbar sind oder die Persönlich- keit der Eltern oder sonstige Verhältnisse eine solche herbei- führen müssen, ist staatlich überwachte Erziehung zu verhängen.

4. Die Aufgabe jeder, also auch der staatlich überwachten Erziehung

ist die Heranbildung eines sittlich festen Charakters. Es mufs daher möglich sein, diese Erziehung, falls nicht früher die Gewähr einer weiteren guten Führung vorhanden ist, bis zum 20. oder 21. Lebensjahre, der Heerespnichtigkeit der männlichen Jugend, auszudehnen.

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5- Auch für jugendliche Verwahrloste zwischen 14 und 18 Jahren ist die staatlich überwachte Erziehung als erstes Mittel zu ihrer Bes- serung ins Auge zu fassen.

6. Eine gerichtliche Freiheitsstrafe als Zusatzstrafe ist bei den mit

derselben verknüpften Bedenken allein dann empfehlenswert, wenn nur durch eine vorangehende bedeutende Erschütterung des Ge- müts ein Eingehen auf eine erziehliche Einwirkung ermöglicht oder durch die Aussicht auf einen Erlafs der nachfolgenden Strafe die Wirksamkeit der erziehlichen Mafsnahmen unterstützt werden kann.

7. Da das Beispiel den nachhaltigsten Einflufs ausübt, so mufs die

Strafhaft auf jeden Fall so gestaltet werden, das nachteilige Ein- wirkungen ferngehalten werden.

8. Die staatlich überwachte Erziehung mufs im allgemeinen Anstalts-

erziehung und kann nur ausnahmsweise in bestimmten leichteren Fällen Familienerziehung sein, weil solche nicht in ausreichendem Mafse beschafft, weniger Sicherheit auf einen Erfolg bieten und schwerer überwacht werden kann. 9- Um dem Obel der sittlichen Verwilderung so viel als möglich auch die ersten Quellen zu verschliefscn, ist die obligatorische Ein- führung von Krippen, Kinderbewahranstalten und Kinderhorten erforderlich.

io. Die Erziehung der Jugend, welche verwahrlost ist oder sittlich ge- fährdet erscheint, mufs durch ein Reichsgesetz in den oben ge- zeichneten Umrissen geregelt werden. Mit diesen vier Vorträgen war die Tagesordnung im ganzen erschöpft. Von den Nebenversammlungen seien erwähnt die der Deutschen Fort- bildungsschulmänner, des Redakteurverbandes und der Stenographen. Einen schönen Abschlufs fand die grofse Zusammenkunft durch die Enthüllung des Kehr-Denkmals in Halberstadt.

"Wenn die Summa der Verhandlungen, wie überhaupt des ganzen Ver- laufes des Lehrertages gezogen werden soll, so kann nur von Tagen tüch- tiger Arbeit berichtet werden, einer Arbeit, die noch dazu das Wort des Comenius zu verwirklichen bestrebt ist: >Es darf nicht eher nachgelassen werden, bis das Werk vollbracht ist«

5. Herbart, Ideen zu einem pädagogischen Lehrplan für

höhere Schulen.

(Kehrbach I, S. 134. Willmann I, S. 80.)

>Noch für einen Hauptpunkt mufs ich die gütige Aufmerksamkeit be- mühen, auf welche ich gewagt habe, bei diesem Aufsatze zu rechnen. Das

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bisher Betrachtete nämlich sorgt für die Bedürfnisse eines vollständigen Unterrichts nur zur Hälfte, obgleich für die wichtigere Hälfte. Was noch übrig ist, läfst sich unter dem Worte Naturwissenschaften befassen.

Es wäre ungereimt, den Jugendunterricht auch in Rücksicht auf diese von dem allmählichen Fortschritt der Entdeckungen abhängig zu machen. Denn diese Hossen nicht, wie das, was den Menschen und seine Empfin- dungen betrifft, aus der Natur des menschlichen Geistes, sondern der Zu- fall verstreute die Nachrichten, welche es uns von der Natur gab, durch viele Jahrhunderte, ohne dafs darum die Schätze der heutigen Naturwissen- schaften einen besonderen Punkt der Ausbildung erforderten, durch den sie nur uns und nicht etwa eben so gut den Alten zugänglich gewesen wären.«

Ist es gerechtfertigt, dafs Herbart das historische Vorgehen von dem Unterricht in den Naturwissenschaften fern halten will, während er es für die humanistische Reihe fordert? Eine eindringende Untersuchung hierüber wäre dem Herausgeber d. Z. willkommen.

6. G. Keller, Der grüne Heinrich. Berlin 1889.

(I. Band, Seite 94 )

»Die andere peinliche Erinnerung an jene Schulzeit sind mir der Katechismus und die Stunden, während deren wir uns damit beschäftigen mufsten. Ein kleines Buch voll hölzerner, blutloser Fragen und Antworten, losgerissen aus dem Leben der biblischen Schriften, nur geeignet, den dürren Verstand bejahrter und verstockter Menschen zu beschäftigen, mufste während der so unendlich scheinenden Jugendjahre in ewigem Wiederkäuen auswendig gelernt und in verständnislosem Dialoge hergesagt werden. Harte Worte und harte Bufsen waren die Aufklärungen, be- klemmende Angst, keines der dunkeln Worte zu vergessen, die Anfeuerung zu diesem religiösen Leben. Einzelne Psalmstellen und Liederstrophen, ebenfalls aus allem Zusammenhang gezerrt und deshalb unlieber einzu- prägen, als ein ganzes organisches Gedicht, verwirrten das Gedächtnis, an- statt es zu üben. Wenn man diese gegen die verwilderte Sündhaftigkeit ausgewachsener Menschen gerichteten vierschrötigen nackten Gebote neben den übersichtlichen und unfafslichen Glaubenssätzen gereiht sah, so fühlte man nicht den Geist wehen einer sanften menschlichen Entwickelung, sondern den schwülen Hauch eines rohen und starren Barbarentums, wo es einzig darauf ankommt, den jungen zarten Nachwuchs auf der Schnell- und Zwang- bleiche so früh als möglich für den ganzen Umfang des bestehenden Lebens und Denkens fertig und verantwortlich zu machen. Die Pein dieser Dis-

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ziplin erreichte ihren Gipfel, wenn mehrere Male im Jahre die Reihe an mich, am Sonntag in der Kirche vor der ganzen Gemeinde mit lauter ver- nehmlicher Stimme das wunderliche Zwiegespräch mit dem Geistlichen zu führen, welcher in weiter Entfernung vor mir auf der Kanzel stand und wo jedes Stocken und Vergessen zu einer Art Kirchenschande gereichte. Viele Kinder schöpften zwar gerade aus dieser Sitte die Kunst, mit Salbung und Zungengeläufigkeit wohl gar mit ihrer Frechheit zu prunken und der Tag geriet ihnen immer zu einem Triumph- und Freudentag. Gerade bei diesen erwies es sich aber jederzeit, dafs alles eitel Schall und Rauch gewesen. Es giebt geborene Protestanten, und ich möchte mich zu diesen zählen, weil nicht ein Mangel an religiösem Sinne, sondern, freilich mir unbewufst, ein letztes feines Räuchlein verschollener Scheiterhaufen durch die hallende Kirche schwebend mir den Aufenthalt widerlich machte, wenn die ein- tönigen Gewaltsätze hin und her geworfen wurden. Nicht als ob ich mir einbilden wollte, ein scharfsinnig polemisches Wunderkind gewesen zu sein, sondern es war einzig Sache des angeborenen Gefühles.«

7. Aus dem Pädagogischen Universitäts-Seminar zu lena.

Vor Kurzem ist das 4. Heft ausgegeben worden.*) Es ist dem An- denken an den verstorbenen Staatsminister Dr. Th. Stichling, den Enkel Herders, gewidmet, worüber das Vorwort des Prof. Rein sich verbreitet. Das vorliegende 4. Heft hat folgenden Inhalt: 1. Bericht über die Thätig- keit des Seminars. Von E. Scholz. 2. Über Zweck, Auswahl und Ge- staltung der Schulfeiern. Von C. Schubert. 3. Über den rückläufigen Geschichtsunterricht. Von G. Lämmerhirt. 4. Beiträge zum Märchen- unterricht. Von H. Land mann. 5. Bedeutet die Heimatskünde des Hauptmanns Rott einen didaktischen Fortschritt? Von E. Scholz. Bei- gaben. I. Einleitende Worte. II. Verzeichnis der Seminarmitglieder. III. Einige statistische Notizen. IV. Liste der bisherigen Klassenlehrer. V. Pädagog. Arbeiten aus dem Kreise der Seminarmitglieder.

C. Beurteilungen«

Robert Wernecke, Praxis der Elemen- Das Buch zerfällt in 5 Abschnitte, tark lasse. Berlin bei Th. Hofmann. Der erste handelt von der häuslichen VIII u. 312 S. 3 Mark. Erziehung des noch nicht schul ptf ich -

♦j Langentals Beyer u. S. »»9a. a^o M.

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tigen Kindes, der zweite von Ele- mentarlehrer und Eleraentarklasse, der dritte vom vereinigten Anschau- ung»- und Sprachunterrichte, der vierte (!) vom Religions-, der fünfte vom Rechenunterrichte. Ein Anhang bringt Text und Melodie von ein paar Dutzend der gebräuchlichsten Kinderlieder.

Das Buch bewegt sich noch fast ganz in den ausgefahrenen Geleisen der alten Unterrichtsmethodik, die es zwar hier und da zu verbessern sucht, aber nicht zu verlassen wagt. So will Verfasser zwar »den An- schauungsunterricht in den Dienst des Sprachunterrichts stellen«, d. h. er will den Schreibleseunterricht dem Anschauungsunterricht anschliefsen, aber es liegt ihm fern, mit der Ver- wirklichung der Konzentrationsidee vollen Ernst zu machen und alle Fächer des Elementarunterrichts zu einem nach pädagogischen Prinzipien geordneten, wohlgegliederten Ganzen zu verbinden, in dem die wichtigsten Fächer herrschen, die minder wich- tigen dienen. An der unterrichtlichen Behandlung biblischer Geschichten im ersten Schuljahre hält er fest und folgt in Auswahl und Anordnung derselben dem Prinzip der abge- leiteten konzentrischen Kreise.*) Im Ernst scheint er zu glauben, die von ihm vorgeschlagene Behandlung der biblischen Geschichten entspreche der Theorie der Formalstufen (S. 181.) Das Zeichnen tritt allzusehr in den Hintergrund. Aus den Lektionen des Schreiblesens ersehen wir zwar, dafs der Gegenstand des Norraal- wortes auch durch malendes Zeich- nen dargestellt werden soll. Allein es fehlt dem Buche ein besonderer Abschnitt, in dem Ratschläge zum zweckmäfsigen Betriebe des für Bil- dung von Anschauungen so wichtigen ersten Zeichenunterrichts gegeben werden. Weitere Ausstellungen über einzelne Punkte der verschiedenen Abschnitte zu machen, würde zu weit führen. Nur auf eins sei noch hingewiesen. Seite 46 heifst es : »Als »»Wunderlichkeit«« bezeichnet

•) Vergl. Et. Schulblatt »891, No. 6.

allerdings und wohl mit Recht*)

H. Merz den Vorschlag des

Prof. Ziller in Leipzig, die deutschen Kinder- und Hausmärchen in den Mittelpunkt des ersten Schulunter- richts zu stellen.« Zillers Begründung seines Vorschlags wird nicht ange- führt und überhaupt der Sache im Buche nicht wieder gedacht. Solches Verfahren ist vorzüglich geeignet, den jungen Lehrer mit Verurteilen zu erfüllen. Da der ihm möglicher- weise unbekannte Herr Merz als pädagogische Autorität hingestellt wird, da als zweite Autorität Heir W. selbst gegen Ziller auftritt, da dem Lehrer endlich keine Gelegen- heit zu gründlicher Prüfung der be- treffenden Streitfrage 'gegeben ist. so wird er wahrscheinlich nicht auf die Seite des »wunderlichen« Ziller treten, sondern als Dritter im Bunde sich jenen Beiden zugesellen und die grofse Zahl derer vermehren helfen, die an den retormatorischen Ideen Zillers achtlos, wenn nicht gar verächtlich vorübergehen, ohne sie viel mehr als dem Namen nach zu kennen.

Es ist bekanntlich die beste Kritik von der Welt, etwas Anderes, Bes- seres neben das zu stellen, was uns mangelhaft erscheint. Wir möchten deshalb dem jungen Lehrer, der W.s »Praxis der Elementarklasse« etwa schon besitzen sollte, den Rat geben, diese Kritik selbst vorzunehmen und W.s Buch mit dem »Ersten Schul- jahr« von Rein zu vergleichen. Er wird aus dieser Vergleichung nicht nur den gewaltigen Unterschied er- kennen, der zwischen blofser Schul- kunde und pädagogischer Wissen- schaft, zwischen rein erfahrungs- mäfsiger und psychologisch- wissen- schaftlicher Begründung unterricht- licher Mafsnahmen, sowie zwischen pädagogischen Meinungen und siche- ren pädagogischen Überzeugungen besteht, sondern er wird auch von Ziller und seinen Vorschlägen einen besseren Begriff erhalten.

Drack enstedt.

F. Hollkamm.

Vom Verfasser nicht durch Druck aus-

Vom

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E rwider u u

Zu der „Erklärung" des Herrn Prof. Dr. V>9t habe ich folgendes zu bemerken :

1. Das Lob, das Dr. Morkner am Schlüsse seiner Abhandlung mir spendet, gleicht im Hinblick auf *eine recht von oben herab absprechenden und an vielen Stellen unzweifelhaft verletzenden .Äusserungen im Verlaufe der Arbeit selbst einem Pflästerehen auf eine vermeintliche Todeswunde. Weiter hatte es keinen Zweck. Und wenn ich in meiner „Erklärung* von einem „Aufwände von Gelehrsamkeit" in Dr. (Uifckner's Arbeit gesprochen habe, so liegt darin nicht etwa ohne weiteres das Zugeständnis, dafs niemals ein Gelehrter sich gelegentlich auch recht persönlich verletzend äufsern könnte, noch dafs selbst seine sachlichen Auseinandersetzungen immer richtig sein müfsten. „Einige sehr wenig verbindliche Ausdrücke" nennt Herr Prof. Dr. Vogt die Mafslosigkeiten in der Wfcbier'sohen Arbeit. Damit scheinen sie mir allerdings mehr als mild beurteilt zu sein.

2. Herr Prof. Dr. Vogt verwahrt sich gegen einen meinerseits mit dem Schlufssatz meiner Erklärung vielleicht beabsichtigten „versteckten Vor- wurf" gegen den Verein für wissen schaftliche Pädagogik, dessen Vorsitzender er ist, oder gegen seine eigene Person. „Versteckte" Vorwürfe pflege ich überhaupt nicht zu machen. Glaube ich Grund zu Vorwürfen zu haben, so schweige ich entweder ganz darüber, oder ich spreche sie offen und mög- lichst verbindlich aus. So habe ich auch der Versammlung des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik nicht Anstand „empfohlen", noch ihn zum Anstand „ermahnt" : sondern um die Vermeidung persönlicher Beleidigungen „gebeten". Gewifs aber wird Herr Prof. Dr. I ogt mir zugestehen, dafs, nachdem in der schriftlichen Kritik meiner Arbeit ..sehr wenig^ verbind- liche Ausdrücke" genug gefallen waren , er selbst bei der Leitung der Verhandlungen vielleicht doch nicht würde haben verhindern können, dafs solche auoli in der mündlichen, im Ausdruck naturgemäfs weniger wähle- rischen Kritik wiederkehrten. Und selbst eine nachfolgende entsprechende Erklärung des Vorsitzenden oder des Vereins macht das einmal Geschehene nicht ungeschehen, sondern wahrt nur seine und des Vereins Stellung. Meine Bitte war also nur an solche Mitglieder des Vereins gerichtet, die etwa geneigt sein könnten, den Ton des d'löcknti 'sehen Artikels auch auf der Versammlung weiterklingen zu lassen. Es hat aber nie bei mir ein Zweifel darüber bestanden, dafs mau für Ausfälligkeiten einzelner Mitglieder eines Vereins nicht den letzteren als solchen verantwortlich machen darf.

3. Herr Prof. Dr. Vogt argwöhnt bei dem Satze meiner „Erklärung", •lals „glücklicherweise auch aufser Leipzig es noch Leute gebe, die He ' irt verstehen", ich sei dazu durch „die Supposition eines Gegensatzes zwischen den Schülern Stvy's und Zilbr'«* beeinflufst worden. Dieser Annahme fehlt jede thatsächliche Grundlage. Ich habe ja sofort die Personen genannt, an die ich zunächst gedacht habe. Auf einen solchen Gegensatz konnte es mir ja dabei gar nicht ankommen, vielmehr darauf, daran zu erinnern, dafs gerade unter den Schülern '/Mtr\ selbst sehr geschützte Männer meinen Ansichten nicht so durchaus ablehnend gegenüberstehen, wie Dr. Glörhter. Darum wies ich auf Herrn Direktor Just hin, und dafs Herr v. SaltwürL sich je zu Stuf/'» Schülern gezählt habe oder zähle, ist mir gänz- lich unbekannt. Dafs übrigens Gegensätze zwischen der scheu und ZiVfcr'schen Richtung der FerWf'schen Pädagogik bestehen, kann doch mit dem mir wohlbekannten §2 der Statuten des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik nicht aus der Welt geschafft werden. Litterarische Streitigkeiten der letzten Jahre, die ich nicht weiter bezeichnen will, beweisen das zur Genüge, und ich glaube, der vorliegende Fall auch. Dafs aber trotzdem Pädagogen beiderlei Richtung dem Vereine angehören können und auch wirklich angehören, ist eine ganz andere Sache. Dem Gedanken einer Znsammenstellung von Äufserungen Sto/s über die „Stufen" stehe ich sym- pathisch gegenüber; seine Verwirklichung würde allerdings mit grofsen Schwierigkeiten zu kämpfen haben.

4. Mein Austritt aus dem Verein für wissenschaftliche Pädagogik steht mit der Veröffentlichung meiner Arbeit durchaus in keinem inneren Zu- sammenhang. Es ist auch eine ganz falsche Voraussetzung, wenn Herr

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Prof. Dr. l~<yt annimmt, dafs ich durch meinen Austritt mich irgendwie „isoliert" hätte. Ich bin nach wie vor Mitglied des Her hart kränzchen« hier; in ihm habe ich meine Abhandlung zuerst mitgeteilt, und sie ist leb- haft besprochen worden. Es fehlt mir auch durchaus nicht an „persön- licher Berührung" mit Pädagogen der verschiedensten Richtungen. Dem Jahrbuch wende ich nach wie vor meine Aufmerksamkeit zu. wie überhaupt der Litteratur der I I>-r kirr sehen Pädagogik. Was denkt sich nur Herr Prof. Dr. IVol für einen Mann unter mir! Dafs ich nicht einmal „auch nur einen halben Druckbogen meiner Broschüre dem Organ des Vereins dar- geboten habe", »cheint ein harter Verstofs meinerseits gewesen zu sein. Ich wufste nicht, dafs dies Sitte sei, hatte auch meine Arbeit nicht gerade an den Verein gerichtet, und ich weifs auch heute noch nicht, was die Zu- sendung eines halben Druckbogens hätte nützen sollen. Das Bedauern aber, dafs ich „an der Diskussion nicht teilgenommen hätte" das verstehe ich geradezu nicht. Ich habe es ja eben beklagt, dais bis zur Herausgabe der 2. Auflage meines Büchleins in eine Di&kussion weder über meine Abhand- lung m den „Deutschen Blättern", noch üb er den Separatabdruck von seiten der Schüler /\U*r * -- aufser im engsten Kreise unseres hiesigen Herbart- kränzchens überhaupt eingetreten worden war. An welcher münd- lichen „Diskussion" hätte ich denn teilzunehmen versäumt, die eine solche ..schriftliche Kritik am Ende vielleicht ganz überflüssig" gemacht hätte? Daf* ich nicht mehr Mitglied des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik gewesen bin, das kann doch die Veranlassung zu der ..schrift- lichen" Kritik nicht gewesen sein? Nun. jedenfalls weifs ich mich nicht nur von aller ,, Isolierung", sondern auch von dem Vorwurfe frei, der in deu Schlüsse der „Erklärung" des Herrn P»oj [>t I •••// liegt, durch „Iso- lierung der Entwickelung von Feindschaften Vorschub zu leisten, die dem Lehrstande Veranlassung zur Klage geben und die Standesantonomie der Lehrerschaft" gegenüber den „Regierungen" beeinträchtigen. Dals ich an meinem Teile einen solchen beklagenswerten Einflufs wissentlich oder unwissentlich ausübte, das kann nur jemand glauben, der weder mich und meine Wirksamkeit, noch unsere Verhältnisse kennt.

Eisenach, am 3. Juli 1892. .%. «leichinann.

3m Berlage ber .oohn 'inten ^iidiimu Pinna, tu Oonnoucr erfcqtcn foeben:

Dr. .i»IYVl| tirdt«

ctefvrßurfi ifer allgemeinen (ßefrfudife

für

öötjere ?tntcm«tsanrtarteii.

Xreijcbnte, ganjlid) umgearbeitete unb bis ^im fcftre 1888 fortgeführte Ättflage. AUit einem Anfange: $iirgerfont)c.

*on

Dr. £. Hin cd:

Cbi-rlfUirr an btr CbmoiÜrtvV in ^raunUitL-ia

24 «©gen. ^rri« * Warf.

„Xao bcfanitte Viebrbud) bat in bieier Umarbeitung eine 'uefeuthdje ^eruclltommniiug erfahren, ©ei ber ?lu«roab,l be$ Stoffes finb ber ratierliche £rl<ifc Pom 1. 3)lai 188« unb bie ©eftimmung ber neuen preuKijdjen 2ebrtolänc maf;gebenb geroeien. Xic morgenlänbifdjc Öefdiidjte, foroie bie $eieb,id)te ber Wrietben unb Miöntcr ftub baber auf bao 2i>cfentlid)c befdjrautt, unb in ber (Sefdjicbtc bcs> Mittelalter* joiootjl reie in ber neuen unb neueften ift bie beutfd)c öSefcfeicfatc in ben SJorbergrunb gerüdt warben. Tic Darfteüuna ift äufamm«tt>ängenb unb fnfmnatifd) , aber aud) fnaW, anfcfcaulid) unb uerftänblid) , io baß fid? Da« Sud) aiuii über bie Ärcife ber f)b^ern 3d)ulen binauö Eingang für baä

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