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Süddeutjche Monatshefte

Jofeph Bofmiller, Friedrich Naumann, Bans Pfitzner, Dans Thoma

herausgegeben von Paul Nikolaus Cofjmann

Zweiter Jahrgang = Zweiter Band 1905

Juli bis Dezember

Stutigart Verlag von Adolf Bonz & Comp.

Drud von A, Bonz' Erben in Stuttgart,

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Inhaltsverzeichnis.

Albert Eugen Adam, Das Verfahren gegen Friedrich Lift als württem-

Seite

bergifchen ee im 1821 . 88 Eugen Albrecht, Neuer Vitalismus : 463 Apotheker, Meine Krititer 92 Grete Auer, Dibemihid . . . A a 116 Der Bayerifche Verein der Runftfreunde, Mufeumsverein. 377 Joſef Auguft Beringer, Emil Lugo . en Er 501 Dtto Bielefeld, Deutiche Ausländer . on 534 Ludwig von Buerkel, Die Pinatothei:Frage . 187 Dtto Cohnheim, Ernährungsprobleme . ; 250 Otto Erufius, Theodor Gomperz „Eſſays und Geinnerungen” 552 Eduard Eggert, Hannikels letzte Lebenstage . 27 Emil Ermatinger, Die hüpfenden Schuhe . 132 C. Ferdinands, Die Höhlenbären . 193 Eäfar Flaifchlen, Amfelliedchen . ; j 220 Adolf Frey, Aus meinem Verkehr mit G. 5. Meyer s 154 Regenbogen. Gediht . . . 151 Ludwig Ganghofer, Die Brautfahrt des Damian Zagg 1, 97 Ludwig Ganghofer . ; 175 Karl Gjellerup, „Meine indiſche Reiſe“ von Engeni⸗ Shacufiee 82 Krifchnas Weltengang . 558 Mar Halbe, Die Inſel der Seligen. Komödie. . 2. 2239, 385 ©. v. Halle, Spzialfinanziele Rundfhbau . » 2 2.2.2. 94, 1%, 285 Siegmund von Hausegger, GStieflinder . ee : 563 3. C. Heer, Auf einfamem Poften . . 142 Sofef Hofmiller, Die jegige Lage der Münchener Hofbühne . ä 63 Georg Steinhauſens Gefchichte der Kultur 72 Der Heilige und die Tiere 162 Hansjatobs Schweizerfahrten 173 Berliner, Elga und Bödlin . 275 Süddeutſche Erzähler 544 Andreas Vöſt. 570 Bücher zum Feft 575 Karl Jentſch, Die Iefuiten 75 Paul lg, Totentanz. Gediht . . . 130 Adam Karrillon, „Unterm Rad“ von Hermann Seffe . 568 Peter Katz, Tagung der ſchweizeriſchen Tonkünſtler in Solothurn den 1. und 2, Zuli 1905 i 185 Zuftinus Kerner, Briefe über magifche Gegenftände, Mitgeteilt ı von Ludwig Geiger 5 509 Georg KRerichenfteiner, Die Entwidlung der geichnerifchen Begabung . 374 Hermann Kerfchenfteiner, Bibliothek der 469 Rudolf Krauß, Stuttgarter Theaterbilanz 67

Sfolde Kurz, Hermann Kurz in der Zeit feines Werbens . . . . 221, 329

Fritz Lienhard, Eine neue Iean-Paul-Ausgabe : Ferdinand Lindemann, Leber Geftalt und Spektrum der Atome j Hermann Loſch, Deutichland als Großmacht und Preußen als Rudolf Louis, Vom Allgemeinen Deutſchen Muſikverein Paul Marfop, Offener Brief . . A Theodor Mau, Die Schwaben in der Eiteratur der Gegenmart ; Franz Munder, Eine neue Iean-Paul-Ausgabe . e Victor Nathan, Mondnacht. Gedicht Es Sriedrih Naumann, Das Produkt der Verpätmife Fremdeninduftrie . ; ; : Im Zeitalter des Verkehrs Wandlungen im Weſen des Staates . MWahlrechtsfragen Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener. Wogner-Tpenten, Mitgeteilt von Heinrih Steinbach . 2 Rarl Eugen Neumann, Das buddhiſtiſche Kunſtwerk. 3 Hans Pfigner, Bühnentradition

Mar Prager, Sozialpolitifche Briefe aus Bayern 270, 377, 471,

Neue Literatur zur QUrbeiterfrage Anguft Sauer, Eine neue Jean-Paul-Ausgabe Mar Schillings, Felir vom Rath zum Gedächtnis . ; Emil Prinz von EEE Der Heinrich Simon, Gedicht Carl Spitteler, Bon der Jugend Ilſe von Sta, Die Mutter. Gedicht . FR Heinrich Steiniger, Joſephus Stiefel. Eine Legende . Augufte Supper, Johann "Rufterer auf Abwegen Zulzeit Wladislaus Switalski, John Henry Kardinal Rewman Henry Thode, Leber deutſche Weltanſchauung und Kunſt Hans Thoma, Antwort auf eine Zuſchrift i Giniges über Farbenmaterial und Matrei ; Hans Trog, Bon fchweizerifcher Kunft . . . m. ; Griedrich SH. Bifcher, Brief an Joachim Raff . . . Karl Bol, Carl Lahm: Ein deutfcher Runftfalon in Paris Holbein und Bödlin ; 5 Zu Bödlins Sebftbildnis mit dem Tod Die Lenbach⸗Ausſtellung Populäre Ausgabe des Bruckmannſchen Menzelivertes 3. V. Widmann, Zur Einführung in die uns von Grete Auer Zwei neue Wilhelm Zaiß, Winternacht. Gedicht Joſt Seyfried. Ein Programm für die © Sündeutfen Thaddäus Zielinsti, Die fieben Todfünden Franz Iweybrüd, Ungarn und Defterreih .

Die Brautfahrt des Damian Zagg.

Bon Lubwig Ganghofer in Münden.

Bevor ich die Epopde diefer merfwürdigen Brautfahrt erzähle, hab ih von Damian Zagg noch manches andere zu berichten. Sieben Jahre ftand er als Zäger in meinem Dienft, und obwohl er fich ſchließlich die Stange bei mir zerbrach, fo daß ich ihn nicht mehr halten konnte, fiel es mir doch fchwer, ihn geben zu laffen.

Da kam eines Tages der Förfter zu mir und fragte, ob ich nicht einen Zäger brauchen könnte; er müßte mir einen Menfchen zu empfehlen, aus dem was zu machen wäre. Die Sache hätte nur einen Heinen Hafen; der Damian Zagg wäre bisher ein fcharfer Wildſchütz geweſen. Und ein fchlauer! Den man in zehn Jahren nicht ein einzigesmal erwifcht hätte. Aber im Gefühl feiner erfolgreichen Schlauheit wäre er übermütig geworben und hätte am hellen Tag und ganz in der Nähe des Dorfes einen Reh- bo gefchoffen. Und da wäre das Krüglein, das fo oft zum Brunnen gegangen, endlich zerbrochen. Und der Damian hätte vierzehn Tage brummen müffen. Wenn mich das nicht fcheniere —?

Nein, das ſchenierte mich nicht. Wildfhügen, die nicht aus Geminn- fucht, fondern aus Leidenfchaft wildern, find noch immer gute Jäger ge- worden. „Bitte, Herr Förfter, fehiden Sie mir den Mann!“

Zwei Tage fpäter fam der Damian Zagg. Ein Prachtmenfch, der mir auf den erften Blick gefiel. So an die Dreißig, und gewachfen mie ein Baum, mit pechfchwarzem Haar und DVollbart, mit Mugen, fcharfen Augen, die feurig herausbligten aus dem ftreng gefchnittenen Geficht. Sein breiter Rüden war ein bischen gekrümmt fpäter fagte mir der Damian einmal: das käme vom Hirfchtragen in der Nacht. Uber diefe leichte Beugung tat feinem ftattlihen Bild feinen Eintrag. Auch gut gekleidet war er. Man merkte gleich, daß Damian Zagg was hielt auf fi).

„Ufo?“ fragte ih. „Sie waren Wildſchütz?“

Bevor er antwortete, fah er mich an mit einem Blick, als müßte er mir durch die Nieren guden. Dann fagte er ruhig: „Best fon i allweil nimmer Na fagen ... derzeit ſ' mi eingfpunna haben.”

„And jest wollen Sie Jäger werden?“

„3a, taat ſcho bitten.“

„Warum?“

Süpddeutfhe Monatöhefte. II,7. 1

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt ded Damian Zagg.

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„Weil i's net laffen fon. Und in der Grichtsfuppen hab i a Haar Hfunden. I bin a beffere Koſt gwöhnt.“

Wie er das fagte, das wirkte fo drollig, daß ich lachen mußte.

„Da! Nehmen Sie einen Stuhl und fegen Sie fich!”

Er padte mit hartem Griff den hölzernen Seſſel, ftellte ihn feft auf die Dielen, ftrich mit der Hand über das Gigbrett und ließ fich nieder.

„Jetzt erzählen Sie einmal! Wie war das mit dem Rehbock? Und wie fam es, daß Sie erwifcht wurden?“

„Hat halt der Jager, dös Luader, Mittag amal net gfchlafen! Sonſt bat ’r fi allmeil auffigfladt aufs Bett. Aber grad am felbigen Samste muaß* ’r Spreißeln in die Augen ghabt haben! Und i hab halt dem Bod nimmer länger zuafchaugn kinna. Teifi, Teifi, a fo a Bod! Und a Gwichtl! Da hab i koa zwoats net dahoam! Daß i dös Gwichtl nacher hergeben hab müaflen ... dös hat mi anderft gfurt.“

Bon feinem Hof aus mußte ber Damian das täglich fehen, wie der Bod fi in der Mittagszeit auf einem fonnigen Schlag ein bißchen umtat. Und da konnte der ‚Teifi‘, der im Zagg rumorte, nicht länger zuguden. Un jenem fchönen Samstag alfo Iauerte Damian, bis der Jäger von der Früb- pirfche heimfam, und dachte ein Stündl fpäter: „So, jet fchlaft ’r!” Uber der Zäger hörte den Schuß, fprang gleich mit dem Perfpeftiv ans Fenfter und ſah, wie der Damian ſich mit dem Bock in die Stauden drüdte, um da gemütlich den Abend herzuwarten. Doch ftatt der erfehnten Dunfelbeit fam der berzogliche Jäger und ftellte fich mit gefpannter Büchfe vor die Staude bin: „Geh, du, fomm auffi! D' Schandarm, die warten ſcho drunt auf dil” Da half nun Feine Schlauheit mehr. Und jeder Widerftand wäre finnlo8 gewefen. „Mei Bürl hätt ’r aa no gearn haben mögen. Uber, du, paß auf, hab i gfagt, da greif net oni, da is hoaße Fetten dran! Na na! 's Bürl hab i fcho felber hoamtragen. Dös hätt i mer net nemma laflen, net ums Verreden! Den Rehbock, meintwegen, den hat ’r tragen finna.” Damian ſchmunzelte. „Gfchwigt hat ’r wie a Saul... No ja, nachher haben ſ' mi halt vierzehn Täg eingnaht!”

Zu diefer Gefchichte, die ich da fnapp in ein paar Zeilen fefthielt, brauchte der Damian Zagg eine gefchlagene Stunde. Go anjchaulich erzählte er, daß ich jeden Grashalm fich biegen fah, jedes welfe Blatt vor feinen fchleichenden Füßen raufchen hörte, jeden Flimmerglanz der Sonne fühlte und faft jedes Härlein am Rehbock zählen konnte. Und ald der Jäger plöglich vor der Staude fand, da fah ich fogar, daß ein Knopf an feiner Soppe fehlte, und daß feine grüne Wefte mit Eiergelb betrenzt war.

Mochte aus diefem Wildſchützen ein guter oder fehlechter Jäger werden, gleichviel, diefen Damian Zagg wollte ich behalten, und wär’ ed nur, um ihn erzählen zu hören, um von ihm zu lernen, wie man fehen muß auf der Jagd.

Us ich ihm fagte, daß er fofort ald Jäger bei mir eintreten könnte, blieb fein Geficht ruhig. Nur in feinen Augen war ein Lachen. Und während ich ihm die Pflichten feines Dienftes vorhielt und beifügte, daß jeder tüchtige Zäger friedlich mit mir auskäme, daß aber, wenn ich den Dienft leiden fähe, mit mir nicht gut firfcheneffen wäre, guckte er mich

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aufmerffam an, und fein rechte8 Auge wurde ein bischen Kleiner. Ich möchte wetten, daß er fich in dieſem Augenblick dachte: „Mit dir mear i fcho firtil Von ung zwoa bin allweil i der gſcheiderl“ Dann ftand er wuchtig auf und ftredte mir mit energifchem Biedermannsſchwung die Hand hin: „Mit mir wearn S' zfrieden fein, Herr Dokter! Da mweard nir fehlen!“

Diefes Verſprechen erfüllte fich auch, fo weit e8 ben Jäger betraf. Unter all den vielen Iägern, die in 30 Sahren durch mein Leben gegangen find, war Damian Zagg der befte. Er war in feinem Revier daheim, wie mit der Fauft in der Soppentafche. Jeden Hirfch und Gemsbod kannte er, nicht nur nach Standort und Gewohnheit feines Wechfels, fondern fo, wie unfereing die Menfchen an den Gefichtern unterfcheidet. Und im Winter forgte er für fein Wild, wie ein braver Hausvater für feine Familie. Mit ihm zu pirfchen, das war ein Hochgenuß. Go lange man nicht in Wildnähe war, erzählte und plauderte er mit einem trodenen Humor, den man nicht fatt befam. Und alles fah er, auf alled machte er einen auf- merkſam. Er hatte Sinn für die Natur, für Stimmung und Beleuchtung, und liebte die Blumen auf jedes feltene Stäublein wies er hin. Dann plöglich fagte er: „est müaſſen mer aber ſtad fein!” Und da flüfterte er nur noch die nötigften Worte, und feine Urt, fich zu bewegen, wurde eine ganz andere. Jeder Schlih und Wechfel des Wildes, die wirre Dickung und das einförmige Steinmeer war ihm fo vertraut, wie dem Fuhrmann die Landftraße. DBrachte die Pirfche eine Schwierigkeit, jo wußte er im fritifchen Moment immer gleich das Richtige und tat e8 auch fofort. Doc bei aller äußerlihen Ruhe mwühlte in ihm eine brennende Aufregung, die fih in etwas abfonderlicher Weife bemerkbar machte: er mußte alle paar Minuten beifeite treten. Uber diefer Ausdruck ift nur sub rosa zu faſſen, denn Damian tat dabei feinen Schritt nach rechts oder links. Ich fragte ihn einmal, ob er leidend wäre. „Gott bewahr! Aber bal ebbes Schußbars umanand is, fon i vor lauter Fiebern 's Brünndl nimmer derhalten.“ Lag das Wild, dem der Pirſchgang gegolten, fo war diefes Leiden fofort ver- ſchwunden war aber der Pirfchgang refultatlos verlaufen, fo pflegte es immer noch eine Weile anzuhalten. Daß man darüber lachen und Scherze machen konnte, begriff er nicht. „IS woaß net, was unfere Herrn allweil haben! Dös macht ja bloß mir an Arbet!“

Nicht nur als Jäger, auch fonft, in allen praftifchen Dingen bes Lebens, war er gefchict und findig. Wenn er was anpadte, traf er immer gleich den Nagel auf den Kopf. Alles Handwerk verftand er, und was er fchlofferte, zimmerte oder fehreinerte, das kam immer tadellos und fauber aus feiner Hand. „Bal ebbes machft, da muaßt es richti machen!” Das war einer von feinen Lieblingsfprüchen.

Freilich, der Gang feines Lebens war auch eine Schule für alle Arbeit gewefen. Er war der Sohn eines Förfters, der den halbwüchfigen Buben lieber mit auf die Pirfche nahm, als daß er ihn in die Schule fchickte. Und als der Vater frühzeitig geftorben war, mußte der Bub mit feiner Mutter weiterhaufen und überall zugreifen, wo ed was zu verdienen gab. Er wurde Holztnecht, Pechfammler, Schmuggler, Fifcher, Flößer, Zimmer:

4 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

mann, und fchließlih Träger und Treiber bei den großen Jagden bes Herzogs, in deſſen hirfchreichen Revieren ſich der Damian auch ftill und vorfichtig zum Wildfehügen ausbildete. Weil er genügfam und haushälterifch war, brachte er auch was vorwärts und hatte fich ein Feines nettes Anweſen zufammengefpart, das in einem 5 Stunden von unferem Sagdgebiet ent- fernten Dorfe lag und von feiner alten Mutter bewirtfchaftet wurde, die der Damian, feit er mein Jäger geworben, jedes Jahr ein paarmal befuchte.

Um von der Gefchiclichkeit und rückfichtslofen Energie, mit der er eine ihm neue Sache anfaßte, ein Erempel zu bringen, will ich erzählen, wie der Damian Zagg das Radfahren lernte. Als damals vor ſechs, fieben Jahren das Radeln fich in den Gebirgsdörfern einbürgerte, meinte der Damian eines Abends, das wäre nicht fehlecht, wenn er fo manchmal an einem freien Sonntag die fünf Stunden zu feiner Mutter „aufifaufen“ fönnte. Gleich am andern Morgen borgte er fih vom Poftboten das Rad aus. Der Plas, auf dem er das Radeln üben wollte, war eine fchlechte, mit groben Steinen befäte und von Schrunden durchrifiene Waldftraße, zwei Meter breit, links die Felswand und rechts der Abfturz in das Bachbett. Und das Rab padte er an, wie man einen Stier, dem nicht zu frauen ift, bei den Hörnern faßt. So hab ich in meinem Leben nicht oft gelacht wie damals, als ich dem Damian Zagg zugudte, wie er das Radfahren lernte. Bei jedem Purzelbaum, den er machte, fluchte er ver- wundert: „Zeifi, Teifil Hat's mi fcho wieder griffen!” Nach zwei Stunden war das Rad eine unreparable Ruine. Uber der Damian Zagg war ein perfekter Radfahrer. Dem Poftboten bewies er, daß die Mafchine ‚eh ſcho nir nuß‘ gewefen wäre, bezahlte ihm ‚aus reiner Guatigfeit‘ ein paar Mark Entfhädigung und für fich felber faufte er ein neues, gutes Rad, das er fo vorfichtig behandelte wie der Apotheker die Quedfilber- flaſche.

Bei einer heiteren Feſtlichkeit, die wir zum Gaudium unſeres Perſonals veranftalteten, gab es auch ein Preis-Tennis für die Jäger, die natürlich noch nie ein Rafet in der Hand gehabt hatten. Sie machten Sprünge nach den Bällen wie die Rage nach der flinfen Maus! Es war, um fich krumm zu lachen! Diefe plumpen, derben Kerle! Wie die da hüpften und finnlo8 auf dem Rafen umberjagten, in den fie mit ihren Nagelflößen tiefe Löcher hineinfprangen! Die anderen, als fie nichts fertig brachten, wurden verlegen und fchämten fich ihrer Ungeſchicklichkeit und des Mip- erfolged. Damian Zagg aber geriet in eine Wut, daß fein Geficht mauerbleich war, und daß er an den Augen das Weiße herausdrehte. Sein Blick ſchärfte ſich gleich dem Blick eines hungrigen Adlers, und an ſeinen Gliedern ſtrafften ſich alle Muskeln wie am Körper eines Raubtiers, das um fein Leben ringe. Und richtig wurde er der Sieger im Turnier! Niemals hab ich im Blick eines Menfchen folch einen heißen Stolz gefehen, wie er dem Damian Zagg in den QUugen glänzte, ald er den Preis in Empfang nahm: die zehn Mark und das feidene Fähnlein.

Aehnlich war’3 auf der Kegelbahn da nahm er immer die Kugel in die Hand, wie ein ſtarker Menfch fein Schickſal gleichviel, ob um Geld oder um die Ehre gefegelt wurde. Und das galt ihm wie ein hoher

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt ded Damian Zagg. 5

Merktag ſeines Lebens, als er endlich auf der neuen Bahn herausgefunden hatte, wie man für einen ſicheren Schub die Kugel auflegen mußte.

Aber die höchſte unter all ſeinen Künſten war doch ſeine Art, zu erzählen. Aus der kleinſten, unſcheinbarſten Sache wußte er was merf- würdiges zu machen, durch die humoriftifchen Lichter, die er überall auf- feste, und durch die fpielende, fpöttifche Ueberlegenheit, mit der er den Stoff behanbelte.

Wenn er mit einem Jagdgaſt von der Pirfche heimkam, war es für mich immer ein Sauptvergnügen, mir die Gefchichte dieſes Pirfchganges zuerft von dem Gaft und dann vom Damian erzählen zu laffen. Das gab immer zwei Gefchichten, die einander glichen wie Fauft und Auge. Und ohne gerade was grob Verlegendes zu fagen, ſpickte Damian die Gefchichte fo reich mit den Kletten feines Spottes, daß der Gaft fie nicht hätte hören dürfen. Da bekam er einmal einen ellenlangen Herrn zu führen, der mit Röhrenftiefeln zur Gemsjagd ausrüdte. „Sakra,“ ftaunte Damian. „Sö wearn aber die Gamsböck abireigen von der Wand! Wie der Burger- moafter die RalenderblattIn!” Am Nachmittag, ald die beiden ohne Gems- bock heimkehrten, ſchmunzelte und nidte mir Damian ſchon von weiten zu. Der Gaft, deſſen Stiefelröhren von hundert Steinriffen durchfäbelt waren, erzählte ſchwitzend und erfchöpft: das wäre ein hochintereffanter Weidmanns · gang gewefen; er hätte drei fapitale Böcke rege gemacht; leider wäre ihm der erfte Schuß vorzeitig abgegangen, das zweitemal hätte er jo unficher geftanden, daß die Lanzierung eines korrekten Schuffes abfolut unmöglich gewefen wäre, das brittemal hätte die Patrone nachgebrannt, und ein vierter Bod, den fie noch auf dem Heimmweg überrafchten, hätte fich fran- zöſiſch empfohlen. Uber ein herrlicher Anbliet wäre das gewefen! Dieſes impofante Bild der Natur! Diefer grandiofe Schwung der Berge! Auf Schritt und Tritt diefer heiß erregende Kampf mit der Gefahr! Einfach unvergeßlich fürs Leben!

Damian Zagg, ald er mit mir allein in meiner Stube war, fing zuerft unter Zorn und Lachen fein übliches Fluchen an: „Teifi, Teifi, Teifil I hab ſcho viel umananderzarrt auf die Gamsberg! Uber fo an ſtockboanigen £ippl hab i meiner Lebtag no net gfegn! Dahergffiegen iS er wie der Storchenvogel. Und bal der Steig ſchmäler woarn is ald an Meter, hat ’r vor Angft ſcho gnadelt an Händ und Füaß! Den Hals hat ’r wie a Wagendeirel auſſigſchoben, und mit die Stiefelröhren hat ’r gfcheppert, daß der Mesner am Karfreitag mit feiner Ratfchen gar nir is! Natüarle fan die Gamsböck auf fünfhundert Gäng ſcho davongfauftl. Und da hat ’r nachipulvert, daß i gmoant hab, i bin bei Marladuhr! Wie er den dritten ofait hat, hab i gfagt: ‚Sö gfallen mer! GSchaugn mer, daß mer hoam- femma!‘ Uber da hat ’r allweil gmoant: ‚Bropüren wür die Sache nochchch einmahl!' Ja, Schneden, hab i mer denkt! Uber wie's der Teifi will, aufm Hoammeg, da ſchaug i, derweil i grad mei Pfeifen ftopf, fo ummi über a Gratl, und da bligt mer ebbes ber durch die GraferIn, fi fo fei allweil grüahrt haben im Sunnamwind! Und richtil Liegt a Gamsbod da auf hundert Schritt. ‚Sö,' fag i und pad den Lippl bei der Stiefelröhren,

6 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

‚da liegt a Gamsbod, toan S' Eahna nieder!‘ Uber moanft, der Kerl hätt fi niedertan? Und den Kragen hat ’r auffidraht wie a Hopfenftang! ‚Sö,“ fag i, ‚toan S' Eahna doch ums Herrgottswillen nieder! Uber net ums Verrecken hätt ’r fi niedertan! ‚Sö,' fag i, ‚bal ©’ Eahna net niedertoan, muaß Eahna ja der Gamsbod fehgn!‘ Willen S’ was ’r gfagt hat? ‚Soll er müch fähen!‘ Da funnt van doch der Teifi kreuzweis holen! Natüarle bat der Gamsbock zammpadt und hat eahm übern Buckel ber no ebbes gſagt!“ Damian lachte. „ber dös hat der ander net verftanden, der muaß net gut deutfch finna!“

Ein andermal verbrachte Zagg mit einem Pirfchgaft die Nacht in der Sagdhütte am See. Nach der Heimkehr lachte Damian fehon, als er in meine Stube trat.

„Sa, Dami,“ fragte ich, „wie war's denn?“

„Herr Dokter, dös is koa Menſch!“

„Warum ſoll denn der Baron kein Menſch ſein?“

na! Dös is koaner! Dis is a Waſſeramſchtel!“

„Was iſt er?“

„A Waſſeramſchtel! Ja! Z'earſt hat 'r an Gamsbock hergfait, den a Blinder mit'm Stecken hätt derſchlagen kinnal Und auf d'Nacht, wia mer in d'Hütten kemma fan, hab i eahm drei Zuber Waſſer auffiholen müaffen aus'm See. Und da hat'r fie nacket auszogen, wuzelnadet ... . ausgſchaut bat’r wie a Heiliger nach der Marterung ... und da hat’r die drei Zuber Waſſer über fie abigoffen. Und brietfchelt hat’r, grad wie a Wafleramfchtel! Brrrrrr! Daß mers Waffer in d'Augen gfprist is!“ Dabei machte Damian mit Ropf und Armen ganz fo flinfe Bewegungen wie eine Wafleramfel, wenn fie badet. „Zeifi, Teifil A fo a Narrenviech! Und den Bergfteden hat er allweil Alpensdod ghoaßen!“ Er kraste fich lachend hinter den Ohren. „Sa, i8 fcho wahr! Heint in der Nacht, da hätt i bald an d'ſSeelenwanderung glaabt!“ Dann machte er wieder ein ernftes Geficht. „Und grauslichen Dinger, er an die Händ hat? Haben S' fcho gſehgn?“ Er meinte die drei Zentimeter langen, zärtlich gepflegten Nägel, die der Baron an den Heinen Fingern hatte. „Is dös a Krankheit?“

Das von der Seelenwanderung, dad wußte er von mir. Davon hatte ich ihm einmal erzählt, um feine eigenen Anſichten über Leben und Sterben aus ihm herauszuligeln. Uber allen fpekulativen und religiöfen Gefprächen gegenüber war Damian Zagg fo vorfichtig, wie der Marder vor der fchlecht- geköderten Falle. So gefprächsluftig er fih fonft auch gab wenn ich auf diefes Thema kam, ſchwieg er beharrlich, zuckte die Achfeln oder ſchmunzelte pfiffig, oder ftocherte in feiner Pfeife herum. Einmal fagte er: „Sa, mei, a fo a gftudierter Herr, wie vaner fan, der fon fi an Ausdrud geben. Aber unferoam, bal ’r von füllene Sachen redt, kunnt leicht ebbes Gfahrlis auffirumpeln! Na na! Da halt i liaber 's Mäul!“

Durch einen Zufall fam ich aber doch dahinter, daß es im Damian Zagg mit dem Glauben an die Unfterblichkeit der Seele recht windig beftellt war. Da faß er in der Sennhütte, hatte einen feften Sums vom roten Spezial und wollte den Senn zum Mittrinfen animieren. Der aber fchüttelte ben Ropf; er hätte grade genug; und wer fich fieben Räufche in einem Jahr

Ludwig Ganghofer: Die Brauffahrt des Damian Zagg. 7

anföffe, fäme in die Hölle; fechfe hätte er in diefem Jahrgang fehon gehabt, da möchte er doch den fiebenten nicht riskieren; fonft könnte es ihm ‚da drenf‘ gar übel ergehen.

„Da drent?“ fchrie Damian Zagg und verfegte dem Senn mit Lachen einen Puff vor die Bruft. „Geh, laß d’r dein PVerftand frifch ſohlen! Ausgſchnauft, einigraben, und aus und gar is's! Dös glaab i!“

Erſchrocken machte der alte Senn einen Verſuch, dieſen läſterlichen Heiden zu bekehren, und rückte mit allem heraus, was in feinem grau ge= mworbenen Gedächtnis vom Heinen Katechismus noch übrig war.

Damian lachte. „Du! Balder Briefbot amal a Poftkarten bringt .. und da fteht drauf: Un den dümmften Kerl von Europa... nacher bringt er's dir!“

Am folgenden Morgen, auf dem Heimweg von der Pirfche, wollte ih den Damian ans pfochologifche Schnürchen nehmen und hielt ihm vor, was ich durch das Fenſter der Sennhütte gehört hatte. Staunend fchüttelte er den Ropf: „Na nal Herr Dofter, da müflen S’ Eahna verhört haben! So ebbes fon i net gfagt haben! Dös gibt’ ja gar net!“

Als wir heimfamen, wollte ich den Senn als Zeugen anrüden laffen. Aber der alte Heiter gudte genau fo harmlos verwundert drein wie Damian Zagg. „Ah naaa! Von der Seel und füllene Sachen, da haben mer fei gar nir gredt! Na! Net a Wartl!“

Auf diefer Behauptung blieben die beiden ftehen. Und ich lachte dazu. Uber Damian, der ſich fonft nur felten Kirchen-LUrlaub geben ließ, rannte in diefem Herbſt jeden anderen Sonntag in das zwei Stunden vom Jagdhaus entfernte Dorf, um feiner Chriftenpflicht zu genügen. Und die fonft bei ihm fo beliebten Scherze über den Kaplan und die Widumsköchin ftellte er völlig ein. Auch an die Gefchichte, die ihm mit dem jungen Pater Franzisfaner paffirt war, wollte er fih nimmer erinnern. Ich habe fie mir aber doch gemerft:

„Da bin i durchs Holz amal ummi auf Mittenwald. And gahlings bör i was Erufchpeln im Didet. Und da kummt fo a Franzisfanerlehrling daher, a bluatjungs Bürfchl, und allweil bleibt ’r mit der Kutten an die Brombeerftauden hängen. Wart, denk i mer, den kaaf i mer a bißl! ‚He, du,‘ ſag' i, ‚mo fommft denn ber überzwerch?‘ ‚Sch habe mich verirrt im Walde, fagt ’r. ‚Wo thatft denn hinmögen?‘ frag i. ‚Nah Mittenwald, in Gottes und aller Heiligen Namen,‘ fagt 'r. , Woaßt ebba den Weg net ummi?‘ frag i. ‚Nein,‘ fagt ’r. ‚So? Da muaßt Di halt zuachi halten zu mir! 3 fpring aa grad ummi auf Mittenwald!‘ fag i. Und hab 'n allweil fo von der Geiten angfchaut. Und frag: ‚Weil gar fo an langen Kittel haft, jegt woaß i net, bift a Mannsbild oder a Weibe- bild?‘ ‚Nein, nein,‘ fagt ’r, ‚ich bin fchon ein Mannsbild, fennft Du mein heiliged Kleid nicht?‘ ‚So,‘ fag i, ‚heilig is dein Gwand? Wie ’3 an die Brombeerftauden hängen blieben is, da hab i gſehgn, was drunter ig. Und dös hat fei gar net heilig ausgfcauf?“ Da is er wie a Madl fuiri woarn über 's ganze Gficht. Und i frag: ‚Was i8 denn nacher dei Gfchäft?‘ ‚Sch, fagt ’r, ‚ich weile den Menfchen den Weg zum Himmel!“ ‚Was? Du Lapp?‘ fag i. ‚Sp endsweit auffi willft den Weg für die andern

8 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

zoagen? Und felber woaßt net amal dös Trümml Weg bi auf Mitten- wald?‘ ... Teifi, Teifil' Der hat aber dreingfchaut!“

Solche Hiftörchen wußte Damian Zagg im Dutzend zu erzählen. Vielen merkte man an, daß fie irgendwo aufgefchnappt und ſubjektiv abaptiert waren. Wenn er das auch mit erzählerifchem Geſchick zu machen verftand, fo wirkte doch alles, was aus feinem eigenen Leben herausfprang, viel fchärfer und charafteriftifcher. Was er mir auf hundert Pirfchgängen und an hundert Abenden in der ftillen Sagdhütte aus feinem Holger, Schmuggler- und Wild- fhügenleben erzählte, würde ein Buch füllen, ein dickes und doch ein amüfantes.

Befonders gerne ließ ich mir von dem großzügigen Sagdleben in den berzoglichen Revieren erzählen, wo er als Träger und Treiber gedient hatte. And da ift mir eine Epifode unvergeßlich:

„Amal, da is der Herzog angfagt gwefen zur Jagd. In aller Fruah haben f’ fcho an Haufen Kufer einigfünhrt ind Jagdhaus. Und alle ig für d’ Jagd fcho parat gftanden. Bal ebbes net Flappt hat, da hat ’r foan Guaten net graucht, der Herzog! Herrgott! Hat der fchimpfen könnal Uber bal 's mit der Jagd guat nausgangen is, da id 'r aa wieder freinbli gweſen. Wann i eahm die Gemsböck abizogen hab vom Stand, da hat ’r mer oft a Zigarl gfchenft. No, und da is ’r felbigsmal fo dahergritten auf feim Bräundl. Teifi, Teifil A fo a Rößl! So ebbes hat ma fehgn müaffen! AU Köpfl wie a Rehgoaß! Und kugelrund! Und d’ Haar haben glanzt vor lauter Fetten! GFreili, a fchwarer Mo is ’r gweien. Der hat {ho a Rößl braucht, dös ebbes tragen hat finna! Und derweil i no all- weil des Rößl anfchau, giebt mer der Sepp an Renner. ‚Du,‘ fagt ’r, ‚was fommen denn da für zwoa Weibsbilder daher? ſchaugn mer aber gar net nach der alten Herzogin aus!‘ Und da fchaug i halt hin! Kreuz Teifi! 's Bluat iS mer glei auffigfahren! Woaßt, neunzehn Jahr bin i halt felbigemal gwefen! Und fo ebbes Schöns von zwoa Frauenzimmer hab i meiner Lebtag no net gfehgn ghabt!“

Us mir Damian diefe Gefchichte zum erftenmal erzählte und zu diefer Stelle fam, fragte ich: „Waren das Verwandte vom Herzog?“

„Was woaß denn i?” Er ſchmunzelte. „Aber zwoa Weiberleut, Herr Dokter, hätten S’ feghn follen! Teifi, Teifil Die vane, fo a Schwarzlechte ... wie a richtige Italänerin hat ſ' ausgfchaut ... i8 auf an Schimmel gritten. Und Augen hat f’ ghabt wia die höllifche Gluat! Und mollet war dös Weiberleut, daß ma gmoant bat: wo ma 's anrüahrt mit an Finger, muaß a Grüamerl bleiben! Ferm wie d’ Nudel, wann's frifeh aus 'm Schmalz fommt! Und die ander erft! hätt mer fchier no mehrer ofallen! Dös is a Blonde gwefen, in lauter weiße Spigen- tüachln eingnaht, allweil pludert haben, bal fi a Lüftl grüahrt hat! Und i8 auf an Rappen gritten. Teifi, Teifil Wia 's Chriftkindl is dös Madl brobengfeffen! Kloaboanlet und fein, daß gmoant haft, mit an halben Schnaufer kunntft es übern Haufen blafen. Und wia der Herzog dös Madl abighoben hat vom Rößl, da hat 's d’r an Lacher gmacht wie a filbrigs Glöderl, und hat zum Hupfen und zum Fliagen und zum Tanzen anghebt, daß ma gmoant hat, fie müaßt a paar Schwalbenflügerin hinter der Irren haben! ... Teifi, Teifi, Teifil“

Lubwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg. 9

Dem Damian wurde ſchwül beim Erzählen, und ſchnaufend fchob er den Hut aus der GStirne.

„Sunft is der Herzog allweil abi vom Bräundl und auffi auf ’n Stand. Aber am felbigen Tag, wie er einigritten iS, da hat ’r foa Treiben nimmer ghalten. Am andern Morgen hat alles fcho paßt um halber Viere in ber Fruah. Uber Achte id 's woarn, und Meune, und foa Herzog id zum fehgn gweſen. Und allweil fan d’ Laden no zuagwefen am Jagdhaus. Und der Wildmoafter hat gfluaht: ‚Sa ſakra, was is denn da, heut kummmt er ja gar nimmer auffil‘ Endli, um halber Elfe hat fi der Herzog anfchaugn lafjen. Und da haben mer an furzen Trieb gmacht. Hoch hat ’r net auffi- mögen! Uber zwoa Weiberleut, haben mit auffi müaſſen auf ’n Stand. Drei Gamsböd hat ’r gſchoſſen. Und wia i auffitumm und will Gamsböck abiziahgn, fagt der Herzog: ‚Dami,‘ fagt ’r, ‚da droben hängen noch ein paar fchöne Alpenrofen! Die hol mir mal herunter! Wie a Narr bin i auffigrumpelt und hab den Bufchen abigriffen. Herrgott! Röferln haben gleucht wia 's Fuier! Und den halben Bufchen hab i der Blonden binboten, und den halben Bufchen der Schwarzlechten. hat fo gfpaffi dreingfchaut mit ihre ruaßigen Herenaugen. Aber die Blonde bat glacht. Und fagt: ‚Sch danke fhön!‘ Und wia ſ' nacher davon fan mit ’m Herzog, is um den ganzen Stand ber a Gſchmachen blieben, daß d’ moana hättft finna, ma hätt an ganzen Heumwagen voll füaße Bleameln ausglaart. Und akrat fo hat die Ralefchen allweil gſchmeckt, bal i ’8 wafchen hab müaſſen, wann der Herzog mit Zwoa von der Luftfahrt hoamkommen il... Teifi, Teifi, Teifil... Uber felbiggmal haben mer guate Zeiten ghabt! ganze Nacht haben mer allweil fchlafen finna! Und vor Zehne, halber Elfe iS ma nia net ausgrudt zum Treiben. Drei Wochen fan ſ blieben, dd Zwoal And in der Fruah amal, da fan f’ davongfahren mit der Ralefchen. Und allweil haben ſ' auffigwunfen mit die Schnäuztüachln. Zal Und auf 'n Abend is die alte Herzogin einigfahren in der Ralejchen. Und fo a gfpaffige Nafen hat f’ allweil gmacht, grad, als taat f’ in der Kaleſchen ebbes fchmeden von dB ſüaßen Bleameln. Und der Herzog hat gfagt: ‚Grüß dich Gott, meine Liebe! Schön Wetter haben wir! Was?‘ Und am andern Tag haben mer um halber Biere ſcho ausruden müaſſen zum Treiben! Sa! Und fcharf hat er 's trieben mit der Jagd! Dan Tag um den andern. Da hat 's koan Sunnte geben! ... Teifi, Teifi, Teifi! Selm haben mer fchwigen müaſſen!“

So oft mein Damian in befonders guter Laune war, mußte er mir diefe Gefchichte erzählen. Und da erwachten in feiner Erinnerung immer neue, harakteriftifche Züge. Nur fchade, daß fich das alles nicht gut fchreiben läßt!

Eine Perle feiner Erzählungskunft war auch die ausführliche, mit dem drolligften Humor und den fchärfften Beobachtungen gezierte Schilderung der vierzehn Tage, die er zur Sühne für jenen Rehbock hatte brummen müffen. Bis er die Gerichtöverhandlung überftanden hatte, war es Herbft geworden. Eine böſe Zeit, um zu figen! Wenn draußen im Bergwald die Hirfche fehreien! Und wenn in der ungeheizten Gefängnisftube die Nächte fo bitterfalt werden! Wie Damian diefe Stube und das unbehagliche Zu- fammenfein mit den Bagabunden fchilderte, die man da und dort im Lande

10 Lubwig Ganghofer: Die Brautfahrt ded Damian Zagg.

aufgegriffen hatte! Man roch in bdiefer Schilderung förmlich das foziale Elend. Und den Atem der Ratten! So oft er das erzählte, befiel ihn ein Ekel, der feinen Körper fchüttelte. Und wie er diefe Menfchen zeichnete, die man da brachte und wieder fortführtel Und den Wärter! Und den Infpektor! Der hatte Stiefel, die immer Inarrten und wenn er unwillig den Kopf fehüttelte, fielen ihm vom Bart die Schnupftabafsbröfelchen auf den Bauch herunter.

Zu Beginn ber zweiten Woche kam der Wärter mit einer böflichen Frage. Keiner der Gefangenen wäre zur Arbeit verpflichtet vielleicht ließe fich aber doch ein Liebenswürdiger finden, der die Neigung hätte, für den Herrn Infpeftor eine Klafter Buchenholz Hein zu machen?

Unter dem Dugend, das die Stube füllte, war Damian Zagg ber einzig Gefällige weil ihm die Arbeit ein Mittel gegen das Frieren und die Langemweile war, und weil er einen Vorteil witterte. Der ftellte fich auch wirklich ein. Als die Frau Infpektor fah, wie fauber Damian Zagg das Holz zerkleinerte, wie fürforglich er die appetitlichen Scheitchen hinauf: trug in den dritten Stod und fie pedantifch auffchichtete nach der Schnur, da gewährte die ftrenge Behörde fein Gefuch um eigene Roft und um eine feparate reinliche Zelle. Im diefer Zelle fanden zwei Bettjtellen. Und nun verfügte Damian Zagg über vier wollene Deden, mit denen er fich’s in den falten Nächten auf dem ftramm geftopften, fteinharten Strohſack ganz warm und behaglich machen fonnte. Auch hatte er aus feinem Strob- fad, um beffer zu liegen, noch Stroh herausgenommen und hatte es drüben in den anderen Sad hineingeftopft, der fich nun mwalzenförmig und eifenhart aus der Bettlade herausmölbte.

Nach diefer furzgefaßten Einleitung, an der mein Damian immer eine Stunde zu erzählen hatte, mag er nun felber reden:

„Auf 'n Abend amal, es is fcho völli finfter gwefen, und i bin fcho bacherlwarm unter meine Deden glegen, da hat ma 's Tüarl aufgmacht, ed pumpert oaner eini, und nacher hat fi der Schlüfjel wieder draabt. ‚Zeifi, Teifi,‘ dent i mer, ‚jest muaß i zwoa von meine Deden hergeben! Teifil Dös kunnt mer taugen!‘ Und da fagt der ander: ‚Malefiz no amal! Was is denn dös? Warum is denn da fo finfter?‘ ‚Mei,‘ fag i, ‚der Fifchkali hat halt 's Elektrifche no net. Hättft d'r halt a Kerzl mitbringa müaffen! Wer bift denn du?‘ U junger Bauer id er giwefen, aus an ‚guaten Anmefen. Und Nägelfpacher hat ’r ghoaßen. Vor vier Wochen erft hat ’r Hochzet ghalten. Und in der Brautnacht hat er a Ruheſtörung verüabt. Und da haben ſ' eahm vierazwanzg Stunden auffipeljt. Dös bat eahm gar net taugt! Und a verzarteltd Luader muaß ’r gweſen fein! Was der allweil freiftet und gjammert hat! ‚Marundjofef‘, hat er allweil ofagt, ‚ja wann i nur wieder bei meim Sepherl waar! Dös halt i net aus! U fo a Nacht in der falten Finftern! Wann i nur wieder bei meim Sepherl waarl‘ ,‚Gelt,' fag i, ‚dös taat bir freili beffer taugen? Aber jest gib amal a Ruah! Daherin fist ma in der Ordnung fei’ Straf ab. Deswegen braucht ma net ander Leut aus’m gfunden Schlaf bringa!‘ ‚Schlafen?‘ fagt ’r. ‚No ja, meintwegen! Wo waar denn die Bettftatt? Is mer ja alles finfter vor die Augen.‘ ‚Muaßt halt greifen,‘ fag i, ‚wenn

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg. 11

dei Sepherl da waar, gelt, taatft bald finden! ‚Sa, Menfch‘ fagt ’r, ‚da haft Recht!‘ Und da fangt ’r ’3 Umananbdertappen wieder an.“

Bei diefer Stelle lachte der Damian immer, weil er ſich das Geficht vorftellte, das der Nägelfpacher machen mußte, wenn feine tappenden Hände den fteinharten, walzenförmigen Strohſack fanden.

„Geh's, wia’8 mag, hab i mer denkt, i gib koa Deden net her! Und da tuat's an Rumpler, und der Nägelfpacher freiftet: ‚Söifes, Iöifes, jegt hab i mer 's Mäusle auffigftöffen aus'm Rnia! ‚Macht nir,‘ fag i, ‚da berinn fan Mauslöcher gnua, da weard's ſcho wo einihupfen, dei Mäusle!‘ A Halbe Stund lang bat ’r fo furtgjamert. Und gahlings tuat ’r an Fluach ... dös id a gfunder gwefen! Woaßt, da hat ’r den Strohſack gfunden! Und derweil i mer unter der Decken 's Lachen verbiffen hab, fchreit er allweil, der ander: ‚Sakra, Himifatra! Da muaß ja der Menfch derfraifen! 38 denn foa Deden net da?‘ ‚Na,‘ fag i, ‚da drent is koane. Müßt d’r halt i vane geben. Uber and Beißen muaßt gwöhnt fein. Wanzen und Flöh fan drin in die Deden, daß ma's grad allweil fo wuhrln fpüart!! ‚Pfui Teifi,‘ fagt ’r, i dank fchön, na, da mag i nie wiffen, bhalt deine Deden felber! Da hoc i mi liaber die ganze Nacht aufn GSeffel! Is denn koa Seſſel net da” ‚Na,‘ fag i, ‚wearſt die ſcho auffitrauen müaffen auf’n Sack!‘ An Ewigkeit hat ’r fi gfpriffen. Aber gahlings hat ’r fi do auffi- traut. Und faam liegt ’r droben, hat's 'n fcho wieder abigriffen über d'Leiten. An Pumperer hat’8 gmacht aufm Boden, daß i gmoant hab, d' Mauer is eingfallen. Und der Nägelfpacher rebellt und fluacht: ‚Sa Himifakra, was i8 denn dös für a Sad! Der is ja buckleter wia d'Welt! Da fa ma ja gar net liegen drauf!‘ ‚Ah freili,‘ fag ti, ‚da fo ma fcho liegen drauf: den Vorthl muaß ma halt auffifinden, woaßt! Da legft die auffi mit 'm Bauch, und d' Füaß muaßt ausanand fpreizen, fo weit wia |’ roachen, und nacher muaßt di mit die Arm feft einikrailn untern Sad! Da liegt ma nacher nobel! Zal! Dös Hat’r probiert. Uber gar net hat’s eahm taugen mögen. Herr- gott! Wia der umanand gwest hat auf 'm Strohſack! Und gahlings hat ’r s Reahrn anghoben: ‚Marandjofefl Heilige Muatter! Ro denn dös mögli fein, daß a Strobfad gar fo hürt is! ,‚Gelt,‘ fag i, ‚dei Sepherl taat fi a bißl kinder gfpüaren?‘ Und nacher hab i d'Ohrwaſcheln einizogen unter meine Deden und hab mi auf d’Geiten draaht. In der Fruah, wia’s tagelet bat, bin i aufgwacht. Da hodt der Nägelfpacher auf’m Boden, und vor Fraifen bat ’r grad fo gfcheppert mit die Zähnt. Jetzt hat ’r mi derbarmt, is ſcho wahr! Und wia i zum Holzkliaben gangen bin, hab i eahm meine Deden geben, alle viere! Und hab eahm gfagt, jegt brauche ’r koa Surg nimmer haben... warn 's Tag mweard, taat fi ’3 Anziefer allweil verfchliefen. Teifi, Teifi, der is einigfahren ins Bett! Und auf Mittag, da hat ’r fi recht derfennli zoagt. Sechs Maaß Bier und vier Niarnbraten bat ’r holen laffen. Is a richtiger Menfch gwefen, der Nägelfpacher! Jal“

Ihr hättet das Schmunzeln fehen follen, mit dem der Damian Zagg feine Gefchichte zu fchließen pflegte!

Diefe rhapfodifchen Künfte machten den Damian Zagg für mich zu einer Roftbarfeit, deren Befig ich von Jahr zu Jahr immer teurer bezahlen mußte. Ich hatte ihn zum Dberjäger ernannt und jährlich feinen Gehalt

12 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

erhöht. Als Jäger verbiente er das auch. Aber er war von den Menfchen einer, die es nicht ertragen können, wenn fie ed allzu gut haben einer von denen, die feinen anderen neben fich dulden fünnen und nie genug Raum um die Ellenbogen haben. Mit keinem Mitglied des Perfonals ver- trug er fich lange. Das artete nie in offene Feindfchaft aus, doch es blieb ein immermwährender verfteckter Krieg. Damian war ein Meifter in jenem hetzenden Geftichel, bei dem man nichts zu beweiſen braucht, ein Virtuoſe jener fpöttifchen Redensarten, die um fo übler wirken, je harmlofer fie fich zu geben wiflen. Anfangs nahm ich das immer ernft, unterfuchte, fonfron- tierte und hatte nutzlos eine Kette von Derdrießlichkeiten und Uerger. Oft ſprach ich ihm feharf ing Gewiffen. Aber das half nichts. Er konnte nicht anders, auch auf die Gefahr hin, es mit mir zu verderben. Weil ich ihn nicht verlieren wollte, ertrug ich feine Art und wenn er feine ftachligen Kletten warf, ging mir fein Wort zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus.

Halb und Halb verftand ich auch, warum er fo fein mußte. Er war fein Herdentier, fondern ein Einfamer, fei e8 nun aus Anlage, oder durch die Schulung feines Lebens, das immer die abgelegenen Wege hatte ſuchen müffen. In dem zwei Stunden vom Jagdhaus entfernten Dorfe hatte er eine Stube gemietet, aber nur für die hundert Geweihe aus feiner Wilb- fhügenzeit; ihm felber war e8 am wohlften, wenn er mit den Menfchen nicht8 zu tun hatte und durch den ganzen, fieben Monate langen Winter einfam in ber verfchneiten Sagbhütte ſaß. Er war ein Stüd harter, roher Natur, an die Natur unlösbar angewachfen, mit dem rüdfichtslofen Egois- mus, wie er im Raubtier ſteckt. Diefer Egoismus milderte fich bei ihm faft nie ins Menfchliche, nur immer ins Kluge, das den beſſeren Vorteil hinter der Schranke fieht. Das Bewußtfein diefer Klugheit machte ihn bochmütig und fpöttifh. Alle anderen Menfchen ftanden minderwertig unter feinem ruhigen Blid. Schon gar die Jäger! And da war er zumeift nicht mit Unrecht ftolz er überragte fie alle an Verſtand und weidmännifchen Fähigkeiten. Das mußte er fie fühlen laffen. Und noch ein anderes fam dazu: der Wildfchüg, für den der Jäger ein Gegenftand des Hafles oder der Geringfchägung ift, bleichte im Damian Zagg nie völlig aus. Diefer Dberjäger erzählte aus feinem früheren Wildfchügenleben am liebften die Geſchichten, in denen der Jäger die Rolle des Dummen fpielte.

Uber dieſe andere Geele von einft, die noch im Damian ſteckte, färbte nicht ab auf feinen Dienft. Niemals beging er eine Unredlichfeit wenigftens bin ich ihm nie hinter eine gefommen. Uber was fi neben dem Dienft an Vorteil gewinnen ließ, das fcharrte er alles für fich zufammen. Auch hätte er das gerne angefangen: manchmal einen guten Hirfch oder Gemsbock vor mir zu verfchweigen, um ihn für einen Sagdgaft zu refervieren, von dem fich ein fchweres Trinkgeld erwarten ließ. Aber das gemwöhnte ich ihm ab; denn ich war in meinem Revier nicht minder gut zu Haufe, als er felbft. Und wenn ich auch nicht immer der Klügere war, fo fpielte ich ihn doch. Gtieg dba ein Verdacht in mir auf, und Damian meldete, er hätte was gut Schußbares nicht gefehen, dann fchmunzelte ich ein bißchen und fagte: „So?“

Seine Augen ftudierten mich. Und gewöhnlich fragte er. „Willen ebba Sie ebbes?“

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt bed Damian Zagg. 13

Sch ſchmunzelte wieder und fchüttelte den Kopf. „Ich? ... Nein! Geh nur, Dami.“

Und gewöhnlich fam es dann fo, daß er am anderen Morgen mit bem Rapport erfchien: „Teifi, Teifi, Herr Dolter, heut hab i aber an Bod gfehgn! So haben ©’ koan zwoaten im Revier.“

Was man aber „die legten Dinge“ nennt das erfuhr ich doch nie von ihm. Da war er wie bie Natur, zu der er gehörte ald ein Teil. Etwas Heimliches, etwas Verfchwiegenes, irgend etwas ganz Verfchloffenes mußte er immer haben. Niemals, weder ald Jäger noch als Menſch, ging er völlig aus fich heraus. Wie offen er fich in guter Stunde auch geben konnte immer blieb in ihm eine legte Mauer, über die er feinen binüberguden ließ.

Jede Sentimentalität und Gefühlsſchwäche war ihm fremd. Für ihn gab ed nur die harten Dinge. Und die ſah er eben fo, wie fie find. Leben oder Tod, das war für ihn fein Unterfchied.

Im Frübjar einmal, da wurde er über Nacht von einem ſchweren Heren- ſchuß befallen. Er hielt das für eine Lähmung, für einen Schlaganfall. Und fagte in feinen Schmerzen ruhig: „Best hat 's mil Teifi, Teifil Hab mer fcho allweil denkt, daß mi der Höllifche holt amall! Uber daß 's grad heut fein muß!” Sch hatte ihm nämlich für diefen Morgen den Abfchuß eines Spiel- hahnes erlaubt. Drum hätte ihm das Sterben an dieſem Tage nicht gepaßt.

Ein andermal, im Sommer, fam er mittags in meine Stube. Als ich ihm ind Geficht guckte, merkte ich gleich: heut hat der Dami nichts gefeben. Und da meldete er: „Unterm Wetterfchrofen hab i an Touriften gfunden. Der muaß fcho den ganzen Winter im Schnee drin glegen fein. Halbert haben ihn d' Füchs fcho vertragen. U guate Hofen hat er an. Muaß aber doch nir Nobels gwefen fein. Der Pidel is fchlechte Waar. Und vieradreißg Pfennig hat ’r im Sad ghabt.“

Sp gleichgiltig, wie diefer Tote, waren ihm auch die Lebenden. Nie hab ich an ihm eine Regung wahrgenommen, die man ald Neigung zu einem Menfchen hätte deuten können. Mir hatte er manches zu danken. Aber deshalb ftand ich ihm nicht näher wie andere. Er wahrte nur mir gegenüber die Form. Und das nahm in der Stunde ein Ende, in der wir auseinandergingen. Und doch war zwifchen feinen derben Herzmusfeln ein mwärmerer led. Der verriet fi im Verkehr mit Kindern. Für die hatte er immer einen guten Blid, einen vertraulichen Klang, ein herzliches Wort. Aber Liebe war auch das nicht ed war nur der unbewußte Ausdruck feiner ungeftillten Sehnfucht nach eigenen Kindern, war an ihm ein Stücd Natur, in der feit Ewigfeiten der Wille glüht, nicht zu vergehen, ohne neues Leben gefchaffen zu haben. Daß ich mit diefer Deutung nicht fehl greife, das beweift mir der merfwürdige Vorgang feiner Brautfahrt ein Vorgang, den man heiter nehmen muß, obwohl die Tragödie einer guten, einfamen Menfchenfeele dazmwifchenklingt, die ihrem dürftenden Verlangen nah Glüd und Lebensfchönheit zum Opfer fiel. Echluß folgt.)

Johann KRufterer auf‘ Abwegen.

Skizze von A. Supper in Calw (Württemberg).

Oft kommt es fo, daß einer, der ſich an der fpröden Erde fo recht müde und krumm gearbeitet hat, auf feine alten Tage den Himmel be- trachten lernt.

Wir meinen zunächſt nicht die ewige Stadt, in der fein Leid mehr ift und fein Gefchrei, in der die goldenen Gaſſen flimmern und die Ströme des Lebens raufchen, wir meinen nur die erfte Etappe dahin, den äußer- lichen Himmel, an dem am Morgen die Sonne und am Abend der Mond aufgeht, an dem die lichten Federwöltchen ſchweben und graugelbe Hagel- wolten fi mwälzen, an dem die Röte fteht, die auf gut Wetter hinweift und die Herde unrubiger Woltenlämmer, die auf Sturm deutet.

Für diefen Himmel, der auch über den höchftgelegenen Bergädern des Johann Kufterer immer noch in beträchtlicher Höhe ftand, hatte der Bauer bis Dato nicht viel Zeit und auch nicht viel Sinn gehabt.

Wenn man hinter dem Pflug geht, gilt's auf die Furchen zu achten, beim Mähen muß man der Senſe, beim Schneiden der Sichel folgen, beim Mifttragen hat man der Steine am Bergweg acht und beim Holafällen fieht man auf Art und Gäge.

Zest aber, feitdem der Johann Kufterer zitterige Kniee und ſchwache Arme hat und Füngere arbeiten laffen muß, jest fehaut er dann und warn, ja immer öfter hinauf zu den Wolfen und zu den Sternen.

Im Anfang hat er nur immer die ftarfen Fäden gefehen, die von feinen und feiner Dorfgenofjen Aeder hinaufgehen und von droben wieder herunter.

Wenn die Röte am Abend hell und leuchtend hinterm Oberweilemer Wald ftand, dann wußte der Johann, dag Michel, fein Sohn, morgen mähen oder fchneiden fonnte. Schob fih8 unruhig hinter den Burgholzer Tannen hervor, dann mochte die Anne-M’rei, die Söhnerin, ihre Rüben fegen. Allmählich aber wurden diefe Fäden, Die den Simmel an die Erde tetteten, immer fchwächer und dünner. Zulegt achtete der Johann ihrer gar nicht mehr.

Wolfen und Sterne wurden ihm ein Ding an fich und für fi. Der Alte, der nicht mehr die ganze Nacht fchlief, jaß gern an feinem KRammer- fenfter, oder auch unter Tags draußen am Galgenwafen, wo man die Alb ſehen fol, und überdachte Dinge, über die er früher einfach weggepflügt, weg

A. Supper: Johann Kufterer auf Abwegen. 15

gemäht, weggedrofchen hatte, Dinge, die für die Faulenzer find. Wie ift

es ihm zuerft ſchwer gewesen, Faulenzer zu fein! Wenn der Eßlinger

Frieder, der gleichalterig war, rüftig mit Senfe und Rechen auf der Schulter

am Johann vorüberfchritt, gab's diefem einen ganzen Stih. „Im Kopf

i 's no',“ murmelte er dann unglücklich; „aber meine Füß und meine erm.“

Dann aber hatte er es auch bald nicht mehr im Kopf. Langſam, Schritt für Schritt wich alles zurück, tauchte ganz allmählich in Abend⸗ fhatten und machte Pla für anderes. Und das war gut fo. Denn es gibt nichts Schlimmeres, ald wenn e8 einem geht, wie dem Schreiner Roller von Altweiler: Wenn man bei dem eine Wiege beftellt, dann verfertigt er einen Badtrog und umgekehrt auch. Macht man ihm Vorhalt, fo heißt's: „im Kopf han i 's recht g’hät; aber fo iſt's halt worde.“

Bei dem Schreiner ift einfach feine Einigkeit zwifchen Kopf und Gliedern. Wohl aber beim Johann Aufterer.

Der tut nichts mehr, als allenfalls eine Senfe dengeln oder Linfen und Erbfen verlefen, und dazu denkt er Faulenzergedanten.

Faulenzergedanten find aber alle die, die ſich mit Dingen befaflen, die den lieben Herrgott ganz allein angehen.

Ob man Rüben nach der Gerfte oder Roggen nach Kartoffeln pflanzen fönne und müffe, das mag einen Bauern kümmern, das fann und fol er erörtern; aber in Sachen, die der Herrgott ganz allein beforgt, und beforgt bat, fo lang man denken kann, wie 3. B. alles, was die Sterne angeht, oder auch die Auferftehung und fo ähnliches in all das braucht fich ein Bauer nicht zu mifchen.

Wenn der Iohann feine Faulenzergedanfen zumeilen ausfpricht oder nur andeutet, dann fagt die Anne-M’rei, feine Söhnerin fpöttifch: „I glaub, d’r Aehne wurd fromm auf feine alte Täg; er lieft au äls in der Bibel.“

„Halt dei Maul,” brauft dann der Alte auf, „was wurr i denn fromm werde.“

Und er flucht dann bisweilen einen recht ausgiebigen Bauernfluch, einen von den faftigen, bei denen man den Mund voll nehmen und hinterher ausfpucden muß.

Uber er flucht ohne rechtes Temperament. Lahm und matt, wie ab- getriebene Gäule fommen die greulichen Worte daher. Es ſteckt fein Feuer, fein Leben mehr in ihnen. Raum, daß fie noch ihren legten und einzigen Zwed erfüllen: Der Anne-M’rei zu bemweifen, daß der Aehne nicht fromm geworben ift.

Fromm! Er fchüttelt fih. Fromm ift der Gottlieb, der alt Schulzen Sohn, Johanns Nachbar, deffen Küchen- und Rammerfenfter auf des Kuſterers Hof gehen.

Der ift fromm! Mitten in der Ernte läuft der eine Stunde meit über Feld nah Bergheim „in d’ Stond“, und wenn ganz Oberweiler fhwigt im Brand der heißen Auguftfonne, dann fißt der mit andern Tag- dieben und alten Weibern in der fühlen Stube, ift mit dem lieben Herr- gott, der ja auch feine Garben zu laden bat, auf Du und Du und hat das bimmlifche Serufalem in Erbpacht.

16 A. Supper: Johann Kufterer auf Abwegen.

Beim Blig, das Serufalem muß eine nette Stabt fein, wenn bes Gottlieb Sorte drinn im Stadtrat fist. Der Bauer wird ganz wild, wenn er nur d’randenft.

Und in des Gottlieb Haushalt geht derweil alle drunter und drüber. Das Weib wird mehr und mehr eine Schlampe, weil fie vor lauter Rinder friegen und drängender Arbeit fein Fertigwerden, feinen Sonntag mehr fieht.

Fromm ift die nicht! Fromm nicht; aber zäh, faft zu zäh. Ihres Mannes Brüder und Schweftern im Herrn, wie der Gottlieb die Tage- diebe und die alten Weiber heißt, alle diefe Gottesfinder, wie fie fich felber heißen, die fieht des Gottlieb! Weib nur ein Mal im Jahr, oft auch ſchon nach zehn Monaten. Das ift immer bei der Taufe, wenn fie kommen, um des Bruders Täufling zu fegnen und Kaffee zu trinken.

Bei der legten Taufe fah der Iohann des Gottlieb8 Weib vom Hof aus an ihrem Küchenfenfter ftehen.

Hohläugig fah fie aus und dürr wie Brennholz; aber fonft aufrecht und bei der Hand.

„Johann,“ rief fie den Nachbar an, „hoft net e Pädle Rattegift bei der Hand, daß i 's ftatt 'm Gichore nemme könnt'?“

„Bärbele,“ gab er zurüd, „laß ’8 bleibe, ’8 kommt doch bloß ’raus, und die Sort’ ift zäh.“

Dann lachten fie Beide ein ingrimmiges Lachen, und das Bärbele kochte den Tauffaffee ohne Rattengift.

Rein! Fromm will der Johann nicht werden um feinen Preis. Als ein Bauerdmann, der des Tages Laft und Hige getragen, fein Irdifches wohl verwaltet und feine Arbeit gefcheut bat, fo will er auf 's Ende warten, und in der Zmwifchenzeit finnieren über die fremden und munber- lichen Dinge, die ihm überall auftauchen, feit er im AUltenteil ift.

Leicht ift e8 dem Johann nicht, alles ſchweigend in fich zu verarbeiten.

Dft möchte er fragen, wie er früher iu fohwierigen Fällen den er- fahrenen Nachbarn oder den Schulzen gefragt bat: „Ei Frieder,“ oder „ei Schulze, wie hältft jegt du ’3 mit dem und dem.“

Uber das waren eben ganz andere Sachen damals.

An den Pfarrer hätte er fich vielleicht wenden fünnen. Ja, ihr lieben Leute, das ift fchnell gefagt. Uber in ganz Oberweiler hätte es geheißen: „Der Kufterer wird fromm auf feine alte Täg, der lauft Em Pfarrer 's Haus fchier weg.“

Und die Klugen und Rechten, die, die fich ausfennen unter den Leuten, die hätten hinzugefegt: „Der Kuſterer muß 's nett ’triebe han in feine rüftige Sohr, daß er jegt des G'läuf nötig hot.“

Und dann noch ein Bedenken: Der Pfarrer ift fo ein Stiller. Wenn er hinter des Johann Hof vorüber über die Wiefe geht, die fo fumpfig ift, und die früher ein Hochmoor war, wenn er fich dann wieder und wieder nach Gräfern und Kräutern bückt und halbftundenweis den Fröfchen zufieht, dann fieht diefer einfame Mann im fchwarzen Rod wohl aus wie einer, ber in allerlei verborgenen Dingen Befcheid weiß; aber zugleich auch wie einer, der gern für fich behält, was er weiß.

Und noch ein drittes Bedenken: Der Johann geht und ging fo lange

A. Supper: Zohann Kuſterer auf Abwegen. 17

er denken kann, nur alle andern Sonntag in die Kirche. Das ift fein Brauch fo, er weiß felbft nicht warum; und er möchte diefen Brauch um feinen Preis ändern.

Da wäre es denn leicht möglich, daß der Herr Pfarrer, wenn der Rufterer mit einer Frage käme, in feiner vornehmen Sprache antworten würde: „Ia, mein lieber Freund, das habe ich erft legten Sonntag erflärt.“

Der Iohann müßte dann befennen: „Herr Pfarrer, legte Sonntich ifcht 's net an mir g'wä.“

Würde da nicht der Pfarrer große Augen machen und fagen: „Ein guter Chrift u. f. w.“

Nein, lieber nicht.

Da ift dann weiter der Schulmeifter. Der muß ja von Gottes und Rechts wegen auch mehr wiffen als andere Leute.

Und er weiß auch mehr. Uber was? Daß Kainit und Thomas: mehl über KRuhmift gehen, und daß jeder Bauer ein Dummkopf ift, der Brachfeld liegen läßt. Und was folche Sachen mehr find. Ein Neun- malgefcheidter ift der Schulmeifter. Schwäzt ind Bauerngefhäft und hat doch bloß auf den Schulmeifter gelernt.

Auch alle möglichen neuen Bräuche will er einführen in Oberweiler. Die Rinder follen keinen Schloger und feinen KRlepperlestee mehr befommen, die Alten keinen Heibeer mehr trinken.

Finfter furcht fi) des Johann vermitterte Stirne. Wie ein Revo— lutionär, wie ein Frechling, der an den Grundpfeilern des Beftehenden rüttelt, fo erfcheint ihm der Schulmeifter.

Iſt auf fo einen ein Verlag? Kann es dem nicht einfallen, daß er heute die Frage mit Nein beantwortet, für die er geftern ein Ia hatte? Bei einem Mann, der einmal feinen Brauch mehr achtet, bei dem find die Knochen von Kautſchuk, da ift nichts Feſtes.

Nein, fo einen fragt der Johann nicht. Das hieße nur, den Mann beftärfen in feinem Hochmut und Lebermut. Der meint ja vorher fchon, in Obermweiler habe man nur auf ihn gewartet, daß er feine Weisheit aus- frame und den Bauern fage, wo Bartel den Moft Holt.

Mit forgenvollem Geficht figt der Rufterer am Galgenmwafen auf dem Eichenftumpf. Er würde höchft wahrfcheinlich nie erfahren, wie e8 der liebe Herrgott bei der Auferftehung hält mit denen, die im Meer von ben Fifchen gefreffen, oder am Land von den wilden Tieren zerriffen worden find. Dder warum der Mond nicht wie die Sonne immer gleich groß und gleich hell ift, oder warum die drei Sterne einmal über des Margretle8 Scheune und einmal hinter dem Kirchturm ftehen, und was dergleichen fonderbare Dinge mehr find.

Ganz drüben über dem Galgenwafen, der wie ein in hohen, grünen Wellen erftarrted Meer fich nach dem Walde dehnt, zieht auf der Land- ftraße eine Schafherde dahin.

Der Bauer mit feinen wäſſerigen, fernfichtigen Augen kann deutlich die einzelnen gelbgrauen, breiten, mwolligen Rüden, die unruhig wogend auf- und niedergehen, unterfcheiden.

Er fieht auch den Mann, der im alten, doppelten Rragenmantel, den

Eliddeutfche Monatshefte. 11,7, 2

18 A. Supper: Johann Kufterer auf Abwegen.

fhwarzen, ſchweren Perfianerpelz am Hals, den Schlapphut in der GStirne, die Schippe in der Hand, mit wiegenden, weiten Schritten inmitten der Herde geht.

Sa, fogar den Hund kann er unterfcheiden, der eifrig rundum läuft, die Vorhut zurüdhält und Nachzügler zur Eile mahnt. In Johann Rufterers Geficht kommt eine Unruhe, als fei ein Gedanke darüber hingefahren. Solch ein ungerufener und ungebetener Gedanke, den man lieber nicht hätte, und der fich doch auch nicht abmweifen Täßt.

Wie wär’s, Iohann, wenn du den Mann bei der Herde dort, den Stafele einmal fragen würdeſt über das und das?

Der Bauer fchüttelte den Kopf, daß die Quafte der ſchwarzen Zipfel- mütze ihm ans Ohr fchlägt.

Den Schäfer! was ift denn ein Schäfer? Ein Tag- dieb, wenn man 's recht fagen wil. Man bringt ihm die Schafe und verfieht fich zu ihm, daß er fie mweide und leite, daß die Mutterfchafe alle werfen, daß die Hämmel fett werden, und daß die Wolle auf den breiten Rüden dicht und fein und reichlich ausfalle; aber fonft befieht man den Schäfer weiter nicht.

Und der Stafele, der ift nicht nur ein Tagdieb, der gilt für einen Himmelfatfermenter! Gewiß weiß niemand, ob er wirflich einer ift. ber er gilt dafür. Und das ift gerade bei dieſem Metier die Hauptfache.

Es weiß auch niemand, was ein Himmelfakfermenter eigentlich ift. Uber daß es folche Kerle gibt, das weiß man. Und das ift wieder die Hauptfache.

Und zu allem Leberfluß ift ber Stafele auch noch Fatholifh. Ein fatholifcher Himmelſakkermenter. Das ift ein Superlativ, wie wenn man den Teufel mit Tinte fprigte.

Anaſtaſius Weireter heißt der Schäfer. Das genügt.

Iſt da mitten ins gut proteftantifche Umland hineingefprengt ein Feines, armes Dorf, an deffen äußerften Markungsflanfen die fteinernen Rruzifire fteben wie ftille, fremde Grenzwächter. Die evangelifchen Bauern, die dort in der Nähe hinterm Pfluge geben, bliden fcheu auf die Bildfäulen.

Keinen Zentimeter zu weit fommt der Pflugfterz binüber gegen das Land, das ber ftarre, fteinerne Mann mit den verzerrten Zügen bewacht.

Die evangelifchen Kinder, die am Waldfaum Hafelnüffe holen, deuten mit ausgeſtreckten Fingern und bangen Gefichtern auf den hängenden Heiland, dem das DBlut unter der Dornenkrone bervorficert und die Marter im grauen, fteinernen Geficht zu lefen ftebt.

„Siehft des fatholifch Herrgottle?"

Ja fie fehen’s, und fie fürchten fih. Um feinen Preis der Welt würde eines von ihnen allein bei Nacht da vorübergehen. Unheimlich ift ber fatholifche Herrgott! Gie find froh, daß fie einen andern, einen eigenen haben.

Und durchs Dörflein Unterweiler, in dem von mancher Hausede ein buntes Marienbild grüßt, fchreiten die Leute von Oberweiler nur, wenn es fein muß. Und dann rafcher als fonft ihr Brauch ift, und ohne nach- barlihen Zuruf nach den Kleinen Fenftern hinauf.

A. Supper: Johann Kuſterer auf Abwegen. 19

Händel und Streit gibt's nicht auf der Höhe. Wegen dem Glauben fhon gar nicht! Behüt mich Gott! Uber wenn einem Bauern von Unter- weiler die magere Kuh das ſchwere Güllenfaß nicht ziehen mwill, fo fchreit er zur Aufmunterung: „Hü— oh, du lutherifcher Sieh!" Und wenn einem von Dberweiler etwas frumm geht, dann fährt er auf: „s Donnerwetter fol ’neifchlage, des ifcht g’rad zum Katholiſchwerde.“

Hell und rafch mit feltfam fchetterndem Klang ruft die Glode von Unterweiler über die Höhe. Gie läutet Fatholifch.

Die Hunde bellen, die Kühe brüllen, die Hähne krähen in Ulnter- weiler katholiſch.

Bloß fterben müfjen die Unterweilemer wie die Oberweilemer. Darin find fie gleih. Und in der Armut auch. Und fonft noch vielleicht in ein paar Sachen, die einer vom andern nicht fo genau wiſſen kann.

Und die zwei Pfarrer, ja die find auch faft gleih. Ein Klein wenig länger ift dem Fatholifchen fein Rod. Uber gerade fo ſchwarz.

Und die Herren fünnen einander auch leiden, fo viel man fieht. Sie ftehen oft beieinander auf dem einftigen Hochmoor, zeigen fi) Gras und Kräuter und fehen den Fröfchen zu.

Der Gemeindepfleger von Obermeiler, der Schwager von dem Schreiner, der immer den Badtrog ftatt der Wiege und umgekehrt macht, der wärmt dann einen alten Wis auf, den er aus feiner Soldatenzeit herübergerettet hat.

„Ihr müeßet wife Leut,“ fagt er, „unter de Fröfch gibt's Fatholifche, die fchreiet „„Popft, Pobſt““ und evangelifche, die fchreiet „„Luther, Luther““. Dann lachen die von Obermeiler und fagen zum Gemeinde- pfleger: „Schorfh, du bift e Hauptfpisbue.” Uber im ftillen find fie nicht fo recht ficher, ob nicht die beiden geiftlichen Herren auch diefen Unter- fhied machen zwifchen den Frbſchen dort draußen.

Das alles und noch viel mehr dazu geht dem Sohann KRufterer durch den Kopf, als er den Stafele mit feiner Herde am Wald drüben ziehen fieht.

Müd vom vielen Denken, wie nur je früher vom KRartoffelgraben, geht er beim, ißt, was die Söhnerin ihm hinftellt, legt fich in feine Kammer und will fchlafen.

Uber es geht nicht fo fchnell.

„Johann,“ murmelt er vor fich hin, „wenn du z’viel finniert Hoft, ift 's grad, wie wenn du z’viel Grumbire ') geſſe hätteft. ’8 treibt de’ rum!“

Ja, e8 trieb ihn herum. DBefonders der lodende Gedanke mit dem

Stafele. Der wollte nicht wanken und nicht weichen.

Hinter des Gemeindepfleger8 Hanfader, wo die Steinriegel freuz und quer über kümmerliches Land gehen, und der wilde Thymian beſſer wächſt ald der Klee, der angefät ift, weidet der Stafele feine Herde an einem fpäten Apriltag.

Die Mutterfchafe haben erft geworfen. Das tiefe, zitternde ‚Mäh‘ der Alten unterbricht dann und wann die unaufhörlichen, gellenden Laute der Jungen.

Y) Grundbirnen, Kartoffeln.

20 A. Supper: Zohann KAufterer auf Abwegen.

Hart drängen fich die fehneeigen Lämmer an die Mütter, die noch den dichten, ſchmutzigen Winterpelz tragen. Sie beugen die dünnen Vorderbeine, fuchen die vollen Euter und wadeln in freudiger Gier mit den Schwänzchen, fobald fie die koſtbare Quelle gefunden. Dann ftehen die Alten. Das fauende Maul voll Gras und Kräuter fehauen fie wunfchlos, blöd mit den runden, dummen, glafigen Augen um fich.

Das hat faft etwas Aufreizendes an fih. Das Aufreizende, das alle Schafsgebuld hat.

Der GStafele fteht an eine einfame, windfchiefe Kiefer gelehnt, die Schippe zwifchen den Rnieen, die Pfeife im Mund, den alten, vom Wetter hart mitgenommenen KRragenmantel mit dem meffingenen Verfchlußfettchen um fich geworfen.

Neben ihm figt Phylar, der Schafhund, der ein Wolfshund ift, hat das eine Ohr nad) vorne, das andere nach hinten gelegt, fo wie nur diefe Hunde es können, denen die Pflicht in Blut und Muskeln liegt, und hängt die Zunge ein Hein wenig aus der fpigen Schnauze.

Dann richtet er fich plöglich auf, legt beide Ohren nach vorne und zieht die Zunge ein. „Wer da?“ heißt das.

Der Schäfer ſchaut auf.

„Phylax, do rrrrreil” fchreit er ganz gemohnheitdmäßig, wie aus einem Heinen Halbfchlaf heraus, mit heißerer KRehlftimme.

Der Hund blickt helläugig, vielleicht etwas beluftigt, etwas fpöttifch an feinem Herrn empor. „Du haft geträumt, Alter,“ heißt diefer Hundeblid.

Der alte Rufterer fommt vom Wald herüber. Langfam, faft etwas gemacht langfam, fchreitet er daher, den Stod in der Rechten, das runde, grünlich gewordene Hütlein über die Zipfelmüse geftülpt, fo daß die Quaſte unten bervorbaumelt.

Der Stafele rührt fich nicht. Nur die Pfeife nimmt er aus dem Mund und ſpuckt aus. Der Bauer, der da kommt, bat ſchon lange feine Schafe mehr bei der Herde.

„Grüeß Gott, Stafele, fo do huſſe bift du?“ fragt der Johann. „Io,“ * der Schäfer gleichgültig zurück, „d'r G'meindepfleger hot de Pferch kauft.“

‚Mäh‘, rufen im Baß die Schafe und ‚mäh' im Diskant die Lämmer. Der warme, fühnige Wind fommt über den Wald daher, fährt dem Phylar in die zoftigen Haare, dem Stafele in den weiten Mantel und dem Johann in die Quafte der Zipfelmüge.

Die Rechte auf den derben Stocd geftügt, die Linke auf den gefrümmten Rüden gelegt, als fchmerze es bort, fo fteht der Bauer jest neben dem Schäfer und atmet ſchwer und hörbar.

Der Stafele ſchaut mit erwachtem Bli dem Wind entgegen. Plöß- lich deutet er mit der Rechten, die die Pfeife hält, über die Höhe hin in die (Ferne, wo weißlicher Dunft liegt und fagt: „Des Lüftle fommt weit ber, Kuſterer. Des bot ’3 Meer g’fehe und heiße Länder.“

Johann entgegnet nicht fogleich. Langfam dreht er fich rundum und fucht fih ein Plägchen zum Niederfigen.

Zwiſchen Brombeergeranfe liegt ein großer, glatter Feldftein. Darauf

A. Supper: Johann Aufterer auf Abwegen. 21

läßt er fich nieder; ächzend und mit fteifen Knieen, den Stod nimmt er zwifchen die Füße und fchaut die Herde an.

„Se hänt bald Jung’ g’macht heuer,” fagt er und winkt mit dem Kinn voll grauer Stoppeln nach den Tieren.

Der Schäfer gibt feine Antwort. In den Thymianblüten fummen die Heinen, dunflen Waldbienen, ein graugrünes Eidechslein fchiebt fich zwifchen den graugrünen Steinen durch, und der Phylar fcharrt mit den Hinterläufen bald rechts bald links in feinem zoftigen Fell.

„Stafele,“ fagt der Bauer jegt und fchaut dabei angelegentlich auf den Hund, „woher weißt du fo Sache?“

„Was für Sache?“

„Da des mit 'm Wend?“

Der Schäfer lacht auf, ganz knapp, nur fo viel, als zwiſchen den Lippen neben dem Mundftüd der Pfeife hervorkann.

„J kenn mi halt aus,“ fagt er.

Johann fehüttelt den Kopf. Langfam, mißbilligend murmelt er: „Der Wind bläfet, wo er will und du höreft fein Saufen wohl; aber bu weißt nicht, von wannen er fommt, und wohin er fähret, Evangelium Johannis im dritten.”

Stafele Eopft feine leergerauchte Pfeife aus, ſteckt fie unter den Mantel und fagt fein Wort.

Mit dummen, glogenden Augen fehen die Schafe zu den beiden Männern berüber.

Der Schäfer nimmt mit der Schippe ein fleined Steinen auf und fchleudert es gleichgültig und ohne Schwung hinüber.

Dann tut er ein paar große Schritte zu Johann hin und fest fich in die Brombeeren. Seinem Mantel kann das ftachelige Geranke nichts anhaben.

„Hot mer bei euch d’ Grumbire ſcho nei do?“ fragt jegt mit ver- änderter Stimme ber Bauer.

„Ra ’8 net ſage; um db’ Grumbire kümmer i mi nir,“ gibt der Stafele zurüd.

„Sell wär“, fagt Iohann und ſchaut raſch, erftaunt auf den Schäfer. Dann bohrt er mit feinem Stod Löcher in die fandige Erde.

„Du boft’8 guet g’hät dei Lebtag, Schäfer, wenn du di net e mol um d’ Grumbire hoft fümmere müeße.“

Der Stafele zucdt die Achfeln. „D’r Ei’ Fümmert fi) um des, d’r Ander um fell d’ Grumbira fend no lang net 's Aergſt,“ fagt er ab- weifend und fchaut über feine Herde hin.

Johann finke ſtill in fich zufammen. Die Schafe fehreien. Der Hund läuft am Saum von des Gemeindepflegerd Hanfacker hinunter. „Do rrrrreil“ fchreit rollend der Schäfer.

Den Schwanz zwifchen die Hinterbeine geflemmt kehrt der Erfchredkte zurüd und duckt fich neben feinem Herrn auf den Boden. Zögernd, fcheu beginnt der Bauer jest: „Stafele, wenn du fo de ganze Tag bei beine Schof bift, und vo de Grumbire und dem Sach nir wiſſe wit, mueßft du no au älleweil d’ran romdenke, —“ er ſtockte und fieht vor fich Hin.

22 A. Supper: Zohann Kufterer auf Abwegen.

„An was romdenke?“ fällt nach einer Weile der Schäfer ein. „Da wie jegt am Wend, oder am Mo’'), oder au am Sterbe?“ Rafcher hat gegen den Schluß der Johann gefprochen, fo wie man fpricht, wenn man fih etwas mit jähem Entſchluß von der Geele redet.

Der Schäfer zieht die weißgrauen, bufchigen Augenbrauen zufammen. Der ftruppige Bart am Kinn bewegt ſich einmal auf und ab, dann läßt ſich ein Murmeln hören: „J fag gar nix, i fag no fo viel wenn d' Leut oft wifle tätet. —“

Die alte Kiefer feitwärtd von den Männern ächzt jegt leife im Wind, die Herde blöcdt unruhiger und von Anterweiler herüber fommt dünn und fohetternd der Klang des Fatholifchen Glöckleins.

Dem Kufterer fällt ein, daß der Mann an feiner Seite ein Himmel- faffermenter ift. Der ganze Hauch voll fremder Unheimlichkeit, wie er von den fteinernen Rruzifiren an der Marfung von Unterweiler ausgeht, um- wittert plöglich den Mann mit der Schippe.

Aber es ift fein eigentliches Unbehagen, was bei dem Bauern über folhe Nachbarfchaft aufkommt. Es ift eher ein Gefühl der Befriedigung, endlich vor die rechte Schmiede geraten zu fein.

„Belt Stafele,“ fagt er leife, „'s treibt ein halt rom, bis mer ein, mit de Füeß voraus, außeträcht.“

Der Schäfer fieht in die Ferne. Etwas Herbes, ja DVerächtliches liegt auf feinem metterharten Geficht.

„Was wiffet denn ihr Baura,“ murmelte er geringfchägig. Der Kufterer recht fih auf. Wenn er auch jest ausgefchirrt ift wie ein ab- getriebened Pferd, das Golidaritätsgefühl mit denen, die noch in den Sielen gehen, vegt fich mächtig in ihm. Er meint, er müſſe fie alle, die hinter Pflug und Egge fchreiten, verteidigen gegen die verächtlichen Worte dieſes Mannes, der doch nur ein Schäfer ift, ein Tagdieb.

ber dann finft er rafch wieder zufammen.

„Was weißt denn du, Stafele?“ fragt er faft lauernd und doch mit einer erziwungenen Gleichgültigkeit, als dürfe der andere nicht merken, wie viel einem Bauern am Willen eines Schäfers liege.

„Was wurr i wiffe? Nir für euch!“

Dem Johann merft man fein Gekränftfein an. Kein Begehrender darf empfindlich fein. Den Stock zwifchen den Knieen ſchaut er mit wäflerigen Augen ind Weite.

„Stafele, daß mer au fterbe mueß! Und fpäter wurb mer wieder lebendig und kriegt wieber fein eigene Leib. Worum fa mer ’n do net glei b'halte?

In des Schäfers Geſicht, in ſeinen ſcharfen Augen arbeitet etwas. Es iſt kein Spott. Noch weniger eine Schelmerei. Es iſt eine innere Unruhe, die nicht heraus ſoll, die man nicht merken ſoll. Ruhig, fertig will der Schäfer ſein in ſolchen Dingen. Darin iſt er den Bauern voraus.

„elle ſterbet net” ſagt er faſt ſcheu; aber doch beſtimmt. „Sell mär’!“ ruft leife der Johann, und er ſchaut betroffen empor.

ı) Mond.

A. Supper: Johann Kuſterer auf Abwegen. 23

Aber da iſt's, ald habe den Stafele fchon gereut, was er fagte. „Pbylar,“ ruft er heifer, „Lumpetier, gud nad) dem Böckle“. Der Phylar läuft nach dem Böckchen, das aus ber Herbe gebrochen ift, der Schäfer ſcharrt mit der Schippe im Geröll, und der Kufterer fchüttelt wieder und wieder den Kopf.

„Woher mwi’t du des wiſſe, Stafele?“

„3 weiß halt. 3 weiß ällerlei, was ihr 'z Oberweiler net wiflet.“

Der Bauer fährt mit der runzeligen Hand liber das fpige Knie, das in der Lederhofe ſteckt. Etwas Hilflofes liegt in diefer Bewegung, etwas Mervöfes, würde man fagen, wenn die Bauern von dort oben Nerven hätten.

Dann fchaut er plöglich den Schäfer an, fo ſcharf es die mwäflerigen Augen vermögen und fagt ruhig: „Das Willen bläfet auf, aber die Liebe beflert; erften Korinther im achten.“ ine lange, ftille Paufe entfteht.

Dann zittert des Schäfers ftruppiger Bart. Ein ficherndes, kurzes Lachen kommt aus dem Mund mit den tabakbraunen Lippen: „Wirft fromm, Johann, auf deine alte Täg?“

„Halt dei Maul,“ fährt zornig der Bauer auf, „was wurr i denn fromm werde!”

„Da weil d’ fo mit de Bibelfprüch umananderfchmeißft!”

„Do derwege') braucht mer net fromm 3’ fei,“ murrt der Alte.

Der Wind geht über die Höhe. Leber des Gemeindepflegers Hanf- ader ber ftreicht ein einzelner Rabe dem Wald zu.

„Der fächt mer äls fo Sache,“ murmelt der Schäfer und deutet mit der braunen Hand nach dem Vogel, deffen blaufchwarzes Gefieder in der Sonne ſchimmert.

Johann wundert fich nicht, gibt feine Antwort. Gin wenig dumpf, ein wenig betäubt ift ihm im Kopf. Immer macht ihm ein Uebermaß von Sinnieren unbehaglich, wie ein Uebermaß von „Grumbire”.

„Stafele,” jagt er nach langer Zeit und aus irgend einem innerlichen Zufammenhang heraus, „was glaubet denn die Katholiſche?“

Der Schäfer bleibt erft ganz ruhig. Dann ftrecit er die Beine weit von fich, Hopft mit der Schippe an die ungemwichften Stiefelröhren und ant- wortet: „Daß zwei Pfund Rindfleifch e guete Brüh gebet.”

Johann fchüttelt mißbilligend den Kopf. „Treibft Schindluder mit mer,“ fagt er faft traurig.

Der Schäfer greift jest unter den Mantel und holt die faum erfaltete Pfeife wieder hervor. Aus einem ledernen Ziehbeutel beginnt er fie zu ftopfen. Dazu fchlägt er den Mantelfragen fo ungeftüm zurüd, daß die grauen Zipfel dem Johann übers Geficht ftreifen und ihm das Hütlein zur Seite rüden.

„No ftät,” murmelt der Bauer und fchiebt es wieder gerade.

„Was braucht denn du des z'wiſſet,“ fagt der Schäfer jest faft leidenfchaftlih, und er ftopft und ftopft, als müſſe der Pfeifenkopf zer- fpringen. „Glaub du dei’ Sach’ und laß die andere ihr Sach’ glaube.

’) Deshalb.

24 A. Supper: Johann Kuſterer auf Abwegen.

's ift jo, Gott Lob, net nötig, daß mer de Glaube mit’nander hot, wie d’ Bube d’ DVogelnefter. Hot jeder fein Kopf für fich, no kann er au fein Glaube für fih hHaul Wenn's der Herrgott anderft wö't, no hätt’ er folle ein Ropf made für älle.“

Das von Luft und Wetter gebräunte und zernagte Schäfersgeficht mit der großen, fchmalen Nafe, den bufchigen, halbergrauten Brauen, dem verwilderten Bart, und ber hoben, unter dem im Eifer zurüctgefchobenen Hut, in zwei Buchten auf den Schädel hinauf verlaufenden GStirne, trägt ben Ausdrucd hoher, feltfamer Erregung, die grell abfticht gegen des Bauern gelaffenen, etwas fchläferigen Wiffensdrang.

„Di derf mer fcheint’3 net noch em Glaube froge,” fagt nach langer Zeit der Johann, der fich des Schäfer rafche und fcharfe Rede erft im Kopf zurechtlegen muß.

Mit kurzen, paffenden Zügen fest der Stafele feine Pfeife in Brand. Der füßliche, ftarfe Geruch des billigen Tabaks umfchwebt wie eine Wolte die zwei Alten.

Wie weggeblafen ift des Schäfers Erregung. Mit den gelben Zähnen hält er das Mundftücd der Pfeife feft und fagt unter zerdrücktem Lachen: „Sp fend halt d' Baure: wege 'm Glaube froget fe mi, und wege de Schof de Pfarrer. No emmer überzwerch! Sag i aber no ebbes über de Glaube, no ift mei Sach nir, no brenget fe Bibelfprüch daher und wiſſet älles beffer. Sächt der Pfarrer ebbes über d' Schof, no ift dem ſei Sach au nix no wiſſet fe au älles beffer. J fag no, daß fo a g’fcheiter Bauer fo an birnmwüetige Schäfer wie mi no froge mag!“

Der Gefcholtene fit ganz zufammengefunfen, ganz Heinlaut auf feinem Stein. Er tut feine Widerrede, erhebt feinen Einſpruch. Es ift, ala fähe er felbft ein, daß viel Wahres in den Worten des Schäfers liegt.

Immerzu fährt die runzelige Hand über das fpige Knie in der Lebder- hoſe, und die wäſſerigen Augen fehen verlorenen, unbewußten Blicks über die Herde hin.

Mäh,‘ fchreien die Mutterfchafe im Baß, und ‚Mäh‘ die Lämmer im Diskant.

Auf einmal geht über des Kuſterers Geficht wieder die Unruhe, wie von einem ungerufenen, arbeitenden Gedanten.

„Stafele,” fagt er ganz fanft, ganz jchüchtern, „vielleicht iſt's bei de Leut mit 'm Glaube, wie bei de Schof mit 'm Schreiel So lang mer jung ift, glaubt mer fo, und wenn mer alt wurd, glaubt mer fo. J mei, i ka 's fcho fo, wie der alt Hammel felt dromme') bei dem GSteiriegel.”

Ein fchattenhaftes Lächeln geht über das faltige Geficht, das fich, Zuftimmung fuchend, dem Schäfer zumendet.

Der Stafele zieht und zieht an feiner Pfeife. Er muß fie allzufeft geftopft haben.

„Ra’ft recht han, Johann,“ fagt er dann und holt fein Meffer ber- vor, den Tabak zu lodern. Umftändlich beforgt er das Gefhäft. Dann läßt er plöglich die Pfeife aufs Knie finten. „Und worom ift des Schreie

1) Dort drüben.

A. Supper: Zohann Kufterer auf Abwegen. 25

und des Glaube?” fragt er, die fcharfen Augen dem warmen Wind entgegen gerichtet, „die eine friert’8, die andere hänt's Grimme), die eine fendet nir z’freflet, die andere möchtet heim. Go iſt's!“

Der Bauer nicht mit dem Kopf, langfam, fchwerfällig, ohne Freudig- keit. „So iſt's!“ |

Mit einem Aechzen fteht jest der Schäfer auf von feinem dornigen Sig. Alle Glieder fchmerzen ihn. Er reckt die Arme, die Beine und rückt fih den Mantel zurecht.

„J treib jegt weiter, Kufterer, gobft mit? Phylar nnaug!“

Und der Rufterer geht mit. Langfam, auf feinen Stod geftügt fchreitet er neben dem Schäfer her, die ausgefahrenen Wege entlang. Wie hell- grünes Schleiergeiwoge liegt's über des Schulzen Roggenädern zur Rechten.

In die dummen Augen der breitrüdigen Schafe und Hämmel fommt Leben und Bemwußtfein. Das ift die Gier nach den zarten Halmen, die dieſes Wunder wirft.

Aber der Phylar hat Feine Würdigung für folhe Wunder. Er fennt feine Pflicht und damit fertig.

Wiegend, würbdevoll, ein Herr unter den Geinen, geht der Schäfer, die Schippe unterm Arm mit weiten Schritten vor der ftillgemordenen Herbe.

Der Geruch feines Tabaks liegt hinter ihm auf dem Weg, bis der Wind, derfelbe, der das Meer und die heißen Länder gejehen hat, ihn mitnimmt.

Hart vor einem der Kruzifixe auf Unterweilemer Markung gebt der Weg vorüber.

Der Schäfer fteht, nimmt ftumm den alten Hut vom Kopf und macht Das Zeichen des Kreuzes.

Hinter ihm und um ihn drängen die Schafe und fchauen glogenden Blides hinauf zum Bilde des Gemarterten.

Die glafigen, dummen Augen leben nicht auf, wie vorhin bei den grünen Halmen. Und doch war ber, der ba hängt, ein guter Hirte und fein Mietling.

Der Phylar fteht, fo lang fein Herr fteht. Er kennt feine Pflicht und damit fertig.

Johann Kuſterer fieht mit den wäfjerigen Augen am Fatholifchen Herrgottle hinauf. Ein wenig feheu, ein wenig fremd, ein wenig mißtrauifch.

Auch er nimmt fein grünliches Hütlein ab. Schaden wird's nichts. Der Schäfer murmelt etwas. Jeſus Chriftus kommt drin vor. Da wirft der Sohann hin: „Stafele, wirft fromm auf deine alte Täg?“ Er will dem Schäfer nicht gern etwas fchuldig bleiben.

„Halt doch dei Maul,“ fagt ärgerlich im Weiterfchreiten der Schäfer, „was wurr i denn fromm werde.“

Am Galgenwafen vorüber geht’8 der Dede zu, wo bes Gtafeles Karren fteht.

Der Abend finkt, ald der Johann heimmärts geht.

Der Wind ift ftill geworden, und die Fleinen, dunklen Bienen fummen nicht mehr im Thymian.

Nur ein einfamer Rabe ftreicht vom Wald herüber dem Schäferkarren zu.

1) Leibweh.

26 U. Supper: Johann Kuſterer auf Abmwegen.

„Wo fend ’r denn de ganze Nochmittag g'ſteckt, Aehne?“ fragt die Anne-M’rei, als fie dem Alten die Abendmilch binftellt. „Salt a wenig außeg’laufe,” jagt er fo obenhin.

Uber gegen den Herbit hin fommt e8 doch heraus, daß der Aehne den ganzen Sommer über faft jeden fchönen Tag beim Schäfer ftedte.

Beim Stafele, bei dem fatholifchen Himmelſakkermenter.

„Er hot halt kei' Uerbet, no kommt ’r uf fo Dengs,“ fagt Michel Rufterer, der Sohn.

„Wer mit den Weifen umgehet, der wird weiſe; wer aber der Narren Gefelle ift, der wird Unglück haben. Sprüche Salomonis im breizehnten,“ fagt Gottlieb, des alt Schulen Sohn, der mit dem lieben Gott fo gut fteht, und: „Sirach im dreiunddreißigften: Müßiggang lehret viel Böſes.“

Der Johann lacht dazu und denkt: „Wenn d’ Leut wife tätet —“ Er ift jest über viele im Reinen.

Und Sachen find darunter, die ber Pfarrer auch nicht beffer wiflen fann. Und gar erft der Schulmeifter.

Dem ift der Johann überhaupt hinter die Schliche gefommen. Der hält Reden über Thomasmehl und Kainit, und mittlerweile ſchickt er feine vier Buben hinaus, daß fie mit einem DBlecheimer hinterher gehen, wenn der Stafele austreibt.

Laflen etwa die Schafe KRainit und Thomasmehl fallen? Uber fo- find die Herren! Die Weisheit haben fie mit Löffeln gefreffen, und das Befte holen fie dann doch beim GStafele.

Winternacht. Bon Wilhelm Zaif in Heidelberg.

Liegft wohl auch du fchlaflos in diefer Naht? Vom Himmel fiel e8 weiß und dicht und facht,

bat Dorf und Höhn, und Weg und Steg verfchneit, und fehimmernd Schneefeld breitet nun ftill und weit; doch hab ich Stund um Stund an dich gedacht.

Und Stund um Stund hab ich an dich gedacht. Ein Stern ber aufgeflirrt ertranf im Duft;

die helle Ferne lofch in der grauen Luft;

nur Reifwald fteht in wunderbarer Pracht.

So einfam lieg ich ſchlaflos diefe Nacht.

LEREEREER

Hannifels legte Lebenstage.

Mitgeteilt von Eduard Eggert in Reichenau (Baden).

Am 17. Zuli 1787 bat in Sulz a. N. der öffentliche Schlußakt eines Niefen- prozeffes ftattgefunden, auf deffen Ende „nach dem Ausspruch vieler Fremden faft gan Europa fehr begierig gewefen”. Der unter dem Namen Hannikel in ganz

eutfchland und der Schweiz berüchtigt und gefürchtet gewefene Räuberhauptmann Satob Reinhard und drei weitere Mitglieder feiner Bande erlitten durch die Hand des Henkers den Tod der menfchlichen Gerechtigkeit. In dem Lebensbild des Ober: amtmanns Schäffer von Sulz!) hat diefer denftwürdige Prozeß eine aktenmäßige Darftellung gefunden. Zur Bervolljtändigung des auch rechts: und fittengefchichtlich intereffanten Zeitbildes möchte die nachftehende Veröffentlichung eines bei dem umfangreichen Aktenmaterial befindlichen Berichtes nicht unwillkommen fein, der in anziehender Weife die drei letzten Lebenstage Hannikels und feine Belehrungs- gefchichte erzählt, die auch der Theologe wie der Kriminalift von heute mit Nuten lefen. Sie ift auch lehrreich für alle diejenigen, welche alles Heil für die Bekämpfung des DVerbrechertums von der Verhängung eremplarifcher Strafen ertvarten, weil ihre Blicke an der äußeren, oft grauenhaften Erfcheinung der verbrecherifchen Tat haften bleibend, über die tiefer liegenden Urfachen mit blindem Zorneifer binweg- feben und in den Tiefen der Menfchenfeele und des Gefellfchaftslebens die ver- dächtig fidernden Quellen nicht hören, darin die finftern Mächte wohnen, welche jene Armen ſchuldig werden laffen.

Die Relation ift von dem katholifhen Pfarrer Anton Reininger aus Efpa- fingen (einem zur Bodmannfchen Herrſchaft am Bodenfee gehörigen Drte) ent- worfen, welcher durch befondere Entfchließung des Herzogs Karl berufen worden war, dem Hannikel in den legten drei Tagen vor feiner Hinrichtung feelforgerlichen Beiftand zu leiften. Der ethifche Pathos des edlen menfchenfreundlichen Priefters und feine Toleranz, die ihm die fchönfte Blüte wahren Chriftentums ift, verleihen dem Dokument einen höheren Wert und weihen es zu einem ehrenden Denkmal feines Verfaſſers. Der Bericht, den ich bei den Studien zu meinem Buch ge- funden babe und hiermit der Deffentlichleit übergebe, hat folgenden Wortlaut:

Die Urteile über Hannifeld Lebensende, feine Belehrung zu einem wahren Sittengefühl und den Zuftand feines Herzens zu der Zeit, ald man ihn den großen Schritt in die Ewigkeit zu machen zwang, konnten bei einer fo ungeheuren Unzahl von Menfchen, die ihn zur NRichtftatt begleiteten,

) Oberamtmann Schäffer von Sulz. Ein Seit- und Lebensbilb von Eduarb Eggert. Württembergifche Neujahrsblätter. Stuttgart 1897. Verlag Gunbert.

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nicht anders als verfchieden fein. Was einige Standhaftigkeit, Reue und Unerfchrodenheit nannten, hieß bei anderen Roheit, Heuchelei und Wild- beit und fo wie feine Geele der eine Teil hoch in den Himmel erhebte, fo beurteilte ihn der andere in die tiefite Hölle. Wer die Menfchen nur ein wenig fennt, weiß den Grund biefer Urteile fogleich anzugeben. Dem ſei aber wie ihm wolle: Hannikel ift nun ſchon vor dem Richterftuhle des All- wiffenden geftanden und dort allein ift das eigentliche und wahre Urteil fo über ihn gefället worden, daß alle Urteile der Menfchen nun ganz unbe- deutend find. Aus diefem Grunde würde ich auch über Hanniteld DVor- bereitung zum Tode niemald etwas gejagt oder gefchrieben haben, wenn ich nicht vermutete, es möchte dem Durchlauchtigften Fürften, der felbft des fo großen Böfewichts Todesurteil mit fo vieler Aengftlichkeit unterzeichnete, weil er nämlich die Menfchen liebt, zu einiger Beruhigung dienen, wenn Höchftderfelbe von eben dem, der Hannikel am genaueften kennen lernte, erfährt, daß Hannikel die Gerechtigkeit des über ihn gefällten Urteild ganz einfah und chriftlich ftarb.

Ehe ich die Sache umftändlicher entwicle, muß ich zuerft die Art und Weife auffchließen, auf welche ich mit Hannikeln befannt wurde. Ich hatte nämlich im verfloffenen April-Monate eine Reife über Sulz gemacht, wo ich mit Erlaubnis des Herrn Oberamtmann Schäffer Hannikel in feiner Ge- fangenfhaft befuchte. Einige Troftgründe, die ich ihm damals beibrachte, wirkten in dem Maße auf feine verwilderte Seele und zogen mir fein Zu- trauen fo fehr zu, daß er von der Zeit an Herrn Schäffer immer bittlich anlag, er möchte ihm doch im Falle, daß er fterben müßte, den Geiftlichen fommen laffen, der zu der und der Zeit bei ihm war. Herr Schäffer, der die feltene Kunſt befigt, mit der ftrengften Gerechtigkeit die werktätigfte Menfchenliebe zu verbinden, ermangelte nicht, diefer Bitte feines Arreftanten, die fo mancher andere Beamte geradezu würbe abgefchlagen haben, Gr. Herzoglichen Durchlaucht ſowohl als den hohen Ständen des Landes vorzu- tragen, von welchen höchſt und hohen Orten dann auch die in der Gefchichte der chriftlichen Toleranz ewig unvergeßliche Entfchließung erfolgte, dem Hannikel nicht nur einen Geiftlichen feiner Religion die 3 legten Tage zuzugeben, fondern auch mich anzugehen, daß ich diefes Gefchäft übernehmen möchte. So traurig e8 immer ift, mit einem GSchlachtopfer der unmenjch- lichften Handlungen 3 Tage binzubringen, fo unterzog ich mich diefem gnä- digften Rufe doch um fo lieber, als ich die freudigfte Zuverficht hatte, daß der Gott, der alles leitet, auch meine Bemühungen fegnen werde. Go fam ich alfo den 12. Juli in Sulz an, wo den 14. darauf Hannifel der Tod angekündigt ward. Ich war bei diefem Akt nicht felbft gegenwärtig, ermahnte aber den Herrn Magifter Wittich von Wittershaufen, einen fehr würdigen und ebeldenfenden evangelifchen Geiftlichen, der Hannikels Biograph war, der Todesanfündigung beizumohnen, weil ich glaubte, der Pfycholog würde bei einer folchen Handlung und bei einem folhen Menfchen weit richtigere Bemerkungen machen können, als ein Lavaterianer mit einer noch fo er- hitzten Einbildungsfraft nicht zumege bringen wird. Sobald Hannifel das Leben abgefprochen und er aus feiner bisherigen Gefangenfchaft auf das Rathaus geführt worden, trat ich unverzüglich zu ihm ein. Er erfannte

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mich fogleich und bezeugte einige Freude über meine Gegenwart. Allein ed gab bald fürchterlihe Auftritte. Man ftelle fi einen von Natur rüftigen, gefunden, durch tauſend Arten von Fatiken abgehärteten, in allen Gattungen böfer Handlungen geübten, von Jugend auf durch fchlimme Beifpiele und Aufmunterungen verführten, durch eigene unzählige Lafter- taten verblendeten, von ben fcheinbarften Trugfchlüffen einer angemaßten Gerechtigkeit und Unfchuld ganz eingenommenen, in allem, was die Religion zu glauben oder zu tun lehrt, unwiſſenden, höchſt empfindfamen und alles in feiner ganzen Kraft umfafjfenden Menfchen vor, fo hat man Hannikels pbufifalifches und moralifches Bild vor fich, ehe man ihm das Todesurteil anfündigt, und wenn man diefem den höchften Grad von Wut, Raferei und Verzweiflung beifeget, jo fieht man ihn, wie ich ihn mehrere Stunden lang fah, nachdem er zum Tode verurteilt war. „Was“, fprach er, und rafjelte fürchterlich mit feinen Ketten dazu, „was, ich foll fterben! ich, der ich nichts weiteres getan, als daß ich den gottlofen Juden dasjenige ab- nahm, was fie durch Wucher und Betrug den Chriften entwendeten, der ih fo manchen Einbruh und Raub von dem Lande Württemberg abge- wenbet babe, der ich Urſache bin, daß Hohenheim nicht abgebrannt worden iſt; der ich durch mein Anſehen das ganze Land gegen Lebelgefinnte ver- teidigte und befchügte; oder fol ich etwa des Toni wegen fterben! War das nicht der gottlofefte Menfch auf Gottes Erdboden! Hat er mir nicht meine Stieftochter verführt, gefchändet und hart verwundet, hat er nicht - das Weib meines Bruders mißbraucht; hat er mich nicht einmal fo ge- fohlagen, daß ich 14 ganze Wochen frank und in Lebensgefahr dalag! Iſt das nun der Lohn, den man mir gibt, daß ich wie ein anderer Böfewicht mein Leben endigen fol! Habe ich doch immer gedacht, ich würde die größte Belohnung für die Wohltaten erhalten, die ich den Württembergern erzeigte, wenn meine Sache einmal dem Lanbesvater vorgelegt würde!“ Sp und auf eine ähnliche Urt rafte der Elende und fam endlich foweit, daß er fich mit einer Kette, die er bereit um den Hals gefchlungen hatte, felbft erdroffelt Haben würde, wenn ich ihm nicht noch zeitlich genug abge- halten hätte. Diefes verzweiflungsvolle Unternehmen verurfachte, daß man ihn fchärfer fchließen mußte, um aus einem Räuber und Todfchläger nicht auch noch einen Selbſtmörder werden zu laffen. Inzwiſchen war meine Lage die traurigfte. Ich glaubte zwar auf alle möglichen Fälle, Ein- wendungen und Entfchuldigungen vorbereitet zu fein; aber wem hätte es einfallen wollen, daß der Mann, der bereits Diebftähle von mehr als 41000 fl. eingeftanden hatte, und dem fein Gewiſſen vermutlich noch weit mehr vorhielt; der nicht bloß Juden, fondern auch Chriften beftahl, der eigenmächtig und landesgefegwidrig einen Menfchen wo nicht wirklich ermordet, doch die nächfte Urfache des Todes diefes Menfchen war; daß, fage ich, ein folher Mann noch des Gedankens fähig fei, der Landesfürft fei ihm eine große Belohnung ſchuldig? Indeſſen war es gleichwohl fo und muß ich geftehen, daß ich ohne ganz befonderen Beiftand von oben herab nie vermögend gemwefen fein würde, diefen Menfchen, der fich fo hohe Vorftellungen von feinen Meriten machte, zu überzeugen, daß er ein Dieb und Mörder und folglich des Todes ſchuldig und würdig fei. Uber

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der Herr ift groß und feine Barmherzigkeiten find ohne Zahl und Ende. Er ifts, der fpricht: Es werde, und es ift. Dies gefchah auch hier. Inner- lich überzeugt, daß fich in diefen Umftänden mit Hannikel weder von Tod noch Buße reden laffe, trachtete ich ihn auf feine Selbſtkenntnis ganz un- vermerkt zu führen. Auf welche Art dies gefchehen, gehört nicht hieher: kurz Hannikel verwicelte fich mit feinen eigenen Geftändniffen und Er- zählungen nach und nad fo fehr, daß ich ihm nicht erft an fein Unrecht erinnern durfte, fondern daß er nach einem tiefgeholten Seufzer ſelbſt aus- rief: „Ach Gott, wie groß und viel find meine Miffetaten!" Dies Wort goß Troft in mein Herz, und gewiß wird es auch Freude und Wonne in die gute Seele des beften Herzogs ergießen, wenn es in feinen Ohren erfchallen follte.

Es verfteht ſich von felbft, daß man bei diefer Gemütdverfaflung des armen Sünders ohne Zeitverluft dahin arbeitete, den Funken von Selbft- fenntnis immer mehr und mehr anzufachen, um alle die Schwierigkeiten zu befeitigen, die bisher dem Hauptgefchäfte, nämlich der Zubereitung zu einem hriftlichen Tode fo mächtig widerftanden.

Indem ich aber glaubte, nun ungehindert auf diefen Zwec hinarbeiten zu können, erinnerte ſich Hannikel plötzlich, daß er Vater ſei und dieſer Gedanke bemächtigte ſich ſeiner Seele ſo ſehr, daß er in eine neue, ebenſo ſtarke Gattung von Wut, als die vorige war, verfiel, und mir geradezu erklärte, es werden alle meine Bemühungen fruchtlos und ohne Wirkung fein, wenn man ihm feinen Sohn Chriſtoph (Zigeunerifch Dieterle) nicht zuließe. Auf die Frage, ob er mich fodann gelaffen und aufmerkfam an- hören wollte, wenn ich zumegen brächte, daß fein Sohn ihm zugegeben würde, verficherte er mich allerdenklicher Folgſamkeit und fegte bei, ich würde Wunder fehen, wie gut er fich zum Sterben bereiten würde.

Sch hatte Hannikel bisher ſchon zu genau kennen gelernt, ald daß ich an der Nichtigkeit feiner Zuficherung zweifeln konnte, und da ich zum vor- aus wußte, daß H. Oberamtmann Schäffer, diefer nicht durch Toleranzgefege fondern was weit mehr und rühmlicher ift, durch tolerante Gefinnungen geleitete würdige Beamte, alles geftatten würde, was zum Geelenheil des Berurteilten etwas beitragen könnte, wenn anderft die Landesgefege nicht im Wege ftünden, fo verficherte ich Hannifeln, daß er feinen Sohn heute noch haben follte;, worauf er dann anfing, ganz gelaffen zu werden und mit der größten Begierde die Lehren des Heild anzuhören.

Es fei mir erlaubt, bier etwas weniges von den Kenntniffen in der Religion einzufchalten, welche Hannikel mit fich brachte. Um fich davon einen echten Begriff machen zu künnen, darf man nur wiſſen, daß Hannikel in feinem 15. Jahre das erfte und legte Mal die hl. Geheimnifje der Religion beging; daß er feit diefer Zeit das Wort Gottes nur fehr felten und auch dazumal ohne alle Aufmerkfamkeit anhörte; daß er, des Lefens unkundig, in Büchern, und beftändig von böfen, ebenfo unwiffenden Gefellen umgeben, auch an diefen feine nüglichen Unterrichtöquellen antraf; daß er nicht einmal das Gebet des Herrn (Vater unfer) ganz herfagen Fonnte. Man wird über diefe grobe Unwiſſenheit erftaunen; aber wenn die Väter der Länder nicht wie KRaifer Sofeph und Herzog Karl die gefittete Erziehung

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der Jugend befördern; wenn die fanfte Chriftugreligion den Herzen nicht eingeflößt wird, um ihren mohltätigen Einfluß in felben verbreiten zu fönnen, was wunder, wenn Hannikels entftehen!

Diefer Unmiffenheit ungeachtet hatte Hannikel gleichwohl Ropf und Bereitwilligleit genug, um in furzer Zeit die nötigften Lehren des Heils zu lernen und zu faflen. Ich fage, die nötigften Lehren des Heils: denn einem Menfchen von der Urt, der dazu noch auf den Tod infiget, in fo kurzer Zeit die Lehren des Chriftentums in ihrem ganzen Umfange beibringen zu wollen, gehöret ganz in das Reich der unmöglichen, vielleicht auch un- nötigen Dinge. Die Lehre von der Eriftenz Gottes, von Gottes Vorfehung, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, von feiner Allgegenwart, von der DBe- lohnung des Guten und Beftrafung des Böfen, von der Ergebung in den göttlichen Willen, von der Unfterblichkeit der Geele, von der Liebe Gottes und des Nächten, von den vorzüglichften Artikeln des chriftlichen Glaubens ift bier gewiß erfledend, den großen Zweck, die gelaffene Duldung des Todes und frohe Ausfichten in die Ewigkeit zu erreichen. Died war es auch, wovon Hannikel unterrichtet worden, und unenblicher Dank fei es der Barmherzigkeit Gottes, welche das Herz diefes Menfchen fo fehr ge- rührt, daß er nun ein eben fo großer Büßer geworden als großer Böfe- wicht er ehemals war.

Man glaube nicht, daß ich Durch das, was ich eben gefagt habe, und noch ferner fagen werde, nur meinen Helden erheben wolle, um von feiner Größe auch einigen Anteil auf mich herüberzuziehen. Der Herr, der mein Innerſtes durchfiehet, weiß es, daß ich ſchweigen würde, wenn mich nicht der fromme Tobias 12, 7 reden hieße.

Inzwifchen fam der Heine Dieterle in die Wohnung feines Vaters, ein Rnabe, an dem nur fein Vater etwas liebensrwürdiges fehen konnte. Die Umarmungen waren feurig und von der Art, dergleichen ich noch nie gefehen. Leberhaupt bemerkte ih an Hannikel, Duli und Wenzel eine Liebe gegen ihre Kinder, die unbefchreiblich groß war. Herr Magifter Wittih in feinem Hannikel nennt diefe Liebe eine viehifche Liebe. Ich will es gerne eingeftehen, daß dieſes Urteil zu der Zeit mag richtig geweſen fein, als diefe Väter noch mit ihren Kindern in Wäldern und abgelegenen Dertern herumirrten und fie über Diebereien, Bettlereien und Betrügereien liebtofeten; aber daß diefe Liebe auch bei nunmehr ſchon ganz umgeänderten Gefinnungen des Vaters, bei dem unabgedrungenen Gelbftgeftändnig, wie unglüdlich er fein Kind durch feine Verbrechen gemacht habe, bei den beil- famften Ermahnungen, die er feinem Sohne auf feine fünftige Lebenszeit gab, feine viehifche mehr war, liegt meines Erachtens ganz außer Zweifel. E3 bleibt alfo noch immer die große Frage übrig, warum diefe Leute ihre Kinder fo feurig und manche andere Eltern die ihrigen fo froftig lieben? Etwa darum, weil jene durchgehends Früchte eines verbotenen und oft gar noch eines blutfchänderifchen Umganges find?

Uber fol denn das durch gefellfchaftliche und religiöfe Gefege geheiligte Eheband nicht unendliche Vorzüge haben? Der Grund biefer Liebe muß alfo tiefer als in dem bloß viehifchen liegen.

Sch kehre wieder zu Hannikel und feinem Sohne zurüd. Ich hatte

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mich vorbereitet, dem Heinen Taugenicht8 durch angemefjene Ermahnungen und Zurechtweifungen nügliche Lehren zu geben und ihm die erfchredlichen Folgen des Lafters recht begreiflich zu machen. Aber für diesmal hätte ich mir diefe Mühe erfparen können; denn faum waren die erften Um— armungen vorüber, als Hannikel felbft anfing, das erftemal ein guter Lehrer feines Sohnes zu werden. Du haft mich fehon lange in Ketten und Banden gefehen, mein liebes Kind, fprach er, und nun fiehft du mich gar nur zwei Tage mehr, dann ftirbt dein Vater in den Händen der Gerechtigkeit. Ach, liebes Kind! nun find mir die Augen aufgegangen, nun ſehe ich es ein, wie fehr ich in meinem Leben gefehlt habe. Auch dich habe ich verführt. Da ich dir Lehren der Tugend und der Frömmigkeit hätte geben follen, habe ich dich zu Bosheiten verleitet. Vergieb mir, mein Sohn; vergieb deinem Vater, der bereitet ift, geduldig und ſtandhaft durch feinen Tod für feine Sünden zu büßen. Du überlebft mich, aber denfe bei jedem Schritt dein ganzes Leben hindurch an das Ende deines armen Vaters. Laß die Ketten, die mich feffeln, laß den Stein, an dem ich gebunden fige, nie aus deinen Augen. Gei goftesfürchtig; lerne, was du als ein Chrift wiflen mußt, und befolge die Lehren, die du von deinen “Prieftern hören wirft. Du bift noch jung; befleifige dich, eine Arbeit zu lernen, mit der du dich meiſtens anftändig nähren fannft; fliehe den Müßiggang und böfe Gefellfihaften. Sei millig, gehorfam, dankbar gegen jedermann, der Dir Gutes thut. Bete fleißig für unfern gnädigften Landesvater; bitte ihn, wenn du jemals fannft, von meinetwegen um Verzeihung. Ehre die Obrigkeit, und unterwirf dich ihren Anordnungen. DBefolge, erfülle diefe Lehren deines zum Tode verurteilten Vaters genau und pünftlih: Dann, wenn einftens beine Stunde auch vorüber iſt, wirft du deinen Vater in dem Himmel wieder fehen. Auf diefe und ähnliche Art ſprach Vater Hannitel feinem Sohne diefen und die zwei folgenden Tage zu. Mir blieb dabei nur übrig, den Gott zu preifen und zu danken, der alle Dinge fo gut macht. Den 15. Juli, auf den eben der Sonntag fiel, war ich morgens vor 4 Uhr wieder bei Hannikeln. Er hatte die ganze Nacht gemacht, und bat fich, wie mir feine Wächter verficherten, ganz ruhig, ftill und gelaffen betragen, fo nämlich, wie fi ein Menfch gelaffen betragen fann, der durch die Gemohnheit verwildert, auch das reumütigfte Gebet raſch und kühn zu Gott ſchickte. Nach einigen kurzen Fragen, deren Beantwortung mir einen neuen Blick in feine Geele und ihre Verfaffung verfchaffen follte und wirklich verfchaffte, ward ein auf die Lmftände des Orts, des Tages und der Perfon eingerichtete® Morgengebet verrichtet. Hierauf fing der weitere Religiongunterricht an, welchen Hannikel öfters mit den Worten unterbrah: Ach, wenn ich das früher gehört hättel Go oft eine ihm befonder8 auffallende Lehre vorfam, wandte er fich jederzeit mit den Worten an feinen Sohn: „Merke dir das, mein liebes Kind und denke, du haft es in ber Gefangenfhaft deines Vaters gehört.“ Ich muß bier etwas bemerken, was mir am Ende Ddiefer Relation zur Wiederlegung eines fehr lieblofen Urteils, welches über Hannikel kurz vor feiner Hinrichtung gefället worden, dienen fann. Wenn Hannikel feinen Sohn anredete, gefchah das meiftens in der Jaunerfprache,

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weil diefe beiden geläufiger war als die deutjche. Hannikel glaubte aber, er würde mich beleidigen, wenn er mir nicht allezeit wieder alles verbolmetfchen würde, was er in feiner Sprache geredet hatte. Daher fam es, dab ich diefe an fich gar nicht harte Sprache fo ziemlich verftehen lernte, und aus mehreren Worten wenigſtens die Hauptform herausbringen fonnte. Den vormittägigen Religiondunterricht befchloß ich mit der Ableſung und bie und da eingeftreuten zweckmäßigen Erklärungen der Leidensgefchichte unferes Erlöfers nad) der Befchreibung Matthäus, von welcher Gefchichte mir Hannikel fagte, daß er fie in feinem Leben nie gehört habe. Die Stelle: „Jeſus aber ſchwieg,“ war ihm befonders auffallend, und verficherte er mich, daß er davon gewiß guten Gebrauch machen werde. Da alles dieſes eine Zeit von 6 Stunden wegnahm, und ich meinem Manne die Pulfe immer näher fühlen wollte, fagte ich ihm, er habe nun ſchon genug gehört, wie der Chriſt handeln und beten fol, ich wolle ihn nun der Andacht feines Herzens ganz allein überlaffen, und erft, wenn er feinem Gott nichts mehr vorzufragen wußte, wollte ich ihn wieder weiter zu diefem güfigen Vater führen. Hannikel gehorchte: Er betete, indem er auf dem Steine faß, an den er angefchloffen war, wobei öfters tiefe Seufzer fein Gebet unterbrachen. Sch ging indeffen das Zimmer auf und ab, um jede Be- wegung zu beobachten, ohne jedoch meine Ubficht im mindeften bemerken zu laffen. Nach einer halben Stunde nahm Hannikel das Kreuzbild, fo auf einem Stuhle vor ihm lag, ehrerbietig in feine Hände. Er betrachtete es lange fehr aufmerkſam, küßte es einigemal, und legte e8 wieder hin. Kurz darauf holte er alle feine Ketten, fo gut er konnte, in feine Hände herauf, fah bald diefe, bald das Kreuz an, fing an fiefer zu feufzen, meinte ziemlich vernehmlich, küßte die Ketten, legte fie fanft wieder zur Erde nieder und rief laut: „Gott fei Lob und Dan!“

Und die Engel des Himmels jauchyten über den Sünder, der Buße tat!

Ich will hier niemanden mit den Empfindungen überläftig fein, die diefe Szene in meinem Herzen verurfachte, nur dieſes muß ich beifegen, daß, wenn diefe Handlung Hannikels nicht ein Beweis eines bußfertigen Herzens if, man umfonft noch andere verlangen würde. Bei diefer Stim- mung ber Geele und nad) ſchon genügfam vorangeſchicktem Unterricht, glaubte ich den erwünfchteften Zeitpunkt erreicht zu haben, mit Sannifeln zu dem Bußgerichte nach Fatholifchem Gebrauche fchreiten zu fünnen, welches denn auch auf eine folche Art gehalten und vollendet worden, daß ich nicht ziveifle, Gott werde alle Sünden von dem reuevollen Bekenner weggenommen haben. Don diefer Zeit an war Hannifel fichtbar ruhiger, freudiger und gelaffener; auch hörte man nicht die mindefte Klage mehr; alles Zeitliche wurde ihm gleichgültiger und er fah mit einem wahren Heldenmute und inniger Freubdig- feit dem Tode entgegen. So wirken nämlich die Geheimniffe der Religion auf jene Seelen, die fich derjelben aufrichtig teilhaftig machen. Die übrige Zeit des Tages war mit der Vorbereitung zum bl. Abendmahl, das er den folgenden Tag empfangen follte, mit einigen Befuchen, die Auswärtigen geftattet wurden, und mit verjchiedenen Heinen Fragen, Erzählungen u. f. w. zugebracht. Us ich ihn fragte, ob es ihn auch recht freuen würde, wenn ibm das Leben wieder gefchentt werben follte, zumal da er jegt jo ernft-

Süddeutfhe Monatshefte. 11,7. 3

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bafte Vorfäse feiner künftigen Sittenverbefjerung gemacht habe, antwortete er: Es fei wahr, das Leben fei ein edles Gut, deffen man fich nicht genüg- fam freuen könne; auch könne er verfichern, wirklich fo befchaffen zu fein, niemals mehr etwas gegen Gottes oder der DObrigfeiten Gebote zu unter- nehmen, im Gegenteil fo viel Gutes zu tun, als immer in feinen Kräften wäre. Allein er wiffe auch, welch großen Gefahren ihn die Freiheit wieder ausfegen würde. Ciner anftändigen Arbeit unbewußt und felbft auch un- gewöhnt, von verführerifchen Gefellen bald wieder umgeben, von den Reizen der bisherigen üppigen Lebensart in kurzem wieder eingenommen, würde er, wenn die Gnade Gottes nicht Wunder, die man aber nicht erwarten dürfte, an ihm wirkte, vielleicht bald wieder auf die vorigen Wege zurüdfallen, und wer wollte ihm fodann für feine Seele und für eine gute Ewigkeit ftehen, wenn er, wie es fchon fo vielen felbft von feinen Kameraden ergangen, bei einem Raube mittelft einer Rugel oder eines tötenden Schlags in jene Welt follte abgefchicft werden? u. f. w.

Sch babe vorhin gefagt, daß fi) Hannikel vornahm, von der Stelle aus der Leidensgefchichte des Herrn: Jeſus aber fchwieg, guten Gebrauch zu machen. Dazu gab es am nämlichen Tage noch Gelegenheit, und er hielt Wort. Ehe ich die Sache erzähle, muß ich dem Herrn Oberamtmann Schäffer noch ein Lob fprechen, das er in fo vollem Maße verdient; um uns das Privatreligiong-Ererzitium, das uns geftattet war, in feinem ganzen Umfange genießen zu laflen, gab er der Wache gemeffenften Befehl, keinen Menfchen, wer er ed auch immer fein möchte, zu Hannifel zu laffen, ohne vorher meine Bemilligung eingeholt zu haben. Wenn ich fage, daß fich fehr viele Katholifche Beamte diefe Beglaubigung als ein Regale vorbe- halten, und jelbe ohne Rückſicht auf den Geiftlichen erteilt oder abgefchlagen haben würden, fo fage ich etwas, das ich aus Erfahrungen weiß. Herr Schäffer tat alfo mehr, und wer von den Ratholifen wird den edlen Mann nicht jegnen, der fo großmütig gegen uns dachte! Nun wurden mir an diefem Tage gegen Abend zwei fremde Herrn gemeldet, die Hannikel zu fehen wünfchten. Da die Hauptgefchäfte diefes Tages bereits geendigt waren, und ich glaubte, der Befuch vernünftiger Männer, befonders von der näm- lichen Religionspartei, würde nicht bloß zur Zerffreuung, die, zu rechter Zeit angebracht, den Verhafteten immer zu gönnen ift, fondern auch zur QAuf- munterung und Erbauung viel beitragen, war mir der Antrag gänzlich will- fommen. ber ich hatte gleich Urſache, meine Bewilligung zu bereuen. Einer diefer Herren, deſſen Namen ich verfchmweigen will, damit feine Un— befcheidenheit nicht auch feiner Herrfchaft zur Unehre gereiche, trat mit der Miene eines Autofraten vor Hannikel hin, und kündigte ihm im fäuerlichiten Tone an: er folle fih nur zu Gott bekehren; e8 gehe noch gnädig mit ihm ab; er babe weit mehr verdient; er fei auch Urfache daran, daß Julian Sepple ihm (dem geftrengen Herrn) geftohlen habe u. f. wm. Wie mir bei fo einem Gruße war, der einen in der Geduld und Gelaffenheit weit mehr geübten, als ich mir Hannikel zurzeit noch vorftellte, aus aller Faſſung hätte bringen können, läßt fich leicht denken. Uber Hannikel übertraf hier meine Erwartung. Er fchwieg, und ald wir wieder allein waren, fagfe er mir, er habe ſich des Beifpield Jeſu Chrifti erinnert, der auch bei den unge-

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rechteften Befchimpfungen feinen Mund nicht auftat. So wirkte die Sanft- mut des größten Dulderd auch in Hannikels Geele!

Der 16. Julius war der Tag, an welchem den 4 Verurteilten das bi. Abendmahl gereicht werden jollte. Hannikel hatte faft die ganze Nacht ſchlaflos und im Gebete zugebracht. Erft nach 2 Uhr morgens bemächtigte fich feiner der Schlaf. Ich war um 3 Uhr bei ihm, ließ ihn bis 5 Uhr ſchlafen, welche Wohltat ich ihm gerne noch länger gegönnt hätte, wenn nicht wichtige Umftände Hannikels Wachbarfeit erfordert hätten. Es war nämlich von Hrn. Dberamtmann Schäffer verordnet, daß mit dem Arreftanten an diefem Tage das legte Verhör vorgenommen und felbes gleich nach 6 Uhr morgens angefangen werden follte. Um alfo weder den Herrn DOberamt- mann in feinen Gefchäften zu hindern, noch auch die Feier des HI. Abend⸗ mahls, wozu fich die 3 übrigen Verurteilten bereits fchon angeſchicket hatten, zu lange zu verfchieben, wie auch aus noch mehr anderen Urſachen, weckte ich Hannifel, der fich auch fogleich zu allem, was ich von ihm verlangte, willig und bereit fand.

Ich hatte bereitd den Tag vorher ſchon mit den andern 3 katholifchen Geiftlichen verabredet, daß ich es für fehr fchicklich fände, wenn man Han- nifeln das bl. Abendmahl nicht allein, fondern zugleich mit den übrigen reichen würde. Die Gründe, mit welchen ich meine Meinung unterftügte, waren gebilligt, und fofort bei Herrn Oberamtmann das bittliche Anſuchen vorgebracht, hiezu die obrigkeitliche Bewilligung zu geben, die auch ohne Umftand erhalten wurde. Ich muß bier um Erlaubnis bitten, alles das- jenige fo herzufchreiben, wie ich e8 empfand, als die heilige Handlung vor ſich ging. Ich hatte fchon faft eine Stunde mit Hannifeln gebetet, und ihm die weiteren Vorbereitungslehren beigebracht, als fich auf einmal das Zimmer öffnete, einer von den Wächtern mit brennenden Wachskerzen ein- trat und Anſtalten machte, die ich in meinem Leben an diefem Orte und unter diefen Umftänden nicht erwartet hätte. Gleich darauf trat Herr Pfarrer Glatt, ein frommer und eifriger Priefter aus dem fürftlichen Stifte Muri, mit dem bl. Abendmahl ein, welchem die AUrreftanten Wenzel, Duli und Nottele folgten. Die zwei Priefter Birfle und Diener, jener Kaplan zu Viſchingen, diefer Pfarr-Bilarius zu Bierlingen, Geiftliche, denen ich ihres Eiferd und ihrer Befcheidenheit wegen ein ſehr verdientes Lob fprechen fönnte und würde, wenn meine als ihres Mitbruderd Empfehlung nicht verdächtig feheinen möchte, begleiteten fie. Los von Ketten und Banden, ein Kreuzbild in der Hand, in ihre Sterbefleider gekleidet, frei von allem, was man Wache nennen kann, fo traten fie vor Hannifeln hin. Auch diefem wurden bie Feſſeln mweggenommen, und fo (höret e8 Fatholifche Brüder!) fo durften wir in der württembergifchen Stadt Sulz, mit den 4 berüchtigtften Böfewichten in einer ganz unerwarteten Freiheit und mit der erbaulichiten TFeierlichkeit, das große Geheimnis unferes Glaubens begehen. Dies alles war Herrn Schäffers Werk, und wer von und wird diefem Manne diefe edle Tat genügfam belohnen? Das kann nur Herzog Karl, und Herzog Karl, als felbft Ratholit, wird ed auch tun. Ich war vorbereitet, eine kurze, auf diefe Zufammenktunft und die ganze Handlung paflende Anrede zu halten; es blieb mir aber nur fo viel Zeit übrig, etwas weniges von ber

36 Eduard Eggert: Hannilels legte Lebenstage.

Freiheit der Seele, die und Jeſus Chriftus durch feinen Tod erworben, und die durch die gegenwärtige Freiheit ihrer Leiber fo kräftig vorgebildet würde, zu fagen, als Hannifel das Wort nahm, und alles, was man von wechfel- feitiger Vergebung der zugefügten Unbilden, von der brüberlichen DVer- einigung durch den Empfang des großen Liebesmahles, von der Ergebung in den göttlichen Willen, von der übergroßen und unverdienteften Gnade der göttlichen Heimfuchung, von Standhaftigfeit in dem Glauben, und von dem chriftlihen Mute in dem Tode fagen kann, mit fo viel Umftand und Erbauung feinen Mitfcehuldigen vortrug, daß uns Geiftlichen nichtd übrig blieb, als daftehen, ung einander anfehen, die fo fihtbaren Wirkungen der göttlichen Gnade preifen, und den Herrn des Weinbergd um ferneres Ge- deihen bitten. Die Handlung wurde auch mit der größten Andacht voll- zogen und einem eifrigen Gebete für den Durchlauchtigften Herzog, Höchft- deſſen erhabenes Haus und das ganze Land Württemberg befchloffen. Han- nitel hielt vor dem Abfchiede noch eine Heine Ermahnungsrede, und indem er zum Zeichen ihrer gänzlichen Ausföhnung verlangte, daß ihm ein jeder fein Rreuzbild zum Küſſen darreichen follte, er auch das feinige zum näm- lichen Endzwede darreichte, fo gingen fie mit dem Bemwußtfein auseinander, daß fie nun in diefem Leben nur noch einmal auf der großen Reife zur Ewigkeit ſich fehen werben.

Die Herzen der Menfchen liegen nur vor den Augen des Allwiffenden entfaltet, und uns bleibt nur übrig, den Baum an feinen Früchten zu erkennen. Die guten Früchte find Beweiſe für den guten Baum, fowie die böfen Früchte Zeichen eines böfen Baumes find. Nach diefen Zeichen, die und das Evangelium felbft an die Hand gibt, Hannifel zu beurteilen, könnte ich zwar viele Beweife eines ganz gebeflerten Gemüts anführen. Aber ich will zu allem dem, weſſen nur ich Augenzeuge war, fchweigen, und nur das anziehen, was in Gegenwart vieler Zeugen vorging.

Notteles Mutter und noch eine andere Weibsperfon, die, wie ich nachgehends erfuhr, Hannikel fehr beleidigt hatte, erhielten die Erlaubnis, den Nottele noch einmal zu befuchen. Diefe traf Hannikel auf dem Gange, der zu Notteles Zimmer führte, gelegentlih an. Es fordert immer eine große Seele, bei dem unvermuteten Anblick einer feindlichen Perfon nicht aus dem Gleichgewicht zu fommen, und diefe Seele verdient noch mehr Bewunderung, je roher fie übrigens durchgehende war. Hannifel ließ fich nicht irre machen. Er grüßte beide freundlich, bat fie um Verzeihung und verficherte, daß er an die ihm zugefügte Unbilden gar nicht mehr denfe: er fehe und bete alles ald Fügungen Gottes an, der alles zum beften der Seinigen veranftalte. Hierauf gab er der alten Mutter verfchiedene DVer- baltungsmaßregeln, nach welchen fie fich bei ihrem Sohne zu benehmen hätte, redete viel von feiner Ergebung in den göttlichen Willen, von der Gnade der Erleuchtung, welche er über feine Verbrechen erhalten hätte, und von den freudigen Ausfichten, die ihm der morgende Tag als fein Sterbetag gewährte, und alles dieſes auf was für eine Art! Gaget, meine Herren Bürger von Sulz, die ihr mehr denn 50 während der Rede Hannifeld um ihn berumftundet, warum entfärbten fich eure Gefichter? warum floffen fo viele Tränen aus euren Augen? was habt ihr da an Hannikel bewundert? Ich

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will feine Antworten herfegen, ob ich fie gleich alle wüßte, weil ich fie felbft von euch gehört habe; nur Died muß ich noch fragen, ob denn der Menſch, der fo viele Herzen in Bewunderung und fo viele Augen zu Tränen bringet, indem er von lauter guten Dingen redet, nicht ein ge- beſſerter Menfch fei? An dem nämlichen Tage wurde Hannifel noch zum Verbör berufen. Man weiß aus Erfahrung, da die Verurteilten die Schuld ihrer Strafe größtenteild auf ihre nächften Richter fchieben, und fofort diefe als ihre wahren Feinde anfehen. Hieraus folgt oft jene Ab- neigung, die manchmal erft mit dem Stride erfticdet wird. Hannikel äußerte den erften Tag diefe nämlichen Gefinnungen gegen Herrn Schäffer und erflärte geradezu, dieſer allein wäre Schuld an feinem Tode. Nun hatte zwar Sannifel bei den gemachten Fortfchritten in feiner Selbſtkenntnis fein Unrecht eingefehen; aber wie leicht ift es gefchehen, daß man bei der größten Leberzeugung von feinem Unrecht doch wieder unrecht handelt! Hannikel brachte auch bier gute Früchte; denn Herr Oberamtmann Schäffer bat mir felbft verfichert, daß ſich Hannikel bei dem ganzen Verhör gut benommen, auf die vorgelegten Fragen gelaffen geantwortet und dann vor feiner Entlaffung nicht nur für alle ihm und den Seinigen erzeigten Wohl- taten gedantet, fondern um das Herrn Schäffer oft verurfachte Ungemach um Verzeihung gebeten habe.

Bei fo geftalten Sachen kann ich nicht umhin, eine Anmerkung über einen gewiffen fatholifchen Pfarrer zu machen, der an diefem Tage nach- mittags bei Hannifel war. Dieſer Mann, der fehr wichtiger Urfachen wegen vor Hannifel gar nicht hätte erfcheinen follen, um nicht durch feine ungebetene Gegenwart dad an dem armen Sünder wieder zu verderben, was man bisher gut gemacht hatte, glaubte an Hannikels Nafe mit großen Buchſtaben gelefen zu haben, daß er noch der alte Taugenicht3 und nichts minder als gebefjert ſei. Das nämliche Urteil füllte er auch von Nottele. Ich will annehmen, daß er fich nicht betrogen habe; obgleich das, was ich bisher nach der Wahrheit erzählt habe, offenbar widerfpricht. Hätte es da einem Fatholifchen Priefter nicht angeftanden, ung, feinen Brüdern, die große Kunſt zu lehren, wie wir ung zu benehmen hätten, daß die Seelen gerettet werden möchten? Oder wird ihm das ein vernünftiger Menfch gut deuten können, daß er, ftatt ung den befjeren Unterricht zu geben, in lutherifche (ich fege das Wort nicht als ein verächtliched her, fondern bloß im Gegenfage des Wortes Ratholifch: denn es würde auch einem lutheri- ſchen Geiftlichen nicht gut ftehen, in Fatholifchen Wirtshäufern das reden, was diefer Fatholifche Geiftliche in Iutherifchen Wirtshäufern geredet hat) Wirts- häuſer binging, und dort vor allem Volk ausbreitete, wie Hannikel und Mottele jo gar nicht zum Tode bereitet feien. Ich weiß, warum der Mann dies tat. Herr Dberamtmann Schäffer weiß es ebenfalls, und weil die fämtlihen Beweggründe endlich doch nur auf Mißgunft, die aber hier ge- wiß an dem unfchieflichften Drt angebracht war, hinauslaufen, fo würde ich diefe ganze Anmerkung gerne wieder mwegftreichen, wenn ich nicht fürchtete, ein gänzliches Uebergehen diefes Vorfalld dürfte hie und da zu widrigen Eindrüden Anlaß geben.

Ehe ich diefen Tag befchließe, muß ich hier noch etwas erzählen, das

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zwar eine bloße Partikularität für mic) ift, das aber feines Ungemwöhnlichen wegen vielleicht nicht jedermann zum Hören ganz unangenehm ift. Als ich Hannikel gegen Abend auf eine kurze Zeit verließ, fing er an, fich bitter- lich zu beflagen, daß er nun gar nichts befäße, fo er mir zu einem Ange⸗ denfen geben könnte, da ich doch fo viele Mühe auf ihn verwendet hätte. Weil man bei Leuten von der Art manche Einfälle beffer durch Stillfchweigen als durch Gründe widerlegt, fo tat ich, als hätte ich gar nicht bemerkt, was er gefagt habe. Nur da er das nämliche mit immer mehr Nachdruck wieder- holte, fagte ich ihm, das angenehmfte Gefchent würde mir diefes fein, wenn er auf den fchon betretenen Wegen ftandhaft verbleiben, und an fich nichts ermangeln laflen würde, um den Tod eines Chriften zu fterben. Mit diefem entfernte ich mich, bemerfte aber wohl, daß fich mein Mann mit meinem Gerede nicht jehr beruhigt fand. Als ich wieder zu ihm fam, empfing er mich ganz heiter: „Ich habe etwas, mein lieber Vater,“ fprach er, „das ich dir geben kann.“ Und was war e8? Er hatte ſich während meiner Abwefen- heit viele von feinen langen ſchwarzen Haaren aus dem KRopfe geriffen, ließ fie durch feinen Sohn in ein Zöpflein flechten, und das follte mir alfo fein Angedenfen unvergeßlich machen. Ob mich diefer unerwartete Beweis von Liebe rührte, muß man nicht fragen. Will man es noch als einen Zug eines dankbaren Herzens gelten laffen, fo beurteilt man Hannikel nach wahren DVerdienften.

Ein Abendgebet und einige Lehren von dem Trofte eines chriftlichen Todes befchloffen diefen Tag. Hannitel, der bisher außer der Feier des bl. Abendmahls beftändig allein war, wurde fpät abends zu feinen Mit- verurteilten geführt, weil man wohl fah, wie fehr fein Zufpruch auf ihre Seelen wirkte, und wie vorteilhaft ein gemeinfchaftliches Gebet für alle wäre.

Endlich brach der 17. Juli, der wichtigfte Tag ein, an welchem Han- nifel durch die Hände menfchlicher Gerechtigkeit in die Hände des All mächtigen übergeben werben follte. Ich war morgens um 2 Uhr bei ihm, wo ich mit Hannifel, ſowie die übrigen Geiftlichen mit Nottele, Duli und Wenzel noch eine große Schwierigkeit zu überfteigen hatten. Unſere Leute hatten nämlich fehon den Tag vorher vernommen, daß nicht wir, fondern evangelifche Geiftliche fie zur Nichtftatt führen würden. Dies tat ihnen ſehr weh, und Hannikel erklärte geradezu, ob denn die württembergifche Staatöverfaffung oder die evangelifche Religion in Trümmer gehen würden, wenn man einem armen Sünder, der doch auf diefer Welt nichts mehr als den Geiftlichen feiner Religion zum Trofte hätte, diefe Heine Wohltat noch zugeftände. Aufrichtig zu reden, wußte ich hiewieder geradezu ebenſowenig etwas zu erwidern, ald ich es einem proteftantifchen Verurteilten auch nicht übel deuten könnte, wenn er in einer fatholifchen Gefangenfchaft die näm- liche Sprache führen würde. Um aber die Leute gleichwohl fo viel wie möglich zu beruhigen, ftellten wir ihnen vor, daß es ja ſchon Gnade genug für fie gemwefen fei, indem man ihnen Geiftliche ihrer Religion drei ganze Tage geftattet hätte: fie wären bereits alle durch Empfangung der bl. Ge- beimniffe und den gegebenen Unterricht nach fatholifchem Gebrauche zum Tode vorbereitet; man müffe ſich in die Verfaffung eines jeden Landes ſchicken, und dies fünnten fie um fo leichter, als eben ihnen in Württem-

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berg Vorteile geftattet worden wären, davon fich bisher noch fein DVerur- teilter erfreut hätte. Hannikel insbefondere hätte gar nicht Urfache, fich im mindeften zu befchweren, im Gegenteil Urfache genug, als dankbar anzu- nehmen, was immer die Landesgefege forderten, da man ihm den Geift- fichen, den er felbft verlangt, von fo weit her, und nicht ohne Koſten habe berufen laffen, welches ihm in einem Fatholifchen Orte gewiß nicht wäre bewilliget worden. Diefer legte Umftand tat die erwünfchte Wirkung, und weil nun Hannikel fehwieg, fo waren auch die übrigen zufrieden. Da wir allem diefem noch beifegten, daß die evangelifchen Geiftlichen wadere Männer wären, denen es gar nicht darum zu fun wäre, aus ihnen Profelyten zu machen, daß fie ihnen eben das zufprechen würden, was wir, und daß, wenn fie felbe doch fchlechterdings nicht hören wollten, fie inzwifchen ihren Weg unter einem andächtigen Gebete und Erinnerung an die empfangenen Lehren machen fönnten, war die Beruhigung ganz hergeftellt, wobei mir auch nicht vergaßen, noch beizufegen, es follte fich feiner unterfangen, den evangelifchen Herren Geiftlichen, oder fonft jemanden nur die mindefte Un- bild zuzufügen; würden fie fo was tun, fo würden fie nicht nur ung be- leidigen, die wir doch gewiß feine Beleidigung von ihnen verdient hätten, fondern fie würden fich auch noch wider das Gebot der allgemeinen Nächften- liebe verfündigen; fie würden Aergernis unter dem proteftantifchen Volke verbreiten, welches, wenn es etwas Ungebührliches fähe, glauben dürfte, ihr fchlechtes Betragen wäre eine Folge der fatholifchen Glaubenslehren, oder der Aufhetzung ihrer Geiftlichen. Es könnte fi) wohl gar ereignen, daß man, durch ihr fchlechtes Betragen aufgebracht, Fünftighin fatholifchen Arre- ftanten gar feine Geiftlichen mehr zuließe. Db fie fich gefrauen würden, ſolche fündhafte Vergehungen, der Religion fo nachteilige Aegerniffe, andern vielleicht ihren ewigen Untergang verurfachende Ausfchweifungen, vor Das Gericht Gottes hinzutragen und dort zu verantworten? Da alles dieſes und noch mehr dahin gehöriged den AUrreftanten auf das Nachdruckſamſte eingefchärft worden, und diefe die genauefte Folgſamkeit verfprachen, fo ging man wieder an das Hauptgefchäft.

Daß diefes nun in der nächften Bereitung zum Tode beftanden, und daß man da alles, was immer die Religion und Vernunft Aufmunterndes und Stärfendes lehren, zufammengefaffet, verfteht fich von felbft. Inzwiſchen brach der Tag an, und die fchöne Sonne ging Hannikeln zum legtenmal auf. Schon hatte eine Menge von Menfchen, die das traurige Schaufpiel, fo heute in Sulz aufgeführt werden follte, berbeigerufen, das Rathaus umringet. Ah! dab es lauter Menfchen geweſen fein mögen, die, mit edlern Seelen begabt, des Schaufpiels nicht bedurften, oder mit einem un- edlen Geifte befeelt, durch das Schaufpiel fich fehreden liegen! Hannikel hörte das Getöſe. „Was bedeutet das?" fragte er mich mit fichtbarer Bangigkeit. „Das find die Leute, mein Sohn,“ antwortete ich, „die zu- fammengelommen find, um zu fehen, ob du ihnen durch einen ftandhaft hriftlihen Tod ein gutes Beifpiel geben wolleſt.“ „Das will ich, ja mit Gottes Gnade, das will ich! Uber dürfte ich nicht ein wenig vor das Senfter hinausſehen?“ „Das kannft du.” Ich öffnete das Fenſter und Hannikel überfah mit fehnellen Blicken das verfammelte Volk. Zwei Minuten

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lang betrachtete er ed. Er ſchloß das Fenfter, ließ fich auf feinen Bank nieder, ward totenbleih. Seine Augen verdrehten fich, die Nafe und Kinn wurden fpigig. Todesfchweiß drang in großen Tropfen aus Stimm und Wangen; feine Sinne verließen ihn, und du, o Größter der Sterbenden, der du felbft vor deinem herannahenden Tode zitterteft und bebteft, du haft den Rampf gefehen, den der ftritt, für den du auch ftarbft! Einige Minuten war Hannikel in diefem Zuftande. Ein tiefgeholter Seufzer brachte ihn wieder zu fich, und die Worte: Gottlob! verfündigten mir, daß Hannikel feine Krone erworben. Hier wachte feine ganze Lebhaftigkeit wieder auf, die ihn auch mit meinem Wiffen bis an fein Ende nicht mehr verließ. Er fprach die Todesgebete, welche Pfarrer Glatt vorlag, mit der vollflommenften Gegenwart des Geiftes nach, und fowie man nicht betete, war er derjenige, der die andern zu tröften und aufzumuntern wußte.

Inzwifchen eilte die Zeit unaufhaltfam fort und die Minute war da, daß ung die Gefege des Landes trennten. Ieder Abfchied hat was Trauriges, und die Traurige wächſt in dem Grade, in welchem uns diejenigen am Herzen liegen, von denen wir und trennen müſſen. Hannikel liebte mich inniglich, und follte ich dem nicht auch von ganzem Herzen zugetan geweſen fein, von dem ich gewiffermaßen das fagen fonnte, was Paulus bei Phile- mon 10 von feinem Onefimus fagt? Man nehme diefes und alle andere Umftände, die fich leichter denken als befchreiben laffen, zufammen, fo braucht es nicht viel Einficht, zu begreifen und nicht viel Nachficht, mir zu ver- zeihen, daß ich mich nicht ohne Tränen von Hannikel entfernen fonnte.

Es fei mir erlaubt, hier etwas weniges überhaupt von dem Gejege, das in den meiften Ländern noch gilt, zu fagen, vermöge deffen nur Geift- liche der dominierenden Religion die Verurteilten zum Tode führen dürfen. Dies Gefeg, wenn man feinen Urfprung unparteiifch prüfet, hat mwechjel- feitige Abneigung, oft auch Profelytenmacherei zum Grunde. Anfänglich bei der Reformation war man von beiden Seiten forgfältig bedacht, ja feine Gelegenheit zu verfäumen, wo man einander was Leids zufügen fonnte; daher durfte um felbe Zeit fein Andersgläubiger, wenn er auch des natürlichen Todes ftarb, daran denken, einen andern Geiftlichen ald einen von der Landesreligion zu erhalten; denn ein Teil glaubte dem andern die größte Poffe gefpielt zu haben, wenn ein anderer Religionsverwalter geradezu, wie man mwähnte, des T..... s wurde. Dies Gefeg gilt noch in einigen Ländern und beweift, wie lange es braucht, bis die durch obrig- feitliches Anfehen bedeckte Barbarei zu tilgen ift. In andern Ländern fing man an, bälder zu begreifen, daß diefe Anftalt die allerlieblofefte, und dem Evangelium gerade entgegengefegt fei. Daher ließ und läßt man zwar andere Geiftliche zu, doch aber, um ja das Gebot der Nächftenliebe, die fich weder auf Ort noch Zeit einfchränfet, nicht in feinem ganzen Umfange auszuüben, wird noch eine Zeit und ein Plag beftimmt, welche beide nicht im mindeften überfchritten werden dürfen, follte e8 die Tröftungspflicht noch fo fehr erheifchen. Uber auch diefe Einrichtung, die doch gewiß fein fchöner Zug in der Aufklärungsgeſchichte des 18. Jahrhunderts ift, findet nicht überall Beifall. Es gibt allerorten Leute, die das Wort Nächften- liebe immer im Munde führen und nie im Herzen haben. Diefe Leute,

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geblendet von einer ungebetenen Belehrungsfucht, willen dem Volfe viel von ihrer allein heiligen, allein dem Geifte de Evangeliums angemeflenen Religion in die Ohren zu fegen, und indem fie als Eiferer für die Stabt Gottes angefehen werden wollen, berauben fie ihre Mitmenfchen des natür- lichften Rechts, da fie ihm den legten Troft nach Kräften abfürzen. Ihr Triumph ift vollfommen, wenn fie einen ohnehin ſchwachen Kopf mit ihren Religionsdifferenzen verwirrt haben, und diefer, in der Hoffnung, mit feiner Haut fiher davon zu fommen, zu ihnen hinübertritt. Wiflen fie nun in einem Jahrhunderte, oder aus ihrer Hauschronil ein folches Beifpiel anzuführen, dann fchlagen fie Lärm, fchreien über die Außerachtung der alten Gefege und vergeffen dabei, daß diefe alten Gefege Geburten ber Lieblofigkeit find, die unfere Zeiten, da man fich überall mit der Aufflärung fo breit macht, ſchänden. Indeffen erfchwert all diefes der gefeggebenden Macht eine Abänderung, und dies mag der Grund fein, warum dies Gefeg bei den erlauchteften Regierungen noch in feinem Werte fteht. Doch, wenn man die Sache einmal aus dem gehörigen Gefichtspunfte betrachtet haben und über das, was hierinfalld Vernunft und Religion vorfchreiben, mit einander einig geworden fein wird, fo läßt fich hoffen, daß man überall fo tolerant handeln wird, ald es Kaiſer Joſeph tut, der gefegmäßig verordnet bat, dad die nichtfatholifchen Geiftlihen die afatholifchen Ge- fangenen nicht nur in den Kerkern befuchen, fondern auch auf die Richtftätte begleiten dürfen. In dem Herzogtume Württemberg läßt fich diefes am bäldeften erwarten, denn ohne meine Hoffnung auf den erlauchten Regenten des Landes und die einfichtövolleften Herrn Landesftände allein zu gründen, fann und muß ich es auch den evangelifchen Herren Geiftlichen, die ich bei diefem AUnlaffe kennen gelernt hatte, zu ihrer Ehre nachjagen, daß fie nicht nur über alle unedle Anwerbungsfucht zu ihrer Religion weit binausgefegt find, fondern daß fie felbft den Wunfch geäußert, das Gefeg möchte den katholiſchen Geiftlichen das Hinausbegleiten der Fatholifchen Arreftanten geftatten. Läßt fich bei folchen Geiftlichen, bei einer folchen Regierung und bei einem folchen Fürften nicht eheftend eine Veränderung in einem folchen Gefege erwarten? Doch ich bitte Gott, daß diefe Ver— änderung nie brauchbar fein möge.

Hannikel wurde indeffen, ein Kreuz in der Hand, vor das verfammelte DBlutgericht geftellt. Seine Verbrechen wurden nochmal abgelefen, das Todesurteil wieder angekündigt, der Stab gebrochen und er dann nebſt Duli auf einem Wagen nach der Richtftätte geführt, wohin auf einem anderen Wagen auch Wenzel und Nottele gebracht worden. Hannikel hat, wie mich Herr Magifter Wittich, der ihn begleitete, verfichert, auf dem Wege immer gebetet. Ich ging indes zum Hochgericht voraus, wo ich fhon eine fehr große Menge von Menfchen verfammelt antraf, die bald darauf bei der Ankunft der Verurteilten jo vermehrt wurde, daß ich mich gewiß nicht überzählen werde, wenn ich 12000 Köpfe anrechne. Da in dem fogenannten Kreife, der um die Richtftätte von bewaffneten Bürgern gezogen worden, viel Frauenzimmervolf fich einfand, und dem Auffnüpfen der 4 Kerls ganz gleichgültig zufah, fo ſchloß ich daraus, daß das Frauen- zimmer in diefer Gegend weit beherzter fein müſſe, ald es in andern “Pro-

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vinzen Deutfchlands nicht if. Bei einer fo großen Anzahl von Menfchen wäre es nichts Ungewöhnliches gewefen, wenn einige Unordnungen vorge- fallen wären; aber das war für einen jeden, der von derlei Anläſſen einige Erfahrungen hat, gewiß etwas ganz QAUußerordentliches, daß alles in jo guter Ordnung ablief. Es ſchien, jedem Zufchauer wäre fein Platz ange- wiefen, von dem er nicht weichen follte. Daß diefes den Sulzifchen Polizei- anftalten Ehre mache, ift außer Zweifel.

Hannikels Urteil war dadurch verfchärft, daß er dem Hinrichten der übrigen zufehen follte. Zu dem Ende war ein hölzerner Lehnftuhl auf dem Mafant angebracht, in welchen er gefegt ward. Jeder andere würde bei jo einem Speftafel nicht fehr fürmigig gemwefen fein und würde feine Augen lieber gefchloffen oder an die Erde geheftet, als zwei Befreundete und einen Bruder haben aufhangen fehen wollen. Allein Hannikel dachte anders. Er wollte zeigen, daß er nicht bloß bei Rauben und Morden, fondern auch beim Sterben Chef der Bande fein fünne. Ohne fich im mindeften zu entfegen, ſah er der Erefution nicht nur auf das DBeherztefte zu, ſondern er war es auch, der fich berufen fühlte, den andern Mut und Standhaftigfeit zuzufprechen. Bei feinem Bruder Wenzel zeichnete er fich vorzüglich mit feinen Zufprüchen und Aufmunterungen aus, welches um fo mehr zu be- wundern, da doch andere Menfchen insgemein um fo niedergejchlagener werden, je näher ein Elender an ihr Blut reihe. Als Duli die Leiter beftieg, fing Hannikel laut zu fingen an. Dieſes mußte bei den Zufchauern natürlicherweife verfchiedene Eindrücde machen, und weil ich nicht zweifle, daß es auch Sr. Herzogl. Durchlaucht feltfam vorfommen wird, fo nehme ich mir die Freiheit, über die Sache einiges Licht zu verbreiten. Hannikel brachte einen beinahe unverföhnlichen Haß gegen alles, was reformiert hieß, mit fich in die 3 legten Tage feines Lebens. Vorzüglich haßte er die evangelifchen Geiftlichen, und er glaubte, einen evangelifchen Pfarrer zu beftehlen ſei ebenfo erlaubt und gottgefällig ald wenn man einem Juden das Geinige wegnahm. Nach allangewandter Mühe konnte ich nie heraus- bringen, durch wen er zu diefen niederträchtigen und verabjcheuungswürdigen Gefinnungen verleitet worden fei. Indeſſen hatte diefer Haß fo tiefe Wurzeln in feinem Herzen gefaßt, daß es mir gleiche Mühe koftete, ihn von der Schuldigkeit, die evangelifchen Geiftlichen zu lieben und ihnen wohl zu wollen, zu überzeugen, als ihn zu bereden, daß auch der Hebräer unfer Nächfter fei. Sein Mißtrauen war fehr groß gegen die Evangelifchen, und ich glaube, daß, wenn ihm vor diefer Belehrung ein proteftantifcher Geiftliher im Tone eines Lehrers gefagt hätte, e8 gebe einen Gott, er eben darum ein AUtheift geworden wäre, aus Furcht, er möchte ein Reger werden, wenn er den Evangelifchen was glaubte. Diefe Denkart wurde nun freilich nach Kräften verbeflert, und fagte er mir, mancher oder wahr- fcheinlicherweife alle feine Diebftähle würden unterblieben fein, wenn er das alles vorhin fo eingefehen hätte. Uber wer ift ftark genug, einem Menfchen ein in der erften Jugend fchon eingeflößte® Vorurteil in einer fo kurzen Zeit ganz zu benehmen? Und wer hat auch bei dem beften Willen 'die Kraft, fi) in eben diefer Zeit ganz davon loszumachen? „Ich weiß nun wohl,“ fagte er weiter, „daß ich alle Menfchen, fie mögen fein, wer fie

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wollen, wegen Gott lieben muß; auch reuet es mich, daß ich mich wider dieſes Gebot fo fehr verfehlt habe, aber ich weiß nicht, wie mir ift; ich fann ein- für allemal mich nicht zwingen, mir von Evangelifchen viel zu- fprechen zu laflen. Es gefchieht dies nicht mehr aus Haß, fondern ich fürchte auf einmal wieder verwirrt zu werden, und dann möchte vielleicht nichts Gutes herauskommen.“ Ich wies ihn zum Beten und anderen goft- feligen Hebungen an. „Uber,“ widerfegte er, „wenn man mir fehr viel fagen und ich merfen follte, daß ich aus meiner Faflung fommen möchte, was ift dann zu thun?“ Hier war guter Rat teuer, denn ich war über diefen Punkt bereits ganz erfchöpft. „Es fällt mir was bei,” fuhr er fort, „was ich thun will, wenn es auf das Aeußerfte anfommen foll.“ „Und was dann?” „Sobald ich merke, daß mein Mißtrauen gegen die Zufprüche der evangelifchen Geiftlihen aufwachen follte, fo will ich anfangen laut zu fingen.“ „Und welche Lieder?” „Ich weiß eins von der Mutter Gottes von Einfiedeln und eins vom hl. Wendelin.“ Died war mit meinem Wiffen Hannifels ganzer mufitalifcher Vorrat. Was war zu thun? In der Hoffnung, daß ihm das Singen wohl von felbft vergehen würde, wenn die Sache anfing, recht ernfthaft zu werden, fchwieg ich und dachte, wenn es auch gefchehen follte, fo würden vernünftige Menfchen (denn die unverftändigen fommen bei derlei Anläffen ohnehin nie in Anfchlag) fein Unternehmen aus chriftlicher Liebe zu entjchuldigen wiffen. Mir war es genug, zu wiflen, daß es eigent- lich ein Hilfsmittel wider eine eingeftandene Schwachheit wäre, die abzu- legen er nicht Kraft genug hätte.

Indeffen kam die Reihe an Hannifel. Man fagte mir, er habe fich ausgebeten, man möchte ihn ungebunden die Leiter befteigen laſſen. Ver— mutlich war died gegen Handwerksgebrauch, und daher auch abgefchlagen. Ich ftund der Leiter gerade gegenüber: Es war verabredet, daß, fobald er mich fähe, er nochmal Reue über feine Sünden erweden follte, wo ich ihm auch die Losfprechung zum legtenmale erteilen würde. Beides gefchah durch bewußte Zeichen. Raum war er an der Leiter ein wenig in die Höhe ge- bracht, fing er für alle Zufchauer vernehmlich an: „Ich danke dem gnädigften Landesvater, Ihro Durchlaucht dem Herzog für die gnädigfte und gerechte Strafe. Sobald ich vor Gott fomme, will ich für ihn beten. Ich bedanke mich bei der Obrigkeit und dem ganzen Lande Württemberg für alles, was man mir und den meinigen Gutes getan. Ich bitte alle Menfchen, die ich beleidigt habe, um Gotte8 Willen um Verzeihung. Ich danke meiner Mutter für jeden Tropfen Milch, den fie mir gereicht hat; fie ift an meinem Elende gar nicht fchuldig. Ich bitte alle Fatholifchen Chriften, daß fie ein Vater- unſer für mich beten, und die es vermögen, eine hi. Meffe für mich lefen lafjen wollen. D liebe Mutter Gotted von Maria Einfiedeln, fteh mir bei; o Hl. Schugengel und alle Heiligen verlaffet mich nicht. O Jeſus fei mir gnädig, o Jeſus fei mir barmher“ ber Strick um den Hals und Hannikel war tot.

Gott der Barmherzigkeit, der du dein verirrtes Gefhöpf fo gnäbdig auf die Wege der Neue und der Buße geleitet haft, nimm an den heißeften Dank aus dem Herzen deines Rnechtes, den du ald Werkzeug deiner Vater- liebe zu verfündigen erwählet haft! Segne den Herzog Karl und fein Land

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mit deinem beften Segen und laß die Gerechtigkeit, die du durch Menfhen an —— haſt ausüben laſſen, dem Sünder zum warnenden Schrecken ſein. men.

So betete ich, als Hannikel verblichen war, und fo werde ich Zeit meines Lebens beten. Alle Tage will ich den Gott preifen, der mir (jo hoffe ich zuvertrauensvoll) dieſe Seele gefchentet hat. Alle Tage werde ich mein Herz und meine Stimme zu dem Himmel erheben, um auf das teure Haupt Herzog Karls, der mir diefe Seele zu gewinnen Gelegenheit geftattet und die guten Bürger feiner Staaten den reichlichften Segen zu erflehen, und nie werde ich unterlaffen zu bitten, daß Gott doch alle, die etwa auf Hannikels Wegen einhergehen, retten möge.

Daß Hannikel bei feiner legten Anrede auch meiner ſich noch erinnert, mir gedankt und mich feinen Vater genannt bat, ift für mich unausfprechlich rührend. Mitunter redete er auch die auf den Wägen befindlichen Arreftanten in der Zigeunerfprache an. Einige der Zufchauer, die doch von der Sprache nicht eine Silbe verftanden, behaupteten im vollen Ernft, er babe fie zur Rache gegen Württemberg aufgefordert und ihnen gefagt, fie follen fobald fie fönnten, Sulz, Hohenheim und Stuttgart in Brand fteden. Ich habe eben gefagt, daß ich die Sprache diefer Leute wenigftens infoweit verftehen gelernt, daß ich den Hauptfinn ihrer Nedefäge begriff. Hier kann ich bei Ehre und Gewiſſen verfichern, daß Hannifel nichts fo gewiſſenloſes fagte, fondern er ermahnte feine Leute nur, fie follten fi an ihm fpiegeln, follen fromm und goftesfürchtig werden, follen die Strafen, die allenfalld über fie verhängt würden, zur Abbüßung ihrer Sünden geduldig ertragen, und follen für feine arme Seele beten. Darf ich Hiebei nicht den Wunfch äußern, daß die Menfchen doch einmal aufhören möchten, ihren Mitmenfchen fo lieblos zu beurteilen!

Die Handlung wurde von Herrn Helfer Grundler in Sulz mit einer Rede befchloffen, über die ich für meine Perfon nichts zu erinnern weiß, als daß fie mir wegen ihres erbaulichen Inhalts und ſchönen Vortrags lieber noch länger gedauert hätte.

Sch Schließe Hier diefe Erzählung, ohne einiges Urteil über Hannifel zu fällen. Die Tatfachen, die ich erzählt habe und deren Ähnliche ich noch viele zu erzählen wüßte, müflen die Fragen entfcheiden, wer Hannikel war, was er am Ende gewefen ift, welches der Hauptgrund feines verdorbenen Herzens geworden. Will man diefes herauszufuchen die Mühe nicht über fich nehmen, fo glaube ich doch meinen Hauptendzweck erreicht zu haben, der darin befteht, Daß der durchlauchtigfte Herzog Württembergs über Hannikels Todes- unterfchrift, die diefer felbft für fo gerecht erfannt und mit einem fo ftandhaft hriftlihen Tod ertragen bat, gänzlich beruhigt fein könne.

CERFERTR FR ER FR CH ER FR FR ei Fe Fi FR FE ERTER

Brief Friedrich Theodor Viſchers an Joachim Raff.

Da es uns noch nicht möglich ift, mit unfrer großen Bifcher- Publikation fortzufahren, freuen wir uns, unfern Lefern bier einen einzelnen Brief Viſchers bieten zu können, der ihnen, wie alles was von diefer Geite fommt, von befonderem Intereffe fein wird. Raff hatte feine 1854 erfchienene Schrift „Die Wagnerfrage” an Bifcher gefandt; auf diefe Zufendung erhielt er folgende Antwort:

Tübingen, den 12. Sanuar 1855.

Verehrteſter Herr!

Sie werben mich für fehr undankbar halten, daß ich auf Ihre freund- liche Zufendung fo lange nichts von mir habe hören laffen. Ich könnte mich wohl mit einem Gebirge älterer Rorrefpondenzpflichten entfchuldigen, der fich neben meinen ftet8 drängenden Arbeiten angehäuft hat; in der Tat aber hätte ich ed meinem Gewiſſen leicht abgewonnen, nicht der Chronologie der Brieffehulden, fondern der Neigung zu folgen und Ihnen recht frifch und warm meinen Dank zu jagen, wenn nur nicht ein tiefer figender Hafen da wäre: einem Manne, der in feinen Schriften fo freund- lich meiner gedenft, der mir die große Aufmerkfamfeit erzeigt, mir diefe felbft zuzufenden, möchte ich mehr entgegenbringen, ald ein Wort des Dankes, Verftändnis, geiftigen Austaufch, Ideenverkehr. Allein um dies zu können, müßte ich mehr von der Muſik wiffen, als ich weiß; ich müßte fie nicht nur lebendig fühlen, wie ich fie allerdings zu fühlen glaube, ich müßte nicht nur über ihr Wefen im allgemeinen gedacht haben, fondern ich müßte ihre konkreten technifchen Bedingungen wenigftens foweit fennen, wie fie derjenige fennt, der ein Inftrument gelernt hat, was in meiner Erziehung leider verfäumt und nicht mehr nachzuholen if. So habe ich denn auch meine Anſicht in der R. Wagnerfchen Frage, allein ich kann in feine Erörterung, feine Debatte darüber eintreten. Ich halte den Sag für unumftößlich, daß es feine wahre Verbindung zweier oder mehrerer Künfte gibt, worin nicht Eine entfchieden herrſcht; nur fcheint Wagner zu verfennen, daß jede Kunſt das Ganze der Welt in ihrer Weife hat und darftellt und daher, wo fie ſich mit anderen verfchwiftert, doch im Zentrum fteht und ihr Weltbild in ihrer Weife gibt; mir feheint daher

46 Brief Friedrich Theodor Vifchers an Zoachim Raff.

in der Oper nach wie vor der Tert nur der Rahmen und Stab zu fein, woran fi) die Mufit entfaltet und nur gegen ein Uebermaß ihres Wuchernd halte ich diefen Kampf für berechtigt. Allein dem Kenner der Muſik gegenüber kann ich diefe Ueberzeugung nicht durchführen, weil ich fein Bild von dem Stil und der gefamten Geftaltung der Formen babe, die ſich aus jener Neuerung ergeben fol. Daher kann ich Ihnen denn nur fagen, daß ich in Ihren Schriften nicht nur im einzelnen viel des Belehrenden und Anregenden gefunden, fondern auch erfannt habe, wie hier einer jener Schritte getan ift, für die denfende Durchdringung der ein- zelnen Runft und ihrer Entwicdlungen den Grund in der Tiefe der Philo- ſophie und der Philofophie der Gefchichte zu legen. Sie werden fich ein großes und zeitgemäßes Verdienſt erwerben, wenn Sie an dieſer Ein- führung der philofophifchen Idee in ein Feld, das verhältnismäßig fo lange brach gelegen hat, in die Wiffenfchaft der Muſik fortarbeiten. Ich fühle mit Schmerz, daß ich im Mittelpunfte defien, um was es fich eigentlich handelt, in der feharfen und feften Zufammenfaflung des fon- freten technifchen Körpers diefer Kunſt mit ihrem innerften Guß und Empfindungsgehalt mich nicht berufen halten darf, mitzufprechen. Ich fann mich nur damit beruhigen, daß ich auf den anderen Gebieten, die ich tiefer in ihr Detail zu verfolgen vermag, mit um fo größerer An— ftrengung leifte, was in meinen Kräften ſteht. Zum Schluß bitte ich Gie, meinen Dank für fo viel freundliche Aufmerkfamkeit, obwohl er von fo dürftigen Reflerionen begleitet ift, doch für einen innigen und berzlichen zu nehmen. Mit vorzüglicher Hochachtung Fr. Vifcher.

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Un jedem Morgen früh, wenn dich Der erfte Strahl der Sonne füßt, Möcht' in dein Haus ich heimlich gehn, Ganz ftill an deinem Bette ftehn.

Und wenn dein Blid, fchlaftrunfen noch Und fragend fich zu mir erhebt,

Will ich mich fehnell zur Seite drehn Und wieder ftill nach Haufe gehn.

Vielleicht fommt einmal doch ein Tag Da feine Frag’ in deinem Blick Da du mich leife lächelnd küßt Ach, wenn ich diefen Tag nur wüßt.

Freiburg i. B. Heinrih Simon. ERERER

Antwort auf eine Zufhrift)).

Bon Hans Thoma in Karlsruhe.

Es ift mir eine rechte Freude, daß mein „Schweigen“ über die Scheußlichkeiten der Tierquälereien, deren Zeuge ich zufällig gerade einft in Tivoli fein mußte, eine fo warme Stimme hervorgerufen hat, die auch die „Süddeutſchen Monatshefte” dazu auffordert, daß fie für den Schuß der Tiere gelegentlich einträten.

Die beften Beftrebungen, die wir Bewohner der Erde haben künnen, begründen fich doch in dem Gefühle des Schuges, den wir und gegenfeitig geben wollen in der Achtung vor allem Leben.

Und die Tiere, diefe ftummen Mitbewohner unferer Erde, ftehen unter dem befonderen Schuge des Menfchen; es ift mir, als ob der Menfch zum Bormund der Tiere beftellt fei, Daß er wenn er edel, hilfreich und gut fein will, geradezu dazu berufen fein dürfte, durch fein Verhältnis zur Tierfeele, derjelben etwas wie Erlöfung zu bringen, daß er berufen fein dürfte zu verftehen, was fo oft aus dem Auge eines Tieres ihm wie eine bange Stage entgegenblidt.

So ein Tierauge hat für den aufmerffamen Beobachter gar oft eine magifche Gewalt, als ob da eine Geele wäre, die uns fragt die ebenfo nah dem Zwecke des Daſeins fragt, inbrünftig fragen würde, wie wir Menfchen es von jeher tun müflen, wenn es die Gabe der Sprache hätte.

Diefe bei dem Menfchen fo klar ausgefprochene Frage ift, wenn fie auch nicht zur Erklärung unferes Dafeins führt, doch fehon eine Art von Erlöfung aus dumpfem Drude dies fragen können, fragen dürfen, ift —* der Menſchheit beſter Teil ganz ſtumm bleibt es ja nie auf unſere

agen.

Wenn ſo ein Tierauge nun fragend zu uns aufſieht, ſo ſollen wir ihm doch wenigſtens antworten können: Ich weiß ja auch nichts, aber ich will gut fein mit dir, du mein Mitwanderer durch die Zeit. Dies ver- ftehen die Tiere mehr als wir ung denken.

Wir dürfen ung freilich als die Herren über die Tiere fühlen, wir dürfen fie auch töten zu unferem Nugen und auch dort wo die Tüde des

1) Siehe Zuniheft Seite 513.

48 Hans Thoma: Antwort auf eine Zufchrift.

Egoismuffes, der mit aller Naturgemwalt über die Tiere herrfcht, und ge- fährlich werden will aber wir wollen fie nur nicht quälen.

Man darf fehon hie und da darauf hinweifen, daß der Reſpekt vor der Tierfeele, vor allem Lebendigen, in dem Menfchen bewußt erhalten bleibe, dadurch würde gewiß auch der Reſpekt vor der Menfchenfeele wachen vor den Rechten, die fie einnehmen darf; fo daß wir deren Göttlichleit das Geheimnis jeder armen Geele, auch wenn fie nach unferer Anſicht unentwidelt ift, anerfennen.

E83 könnte erzieherifch wirken, wenn die Menfchen etwas mehr in der Tierfeele lefen lernten von da aus ift ja dann nicht mehr weit zur Achtung vor der Kindesfeele, dann würden auch allgemeiner wieder die Eltern ihre Kinder ehren lernen auf daß es ihnen gut gehe auf Erden. Daß fie nicht unbedingten Dank von ihnen verlangen, dafür daß fie diefelben erzeugen mußten nicht einmal für das Erziehben denn all dies fteht über dem Perfönlichen. Die Eltern werben die Seele ihrer Kinder achten und fo das Geheimnis ihres Urfprungs für heilig erflären. Ueber unferer Willfür und meinetwegen Schwäche waltet ja doch ein ewiges Gefes, welches über ung beftimmt, welches alles Leben hervorbringt; das ewige Werden! Der un- vergängliche Ruf: „Es werde Licht!“

Die Süddeutfhen Monatshefte werden gewiß gerne den Stimmen, die für Tierfehug eintreten, Raum gewähren, vielleicht auch dem Menfchen- ſchutze obgleich das Eintreten für legtern hie und da riskiert ift, da wird es fchon deshalb fomplizierter, weil Gleiches gegen Gleichberechtigtes ſteht, und weil da der Rampf beginnt, der in dem Dafein ja auch notwendig zu fein fcheint.

Uebrigens war ich inzwifchen, feit ich meine Reifeerinnerungen nieder- gefchrieben habe, wieder in Italien, und da ich Tivoli und damit Italien unfagbarer Tierquälerei, von der ich zufällig Zeuge fein mußte, befchuldigt babe, fo muß ich nun auch gerecht fein, denn ich ſah jegt auch dort eine PVerftändnisgemeinfchaft des geplagten Menfchen mit feinen Leidensgefährten, dem Haustier, die ganz rührend if. So fah ih am Gardafee einen Bauer im Weinberg arbeiten, fein Efel weidete nebenan am Grashang da machte er eine Paufe und fam auf den Ejel zu, der Ejel ftredte langhalfig den Kopf ihm entgegen und der Bauer umarmte ihn zärtlich. Der geplagte Menfch und das geplagte Tier! Wie haben fie fich bier fo guf verftanden und in diefem PVerftändnis gefreut! Der nervöfe Städter tut vielleicht doch nicht ganz recht, wenn er fo furzer Hand aburteilt, wenn er die Plage fieht, die das Tier betrifft fo auf der Reife, die er ja nur macht, um allerlei angenehme Eindrüde zu fammeln. Wo er fo gerne alles vergißt, was ſchwer und dunfel auch über feinem Haufe und über feinem Haupte ſchwebt.

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Das Produkt der Verhältniffe.

Bon Friedrih Naumann in Schöneberg.

Als die Aufklärung eined Tages zu dem Menfchen fam, fagte fie zu ihm: „Warte noch ein Feines Weilchen und du wirft alles verftehen! Damit du aber fchon jegt glaubft, daß es möglich ift, alles zu verftehen, fo teile ich dir vorläufig mit, daß alles in der Welt auf natürlichem Wege zugeht und daß wir deshalb feinen Gott und feine Wundergefchichten mehr brauchen. Auf Grund diefer Mitteilung wirft du imftande fein, dein eigenes Leben ohne alle Myſtik zu überfchauen und deines Glückes Schmied zu werden.“

Der Menfch aber ſprach zur Aufllärung: „Offen geftanden waren es weniger die Wunder der Religion, die mich bisher geftört haben, denn ich finde nicht, daß es praftifch fehr viel ausmacht, ob ich fie glaube oder nicht, fondern das Willfürliche und Unberechenbare im menfchlichen Leben jelber ift mein Kummer. Ich bin abhängig von lauter Dingen, die ich nicht beherrfchen kann, von einer Politik, die über meinem Kopfe gemacht wird, von Erfindungen, die mich ändern, ohne daß ich ed will, von Geld- mächten, die mit mir Ball fpielen, von Zeitungsfchreibern, die mir Gedanken in den Kopf fegen, die ich nicht Eontrollieren kann. Es fcheint mir, daß es ganz gleich ift, ob ich zwifchen Gott, Teufel, Engeln und Heiligen hin und ber geworfen werde, oder zwifchen allen diefen Mächten, die für mich geradefo myftifch find, wie jene.“

Da erbofte fich die Aufllärung über diefe Höhe des Unverftandes und fprah: „Was mwillft du eigentlih? Abhängig bift Du nafürlic) auf die eine und die andere Weife, aber e8 ift Doch ein großer Vorzug, das Pro- duft der Verhältniffe zu fein und nicht das Produkt Gottes, denn bei dem Wort Produkt der Verhältniffe fann man ſich doch wenigſtens etwas be- ftimmtes denken, während Gott ein Begriff ift, der umfo unflarer wird, je genauer man ihn betrachtet.“

Der Menfch aber fügte fich der überragenden Weisheit und fagte: „Alſo bin ich das Produkt der Verhältniffe. Sage mir aber, welche Ver— hältniffe dabei in Betracht kommen!“

Da fing die Aufklärung eine lange, lange Rede an, aus der wir nur Bruchſtücke hören konnten. Diefe geben wir wieder, fo gut es uns eben gelingen mag:

Süpddeutfche Monatshefte. 11,7. 4

50 Friedrid Naumann: Das Produft der Berhältniffe.

. Wenn Menfchen auf einem Boden wohnen müfjen, wo das Waſſer ſehr wenig Kalk enthält, fo werden alle Folgen des Kalkmangels bei ihnen auftreten. Sie werden leicht rhachitifche Rinder haben, ſchwache Knochen und fehlechte Zähne befigen. Nichts ift törichter als folche Dinge auf Gott zurüdzuführen. Kalt! Phosphor! Natrium! Schwefel! Magnefial .... Menfchen, die auf lehmigem Boden wohnen find unreinlicher als folche, die auf ſchwarzer Erde figen. Man kann die geologifche Karte hernehmen und aus ihr die Sauberkeit der Bevölkerung ablefen. Befonders gefährlich ift Trias. Haben Gie ſich die geologifche Karte von Bayern ſchon ein- mal angefehben? Die Menfchen in Dberbayern müſſen anders fein als J Glaubſt du etwa, die Größe der Bauerngüter ſei zufällig? Auch bier iſt die bayeriſche Karte zu empfehlen. Die größeren landwirt⸗ ſchaftlichen Betriebe liegen dort, wo Tertiär- und YUuartärformationen an- gegeben find, ſchon die Juraformation ift Heiner in der Betriebsform und im Triasgebiet wird der Durchfchnitt noch Heiner... . Iſt es etwa zufällig, welche Gebiete dicht bevölkert find und welche nicht? Die Menfchheit fließt nach gemwiffen Stellen, wie ſich das Waſſer an beftimmten Orten fammelt. Es regnet überall, aber bier fließt der Regen weg, da fließt er zu. Und ein Menfch, der in dicht bevölferter Gegend wohnt, ift fchon deshalb ein anderer Menfch, ald wenn ee ..... Regieren wir die Rohle oder regiert die Rohle ung? Die Kohle befiehlt den Menfchen, wo fie ſich anhäufen follen. Wer auf der Kohle fist, kann fi) vom ganzen Lande Steuern zahlen laſſen. .... Natürlich iſt das Geſchichtliche ebenſo wichtig. Man ſieht es an den Geſichtern und Häuſern, wo die Römer waren, wo die Franzoſen waren. Aus der Vergangenheit wächſt der Einzelmenſch heraus, wie das Moos aus dem Strohdach. Schon die Konfeſſion ift nichts frei- williges. Wir werden fozufagen mit fertigen Befenntniffen geboren. Es gibt Landftriche, deren geiftige Geologie fehr maffiv ift. Ein einzelner windet fich fchließlich Io8, aber die Menge ift Produkt..... .

Sp redete die Aufklärung und der Menfch wurde ganz ftill wie Zemand, dem ein Jugendtraum zerfließt: „Ich dachte, die Aufklärung fei die Freiheit, deshalb habe ich ihr mein Ohr öffnen wollen. Sage mir, hat nicht die Aufflärung verfprochen, die Freiheit bringen zu wollen? Alles aber, was ich jest höre, ift der Zwang.“

Die Aufklärung aber antwortete: „Was ift Freiheit? Wir haben euch frei gemacht vom Joch der abfoluten Landesherren, vom Drud der Gutsherrfchaften, vom Zwang der Priefter und vom Bann der Zünfte. Iſt das nicht genug? Was wollt ihr noch mehr? Geid ihr unerfättlich, ewig durftig?“

Der Menſch blieb ftill und fagte gar nichts. Es war ein dumpfes Uebelwollen in feinen Zügen. Er trogte der Aufklärung und dachte, fie fei nicht befjer als vor Urzeiten die Schlange im Paradied. Da fing die Auf- Härung an freundlich mit ihm zu reden: „Sei fein Tor! Ich will dir alles fagen. Es ift mir felber fehr merkwürdig gegangen. Ich habe dich nicht betrogen, denn ich habe in meiner Jugend felber alles das geglaubt, was ich euch gejagt habe. Ich habe viel leiden müſſen, du kannſt deffen ficher fein, denn ich war trunfen in Hoffnung und habe die Bosheit der unbe-

Sriedrih Naumann: Das Produkt der Verhältniffe. 51

fannten Mächte unterfchägt. Das fage ich dir, damit du fiehft, daß ich es ehrlich mit dir meine. Ich dachte wirklich, daß die Freiheit fäme.“

ind wieder war es eine Zeitlang ftill, nur war die Stille etwas anders als vorher, denn es rührte den Menfchen, daß er die Aufklärung feufzen hörte. Das war ihm etwas Neues. Er kannte fie bisher nur als eine marmorne Macht. Nun ſah er, daß auch fie menfchlich war. Er dachte dabei an das Wort aus der Offenbarung des Johannes, wo gefchrieben fteht: Ich fiel vor ihn zu feinen Füßen, ihn anzubeten, er aber fprach zu mir: Tue das nicht, denn ich bin dein Mitknecht und Bruder! And dieſe Erinnerung an ein Bibelmort voll Menfchlichkeit war ihm zu diefer Stunde fehr tröftlih. Es war, ald ob er mit einem Male für die Aufflärung etwas völlig anderes empfände ald vorher. Sie war nicht mit Abficht auf feine Täufchung ausgegangen. Das ändert die ganze Sache. Mit einer gewiffen Weichheit frug er, als fcheue er fich felber zu fragen: „Was ift ed, was du die Bosheit der unbefannten Mächte genannt haft?“

„Es ift fchwer dir zu antworten,“ fagte die Aufflärung, „denn ich felbft fuche es erft zu ergründen. Sch will aber verfuchen dir zu befchreiben, was ich meine. Es gibt ein Schickſal, das ung nicht in einfachen Linien gehen läßt. Als ich noch jung war, dachte ich, daß es genügt, den alten Zwang abzuwerfen, um ohne Zwang zu fein. Ich lief der Naturmiffen- Ihaft und der Gefchichtsforfchung wie ein jubelndes Kind in die Arme, weil fie gegenüber meinem alten Glauben Licht und Wahrheit brachten. Sie hoben mich hoch und ich fühlte mich glücklich und wußte nicht, daß ih nun von ihnen getragen wurde, wohin fie wollten und nicht wohin ich wollte. Ich lachte ihnen ind Geficht und las dort nur Güte und Früb- fing. Erft langjam fah ich, daß auch diefe Geficher Falten haben. Als ich e8 merfte, fing ich an ſcheu zu werden, aber da fprachen die Gefichter: Was bift du fo fcheu, fei lieb, fei felig, wir tragen dich jal Du weißt gar nicht, was es heißt, fo getragen zu werden! Ich will es dir an Einzel- heiten deutlich machen. Wir dachten früher, die freie Konkurrenz fei die Freiheit. Ich weiß noch, wie ich von ihr gefungen habe wie von einer Heilquelle für alle Krankheiten. Wenn die Handwerker mich dabei ftören wollten, habe ich über fie gelacht. Und es war etwas großes in diefer Hoffnung. Ich möchte fie um keinen Preis aus meinem Leben ftreichen. Weißt du noch, wie es die Menfchen eleftrifiert hat, fich wirtfchaftlich frei zu glauben? Gibt e8 etwas herrlicheres als diefe Elektrifierung der Tüchtigen? Was maht es aus, wenn die Kraftlofen fehimpfen? Sch brauchte orbent- lich diefe Muſik der Zertretenen um froh zu fein, denn ich fah im Geifte, wie im Laufe der Zeit alle füchtig und frei werden würden. Tüchtig find auch viele geworden, aber frei find fie nicht. Du weißt, wie alled wieder auf neue Zünfte zuftrebt. Sind die Verbände der Unternehmer und Ar— beiter nicht wieder Ketten des einzelnen? Das ift ed, was ich einft nicht wußte. Ich dachte, der Menfch fei ein Einzelwefen. Das war mein Glüd und mein Irrtum. Deshalb werde ich heute verftoßen, viel mehr verftoßen als ich verdiene.”

„Die wirtfchaftliche Freiheit des Einzelnen war aber nur ein Teil eurer Freiheitslehre.“

52 Sriedrih Naumann: Das Produkt der Verhältniffe.

„3a, nur ein Teil und wir mußten fogar damals noch gar nicht, ein wie wefentlicher Teil, denn wir wußten nicht, daß der Durft nach Freiheit der Weltanfchauung mit diefer wirtfchaftlichen Freiheitsbewegung zufammen- hing. Jetzt erft weiß ich, daß Menfchen, die in feiten wirtfchaftlichen Verbänden ftehen, auch fefte Weltanfchauungen haben wollen. Das, was Naturwiffenfchaft und Gefchichte bieten, ift nur Material zu diefen Welt- anfchauungen und je nachdem wir Zwang oder Freiheit brauchen, fuchen und finden wir beides in den Bibliothefen und Schulen. Es gibt feine abfolute Wiffenfchaft, die allen immer das gleiche zu fagen hätte. Indem wir vom Freiheitätraum der Aufflärung in eine Zeit neuer Gebundenheiten bineinglitten, wurden wir bellfehend für die Macht der Notwendigkeiten in Natur und Geſchichte. Das ift mein Schickſal gemwefen.“

„And alfo heute haft du nichts als die Lehre vom Produkt der Ber- bältniffe. Du haft nichts anderes übrig behalten von deiner hellen Jugend als diefe kalte Aufflärung: Du mußt fein, was du bift?! Iſt das dein Glaube, dein Erfag der Religion, dein Troft für Leben und Sterben? Wenn das alles ift, mas du haft, dann wundere dich nicht, wenn du mich morgen wieder bei den Prieftern findeft! Sch will lieber etwas Falfches glauben ald gar nichts.“

„Beh zu den Prieftern, wenn du es nicht laffen fannft! Geh!“

„Aber ich tue ed ungern.“

„Das hilft nichts; mancher Menfch verträgt kein Hochgebirge. Geh!”

Und der Menfch ging und die Aufklärung blieb allein, und es war ihr, als müßte fie ihr ganzes Leben nochmals an fich vorüberziehen laffen vom 18. Sahrhundert an bi heute. Und es war ihr ein Rätfel, daß fie felbft es war, die fich ihr darftellte.e Was bin ich, die man die Auf: Härung nennt? Bin ic eine Stimmung oder ein Wiffen, ein Wollen oder eine Lehre, bin ich nur etwas Negatives gegenüber den feften Traditionen der Vergangenheit oder bin ich neuer Glaube? Und es wurde der Auf- Härung das fchwerfte Kreuz auferlegt, das es gibt, nämlich fich felbft nicht zu kennen aber es zu willen, daß diefes Erfennen fehlt. Und fie dachte an alle Profefioren, die fie fennt, und es ſchien ihr, als fähe fie die Möven auf und ab in wilden Kreifen um ihr Schiff herumfliegen. Eine Möwe flog aufwärts, eine abwärts, eine rechts, eine links und es war ein Glüd, ihr Schwirren und Flattern zu fehen, aber Klarheit brachte es nicht. Da fing fie an zu verzweifeln und wußte nur noch das eine: auch ich bin ein Produkt von DVerhältniffen. Und fie hätte vor fich felbft fliehen mögen, wie der Menfch vor ihr floh. So müde war fie früher noch nie. Gie dachte an Pilatus und an fein Wort: was ift Wahrheit?

Da war plöglich der Menfch wieder da. Er ftand und wartete. Endlich fagte fie zu ihm: „Willft du noch etwas?“

„Sa, ich will dich!“

„Das wundert mich, denn mich will Niemand, ich bin ja tot.“

„Sch will dich!”

„Was mwillft du von mir?“

„Daß du wieder an dich felber glaubft; weiter gar nichts.“

„Blaubft du denn wieder an mich?“

Sriedrih Naumann: Das Produkt der Verhältniffe. 53

„Ich kann nicht anders. Es ift mein Zwang, daß ich ed muß. Ich kann nicht wieder zurüd in das alte Weſen. Du weißt, daß ich von dir gegangen bin, als ich aber drüben wieder ankam, ſchien es mir, als fei in- zwifchen drüben alles verändert. Was ich früher für edlen Stein gehalten babe, fommt mir wie Gips und Mörtel vor. Du bift mir in aller deiner Berzweiflung lieber ald der mürbe Pomp, den ich wieder auffuchen wollte. Ich komme zu dir, weil du verzweifelt bift. Wir müfjen und gegenfeitig helfen, denn wir find trog aller Verzweiflung Bürger der Zeiten, die da fommen, und nicht derer, die da waren.”

„Was haft du in der Hand? Du haft etwas mitgebracht.”

„Es ift ein Stein, den ich drüben fand, er war berrenlos, ich konnte ihn nehmen.“

„Die Bauleute werden ihn verworfen haben.“

„Es fteht etwas auf ihm gefchrieben.“

. wer fein Leben erhalten will, der wird es verlieren... . .! Was heißt dag für ung?“

„Es heißt, daß wir von vorn anfangen müffen. Wir dachten die fertige Wahrheit zu haben, da befamen wir die fertige Wahrheit unferer voll- fommenen Rnechtfchaft. Diefe ift e8, unter der wir zufammengebrochen find. Wir hörten auf, Wollende zu fein und wurden fonfervativ in ung felber. Wir dachten, wir feien ſchon fertig. Du haft dich felber nicht mehr gefannt, ich mich auch nicht. Wir wurden Produkt, weil wir aufhörten Produzenten zu fein und immer neue Dinge zu wollen. Lebendig bleiben aber nur die, die ftärfer fein wollen ald die Berhältniffe, felbft wenn fie Darüber fterben müßten. Daß ift der Kern der Aufklärung.“

„Das war er einmal.“

„Das wird er wieder werben.“

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Rundidhau.

Soft Seyfried. Ein Programm für die Süddeutfchen.')

Wie hoch empor vermagft bu Das Leben zu führen.

Man weiß, daß nach der Gründung bes doch von allen Stämmen gemein- fam erfehnten und gemeinfam errungenen Reiches in Ultdeutfchland die Dichtung ein Menfchenalter. lang fait völlig gefchiwiegen hat. Man mußte fich erft in zweierlei finden: darein, daß man nun nicht mehr fo unter ſich war, und darein, daß man plöglich mit Welthandelsvolt geworden war. Es ift, ald wäre in den Stürmen jener Zeit das alte Theater abgebrannt; die Literatur unmittelbar dar- nach fieht einem fchnell aufgezimmerten Nottheater ähnlich, und diefes zeitgemäß zu errichten, waren die nicht an eine hochentwickelte Voltskultur gebundenen öſt⸗ licheren Deutfchen fähiger. Modernfte Wiffenfchaft, modernftes Ausland, Sozialis- mus und Xrtiftentum um feiner felbft willen: alles was darnach ausſah, daß es neues Leben hergeben und ungebrauchte Kräfte wecken könnte, ift in diefer Periode unferes Schrifttums herangezogen worden; der Fortführung des Leberfommenen glaubte man entraten zu müffen, die neue Literatur glaubte man aus dem Boden ftampfen zu fönnen. Und fie „haben eine Königskunſt geträumt, fie die damals die Fahne erhoben“, fagt Flaifchlen von ihnen.

Aber wenn man nun binblict und fragt: wen nach dem Herzen eigentlich ift diefe ganze Literatur gefchrieben, welchem Teile unferes Volkes, fo fieht man: es ift etwas WUehnliches vorgegangen wie bei der beginnenden Imduftrialifierung einer Bauerngegend vorzugehen pflegt. Wer das meifte Geld in der Hand bat, wird zunächft für Lebensführung und Gefchmad maßgebend, der Bauernburfch verfucht mit dem Aufwand des „Fabriklers“ Schritt zu halten und verliert dabei zunächſt unfehlbar fich felber. So war der Kaufmann der zunächſt wichtigfte Teil des Volkes geworden, und die Dichter bemühten fich, dem Kaufmann ähnlich zu fein und ftimmten fi auf den Gefchmad des Kaufmanns, Wenn man be- denkt, daß die Ernfthafteren jener Schar, wie Arno Holz, eigentlich nie aufgefommen find, fo muß man annehmen, daß diefe Periode fo hat fein müffen wie fie geweſen ift, daß in unferem Millionenvolf ein Publitum das eine weniger oberflädhliche Literatur verlangt und zu tragen vermocht hätte, einfach nicht vorhanden war.

ı) Cäſar Flaifchlen: „Zoft Seyfried, ein Roman in Brief- und Tagebuch . blättern“. Bei Egon Fleifchel & Co. Berlin 1905. 2 Bde. Mit farbiger Wiedergabe bes Holafchnittes „Der Sieger“ von Peter Behrend. Geh. 6 MI.

Rundſchau. 55

Daß aber die Dichter einer ſo ungewöhnlichen, all unſerer Tradition wider⸗ ſprechenden Anpaſſung fähig waren, zeigt eben, daß es Dichter waren die nicht im Volkstum wurzelten, ſondern allenfalls in der „Geſellſchaft“ fo ſehr dieſe ſich anfangs geſträubt haben mag, „die Modernen“ als ihresgleichen anzuſehen das iſt, fürs heutige Deutſchland wenigſtens, derjenige Aſt am Baume des Volkes, auf dem ſelbſt lebenskräftige Triebe raſch abſterben, denn da iſt der Säfteumlauf in Anarchie; das ſchwärmt um Drei für Neuheidentum, um Vier für Ratholizis- mus, um Fünf für Zionismus oder Wilde und Beardsley; das bringt da und dort einmal eine wunderbar reiche und feltene Blüte des Menfchentums hervor, muß als Gejamtheit aber für unfähig angefeben werden Kultur und Kunft Rich- tung zu geben. Nicht Gefege von der Gefellfchaft empfangen gilt es, fondern ihr Gefege geben, fie durch die Größe unferer Kunſt und die Macht unferes Willens wieder dem Volke einordnen, deffen Gefamttultur wir als unfer größtes und als ein erreichbares Ziel im Auge haben.

Gegen die „moderne Bewegung“, der immerhin das refpeftable Ziel vor- geichwebt zu haben fcheint, daß wir literarifch Weltvolt müffen werden wollen, die ung jedenfalls die größte Leberfegungsliteratur gebracht bat die je ein Volt bejeffen, und die damit das doppelte Verdienft bat: uns eine Unmenge von viel- fältigftem Fremden nahe gebracht zu haben, an dem wir unfere eigene Art prüfen, unterſcheiden und bejtärten können, und zugleich: unfere Sprache zu unzähligen neuen Abwandlungen, Anpaffungen, Fähigkeiten gezwungen zu haben gegen diefe Bewegung bat fich die, noch weitaus furzlebigere, gewandt, die das ehr⸗ würdige Wort „Heimat“ auf der Fahne ſtehen hatte, kenntlich an einem da oder dort auffpringenden Funken des Gemüts, mehr aber daran, daß für fie nicht nur die großen ruffifchen und franzöfifchen Pſychologen umfonft gewefen waren, fon« dern auch die ffandinavifchen, und ebenfo umfonft all die Bemühung der un- mittelbar vorangehenden eigenen Literatur; Literatur nach dem Spruche „Bleibe im Lande“ u. f. w., Literatur, wie fie eines Volles, das auf allen Meeren fährt, unwürdig ift, Literatur nach dem Herzen „Mudermanns“, dieſes Mudermanns, der „zu Hunderten und Taufenden im ganzen Reich von Schwaben bis ins binterjte Pommern fist, in hundert Berufen und Aemtern, mit taufend Namen und Befugniffen, und haft und höhnt und hemmt und unterbindet alles was jung ift und höher möchte... ."! Provinzliteratur!

Und nun fieht man fachte, fachte Der oder Iener freilich ſcheint fchon berrlih den Weg zur Bielfchreiberei zu finden! füd- und weftdeutfche Jugend berauftommen, von ber fich etwas erwarten läßt, die Generation der Söhne derer von 1870. Droht nicht auch ihnen, was Webdelind unferer jungen Literatur vor« wirft: daß die Dichter zu literarifch find? Gie kommen nun wohl, man nimmt fie faft eher zu gut als zu fchlecht auf, und darum erft recht: haben fie Mut genug? Gind fie fihb nur über Ziel und Richtung Har genug? Iſt die wobhlüberlegte Dperationsbafis vorhanden, die auch dem Schwächeren ermöglicht fih zum Heile fürs Ganze zu betätigen? Wie leicht gerät auch ein Nicht. ehrloſer auf einen Geitenweg ab und kommt nicht zum Heere zurüd. Denn wo es fih nicht um ganz ſtarke Menfchen handelt, ift die Handwerksfertigkeit jo gewiß das Grab der Künftlerfchaft wie die Gewohnheit das Grab der Liebe. Daß nun Flaifchlens Joſt Seyfried in diefem Augenblick erfcheint, das kommt Einem der die Gegenwart unferes Schrifttums in dem ſtizzierten Zufammenbang anfchaut, vor, als fpränge im entfcheidenden Augenblick Einer auf die Schanze, die Fahne in der Hand, und riefe die Zögernden heran denn „Einer tut es nicht!“ und Ientte die Schwantenden Har und beftimmt aufs Ziel. Diefes Buch ift erfüllt von den Problemen, die vor jedem von uns auftauchen und auf- getaucht find; lebendig in ein Leben verknüpft, werden fie mit greifbarer Klarheit,

56 Rundſchau.

und oft zugleich mit dem Reiz einer Augenblicksſtimmung umgeben, vor uns hin—⸗ geftellt, und es entwideln fich die Antworten die, eben auch nach des Referenten Meinung, für uns in diefem Augenblick richtig, d. h. fruchtbar find.

Ich babe fchon gejagt, daß fich die Darftellung des Kampfes um Grund- fäge im „Soft Geyfried“ zur Darftellung eines Lebens geftaltet, ja Flaifchlen hat vielleicht eine ganz felten volllommene Entjprechung von Form und Gegenstand erreicht. Dennoch muß ich den Schulmeiftern mit einem Wort be- gegnen, um in meiner Verteidigung diefes Buches völlig unzweideutig zu fein. Die Schulmeifter verlangen ftet8 und immer reine Runft, ohne Tendenz. Denn fie verftehen nicht, daß Einer in jeder Hinficht am größten handelt, wenn er tapfer die Aufgabe übernimmt die in der Zeitftellung ihm zufällt. Sie verftehen nicht, daß ein Dichter wie Ihfen für notwendig bat finden können, in den Alltag zu den Menfchen hinunter zu fteigen, feinen Geftalten ihr zerftüctes Herz zu geben und ihre ewige Leichenbegängnistracht anzulegen weil er zerftüdte Herzen unter Leichenkleidern pochen machen mußte, fei’8 auch gewiffermaßen fladernd zu- nächſt, denn andere waren nicht mehr da; und daß er fo dieje in taufend Kleinig- feiten zerfallenden Menfchen der Gegenwart um ein Kleines wieder einem größeren Leben entgegenzurüden gedachte. Die Schulmeifter wiffen nur ihre Dogmen, von denen fie leben. Wir aber müffen uns darein finden, daß „immer noch die große tote Zeit ift zwifchen Karfreitag und Dftern“; daß die Muſik zwar weit bat vorausgehen können, daß dann die bildende Kunſt folgen konnte Ddiefe Künfte wenigftens haben wir bereit? aus uns, nicht eklektiſch zufammengefegt aus allem möglichen Leberfommenen daß aber die Dichtung, durch Sprache und Weltanfchauung in voller Bewußtfeinsgrelle mit dem Alltag verknüpft, fich nicht weit vom Gegenwartsleben erheben kann, und daß wir die große Dichtung nicht haben werden, vordem unfer Leben einheitlicher, größer und mehr unfer geworden ift.

Für die Dichter felber gilt es darum in erfter Linie niht Runft von beftimmter Urt, fondern Leben von beftimmter Urt: dies der Grundfag der Flaifchlens ganzes Lebenswerk beherrſcht; und mit „Joſt Seyfried“ ftellt er ihn nun der heranziehenden jungen Schar mitten in den Weg.

Als das eigentlihe und endgültige Ziel unferes Volkes muß angefeben werden: daß die in unferem Volkstum, nachdem es die Stürme ziveier Zabrtaufende beftanden bat, noch unverlegt fchlummernde Lebenseinheit mehr und mehr an den Tag herauf fteige, die Gegenwart durchwachſe und ihre Blüte entfalte. Wir fühlen in ung eine Macht des Begreifens, Zuſammenſchließens, Verklärens, daß wir auch angefichts all des Eifens und all der einzelhaften Weltorganifationen diefer Zeit nicht verzagen zu müffen meinen. Sondern in diefem nordifch-abend- ländifchen Europa wird nichts beftehen bleiben was nicht unfer ift, fei es nun daß wir felber erjt es gefchaffen oder daß es, zwar überfommen, nicht unterging, weil es auch unfer ift. Die fieberhaft beranfchnaufenden Mafchinen der Berliner Stadt: bahn, die über die vorüberlichternde Stadt hinjagende Hochbahn Berlins, fie find fo gut Erfüllungen in ung fchlummernder Sehnfucht, Verkörperungen unferer Urt, wie Bödlins Gefilde der Seligen. Unfer Wiffen von den fernen Welten und von den Hleinften Lebewefen, es find fo gut Hinausftellungen, Spiegelungen unfer felbft wie Beethovens Symphonien. Die Erde haben wir uns klein gemacht, weil wir groß find von Haus aus, wir Germanen. Uber wenn wir durch unfere Kirchen, Schulen, Städte, Häufer und Theater geben und wenn wir an uns hinunterſehen, wie wir dies MWunderding von Organismus als das der Menfch vor unferem inneren Auge ftebt, im Aeußeren bejahen: da fehen wir dann wie Vergangenheit die nicht unfer ift, noch dick wie Finfternis unfere nächſte Nähe umlagert, und daß noch Zeit ift bis dahin, wo wir, als das andere eigene, autochthone Bolt

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Europas, über die Jahrtauſende hinweg in den Griechen unſer Brudervolk er- fennen dürfen.

Wir haben alfo von irgendwo auszugehen, etwas zu durchdringen, an einem Ziele anzugelangen.

Das Ziel ift unfere „Kultur“, der Zuftand, wo wir uns die gefamte Um— welt heimlich gemacht haben werden, wo jedes Gefühl, jede Vorftellung, jeder Ge- danke, die wir fühlen, uns vorjtellen, denken, jo gut wie jedes Kleid das wir tragen, jedes Haus das wir bewohnen, jeder Gebrauchsgegenftand deffen wir ung bedienen, unfer ift, Verkörperung eines Menfchenftrebens in dem wir ung wiedererfennen; wo unfer ganzes Leben zur Verwirklichung unferer eigentümlichen Art geworden ift.

Auszugehen haben wir von unferm Volkstum. Auch die Antike ift nicht mehr maßgebend für und. Wir können nur auf dem Boden dem wir entjproffen, als der Baum der wir find, ung auszumwachfen hoffen. Auf das Volkstum borchen, das wir in ung finden, dies unfer KRoftbarftes mit unferer Liebe nähren, anderes fönnen wir nicht tun. Leb ihm allein dein ganzes Leben; und wenn das Lralte in dir fein Lied anftimmt, fall ihm nicht mehr mit deinem Befferwiffen dazwifchen, laß es anfchwellen und zum Herrn über dich werden. Und wenn es wie aus Glodenfchlünden den Preis des Lebens aus dir fingt, dann ftehft du im Glanze des Morgens, und das Glüd taut auf dich nieder über das es fein höheres gibt. Kräftigen das Volkstum das ich in mir finde: wie kann ichs? Erkennt euch in den Gagas und in den Volksmärchen wieder. Uber ihr braucht nicht fo weit zu gehn. Und gar die Süddeutfchen felber! Gie die unter fich felber, nicht mehr in Jedem, nicht mehr in jedem Dorfe, auch nicht mehr in jedem Tale, aber doch überall noch, nicht im Hochgebirge allein möchten doch die Lefer der Sübd- deutjchen Monatshefte von diefem Gefichtspunft aus Schnapper-Arndts „Näh— ridele“ im I. Jahrgang noch einmal nachfehen! fie, die unter fich felber noch die homerifche Zeit ihres Volkes, den homerifchen Zuftand ihres Volkstums erleben fönnen, wo alle notwendigen Umſtände des Lebens mit diefer felbftverjtändlichen Wirklichkeitsfreude verklärt werden, die unfere Volksmärchen erfüllt und die bei Homer „Heiterkeit“ genannt wird fie hätten Befferes zu tun als noch immer ihrer verlorenen politifchen GSelbftändigfeit nachzuträumen, mit der nichts anzufangen wäre. Auch für uns ift das Reich die Machtvorausfegung für die Entfaltung unferer Fähigkeiten. Wohl ift germanifches Volkstum in allen vorhanden, aber in uns ift es am ſtärkſten geblieben, wir haben es nie über anderen Intereffen vergeffen. Es war immer unfer eigentlicher Stolz. Warum alſo bemächtigen wir uns nicht der Rulturaufgaben? Warum machen wir uns nicht mit dem auf, in dem wir die Stärfften find, und zwingen fulturell die andern Stämme unter unfern Willen; wie fie politifh und wirtfchaftlih ung unter ihren gezwungen baben ?

Denn zu durchdringen ift noch ein ganzes Chaos; und das wird nicht mit einigen Feuilletons, die ihrem Schreiber felber irrelevant find fobald fie auf der Redaktion liegen, durchdrungen, auch nicht mit vielen. Unzählige ſchwärmen für diefe künftige Kultur, und über ein Stündlein find fie wieder einmal dabei, ihr bischen Leben in Betätigung diefer winzigen Lüftchen auszugeben, die angeflogen fommen, ein wenig fingen, ein wenig Blut entziehen und fortfliegen wie die Schnaden in einer Sommernadht am Rhein. And wieviele folhe Schnaden kommen angeflogen bis ein Leben um ift; das ift ihre Erotik! So fchafft man diefe Rultur nicht. Dder ſchaut man fi am Sonntag zur allgemeinen Ausgeb- zeit die Menfchen an die einem begegnen. Derſelbe Schnurrbart, derjelbe fteife Hut, derfelbe Leberzieber, derfelbe ewig dunkle Anzug, Mann für Mann. Vom legten Ladenlehrling bis zum oberften Beamten des Reiches ſcheint man fich auf

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dasſelbe Kaufmannsideal geeinigt zu haben. Und da iſt mancher darunter der manierlich über unſere werdende Kultur zu reden weiß. Aber es ſteht mit dem Wunſch nach dieſer Kultur wie mit dem Wunſche nach Geſundheit: wenn man ſie als Eiſen und Arſen im Löffel zu ſich nehmen könnte, dazu ſind ſie bereit; aber die geringſte Bemühung iſt ihnen zuviel. So ſchafft man die Kultur nicht. Aus Wirrwarr und Unordnung führen nur Anſtrengung und Zucht zum geord⸗ neteren, volllommeneren Zuftand.

* * *

Flaifchlen fagt: „Es wäre fo viel Freude, fo viel Liebe in der Welt, fo viel fiegende Kraft .... wenn man den Mut hätte, fie offen zu zeigen!” Warum bat man den Mut nicht? Weil ihn der Nächte nicht bat. Und fo fort. Es ift peinlich, fich diefe Verfammlung von Feiglingen vorzuftellen, wie fie alle erfüllt find von der Furcht vor diefem Lächeln, das fie felber fogleich demjenigen ge- fchloffen entgegen zu bringen bereit find, der es wagt...! Keiner befeelt von dem Wunfche fein eigen Leben zu leben, als eine Heine herrliche Welt Licht- funte im AU zu fein; alle entfeelt vielmehr durch den Wunſch fo zu fein wie es jeder Beliebige erivartet, entjeelt durch den Wunſch auszulöfchen und aus- gelöfcht zu werben. Dennoch trifft die Maffe diefer Menfchen eigentlich keine Schuld; die einfeitige Ausnusung ihres Wefens in der täglichen Arbeit muß ihre Geele nach beftimmten Richtungen erblinden laffen, bleibt fie fich felbft überlaffen. Aber wo find nun Denken und Dichtung als organiſche Lebenserfheinung des Geſamtvolkes? Wo ift, was fieht und fchaut und träumt für fie alle, und durch eine feftliche feierlihe Stunde ihrem Leben der Fronde den Glanz zurüdgibt? Wo ift, was ein durch hundert Berufe und taufend verfchiedene Lebenslagen auseinandergeriffenes Volk zuſammenſchließt, indem es alle gleicherweife an die Quellen des Lebens führt?

Ihr „Rufer im Streit“, in jedem Seitungsblatt könnt ihr das Wort von der „äftbetifchen Kultur” finden! Was beißt das anders als daß man euch die Führerfchaft zum Wiederhinauf zugefteht?! Ihnen räumt man das Recht ein, das Leben der Freiheit zu leben, aber fie haben den Kopf nicht höher als die andern. Don ihnen künnte man nicht fagen was Henri Beyle vom legten diefer Menfchen des Südens fagt: on ne connait pas le ridicule, et si l’on songe au voisin, c'est pour le regarder en ennemi et non pour craindre une ‘pigramme. Sie, die der Kopf des Körpers fein follten, fie empfangen ihre Gefege von der Hand. Micht nur daß auch fie diefe Kleidertracht tragen die fih in der Praris des Gefchäftsreifenden ausgebildet bat, fie machen gar feinen Berfuch diefes ganze Kaufmannsideal von Lebensführung abzufchaffen, juchen vielmehr ihm immer mehr zu entfprehen. Wenn man bedenkt, was in früheren Zahrhunderten die „Dichter und Denker“ auf ihre Kappe genommen haben, oder wenn man nur nach Rußland binüberblidt —: diefe deutfchen Dichter von heute dagegen verfügen nicht über fo viel spernere se sperni al® nottut um fich gegen einiges fade Lächeln zu behaupten.

Wie bob empor vermagft du das Leben zu führen? Das fol die Frage fein an der man Künftler und Dichter mißt. Und für fie, die Die Sprache, die Vorausjegung für alle höhere Menfchentätigkeit, und wiederum dasjenige Menſchliche in dem fich alles Dafeiende niederfchlägt; für fie, die die Sprache verwalten, foll diefes Wort bis im die äußerlichfte Bedeutung gelten. Es braucht die Dichter die für die gewaltige Maffe diefes arbeitenden Volkes ſich durchzu- denken bereit find durch den Wirrwarr der überfommenen Formen, foll die uns mewohnende Schönheit, die allein dem Leben Aller Zufammenbang und Ver:

hnung zu verleihen fähig ift, heraufwachſen und fich entfalten können. Es braucht

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nicht Dichter die zu beftimmten Tagesftunden „Dichter“ find und im übrigen Beliebige. Sondern es brauht Menſchen die, mit unerfhütterlicher Gefinnung nad vorwärts und nah rüdmwärts, das Ganze über- fhauen, Menfchen, die, ihres Volkstums bewußt, über alle Stände gleicher- maßen binweg, mit dem einen freien Volke rechnen, Dichter die, dem ſchalen Eklektizismus diefer bydralöpfigen „Gefellfchaft“ ebenfo die Stirn bietend, wie vor feinen Vorbildern, und feien es die größten, mehr ſich beugend, auf fih allein borchen wie die Mufiter und die Maler vordem getan. Es braucht derartige Dichter der Kultur wegen, und ebenfo der Dichtung wegen. Kultur und Dichtung haben gemeinfamen Weg von nun an. Indem das Eine getan wird, entjteht das Andere.

Denn daß aus dem Wort einmal das Volkstum mit folher Macht fpreche, mit der es aus Bach'ſchen Chören oder aus einer Sammlung von Werten Thoma’s ſpricht: dazu genügt nicht, daß die Gefühle unverfälfcht unfer find, und daß Die erträumte Welt unferer Urt entftammt; dazu muß die uns eigentümliche Weltanfchauung fi bis über ben bellften Tag ausgedehnt haben und ihn beberrjchen, indem fie unzweideutig ja fagt oder nein fagt zu dem was fie vor- findet, indem fie aufbaut und ausfcheidet; dazu muß erft aller Eklektizismus vorüber und auch die eine und die andere „iep& yduos“ abgetan fein, und die Welt- anfhauung in all ihren Erjcheinungsformen Ausdrud ein und derfelben Urt ge- worden fein. Denn Sprache ift des Gedankens nicht zu entledigen, Gedanten aber. die nicht Glieder einer, alle fremde Anſchauung ausfchließenden Welt- anfhauung find, gleichen jenen vor der Zeit abfterbenden Bäumen am Rand des Gees, die halb mit den Wurzeln im Grund ftehn, halb im Waſſer. Nun ift aber Weltanfchauung nicht wie ein Lleberrod, den man bald umtun, bald bei- feite laffen fann; fondern nur langſam entwidelt fi der Organismus zu der einheitlichen gefchloffenen Welt, die felbftändig der Imgebung zu trotzen vermag; und nur allmählich und nur als Glied des pulfenden ftrömenden Lebens, baut der Herzensſaft die innere Welt auf. Das heißt: follen die Dichter ihre Aufgabe ald Dichter erfüllen, wie die Mufiter und die Maler die ihre er- füllt haben, jo muß ihr Gefamtleben ſchon von diefer zufünftigen Kultur durch- drungen fein.

Andererſeits kommt eine „äſthetiſche Kultur“ im Verlauf ihrer Entfaltung fchließlih an die Stelle, von der aus nur mehr die Wortmenfchen fie weiter führen können. Gegenwart und Alltag find anders als durchs Wort nicht zu durchdringen. Wir müffen aber felbft durch die nüchternfte Gegenwart zum lichtlofeiten Alltag den Weg finden. Denn, mögen wir ein achtzehntes Jahrhundert bewundern wie fehr nur immer, die Zeit wo die Gefellfchaft ſchafft, ja nur durch eine beftimmte Gefinnung den Rüdhalt dafür abgäbe, daß etwas Beftimmtes gefchaffen wird, ift vorüber. Die Gefellfchaft verlangt es nicht mehr nach Lebenszufammenfaffung, fondern nach Anreiz zum Leben von Fall zu Fall, fie will von der Kunſt dag Intereffante, das fragwürdig Intereffante, unfruchtbar Intereffante was große Kunſt faft völlig ausschließt und kulturell fteril if. Mit der Maffe des von unten heraufrüdenden Volkes muß die Kultur weitergeführt werden. Es find die Millionen ungebildeten Volkes das die Induftrie aus dem Naturzufammenbhang geriffen bat, das den Erſatz dafür haben will, die Wiederausföhnung. Zu unfern großen Mufitern aber und Malern zu gelangen ift der Mehrzahl einftweilen verfagt. Die allzeit freie Brüde ift die Sprache. Und das ift gewiß: wer auf diefem Wege der Maffe diefes un— gebrochenen Volkes Verklärung und Feftlihkeit wird bringen können, dem wird Begeifterung entgegenfchlagen, wie fie nur zu irgend einem Jahrhundert möglich war. Uber keine Dichtung wird zu ihnen fprechen, die anderes tut als

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aufheben und anordnen, was in der Sprache niedergeſchlagen iſt, als unſer Weſen in Form gießen, die unfer und ohne Vorausſetzung verſtändlich iſt. Das beißt: die Dichter müfjen, foweit fie mit ihrer Sprache reichen, unbedingt nationale Kultur fhaffen, wollen fie zu dem Publitum gelangen, das nach ihnen verlangt.

* * *

Ich hatte dieſes Programm möglichſt mit Zitaten aus „Joſt Seyfried“ ſelber zuſammenſetzen wollen. Aber da zeigte ſich recht, wie ſehr in dem Buche die ſpezielle Faſſung der Sätze durch den Zuſammenhang bedingt iſt, der Zeichnung des Charakters und ſeines augenblicklichen Zuſtandes dient, kurz wie dichteriſch das Werk zugleich if. Es wird in dieſem „Roman in Brief- und Tagebuch- blättern“ nicht von den Sternen herunter geholt, er ftellt lediglich das Ringen eines einzelnen Menfchen um die Erfüllung des allgemeinen oben in nadten Sätzen formulierten Programmes dar. Über die Fülle von Weisheit die gegeben wird, Weisheit die der Gegenwart belfen will, fommt von einer eigen- tümlichen weichen, ftimmungsvollen Schönheit ummwoben daher, die fih in einen bineinfingt und vielleicht mehr noch als die Gedanten an fich beftärft in der „Sehn- fucht nach einem Leben über dem, das wir fo binfchleppen, nach einem Leben in Reinheit und Frohfinn und Verklärung.“

oft Seyfried ift keineswegs ein ftiernadiger Naturburfche oder roter Re— volutionär „geh und rüttle ihre Sehnfucht wach und fchaffe ihnen Zuverficht: . +. daß es Sonntag werden kann in ihren Geelen aller Laft und aller Haft zum Trotz!“ ruft er dem Dichter zu wir ſehen vielmehr, wie ein großes Kind, fogar ein ſchwaches großes Kind, fertig bringt in Berlin ein Kind zu bleiben, wie ein großes Kind im Kampf mit der Umgebung und mit der eigenen allzuverbreiteten füddeutfchen Schwächlichkeit um ein eigen Leben ringt, und nicht müde wird. „Wenn mein Herz nicht fo ftark in feinen Wurzeln und fo reich an Glauben, Liebe und Zuverficht, fie hätten es mir längft zerbrochen und ich wäre längjt geworden wie fie alle...“ Wie oft fpricht er fich felber Mut zu, und wenn er fi manchmal Mühe gibt robuft zu reden, fo kann auch er von fich fagen, was Goldfriedrich in feiner merkwürdigen „Rechtfertigung durch die Erkenntnis“ ') von fich fagt: „Sch gebe mich fo ficher, weil ich es fein will, nicht weil ich es bin.“ Soft Seyfried bewohnt eine, wie es fcheint elegante Jung- gefellenwohnung in Berlin W, auch kann man fich ihn faum anders vorftellen, als mit einer gewiffen Rüdficht auf die Mode gekleidet obgleich feine Ab⸗ lehnung eines Zuſammenhangs mit der Gefellfchaft deutlich genug ift. „Das it mein Leben: diefes ftille monddurhdämmerte Zimmer . . . die Wand hin... Bücher und Bilder! ... das ift alles, was ich mir erwarb!” heißt ee. Man kann faum anders als mit einem nagenden Gefühl diefen vornehmen, für feine Wünſche armen Menfchen von fünfzig, bundert Markt als etwas Wichtige, Smwingenden fprechen bören; indeſſen nötige uns gerade diefe unbedingte Dffen- beit und Freimütigkeit, mit zu leben indem wir lefen. Es ift ein einfames felbftlos-felbftherrliches Leben, das fi vor uns entrollt; nur Hannies Liebe ftrablt als milde Sonne darüber Hamnie, die fo wundervolle fraulich warın- berzige Briefe fchreibt.

Als echter Süddeutfcher fühlt Soft Seyfried fo unbedingt mit dem Volte, dab er von einem Liebespaar, das am Gittertor bei feinem VBorüberlommen aus- einanderfchrickt, fagen fann: „dumme Kinder! ich tu euch nichts! . . . ich verrat euch niemand! o ich will eher Wache für euch halten, wenn ihr wollt!“

ı) Zohann Goldfriebrich, Die Rechtfertigung durch die Erkenntnis. Leipzig, Brandftetter, 1903.

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An die Adreſſe der Heimatkünftler aber geht diefes: „Was beißt denn: gefunde ſchwäbiſche Natur!! Was kann ich denn mit einer gefunden fchwäbifchen Natur befferes anfangen, als fie da in den Kampf ftellen, wo wenigftens die Möglichkeit gegeben ift, fie zu beweifen! Wozu hab ich fie denn! Was foll ich jonft damit! Was wollen fie denn, diefe Mudermänner?!” „Die moderne Großftadt fchafft keinen Dichter . . . aber wer e8 werden will, muß durch ihre Schule geben! Und nicht bloß der Künftler . . . jeder, der den Blick über die Berge frei haben will!“ Auch liebt er die Eifenbahn und ftellt an anderer Stelle als Ziel auf: „den Boden, den die Wiffenfchaft erobert, umzupflügen und urbar zu machen, damit wir ihn leben können, wie wir heute den leben, den die Kunſt früherer Seiten derart umgefchaffen bat.“ Indem er „feinen Glauben ftolzer” weiß als der der andern ift, und keinen Augenblick fein Volkstum vergißt als fein eigentlich Wertvolles, ift er bewußt Großftädter und fagt zu der gefamten Gegenwartswelt ja, als etwas zu Durchdringendem.

Dazu ift fein Beftreben, „wirklichleitsmöglich“ zu fein. „Es fommt darauf an, was man bdurchzufesen, was man zu Tat umzufchaffen vermag! und wie und zu welchem Ziell“ Uber „wo Erkenntnis wäre, fehlt der Wille! und wo der Wille wäre, fehlt's an Zucht!” klagt er. Man kann in der Tat nicht be- baupten, daß die heutigen Süddeutfchen ihre Aufgabe erfüllten. Es liegt an ihnen, ob aus Großpreußen Deutfchland, die auch kulturell zuverläffige Vormacht unter den germanifchen Völkern, wird oder nicht wird. Sie müßten nicht ängſtlich im Lande fiten und ihre Refervate hüten und über die preußifche Einwanderung zetern, fondern ſich aufmachen und ihre Volkskultur weiter ausbauen und hinein— tragen in den durch Heberwanderung und andere Einflüffe immer weiter umfich- greifenden Nordosten fonft geht die Weltentwidlung über fie hinweg, Man muß mit dem Pfunde wuchern, das man erhalten hat. „Sprich nicht von ‚felbit- verftändlich fiegender Lleberlegenheit des Höheren!‘ ... Es fann einer zehn Marichallftäbe im Tornifter tragen ... wenn er nicht zu Boden tritt, was ihm im Weg fteht, und fich durchtrommelt, bleibt er fein Lebtag Hintermann!“ Qui peindra jamais les malheurs de la timidits! fagt Balzac.

So ift er nah Berlin gefommen. „Berlin... foll auflöfen! es foll zerfegen! . . . es fol alles brechen, was es brechen kann! ich bin nur deshalb bier!“ „Was ich will, muß die Kraft haben, auch in GSteinboden Wurzel zu faffen, und foll fih da erproben und bewähren, wo der Rampf am fchwerften ...“ „Was ich will, ift Eichenfaat und braucht Jahre und Zahrzehnte ... . ja, viel- leicht das Leben!“ Da lebt er, er, dem fo wenig einerlei ift „ob man als Gieg- fried im Buch der Gefchichte fteht oder ald Hagen!“ und fucht „fich und fein Leben in Einklang zu bringen mit feiner Sehnfucht und mit den Dingen der Welt.“ Und indem er fi mit dem Alltag auseinanderfegt, gewiffermaßen mit ihm fpricht, rythmiſiert er ihn leife, die Sprache des täglichen Lebens ift immer und immer wieder auf dem Wege fich zum Gedicht zu verdichten. Kein Wort auf den mehreren hundert Seiten das undurchlebt oder unfertig hingefegt wäre. Es fcheint, daß eine ganze Reihe von Jahren auf die Niederfchrift vertvandt worden ift; Schon im „Pan“ find lange Bruchftüde daraus abgedrudt. Manchmal fieht man die Darftellung eine fat mythiſche Wendung nehmen, in der Art Raabeg, und obgleich fein Zug von Unmodernität zu finden ift, ift einem dann als würde aus ur-uralter Zeit erzählt. Geine eigentlichen Reize eröffnet das Buch erft wenn man es fennt, und fchlägt nun da wieder auf und dort; es ift dann als dürfe man Blicke werfen unmittelbar in ein Leben felber. Und das it fchließlich das Wundervolle an diefem „Roman“: fo wenig ſtark Joſt Geyfried in der Dffen- five zu fein ſcheint er bringt feinem ritterlichen Ideal, feinem matellos Daftehen- wollen Opfer, die noch zu rechtfertigen mir fchiwerfiele überfliegt man jedoch

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das Ganze Blatt um Blatt in unausgefegter Folge, fo wird einem als näbere man fihb dem Hochſommer mit feiner Feſtlichkeit und Rube und feinem reifenden Korn.

Ein Tendenzroman aljo! Sieht man fich in der Literaturgefchichte nach einem PBerwandten um, fo kommt man auf Vifchers „Auch Einer“. Doch ift bei Flaifchlen alles melodiödfer, fingender geworden, Vifchers hellere Stimmungen find darin fort- gefponnen und weitergewachſen. Es fehlt merfwürdigermweife innerhalb des zeit- genöſſiſchen Schrifttums auch nicht an dem, der Viſchers düftere Züge verfchärft trägt und feine rauberen Weifen fortführt, es ift ein anderer, unter einem Pfeu- donym fchreibender Schwabe ’); auch er zeichnet fich unter dem Gros der heutigen Dichterfchaft dadurch aus, daß er, als felbftändige Perfönlichkeit, ein Lebensganzes zu geben beftrebt ift, daß er feine Anfchauungen auf fich felber zurüdführt und bewahrt fich fo von vorneweg davor, einer Modeftrömung unferer Dichter-Artiften eingerechnet zu werden. Er bedeutet die Fortfegung Viſchers, infofern Viſcher ablehnte. Flaifchlen ift die Fortfegung Viſchers im Aufbauen. Tendenzliteratur aber ift faft alles Deutfchgefchriebene von den Tagen Grimmelshaufens an fofern es bedeutend if. Wie könnte das auch bei einer Nation die fich felber noch nicht aufgegeben bat, anders fein, folange fie nicht völlig auf eigenen Füßen ftebt! Wir fagen doch von ung, wir feien „ein auffteigendes Bolt“! Alſo ift noch etwas zu erfteigen?! Unſere „Haffifche* Literatur bedeutet, wie ſchon die Bezeichnung fagt, Rampf um ein Kulturprogramm, noch nicht einmal ums eigentlich nationale. Und was vom GSpäteren lebendig geblieben ift, ift Auseinanderfegung mit der Gegenwart und Kampf ums Programm, ftet3 im Ginne einer fortjchreitenden Qurddringung der Umwelt mit unferer Art. Das gilt für Raabe, Gottfried Keller (befonders und auffällig im „Fähnlein der fieben Aufrechten“) und für Viſcher. Es gilt in gleicher Weife für die nordifche Literatur. Und was im gegen- wärtigen Schrifttum darnach ausfieht als werde es auf die Dauer zuverläffig fein und nicht auf dem Lleberbrettl oder etwas ähnlichem enden, und nicht am Er- folghaben zugrundegehen, Emil Strauß vor allem, ift wiederum durchdrungen von einer unmißverftändlichen Tendenz.

Die Zeit: für „reine“ Kunſt in der Literatur, d. b. die Zeit wo fich die Porausfesungen für große Kunſt von felbft verftehen, wo die Anfchauungsweife feftiteht, ift für ung noch nicht gelommen. Kleift, der fchon früh in feinem ver- fchloffenen und fchiweren Leben die Kämpfe in die wir heute noch vermwidelt find, für fih zu Ende geführt zu haben feheint und fo im ftande war, mehr oder minder „reine“ Kunſt bervorzubringen, Kleift, der zugleich das Beifpiel dafür gibt wie auch der Norddeutiche im füddeutfchen Vollstum auf dem Wege zur Kultur die natürliche Verankerung findet: er, von dem faum eine Zeile veraltet ift in den hundert Jahren, fteht noch heute groß und einfam als unverftandene, nahezu rätjel- bafte Erfcheinung für faft alle am Horizont unferes Schrifttums. Der andere, der fih dem Klaffiterideal entwand und, ohne eigentlich ein anderes Rulturideal an die Stelle zu fegen, es unternahm große Runft zu fchaffen, Otto Ludiwig, wird nicht einmal um feines „Erbförfters“ willen, der wohl eine der vollendetiten Schöpfungen der Weltliteratur ift, eigentlich geſchätzt. Und auch dem zeitgenöffifchen Großen im hohen Norden, Heidenftam, ergeht es nicht viel anders.

Dies noch zur Rechtfertigung des Tagebuchromans „Soft Seyfried“ im allgemeinen!

Heidelberg. Wilhelm Zaiß. ) Dr. Owlglaß, der faure Apfel. Zweites Taufend. Münden, Langen 1904.

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Die jegige Lage der Münchener Hofbühnen,

Das Münchener Hoftheater ift feit einem Dutzend Jahre etiva langfam, aber ftetig zurüdgegangen. Die Hoffnungen, die man auf die künftlerifche Ini- tiative Poſſarts gefegt hatte, erwiefen ſich als trügerifh. Die beften Kräfte ftarben oder wandten München den Rüden. Für Erfas ift nicht geforgt worden. So fant der Durchfchnitt des Perfonales und damit das Niveau der Auf: führungen allmählig, aber unaufhaltfam. Anſtatt die beften auswärtigen Kräfte zu gewinnen, engagierte man tüchtigen Durchfchnitt: in der Oper, im Schaufpiel, im Drchefter. Das Ehepaar Vogl, Gura, Keppler, Ternina, Schneider, Richter, Stury als Darfteller von jugendlichen Helden um nur einige Namen zu nennen find in feiner Weife erfegt worden. Man bringt im Prinzregenten- theater mit Hilfe von Gäften fommerliche Feftfpiele heraus, während die ganze legte Dpernfaifon nicht ein einziges wirklich neues Werk, fondern nur drei Neu- einftudierungen älterer Dpern brachte (Trojaner, Barbier von Bagdad, Beatrice und Benedikt). Erftaufführungen mußten von Woche zu Woche verfchoben werden. Abänderungen angekündigter VBorftellungen waren an der Tagesordnung. Um einigermaßen eine Urt von Spielplan aufrechtzuerhalten, nahm man feine Zuflucht zu GEntlehnungen fremder Bühnenkräfte. Ohne das Stadttheater in Augsburg wäre München legten Winter in tödlicher Verlegenheit geweſen.

Es fehlt an einer feften Hand. Die Engagements find PVerlegenheits- engagements, die Gaſtſpiele Berlegenheitsgaftfpiele, die Spielpläne Verlegenheite- fpielpläne, die Novitäten Berlegenbeitsnovitäten, der ganze Betrieb ein koftfpieliger, jchwerfälliger, unrentabler DVerlegenbeitsbetrieb. Die Leiftungen werden immer mittelmäßiger, die Novitäten immer weniger, die Gäfte immer mehr, die Dis— frepanz zwijchen dem fkunftfinnigen Zeile des Publitums und der Theaterleitung immer jchreiender.

Für eine Univerfitätsftadt mit regem künftlerifchem Leben, mit einer leicht begeifterten Bevölkerung, für eine Hauptftadt mit einem kunftfinnigen und kunſt⸗ fördernden Hofe, für eine Theaterftadt, die früher in Oper und ‚Schaufpiel eine glanzvolle Tradition hatte, ift der gegenwärtige Zuftand tief bedauerlich.

Das Münchner Hoftheater ift für die Aufführungen von Dpern und größeren Schaufpielen durchaus geeignet. Unter dem intenfiven Opernbetriebe jedoch leidet das Schaufpiel. Verminderung der Dpernaufführungen, damit die Abonnenten auch klaſſiſche Schaufpiele zu fehen befommen, wird fich faum empfehlen, weil unfer ganzer Betrieb (Perfonal, Dekorationen, Feftfpiele) zu ſehr ſchon Großbetrieb geworden ift, und ausgenüßgt werden muß, wenn er fich rentieren fol. Dielleicht aber gibt es doch noch eine andere Möglichkeit: Her- ftellung eines volllommen feuerficheren Refidenztheaters, in dem täglich, wie im Hoftheater, gefpielt werden kann, (wenn auch nicht muß), kleine Stüde, gleich viel ob Dpern oder Dramen, im Heinen, große im großen Haufe. Diefer Modus ermöglicht Ausnügung der Räume, hinreichende Beichäftigung des Perfonaleg (das natürlich zum Teil, wie 3. B. Chor, Orchefter und Tcheaterarbeiter beffer bezahlt und durch Einftellung neuer Kräfte entlaftet werden muß), endlich eine finanzielle Ronfolidierung des Betriebes, indem auch in dem nunmehr feuerficheren und täglich benügbaren Refidenztheater ein mehrfaches Abonnement eingeführt werden kann. Davon wird fpäter zu reden fein.

Dauernde Befferung ift nur von einer vollftändigen Reform des Beamten- apparates mit fcharfer AUbgrenzung der Rompetenzen zu erwarten: je ein Direktor der KR. Hofoper und des R. Hoffchaufpieles; über beiden als oberfte Inftanz der Generalintendant der KR. Hofbühnen. Den beiden Direktoren ift foviel Macht anzuver-

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trauen, wie nur irgend möglich. Insbeſondere müßte dem Direktor der K. Hofoper das geſamte Muſikweſen, alſo auch die Anftellungs- und Beförderungsverhältniſſe im Orcheſter unterftellt fein. Jeder Zweifel über die Zuftändigkeit ift bier verhängnis- vol. Man muß wiffen, wer Herr im Haufe ift; an wen man fich zu wenden bat; wer für den Betrieb die Verantwortung, und zivar ganz, übernimmt. Natür- lih kann nicht von heut auf morgen, überhaupt nicht in einem oder in zwei Jahren ein Mufterbetrieb bergeftellt werden. Aber die vorgefchlagene Trennung muß gemacht werden. Wenn diefe reinliche Scheidung erft einmal durchgeführt ift, werden auch die Choriften wiffen, wohin fie eigentlich gehören; bisher mußten fie bald bei der Oper, bald beim Schaufpiel mitwirken; famen 3. B. in die Aufführung einer Haffifchen Tragödie ins Prinzregententheater, ohne Ahnung, was fie denn eigent- lih auf der Bühne tun follten. Kein Wunder: auf der Probe waren fie nicht geweſen, da fie zu der Zeit Operndienft hatten. Gegenwärtig ift es fo, daß Orcheiter, Chor, Statiften und Arbeiter eine Menge Arbeit haben und dabei dennoch nichts Drdentliches herauskommt. Man trenne die Rompetenzen; ſetze zwei Leute bin und laffe fie ein paar Jahre lang wirtfchaften; unrentabler als jest kann der Betrieb nicht werden. Schließlich ift der Generalintendant doch auch da. Der neue General- intendant wird natürlich nicht zu jung, aber auch nicht zu alt fein dürfen; weder Bureaukrat noch Dilettant, kein Kleinigkeitenfchnüffler und fein Fünfgradlaffer in wichtigen Sachen. Arbeit wartet feiner genug. Wenn er nur den zwei Direktoren ordentlich die Stange halten will, braucht er viel Mut und Energie, noch mehr Geduld und ruhigen Willen zum Sie. Da ift 3. B. der Krebsfchaden unferes Betriebs, die Urlaube.

Ein wirtfchaftlich folider Opernbetrieb läßt fich nicht aufrechterhalten, wenn die wichtigften Kräfte monatelang in New-Vork und Umgegend gaftieren, anftatt an der Bühne, der fie kontraktlich verpflichtet find. Der Amerika-Urlaub fcheint reichsdeutfches Monopol zu fein. In Wien wurde, nach der zuverläffigen Be- bauptung Guſtav Mahlers, befagte Erfindung von der Intendanz noch nicht ein- geführt. Das rüdftändige Wien bat fich auch dem berrfchenden Brauche, mit ſchweren Defiziten zu arbeiten, noch nicht angefchloffen. Die dem Dollar: Hörfel- berge verfallenen Damen und Herren find übrigens wirklich unflug. Denn der Tag ift nicht mehr ferne, an dem deutfche Bühnenleiter und Dpernbefucher fein Hehl mehr aus ihrer Heberzeugung machen werden, daß es fchade fei, mit gutem deutichen Golde die ramponierten Refte ehemals blendender Mittel zu verdeden. Der Deutfche Bühnenverein, die Vereinigung deutfcher Intendanten und Direl- toren, Eönnte nichts Beſſeres tun, als dem amerifanifchen Llebel mit einem amerifanifhen Mittel zu begegnen: mit einem regelrechten Truft, mit einer Aus- fperrung. „Paragraph eins: Die Mitglieder des Deutfchen Bühnenvereines ver- pflichten fich, feinem Künftler und feiner KRünftlerin einen amerifanifchen Urlaub während der Monate Dftober bis März einfchließlich zu gewähren. Paragraph zwei: Künftler und Künftlerinnen, die eine vorzeitige Löfung ihres Kontraktes herbeiführen, um während obengenannter Monate in Amerika mitzuwirken, gelten eo ipso als fontraktbrüchig und werden von Mitgliedern des Deutfchen Bühnen- vereined weder engagiert, noch zu Gaftfpielen zugelaffen. Paragraph drei: Direktionen, welche trog der Abmachung amerifanifche Winterurlaube gewähren, find eo ipso aus dem Deutfchen Bühnenvereine ausgefchloffen und aller aus dem Bereine fließenden Vorteile verluftig.” Dies ift das einzige Mittel, unfere Sänger während des Winters an der Bühne feitzubhalten, der fie ihren fünft- lerifchen Ruf verdanken. Denn die Herrichaften mögen fich darüber feinem Zweifel bingeben: daß fie folch hohe QUngebote erhalten, verdanken fie in erfter Linie dem Umſtande, daß fie Mitglieder von bochangefehenen Hofbühnen find. Wenn fie aus irgend einem Grunde aus diefem Verbande austreten, werden fie

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durch andere Ziffern in ihren amerifanifchen KRontratten fehr bald über die Ver— änbderlichkeit alles Irdifchen belehrt werden. Wir werben fchließlich zwei Arten von Künftlern betommen: folche, die in europäifche Enjembles fich fügen, und reifende Stars. Sache des Publitums wird es fein, zu zeigen, dab ihm gute Enfembles lieber find, als blendende Stars. Aufgabe der Preffe, ihm dabei zu helfen, es zu diefer Auffaffung zu erziehen.

Auf diefes Dilemma läuft nämlich die Sache hinaus: Wollt ihr ein gutes Enſemble oder wollt ihr einen, zwei, drei Stars der Reft minderes GStabdt- theater? Denn bei der Schnelligkeit, mit der junge Sänger und GSchaufpieler heutigentags auf die kunftfinnige Menfchheit losgelaffen werden, ift naturgemäß meiftens ihre künftlerifche Vorbildung mangelhaft, ihre daritellerifche Erziehung unvollendet, ihre Technik unaußgebildet, ein VBerftändnis für Unterordnung in ein künftlerifches Ganzes faum im Keime vorhanden. Daher ift es viel ſchwerer geworden, ein Rünftlerenfemble zu fchaffen. Raum aber können die Herrfchaften etwas, jo ftellen fie übertriebene Forderungen an Gagen und Urlaub und finden leider Direktoren, die diefe Forderungen bewilligen. Bier muß einmal ein Ende gemacht werden. Manche Gagen ftehen in feinem Verhältnis mehr zu den Leiftungen. Sch verfpreche mir viel von der hoffentlich bald abhaufenden Grammo- pbonmode: man wird fchließlich der Künftler, die nichts als Stimme haben, müde werden, weil durch die Grammophone das Stimmprogentum ad absurdum geführt wird. Der verftorbene Ulerander Ritter fagte mir oft, die berühmte Schröder-Devrient habe gar feine große Stimme (im heutigen Sprachgebrauche) gehabt; aber fie habe fingen, wirklich fingen können, und babe mit hinreißendem Ausdrude gefungen. Das ift ed: Vor allem ein gutes Enfemble, technifch geichulte, und geiftig gebildete Künftler. Künftler, die es vorziehen, bei echter Begeifterung eines hochftehenden Publikums in gutbezahlten Stellungen zu bleiben, als vor gaffenden Vankees fich gefchwind eine halbe Million zufammenzufingen, dabei ihre Stimme und den Kontakt mit der Heimat zu riskieren.

Man darf Felir Mottl zutrauen, daß er imftande ift, eine Oper auf bie Höhe zu bringen. Zu allem Ueberfluß bat er in Karlsruhe den Beweis dafür gründlich erbradht. Wir haben Mottl nun ein Jahr, und doch ift die Oper nicht beffer geworden. Man wird ihm die richtige Stellung geben müffen, Gelegen- beit, feinen fünftlerifchen Willen durchzufegen. Wie groß muß der Reibungs- toöffizient des Münchener Opernbetriebes fein, wenn es nicht einmal Mottl ge- lungen ift, feine AUbfichten zu verwirklichen! Wieviel Energie muß da rein zwecklos verloren gehen! Welche Fehler müflen begangen worden fein! Es ift z. B. ein Fehler, mehrere Rünftler zu engagieren, die ein Repertoire von höchſtens einem Dusend Partien haben. Es ift faljch, einem Sänger einen monatelangen Urlaub zu gewähren, wenn man nicht den geringften Erfag für ihn im eigenen Perfonal bat. Es ift falfch, den dramatifchen Tenor und den Iyrifehen Tenor gleichzeitig fontraftlih zu beurlauben, fo daß 3. B. die foeben mit großem Erfolg auf: genommene Dper von Berlioz „Beatrice und Benedikt“ wochenlang vom Re- pertoire abgefegt werden muß, bis das Intereffe anfängt zu erkalten. Wenn ein Dirigent Herrn oder Frau So und So zu einer Probe auf einen beftimmten Tag beftellt bat, ſo muß er auch ficher fein, die Beftellten wirklich vorzufinden; e8 darf nicht vorfommen, daß fie inzwifchen Urlaub erhalten haben. Wenn ein ausverfauftes Haus den Lohengrin erwartet, darf es nicht vorflommen, daß der Tenor in legter Stunde abfagt und fein anderer rafch für ihn eintritt. Prinzip des Hoftheaterd muß in Oper und Schaufpiel fein, alle Rollen doppelt zu be- fegen, fo daß eine Aufführung nur im allerfeltenften Falle abgefest werden muß. Ich erinnere mich an Zeiten, da für den Lohengrin und Walther Stolzing jederzeit

drei, für den Tannhäufer vier einheimifche Tendre zur Verfügung Pan Daß Sübdeutfche Monatöhefte. 11,7.

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man Vogl den Triſtan und Siegfried als Monopol überließ und nicht an recht: zeitigen Erſatz dachte, war ſchon ein Fehler.

Die Ronfequenz mit der in Münden Mozart vernachläffigt wird, ift das ftärffte, was man überhaupt einem Publitum bieten fann. Für die Abonnenten eriftiert feit Jahren weder die „Entführung aus dem Gerail“, noch „Figaro“, noch „Cosi fan tutte‘‘, noch „Don Juan“ ; von „Titus“ und „Idomeneo“ ganz zu fchtweigen. Wenn der Münchner erfahren möchte, was für Opern Mozart gefchrieben bat, fo muß er vor das Haus in der Burgftraße gehen, in dem der Meifter gewohnt bat. Da ſtehen fie angefchrieben. Auf dem Spielplan des Hoftheaters fteht nur die „Zauberflöte“. Die andern führt man im Refidenztheater für die Fremden auf. Es ift fein Wunder, daß den Abonnenten Glud fchon nicht mehr munden will, Wenn man die mufikalifche Tradition in ſolch unerhörter Weife unterbricht, wie dies durch die Ausfchaltung des „Figaro“ und des „Don Juan“ tatſächlich gefchieht, ruiniert man den Gefchmad eines Publitums. Denn mufifalifcher und literarifcher Gefchmad kann nur entitehen, wo Tradition bewahrt wird. Es muß in der Mufit und in der Literatur die Kenntnis einer gewiffen Anzahl von Meifter: werfen vorausgejegt werden können; fie dürfen überhaupt nie vom Spielplan ganz verfchwinden; fie find die Gefchmadsfchule der Jungen, die Freude der Aelteren; fie müffen in der denkbar forgfältigften Weife aufgeführt werden; fie gehören ein- fach zu dem nationalen Befisftande an künftlerifcher Kultur. Nur fo bildet fih ein Gefchmad, nur fo erbält fih ein Gefchmad, nur fo bewahrt man fich ein funftfinniges Publitum. Gewerbsmäßiger Betrieb der Wagnerei degradiert bei der ftaatlichen Brandverficherung ein Anweſen um eine volle Stufe. Auch ein Hoftheater wird durch gewerbsmäßige Wagnerei, die der ausdrüdlichen Willene- meinung des Meifters ſchnurſtracks zumiderläuft, degradiert. Ein Hoftheater darf nicht, wie ein Privatunternehmen, den Spielplan in erfter Linie vom Kaffen- rapport abhängen laſſen.

Es bat in München eine Zeit gegeben, da der „Fidelio“ eine mit feierlichen Gefühlen erwartete Feftvorftellung war: man hörte ihn zweimal im Sabre ficher, an Beethovens Geburts- und Gterbetage, vielleicht noch ein drittes Mal. In- zwifchen ift „Fidelio“ zur Einwurfsoper geworden: eine „Aida“ mit minderer Aus ftattung! Noch mehr: fogar „Lohengrin“ wurde zur Einwurfsoper, die man raſch anfeste, wenn ein Sänger gerade unpäßlich war. Don Webers „Freifchüg“ kann man rubig fagen, daß er auf dem Niveau bilflofefter Provinz ftebt.

Schlimmer noch fteht e8 mit dem GSchaufpiel. Das Hoftheater kommt literarifch kaum mehr in Betracht. Die wirklichen Theaterereigniffe fpielen fi im Münchner Schaufpielhaufe und im Volkstheater ab. Stollberg und Schrumpf haben die Führung in dramatifcher Hinficht übernommen. Es kann unmöglich die Scheu vor „modernen“ Werken fein, die von ihrer Aufführung abhält. Wir ſahen im Refidenztheater die Darfteller in „Lraufführungen“ ſich mübhen, die überall abjolut unmöglich wären, unmöglich von der Maas bis an die Memel, von der Etſch bis an den Belt. Was hingegen, an Haffifchen und modernen Merken, für das Münchener Hoftheater nicht eriftiert, ift erftaunlich. Ich blättere ein wenig zurüd und finde feit dem Herbſt 1901 von Erftaufführungen im Schaufpielhaufe folgende, die ins Hof- oder Refidenztheater gehört hätten: Delle Grazie: Der Schatten. Dreyer: Der Sieger. 1902: D’Annunzio: Die tote Stadt. Schlaikjer: Paftors Rieke. Ibfen: Brand. Maeterlind: Monna Banna. D’Annunzio: La Gloria. 1903: D’Annunzio: La Gio- conda. KRepferling: Peter Hawel. Halbe: Der Strom. 1904: Fulda: Novella d'Andrea. Björnfon: Dagland. 1905: Ibſen: Baumeifter Solneß. Shaw: Helden. In dreieinhalb Jahren vierzehn Stüde. Zwifchen der Direktion des Hofichaufpiels und derjenigen des Schaufpielhaufes follte eigentlich die wütendſte

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Eiferſucht beſtehen, wer raſcher und wer die beſſeren Novitäten bringt. Der Schauſpieldirektor muß immer auf ber Lauer fein. In Mannheim, in Stutt- gart, hat ein neues Stüd gefallen: fchnell bin, ob es für uns brauchbar ift! Sn Berlin führt das Heine Theater mit unerhörtem Erfolge Minna von Barn- helm auf: gefchwind nach Berlin, das müffen wir fofort nachmachen! In Zürich fol ein guter Held fein: auf nach Zürich, den müffen wir vormerfen! Go macht man’s, wenn man’ zu Erfolgen feiner Bühne bringen will. Ein Theater- leiter foll weder nach Erfolgen des Ronzertfaales ftreben, indem er mit Melo- dramen berumreift, noch feinem Perfonal dankbare Rollen wegipielen. Regiffeure, die fich felbft Rollen zuerteilen, für die fie nicht geeignet find, müffen einen Dann über fich haben, der ihnen das abgewöhnt. Als der treffliche Reppler noch lebte, be= famen wir alljährlich, was von feineren franzöfifchen Schaufpielen für ung geeignet war. Rein Wunder: Keppler fuhr felbft nach Paris und fchaute fi um. Cyrano de Bergerac aber ift im Münchner Gärtnertheater aufgeführt worden!....

Die laffitervorftelungen im Prinzregententbeater find unrentabel, ruinieren die Dekorationen und KRoftüme und machen das ganze Perfonal nervös. Man nehme die klaſſiſchen Stüde in möglichftem Umfange wieder in den ordentlichen Spielplan auf, gebe Leffing, Kleift, Goethe, Grillparzer, Hebbel, Ludwig, Shale- fpeare, Moliöre im Hof und Refidenztheater, wenn man will, an Nachmittagen im Winter: das Perfonal ift froh, wenn es abends einmal ausfchlafen kann. Die wichtigften Haffifchen Stüde gehören ind Abonnement: man kann von Familienvätern nicht verlangen, daß fie ihren Söhnen und Töchtern für die Klaffiter die Aufführungen im Prinzregententheater noch ertra bezahlen. Ing Refidenztheater gehören die Hleineren Schaufpiele und Dpern. Bon legteren 5. B.: Dergolefe: La Serva Padrona; Cimarofa: Die heimliche Ehe; Donizetti: Don Pasquale, und Elisir d’Amore; Verdi: Falftaff; Wolf-Ferrari: Die neugierigen Frauen, und Die vier Grobiane; Mozart: Entführung, Figaro, Don Juan, Cosi fan tutte; Wolf: Corregidor; Roffini: Barbier von Sevilla; Dittersdorf: Doktor und Apotheker; Boieldieu: Les Voitures versdes; Humperdinck: Hänfel und Gretel. Zu diefen fechzehn ließen fich leicht noch ein Dutzend anderer älterer und neuerer Dpern finden. Peter Cornelius hatte, wenn ich recht berichtet bin, begonnen, ältere Werke fpeziell fürs Refidenztheater zu bearbeiten. Wenn man im Refidenz- theater ein mebrfaches Abonnement hat, fann man mit feften Summen rechnen; man bat eine finanzielle Grundlage, und feine fchlechte! Ebenſo wichtig aber ift der ideelle Gewinn: Man kann in beiden Häufern die Tradition pflegen und wert- volle neue KRunft fördern. Denn auf die Dauer ift e8 doch ungehörig, wenn im Refidenztbeater wochenlang der Schlafivagentontrolleur oder der Familientag auf: geführt wird vor leerem Parkett (joweit die Sitze nicht Freifige find) und vor gähnend leeren Rängen.

München. Sofef Hofmiller.

Stuttgarter Theaterbilanz.

Die Intendanz einer größeren Hofbühne, an die nach allen Richtungen bobe Ansprüche gemacht werden, und die auf einen rafchwechjelnden Spielplan eingerichtet fein muß, führt alles eher als ein forgenfreie® Dafein, zumal wenn die finanziellen Mittel, die zu Gebote fteben, leicht zu erfchöpfen find. Die Bildung der Repertoire, felbit die gefchäftliche Ausbeutung von Erfolgen wird durch die fortgefegten Rüdfichten auf die Abonnenten erfchwert, die mit der Empfindlichkeit fich unentbehrlich fühlender Stammgäfte über ihren Privilegien

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wachen. Erkrankungen in einem Perſonal, deſſen Hauptfächer meiſt nur einfach beſetzt ſind, Verſtimmungen und Irrungen, wie ſie ſich unter dem leicht reizbaren Künſtlervolke nicht vermeiden laſſen, allerlei unvorgeſehene Hinderniſſe und Stö- rungen pflegen die ſtrenge Durchführung des ſorgfältig vorbereiteten Arbeitsplans zur Unmöglichkeit zu machen. Endlich die unerquicklichen Probegaſtſpiele eine Qual für Theaterbeſucher und Kritiker, und dazu noch eine überflüſſige, weil jeder einzelne Fachmann die in Ausſicht genommenen Kräfte an den Stätten ihres ſtändigen Wirkens viel ſicherer beobachten und beurteilen kann. Allen dieſen Unbilden iſt das Stuttgarter Hoftheater in der vergangenen Spielzeit in reichem Maße ausgeſetzt geweſen, und mancherlei unverſchuldetes Mißgeſchick hat die guten Abſichten der Bühnenleitung durchkreuzt.

Man darf überhaupt nicht vergeſſen, daß ſich dieſe Anſtalt in einem Ueber⸗ gangsftadium befindet, feitdem ihr altes Gebäude am Schloßplag in der Nacht vom 19. auf den 20. Sanuar 1902 ein Raub der Flammen geworden if. Wohl bat man mit rühmlicher Eile ein Interimtheater erbaut, das am 12, Oktober bdes- felben Jahres dem Gebrauche übergeben werden konnte: aber es macht fich in künftlerifcher wie ötonomifcher Hinficht geltend, daß es eben nur ein proviforifches Heim if. Die engen Bühnenverhältniffe verbieten, daß Opern und Haffifche Dramen, die an Ausftattung und Maffenentfaltung große Anfprüche ftellen, ihr volles Recht widerfährt. Der befchräntte Zufchauerraum, mag er auch für den Merktagsbedarf ausreichen, verhindert doch, die günftige Finanztonftellation an Sonn- und Feiertagen und bei befonderen Gelegenheiten voll auszunugen; nach einer alten Erfahrung vermögen aber nur folche außerordentliche Einnahmen das Gleichgewicht des Budgets berzuftellen.

Auch die Unficherheit der künftigen Gefchide muß etwas Lähmendes für die Entfchließungen der Hoftheaterintendanz haben. Noch ift man trog endlofen Debatten, Verhandlungen und Entwürfen zu feinem feften Ergebnis wegen des notiwendigen Neubaus gelommen. Soviel ift unter allen Runftfinnigen und Sach⸗ verftändigen ausgemacht, daß die Gelegenheit benugt werden muß, um die Ver— bältniffe des Hoftheaters in großzügiger Weife auf eine lange Reihe von Jahren feftzulegen, daß eine würdige KRunftübung zwei Häufer, ein größeres für große Dper und Haffifches Drama und ein Heineres für Spieloper und modernes Schau- fpiel, erfordert. Da zu dem letteren Zwed das Interimtheater noch auf Sabre binaus verwendet werden kann, jo handelt es fich zunächft um Erftellung eines großen monumentalen Gebäudes, doch fo, daß man fpäter das Heinere monumen- tale in fo unmittelbarer Nähe einfügen kann, wie fie die Vereinfachung und PBerbilligung des Betriebs notwendig erfcheinen läßt. Ob dies am beiten in Form eines von der Intendanz erftrebten, aber bis jest vom Landtag mißbilligten Doppeltheaters erreicht wird, deffen zweiter Teil erft nach Abbruch des Interim- theater8 auszubauen wäre, oder ob nur bei der Wahl des Plates für das Opernhaus fchon ein folcher für das künftige Schaufpielhaus vorzumerken ift, möge eine offene Frage bleiben. Die Entfcheidung über den Pla macht befondere Beichwerden. Der jentimental unpraftifchen Schwärmerei für den alten Theater- plaß tragen die mafgebenden Perfönlichkeiten zum Glüd feine Rechnung. Aber ebe man fich endgültig an den aus verfchiedenen Gründen vielfach angefochtenen Waiſenhausplatz bindet, follte man doch nochmals die Möglichkeit prüfen, rückwärts vom alten Theaterplag, fei es nun in den Anlagen!) oder an Stelle des Marftalls, Raum zu fchaffen. Unter allen Umſtänden aber ift es jest nach reichlich drei

!) Einen beherzigenswerten Vorſchlag enthalten nach diefer Richtung die Aus- führungen Konrad Langes im 5. Heft des 2. Jahrgangs der Süddeutſchen Monats- befte (©. 419 f.), denen überhaupt in allen wefentlihen Punkten beizupflichten ift.

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Jahren an der Zeit, daß endlich das erlöfende Wort gefprochen und dadurch dem die Runftanftalt fehädigenden Proviforium ein abfehbares Ende bereitet wird.

Der Hoftheaterintendan; fteht allerdings feit 1900 ein zweites Haus, das niedlihe Wilhelmatheater, zur Verfügung, das 1839 von dem Architekten Zanth, dem Erbauer des berühmten maurifchen Luftfchloges Wilhelma, in Ver— bindung mit diefem errichtet worden ift. Zum Krongut gehörig, ift e8 Jahrzehnte lang unbenugt geblieben, bis eine Gejellfchaft, die vom Rönig das Gebäude auf 20 Jahre verliehen erhielt, dag Theater einem gründlichen Umbau unterzog und es wieder in Betrieb feste. Gie hat es die drei Sommermonate in eigener Regie, während es für die Winterfaifon an die Hoftheaterintendanz verpachtet ift. Aehn⸗ lich dem Münchner Refidenztbeater, eignet es fich vermöge feiner vorzüglichen Akuſtik und zufammengedrängten Raumverhältniffe, die den innigften Rapport zwifchen Darftellern und Zufchauern und ein rafches Spiel zulaffen, in hervor- ragendem Maße für Milieudramen und feine Luftfpiele. Es war denn auch über- rafchend, wie früher im abgebrannten großen Haufe aufgeführte Stüde in diefem einen Runfttempel völlig neue Wirkungen erzielten. Uber leider liegt das Wilhelma- theater ganz auf der Peripherie der Hauptitadt, auf der Markung der neulich erjt eingemeindeten Stadt Gannftatt, und find was das Schlimmfte ift die Berbindungen dorthin ungenügend und unzuverläffig. Die Theaterluft der Stutt- garter ift aber keineswegs groß genug, als daß fie fich den Genuß guter Vorftellungen mit einigen Unbequemlichkeiten erfaufen möchten. So mußte denn die Intendanz, die für das Wilhelmatheater ein paar Jahre lang ein eigenes modernes Repertoir zufammenftellte, ſchließlich aus Gefchäftsrücfichten davon abfehen. Geitdem man aber diefelben Stüde auch im Interimtheater fehen kann, darf jene Bühne vollends faft nur noch auf ein Vorftadtpublitum zählen.

Doc vier bis ſechs Glanztage erlebt fie noch immer im Jahre. Das find die regelmäßigen Sondervorftellungen für die Mitglieder des württembergifchen Goethebundes. Da füllen ſich die Räume bis auf den legten Pla mit Zufchauern, die fi in naiver Gelbfttäufhung für ein Elitepublitum halten. Da kann man Zeuge von allerhand intereffanten literarifchen Erperimenten werden. In der ab- laufenden Spielzeit gab es eine Heine Auswahl von Komödien verfchiedener Völker und Zeiten: Shatejpeares „Luftige Weiber von Windfor“, „Meifter Gert Weftfaler“ und „Die Wochenftube“ von Holberg, dem dänifchen Moliöre, Beau- marchais’ „Hochzeit des Figaro“ in Fuldas Ueberfegung, endlih „Der Diamant“ von Hebbel. Leider tat gerade diefe phantaftifche Komödie nicht die erwartete Wirkung; allerdings hatte man, mitten in den Vorbereitungen zum Schillerzyklus ftedend, auch nicht die nötige Zeit zu einer liebevollen Einübung und forgfamen Inſzenierung erübrigen können.

Im Interimtheater wurden die bekannten GSaifon-Neubeiten in ftattlicher An⸗ zahl vorgeführt, von Kadelburgs „Familientag“ bis zu Beer-Hofmanns drittel- preisgefröntem „Grafen von Charolais“, der es übrigens bier zu feinem rechten Erfolg brachte, wogegen Dreyers „Siebzehnjährige“ fich einer befonders günftigen Aufnahme zu erfreuen hatten. Mit den Hraufführungen hatte das Hoftheater in diefer Spielzeit wenig Glüd. Björnſons „Dagland“ wurde mit eifiger Hoch- achtung aufgenommen. Geitdem es die Stuttgarter Intendanz unternommen bat, den zweiten Teil von „Leber die Kraft“ für die deutfche Bühne zu getwinnen, bejtehen zwifchen ihr und dem großen nordifchen Dichter enge Beziehungen. Uber man darf fich doch nicht darüber täufchen, daß feine dramatifchen Spätlinge, die bier alle zuerft in Szene gegangen find, höchſtens dem Poeten, nicht aber dem Dramatiker zur Ehre gereichen. Nach langjähriger rühmlichen Gepflogenheit wurden ferner wiederum einige Neulinge eingeführt. Das vieraktige Schaufpiel „Schule des Lebens“, angeblich von Ludwig Baumeifter, erwies fich als unreife Anfänger:

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arbeit; zu Gunſten der Stuttgarter Profeſſorenſchaft ſoll angenommen werden, daß das Gerücht, das den Autor in ihren Reihen ſucht, irrtümmlich iſt. Von ein paar Einaktern gefiel nur Alfred Auerbachs Komödie, „D' Erbſchaft“. Die harmlos heitere Kleinigkeit ift aus echt fchwäbifchen Voltsgeift erwachſen und war fchon ald Beweis willtommen, daß fich doch endlich einmal etwas wie ſchwäbiſche Volksdramatik in der Epoche der Heimatkunft! zu regen beginnt.

Es ift ein unleugbares Verdienft der Aera Putlig, daß fie das lange Zeit gegen die moderne dramatifche Literatur höchft fpröde Stuttgarter Publitum mit diefer in Fühlung zu bringen gewußt bat. Eine gleichmäßige Pflege der Produktion der Gegenwart und der Haffifchen Erzeugniffe hätte weit größere Mittel, als fie dem Stuttgarter Hoftheater eignen, zur Vorausfegung. So mußten die Klafliter mehr zurüdtreten. Was fih für fie erübrigen läßt, ift in der Hauptſache, und zwar mit Fug und Recht, auf Schiller verwendet worden. Geit Jahren war man eifrig am Werte, alle die großen Schöpfungen des Dichters bis zur Gäfularfeier in ein glänzendes neues Gewand zu hüllen, und obgleich die verhängnisvolle Feuers- brunft manches zerftörte und wieder von vorn anzufangen nötigte, wurde doch das Ziel rechtzeitig erreicht. Der Schiller-Iyklus, der fih vom 8. Mai bis 3. Juni ab- gefpielt hat, brachte die unvergänglichen Stüde in würdigem fzenifchen Rahmen (foweit e8 wenigfteng die befchräntten Raumverbältniffe der Interimbübhne geftatten) und insbefondere mit prunfvoller, ftreng ftilgerechter Roftümierung. Auch mit den Leiftungen der Einzeldarfteller fonnte man fich im ganzen wohl befreunden, zumal wenn man in Erwägung zieht, daß diefelben Künftler und KRünftlerinnen das über- weite Gebiet von naturaliftifchen Gegenwartstypen bis zu ftilifierten biftorifchen Charakteren zu beberrfchen haben. Der Heldendarfteller Egmont Richter, die fein gebildete AUlerandrine Roffi, die temperamentvolle und ftarf empfindende Emmy Remolt, ein Münchner Kind, dürfen fi ungewöhnlicher Vielſeitigkeit rühmen. Der feurige und fympathifche Heldenliebhaber Alfred Gerafch ift für Verkörperung Schillerfcher Geftalten befonders befähigt. Und fchließlich ift es ein Hauptoorzug folcher Feftzeiten, daß auch die ſchwächeren Kräfte durch die Weihe des Augen- blids über fich felbft hinaus gehoben werden können.

In der Dper um auch diefe zu ftreifen berrfchte die leichtere Gattung allzuftart vor. Die Schuld daran lag hauptſächlich am gänzlichen Verfagen der bochdramatifchen Primadonna. Go kam auch Gcillinge’ „Ingwelde" zu Fall. Bon den fonftigen zahlreichen Premiören bedeuteten Eugen d' Albert's Einakter „Die Abreiſe“ und E. Humperdints komifche Oper „Die Heirat wider Willen“, deren biefige Aufführung unmittelbar auf die Berliner folgte, wertoolle Bereicherungen des Repertoireg. Das preisgelrönte italienifhe Muſikdrama „Die Ziegenhirtin” (La cabrera) von Dupont, mit dem das Stuttgarter Publitum gleichfalls fehr rafch befannt gemacht twurde, enttäufchte ſtark. Endlich ift auch noch eine richtige Ur— aufführung zu verzeichnen: „Die Freier“, Dper in einem Akt von U. Schattmann. Zu einem ziemlich albernen Rotokotert hat da ein begabter Anfänger eine nicht eben originelle, aber gefällige Mufit geliefert. Während im Bereiche der großen Dper und des Wagnerfchen Tondramas Stuttgart zur Zeit nicht in der Lage ift, mit München und Dresden oder auch nur mit Frankfurt zu rivalifieren, ſtehen die Darbietungen der Spieloper auf einem ziemlich hohen Niveau, wofür ber Dant nicht zulegt der unübertrefflichen Vertreterin höherer Soubrettenrollen, Anna Sutter, gebübrt.

Bon ftändigen Privatbühnen kommt nur das Refidenztheater in Betracht. Dort bat die Direktion Theodor Brandt mit Ablauf der diesjährigen Spielzeit ihr Ende erreicht. Das gleichfalls ziemlich abgelegene Inftitut hat ein Kleines Stammpublitum gehabt, das fich mit rührender Geduld Woche für Woche eine aus Paris importierte Schwankneuheit gefallen ließ. Allmählich hat Brandt aber

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doch feine Aufgabe im Stuttgarter Runftleben verftehen gelernt, die ihn darauf binwies, das Publitum mit dem Teil der modernen dramatifchen Literatur ver- traut zu machen, welchen auch eine noch fo liberal geleitete Hofbühne unberücd- ſichtigt laffen muß. Dadurch zwang er von Zeit zu Zeit alles, was auf literarifche Bildung in der Stadt Anfpruch erhebt, nach feinem Kunfttempel zu wallen. Es galt, „Die Weber“, den „Rofenmontag“, den „Zapfenftreich“ zu fchauen. Big zu Dauptmanns „DVor Sonnenaufgang“, bis zu Strindberg wagte man fich vor. Daneben ergöste man mit rund hundert PVorftellungen von „AUltheidelberg“ die Philiſterherzen. Der Schlager der legten GSaifon hieß „Traumulus.“ Einem Gaftjpiel der Dumont verdantten es die Stuttgarter, daß fie endlich die Bühnen- wirfung von Ibſens „Klein Eyolf“ kennen lernen durften. Brandt Ehrgeiz richtete fich auch auf Uraufführungen. Er hat zuerft das Klofterfchaufpiel „Die Brüder von St. Bernhard“ aus Defterreih nach Deutſchland gebracht, hat Son Lehmanns Romddie „Augen rechts“ die Bühnenweihe erteilt und fich ſchließlich von feiner Gattin und feinem erjten Liebhaber Neuheiten fabrizieren laffen. Die erjtere errang mit ihrem barmlofen Schwank „Ein Raffeweib“ (unter dem Ded- namen Giegfried Leinau) fogar einen ziemlich nachhaltigen Heiterkeitserfolg. Es beißt überhaupt, daß Direktor Brandt an ihr, die fich noch von ihrer Mädchen- zeit ber Helene Schüle nennt, in der Infzenierung und ganzen Gefchäftsführung eine ſtarke Stütze gehabt habe. Jedenfalls hat man fich im Refidenztheater darauf verjtanden, flotte Gefamtvorftellungen mit einem Perfonal zu erzielen, deffen männliche Mitglieder fich nicht über die Mittelmäßigkeit erhoben, während die weib- lichen zum größeren Teil darunter blieben. Brandt felbft war der befte Schau- fpieler feiner Gefellihaft. Auch Helene Schüle befist Routine und eine gewiſſe eigenartige Begabung für das Draſtiſche; aber fie fchädigte das Unternehmen, indem fie nach Rollen griff, die ihr nicht oder doch nicht mehr zulamen. Unter allen Umſtänden werden Brandts Nachfolger nicht auf Rofen gebettet fein. Am meiften dürften fie dann Ausſichten haben, wenn fie fich entjchieden dem Volks— tümlichen zuwenden und durch billige Eintrittspreife die Kreiſe herbeiziehen, welchen das Hoftheater verfchloffen ift.

Stuttgart. Rudolf Rrauß.

Carl Lahm: Ein deutjcher Runftfalon in Paris').

Im Jahre 1904 brachte die „Münchener Allgemeine Seitung“ eine Studie von Carl Lahm über den Grund für die Tatfache, daß der deutfchen Kunft die Parifer Salons und überhaupt der Parifer Runfthandel faft gar nicht zugänglich find, Der Berfaffer ſchlug die Gründung eines deutfchen Kunftfalons in Paris vor, welche Idee bald dahin erweitert wurde, da Taufchausitellungen deutfcher und franzöfifcher Kunſtwerke in Berlin, München und Paris ftattfinden möchten. Eine nicht ſehr große, aber qualitativ ftattliche Anzahl von franzöfifchen Rünftlern nahm den Vorfchlag mit all jener Courtoifie auf, die die Diplomaten haben, wenn fie ein ausfichtslofes Projekt befprechen müffen. Man möchte glauben, daß Paris fih fehr für deutfche Kunſt intereffiert, wenn man diefe Stimmen von Robin, Garriöre und anderen hört; merkwürdig ifts nur, daß die Herren alle darüber Hagen, die deutfchen Meifter nicht zu kennen, als ob Frankreich und Deutfchland nicht Grenznachbarn wären, die fich bei einigem guten Willen leicht über ihre £eiftungen orientieren können, wenn das Intereffe daran nur auch wirklich beftebt.

’) Berlag der Allgemeinen Zeitung, ©. m. b. H., München.

72 Rundfchau.

Die deutfchen KRünftler erklärten ebenfalld im allgemeinen diefe Tauſch- ausftellungen für eine ſehr glüdliche Idee; nur haben manche allerlei Bedenten, aus denen deutlich hervorgeht, daß man den ungeheuren Schaden noch nicht ver- geffen bat, der der deutichen Runft auf der legten großen Weltausftellung durch die mehr als unglüdliche Urt angetan wurde, mit der ihre beften Leiftungen den Franzofen vorenthalten wurden und KRünftler von fehr beftrittenem Wert ſich in den Vordergrund drängen durften.

Wer foll diefe Taufchausftellungen arrangieren? Die Künftler find, wie die Erfahrung zeigt, nicht im Stande dazu; fie verfolgen immer egoiftifche Gonder- intereffen und geben ihrem perfönlichen Gefchmad zu viel Raum. Cine aus Künftlern und Laien gebildete gemifchte Rommiffion wird ebenfalls nicht viel gutes ausrichten; man braucht nur an die Unſelbſtändigkeit zu denken, mit der fich die deutſchen KRunftfchriftfteller und ihre fogenannten Führer den Orakeln der jeweils von ihnen angebeteten Künftler unterordnen. Wenn man aber dem Staate die Leitung einer folchen Ausftellung übertragen wollte, dann käme zuverfichtlich etwas ganz Schredliches heraus.

Der Vorſchlag geht dahin, jährlich eine deutſche Eliteausftellung von höchſtens 150 Kunſtwerken zu veranftalten, mit der Verfügung, daß fein KRünftler mehr als zwei Werke einfchiden dürfe. Das heißt, daß mindeftens 75 Künftler ver- treten fein würden. Damit ift die Ausfichtslofigteit des Ganzen Har gefennzeichnet. Wir haben in Deutfchland keine 75 Künſtler, die Elitekunft hervorbringen; übrigens bat auch Frankreich nicht fo viele Meifter erften Ranges.

Sn diefer Hinficht ift Rens Menards Vorſchlag fehr beberzigenswert. Er fchreibt: „DVielleicht werde man gut tun, in jedem Jahr einen entfchwundenen großen Maler in feinen beften Werten ale Mittelpuntt der Ausftellung zu beftimmen“. Menard denkt wohl an das Prinzip, mit dem die doch im allgemeinen nicht ſehr glänzend daftehende heutige italienische Kunſt auf den PVenetianer Ausjtellungen doch immer gute Figur zu machen weiß, indem fie eben einen Künſtler von wirf- liher Bedeutung wie Favretto feparat ausftellt und feiert.

Wenn man aber einen Toten oder wenigftens einen durch fein Alter ehr- würdigen Yubilar als Zentrum der Ausftellung nimmt und trogdem fich auf die Zahl von 150 Werken befchräntt, dann wird es wohl nicht viel für andere Rünftler geben, die in den Kunftfalon zugelaffen werden; aber defto mehr Verdruß und Inerquidlichkeiten wird es geben.

So ſchön gedacht Lahms Idee auch ift, fo fcheint dem Referenten doch, daß fih ihrer Ausführung recht zahlreiche Schwierigkeiten entgegenfegen, worunter nicht die geringjte die ift, daß man nicht einmal den Verſuch wagen darf. Gefest den Fall, daß das Unternehmen fcheitert, fo wie ähnliche Beftrebungen in Deutfchland bis jest auch immer abortiert find, fo wird der Schaden, den unfere deutſche Kunſt erleidet, noch größer fein als der, den fie auf der legten Parifer Weltausftellung erfahren bat.

München. Karl Bolt.

Georg Steinhauſens Gejchichte der deutfchen Kultur.

Es gibt Bücher, die wir fehnlich erwarten, und die nicht gefchrieben werden. Wer wird uns das erfte zufammenfaffende Buch über die Drientalifierung, Des- orientalifierung und Reorientalifierung des alten Griechenland geben? Wer die allmählige Hellenifierung Italiens, Roms befchreiben? Wir warten, und hoffen, daß diefe Aufgaben den Einen, der fie löfen kann, magnetifch anziehen werden. In- zwifchen erfcheint doch von Zeit zu Zeit eines von den Werken, die auf diefem

Rundfchau. 73

unferem imaginären Wunfchzettel verzeichnet ftehen. Georg Steinhauſens Gefchichte der deutjchen Kultur ift eines davon. Der Verlag (das Bibliographifche Inftituf) bat das 747 Geiten ftarte Werk ſchön ausgeftattet; 205 Abbildungen im Tert und 22 bunte Tafeln find beigegeben, feine eilig zufammengerafften Klifchees, fondern gute, faubere, inftruftive und an ihren Ort paffende Slluftrationen; der Preis (17 Marf) ift angefichts der vorzüglichen Ausftattung gewiß nicht zu hoch.

Wie eigentümlich und felbftändig Steinhaufen feine Aufgabe anpadt, zeigt ſchon feine Dispofition: I. Der germanifhe Menfch und fein Anfchluß an die Weltkultur. II. Das Hervortreten des deutſchen Menfchen. III. Die Kirche als Erzieherin und im KRampfe mit der Welt: der Geiftliche ald Rulturträger. IV. Soziale, wirtfchaftliche und geiftige Differenzierung: Herausbildung laiifcher Elemente als Rulturträger und Beginn eines Rulturwandels durch die Kreuzzüge. V. Rulturelle Vorherrſchaft Frankreichs in Europa und ihre Einwirkungen auf Deutichland: höfiſch- ritterliche Kultur, Scholaftit und Gotik; VI. Hervortreten des Volkstums, Herausbildung einer vollstümlichen Kultur des Lebensgenuffes. VII. Erblühen und Vorherrſchaft einer ftädtifchen Kultur vollstümlicher und materieller Färbung. VIII. Zeitalter des Zwiefpaltes: materiellvoltstümliche Rultur und neue geiftige Mächte. Soziale, geiftige und religiöfe Rrifen. IX. Sinken der kulturellen Kräfte: Zurücddrängen des Volkstums und Vorbereitung eines Rulturwandelg unter fremdem Einfluß. Geographifche Verfchiebung des kulturellen Schwerpunfts. x. Säfularifierung und Modernifierung der Kultur unter fremdem Einfluß und unter Führung der Hofgefellihaft. XI. Begründung einer neuen nationalen Kultur durch einen gebildeten Mittelftand. Geiftige Vorberrfchaft Deutfchlande in Europa. XI. Beginn eines völlig neuen, auf naturwifjfenfchaftlich-technifche Um- wälzungen gegründeten Zeitalter äußerlich-materieller Rultur.

Das ift einmal eine Dispofition! Mehr das ift ein Programm! Es ift zugleich Angabe des jeweiligen Zeitabſchnitts und Kritit des ihn behandelnden Mannes. DBom altgermanifchen AUgrarftaate bis zu unferer Zeit der Naturwiffen- fhaft und der Technit, welcher Weg, und zugleich welche Beleuchtung diefes Weges! Wohin ift jene Zeit verfunten, die Gefchichte nur in dem bejchräntten Sinne Freemans gelten laffen wollte: History is past politics and politics present history? Wie lange freilich wird es dauern, bis auch in die ftrengbehüteten Mauern der Schule die Runde vom Wandel hiftorifcher Betrachtung dringt? Noch gibt es Lehrbücher, in denen die Rulturgefchichte in kleingedruckten Anmerkungen abgetan wird; noch gibt es Gefchichtsertemporalien von unbehilflichen Lehrern, noch werden Jahreszahlen auf forglich verftechte Notzettel gefchrieben, noch vor jeder Maturitätsprüfung taufende von überarbeiteten armen Schülergehirnen mit den Zahlen des heiligen Gefchichtstanons gemartert! Man braucht nur einen Blid in gewiffe Handbücher der Gefchichte zu werfen, die an unfern Schulen üblich find, und man erfchridt über die Diskrepanz deffen, was wirklich fennenswürdige Gefchichte ift, und deffen, was den Schülern als Gefchichte gelehrt wird: Kriege und Friedensschlüffe, Regentenreihen, dynaftifche Quisquilien, Schlachten, Stamm- bäume, als handelte fich’8 um Gefchichte der Herrfcher, ftatt um Gefchichte der Völker!

Was erfahren unfere Gymnafiaften von der Rezeption des römifchen Rechte! Wie hilflos einfeitig wird hüben und drüben die Reformation dargeftellt! Gerade diefe beiden Kapitel find bei Steinhaufen mit hoher Gerechtigkeit und Freiheit des Geiftes behandelt. Ruhig zeigt er die einfeitige Art Janſſens und ift doch nicht blind ‚gegen die ſchweren Schäden, die die Reformation im Gefolge hatte. Wo man das Buch auffchlägt, fieht man den vorfichtig urteilenden Hiftorifer, der eben, weil er aus der Fülle fchöpft, einfeitiger Parteiftellungen entraten kann. Auf Schritt und Tritt begegnet man ganz überrafchenden Widerlegungen, Abſchwächungen, Richtig:

74 Rundfchau.

ftellungen landläufiger Anfichten. Man hat ftet3 den Eindrud einer außerordentlich folid fundamentierten Darftellung, die nie mit maffenweife bergeworfenen Details pruntt, fondern, volltommen geiftig verarbeitet und beberrfcht, ald Ganzes wirft. Wirtſchaftliche und politifihe Mächte, religiöfe und fittliche Bewegungen, die Wirkfamteit von Ideen, alles wird gleichmäßig berüdfichtigt. Um ein Beifpiel zu geben, fei das zwölfte Kapitel nach feinen wichtigften Geiten erzerpiert: Gewaltiger Aufihwung der materiellen Kultur, Realitätsfinn, praftijcher PBerftand. An Stelle früherer Innerlichkeit äußerer Fortfchritt mit Tendenz gegen Brutalität zu. Anknüpfend an die Julirevolution, politifhes Aufflammen. Reaktion in Defterreih und Preußen. Einbeitsbeftrebungen ftärter bervortretend: Gründung des Zollvereins, Schleswig-Holftein. 1848: die alte Zeit endgültig begraben! Daneben orthodore und pietiftifche Velleitäten: unduldfame proteitan- tifche Orthodorie Hand in Hand mit politifcher Reaktion. Revolte des Fritifchen Berftandes: Strauß, Baur, Feuerbach. Auffhwung der Naturwifjenfchaften: Anwendung ber eratten Wiffenfchaften in der Praris, internationales Zeitalter der Technik: „die Mafchinen wie das chemifche künftlihe Verfahren an Stelle des Perfönlichen, des Menfchen, überhaupt des Organifchen, des Tieres u. ſ. w.“ Wera der Induftrie, neue überaus rafch vorfchreitende Lebensepoche, definitiver Bruch mit der alten Zeit. Landwirtfchaft: PVerlaffen der Empirie (Tihaer), Einfluß der Naturwiffenfchaften (Liebig); 1. mehr, 2. befjere Erzeugniffe. Agrar—⸗ reformen; neue Klaffe: die beweglichen ländlichen Arbeiter; Entitehung des Gegen- fages von Landarbeiter und Grundbefiser. Maſſenhafte Verwendung der Dampfmafchine; „Kohle und Eifen wurden die Stichworte der neuen Seit“). Ehemifche Wiſſenſchaft befördert chemifche Induftrie, phyſikaliſche Errungenfchaften baben enorme Wandlungen des Beleuchtungsweiens zur Folge. Verkehr: Eifenbahnen; Dampfichiffe: totale Umwälzung durch die neue Technik. Telegrapb, Telephon. „Die Eifenbahnen haben auf das Frachtfuhrmwefen und die Binnen- ſchiffahrt nicht ertötend, fondern belebend gewirkt, ebenfo den Chauffeebau be— fördert.“ Enorm gefteigerter Reife- und Briefverkehr. Poft (Nachrichten-, Patet- und Geldverkehr), Preffe, Handel (orientierende Preisberichte, Reklame). Meffe und Markt verlieren, der Gejchäftsreifende gewinnt an Bedeutung. Seitalter der Technik, der Rohle, des Eifens, des Verkehrs, d. b. Zeitalter der (praftifchen, technifchen) Arbeit. Die Induftrie braucht mehr Menfchenmaterial. Die Arbeit wird zwar beffer und fchneller, aber härter und aufreibender. Gemwerbefreibeit, Unternehmertum. Kapital: der neue Wirtfchaftsbetrieb vereinheitlicht, vereinfacht, d. b. mafchineller Großbetrieb. Starke Zunahme der Bevölkerung. Surüddrängung des Handwerks. Lette Ronfequenzen: Kartelle, Ringe, Trufts (Warenhäufer). Umgeftaltung des Bankweſens, Wandlung des Effektenbörfenwefens. Soziales Leben: Räumliche Umfchichtung der Bevölkerung durch die Induftrie, Zug in die Stadt. Großftädte „wie große Beulen am Volkskörper“ (1871 nur 8 über 100000 Einw., 1900 fchon 33). Zunahme der Bevölkerung durch befiglofe Maffe: Proletariat im Gegenfage zu der aus dem Bürgertum entjtandenen „Bourgeoifie“ (Großinduftrielle, Großhändler, Bantiers), d. h. WUriftokratie des Geldes. Durch legtere die Lebenshaltung höherer Beamter und Gelehrter beeinflußt: „die kapi- taliftifche Färbung der Lniverfitätslehrer beginnt beflagt zu werden, wie auch bei höheren Beamten immer mehr Wert auf Vermögen gelegt wird.“ Begriff des Mittelftandes mehr und mehr herabgedrüdt: faufmännifches und gewerbliches KRlein- bürgertum. Adel: blieb fozial einflußreich in gefeftigter Stellung, fowie in poli- tifher Macht (Regierungsftellen); Auffrifhung der Vermögen durch gute Heiraten. Demofratifierung des öffentlichen Lebens, des Verkehrs, der Trachten, des gefell-

) Bgl. Südd. M.H. I, 6, S. 509: Naumann: Was ift Kapitalismus?

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ſchaftlichen Lebens, der Bildung, der Kunſt, d. h. Nivellierung des inneren Menſchen. Proletariat. Sozialdemokratie: bewußtes Empfinden des ſozialen Elendes. Organi⸗ fation zum Kampf. Schattenſeiten der Induftrie- und Verkehrskultur: Verpeſtung der Luft, Rauchplage, Verunreinigung der Gewäſſer, Lärm, Kataſtrophen. Reaktion gegen alles aufs allgemeine Gerichtete, Spekulative. DOppofition gegen das Lebergewicht der antiten Sprachen, Betonung der Realien. Maffenver- breitung der Bildung: Zeitungen. Ausſchalten des Gemütes: wirtfchaftlicher KRonkturrenztampf, Haft des neuen Erwerbslebens. „Zum Beherrſcher der wirf- lichen Welt, zum feit und ficher auftretenden Manne foll der früher fchüchterne und linkiſche Deutfche nach englifhem und amerifanifchen Mufter werden;" oft nur Firnis! Refte des alten Bildungsftrebens zum Teil im niederen Volk fichtbar. Abneigung gegen tiefere Geiftesbildung. Kunſt gilt als finnliche Serftreuung nach baftiger Arbeit. Die nationale Idee äußerlich gepflegt. Ellbogenpolitik, Aus- nugung der „Beziehungen“. Sport (Einfluß Englands). „Das Nervenleben ift außerordentlich beeinflußt, zum Teil angreifend oder krankhaft, zum Hauptteil aber in der Richtung einer fteigenden Unpaffung der Nerven.” Starke Reizbarkeit und Empfindlichkeit. In der Kunſt das KRomplizierte, technifch Raffinierte, gewaltfam Erregende bevorzugt. Beginnende Reaktion gegen die moderne äußere Kultur: Gegen- oder ftille Unterftrömungen. Sozialer VBerföhnungs- und Reformgeift, unmoderner innerer Zug der Güte, Zug zur Natur, Flucht aufs Land, Betonung der Heimat, Reformbewegungen in Tracht und Lebensweife. Gegzeffioniftifcher Geift: „Diefer fezeffioniftifche Geift beweift mehr das Streben einer im Gegenfag zu den rechnenden und weltzufriedenen induftriellen, beamteten und gelehrten Banaufen ideal fühlenden, durch und durch fubjektiviftifchen, wefentlich ariftofratifchen Generation nach einer neuen, anfcheinend zu fehr äfthetifch gerichteten Kultur. Diefe Generation möchte dabei durchaus nicht des modernen Lebens und Empfindens entraten. Sie möchte aus diefem Leben, aber auf Grundlage einer neuen, reflef- tierten Auffaffung der Natur, in voller Würdigung einer höheren geiftigen Bildung, in eifrigem Ronner mit dem wiffenfchaftlichen Streben, überall auf die organifchen Kräfte zu geben, ein neues Menfchengefchlecht bervorzaubern. Ihr Traum wird teilweife Geftalt gewinnen ..... Auch am Ende diefer Gefchichte der deutfchen Kultur ſcheut fih der Verfaffer nicht, auszufprechen, daß er es mit den Gegnern der angeblichen Rulturerrungenfchaften hält, mit Wagner, der von „dem Induftrie- peftgeruch ftädtifcher Zivilifation“ fpricht, und mit Bismard, dem „am wohliten“ war „weit weg von der Zivilifation”. „Um beften ift mir da zu Mute, wo man nur den Specht hört.“ Es ift noch immer das germanifche Waldfind, dag aus ſolchen Worten zu ung fpricht.“

So babe ich, fo gut ich’8 konnte, den Lefern der Monatshefte einen Ber griff von Steinhaufens wertvollem Buche zu geben verfucht. Sie kennen feine Dispofition, feine Urt zu gruppieren, feinen Stil, fie fonnten ſehen, daß binter dem ordnenden Gelehrten ein warm und groß empfindender Menfch fteckt, der nicht ängftlich hinter Pfeudo-Objektivität fich verbirgt, fondern Inapp und deutlich überall ſich ausfpricht. Ein außerordentlihes Buch! Ihm werde, was es verdient: ein außerordentlicher Erfolg!

München, Sofef Hofmiller.

Die Zefuiten.

Als der legte Iefuitenrummel losging, wartete ich darauf, daß doch end- lich einmal die Stimme der pathetifch entrüfteten Redner in dem mit elementarer Gewalt ausbrechenden Gelächter des Publikums erftiden würde. Man bedente

76 Rundfchau.

nur: Hoensbroech gebärdet fich entjegt darüber, daß die Sefuiten Sünder los⸗ fprechen, die ihre Sünden nicht aus volllommener Liebe zu Gott bereuen vor einem Publitum, das fich mit dem atheiftifchen Evangelium Hädels brüfte. Zwar bat nicht ein einziger Jeſuit gelehrt, daß man zu einem guten Zweck fittlich ver- werflihe Mittel anwenden dürfe (nur zur Abwendung der größeren Sünde die Heinere zu geftatten oder anzuraten, haben nach Hoensbroechs jüngften Geftänd- niffen einige erlaubt), aber unferm Publitum werden die Sefuiten trogdem immer noch als verabfcheuungswürdige Monftra vorgeftellt, die durch den Zweck das fchlechte Mittel nicht allein erlaubt machen, fondern fogar heiligen laffen dieſem Dublitum, das in unferer Zeit des unlautern Wettbewerbes volllommen moralin- frei geworden ift, von Sünde überhaupt nichts weiß und auf dem wirtfchaftlichen wie auf dem politifchen Gebiet ftrupellos zu den fchlechteften Zwecken die fchlechteften Mittel anwendet. Weil ein fpanifcher Jeſuit, Mariana, die Ermordung des zum Regieren unfähigen Wollüftlings und tüdifchen Meuchelmörders Heinrich IIL durch Clement billigt (in dem Buche De rege et regis institutione, das er, als einen Fürftenfpiegel, im Auftrage Philipps II. gefchrieben und deffen Sohn und Nachfolger Philipp III. gewidmet hat), werden die Iefuiten als ftaatsgefährliche Umſtürzler denunziert, in den Organen der Partei, die fih mit dem Männer: ſtolz vor Königsthronen brüftet, in einem Volle, deffen Jugend feit hundert Jahren aus Schillers Tell Freiheitsliede und Tyrannenhaß trinkt, vor einem Dublitum, das über die Ermordung Plehwes gejubelt und über die eines ruffifchen Großfürften fi nicht im mindeften entrüftet hat, fo wenig wie das von 1819 über die Ermordung des Tyrannendienerd KRogebue durch Sand. Bei Schillers Erwähnung fällt mir ein, wie er in Bauerbach, um feiner Befchüserin, der Frau von Wolzogen, keine Ungelegenbeiten zu bereiten, höchſt jefuitiich feine Spuren verdedte, indem er Briefe mit erlogenen Nachrichten fchrieb und fie aus Hannover datierte. Ferner, wie er den intriganten Charakter feines edlen Pofa rechtfertigt. Er will zeigen, „daß der uneigennügigfte, reinfte und edeljte Menfch aus enthu- ſiaſtiſcher Anbänglichkeit an feine VBorftellung von Tugend und bervorzu- bringendem Glüde fehr oft der Verfuchung erliegt, ebenfo willtürlih mit den Individuen zu fehalten, als nur immer der felbftfüchtigfte Defpot.” Worin zu- gleih die Entjchuldigung für den Großinquifitor liegt, wie er fich ihn gedacht bat, und für die Sefuiten, wie fie wirklich manchmal gehandelt haben mögen.

Ufo ich wartete auf das große Lachen, aber es blieb aus. Natürlich! Die hellen Sachen bildeten fih ja ein, Sefuiten hätten den Verführer ihrer Kronprinzeffin (der junge Laffe wird ja wohl der Verführte gewefen fein) an dem von lutheriſchen Argusaugen überwachten Hofe eingefchmuggelt; das Ber- liner Tageblatt erklärte den felbftverftändlichen Widerftand der Polen gegen die Iwangsgermanifation aus den Millionen der Iefuiten, und ganz kürzlich erft bat ein Bonner Profeffor entdeckt, daß es nicht das Lnternehmerintereffe, fondern ein Jeſuitenkniff fei, was polnifche Arbeiter nach dem Weiten lodt, um von dort aus das Deutfche Reich aus den Angeln zu heben. Wie follte ein Publitum von fo phänomenaler Dummheit den Humor der Situation verftehen!

Die Jefuiten felbft feheinen darum den neueften Rummel nicht tragifch zu nehmen. Dergleichen mit pbilofopbifchem Gleichmut oder vielmehr mit der sancta indifferentia zu erfragen, dazu bat fie ja die Erziehung in ihren Ordene- bäufern angeleitet. Man bat wenig von Verteidigung vernommen. Der Pater Duhr bat feinen Sefuitenfabeln noch einige nachgefchict, das fcheint alles zu fein. Deſto mehr bat fich ein liberaler Proteftant: Dr. Biltor Naumann, die greuliche Mißhandlung der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des gefunden Menfchenverftandes zu Herzen genommen. Nachdem er vor zwei Jahren unter dem Pfeudonym Pilatus und dem Titel Quos ego! „Fehdebriefe wider den

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Grafen Paul von Hoensbroech“ veröffentlicht und diefem eine Unmaffe gefälfchter und ungenauer Zitate nachgewiefen hatte, hat er dann das für diefen Zweck gefammelte umfangreiche Material zu einer zufammenbhängenden Darftellung ver- arbeitet und diefe (bei &. 3. Manz in Regensburg, 1905) unter dem Titel herausgegeben: „Der Jeſuitismus. ine kritifhe Würdigung der Grundfäge, ber Berfaffung und geiftigen Entwidlung der Gefellfchaft Sefu, mit befonderer Beziehung auf die wiffenfchaftlichen Kämpfe und auf die Darftellung von anti- jefuitifcher Seite. Nebſt einem literarhiftorifchen Anhang: Die antijefuitifche Literatur von der Gründung des Ordens bis auf unfre Zeit.“ Die Fülle der Einzelheiten, die der fleifige Forfcher in erftaunlich kurzer Zeit zufammen getragen bat, ift nun zwar im höchften Grade intereffant und belehrend, aber das muß ausdrüdlich hervorgehoben werden notwendig war feine Arbeit nicht. Aus Rantes Darftellung weiß jeder biftorifch Gebildete, daß der Iefuitenorden nicht zur Belämpfung des Proteftantismus gegründet worden ift, wenn ihn auch die Umftände zum Hauptwerkzeuge diefer Belämpfung gemacht haben. Aus derfelben Haffifchen Darftellung weiß ferner der biftorifch Gebildete, daß es nicht (mas nur indifche Unmwiffenheit für möglich halten kann) Zauberkünfte oder Verbrechen und Intrigen gewefen find, womit die Iefuiten Millionen dem alten Glauben wieder- gewonnen und darin befeftigt haben, fondern echt priefterliche Seelſorgstätigkeit, folide Belehrung, gutes Beifpiel und eine Jugenderziehung, die im 16. und 17. Zahrhundert muftergültig war, die aber auch noch in unfrer Zeit die Jugend für die Ideale des Drdens zu begeiftern und an bdiefen durch Dankbarkeit zu feffeln vermag, wie die warme Schilderung von Alfred Leonpacher im vorjährigen Märzheft diefer Zeitfchrift beweift. (Er erwähnt einen meiner Beiträge für die Zukunft“ und bemerkt, daß mir die Frage: „mit wem?“ bei Behandlung des 6. Gebots im Beichtftuhl bittere Vorwürfe von jefuitifchen Vorgefegten zugezogen haben würde. Ich hatte mich nur, der Kürze wegen, zu der man in Seitfchriften genötigt ift, fchlecht ausgedrüdt; ich habe jelbftverftändlich niemals nach dem Namen des Mitfchuldigen gefragt, fondern nur nach Gefchleht und Stand, ob ledig oder verheiratet u. |. w.) Ueber die Prunkſtücke der antijefuitifchen Polemik wie die Monita Secreta und das Ungarische Fluchformular hatte fchon Duhr hin— reichend Auskunft gegeben. Von den intereffanten Einzelheiten Naumanns fol nur eine erwähnt werden. Heinrich IV. von Frankreich hielt nach feiner Thron- befteigung gute Freundfchaft mit den Iefuiten zum großen WUerger ihrer ein- flußreichen Feinde, deren ärgfte die Sorbonne und das Parifer Parlament waren. Unter den 17 verunglüdten WUttentaten nun, die gegen diefen Fürſten verübt wurden, waren zivei, die gegen die Jeſuiten auszubeuten einigermaßen gelang. Dem Orden feindliche Autoren behaupteten, der Soldat Barriöre, deffen Attentat ins Zahr 1593 fällt, habe auf der Folter unter vielen andern Mitwiffern und Anftiftern feiner Tat auch den Iefuiten VBarade genannt. Naumann meint nun ganz richtig, ein Belenntnis nach fcharfer Tortur fei nicht wert und zudem fei es im böchften Grade unmwahrfcheinlich, daß Barriere den Pater Barade genannt babe, weil diefer bis zur allgemeinen QAustreibung der Iefuiten im Jahre 1595 unbehelligt geblieben fe. Wie unmwahrfcheinlich, das zeige die Eile der YJuftiz im zweiten Fall. Der Student Sean Chatel verwundete den König, und ftörte ihn noch dazu in einem Schäferftündchen bei feiner charmante Gabrielle. Im Prozeß kam es heraus, daß Chatel Iefuitenfchüler war. Zwar leugnete er auch auf der Folter, daß feine beiden Lehrer um fein Verbrechen wüßten oder durch ihre Lehren Anlaß dazu gegeben hätten, trogdem machte das Parifer Parlament allen Sefuiten feines Jurisdiktionsbezirks den Prozeß, jchloß ihre Häufer, vertrieb fie aus Paris und aus allen Gebieten Frankreichs, in die feine Macht reichte. Die beiden Lehrer Chateld wurden der peinlichen Befragung unterworfen. Dem

78 Rundſchau.

einen, Gusret, konnte man weder ein Geſtändnis erpreſſen noch auf anderm Wege eine Schuld nachweiſen. Bei dem andern, Guignard, fand man eine die Er— mordung Heinrichs III. verherrlichende Flugſchrift, und auf dieſe einzige Tatſache hin verurteilte man ihn zum Tode und ließ den bis zum letzten Atemzuge ſeine Unſchuld Beteuernden ſchleunigſt hinrichten. Der König aber verbot 1598 die Vertreibung der Jeſuiten aus den Provinzen, in denen ſie noch gelaſſen worden waren, und rief ſie 1603 in ihre alten Sitze zurück. Den Jeſuiten Cotton wählte er zu ſeinem Beichtvater, und ſetzte dem Parlament ſeine Gründe für die Rehabilitierung des Ordens in einer längeren Rede auseinander. Darin erklärt er alle Vorwürfe, die gegen die Jeſuiten erhoben wurden, für unbewieſene und unbeweisbare Verleumdungen, verſpottet das Gerede von ihren angeblichen un- ermeflichen Reichtümern und dedt als eine Hauptquelle der Verleumdungen den Meid der Profefforen der Parifer Univerfität auf. „Zum Vorwurf wird ihnen gemacht, daß fie die klügſten Röpfe der Jugend für fich gewinnen. Bringt doch das auch zuftande, wenn ihr es könnt!” Uber fie könnten es eben nicht. Geitdem die Sefuiten verbannt feien, ziehe die talentvolle Fugend ihnen nach ing Ausland, zum großen Schaden des VBaterlandes,

Die Kreuzzeitung meint in ihrer Befprechung des Buches von Naumann, auf die Wiederholung der üblichen Anlagen gegen den Orden würden nun wohl die Proteftanten verzichten müffen, aber den allgemeinen und grimmigen Haß gegen den Drden habe es nicht erklärt. Doch einigermaßen. Naumann ftellt im einzelnen dar, was oberflächlich längft bekannt war (ein alter Pfarrerfpruch lautet: mala parochia in via, pejor, ubi jurista, pessima, ubi Jesuita), daß der Drden gleich im Beginn feiner Wirkfamkeit auf die beftigfte Feindfchaft im eignen Lager ftieß. Mit feiner eifrigen Reformtätigkeit ftörte er die Bequemlichkeit der alten Drden und der gleichfalls verlotterten Pfarrgeiftlichkeit und weckte er Die Eiferfucht folcher Mitglieder des Klerus, die noch etwas leifteten. Unter diefen waren die bervorragendften die Profefloren der altberühmten Sorbonne, denen er die beiten Schüler entzog. Die Bifchöfe waren eiferfüchtig auf die Gefellichaft, weil fie einen von ihrer Jurisdiktion ganz unabhängigen Staat im bierarchifchen GStaate bildete, und fpäter traten eifrige und gelehrte KRatholiten, wie die Jan— feniften von Port Royal gegen die ihrer Anſicht nach lare Behandlung der Moralfragen in den jefuitifchen Lehrbüchern auf, wozu fie als ganz mönchiſch gefinnte ehrliche Rigoriften ein Recht hatten, während fich unfer für ehebrecherifche Prinzeffinnen und dito Parteiführer ſchwärmendes Graßmannpublitum nur lächerlich und verächtlich macht, wenn es mit feiner fittlichen Entrüftung über Gury pofiert. Den empfindlichften Schlag gegen den Orden hat der aufrichtig fromme und gläubige Pascal geführt, und reichlich hundert Jahre vorher fchon, im Jahre 1554, hatte die Parifer Univerſität in einer conclusio alles zufammengefaßt, was fich vom Standpunkte des Lebelmollenden aus Grundfägliches gegen den Orden aus- fagen läßt. Die perfide Verleumdung aber wurde von ausgetretenen und aus geftoßenen Mitgliedern des Ordens betrieben. Sie enthüllten eine angebliche Gebeimlehre des Drdens und ein ihr entjprechendes verruchtes Treiben. Der erfte diefer DVerleumder war Hafenmüller, deffen Pamphlete in den achtziger Fahren des 16. Jahrhunderts von einem angefehenen proteftantifchen Theologen, Dolykarp Leyſer, herausgegeben wurden. Gie find das Arſenal, aus dem alle fpäteren Sefuitenfeinde ihr Rüftzeug genommen haben. Gollten fich die Proteftanten der Waffen, die ihnen die Katholiken fchmiedeten, nicht bedienen gegen ihre gefährlichften Feinde? Denn das waren unftreitig die Sefuiten. Gie haften der morſchen alten Kirche neues Leben eingehaucht, deren fittliches Rückgrat wieder gefeftigt, ihr Widerftandstraft verliehen und fo dem Fortfchritt des „Evangeliums“ einen Damm entgegengeftellt, und fie wurden die geiftlichen Werkzeuge der

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Bayernherzöge und der Habsburger bei der Gegenreformation. Die Proteftanten hatten ein Recht, diefe ihre gefährlichen Feinde zu baffen, und die beiden Jahr- hunderte der Glaubenslämpfe waren eine Zeit des fanatifchen Haffes, in der tein Menjch daran dachte, die achtungswerte Perfon des politifchen oder konfeifio- nellen Gegners von deffen verhaßter Sache zu trennen, und gegen den Feind erhobene Anklagen kritifch zu prüfen; war es doch allgemeiner Brauch, auf der Folter zu erpreffen, was man gern hören wollte. So haben katholifche Geiftliche aus felbitfüchtigen Beweggründen die Vorurteile gegen den Sefuitenorden gefchaffen, zu ihrer Verbreitung haben felbftverftändlich die Proteftanten das Ihrige bei- getragen, und jede fpätere Generation bat in ihren Gtreitfchriften die Anklagen der vorhergehenden mit mehr oder weniger bona fides abgefchrieben, ohne auf die Quellen zurüdzugeben und diefe zu unterfuchen. Die Ratholiten haben alfo eigentlich fein Recht, fich über den weit verbreiteten und intenfiwen Sefuitenhaß zu wundern und zu befchweren; fie follten befennen: nostra culpa, nostra maxima culpa, und fich fragen, ob eine Kirche im dogmatifchen Sinne des Wortes göttlich fein könne, deren Klerus einmal in jahrhundertelangem Rampfe gerade das eine feiner Glieder niedergerungen bat, das in der gefährlichften Krifis diefe Kirche gerettet hatte, und deren angeblich unfehlbares Oberhaupt fich von den beiden Darteien bin und ber zerren läßt, bald fo, bald fo entfcheidet.

Denn auch der große Kampf, der mit der Aufhebung des Ordens endigte, iſt ja nicht von Proteftanten geführt worden, fondern von katholifchen GStaate- männern, Pbilofophen und Prälaten. Der Abt von Polling in Bayern, der „ein guter Freimaurer“ war und eine große antijefuitifche Bibliothek hatte, feierte die Aufhebung mit einem großen Giegesdiner. Der proteftantifche Friedrich der Große und die fchismatifchen ruffifchen Zaren Paul I. und Ulerander I. waren die einzigen Fürften Europas, die den aus allen katholiſchen Ländern mit brutaler Roheit vertriebnen und gleich wilden Tieren gehesten Drdensleuten eine Zuflucht: ftätte und Gelegenheit zur Fortführung der gewohnten Lehrtätigleit gewährten, Sehr richtig hebt Naumann hervor, wie wunderlich es ift, daß die Sefuitenfeinde in einem Gebeimbunde, dem Freimaurerorden, organifiert waren, daß die Blüte des Rationalismus mit den tollften Auswüchſen der Myſtik behaftet, das Jahr⸗ hundert der Aufflärung zugleich das der Geifterfeher und der von diefen genas- führten und gerupften KRavaliere und Damen geweſen if. (Kuno Fifcher erflärt den Widerfpruch fehr hübſch in einer Analyſe von Schillers Geifter- eher.) Der Unfinn hat fich bis ins nächfte Iahrhundert hinein erhalten und noch Goethen die Idee eingegeben, feinen Wilhelm Meifter von einem Gebheimbunde mit unfichtbaren Fäden leiten zu laffen, wie der unbiftorifche Großinquifitor im Don Garlos den Pofa leitet. Da alle vornehmen Leute darauf verſeſſen waren, in Gebeimbünden organifiert, die Geſchicke der Individuen und der Völker Ienten zu wollen, fo werden fie ganz bona fide als felbftverjtändlich vorausgeſetzt haben, dab die Gefellichaft Iefu, die ja ihre vortreffliche Organifation ſchon hatte, nicht erſt zu fchaffen brauchte, diefe zur geheimen Lenkung der Menfchen und zu deren Ausbeutung für ihre Zwecke benüge. Eine folche Gebeimleitung war nun auch ein ausgezeichneter Stoff für Genfationsromane. Naumann erwähnt Spindler und Gutzkow. Vor diefen hatte fchon der unter dem Namen Clauren fchreibende Heun Sefuitenintrigen und Lüfternheit zu einem bonigfühen, würzigen Brei zufammen- gerührt, und Eugen Sue hat dann alle Konkurrenten gefchlagen.

Das wäre doch eigentlich Erklärung genug; was bleibt denn unerflärt? Doch läßt fich noch einiges beifügen. Das liebe Publitum braucht immer einen Sündenbod für die von ihm begangenen politifchen und fonftigen Dummheiten und zugleich einen Popanz, den es mit feinen eigenen Laftern behängt, um fich beim Anblick des Scheufals jagen zu können: was bin ich doch im Vergleich

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mit dem da für ein vortreffliches Weſen! Das Scheuſal heißt manchmal Na— poleon III, manchmal Bismard, manchmal Sozialdemofrat, manchmal Jude, mand- mal Kapitalift, immer aber Iefuit, weil man die Scheuche, auf deren Ausftattung drei Jahrhunderte fo viel Fleiß verwendet haben, nun einmal vorrätig hat. So eine Scheuche wird dann für jeden politifchen, für jeden idealen Miherfolg der Partei verantwortlich gemacht und außerdem ift fie eine unerfchöpfliche Quelle des Amüfements. Man denke nur, welch unerfeglichen Verluſt die Wigblätter und ihre Lefer erleiden würden, wenn fie nicht mehr die fchwarzen Vögel den KRyff- bäufer umflattern laffen könnten! Go eine Scheuche gehört zu den beiligften Gütern, die fih das Publitum nicht rauben läßt. Und in diefem Falle fommt ihm auch noch die Philofophie zu Hilfe. Der Entwidlungsgedante ift an fich richtig, aber feine Ausführung in der Hegelihen Schule hat nicht weniger Ron- fufion angerichtet ald die fpätere im Darwinismus, mit der wir es bier nicht zu tun haben. In jener ftellt man ſich jedes Spätere als ein Höheres vor, deſſen Erfcheinen dem Früheren, Niederen die Verpflichtung auflege, zu verfchiwinden. So hätte nach diefem Fortichrittfehema der Katholizismus untergehen müffen, als der Proteftantismus eintrat, und diefer müßte heute dem atheiftifchen Monismus Play machen. Wenn nun, meinen die Herren, nicht bloß das Chriftentum, fondern fogar der fatholifche „Uberglaube“ immer noch luftig weiter wuchert, fo muß im Berborgenen eine böfe Macht tätig fein, die den Fortfchritt der natürlichen Ent- widlung aufhält. Und diefe Macht ift eben der Sefuitismus. Da haben wir den Teufel wieder, den die Frommen für ihre ſehr natürlichen Mißerfolge verant- wortlich zu machen pflegen. Die natürliche Entwidlung fieht nämlich ganz anders aus als das Hegelfhe Schema. Gie ift nicht ein Verfchlingen des Vorhergehenden durch das Nachfolgende, fondern die allmähliche Entfaltung aller im Keim ver- borgnen Möglichkeiten, wobei das früher Hervorgetretene neben dem fpäter Er- ſchienenen beftehen bleibt, fo daß eine immer größere Mannigfaltigkeit entſteht. Wenn das Wort Fortichritt für den Wettlauf überhaupt Sinn und Berechtigung bat, jo liegt beides darin, daß er das Dafein immer reicher und mannigfaltiger ge» ftaltet. Die Reformation hat nur Gegenfäge und Verfchiedenheiten offen bervor- treten laffen, die in der mittelalterlichen Kirche längft und kaum halb latent ge- lebt hatten. Man bat alfo nicht nötig, den Fortbeftand der alten Kirche aus der geheimen Wirkfamteit einer Gefellihaft von Teufeln zu erklären; der alte Fritz, der feinen Parifer Freunden fchrieb, wenn man den Menfchen ihren „Aberglauben“ mit Gewalt aus den Herzen reißen könnte, würden fie fich einen neuen, noch ſchlimmeren erfinnen, war ein viel weiferer Philoſoph als die damaligen Enzy- Hopädiften und die fpäteren Hegelianer.

Und fo werden fich auch der Sefuitenaberglaube und die Sefuitenfurcht als unausrottbar erweifen, und Naumanns Aufllärungsarbeit wird nur den wenigen PBernünftigen nügen. Llebrigens gebt diefer liberale Proteftant im Eifer für feine Schüßlinge zu weit. Er nimmt e8 3. B. den Häuptern der Altkatholiken übel, daß fie die Iefuiten bekämpft haben. Nun haben allerdings auch diefe übers Ziel gefchoffen; in der Hite der Polemik find fie der Krankheit der Sefuiten- riecherei verfallen, und haben überall Iefuiten gefpürt, wo es fich nur um KRonfer quenzen der katholiſchen Drtbodorie handelte. Uber Naumann irrt, wenn er die Unfehlbarkeitserklärung für eine theologiſche Angelegenheit hält, die die übrige Welt nichts angehe. Freilich, die fchredlichen politifchen Folgen, die ihre Gegner vorausgefagt hatten, konnten nicht eintreten, weil das Papfttum feine politifche Macht verloren hatte. Uber der Zweck der Linfehlbarkeitserflärung war eben geweſen, diefe unevangelifche weltliche Macht wiederherzuftellen und zu befeftigen, und jo vorfichtig man mit dem Finger Gottes fein muß nicht bloß feinen Finger, fondern feine Fauft ſah man und fein Lachen hörte man (der Welten-

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lenter bat nach dem 4. Verſe des 2. Pfalms Humor), als der LUnfehlbarfeits- erlärung die franzöfifche Kriegserklärung auf dem Fuße folgte, die den Reft des jämmerlichen Kirchenftaats hinwegfegen follte, um deffentwillen Pius die Kirche kompromittiert hatte. Gewiß war die Llnfehlbarkeitserflärung nur die KRonfequenz der fatholifchen Dogmatik. Aber weil diefe Ronfequenz ein offen- barer Widerfinn ift, fo mußte man daraus auf die Falſchheit der katholiſchen Dogmatik fließen. Döllinger und feine Freunde begingen den Fehler, daß fie fi für die Vertreter der echten Orthodorie hielten, und von diefer aus die jefuitifche Form des Katholizismus bekämpften. Was die vatitanifchen Vorgänge fihtbar machten, das war eben der Bankrott der Drthodorie, die nicht gleich- bedeutend ift mit der katholiſchen Kirche,

Man fehe fih das Wirken diefer Kirche dort an, wo fie erfreuliche und unanfechtbare Früchte trägt: in einer Gemeinde, die einen tüchtigen Pfarrer hat; einen Geiftlichen, der nicht bloß dem Namen nach geiftlich ift; der feine Schäf- lein in Ordnung bält, fie mit den Worten der Schrift tröftet und erbaut, die Jugend in der Gottesfurcht erzieht, Vater der Armen, weifer Berater aller Rat- lofen ift und auch für das leiblihe Wohl der Geinen in zeitgemäßer Weife forgt, beut alſo z. B. durh Gründung und Leitung ländlicher Genoffenfchaften. Solches Wirken unterfcheidet fih in gar nichts Wefentlihem von dem feines evangelifchen Amtsbruders. Das mehr an Zeremonien, an phantafievoller Aus- fhmüdung der Erbauungsreden verleiht ebenfo wie fein Ornat dem Ganzen eine andere, eine heiterere Färbung, aber an dem Wefentlichen, was beiden Arten von Geelforge gemeinfam ift, ändert die nichts. Dieſe chriftliche Seelſorge be- rubt auf dem Glauben an den bimmlifhen Vater und feine gütige Vorfehung, an den menfchgewordenen Sohn, der und vom Zeremonienzwang und der Angſt vor allerlei Unholden befreit und die fegensreiche Anſtalt der Kirche geftiftet bat, an den göttlichen Geift, der in der Kirche waltet und jederzeit die Männer erweckt, deren fie bedarf im 16. Zahrhundert den Luther für die Nordländer und den Loyola für die Südländer und an die gerechte Vergeltung im Ien- ſeits. Mit diefem mohltätigen Wirken haben die von fcharffinnigen Köpfen ausgellügelten Spekulationen über unwißbare Dinge, die man Dogmen nennt, und welche die Philofophie ihrer Entftehungszeit gewefen find, fo wenig etwas zu Schaffen wie Kants Kritit der reinen Vernunft, über deren Sinn die Ge- Iehrten ebenfall® bis zum jüngften Tage ftreiten werden. Der Orthodoxismus befteht nun eben darin, daß man die feelforgerlihe Wirkſamkeit und gar die ewige Seligkeit von Glaubensfägen, philofophifchen Spekulationen abhängig machen will, um die fich kein ernfthafter Menfch mehr kümmert. Diefer Orthodoxismus macht die unwiffenden Bigotten zu nicht ganz ungefährlichen und jedenfalls höchſt läftigen Fanatikern, und zwingt die Denkenden, die ihrer Kirche freu bleiben wollen, zur Seuchelei. Denn kein Denkender glaubt heute an den Teufel und an die ewige Höllenftrafe, kein Denkender glaubt, daß Lohn und Strafe im Ien- ſeits von der Annahme theofophifcher Säge abhängen könnten, die müßige Tüftler ausgeheckt haben, oder von priefterlichen Zeremonien und Formeln, die ja als erbaulihe Symbole ihren Nuten haben können. Einen folhem Glauben ent- Iprechenden Gott konnte man fih in einer Seit vorftellen, wo man lebendige Menfchen zum Vergnügen des Publitums von wilden Tieren zerreißen ließ, fonnte man fich vorftellen im 16. und 17. Jahrhundert, wo die obrigkeitlichen Derfonen als leibhaftige Teufel Menfchen, und zwar meiſtens fchuldlofe, foltern und lebendig verbrennen oder verftümmeln und vierteilen ließen, heute fann man fih ihn nicht mehr vorftellen.

Die Iefuiten find nun die Vertreter des ftarren Orthodorismus in der Kirche und ftemmen ſich der notwendig gewordenen Umbildung der pol im

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liberalen Sinne entgegen, deswegen ſind ſie heute der Kirche in demſelben Grade ſchädlich, wie fie ihr im 16. Zahrhundert notwendig und nützlich geweſen find. Leonpacher rühmt die Früchte der jefuitifchen Erziehung für Geift, Gemüt und Charakter. Daß fie folche bervorbringen kann, weiß ich aus eigener Erfahrung, weil ich mittelbar von Lehrern, die Zefuitenfchüler waren, durch fie beeinflußt worden bin; namentlich zweifle ich nicht daran, daß fie edle Bünglinge mit dem Enthufiasmus der Gelbftaufopferung für das Geelenbeil ihrer Mitmenfchen zu erfüllen vermag. Aber es ift Vermefjenheit, zu glauben, man befinde ſich im Belis, im ausschließlichen Befig der richtigen Runft der Heilswirfung, und diefe Bermeffenheit ftraft fih. So viel glüdliche Erfolge unter günftigen Umſtänden im einzelnen erzielt werden mögen im großen und ganzen zeugt der Zuftand der Länder, wo die Iefuiten ihre Wirkfamteit frei haben entfalten dürfen: des untergegangenen Rirchenftaates, des heutigen Frankreichs und Defterreichs, gegen ihre Erziehung. Darum bin ich Gegner diefer Erziehung, und halte die Be: fämpfung des jefuitifchen Inftituts im Interefje ſowohl der katholiſchen Kirche als des deutfchen Volkes für Pflicht. Uber felbftverftändlih nur eine Be— fämpfung, wie fie bei anftändigen politifchen Gegnern üblich iſt. Die perfönlichen Träger des jefuitifchen Inftituts zu verunglimpfen, ift um fo unanjtändiger, weil fih unter ihnen weit weniger Männer von zweifelhaftem oder anfechtbarem Charakter befinden, als in irgendeiner politifchen Partei. Gie find fämtlich ge: lehrte Männer, die fich nach Kräften nüslich machen, viele von ihnen hochverdient um die Uftronomie, die Geographie, die Ethnologie, die Biologie und andere Zweige der Naturwiffenfchaften (in der Gefchichte leiften fie grundfäglich nichts, weil fie fih vor ihr fürchten; die Gefchichte widerlegt nämlich, ebenſo wie die unbefangen betrachtete tägliche Lebenserfahrung, die Dogmatik). Kürzlich bat der Kaifer dem Pater Fod, der wegen feiner Taifunforfhung von der deutjchen Marine gefchägt wird, die goldene Medaille für Runft und Wiffenfchaft verliehen. Und von den Sefuiten, die von 1849 bis 1872 in Deutfchland tätig gemejen find, ift nicht einer mit dem Strafgefeg in Konflikt gekommen. Trogdem muß man fie, wie gefagt, befämpfen, und darf ihnen die Erziehung der Jugend nicht an- vertrauen. Aber wenn man die alten Schauermären und Berleumdungen immer wieder auftvärmt und twegen der Aufhebung des Paragraphen tobt, der folde Männer gleich den Dirnen und den entlaffenen Zuchthäuslern der Polizeiaufficht unterwarf und darum ein Schimpf war nicht für die Sefuiten, fondern für das Deutfche Reich, fo ift das eine Rampfesweife, für die es keine parlamentarijche Bezeichnung gibt.

Wie ich fchließe, fällt mir das dritte Morgenblatt der Nummer 94 der Frankfurter Zeitung in die Hände. Es enthält die Begründung des den An— geflagten Dasbach freifprechenden Xrteild in dem von Hoensbroech gegen ihn angeftrengten Prozeß, und diefe Begründung widerlegt die DVerleumdung, die Zefuiten lehrten die Heiligung des fchlechten Mittels durch den guten Zweck, fo Har und erfchöpfend, daß in Zukunft zur Wiederholung diefer Verleumdung ein ganz ungewöhnliches Maß von Frechheit gehören wird,

Reiffe. Karl Jentſch.

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„Meine indifche Reife“ von Eugenie Schaeuffelen. München 1904. Berlagsanftalt $. Brudmann, A.G. Die Verfafferin diefes herrlich ausgeftatteten und mit vielen vorzüglichen

Bildern geſchmückten Werkes gefteht mit liebensiwürdiger Offenherzigteit, daß ihre Reife „weder in Hinficht auf ihr Ziel noch auf ihre Durchführung irgendivie

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von derjenigen des „Globetrotter“ abwich,” und fchiebt die Verantwortung für die DVeröffentlihung diefer Aufzeichnungen einem engeren Freundeskreiſe zu: Diefe Laft zu tragen wird den Freunden gewiß nicht ſchwer fallen. Andere indifche Reifen können uns Anderes und auch Wertvolleres bieten; fie können wie Deuffen und Edwin Arnold uns die Inder felbft näher bringen, Durch vertrauten Verkehr mit gelehrten Pandits, nadten Asketen, Jainas und buddhiſtiſchen Mönchen und durch den indifchen Geift, der die Verfaſſer felbft Durchdrungen bat (mas weniger von Garbes Schilderungen gilt); fie können ung wie Ehlers in das Leben und Treiben indifcher Rajahhöfe führen oder wie Boved und unzugängliche Gegenden eröffnen; können wie Pierre Loti uns poefie- und farbengefättigte Bilder mit dem ganzen Pirtuofentum franzöfifcher Schrifttellertunft vorzaubern, wie Jules Bois (Visions de l'Inde) feinfinnige Bemerkungen über indifche Kunſt und geiftvolle AUpercus bieten, oder endlich wie Kipling mit wenigen markanten Zügen Szenen entwerfen, die fich nur einer längeren Belanntfchaft mit Land und Leuten erfchließen. Nicht zu reden von den böchft wertvollen Schilderungen älterer Engländer, von denen 5. ®. Davidfon tief in die Iungeld auf wochenlange Tigerjagden ftreift, Mrs. DPoftaus (am Schluffe der Dreißiger Jahre) in der Provinz Cutch noch ein Stück antikes Indien findet und den sati in feiner ganzen Furchtbarkeit aber auch in feinem faft unglaublichen Heroismus erlebt, während Todd (in den Zwanziger Jahren) den legten Glanz von Rajputanas ritterlicher Herrlichkeit fiebt. Uber ich kenne feine Befchreibung, die modernes Reifeleben in Indien uns fo anfchaulich vor Augen führen und ung ihre Genüffe wie ihre Befchwerden fo mit- erleben läßt. Dffene Sinne und offenen Sinn diefe Grundbedingungen bat Frau Schaeuffelen nah dem großen Wunderland mitgebracht; aber nicht das allein, auch die nicht zu unterfchägende Energie, fofort die Eindrücke mittelft der Feder feftzuhalten, was auf einer foldhen Reife nicht wenig heißen will; daher die Frifche, die Fülle der Details, die das Ganze lebendig macht, die unmittel- bare Anfchaulichkeit, die ung ftets feffelt und nicht felten entzüdt.

Gewiß, es ift nicht „Indien ohne die Engländer,“ aber es ift doch auch nicht, wie fo oft, Indien ohne die Inder. Daß allerdings weder die Renntniffe noch das Verftändnis der reifenden Frau rebus Indicis gegenüber ungewöhn- lich tief geben, verrät fich wohl bier und da. Go bemerkt fie an einer Gtelle: „Dabei überrafcht e8, daß troß des obfcönen Shiwakultus die in Benares ver- fammelten Pilger fich keinerlei Ausfchweifungen zu Schulden kommen laffen follen.“ Nun ift aber der ganze Geift des Shiwakultus troß feines Natur: ſymbols keineswegs lasciv fondern vielmehr herb asketifch, (ganz anders verhält es fich mit dem Durgafultus), fo daß bier zu Verwunderung fein Anlaß it. Ebenſo wenig zutreffend ift es, ein paar kränklihe Palmen in einer buddhiſtiſchen Tempelhöhle als „ein traurige® Symbol jener Lehren” aufzufaffen, „die natürliche Lebensbedingungen verdammen.” Wie wenig eine folche Auf: faffung dem Geift des Buddhismus gerecht wird, wiffen die Lefer Ddiefer Zeitſchrift, in der ja einer der berufenften Forfcher, Dr. K. E. Neumann, die Lehre des Buddha darlegt. Im ganzen aber muß man fagen, dab ein recht vorurteilsfreier Geift in diefen Blättern weht, und es ift ganz interejlant zu feben, wie diefe moderne europäifche Weltdame fich von einem indifchen Heiligen imponieren läßt, fogar von einem jener recht wunderlichen Heiligen, die auf einem Stachelbette ruhen. Dies uralte Asketenſtück ift aber eine Nebenfache, „die ganz hinter dem Eindrucd zurücktritt, den diefer Menfch als Perfönlichkeit aus- übt. Man wird durch diefelbe fasciniert. Ferne von fanatifcher Verzücktheit, macht fie einen abgeflärten, in fich gefeftigten Eindrud, Ein klares, beiter die Welt fchauendes, wunderbar mildes, offenes Auge blidte uns lebensfremd

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aber menſchenfreundlich an. So wie dieſer Mann mag wohl ein Mahatma wirken ...“

Wenn es heißt: „Es ſoll zwar Buddha ſelbſt dreimal auf Lanka (Ceylon) gewefen fein, und fhon Wijeyo brachte ald Verwandter desfelben die buddbiftifche Lehre nach dem Eiland; allein fie faßte feinen Boden“ fo gibt dies einen durchaus verkehrten Eindrud. Es hätte bemerkt werden müſſen, daß dies „foll“ nur der finghalefifchen Legende gehört es ift ganz ficher, dab Buddha nie Mordindien verließ und gar das pofitiv „brachte von Wijeyo’s mehr als zweifelhafter Miffion fteht bier recht unglüdlich. LUebrigens kann die Gtelle als Beilpiel dienen, wie die Verfafferin nicht nur das aufzeichnet, was die Ginne gewahr werden, fondern auch Gefchichte und Legende heranzieht, was befonders an diefer Stelle, vom Bereich der alten Königſtadt Anuradhapura, mit gutem Erfolg gefchieht. Diefer Abſchnitt ift überhaupt der Glanzpunkt der ganzen lehrreichen und ftimmungsvollen Reifebefchreibung, die eine wirkliche Bereicherung unferer Reifeliteratur bedeutet.

Dresden. Rarl Gjellerup.

Eine neue Jean Paul- Ausgabe,

Herr Profeffor Dr. Munder, den wir gebeten hatten, fich zu den Ausfüb- rungen Herrn Dr. Iofef Müllers in unferem Maiheft zu äußern, fchreibt uns:

Eine gute, kritifche Gefamtausgabe Jean Pauls, wie fie Herr Dr. Iofef Müller wünfcht, würde auch ich willlommen heißen; die wiffenfchaftliche Forſchung bedarf einer ſolchen Ausgabe, die gefchichtliche Erkenntnis des Dichters würde durch fie in jeder Weife vertieft werden. Daß aber dadurch Sean Paul jelbft für die deutfchen Lefer der Gegenwart oder der Zukunft wieder zu neuem Leben erweckt werden könnte, bezweifle ich. Denn troß aller Schätze feines Geiftes und Gemütes und troß vieler Dichterifchen Schönheiten, die fein Verftändiger dem Ver— faffer des „Titan“, der „Flegeljahre“ und all der andern einft hochbewunderten Werte beftreitet, fehlt feinen meiften Schöpfungen doch meines Erachtens das, was vor allem andern einem Kunſtwerk die Unvergänglichkeit verbürgt, ein wirklich fünftlerifcher Stil. Freilich bat er inhaltlich und formal zahllofe Schriftiteller von großer Bedeutung angeregt, und wir lefen demnach bei Späteren manchen Ge- danken, den er zuerft ausgefprochen bat, ebenfo wie vieles in feinen Schriften zuvor ſchon von andern gedacht und gefagt worden war. Allein fo wichtig auch diefe ehemalige ungeheure Wirkung für den gefchichtlichen Betrachter ift, neue Leſer wird fie dem einmal beifeite gefehobenen Dichter kaum mehr gewinnen. Die Hoff: nungen, die Herr Dr. Müller an eine kritifche Gefamtausgabe Jean Pauls mit tüchtigem Rommentar zu knüpfen fcheint, kann ich darum nicht teilen. Ich muß das felbft auf die Gefahr hin bekennen, daß nun der verdienftvolle Sean Paul- Forfcher auch mir jede Ahnung von dem geiftigen Reichtum feines Lieblings oder Sinn für Seelenadel, Schwung der Ideen und ſprachliche Meiſterſchaft“

abſpreche.

Seine beſonderen Vorſchläge übrigens, wie Jean Paul herauszugeben wäre, fcheinen mir recht beachtenswert, zumal wenn es fich nicht um eine rein wiſſen⸗ fchaftlich-philologifche Ausgabe für die Fachgelehrten, fondern mehr um eine auf die weiteften Kreife der Gebildeten berechnete QUrbeit handelt. Dagegen kann ich das übertrieben harte Urteil über die Beiträge Paul Nerrlihs zur Sean Paul- Literatur nur beklagen. Ich verkenne die großen Schwächen der Nerrlichichen Schriften nicht und habe fie ſelbſt vor Jahren in mehreren Krititen gerügt; der

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ebrliche, begeifterte Eifer jedoch, mit dem der unlängft verftorbene Berliner Ge- lehrte fih in das Studium des Bayreuther Humoriſten verfenkte, feine Erfennt- nis und feinen Ruhm zu fördern fuchte, follte gerade bei andern leidenfchaftlichen Freunden desfelben Dichters die verdiente Anerkennung finden. Wenn die wenigen rüchaltlofen Verehrer, die Sean Paul heute befist, auch noch unter fich uneinig find, ftatt mit gemeinfamen Kräften für ihren Meifter zu wirken, werden fie ge- wiß ihr Ziel nie erreichen.

München, 23. Mai 1905. Franz Munder. *

Herr Profeffor Auguft Sauer in Prag fhreibt ung:

Herr Zofef Müller in München regt im Maiheft diefer Seitfchrift wie fhon früher im „Eupborion“ die Veranftaltung einer großen fommentierten Aus: gabe von Iean-Pauls fämtlihen Werken auf kritifcher Grundlage an. Von der Redaktion der „Süddeutichen Monatshefte” um meine Meinung darüber befragt, kann ich nicht kurzerhand zuftimmen oder abraten, fondern vermag die wichtige Frage nur im Zufammenhang mit andern Plänen und Wünfchen ähnlicher Art zu erwägen.

Herr Müller bezeichnet es als eine Schmach der deutfchen Nation, daß fie für einen ihrer größten und treueften Söhne bisher fo gut wie nicht® getan habe. Nun ift es ja richtig, daß die deutfche Nation fehr lange gezögert bat, bis fie fih entihloß, den Werten ihrer Klaffifer diejenige ſchon von Goethe ver- langte Sorgfalt zuzumwenden, welche Franzoſen und Engländer ihren Dichtern feit langem angedeihen laffen. Das Beifpiel Lachmanns, der Leſſings Werte fchon früh in philologifch-kritifcher Weife herausgegeben hatte, fand zunächft keine Nachfolge. Immerhin war die Wirkung diefer Ausgabe fo groß, daß fie troß ihres bedeutenden Umfangs jest fchon in dritter von Franz Munder beforgter Auflage vorliegt, in der foeben auch die Briefe von und an Leffing in abfchließender muftergiltiger Bearbeitung erfcheinen. Zu der Aufnahme der Leberjegungen kann man fich leider nicht entfchließen. In den fechziger Jahren des 19. Jahr: hunderts gab Goedele mit einem Stab von Mitarbeitern die biftorifch-kritifche Scillerausgabe heraus, die aber, von vornherein falfch angelegt und im einzelnen fehlerhaft durchgeführt, den heutigen Anforderungen nicht mehr genügt. Leider hat man während der jüngften Fefttage nichts davon gehört, daß von den berufenen Sentrafftätten der Schillerforfhung in Weimar und Marbach eine neue Ausgabe angekündigt worden wäre; nur die Notwendigkeit einer folchen bat Peterſens Ab⸗ handlung über den Schillerfhen Tert (im erften Schillerheft des „Eupborion“) erwieſen. Suphans Herder folgte, bis auf einen noch fehlenden Band und die un- entbebrlichen Regifter jest abgefchloffen; nur werden die Werke auch eine Samm- lung der Briefe nach fich ziehen müfjen. Geit der Begründung des Goethe-AIrchivg durch die Schenkung der Goethifchen Enkel ift auf Anregung der Großberzogin Sophie von Sahfen die Weimarer Ausgabe von Goethes Werken im Gang, wovon zivei Abteilungen, die Tagebücher und die naturwiffenfchaftlichen Schriften, vollendet find; die Reihe der eigentlichen Werte fteht knapp vor dem Abfchluß; von der Briefausgabe fehlen noch ungefähr 15 Bände, die während der nächiten 4 Jahre vollendet fein werden. Die Briefe an Goethe fcheint man vorderhand beifeite laffen zu wollen. Auch Goethes amtliche Arbeiten wären als Fortfegung der Sammlung erwünfcht und Biedermanns Ausgabe von Goethes Gefprächen erheifcht dringend eine Vervollftändigung und Neubearbeitung von berufener Hand.

Erft in allerjüngfter Zeit befann fich die Berliner Akademie der Willen- [haften darauf, daß es eine ihrer wichtigften Aufgaben fei, die Werke der nationalen

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Klaffiter zu betreuen. Mommfen batte durch ein halbes Jahrhundert ihre Mittel für die Pflege der ihm näher liegenden AUltertumsftudien in Unfpruch genommen. Zuerft widmete fie fich der Fürforge für die Lutherausgabe: ein fehwieriges, kojt- fpieliges und weit angelegtes Unternehmen, das aber der deutfchen Literaturgefchichte erft in zweiter Reihe zugute fommt. Daran reibhten fich die Werke Kants und Wilhelms von Humboldt, beide auch mit Berüdfihtigung des Briefwechiels, die in rüftigem Fortfchreiten begriffen find. Gegenwärtig wird ebenda eine Ausgabe Wielands mit den Briefen und Lleberfegungen vorbereitet, fo daß alfo, neben grundlegenden Arbeiten für die mittelalterliche Literatur, vier große Unternehmungen zur neueren Literaturgefchichte dort gleichzeitig im Wert find. Möfer und Windel- mann follen fich fpäter anfchließen.

Halten wir weiter Umfchau, fo müffen wir bedauern, daß die Bemühungen einer Klopftod-Gefellfhaft nur zu dem Verſuch einer kritifchen Ausgabe der Ge- dichte geführt haben, die aber keineswegs als abfchließend bezeichnet werden kann. Bon Hleineren Dichtern des 18. Jahrhunderts wurde für Hallers Gedichte, für Ewald v. Kleift und Az hinreichend geforgt, aber die erhofften Sammlungen der Hallerfchen Rezenfionen und des Hallerfchen Briefwechfels blieben aus. Gegen- wärtig erjcheinen Heinfes Werke in glänzendem Gewand und Lichtenberg eriteht wenigfteng in feinem Briefwechſel und feinen Aphorismen von neuem. Bon den Romantitern erhielt Friedrich Schlegel durch Minors Sorgfalt ſchon vor 20 Jahren eine Ausgabe feiner Jugendfchriften, die Der Verleger aber leider nicht fortfegte; die fogenannte kritifche Ausgabe von Novalis’ Werten ift leider ein un- kritifches Machwerk. Bon fpäteren Dichtern ift Heine in Ernft Elfter ein vor- züglicher Herausgeber erwachfen, der in der Lage ift, die neuen Auflagen immer wieder zu verbeifern. Hebbel hat durch die liebevolle Hingabe Werners und den Wagemut eines unternehmenden Verlegers eine kritifche Ausgabe erhalten, die auch die Tagebücher umfaßt und foeben auf die Briefe ausgedehnt wird. Die Ausgaben von Büchner und Grabbe ftehen nicht auf gleicher Höhe; Annette von Drofte ift gar in böfe Hände gefallen. Unter den Theologen ift es Zwingli, unter den Pbilofophen Feuerbach, unter den Pädagogen Peſtalozzi, denen ge— rade jest viel Müh und Eifer zugewendet wird. Im übrigen fcheint gegen- wärtig eine gewiſſe provinzielle QUrbeitsteilung Platz zu greifen, die vielleicht für die Zufunft in weit höherem Maß zu empfehlen wäre. In der Schweiz er- fcheint eine ausgezeichnete Ausgabe von Jeremias Gotthelf, die aber noch lang nicht abgefchloffen ift; in Prag bat die „Gefellfchaft zur Förderung deutfcher Wiſſenſchaft, Kunft und Literatur in Böhmen“ ein Gtifter- Archiv begründet und im Rahmen der von ihr herausgegebenen „Bibliothek deutfcher Schriftiteller aus Böhmen“ eine auf ungefähr 20 Bände angelegte kritifhe Ausgabe der Werte Stifters begonnen, die auch die Briefe von und an Stifter umfaffen wird und von der zwei Bände bereit? vorliegen, zwei andere der Vollendung nahe find.

Die zulest genannten Ausgaben unterfcheiden ſich von den übrigen dadurch, daß fie nicht bloß gereinigte Terte veröffentlichen, fondern auch dem Verftändnis "des Terts nachzubelfen trachten, die Gottbelfausgabe durch Erklärungen und ein Wörterbuch, die Stifterausgabe durch bildliche Beigaben, durch Einleitungen und fnappe Erklärung des wichtigften. Da Herr Müller für Sean Paul mit Recht erjchöpfende Einleitungen und einen ausführlichen Rommentar verlangt, fo ſchweben ihm vielleicht als Mufter die Rlaffiterausgaben des bibliographifchen Inftituts in Leipzig vor, die ſowohl dem Tert die größte Sorgfalt zuwenden und einen fritifchen Apparat enthalten als auch zur Erklärung vieles beibringen, wie Heinemanns Goethe-Ausgabe und Erich Schmidts neue Kleift- Ausgabe, die in Verteilung von Tert und Apparat auf verfchiedene Bände und in der Rnappheit der doch erfchöpfenden Erläuterungen vielleicht das trefflichfte Vorbild einer zugleich wiffenfchaftlichen und

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populären Klaffiterausgabe in der Gegenwart ift. Auch die neuen Cottafchen Aus: gaben von Schiller und Goethe ftreben diefem Mufter, wenn auch ohne Mitteilung von Lesarten, nah; und unter den Klaffiter- Ausgaben der Leipziger Firma Hefe find in lester Zeit einzelne, wie Caftles Raimundausgabe, die an Bollftändigkeit und Genauigkeit faum etwas zu wünfchen übrig laffen.

Aus diefem rafchen Leberblid geht zur Genüge hervor, daß gegenwärtig auf dem Gebiet der deutfchen Klaffiter- Ausgaben eine außerordentlich rege Tätig- feit entfaltet wird und daß man die alten Verfäumniffe mit Feuereifer gutzumachen bemüht ift. Freilich bleibt noch fehr Vieles zu tun übrig. Wenn wir das fech- zehnte Jahrhundert ganz bei Geite laffen und von den fchreiendften Bedürfniffen der Literaturgefchichte des 17. Jahrhunderts nur die Forderung einer kritifchen Dpig- Ausgabe hervorheben, fo erheifchen aus dem früheren 18. Jahrhundert Günther und Bodmer, aus dem fpäteren Klopftod, Hagedorn, Jacobi, Forfter, von den Romantikern Hölderlin, Novalis, Friedrih Schlegel, Auguft Wilhelm Schlegel (mit der Shafefpeare-Lleberfegung), Tied, Arnim, Brentano, Eichendorff; von Profaitern Arndt, Gens, Alerander von Humboldt, Schreyvogel, Ruge u.a., von Dramatikern Grillparzer Eritifhe Ausgaben. Bon neuern Lyrifern ift nur Uhland fo glüdlich eine zu befigen; aber weder Mörike, noch Lenau, noch Gilm. Später wird für Keller und C. F. Meyer zu forgen fein.

Hier reiht fih nun Müllers gebieterifche Forderung, auch eine würdige Ausgabe der Werte Jean Pauls zu fchaffen, zwanglos ein. Geine hiftorifche Bedeutung ift unbeftritten. Uber auch in der Gegenwart wirft er noch fort. Er ift der Lehrmeifter einer ganzen Reihe noch lebender Schriftfteller aus der älteren Generation; auch ein Teil der jüngern Dichter bringt ihm erneute Verehrung entgegen. Er wird noch immer gelefen und geliebt. JZüngſt traf ich auf der Eifenbahn einen norddeutfchen Fabrifanten, der neben Nietzſche und GStirner die Flegeljahre in der Reifetafche mitführte und fich immer von Zeit zu Zeit an dem alten Schwärmer erlabt. Alfo: Sean Paul lebt fort und für fein Andenken zu forgen find wir verpflichtet.

Die geplante Ausgabe hätte zu umfaffen in erfter Reihe fämtliche Werte mit den Lesarten aller Drude und Handichriften, auch mit den Entwürfen dazu, foweit fich diefe erhalten haben; dann die Tagebücher und Briefe, wobei man die Briefe an ihn noch weniger als bei andern Dichtern wird ausschließen dürfen; aus den Berliner Erzerpten- und GStudienheften wird alles, was ſich mit Sicherheit auf ausgeführte oder unausgeführte Werke bezieht oder fonft felbftändigen Wert bat, in Anhängen mitzuteilen fein; was der bloßen Ausbildung und PVorberei- tung des Dichters diente, wird man nicht vollinhaltlich zu veröffentlichen brauchen; da müffen literarhiftorifche Arbeiten einfegen, wie fie Herr Müller felbft bereits begonnen hat und wie für Sean Pauls Jugendentwidlung ein erjchöpfendes Buch von Franz Iofeph Schneider in Berlin auf Grund der Berliner Papiere und der zerftreuten Briefe dem Abſchluß nah und im Lauf des nächften Jahres zu erwarten ift.

Die Lesarten werden von den erflärenden Anmerkungen, die, wie Herr Müller mit Recht betont, bei Jean Paul reichlicher ausfallen müffen als bei manchem anderen Dichter, fcharf zu trennen fein. Die Entjtehungsgefchichte und äfthetiiche Würdigung der Werke ift in Einleitungen zu verweifen, die dann fo ausführlich ald möglich fein follen. Nun muß man darauf gefaßt fein, daß Jean Dauls Werte, Tagebücher und Briefe, in diefer Weife herausgegeben, mindejteng 60—80 Bände nah Urt der Klaffiterausgaben des bibliographifchen Inſtituts füllen werden. Es handelt ſich aljo um ein Unternehmen, an das fich ein einzelner Verleger nicht heranwagen kann. Don wen alfo darf man billiger Weife die Ausgabe verlangen? Sieht man die Berliner Akademie fo rüftig am Werk, fo

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meint man, daß die andern deutſchen Akademien kaum hinter ihr zurückbleiben dürften. Die Göttinger Akademie hat für Käftner und teilmeife für Lichtenberg fih eingefegt. Da fiele Sean Paul naturgemäß der Münchener Akademie zu. Ein eigenes Iean- Paul» Archiv zu gründen möchte e8 wohl zu fpät fein, da die königliche Bibliothek in Berlin die mwichtigften Teile des Nachlaffes bereits befigt; e8 wäre vielmehr zu wünfchen, daß auch die übrigen noch im Privatbefis verbliebenen Papiere des Dichters diefem Grundftod angegliedert würden. Ver— fagt die Münchner Akademie, fo müßte allerdings eine eigene „Iean-Paul-Gejell- ſchaft“ eintreten, die am beften in München oder Bayreuth ihren Sig hätte, die alle Drude und zerftreuten Handfchriften fammelte oder wenigftens verzeichnete und das Geld für die Ausgabe aufbrächte. Denn daß man eine Riefenfumme dafür brauchen wird, darf man fich nicht verhehlen. Auf einen Gewinn zu rechnen, wie Herr Müller, halte ich für verfehlt. Das größere Publitum wird man am leichteften gewinnen, wenn man die eigentlich wiffenfchaftlichen Beigaben vom Tert abtrennt und in eigene in Heinerer Anzahl berzuftellende Bände verweift. Uber auch dann wird der Abſatz allein die großen Koſten niemals völlig decken.

Zweierlei bleibt noch zu bedenten. Cinmal, ob der jegige Zeitpunkt für die Ausgabe günftig ift. Die zahlreichen im Gang befindlichen Klaffiterausgaben nehmen die Mittel der Bibliotheken und Gelehrten, auf die wir in erfter Reibe als Käufer rechnen müffen, gerade jest derart in Anſpruch, daß eine Mehr- belaftung faſt ausgefchloffen ift. Vielleicht empfiehlt es fich, den gänzlichen Ub- ſchluß der Leffing:, Herder- und Goethe-Ausgaben abzuwarten und Wieland einen PBorfprung zu gönnen, bevor man neue DBüchermaffen in unfere immer enger werdenden Räume wälzt. Uber auch ob die nötigen AUrbeitsträfte vorhanden find, muß noch überlegt werden. Denn das erfte Gebot bei der Veranftaltung der neuen Ausgabe ift, daß alle Dilettanten davon ausgefchloffen bleiben müjfen. Bon allen Mitarbeitern muß neben den von Herrn Müller geftellten Anforderungen eine ftrenge phbilologifche Schulung verlangt werden. Cine Gottjched - Ausgabe mag in Gottes Namen den Pfufchern ausgeliefert bleiben; unfer geliebter Sean Paul ift uns dafür viel zu gut. Uber Begeifterung und Wagemut kann auch diefe Schwierigkeiten überwinden. Gelingt es alfo dem kühnen Vorkämpfer für Sean Paul die Mittel und die Mitarbeiter aufzutreiben, jo fei ihm zu diefem nationalen Werk ein herzliches Glüdauf zugerufen.

hm 5 = Zu 2 = Zu 20 2

Das Verfahren gegen Friedrich Lift als württembergifchen Landtagsabgesrdneten im Sahre 1821.

Herr DOberregierungsrat Dr. Albert Eugen Adam in Stuttgart, fchreibt uns:

Zu dem Auffag von Herrn Finanzrat Lofch über diefes Thema im Mai- beft geftatten Sie mir wohl ein paar Bemerkungen.

Wieder macht Lofch der württemb. AUbgeordnetenfammer daraus einen Vor— wurf, daß fie dem Ausfchließungsbegehr der Regierung entfprochen habe. Nadh- dem ich im Schwäb. Merkur dargelegt hatte, daß die Rammer nach den damaligen Gefegen gar nicht anders handeln durfte, erwidert Lofch (S. 404): wenn die da- maligen Gefege betr. Majeftätsbeleidigungen u. a. Verbrechen mit der jüngeren Berfaffungsurktunde bezüglich der Integrität der Volksvertreter nicht in voller Harmonie geftanden, fo fei nicht die Verfaffung mit jenen alten Generalreftripten,

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fondern die alten Gefege mit der neuen Verfaffung in Einklang zu bringen ge wefen. Dies fest voraus, entiweder daß die Kammer die noch gültigen älteren Gefege hätte übertreten, oder, da dies doch nicht die Meinung fein kann, daß die Verf.Urkunde alle älteren mit ihr „nicht in voller Harmonie ftehenden Ge- fege“ ftillfehweigend befeitigt habe. Allein: 1) Die Verf.Urkunde bat (in 8 91) nur Diejenigen aufgehoben, die mit einer ausdrüdlihen Beſtimmung der Verf.Urk. in Widerſpruch ftanden, alle übrigen aber in ihrer fortdauernden Gültigkeit beftätigt, bis eine „verfaffungsmäßige Reform“ fie befeitige d. b. ein verabſchiedetes neues Gefeg und nicht der bloße Wunfch des einen gefeggebenden Teiles. Mit einer ausdrüdlichen Beftimmung der PVerfaffung aber ftand das Gejes von 1810 nicht in Widerfpruch.

2) Uber es ift überhaupt nicht richtig, daß bezüglich der Integrität der Volksvertreter das Gefes von 1810 mit der Verf. Urkunde im Widerfpruch ge- ftanden wäre. Denn diefe Integrität ift erft 50 Jahre fpäter im Jahre 1874 eingeräumt worden, während die Württ. Verf.Urk. von 1819 eine Integrität der Bolkövertreter nicht anerkennt. Gie unterwirft vielmehr ausdrüdlich ($ 185) die Volksvertreter ganz ebenfo wie andere Staatsbürger wegen „Beleidigungen oder Berleumdungen der Regierung, der Gtändeverfammlung oder einzelner Derfonen der Beftrafung nah den beftehbenden Gefegen“ und „in dem ordentlihen Wege des Rechtes“ nicht vor einem befonderen Staats- gerichtshofe, wie Lift verlangte. Darauf war Lofch ſchon von anderer Geite bingewiefen worden. Gleichwohl hat er denjelben Irrtum wiederholt.

3) Ebenfowenig ift richtig, daß Lift nicht ala Privatperfon, fondern als Volks- repräfentant mit den Gefegesparagraphen in Konflikt geraten fei. Das Infzenieren eines Adreſſenſturms an die Volksvertretung bei den außerhalb derfelben ftehenden GStaatsbürgern ift zwar unter Umftänden eine fehr nüsliche und rühmliche Tätig- keit, gehört aber nicht zum Beruf eines GStändemitgliedes, jedenfalls nicht nach dem pofitiven Württ. Recht ($ 124 der Berf.-Urf.).

4) Lofch will den beleidigenden Charakter der von Lift entworfenen und durch den Drud verbreiteten Adreffe in milderem Licht erfcheinen laffen durch den Hinweis auf Befchwerdefchriften der Ständeverfammlung felbft vom 3. 1816, worin diefe eine Reihe derfelben Befchwerden, wie nachher Lift, in ähnlichen nichts weniger als fanften Ausdrüden“ dem Rönig vorgetragen habe.) Dabei ver: kennt Lofch zweierlei: Einmal ftehen die Rechte, die der berufenen Vertretung des Volkes zuftehen, damit nicht auch dem einzelnen Staatsbürger zu, auch nicht dem einzelnen Volksvertreter. Noch wichtiger ift der zweite Punkt: Zwiſchen 1816 und 1820 hatten fich doch die Verhältniffe gewaltig geändert. König Wilhelm war auf Rönig Friedrich gefolgt und hatte eine Reihe der drüdendften Befchwerden fchon bald nach feiner Thronbefteigung abgeftellt; darauf waren mit als ein Er- gebnis der keineswegs, wie Lofch behauptet, ergebnislos gebliebenen Rommiffions- tätigkeit Liſts die berühmten Edikte vom 18. November 1817 und 31. De- zember 1818 erfchienen, welche verfchiedene drückende Laften und gehäffige Abgaben fofort aufhoben, bei anderen die Aufhebung vorbereiteten, Juſtiz und Verwaltung volllommen trennten, eine freiere Gemeindeverwaltung brachten, dem Schreiberunfug und der Beamtenkorruption energifch zu Leib gingen und überhaupt eine völlige Umwälzung in Staat und Gemeinde in entjchieden fortfchrittlihem, bürgerfreund-

ı) Beiläufig bemerkt: Wie ftimmen jene von Lofch felbft erwähnten ftändifchen Beſchwerdeſchriften mit ihren ſcharfen Ausdrüden zu feiner Behauptung auf der nächften Seite (405), die Altwürttemberger feien nicht gewohnt gewejen ald Rammermitglieder mitzufprehen? In Wahrheit waren ſie's feit Jahrhunderten gewohnt und hatten es auf den Landtagen feit 1797 und dann wieder von 1815—19 recht ausgiebig betätigt.

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lichem Sinn herbeiführten. Gerade darum war auch in Liſts Adreſſe nicht ſo— wohl das kränkend für den König und ſeine Beamten, was darin neu gefordert wurde, als vielmehr die völlige Ignorierung des vielen Guten, was der König und ſeine Berater ohne die Landſtände aus freiem Willen in angeſtrengter vierjähriger Tätig- keit zum Wohle des Volks getan hatten, und ſtatt deſſen die Schilderung des Landeszuſtandes in einer Weiſe, die zwar ganz auf frühere Zeiten paßte, nur mit erheblichen Einſchränkungen aber auf das Jahr 1821.

5) Noch ein Wort über Loſchs letztes Argument, mit dem er mich ad absurdum führen will: Wenn Lift mit Fug und Recht aus der Kammer ent- fernt worden ift fagt er dann find auch die fogenannten Geifterftimmen in der Kammer der Standesherren alte® und daher gutes und Recht bleiben müffendes Recht! Durchaus nicht! Gefege, folange fie beftehben, müſſen refpeftiert werden, von der Volksvertretung nicht minder als von der Regierung. Das allein habe ich behaupte. Daraus folgt aber nicht, daß ein altes Geſetz darum gut fei, oder gar die weiteren Schlußfolgerungen. Nicht genug; um ja fein Mißverftändnis auflommen zu laffen, habe ich die einfchlägigen Beftimmungen des Gefeges von 1810 und der PVerfaffungsurfunde als ungebeuerlich be- zeichnet und habe gefchloffen: „Wem das nicht behagt, der forge bei Zeiten für eine Aenderung der Geſetze!“ Es ift nämlich fo, wie ich dort weiter ausgeführt: Würde heute wieder ein QUbgeordneter in Unterfuchung gezogen, fo dürfte auch nach den heute geltenden Gefesen nicht die Kammer Schuld und Unfchuld prüfen, fondern fie müßte das Mitglied ausschließen wie i. 3. 1821, fobald der Richter ausgefprochen, daß die Verurteilung wahrſcheinlich die Ent- ziehung der Wahl: und Wählbarkeitsrechte zur Folge habe. „Derartige Dinge“, ruft Lofch aus, „follte man fi Har machen, und vor allem zur rechten Zeit Har machen.“ Er follte e8 mir zum Verdienſte anrechnen, daß ich das getan habe.

Es ift eine leidige Fügung, daß ich, dem die Verehrung Lifts fchon im Elternhaufe eingeprägt worden, nun einem Perfündiger von Lifte Größe, mit dem ich in der Wertung feiner Verdienfte ganz übereinftimme, gleichwohl ent- gegentreten muß; aber: amicus Plato, magis amica veritas. Der von Macaulay fo foharf verfpottete „furor biographicus* hat eben wieder einmal ein Dpfer ge- fordert. Uber Lifts Größe verlangt es nicht, alles an ihm weiß in weiß zu fehen, und auf die, die feinen Weg gefreuzt, auch noch unbegründete Vorwürfe zu den verdienten zu häufen.

Nun aber zu einem anderen Punkt! Was war der Grund, warum der wiürttembergifche Juftizminifter v. Maucler gegen Lift wegen feiner Adreſſe fo fcharf vorging, warum der geheime Rat, warum der König ſich von ihm mit- reißen ließen? Durch Lifts Benehmen allein ift es nicht hinreichend erklärt. Der von Lofch angegebene Zwed, die übrigen Rammermitglieder einzufchüchtern und ihnen die Luft zur Oppofition zu nehmen, ift mir auch nicht ganz einleuchtend, wenn auch eine folche Nebenwirkung nicht unerwünfcht fein mochte; denn eine in der Form ausfchweifende Oppofition hatte fich in der Kammer vor Lifts Eintritt in feiner Weife bemerkbar gemacht und die Urt von Lifts Auftreten wurde felbjt von folchen in der Kammer ausdrüdlich getadelt, die gegen feinen Ausſchluß ftimmten. Ich glaube vielmehr, daß folgende zwei Umſtände beftimmend waren. Der erite davon ift mir jelbft erft neueftens befannt geworden. In einem Zuftimmungs- fchreiben aus Anlaß meines Merkurartitel® wurden mir Mitteilungen gemacht aus den Lebenserinnerungen eines Zeitgenoffen Lifts, nämlich des Obertribunal- profurators und Landtagsabgeordneten, fpäteren Staatsrates Yrdr. Gmelin (des WUelteren); und diefer teilt darin mit, daß mit dem Schlag gegen Lift vor allem Wangenheim getroffen werden follte.

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Karl Auguft Frhr. v. Wangenheim war einer der ausländifchen Adeligen, über deren mafjenhaftes Eindringen unter König Friedrih die Württemberger fih fo fehr beklagten. Ihm und feinen Ideen über Staatsverfaffung batte fich Lift „mit Entfchiedenheit“ angefchloffen. Lift war Wangenheims Schüsling, ihm verdankte er die Tübinger Profeffur, und als „Zögling“ Wangenheims wird Lift auch in Gmelins Lebenserinnerungen bezeichnet. Die Pläne, mit denen Lift nun als Abgeordneter in und außerhalb des Landtags auftrat, fchienen die Abſicht zu verraten, die kaum zuvor, 1817—1819, nicht ohne Verlegung vieler Cinzel- intereffen, ganz neu fonftruierte Verwaltung Württembergs wieder umzuwerfen und ein neues Württemberg nah Wangenheims Ideen zu konftruieren. Wangen- heims von Naturphilofophie durchträntten, um das gefchichtlicd Gewachſene fich feinen Deut kümmernden politifchen Ideen waren indeß den Württembergern ein Greuel auf ihn zurüd ging 3. B. die gerade heute wieder fo vielen unerträglich düntende Abfcheidung des ftandesherrlichen Adels in einer befonderen Rammer und ebenfo war der fcharffinnige Juriſt und praftifch-nüchterne Realpolitifer Maucler ein natürlicher Gegner des genialifhen Wangenheim. Zum erbitterten Feind aber mußte Maucler werden, als er hinter Lifts Vorgehen die dirigierende Hand Wangenheims zu erfennen glaubte, der es auf nichts geringeres abgejehen babe, ald Maucler zu ftürgen und dafür fich felbft wieder ins Minifterium zu fhwingen. Diejer Verdacht lag für Maucler um fo näher, ala ja Wangenheim ſ. 3. friſch vom Minifterftürzen weg aus Coburg nah Württemberg gefommen war. Ob Wangenbeim folche AUbfichten in der Tat gehegt, ob Liſts Vorgehen überhaupt von ihm beeinflußt war, das muß zunächft freilich dabingeftellt bleiben, ift aber auch bier Nebenfache. Die LHeberzeugung Maucler® davon würde voll- ftändig genügen, fein fcharfes Vorgehen gegen Lift als vermeintlichen Strohmann MWangenheims zu erklären.

Uber ficher fpielte daneben eine zweite Rüdficht mit, bei der die zugrund liegenden Tatſachen ganz gefichert find, das ift die Rüdficht auf die Großmächte. Diefen waren die füddeutfchen Verfaffungen mit ihren Landtagen je mehr und mehr ein Dorn im Auge ald Brutftätten der Revolution; und zu ihrer Llnter- drüdung war man bereit jede Gelegenheit zu benügen. König Wilhelm und feine Räte waren dagegen; um fo energifcher hielten fie fi aber verpflichtet einzufchreiten, wenn nun wirklicd Dinge vorfielen, die, wie das QUuftreten Lifte, in den Augen von Metternich und KRonforten ald Beweis des Demagogentums gelten mußten. Wenn ich fage, König Wilhelm und feine Diener feien dazumal Gegner der Politit der Großmächte geweſen, fo gerate ich freilich wieder in Widerſpruch mit Loſch, der behauptet, „die Staatsmännchen der Kleinftaaten hätten, Hein denkend und Hein bandelnd, den Dberdrud, der von Wien ber er- folgte, nach unten bin fortgefegt.“ Auch das ift nicht richtig... Alle Darftellungen ftimmen wenigftens mir bei. Go fagt 3. B. Eugen Schneider in der Allg. D. Biographie (43, 210) über die erften zwanziger Jahre, wo die Liftfche Tragödie fpielte: „Rönig Wilhelm litt fchwer unter der Entwidlung, welche die deutfchen Dinge nahmen; er bäumte fih auf gegen den Drud der Großmächte.“ Über was kam dabei heraus? Die Großmächte brachen i. 3. 1823 allen Verkehr mit ihm ab und verjegten ihn fo in eine unbaltbare Lage, aus der er fich nur fchwer und erft nach Verabichiedung feines Minifters des Auswärtigen und feines Bundestagsgefandten wieder herausarbeiten konnte. Gelbft fein Schivager, der Kaifer Alerander von Rußland, auf den er fich geglaubt hatte ftügen zu können, gab ihn gänzlich preis! Wie gefchidt wäre nun die Gelegenheit geweſen auf KRoften der Volksvertretung fich wieder lieb Kind zu machen! König Wilhelm tat das nicht. Statt deffen erteilte er dem General Ferdinand Frhr. v. Varnbüler, der im September 1823 die Prinzeffin Charlotte von Württemberg als Braut

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des Großfürſten Michael nach Gt. Petersburg begleitete, folgende Inſtruktion!), Die zugleich meine Bemerkung oben beftätigt, wie forgfam die deutſchen kon— ftitutionellen Regierungen ihre jungen Berfaffungen und Vollsvertretungen vor dem Argwohn der heiligen Allianz zu hüten, faft möchte ich jagen zu verbergen, hatten unter dem Deckmantel der alten ftändifchen Vertretung. In diefer In- ftruttion beißt es nämlich:

. Wünfcht jedoch der Kaifer über den äußeren Zuftand und Lage MWürttembergs Auffchlüffe von Euch zu erhalten, fo werdet Ihr ihm ein treues Bild des feften, geordneten und gefegmäßigen Ganges der Regierung und Ver— waltung auf der einen, und der Ruhe, der Zufriedenheit und des unbedingten Gehorfams der Untertanen auf der andern Seite entiverfen; Ihr werdet ihm die volltommene Llebereinftimmung der Regierung und ihrer Stände, aber auch die ebenfo vollftändige und geficherte Wirkfamteit der erfteren gegen jede Gefegwidrigfeit, fowie das allgemeine Vertrauen und die treue Ergebenbeit der lesteren nach der Wahrheit fchildern; Ihr werdet die von Uns bergeftellte VBerfaffung nur als eine von früheren, der Regierung wie dem Volk gemeinfchädlihen Mißbräuchen gereinigte, den jegigen ftaatd- und völterrechtlichen Verhältniffen des Königreichs angepaßte Fortfegung der älteren Landesverfaffung, deren Württemberg feit 300 Jahren genoß, und die nur in der legten Periode allgemeiner IUmmwälzung unter- brochen werden fonnte, und als die unabweislihe Bedingung bezeichnen, unter der allein Regierung und Bolt in diefem Lande fich verftän- digen und glüdlich fein können; Ihr werdet ihm die bereits heranreifenden glüdlichen Früchte diefer Verftändigung, die Zunahme des öffentlichen und Privat- wobhlftandes, die feite Ordnung in allen Zweigen der Verwaltung, den Zuftand von Zufriedenheit und Einigkeit ziwifchen Regierung und Volk darftellen und die Lleberzeugung ausfprechen, daß Württemberg fein Wunſch übrig bleibe, ald von außen feine Störungen für die auf feine eigentümlichen Bedürfniffe berech- nete, auf feine biftorifche Grundlage geftüste Entwidelung feines inneren Wohl- ftandes zu erfahren.“

Meine Kritiker.

Bon den drei befannteften Fachzeitungen der Apotheker Deutfchlands wurden meine Gelbftbetrachtungen (Iuni- Heft S. 498 ff.) abfälliger Kritif unterzogen. Am leichteften tut ſich das offizielle Organ des Deutfchen AUpotheler-Bereins, die „Apotheker⸗Zeitung“, die nicht meine Ausführungen felbft, fondern eine Notiz darüber im „Generalanzeiger der Münchener Neueften Nachrichten” wiedergibt und die „Fachmännifche” Warnung vor dem Eintritt in die pharmazeutifche Karriere ob ihrer „Sachkenntnis“ niedriger hängen will. Die „Pharmazeutifche Zeitung“ greift einen Abſatz aus dem Originalartikel, meinen mit der denkbar größten Be- fcheidenheit gemachten VBorfchlag zur allmählichen Sanierung der tatfächlich unhalt- baren Zuftände heraus, wirft mir kräftigfte Herabfegung des heutigen Apothefen- wefens vor und fchließt mit dem Bedauern, daß man die „KRurpfufcherei auf fozialem Gebiet nicht polizeilich befämpfen kann“. Inquifition! Sa, das könnte den Herren taugen! Daß mir die beabfichtigte wahrheitsgemäße Schilderung der bejtehenden Berhältniffe gelungen ift, zeigen mir Anerkennungen von privatifierenden, befigenden und konditionierenden Kollegen. Db es aber größere Kurpfufcherei ift, der Ent:

1) Ich teile die hierher gehörige Stelle nach dem Original im Varnbülerfchen Archiv wörtlich mit, weil die Inftruftion bisher nirgends gedrudt oder auch nur er- wähnt ift.

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widelung einer Krankheit ruhig zuzufehen, wie das die „Pharmazeuten-Zeitung” tut, oder Mittel zu ihrer Bekämpfung vorzufchlagen, kann ich getroft der Ent- fcheidung meiner Leſer anheimftellen.

Die fcheinbar eingehendfte Würdigung finden meine Betrachtungen in der „Sübddeutfchen AUpothefer-Zeitung“. Der Verfaffer, ein Herr F. K., findet meine „Gründe zum Teil recht fchief“. Er fchreibt nah Anführung der Urfachen, die ich für die ftarfe Nachfrage nach Fäuflichen Apotheken und für den Zuwachs an jungen Kollegen angegeben habe, wörtlich: „Sit diefe Schlußfolgerung nicht denn doch allzu gefchraubt? Die „starte Nachfrage“ fol durch die unfinnig hoben Apothekenpreiſe hervorgerufen worden fein! Umgekehrt wäre richtiger.“ Herr F. K. beliebt erftens zu überjeben, daß ich unmittelbar nach den Worten „den immer noch fteigenden ganz unfinnig hohen Apothekenpreiſen“ „und dem durch diefes Steigen wirffam erhaltenen Aberglauben der großen Maffe von der guten Rentabilität“ gefchrieben habe, zweitens, daß ich fpäter die Gründe anzu- geben nicht unterließ, die den konditionierenden Apotheker zum Kauf zwingen. Wenn in einem Beruf viel Geld in kurzer Zeit verdient wird und das hat man an manchem Apotheker gefehen, der in 10 Jahren vier Apotheken beſeſſen und an jeder feinen Schnitt gemacht hat da wurde das Wort „Apothekenſchacher“ geprägt fo ift das meines Erachtens allerdings Grund diefen Beruf zu er- greifen. Wenn ein Objekt, fei e8 Haus, Wertpapier, Landgut, Kunſtwerk oder was fonft, fortwährend im Preife fteigt, fo ift das nach meinem Urteil allerdings ein Grund, diefes Objekt zu kaufen. Herr F. K. hat vielleicht eine andere „Logik“. Auch bin ich freilich der Meinung, daß es KRaufalverbindungen gibt, bei denen die Ilnterfcheidung, was Urfache und was Wirkung fei, fchiver, ja unmöglich ift. Hat Herr F. K. auch da eine andere Meinung, jo möchte ich ihm empfehlen, einmal die Kategorienlehre nachzulefen. Er wird da als zweite Kategorie der Relation die von Urſache und Wirkung, als dritte die der Gemeinfchaft finden, einen circulus causarum, wo eins das andere „wechfelfeitig“ bedingt.

Herr F.K. will dann durch wörtliche Anführung meiner Auslaffungen auf Geite 500, zweiter Abſatz, beweifen, daß „ich es liebe, zu Schlüffen zu kommen, welche den feitherigen Anfchauungen widerfprechen“ und fonftatiert, „man babe feither die jungen Leute bedauert, die von der Ungebundenheit des Gymnafiums ber, plöglich in die Klauſur des Lehrlinge treten“, während nach meiner Meinung die Freiheit der Herren Inzipienten ein werbender Faktor fei. Sa, Herr F.K., wie e8 mit der Ungebundenheit des deutfchen Gymnaſiums ausfieht, daran können Sie fich vielleicht aus Ihrer Jugend noch erinnern. Ich behaupte aber, daß der Lehrling, der es in manchen Gefchäften beifer bat als der „bezahlte“ Gehilfe, in der Tat von manchem Penäler beneidet wird. Lebrigens bedauert hat man diefe jungen Leute, wie Gie ganz richtig zugeben, aber goldene Berge hat man ihnen in Ausſicht geftellt, um fich eine billige Arbeitskraft zu fichern.

Als ein Beifpiel für alle überrafchenden Gedanktenfprünge führen Gie die drei letzten Abſchnitte auf Seite 501 an und bemerken dazu, daß „die Möglich- feit einer Fürforge für das Alter durch Einlage in eine Verficherungstaffe, durch Erwerbung von Leibrenten außer acht gelaffen ift“. Da will ich Ihnen noch ein paar „Möglichkeiten“ nennen; man fann das große Los gewinnen oder den Ontel aus Amerika beerben. Ga, Herr F. K., haben Sie fich denn jemals mit verficherungs- technifcher Mathematit abgegeben, kennen Sie die Verwaltungstoften der Ver— ficherungsgefellichaften, wiffen Sie, daß die eingezahlten Beiträge fich faft nicht verzinfen? Da ifts doch praftifcher mündelfichere Papiere zu kaufen! Uebrigens, Herr F. K., muten Sie denn unfern Ronditionierenden tatfächlich zu, von ihrem färglichen Salär auch noch PVerficherungsprämien zu zahlen? Das können fie vielleicht, dann können fie fich aber nichts zurüdlegen. Und dann werfen Sie mir

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vor, wenn ich die Sachlage Fernerſtehenden wahrheitägetreu hätte jchildern wollen, durfte ich die Möglichkeit der Erlangung einer KRonzeffion nicht überfehen. Sa, Herr F. K., wiffen Sie denn nicht, daß der Bewerber um eine Konzeſſion einen Vermögensnachweis braucht, und glauben Gie, daß unter taufend Upotheter- gehilfen auch nur drei fich die Erfparniffe aus ihrem Salär machen können, die ich unter der Annahme unverwüftlicher Geſundheit und eines astetifchen Lebene- wandels ausgerechnet habe, und haben Gie jemals die Zahl der jährlich appro- bierten Apotheker mit jener der jährlich fich erledigenden Ronzeflionen verglichen ?

Herr F.K.ift dann fo aufrichtig zu geftehen, daß er fich naiverweiſe unter „Ablöſung“ etwas ganz anderes gedacht babe, als die Lebernahme der Apotheken durch den Staat zu angemeffenem Preis.

Daß die chemifche Induftrie Deutfchlands den Weltmarkt beberrfcht, brauchte ich nicht von Herrn F. K. zu lernen. Die Firma Borroughs Wellcome & Co. ift uns deutjchen Apothekern aber in der Tat entbehrlich, wie noch eftva zwanzig andere, die ich nennen könnte. Die Einfuhr von ausländifchen Spezialitäten muß ich immer noch als eine Schädigung unferes Nationalvermögens bezeichnen!

As ein Beifpiel für die mit dem Syſtem realberechtigter Apotheker untrennbar verbundenen Mißftände habe ich angeführt, daß unerfahrene, untüchtige, unfertige Apotheker vermöge ihres Geldes die Chef tüchtiger, älterer Kollegen von hervorragender Gefchäftsfenntnis fein können.

Das gegen folche Lebelftände von Herrn F. K. angegebene Radikalmittel der Vermögenskonfisfation ift mir zu naiv, um darauf einzugeben.

Süddeutſchland. Apotheker.

Sozialfinanzielle Rundſchau.

Das wichtigſte Ereignis, auch in wirtſchaftlicher Beziehung, bleibt die totale Vernichtung der ruſſiſchen Flotte. Einmal, weil damit bei aller Verblendung der moskowitiſchen Autokratie, der Friede näher gerückt wird und weil ſodann die immerfort neuſchaffende Induſtrie vielleicht vor weiteren großen Aufgaben ſteht. „Vielleicht,“ ſobald man ſich von den Aeußerungen des Unions-Präſidenten über die notwendigen Sicherungen des noch fo jungen Philippinen-Beſitzes fort: reißen läßt, oder auch von den franzöfifchen Betrachtungen, einftweilen mit ihrer Flotte beträchtlich hinter der japanifchen zurüctehen zu müffen. Man kann aber auch zu den entgegengefegten Schlüffen gelangen! Denn indem Rußland als Gee- macht auf ein Jahrzent oder noch länger einfach ausfcheidet, braucht eigentlich weder Japan fo gewaltige Rüftungen unmittelbar nach dem Frieden zu unternehmen, noch die andern Mächte, die fonft dem neuen Herrn von Dftafien in Panzerver: mebrungen wohl folgen würden. Und felbft Rußland das feine Intereffeniphäre in der Mandfchurei gründlich verloren bat, wird bei feinen freilich notwendigen Flottenergänzungen, fo zahlreiche Gefchwader wie bisher nicht wieder ins Leben rufen. Ohne Häfen wie Port Arthur und Wladiwoftod wäre ja eine große Marine ganz undenkbar. Selbſt an fehr ftarten Schiffsvermebrungen feitens der Amerikaner darf noch billig gezweifelt werden. Es ift wahr! Den Zuderintereffenten und Smperialiften tonnte im Verlaufe des Rubanifchen Rrieges auch eine große afiatifche Snfelgruppe zufallen. Dies aber doch nur zur direften Ausbeutung, fowie alg Stützpunkt für den Erport von Maffenfabritaten nach den bevölkertiten Ländern der Erde. Gollten ſich aber die amerikanischen Wähler der Gefahr bewußt werden, die Philippinen ſchon jest als beftändiges Kriegsobjeft gegen die Japaner fchügen zu müffen und zwar mitden ungehenerften Aufiwendungen, fo würde Herrn Roofevelt zunächit durch den Senat die Hände gebunden werden und fodann durch das

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ganze Volt, foweit es nicht Milliardäre find. Die Amerikaner bleiben noch immer böchit nüchtern, und wollen von gefchäftlichen Ausdehnungen, bei denen die Brühe mehr als die Broden koftet, nicht das Mindefte wiffen. Nach alledem fcheint gerade durch dieje neuefte Geefchlacht ein wichtiges Auftragsgebiet unferer Induftrie eher eingefchränft zu werden. Damit würden natürlich noch für Ergänzungen und Neuanfchaffungen ſeitens Rußlands und Japans eine überaus hohe Ziffer ein- treten. Und man borgt dem erfteren, weil an feiner Geldverlegenheit mindeftens ein Dezennium hindurch viel verdient werden kann, während Japan jeden Kredit finden dürfte, angefichts feiner modernen Geftaltung, feiner ftrengen Drdnung, und, was noch immer am meiften imponiert, feiner Erfolge. * * *

Der Bürgermeifter von Wien bat mit feinen Gewalttätigkeiten gegen große Erwerbsgefellichaften jchon mehrfach folches Glüc gehabt, daß man fich auch über den Ausgang feines neueften Streites mit der Internationalen Elektrizitätgefell- {haft nicht wundern darf. Am Montag den 17. Mai forderte Herr Lueger jenes Unternehmen auf, bi8 Donnerstag Mittag mit der Entfernung von Röhren, die zur Wafferentnabme aus der Donau dienen und den ftädtifchen Straßen- grund kreuzen, zu beginnen und binnen Wochenfrift durchzuführen. Und noch vor Ablauf diefer Frift, troß fofortigen Rekurfes der Internationalen E.G. an die Gtatthalterei, hatte die Stadt die von ihr mit einem derartigen Hochdrud be- triebenen Anfaufsbeftrebungen durchgefegt. 22" Millionen Rronen ift der Preis, um den die bedeutendfte Elektrizitätszentrale Wiens ihr Eigentum an die Ge- meinde gewiß fehr ungern abtritt. Herr Lueger geſteht aber dabei ganz offen ein, den Betrieb felbft, gar nicht übernehmen zu fünnen, indem dieſer der alten Geſellſchaft für Rechnung der Stadt überlaffen wird. Alſo auch ihr wichtigfter Vorteil, daß der Vergewaltiger eigentlich gar nicht in der Lage wäre, feine Drohungen in abfehbarer Zeit zu erfüllen, hat das Unternehmen keineswegs zur Entfaltung eines längeren Widerftandes ermutigen können.

* * *

Nicht weniger als drei Eiſenbahnlinien ſollen jetzt von Frankreich durch die Pyrenäen ausgebaut werden, nachdem die Kammer in Paris die franzöfifch- fpanifche Konvention angenommen bat. Wohl die Wenigiten bei ung, welche über die wirtjchaftliche Trägheit der Spanier zu fpotten gewohnt find, wifjen etwas von dem verhängnisvollen Charakter jener Schienenwege. Faft alle find nämlich ihrer Zeit von den Franzofen ale Erportbahnen zu ihrem füdlichen Nach- bar binüber traciert worden, während umgekehrt Spanien folche Erportbahnen nach dem Kontinent alfo via Frankreich haben müßte. Man bedenke nur den Reihtum an Erzen und Kohle, in dem Spanien mit jedem andern Lande wett eifern kann, und die Leichtigkeit, dort eine Eifenfabrifation erften Ranges zu etablieren, wird nur zu Mar. Statt defjen bezieht aber das Königreich fat feinen ganzen diesbezüglichen Bedarf vom Auslande, das überhaupt erft feinen Rob: ftoff hierzu die Eifenerze von Spanien bezieht. Geit Fahren arbeiten die „Bilbaoleute” (Bilbao bildet den Hauptmontanplas) an einer Aenderung diefes überaus feltfamen Zuftandes. Vergeblich, da andere koftfpielige Ausgaben von der Regierung beliebt werden! Auch nur eine weitere Berbindungsbahn zwifchen Kohlen · und Erzgruben, zur Ermöglichung einer Hochöfen-Induftrie, wäre praf- tifcher als 3. B. die neue Vorlage an die Cortes wegen Anjchaffung von acht Panzerſchiffen von je 14000 Tong, fünf gepanzerten Rreuzern und anderer Schiffe.

* * *

96 Rundſchau.

Die Siſtierung der Mutungsrechte auf Kohle und Kali zunächſt nur für zwei Jahre, bedeutet in dem Verhältniſſe von Privatbereicherung zum Allgemein- intereffe einen wichtigen fozialen Fortfchritt. Richtig ift zwar, daß ohne die aus- gedehnte Entwidlung des individualiftifchen Prinzipes, unfere wichtigften weftlichen Provinzen YBureaufratien im Stile des GSaar- Fiskus geblieben wären, allein bei diefer Tatfache läßt fich doch nicht ein für allemal Halt machen. Wäre es etwa angängig, ſchon den erften Phafen eine® neuen Grubeneigentums den Charakter als WUktienunternehmen zu geben, fo ließe fich mwenigftens noch die breitere Verteilung der Gewinne zugunften des bisherigen Verfahrens einwenden. Statt deffen find es aber immer nur einzelne eingeweibhte Perfönlichkeiten, denen die neuen Funde zufallen und die für die ihnen erblühbenden Ausfichten zumeift nur ein nicht fehr großes Riſiko zu tragen haben. Llebertrieben erfcheint vielleicht die weitere (Furcht, Deutfchland in recht abjehbarer Zeit von noch freien Rohlen- feldern entblößt zu fehen. Derartige Berechnungen haben in England und auch fhon bei uns getäuſcht. Wer 3. B. batte noch vor einer Reihe von JZahren gewußt, daß fich die Ruhrkohle felbft noch durch Holland, bis zur Mordfeekütte binziehe. In diefem Sinne werden wohl auch noch weitere Leberrafchungen zu Tage treten. Lebrigens fommen wir hierbei fchwerlich mit einem bloßen preußifchen Gefes aus, da vor allem Lothringen mit feinen ausgedehnten Schägen an Erzen zu ſchützen wäre, die unferer Eifeninduftrie an Rhein und Ruhr die fremden Erze jedenfalls einft erfegen müſſen.

* * *

Dieſelbe Deutſch-Aſiatiſche Bank, welche im Gegenſatz zur engliſchen und amerikaniſchen Finanz Japan nicht „verſtanden“ hat, kann wiederum zehn Prozent Dividende verteilen. Jedenfalls ſind noch einige Prozente mehr verdient worden, die aber als ſtille Reſerven nach dem bekannten Rezepte der Deutſchen Bank ver- fhwinden. Denn bdiefe lestere kontrolliert die auch f. Zt. von ihr gegründete Deutfch-Afiatifhe Bank, welche die ehemaligen Filialen des Giemens-Initituts in Dftafien in fih aufnahm. Diefe Filialen, einft auf Bismards Wunfch oder Anregung errichtet, hatten bei ihrer mechanischen Abhängigkeit von der Berliner Sentrale zu wenig Glüd, um vor dem Schickſal der Auflöfung fehießlich bewahrt bleiben zu fönnen. Wenn aber eine fo überlegene Kultur wie die japanifche dem nach- träglih darüber erjtaunten Europa lange verborgen bleiben fonnte, fo bätte wenigftens die deutjche Gefchäftswelt alle Urfache gehabt, von ihrer unvergleichlich größten Rommiffionsbant über jene doch fo völlig neuen Verhältniſſe rechtzeitig - unterrichtet zu werden. Hier fcheint aber die von der Deutfchen Bank gefchaffene Deutfch- Afiatifche einigermaßen verfagt zu haben. Beweis deffen: die verfchiedenen Anleihen Japans in London und Newyork, zu denen die Herren in Berlin ben Zugang alles eher, als offen gefunden. Fehler einzugeftehen, wäre feitens einer erften Finanzgruppe weifer, als in diefem Fehler weiter zu verharren.

Frankfurt a. M. ©. v. Halle.

Berantwortiich für den ſozlalpolitiſchen Teil: Friebrih Naumann in Schöneberg; für den übrigen Inhalt: Paul Nikolaus Coffmann in München.

Nachdruck der einzelnen Beiträge nur auszugswelfe und mit genauer Quellenangabe geftattet,

Die Brautfahrt des Damian Zagg.

Bon Ludwig Ganghofer in München. Schluß.)

Trotz mancher Eigenſchaft, die ſich ſchwer ertragen ließ, war Damian Zagg ein Menſch, den man gernhaben konnte. Alles an ihm auch das, wo⸗ rüber man ſich ärgerte war kraftvoll und echt. In nichts war er kleinlich. Und neben feiner Erzählergabe und feinen Fähigkeiten als Jäger hatte er noch manche Lichtfeite. Er konnte was Schönes verftehen, auch wenn es außerhalb feiner praftifchen Intereffen lag, er hatte Ehrgefühl und Vor— nehmheit, bis zu einer gewiflen Grenze auch gute Manieren, und gegen Damen konnte er fich mit ritterlicher Liebensmwürdigfeit benehmen, was ihn aber durchaus nicht hinderte, in ihrer Gegentvart zu rülpfen. Deswegen las ich ihm einmal die Leviten: das wäre unfchielich, fo mas müßte man in Gegenwart anderer Menfchen unterdrüden. Er fah mich verwundert an: „Warum denn? Go ebbes is gfund. Damen weard aa oft der Luft plagen, wo ſ' froh mwaaren, wann |’ 'n draußt hätten.“ Es fiel ihm auch gar nicht ein, diefe ‚gefunde Gewohnheit‘ abzulegen. Und das fang immer wie ein Orgelton aus verfunfenen Tiefen.

Durch alle die fieben Jahre, die er in meinen Dienften ftand, blieb er fi in feinem Wefen völlig gleih. Nur in feiner Unverträglichkeit wurde er reizbarer von Jahr zu Jahr. Wegen der harmlofeften Kleinigkeit fonnte er einen Spektakel machen, daß es böllerte. Die anderen Zäger gingen ihm, foweit der Dienft das zuließ, mit Vorficht aus dem Wege. Und das weibliche Dienftperfonal im Jagdhaus hatte eine zitternde Angjt vor ihm und dag war nicht nur die Angſt vor feinem Zorn, e8 war noch mehr die Angſt vor feiner Gnade.

Denn Damian Zagg war unermüdlich auf der Suche nach dem ewig Weiblichen. Dabei ging er einen doppelten Weg. Auf dem einen holte er fich, was er, um es mit feinem eigenen Wort zu fagen, ‚für die Gfundheit brauchte‘. Don Neigung war da nie die Rede; und er war auch gar nicht wäbhlerifch; wo fich was erhafchen ließ, da griff er ohne viel Umftände zu; und dann war die Sache wieder für einige Wochen erledigt. Tauchte auf zwei Stunden in der Umgebung des Jagdhauſes eine neue Sennerin auf, und fagte der Damian von ihr: „IS gar koa unguats Frauenzimmer, döl“ das war immer ein Beweis, daß Damian Zagg an feine Gefundheit

Suddeutſche Monatspefte. 11,8. 7

98 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

dachte. Begann er dann plöglich feine fpöttifchen Kletten nach dem Mädel zu werfen, und fagte er von ihr: „Ah mei! A fo a Weibsbild! Was fannft denn machen mit fo vaner!” dann wußte man immer, wie viel es gefchlagen hatte. Und prompt erfchien dann in der MWochenrechnung des Oberjägers ein Poften:

„Der Gendrin, fir Auspugen der Dienfthütte 1 March 50.“

Gegen diefen Poften war nie was einzumenden, da fich der Bretter- boden der Dienfthütte tatfächlich immer als fauber gefcheuert erwies.

Nie hörte man vom Damian Über eine der Sennerinnen, die in unferen fünf Dienfthütten von Zeit zu Zeit diefes notwendige Neinigungswerk zu erledigen pflegten, ein wärmeres oder gar ein zärtliches Wort. Die einzige Zärtlichkeit, deren er fähig war, refervierte er für feinen Hund. Das war ein ungemütliches, für die Jagd völlig unbrauchbares Tier aber für den Damian war diefer Hund ein Heiligtum, das ihm über alles ging. Diefer ‚Bravo‘ war jo unverträglich wie fein Herr, duldete feinen anderen Hund in der Nähe und zaufte mir meinen ‚Bergmann‘ jede Woche ein paarmal blutig bis auf die Knochen. ber weil ich wußte, wie Damian an dem Hunde hing, wollte ich nicht verlangen, daß er ihn fortgäbe. Doch es fam zu einer Rataftrophe. Eines Morgens, als ich mit Damian auf der Pirſche war, hatte ich einen Gemsbock angefchoffen und löſte auf ber Schweißfährte meinen Bergmann. Der Hund fand den Bod und gab in einer Dickung Standlaut. Ich fpringe hinunter und gebe dem Bock den Fangſchuß. Und während nun Bergmann mit den Vorderpranfen auf dem verendeten Wilde fteht und todtverbellt, fommt Damiand ‚Bravo‘ wie eine rote Kugel dahergefauft und faßt auch gleich meinen Bergmann an der Gurgel. Erjchroden fomm’ ich meinem Hund zu Hilfe, pade den ‚Bravo‘ am Halsband, reife ihn zurüd und fpediere ihn mit einem kräftigen Schwung in die Stauden. Da fpringt der Damian durch die Latjchen ber und brüllt: „Ja Himmelhergottfatrament! Was machen ©’ denn mit meinem Hund!“ Sein Geficht war freidebleich, und in feinen Augen funfelte ein Haß und eine Wut, daß ich in der erften Sekunde dachte: Jetzt fchlägt er im Zäh- zorn auf mich los!

Ich ſchau ihn an und fage: „Damian! Du fcheinft zu vergeffen, daß du vor deinem Jagdherrn ftehft !”

Da war fein ganzer Jähzorn im Nu erlofhen. Mit zitternden Händen legte er feinen Hund an die Leine. Dann fchlug er ihn mit der Fauft auf die Schnauze. „So! est bei no amall! Auf dem ganzen Heimmeg ſprach er fein Wort. Uber noch am gleichen Abend, ohne daß ich es ver- langt hatte, fchiefte er den Bravo mit einem Hüterbuben die fünf Stunden zu feiner Mutter hinaus. Ich habe den Hund nicht mehr gefehen. Und Damian war ein paar Wochen lang gegen mich von einer Liebenswürbig- feit, wie ich fie fonft in fieben Jahren nicht oft von ihm erlebt habe. Im Herbft, einen Tag nach meiner AUbreife, holte er den Hund, und im Früh— jahr, einen Tag vor meiner Ankunft, ſchickte er ihn wieder fort. So machte er’8 drei Jahre hintereinander. Im legten Frühling erzählte er mir ge- legentlich, daß Bravo im Winter einen der Strychninbroden aufgenommen hätte, die Damian felber für die Füchfe ausgelegt hatte. Mit feiner

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg. 99

harakteriftiihen Ausführlichkeit, doch ohne die üblichen fpöttifchen Schlag- lichter, ſchilderte er mir die Kur, die er mit fchwarzem Kaffee verfuchte, und die Todeskämpfe des Tiered. „Wie i gmerkt hab, daß nir mehr Hilft, hab i den Hund aus der Stuben auffitragen aufn Schnee und hab eahm a Rugel geben, daß 'r nimmer leiden muaß. Nobel hab i's eahm auffi- gſchoſſen! Z’mittelft aufs Hirnplattl! Koan Muckjer nimmer hat ’r gmacht.“

Ich tat ihm den Gefallen und fagte gegen meine Ueberzeugung: „Das war ein guter Hund!” Fügte aber bei: „Nur ſchade, daß er fo unver: träglich war.“

Damian nickte. „Freili, ja! Unter ander Leut hat ’r net einipaßt. Uber auf mi hat ’r fi verftanden!... Sal... Und zum eingraben hat ’r mi greut. Dier Fallen hab i dermit anfüdert. Und hab zwoa Mader gfangt. Is ſcho wahr, der hat mer no ebbes gnußt, derweil ’r ſcho hin war.”

Zehn Markt ‚Faachlohn‘ für Naubzeug! Das war der praftifche Dank der ‚Liebe‘, die Damian Zagg für diefen Hund in feinem unberühr- baren Herzen getragen hatte. Und dennoch war in diefer ‚Liebe‘ mehr an Zärtlichkeit, ald manches Mädel von ihm erfahren haben mag, das ſich um den Damian Zagg die Augen rot weinte.

Völlig getrennt von dem einen Wege, auf dem der Damian dag Weib im Dienfte feiner ‚Gfundheit‘ fuchte und auch immer fand, ging der andere Weg einher, auf dem er feine ruhelofen Heiratspläne fpann. And da war er, ganz gegen feine fonftige Gewohnheit, jo mwählerifch und zu- wartend, daß fich jeder neue Plan immer wieder zerfchlug.

In feinem dritten Dienftjahr fprach er das zum erftenmal gegen mich aus: daß er heiraten möchte. Uber auch bei dieſen Plänen war nie von Neigung die Nede, nie von einer Frau, die er liebhaben könnte. Sie mußte nur die Bedingungen erfüllen, die er fich für das Bild einer vollfommenen Ehe ausgedacht hatte. Vermögen brauchte fie nicht zu haben er felber hatte genug, um einen forgenlofen Hausftand gründen zu können. Auch tatholifch oder lutherifch, das wäre ihm alles eins gewefen. Uber eine ‚Baurentrampel‘, das war von vorneherein ausgefchloffen. Er wollte ‚ebbes befjerd‘, eine Frau, die ‚ebbes fürftellt‘, und mit der man fich ſehen laffen fann. Groß und ſtattlich mußte fie fein, und gefund, und mußte ‚Holz beim Zeug‘ haben! Auf alle beffere Arbeit im Haufe mußte fie fich ver- ftehen. ‚Für's Pusen und für’ Gröbere, da halt i ihr fcho fo a Weibe- bild!‘ Und vor allem mußte fie gut kochen können. Den ewigen Schmarren und fchwarzen Kaffee, all das ‚Gfchlader‘, das fi) die Jäger bei ihrer Inappen Zeit in der Dienfthütte zufammenbrauen das hatte der Damian fatt bi8 an den Hals. Drum wollte er heiraten und wollte die Sache fo haben: wenn er heimkam von der falten Pirfche, follte der Herd dampfen und der Tijch gedeckt fein, ein gewärmtes Hemd follte am Dfen hängen und die brave Frau follte ihm helfen beim Umziehen. „Und bal i fag: dös brauch i, jeg fpring, marfch weiter und füranand! ... nacher muaß aa fcho alles gichehgn fein!" Das waren die Bedingungen, denen die Zu- künftige des Damian Zagg entfprechen mußte. Und zu diefen Bedingungen fam dann noch eine, unter allen die wichtigfte: die Frau de Damian mußte Rinder befommen!

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Vier Jahre wählte und wählte er. Doch er fand nicht die Richtige. Mit jeder, auf die er fein Auge geworfen, hatte es einen Hafen. Erft bandelte er mit einer Wirtstochter aus feiner Heimat, dann mit einer Reftaurationsktöchin aus dem nahen Städtchen, die er im Stellmagen hatte fennen lernen, dann fam die Schwefter eines Jägers an die Reihe, der in unferen Dienften ftand und fo lange fi) Damian dag mit diefer Schmwefter überlegte, hatte der Bruder gute Zeiten im Dienft. Und fchließlich entfchied fih Damian Zagg für unfere Jagdhausköchin. Das war ein großes, refo- lutes Frauenzimmer, ein paar Jahre älter ald Damian, ausgeftattet mit allen möglichen guten Eigenfchaften, verläßlih und arbeitfam, ehrlich und treu, dazu eine Meifterin der Kochkunſt. Drei Sommer waren die beiden an einander vorbeigegangen, ohne daß fich eind ums andere kümmerte. Doch als ſich Damian zu denken begann: das könnte die richtige fein! und als er wollte, da war die gute, brave Perfon von heut auf morgen bis über die Ohren in den Zagg verfchoffen. Mir tat fie leid. Sie verdiente was beſſeres als ein Leben nach) dem Motto: „Spring! Marfch! Füranand!“ Und ich wußte: fie würde mit dem Damian fteinunglüdlich werden. Drum redete ich mit ihr und fuchte ihr die Augen zu öffnen. Uber da half nichts mehr. Sie war von dem Weg, für den fich ihr ehrliches Herz entichieden hatte, nicht mehr abzubringen. Den Sommer über gaben ſich die beiden als erflärtes Brautpaar, und im Winter wollten fie heiraten. Doch ehe der Herbft kam, war die Sache plöglich zu Ende ich weiß nicht, warum. Das gute Srauenzimmer kränkte fich einen Monat lang, vielleicht noch länger und Damian ging fo ruhig und fremd an ihr vorbei wie früher. Und tat, ald wäre gar nichts geweſen.

Nach zwei anderweitigen Verſuchen, die der Damian auch wieder auf- gab, kam das romantifche Heiratsprojeft, das mit diefer merfwürdigen Brautfahrt endete, für deren Verftändnis es mir nötig erfchien, zuerft die Geftalt des Helden in allen Farben und Zügen völlig Hlarzuftellen.

Dazwifchen, neben den Heiratsplänen des Damian, lag noch ein Intermezzo, das der Erwähnung wert ift.

Da fragte ich eines Tages nach einem Gewehrriemen, den ich beim Sattler draußen im Dorfe beftellt hatte.

„Sa,“ fagte Damian, „heut in der Fruah hat 'n die Meinige bracht.“

„Die Deinige? Wer ift das?”

n 8 Madel von meiner Hausmwirtin draußt.“

„Daß ift die Deinige? Willft du die heiraten?“

„Ah na! So vane übern Winter halt.“

Er war in der Pflege feiner Gefundheit etwas bequem geworden und hatte über den vergangenen Winter feine ‚Geweihftube‘ in das Haus ber verritweten Leitnerbäuerin verlegt, die eine Tochter hatte. Und wenn es dann draußen im Dorfe was Dienftliches für ihn zu erledigen gab, über- nachtete er in diefer Stube. Bei 20 Grad unter Null und bei dem meter- hohen Schnee konnte Damiarı den Weg zwifchen Dorf und Jagdhaus, ber im Winter ſechs Stunden Mübhfal verlangte, an einem Tag nicht zweimal machen.

Und von diefer ‚Seinigen‘ erfuhr ich dann fo zufällig eine Keine

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt de Damian Zagg. 101

Geſchichte als mir Damian die Raubtierbälge zeigte, die er in diefem Winter erbeutet hatte. Unter ihnen war ein felten fchöner Fuchsbalg. „Bei dem, da hat mer die Meinige gholfen!” fagte er. „mal, da bin i auffi fumma, und da jammert d' Leitnerin, daß ihr der Fuchs drei Henna davon hätt. ‚Sei ftad,‘ fag i, ‚den wear i bald haben!‘ Bei fo an Schnee ben Wechfel ausfpüaren, dös is ja koa Kunſt. Und auf 'n Abend hab i 's Eifen glegt, a dreihundert Schritt hinterm Haus droben. ‚Wart, Manndele,‘ hab i mer denkt, ‚da tappſt mer ſcho einil‘ Und richtil Gahlings in der Nacht, da weckt mi die Meinige. ‚Du,‘ fagt f’, lus auf, der Fuchs muaß hängen, an Spitafel macht ’r, daß ma 's bis eini hört in d’ Stuben!‘ I hock mi auf im Bett und lus. Uber da is koa Rüahrerl nimmer gweſen in der Nacht. ‚Geh,‘ fag i, ‚du wearſt wohl traumt haben!‘ ‚Na, fagt f’, ‚ganz deitli hab i ’3 ghört, wie 's Eifen fcheppert! ‚No alfo,‘ ſag i, ‚fpring halt auffi und jchau, und bal ’r hängt, nacher holft mil Marfch! Füranand!‘ A Kälten hat's ghabt, dag d’ Eisbloama an die Fenfter aufgfahren fan wie Kaasrinden. Und Schnee hat's ghabt, daß 'r vam auffigangen is big über d’ Zuppen. Teifi, Teifil Da fan dreihundert Schritt a Weg! Und an Endstrumm Weil hat's dauert, bis die Meinige wieder einigrumpelt is in d’ Stuben: ‚Hängt feho! Hängt hol! Da bin i aber gfchwind droben gwefen! Und bloß an Stroach no hab i eahm geben brauchen.”

Weiter hab ich über die Fuchsbötin nichts mehr erfahren. Und weiß nicht, wie lange fie noch die GSeinige blieb.

Und das Jahr darauf, im Sommer es war von feinen fieben Dienftjahren das legte zog er mit fünftägigem Urlaub auf diefe merk: würdige Brautfahrt nah Wien.

Da kam ich eines Tages zu ihm in die Sägerftube, um einen Pirfch- gang zu bereden. Als alles abgefprochen war, wollte ich aus der Stube gehen. Da fagte Damian: „Herr Dokter! Bal S’ grad no an Schnaufer lang Zeit hätten, möcht i Eahna ebbes zoagen.“

„Was denn?”

Er fperrte feinen Koffer auf, framte von unten eine Heine Schachtel heraus und reichte mir die Photographie eines Mädchend. „DE kunnt i jegt heireten!“ Das fagte er mit dem gleichen, ruhigen Ton, mit dem er vom Wetter zu fagen pflegte: „Da kon's jest guat wearn oder fchlecht.“

Das Bild, das die Firma eines Wiener Photographen trug und nicht mehr neu war, zeigte ein Mädchen von etwa 24 Sahren, anftändig gekleidet, die Figur ganz ſchmuck gerundet, das Geficht nicht hübſch und nicht häßlich, ein Dugendgeficht, das aber doch was Feſſelndes hatte: diefe gut- mütigen ehrlichen Augen. Die mußten blau fein, weil fie auf der Photo- graphie einen fo blaffen Ton hatten. Aber dad Haar war dunfel,

Sch fagte: „Die fieht nicht übel aus.“

Damian hob nachdenklich die Schultern. „Bal 's Bild! net lüagt!“

. .. Kennſt du denn das Mädel nicht?“

nal“

„Aber Damil Du wirft doch nicht eine Perfon heiraten wollen, die dir völlig fremd ift? Wie fommft du denn auf einen folchen Einfall?“

Nun erfuhr ich, wie die Sache zufammenhing. Er hatte einen Freund.

102 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

Der war noch ledig, war Förfter in einem angrenzenden Jagdbezirk und fehrieb in feinen Mußeftunden ſchön aufgepugte Artikel für Jagdzeitungen. Qurch feine feuchte Vorliebe für guten Tiroler waren feine Verhältniſſe etwas aufs Trockene geraten, und da wollte er ſich durch eine gute Heirat rangieren und veröffentlichte in Münchener und Wiener Blättern eine Annonce: „Deutfcher Waidmann, gereifter Mann in ficherer

Lebensjftellung, gefund, von ftrebendem Geiſte befeelt,

fucht wegen Mangel an Damenbelanntichaft auf diefem

- nicht mehr ungewöhnlichen Wege eine gutberzige und

liebenswürdige

Lebensgefährtin,

die eine Freundin der Natur fein müßte und ein ftilles, trauliches Glüd inmitten des raufchenden Bergmwaldes allem leeren und hohlen Glanz des Gtadtlebens vor- ziehen würde. Ernſtgemeinte Anträge, mit beiliegender Photographie, unter „Treues Herz und grünes Heim“ an die Erp. d. BL. Anonymes wird nicht berüdfichtigt. Vermittler verbeten. Das Herz rede zum Serzen. Strengfte Diskretion ift Ehrenfache!!!“

Einen der Briefe, die auf diefe Annonce einliefen, hatte der heirats- Iuffige Förfter dem Damian Zagg geſchickt und mit Bleiftift drunter- gefchrieben: ‚Lieber Dami. Das wär vielleicht fo was für Dih! Doc bitte um ftrengfte Wahrung der Diskretion. Bei mir verfchlagen die Neh- böck ſchon. Bei Dir droben wird wohl noch der Eisriefe Winter feine legten Springkinkerln machen. Du, heuer hab ich wieder einen Magdalener, füffig bis zur Wonne. Ufo, überleg Dir’s! Mit Waidmannsheil und deutſchem Handfchlag, Dein getreuer ꝛc. 2c.‘

Den Brief, unter den diefe Freundesworte gefrigelt waren, gab mir der Damian zu lefen. Schade, daß ich mir diefen Brief nicht abgefchrieben habe! Uber damals, als die Gefchichte anfing, nahm ich fie nicht fo wichtig, wie fie mir fpäter erjchien. Form und Wortlaut des Briefes find, bis auf ein paar auffällige Wendungen, in meinem Gedächtnis erlofchen. Doch Inhalt und Eindrud diefer vier enggefchriebenen Seiten find mir in Erinnerung geblieben.

Die Schreiberin des Briefe war ein Wiener Stubenmädel, mit dem Vornamen Sohanna. Der Zuname hatte ungarifchen Klang. Und das Mädel fchrieb: fie hätte in der Neuen freien Preſſe die ‚AUnonze‘ von der ‚Lebensgefährtin‘ gelefen und obwohl es ihr gleich ganz heiß ums Herz ge worden wäre, hätte fie doch eine Woche gebraucht, um den Mut zu finden, auf die ‚AUnonze‘ zu antworten. Nun würbe fie wohl fchon zu fpät kommen? Denn wie viele muß es in der Welt geben, die da gleich zugreifen! Giebt ed denn etwas Schöneres, ald die Freiheit und das Glücd und der fchöne Wald und ein braver Mann und ein trauliches Heim ‚daderfür‘ könnte man doch arbeiten, bis einem das Blut aus den Fingern fprigt. Ach, das Land, das fchöne Land! Ach, der Wald, der fchöne Wald! And die großen,

Ludwig Ganghofer: Die Brauffahrt des Damian Zagg. 103

bimmelsgroßen Berge! So groß find die, daß einem angft wird. Und da kann fi eins nicht mehr helfen, daß man beten muß wie in der Kirche. Und die Berge find doch noch hundertmal größer wie der Stefansturm, der in Wien der größte if. Vor drei Jahren ift fie mit ihrer guten gnädigen Frau Hofrätin vier Wochen in Karerfee geweſen. Da bat fie fih in Wien gar nicht mehr eingewöhnen können. Und Wien ift doch ge- wiß eine fo eine fehöne Stadt! Aber das Land und die ‚Bergesnatur‘, die find halt noch viel fhöner! Wer da leben könnte in Glüd und Freuden! Denn das Leben in der Stadt, auch wenn man eine gute gnädige Herrfchaft bat, ift oft jo grauslich. Und bei den Mannsbildern in der Stadt, da merft man immer gleich, was fie wollen. Und dann denkt man fich: Pfui Teufel! Und wenn man dann am Abend müd ift und doch nicht ſchlafen fann, und man liegt fo in feinem dunflen ‚Rämmerlein‘ dann denkt man oft an einen Mann, den man gar nicht kennt, und der irgendwo da— beim ift, man weiß nicht wo, und dann träumt man oft Sachen, daß man am anderen Tag eine fo eine verdrehte Gredl ift, daß die gufe gnädige Frau oft jagen muß: „Uber Hannerl, wo haft du denn heut dein Köpfl wieder!” Und jest hat fie diefe ‚AUnonze‘ gelefen. Und feit acht Tagen raufcht ihr immer der ‚Bergeswald‘ in den Ohren! And alles Schöne und Liebe, was fie fo oft geträumt hat, könnte wahr werden... .... wenn es möcht!‘ Uber es wird halt nicht mögen! Denn wenn fie jegt ehrlich und aufrichtig fchreiben muß, was für ein armfeliges Mädel fie ift, dann weiß fie doch gleich, daß es nichts wird! Ihr Vater iſt gewefen, fie weiß nicht, wer. Ihre Mutter ift ald Taglöhnerin geftorben. Und aus dem Waiſenhaus heraus ift die Johanna gleich in einen Dienft getreten. Haben tut fie fhon gar nichts. Nur ein Sparkaffabüchl mit 800 Gulden. Und eine recht faubere Wäfch hat fie. Was ihr Halt die gute gnädige Frau an Weihnachten immer gefchentt hat. Und von den Trinkgeldern hat fie fich Bettwäfch und Tifchzeug dazu gekauft weil man doch immer denkt, man könnte e3 einmal brauchen. Das hat fie in der Nacht und an fFeier- tagen alles gefäumt und eingeftidt. Nur auf den Vornamen. Und blau. Weil man dann den anderen Buchſtaben mit rotem Garn drüberfticen fann ‚wenn ed fo fommen möcht‘. Uber was ift das alles für einen gereiften und ficheren Mann, der eine Stellung befleidet und ein frautes Heim hat, inmitten des raufchenden, grünen ‚Bergeswaldes‘, und ber einen Anfpruch erheben kann. Gie weiß doch eh fchon, daß es nichts ift! Uber das Glüd ift halt eine fo eine fchöne Sache! Und da probiert man's halt. Sie denkt fich ‚ohnedem‘, daß fie gar Feine Antwort befommen wird. Uber wenn's halt doch fein fönntel Der fehr geehrte Herr würde gewiß mit ihr zufrieden fein ald Frau. Uber da will fie lieber nichts verfprechen, fondern alles dur die Tat beweifen, von heute an bis zu einer feligen Sterbftunde! Gie hätte nur eine einzige Bitte. Wenn e8 auch nicht$ wäre, möchte ihr der fehr geehrte Herr doch wenigſtens mit einer Zeile fchreiben, daß ed nichts ift! Damit fie nicht immer auf den Poftboten wartet. Und daß es nicht fo weh tut, möchte der fehr geehrte Herr ein Blümerl, das auf den Bergen gewachfen ift, in den Brief hineinlegen. Das will fi) die Iohanna dann aufheben.

104 Lubwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

Der Brief wirkte auf mih. Ganz verftanden hab ich ihn erft fpäter. Uber ich fühlte doch gleich, daß troß aller romantifchen Ueberfpanntheit des gezwungenen Stiles ein gutes, ehrliche und einfaches Menfchentind aus diefen Zeilen redete. Drum fagte ih: „Damian! Wenn du die befommft, fannft du von Glück jagen!“

„Jal“ Er ſchob die Fäufte in die Hofentafchen und fpreizte Das Leder auseinander. „D’ Mutter, wia f’ den Briaf da glefen hat, hat's aa glei gfagt: dös müaßt a bravs Madl fein. Und mir hat's aa gfallen, dab 's Madl fchreibt, fie taat arbeten, bis ihr ’3 Bluat aus die Nägel fprigt. No, und da hab i mi aa glei hingfegt und hab ihr gfchrieben.“

Er hatte noch das Konzept diefes Briefed. Der Inhalt und diefes Hochdeutſch das war zum fehreien!

Jachthaus Weidmannspeil, den 20. Zulius 1904.

Liebe Johanna!

Sch habe deinen Briff mit lauffender Poft erhalten. Uber fo fil fan ich nicht fehreiben als du, bin auch nicht fo fchulmefig ald du. Ich bin ein Sägersmann wo auf die Berge fteigt und meinen Herrn feine Gamfen und Hirfen hüttet. Und Zeit hab ich auch nicht fo vill als du. Weil ich mein Dinft machen mus, was fer ftreng if. Da gibts immer etwas.

Alſo das wir gleich dag Richtige machen. Dein Brif bat mir jehr gefalen. Daß du fo fleifig fein wilft. Und meine Mutter hat's auch gefagt, Mein Sohn, die nimmft du.

Und fo machen würds. Ich nimm dich wenn du mich nimmft. Ich bitte mein Sachdherr um Urlab und reiffe af Win, wenns auch beier if.

Das es kurz wird, fag ich dir gleich ales. Ich befige:

Nro. 1. mein Gehalt, das ift hundert zen March im Monat, was in Jahr zwölfmal fo vill macht, und mit Schußlöhn Fachlohn und Duför von Jagdgeſt, was alls in Jahr auf zirker 1600 March auff und niber ankommt.

Nro. 2. Mein Wonrecht im Jachdhaus mit Stub und Kuchen, und ein Garten ift dabei, wo du alles bauen kanſt was du an Gemüfer nur haben wilſt was dein Herz begert.

Nro. 3. ein ſchönes grofes Anweſen, Hausnummer 132, in mein Heimatsort, ift Zweiftöcket, hat Wonhaus, Stall, Holzleg, Obsgarten, Feld, Wiefen, Ratafter Nummer 1009, mit Wald, Ratafter Nummer 2013, dazu in Gemeindewalt Holzrecht auf 3 Klafter Hart und 6 Klafter weich. Jetzt hats die Mutter, gehört aber meinn. Das können wir behalten oder verkaufen, das könn wür machen wie du willft und Was bir recht if.

Nero. 4. 1700 Mar) Pfandbrif, von mir jelm erfpahrt. If frier merer geweft, aber hab forir Jahr auf mein Haus, fiehe Nomoro 3, ein neus Dach machen mifjen.

Nro. 5. fonft nichts mehr, ald mein fichern Dinft mit Gehalt Nomero 1.

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt ded Damian Zagg. 105

est fag ob dir recht if. Lege auch mein Fotergrafi bei, if aber nich gutt troffen, ſchau in würklich befler aus. Lege noch gewinfchte Blume bei, wenns auch richtig was if, und gleich zwei, aus Libe. Daß if Speik und Edelrauthen, und ift das fchönfte was man bei ung bat. Bin 19 Hundert Metter und höcher hinauffgeftigen, um diefe feltne Blume für dich zu broggen, meine libe Sohanna. Alſo grieße ich dich !

Und fchreibe du mit Lauffender Poft, ob es dir auch recht if.

Alſo grieße ich dich in Treue und liebe

dein liber Damian Zagg, Hausbefiger und Dber-Fäger.“

Diefer Brief und dazu das ernfte, erwartungsvolle Geficht des Damian, der fich auf diefe Leiftung feiner Feder nicht wenig einzubilden ſchien das wirkte auf mich, daß ich flint aus der Stube mußte, um nicht laut berauszulahen. Was der Damian ernft nahm, durfte man nicht heiter finden. Da konnte er ungemütlich werden. Und ich wollte ibm die belle Laune feiner Eheftandsträume nicht verderben.

Ob wohl der guten Johanna in Wien der fchreiende Widerfpruch zwifchen diefem Brief und dem poetifch gefärbten Schwung der ‚Unonze‘ auffallen würde? Diefe Frage befchäftigte mich. Doch ich glaube, die Johanna hat nie gemerkt und nie erfahren, daß Damian Zagg, der fo nad) der Nummer antwortete, ein völlig anderer war als der fehr geehrte Herr, an den fie gejchrieben hatte.

Eine Weile fpäter fam der Damian zu mir hinauf ins Jagdhaus. Weil in einer halben Stunde die Poft abginge, hätte er noch eine Bitte an mich. Ich wäre doch in Wien fo gut befannt. „KRunnten S' mer da net den fallen toan und von meiner Johanna a bißl ebbes derfragen? Ob 's aa wahr is, daß fi 's Madel fo fleißi anftellt?“

Das verfprach ich ihm. Und fragte lachend: „Vermutlich mwillft du * wiſſen, wie es bei der Johanna mit der Bravheit ausſieht? Als

ädel?“

„Ah nal Was ehnder war, geht mi nir an. Und bal mer amal gheiret haben, paß i fcho felber auf, daß mer d’ Frau net außer der Heden graft.“

Sch fchrieb noch in der gleichen Stunde an einen Wiener Freund und bat ihn, möglichft verläßliche Erfundigungen über die Johanna einzuziehen.

Am andern Morgen, während ich mit dem Damian durch die graue Frühe zur Pirfche auszog, ſchwatzte er immerzu von dem ‚fleißigen MabI‘ ganz gegen feine fonftige Gewohnheit fagte er niemals: ‚Frauenzimmer‘. Doch als wir in Wildnähe kamen, hieß es wie gewöhnlich: „Jetzt müaſſen mer aber ftad fein!“

Dann war ich eine Woche vom Jagdhaus abweſend. Bei meiner Rückkehr ftand Damian Zagg fehon auf der Lauer: „Herr Dolter! Geit geftern liegt fcho allweil a Briaf da für Eahna! Aus Wean.“

„So? Und da bift du wohl neugierig?“

106 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

„3a. Die Meining hat aa fcho wieder gfchrieben.“ Er ſchmunzelte. „Dös Madl is jcho völli narret.“

„Gib mir den Brief!“

„Den hab i der Muatter auffigfchidt. Aber verhalten S' Eahna net! I geh glei mit auffi.“

In meiner Stube fand ich bie Antwort des Wiener Freundes. Der ſchrieb: dieſe Johanna wäre eine ganz famoſe Perſon, über die man überall nur gutes zu hören bekäme; ſogar der Hausmeiſter hätte nichts an ihr auszuſetzen; fie wäre 29 Jahre alt und hätte ſeit 14 Jahren bei einer ver- witweten Hofrätin gedient, zuerjt als Ertramädel, dann ald Köchin und fchließlich als Pflegerin der kränklichen Frau. Der Hofrätin fiele es ſchwer, das Mädel herzugeben; aber fie würde der Iohanna, wenn diefe ihr Glück machen fönnte, natürlich nichts in den Weg legen, ihr fogar durch eine Beifteuer zur Ausftattung die Gründung eine Hausftandes erleichtern.

Das las ich dem Damian vor. Eine Weile befann er fih. Dann fagte er: „A neue Montur hab i mer fcho machen laffen. Geſtern hat mer's der Leitnerbäuerin ihr Weibsbild einibracht. Morgen haben mer Frei- tag. Wann i morgen roafen funnt, waar i grad am Sunnte drunt in Wean.“

Ich gab ihm die fünf Tage Urlaub, um die er bat. And ſchrieb ihm die Reiferoute mit den Eifenbahnzeiten in feinen Taſchenkalender. Damit ihm die Brautfahrt nicht gar zu teuer fäme, wollte er dritter Rlaffe und mit dem Perjonenzug fahren. Dann mußte ich ihm das Telegramm an die Johanna auffegen: „Komme Samstag abends zehn Uhr mit Poftzug, Gruß, Damian.“

Weil er zuerft noch mit feiner Mutter reden wollte, radelte er am Nachmittag in feiner neuen Montur davon. Die war aus hechtgrauem Loden gefertigt, mit reichlichem Verbrauch von fpinatgrünem Tuch für Auf- ſchläge und Hofenftreifen. Tafchen und Uermel waren mit rotem Stoff ge- füttert,; und auf den Soppenfragen hatte er fich große, goldene Eichenblätter ſticken laffen. Bei all diefen Farben leuchtete der Damian Zagg in der Sonne, wie ein GStieglig in feinem Hochzeitskleid.

Während der folgenden Tage dachte ich viel an ihn aber noch mehr an die Johanna.

Den Freitag hatte ich beim Urlaub nicht mitgezählt. Darum erwartete ih, daß der Damian am Mittwoch abend heimtommen würde. Uber am Dienstag in aller Frühe, ald ich vor der Tür des Jagdhauſes in der Sonne ftand, fah ich drunten durch den Wald etwas herbligen und dann fchob der Damian fein Radl über das Almfeld herauf.

„Autſch!“ dachte ich mir. „Die Sache ift fchlecht ausgefallen!“ Und ging dem Damian entgegen.

Er lupfte den Hut und lachte. „Gott fei Lob und Dank! Weil i nur wieder dahoam bin! Und an Wald ſchmeckl Teifi, Teifi! Und daß i's glei jag, was mer paffiert i8 ... wie i draußt vorbeiradl am neuen Schlag, fteht z’mittelft auf der Liachten der gute Zmwölferhirfch, den i feit der KRolbenzeit nimmer gfehgn hab. Und völli verfchlagen ſchol Da müaffen mer auffifhaugn auf 'n Abend! Paflen ©’ auf, den ſchiaßen mer! Teift, Teifil Hat der a Gweih droben!“

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt de Damian Zagg. 107

„Ira, da bin ich neugierig.“ Ich lachte. „Und die Iohanna? Wie fteht’8 denn mit der?“

„Ah ſooo?“ Ernft vor fich bingudend, rücte er den Hut aus der Stirne. Dann machte er eine merkwürdige Bewegung mit den Schultern die eine zog er in die Höhe, die andere nach abwärts. „Da kann's jest guat oder fhlecht gehn! Müaſſen mer halt fchaugn, wia’s weard.“ Mit dem blauen Sadtuch begann er feine neue Montur abzuftauben.

„Was heißt da8? So erzähl doch!“

„Sreili, ja! Aber z’erft muaß t mer an Kaffee kochen. Ganz der- lechznet bin il U fo a Roas! Dös is ſcho ebbes faumaffigs! Hin und her [hier achtavierzg Stund in fo an Hundsftall drin! Und fo a Gftanf von die Leut! Und dös Schwigen! Und allweil dös Notteln und Schotteln! Teifi, Teifil Vierzehn Täg wear i fcho brauchen, bis i meine Darm wieder ausananderflaub!*

Er ſchob fein Radl zur Jägerhütte. Und bald darauf qualmte aus dem Schornftein ein blauer Rauch heraus, der fich in der fchönen, ftillen Morgenfonne wie ein blauer Schleier um die ganze Hütte mob.

Anderthalb Stunden fpäter, um acht Uhr, fam Damian Zagg in meine Stube, barfüßig und in feinem alten Pirfchgewand. Er feste fich zu mir an den GSchreibtifch und zündete fich gemütlich die Zigarre an, die ich ihm gab. Dann begann er zu erzählen und erzählte zwei Stunden und war noch immer nicht in Wien, erft in St. Pölten, wo er fich vier Paar Würfteln mit Meerrettich kaufte. In Reckawinkel warf er das Papier zum Fenfter hinaus.

Bon feinem Geſpräch mit dem Portier der AUbfahrtsftation bis zur Einfahrt in den Wiener Weftbahnhof befam ich mit Humor und Galle jedes Heinfte Detail der Reife zu genießen, jeden Pfiff der Lokomotive, den er täufchend nachmachte, jeden Ruf der Kondufteure, das Bild eines jeden Reifenden, der da ein- und ausffieg, jedes Gefpräcd im Coupe, jeden Wagen- ftoß, jeden Schnäuzer und jeden Schweißtropfen des heißen Tages.

Als er bei Anbruch der Abenddämmerung das Wurftpapier zum Fenfter binausgeworfen hatte, machte er Toilette: erft zog er die Schuhe wieder an, dann pußte er an den Vorhängen des Coupes die Hände ab, wobei er Die fonderbare Beobachtung machte, daß feine Hände noch ſchwärzer wurden und dann brachte er mit feinem Taſchenkämmchen Haar und Bart in Ordnung.

„Gahlings tuat’3 an Pfief, wia der Teifi, bal ’r fei Großmuatter fiecht. Und der Zug fahrt eini in fo an Ennstrumm Glasftadel. A Spitakel i8 gmwefen, und a Gfchroa . . . und d' Leut haben gredt, daß i 's nimmer verftanden hab. No alfo, hab i mer denkt, jest bin i da! Jetzt, Dami, jest paß auf! Und mia i auffifteig aus 'n Hundsftall, derfpecht i gleich von aller Weiten fo a blaffelet3 Madl, dös den Kragen auffiftreckt und d' Augen umanandfcheanfelt wie narret. Teift, denk i mer, weard's do am End net fein! fchaut ja nach gar nir aus! roacht mer ja faam bis an d’ Irxen auffil ... Und richti war j’ es!... Malefizfotergraf, hab i mer denft! Was der auf feim Bild! alles zammglogen hat! 's Gſichtl hätt gar net fo übel ausgfchaut. Uber fo viel Hoan beinand is 's Madl

108 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

gwefen. Bali am Werktag zuagreif, hab i fcho 's ganze Frauenzimmer in der Pragen. Was bleibt denn da für 'n Sunnte übri?”

Bedächtig ftreifte Damian die Afche von der Zigarre.

„Am liabften waar i glei wieder einigfprunga in mein Hundsftall. Aber 's Madl hupſt ſcho auf mi zua, wia der Froſch, dem ’3 Trudene gar zlang dauert bat. Und ‚Herr Dberjäger,‘ fagt f’, ‚gelten ©’, Gie ſind's, Herr Oberjäger?‘ Und 's bloache Gfichtl is ihr fuieri woarn. Und gſchnauft hat ſ' wie a Schmalgvas, wann ſ' trieben weard. ‚No ja,' fag i, ‚freili bin. i ’8l° Da bat ſ' mer d' Hand geben. ‚Grüß Ihnen Gott, Herr Oberjäger!‘ ‚Grüa Gott, Iohanna,‘ hab i gfagt, ‚jegt bin i da, und mit 'm Giefagen brauchft di net plagen, bei mir dahoam fagt a jede Du zu mir.‘ Und derweil ſchaug i f’ allweil fo an von der Geiten. Und ba mweard 's Madl gahlings bloah. J moan, fie hat gmirkt, daß ſ' mer net gar fo bfonders gfallt. No alfo, und nacher fan mer halt auffi zum Tempel. Und derweil mi 's Madl einigfüahrt hat in d' Stadt, da hab i ihr ver- zählt, wia mer d' Roas gweſen id, und daß mer in Sankt Pölten Würſtln fo viel guat gſchmeckt haben. ‚Da kannſt du doch nicht genug haben,‘ jagt f’, ‚du mußt doch etwas genießen!‘ Und da bat f’ mi in fo a nobels Refterante führen wollen. ‚Ah na,‘ fag i, ‚da ſchaut's mer z’teuer aus, und fpendieren laß i mer nir, eb daß i net woaß, wie i dran bin.‘ Nacher fan mer in a Kaffeehaus gangen, und da hat mi d’ Johanna zu fo an Waflerbrünndl gfüahrt. ‚Schau, Damian,‘ hat ſ' gfagt, ‚Schau, da fannft du dir die Hände wachen‘ Dernach haben mer Kaffee trunfen, i hab ben meinigen zahlt, und 's Madl hat den ihrigen zahlen finna. Dös hat's a bißl verfchmaacht, daß ſ' net zahlen hat därfen für mi. Aber fo ebbed mag i net, i zahl mei Sach felber. Mo, und nacher hab i halt fo verzählt, wia 's ausfchaugt bei ung, und von der Jagd, und von dahoam. Und 's Madl is allweil naacheter zuachigrudt. Und gahlings nimmt j’ mi bei der Hand und fagt mit fo an Zmwirnsfadenftimmerl: ‚Was meinft du, Damian? Meinft, daß du mich ein-bifferl gernhaben fönnteft? Viel kann ich nicht verlangen, das weiß ich fchon. Aber doch ein bifjerl halt?‘ Da hab i lachen müaſſen. ‚No, fag i, ‚a bil mehr als a bißl hab i Di fcho gearn.‘ Zetzt hätten ©’ fehgn follen, Herr Dokter, wia dös Madl auf amal Lufti woarn is! Schau, hab i mer denkt, waar net amal gar fo übell Aber wia f’ nacher gmirkt hat, daß mer d’ Augen ſchwaar fan, bat f’ gfagt: ‚Romm, Herzl,‘ hat ſ' ofagt, ‚fomm, heut mußt du dich ausruhen!‘ Um Elfe in der Fruah, fo haben mer ausgmacht, fol i auffikommen zu ihrer Gnädigen ... ja, hat f’ gfagt, dera ftellt fie mich für. Und nacher hat f’ mi hoamgfüahrt ins Gafthaus, dös mer der Herr Dokter in der Marahilferftraß refamandiert haben. Und wie id’ Hausgloden zogen hab ghabt, da hat ſi's Madl gahlings fo an mi onighufchelet. Und völli ziedert bat f’! Da hab i wieder lachen müaffen! Und hab ihr halt a Buffel geben, in Gottönamen! Aber 3 Madl hätt bald gar nimmer auslafjen. ‚Sterben könnt ich,‘ hat ſ' gfagt, ‚Schau, Dami, fterben könnt ich für dich!" ‚Dös braucht's net,‘ fag i ‚mit 'm Sterben hat ’3 no Zeit, morgen reden mer z'erſt amal über ’3 Leben!‘ Und grad, wie i dös fag, fpirrt der Hausmoafter auf. Teifi, Teifi! Nacht hab i aber guat gichlafen! Auf a fo a Roas auffil“

Ludwig Gangbofer: Die Brautfahrt ded Damian Zagg. 109

Eine Menge merkwürdiger Dinge wußte Damian von dem Gafthaus zu erzählen, von feinem Zimmer und von dem Frühſtück, das er fich, als er hörte, was es Foftete, am liebften wieder ‚auffigriffen hätt ausm Magen‘. Do ich hörte nimmer recht auf den Damian. Vor meinen Gedanken war das Geficht der Johanna aufgeftiegen, diefes blaffe Geficht mit den armen Sehnfuchtsaugen.

Damian wollte erzählen, was er an diefem Sonntag Morgen von der Stadt und von ihrem Leben gefehen hatte. Doc ich fagte: „Das brauch ich nicht zu willen! Die Wienerftadt kenn ich. Erzähle mir, warn du die Sohanna wieder gefehen haft!“

„Punkter halber Elfe bin i vor 'm Haustor gftanden. Und 's Madl bat fchon paßt auf mi und hat mi auffigfünhrt zur alten Frau, fo ftad daghodt is in an Lehnftuahl. U feins Frauerl! Uber ausgfchaut hat's wie a Tüachl voll Hafenboanln. J moan, muaß d'Schwindſucht haben. Aber freundli hat f’ gredt mit mir. ‚Sa,‘ hat |’ gfagt, ‚die Hannerl hat mir fhon erzählt, wie freundlich Sie mit ihr waren, und wie gut ihr euch geftern gleich miteinander verftanden habt!‘ Und nacher hat 's Madl aus der Stuben müaflen, und d’ Frau bat fo um alld zum fragen anghebt. Teifi, Teifi! is neugiari gwefen! Und der Johanna ihre guaten Eigenfchäften hat ſ' auffigftrichen übern Schellenföni. ‚Sa,‘ hat ſ' gfagt, ‚die Hannerl werde ich ſchwer vermiffen! Uber der Menſch, hat f’ gmoant, ‚der waar net auf der Welt für ander Leut, fondern für eahm felber und für’8 eigene Glickl!‘ Ja ja, hab i mer denkt, haft fcho recht.“

Dann durfte die Iohanna dem Damian die große fohöne Wohnung zeigen.

„Zeifi, Teifil Frau muaß a Saugeld haben! An der Schnuar haft auffigfchaut durch fieben endsmäßige Stuben, vane fchöner wia die ander! Und was für Sachen da umanandgftanden fan! Teifi, Teifil Und überall fan fo Knöpf an der Wand gwefen. Da haft bloß drahn därfen, und in der Stuben fan d’ Liachter dugetweis aufgfahren. Dös hat mer ofallen. Allweil hab i draht. Bis 's Madl gfagt hat: ‚Du, Herzl, das ift ein teurer Spaß!‘ And allweil hat ſ' mi auf d’ Geiten brudt, bal wieder jo a Rnöpfl fumman is.“

Dann behielt die Hofrätin den Damian Zagg zum Mittageflen. Er durfte bei ihr am Tiſch figen, während die Hannerl aufwartete.

„No, und da hab i halt von der Jagd verzählt, und hab an Wein trunfen, und hab fo meine Gfpafletteln gmacht, daß dös alte, kranke Frauerl völli gicheppert hat vor lauter Lachen. Und die Meinige, an dem glanzigen Gfchirrkaften Hint, hat allweil kudert vor lauter Freid ... und bal f’ ebbed aufwarten hat müaſſen, hat ſ' mi allweil angfchaut, und an Stolz bat ſ' ghabt mit mir wia der Bua mit der earften Hofen. Jal Und nach 'm Effen, wia die Meinig mit der Arbet firti war, no, da fan mer nacher fo -beinandafeifen in der Meinigen ihrem Kamel. Wie a Kirchl, a kloans, jo bat dös Stüberl ausgfchaut. Und da haben mer halt alles ausgredt mitanander. Und 's Madl hat mer ihr Sach alles zoagt. An ganzen KRaften voll Zuig hat f’ ghabt! Und Bettwäſch und Tifchtüncher und Zuig überanand, grad alles vom beftenl Nach der Hirfchbrunft, hab

110 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

i gmoant, funnten mer heireten. Golang i d’ Jagdherrn im Revier hab, taat 's mer net paflen, und da hätt i aa foa Zeit net. Und 's Madl, derweil 's ihren Kaſten wieder einraumt, bat 's glei ausgrechnet, wieviel Täg dös no fein taaten. ‚Ach, Herzl,‘ hat ſ' gmoant, ‚noch zweiundachzig Tage!‘ Da hab i lachen müaffen. ‚Geh,‘ ſag i, ‚geb ber a bißll!‘ A Weil haben mer no fo umanand gredt. Und nachher hab i's braucht.“

Sch glaubte mich verhört zu haben. „Was haft du?“

„Mo, braucht hab i's halt.“

Im erften Augenblic verfchlug mir’d die Nede. „Uber Damian...“ Ich verfchludte, was ich ihm fagen wollte. Und fragte nur: „Hat fich Denn die Johanna das gefallen laſſen?“

„Gſpriſſen hat fi 3 Madl freili wia narret,“ fagte er mit ruhigem Ernft. „Uber bal di du net brauchen laßt, hab i gfagt, da kunnt i ja glaabn, es taat ebbes fehlen dran! Wann vaner heiret, muaß ’r wiſſen, was ’r friagt. Dös is bei ung dahoam allweil jo. Da weard ma deinet- wegen koa neue Mod net einfüahren. Alfo! Ent oder weder, hab i gſagt . .. und da hat ſ' Spreiſſerei gahlings aufgeben.“

Damian zündete ſich mit Verbrauch von einem Dusend Schwefel: bölzeln die Zigarre wieder an, die ihm beim Erzählen ausgegangen mar.

Ich fah ihn an und ſchwieg. Der unfchenierte, gewichtige Ernft, mit dem der Damian Zagg feine Brautftandsmoral entwidelte, und der Lafo- nismus feiner Darftellung das hatte einen ftarfen Zug von Komit. Doch ich konnte nicht lachen. In mir brannte das Mitleid mit dem armen Gefhöpf in Wien da drunten. Neben der Komik, die vom Damian aus- ging, fühlte ich den Einfchlag der Tragödie, die über das Leben dieſes braven, anftändigen Mädels gefallen war. Welch ein weher Kampf muß damals in der Heinen Kammer, die fich anſah ‚wie ein Kirchl‘, durch Herz und Seele diefes Mädchens gegangen fein! Sie hat ſchon an ein ‚bifferl‘ Liebe geglaubt und da erfchridt fie und wird an ihrem Glauben irr. Und fie kann diefen Glauben doch nicht finfen laffen! Darf das Glüd nicht wieder verlieren, das jchon jo nah ift und herauslacht aus dem grünen Wald! ‚Ach, der Wald, der jchöne Wald! Ach, das Glüd, das jchöne Glück!‘ Davon hat fie Schon im Waifenhaufe geträumt! Und nun hat fih der Traum erfüllen wollen. Uber zwifchen ihr und dem nahen Glüd fteht plöglich diefe häßliche Mauer, über die fie nicht hinüber will. Alles in ihr wehrt fich dagegen, ihr Schamgefühl, alle Reinlichkeit ihres armen Lebens, alles Gute in ihr! Und dag Glüd da drüben, das ihr helfen will und berübergreift, bat jo grobe, fehmerzende Fäufte! Gie zittert, fie möchte fchreien. Aber da drückt ihr die Sehnfucht nach dem Glüd die Kehle zu. Sie verhüllt die Augen und hat feinen Willen mehr nur noch den Willen, ihr Glück nicht zu verlieren. „Entweder, oder!” Der Damian Zagg hätte in der fleinen Kirche dieſes vermwailten Lebens ein ftärfered Wort nicht predigen können!

Und daß ich in meinen Gedanken die Sohanna nicht falfch gefehen hatte, das bewies mir der Damian gleich.

„Dernach hat mi ’3 Madl eigentli a bißl derbarmt,“ erzählte er und blies während einer nachdenklichen Paufe den Rauch feiner Zigarre in

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg. 111

einem dünnen Faden vor fich hin. „Sö hat halt ehnder no nia mit vam ebbes z'toan ghabt. Allweil fan ihr die ftaden Bacherln abigloffen. Und vor lauter Schenieren hat fi 's Madl gar nimmer traut, daß 's mi an- jhaut! ‚Geb,‘ fag i, ‚jei net fo dalfet! Was is denn jest da dahinter!‘ Aber 's Madl fchaugt allweil zum Fenfter auffi und draht fie glei gar nimmer um. ‚Ro, fag i und hab lachen müaffen, ‚denkſt ebba von mir jegt aa fo, wia du 's von die Mannsbilder in deim Briaf drin gfchrieben baft: Pfui Teifil! Da bat ſ' mi gahlings um 'n Hals gnumma und hat zum reahrn anghoben, daß i's fchier nimmer gſchweigen hab finna. ‚Geh,‘ fag i, ‚fei ftad, und brauchft foa Surg net haben, woaßt, bal alles in der Ordnung is, weard gheiret auf 'n Schnall’ Da hat ſ' mi 's earſtmal wieder angſchaut ... und dös hab i aa no nia gfehgn, daß ma auf van Sig woana und lachen fon! ‚Geh,‘ fag i, ‚hoc di ber, daß mer no alles ausreden, ber Abend weard glei da fein, und um Neune geht mei Zug.‘ ‚Sefus!‘ hat f’ gſagt und hat fi mauerbloach verfärbt übers ganze Gficht. J hätt doch fünf En Urlab, Hat ſ' gmoant, da fünnt i do an Tag no zuageben. ‚Na na,‘ fag i, ‚d' Hauptfach haben mer ausgmacht, und jegt treibt’8 mi hoam.“ No, und da fan mer no a Weil beinand ghockt, und derweil mer alles beredt haben, hat die Meinig a paar von ihre Tifchtüacher aus 'm Kaften gnumma und hat mit an roaten Faden a Zett übers blaue Jotta auffignaaht. Um a Fünfe nacher, da hat die Gnädige a paar Raffee- gäft Friagt, und die Meinige hat aufwarten müaſſen. Da hab i mi der- weil einigfegt in d' Ruchel. Teifi, Teifil Köchin! hat mer gfallen! A Frauenzimmer wie a Kürraffier, und Augen wia der Höllifche, und bie Hunde Brufcht hat ſ' auſſigſtreckt wia der Wetterfchrofen fei’ Stoanafen! Teift Teifil So vane, hätt i gheiret und mit hoamgnumma, glei vom Fleck weg!”

Damian lachte.

„Die Meinig bat völli zum eifern angfangt! Und auf d’ Lest, da bat ſ' no aufgjchnauft, weil i am Abend fcho hoamgroaft bin.“

Auf dem Bahnhof klammerte fich die Johanna fo feit und lange an den Hals des Damian Zagg, daß fich der Rondufteur ind Mittel legen und mahnen mußte: „Frauerl, jegt müſſen S' aber Ihr Mannderl aus- laffen, fonft fahrt der Zug ab! Pfiffen hat 's fchon!“

Damian erzählte noch eine ganze Stunde. Uber von der Johanna fprach er fein Wort mehr, bis ich fragte: „Nach der Hirfchbrunft willſt du alfo heiraten?”

Er 309 die Stirn in Falten. „So gſchwind geht Sach no allweil net. Jetzt müaſſen mer z’erft amal abwarten, was die Meinig fehreibt.“ Dann wollte er noch willen, wie e8 am Abend mit der Pirfche wäre und ging aus der Stube. Weil er barfuß war, hörte ich draußen im Flur feinen Schritt. Doch die leichte Holzftiege Frachte unter dem Gewicht des Damian Zagg.

Eine Sommerwoche um die andere verging. Wenn ich den Damian fragte, ob er nichts von Wien gehört hätte, fagte er mit anderen Worten immer das Gleihe: „Dö bat fho wieder a paar Bögeln vull gfchrieben. Aber nia fteht ebbes drin!”

Im Bergwald fing es zu herbfteln an. Und die Ringdrofjeln zogen fort.

112 Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg.

Ende Auguft fagte der Damian: „Wann f’ jest net bald ebbes fhreibt ... . nacher moan i allweil, mit uns zwoa weard's fchlecht aus- Ihaugn.“

Dann war's in der erften Septemberwoche. Da fam der Damian in meine Stube und hatte was Dienſtliches mit mir zu reden. And plöglich, mitten im Gefpräche über die Jagd, fagte er: „Fürgeftern hat ſ' mer wieder gſchrieben . . . aus Wean.“

„Nun? Was ſchreibt ſie?“

„Es waar nir!... Und dös dalkete Frauenzimmer hat no bie größte Freud drüber!“

. Und du? Was haft du ihr gefchrieben ?*

„Wann's bei ihr nir waar, nacher waar’3 bei mir aa nir.“

Dann gudte er mich mit fcharfen Augen an, als hätte er irgend was Merkwürdiges in meinem Geficht gefehen.

Nah einer Weile fagte ih: „Damian! Das ift hart für das arme Mädel.”

Er zudte die Achfeln.

„Du! Damian! Wenn du auf meinen Rat noch etwas gibft, dann beirate die Johanna!“

„a, Herr Dokter! Entern Rat in Ehren! Aber da weard fi nir machen lafjen. So a trückens Weibsbild! Was tua i denn mit jo vaner? DE kriagt foane Kinder.“

Im Klang feiner Worte war etwas Brutales, etwas Eifenhartes und Bernichtendes.

Und da mußte ich ihm das ind Geficht fagen: „Du! Die Johanna war doc) bei dir nicht die erfte. Wie viel Kinder haft denn du ſchon?“

Im erften Augenblick fehien er das nicht zu verftehen. Dann lachte er mir ind Geficht.

So muß ein Gott lachen, wenn er merkt, daß ein Wurm an ihm zweifelt.

„Heut is 'r aber guat, der Herr Dokter!“

Mit diefem Wort und lachend ging der Damian aus meiner Stube.

Von der Johanna fprachen wir nimmer miteinander.

Doch Ende September einmal, da fam ich ing Jägerhaus. Der Damian war nicht daheim. Und wie es der Zufall wollte, fiel mein Blid auf den Spiegel, an dem eine Poſtkarte ftak, mit einer Anficht von Riva. Am Garda- fee hab ich fchöne Zeiten verlebt. Ich nahm das Blatt, um es zu betrachten.

Und da fand ich unter dem blauen See ein Dugend eng mit Bleiftift gefrigelter Zeilen:

„Lieber D.! Geftern bin ich mit der Eifenbahn an den fchönen Bergen vorbeigefahren, auf denen du wohneft. Ach, die Berge, die fehönen Berge! Meine gute gnädige Frau muß für den ganzen Winter nach Arco. Und da hat fie mich mitgenommen, daß ich ein bifferl was Schönes fehe. Alſo, fo reife ich in die weite Well. Alfo, fo ift nun alles aus! Du wirft gewiß eine reiche, fohöne Frau befommen. Uber gewiß feine Treuere, als ich Dir gemwefen wäre. Aber ich mwünfche Dir von Herzen alles Gute.

3,

Ludwig Ganghofer: Die Brautfahrt des Damian Zagg. 113

Diefe Heine Karte, auf der das füdliche Ufer fo grün und der Gee fo blau war, hab ich lange betrachtet. Dann ſteckte ich fie wieder an den Spiegel.

Sn den Tagen, die dann kamen, war der Oberjäger Zagg mit feinem Jagdherrn nicht zufrieden. Gegen mich benahm er fich mit fpürender Vor- fiht. Aber vor den Zägern und Dienftleuten räfonnierte er: „Jetzt fpinnt ’r wieder amall Woaß der Teifi, was ’r hat gegen mil Fleißiger im Deanft bin i no nia net gwefen! Und pflichtfchuldigft hab i eahm an jeden Hirſch und Gamsbock gmeldt.“

Am 1. Dftober fam e8 wegen einer Wilddieberei, die man in meinem Revier verübt hatte, und die der Dberjäger durch richtige Einteilung des Schugdienftes hätte verhindern fünnen, zu einem böfen Verdruß. Bei diefer Gelegenheit fuhr mir die Galle aus der Leber. Ich wurde grob. Sehr grob! Die andern Jäger duften die Köpfe. Aber Damian griff in die Zoppentafche, legte fein Dienftbuch und feine Jagdkarte auf meinen Schreibtifh. Und fagte: „So laß i net reden mit mir! Anſeroans hat aa an Ehr im Leib. Heut iS der earfte. Mein Ghalt fürs Vierteljahr hab i geftern kriagt. Test fan mer firti mit ananber.“

„But!“ fagte ich. Und die Sache war erledigt.

Er verfuchte noch, die beiden anderen Zäger zum Ausſtand zu be- reden. Uber die waren der Anficht: „Der Herr Dolter hat ’3 net fo gmoant! Bal vam d’ Lumpen z’mittelft im Revier drei Kälber niederfchiaßen, weard fi der Jagdherr wohl ärgern därfen.“

Ein paar Stunden fpäter fuhr ich ind Dorf hinaus. Auf der Straße überholte mein Wagen den Damian Zagg, der in feiner neuen Montur davonwanderte in der Montur, die er fich für die Brauffahrt hatte machen laffen. Er grüßte nimmer. Und fah über mich hin, ald wäre ich Luft mit einem Blick, wie man von hohem Berge über die Heinen, trüben Täler wegzufchauen pflegt.

Mein Rutfcher lachte und fagte über die Schulter: „Dös iS vaner!“

Trog allem war es mir leid, daß ich ihn verloren hatte. Sch hörte ihn fo gern erzählen auch wenn er Dinge erzählte, die mir nicht gefielen. Und eines ift wahr: ald Jäger hatte er nicht feinesgleichen.

Eübdeutfhe Monatshefte. 11,8. 8

Zur Einführung in die Dichtung „Dichemfchid“ von Grete QUuer. Bon 3. B. Widmann in Bern.

Daß abendländifche Dichter gedankenſchwere Weisheit gern in das prunfoolle Gewand morgenländifcher Sagenftoffe hüllen, hat nichts Auf: fallendes, da die Poefie des Morgenlandes, gleichviel ob wir das Bud Hiob auffchlagen oder die Baghavat-Gita der Inder oder JIrans heilige Schriften, felbft von einem tiefen Erwägen des Zufammenhangs aller Dinge ganz erfüllt ift.

Aber bei der Dichterin, die in nachftehendem Fragment eine Folge fhwermütig fehnfüchtiger Gedanken über das legte Geheimnis menfchlichen Lebens in die Reden und GSterbefeufzer zweier Geftalten der altperfifchen Sage gebannt hat, ift da8 Verhältnis zu der orientalifchen Gemandung, die fie wählte, doch ein etwas anderes, als e8 z. B. bei Rückert ſich dar- ftellt, wenn er einen indifchen Brahmanen, „der nichts gelefen als den Veda der Natur“, zum Sprecher feiner eigenen lehrhaften Gedanken madıt.

Denn wenn in Grete Auersd Dichtung der König Dfchemfchid zur „teuflifchen Wüſte“ fpricht, zu dem „fahlen, toten, endlofen, erftarrten Meere“, dem er und feine geliebte Sudabe nicht mehr entrinnen werden, wenn „das feltfame Lied des mindgepeitfchten Sandes“ ihm wie das Lachen eines Dämons Klingt, fo verdient wohl hervorgehoben zu werden, daß die junge fchweizerifche Dichterin diefes Lied des Wüftenfandes felbft vernommen bat, daß fie, die noch vor einem Jahre in Marokko Iebte, oft genug an ber Geite ihres Bruders die afrikanische Wüfte auf Tage lang dauernden Ritten durchftreift hat und, daß mithin der Zuſammenhang ihres finnvollen Dichtend mit der Landfchaft und den Menfchen des Drients ihr durch lebendige Anfchauung auf natürliche Weiſe geworden ift.

Uebrigens hat Fräulein Grete Auer die Eindrüde, welche fie während ber mehreren Jahre ihres dortigen Aufenthaltes gewann, auch in realiftifchen Erzählungen niedergelegt, die ſowohl die Zuftände und die Natur des Landes wie ganz befonders die feelifchen Motive, von denen feine Bewohner geleitet werden, in fo prachtvollen Schilderungen wiedergeben, daß man feit den afiatifhen Novellen des Grafen Gobineau über die eigentlich treibenden pſychiſchen Gewalten der Völfer des Islam in erzählender Form wohl nicht8 Beſſeres mehr zu lefen befommen hat als diefe ihre „Marofkanifchen Erzählungen“, die im Verlag A. Frande (Bern) 1904 erfchienen find.

In ihrem dreiaftigen Drama „Dfchemfchid“ nun, in dem die Dichterin ihr Eigenftes zu geben fich gedrängt fühlte, hat fie ihre realiftifche Renntnig

3. 3. Widmann: Zur Einführung in die Dichtung „Oſchemſchid“. 115

des orientalifchen Weſens vor dem idealen Element der Dichtung nafur- gemäß etwas zurücktreten laffen und von ihr nur zur Verftärfung der Stimmung und Innehaltung der Roftümtreue befcheidenen Gebrauch gemacht. Der eigentliche Gegenftand des Heinen Dramas ift die Darftellung höchfter Vornehmheit des Menfchengeiftes gegenüber der bitterften aller Möglich- feiten einer vielleicht zwedlofen Welt. Und zwar kommt diefe fublime feelifche VBornehmheit nicht wie 3. B. in Byrons „Manfred“ und ähn- lichen Dichtungen in einem fich auflehnenden Geifte zum Ausdrud, fondern in einem bis zum legten Seufzer treu im Glauben an feinen Gott ausharrenden Belenner, was jedoch nicht ausschließt, daß der gefchaffene Geift dem fchaffenden in heißem Ringen fich ebenbürtig ermeift, dies etwa im Sinne jener und aus dem Alten Teftamente befannten Symbolik des Rampfes Jakobs mit dem Engel Gottes.

Für folchen geiftigen Gehalt ihrer Dichtung fand die DVerfaflerin im alten Sagenſchatze Irans die paflendften Geftalten. Einer in vielen Hand- fchriften des Schahname (des altperfifchen Helden: und Königsbuches) enthaltenen Epifode, die laut Angabe des Grafen Schad allerdings nicht von Firdufi ſelbſt herrührt, fondern aus einer fpäteren Dichtung („Berfhafp-Name*) eingefchoben wurde, entnahm unfere Dichterin ihren Stoff. Dſchemſchid, der edle König, dem die Diwen und die Peris dienten und der ganz Iran mit Weisheit beherrfchte, war zulegt durch Künſte des Satans, der den Araberfürften Sohak zu feinem Werkzeuge erforen hatte, feiner Herrfchaft verluftig gegangen und als Flüchtling unerkannt an den Hof des Könige Gureng von Zabuliftan gelangt, der ihm jedoch feinen Schuß zu gewähren vermochte, ja, nach der urfprünglichen Sage, ihn fogar an den Araberfürften Sohak auslieferte, der den edeln Dfchemfchid einen Heiland des Zendvolkes graufam hinrichten ließ. In unferer Dichtung verweift König Gureng Dfchemfchid bloß des Landes, ann aber nicht verhindern, daß feine eigene Tochter Sudabe, die den herrlichen Fremdling liebgervonnen bat, diefem in die Verbannung folgt. Dies ift der wefentliche Inhalt der beiden erjten Akte des Dramas, die hier nicht zum Abdruck gelangen.

Der nun folgende Schlußaft zeigt die beiden Liebenden auf ihrer Wanderung durch die Wüfte, wo fie durch Verfchmachten den Tod finden, einen Tod, bei dem Dfchemfchid, der ald der weifeite aller Menfchen gedacht ift, feine geiftige Hoheit in ergreifender Weife dartut. Die poetifche Aus- geftaltung des Heldenpaares denn auch Sudabe zeigt fich ihres Todes- gefährten nicht unmürdig und die Ausführung der erwähnten hohen Ideen war der Zweck diefer Arbeit, bei der die Lefer, wie wir glauben, inne werden dürften, daß der Dialog mit all feinem philofophierenden Inhalt doch echt poetifch bleibt, weil die in ihm zur Ausfprache gelangenden Ge- danken nicht erflügelte, fondern mit innigem Gefühl erfaßte, rechte Herzens- gedanken find.

CR FR FEFER FR FR FER ER ER FER ER ER ER ER ER FE

Dſchemſchid.

Von Grete Auer in Bern.

Dritter Akt.

Wuſte. Nacht. Sehr ſtarker Mond. Im Vordergrund ein paar niedrige Felſen, in deren Schuge Oſchemſchld und Sudabe liegen. Ein Mantel, von einem Stod geftügt, bildet eine Art Zelt. Swei leere Tonfrüge, ein leerer —— pr mit Pfeilen legen am Boben umher.

Oſchemſchid

(über fie gebeugth:

Wär diefer Schlaf dein legter, Sudabe! Wär diefe Bläffe, die das fahle Licht Des Mondes auf dies müde Antlig log, Wär fie die hehre Bläffe der Erlöften! Weh, daß ich's wünfchen muß! Du träumft vielleicht Bon Rettung wohl, von Sättigung, von Labfal Daß du erft da erwachteft, Subabe, Wo jeder Traum, auch diefer, Wahrheit wird! (Tiergepeuf in der Ferne.)

O weck fie nicht, du taufendftimm’ge Wüfte! Bereuft du, Teuflifche, daß deine Schreden Berloren find an ihr? Was tat fie dir?

Sei unbeforgt: fie wird Dir nicht entgehn.

Noch ich. Du haft ung hältſt und. Wehe uns! Du feltfam Lied des mwindgepeitichten Sandes! Wie Lachen klingt es. Sa, fo Hang es auch, Da wir, Verirrte, kalte Angft im Herzen,

In diefem Kreife gelber . Wellen trieben, Mühfelig Ramm um Kamm mit matten Fuß Und immer mattrer Hoffnung ftumm erflimmend. D diefe Wellen! Berge ung, den Müden!

Und dann umfonft! Die bittre Mühe lohnte Bon jedem Gipfel nur das gleiche Bild,

Zahl, tot und endlos: ein erftarrted Meer, Geftorben hier vielleicht vor taufend Jahren,

Grete Auer: Oſchemſchid. 117

Verdorrt, verweſt, all feiner Wunder bar

Nur ein Gerippe mehr! And noch gefräßig! (Er fäut in Sinnen.)

Dier Tagel Hab’ ein Weilchen noch Geduld,

Ein Weilchen, Wüftel Wir entgehn dir nicht.

est nicht mehr. Allzumüde find wir ſchon.

Noch einen Tag noch zwei

Erſchauernd.) Das iſt ſehr lang!

Entſetzlich lang! Ich wollt' es käm' ein Sandſturm! Zwei Tage drei vielleicht das iſt ja wohl

Das Aeußerſte gleichviell Sch wollt’ es käme O Gott! Süß muß der Tod im Meere ſein!

Sudabe (bewegt ſich im Schlaf; fleberhafth: Die Quelle! Dfchemfhid! Gib den Becher gib!

Dſchemſchid (ſich aufraffend, mit andrer Stimme, indem er fanft ihr Saar küßth:

Könnt’ ich’8, ich zahlte jeden Haren Tropfen, Der deine Lippen fühlte, Sudabe, Mit einem weitern Tage des Verfchmachtens. Du Em’ger droben! Leiden ift wohl ſchwer, Unendlich ſchwerer aber leiden fehn! Nun denn, Du Allesfehender, vergib, Daß ich Dich angefleht, die Qual zu enden! Wie muß fie dienen, wie erhabnen Zwecken, Uns felbft zum höchſten Segen dienen, daf Sie unter Deines Vaterauges Blicken Beftehen darf der Du die Güte bift!

Subdbabe (erwacht, emporfahrend) : Iſt das der Morgen?

Dſchemſchid: Rein, der Wüſtenmond. Gern ift der Tag. O fuche noch zu fehlafen!

Sudabe: Nein, nein! Genug der Ruh! Auf, Dſchemſchid, komm! Laß ung die Helle nügen! Einmal noch Laß uns verfuhen Gieh, ich weiß beftimmt: Nach jener Seite gingen wir noch nicht. Ad! (Sie verſucht, ein paar Schritte zu tun, ſchwantt):

118 Grete Auer: Dſchemſchid.

Dfhemfhid: Liebfte! Laß! Dein Fuß trägt dich nicht mehr!

Sudabe (ih losmachend): Nicht doch! Schlaftrunken bin ich nur ein wenig. Nun geht es! Komm! Ganz nah ift ung vielleicht, Ganz nah der Pfad. Und fanden wir ihn nur, So ruhn wir, big wir ganz bei Kräften find. (taumelnd):

Oſchemſchid: Du mußt noch müde ſein. Du ſchliefſt ja kaum

Was iſt mir nur?

Sudabe (an ihn gelehnt, mühſam): Nein, müde bin ich nicht. Nur durſtig. Sehr! And leer ſind dieſe Krüge

Oſchemſchid: Bleib noch ein Weilchen hier, ſo geh ich denn Noch einmal zum wievielten? doch wer weiß? Ich finde Waſſer und vielleicht den Weg. Und ſo lang raſteſt Du. (&r drüdt ſie fanft auf einen Sig nieder und entfernt ſich).

Sudabe tfofort wieder aufipringend, ihm folgend): Mein! nimm mich mit! Mir bangt allein. 's ift Nacht. Und fändeft du Nicht mehr zurüd (Hier Hat fie Dſchemſchid auf der Höhe der erften Dune eingeholt. In biefem Augenbiid: Rarter Eichteffeft des Mondes in ber Gerne, said dem Aufbligen eines Wafferfpiegels. Subabe

Hal Dſchemſchid! Oſchemſchid! Sieh!

Oſchemſchid: Gott! Waſſer! Waſſer!

Sudabe (außer ſich): D wir find gerettet! Siehft du, dort kamen wir noch nicht vorbei! Das fahn wir nicht! Und dort liegt auch der Weg,

Grete Auer: Oſchemſchid.

Gerwiß, gewiß! O Ofchemfhid, danke Gott Mit mir Was haft du denn?

Oſchemſchid

(ernüchtert, verftört, für fi): Es kann nicht fein!

Wer äfft uns denn? Das mußten wir doch ſehn, So nah, fo greifbar nah wenn's wirklich wäre!

Subdbabe (fein Zaudern mißverftehend) :

Du bift wohl auch fehr müde? Wachteft wohl, Indes ich fchlief? Das hab ich nicht bedacht. Allein, fieh nur: wie nah, wie nah die Flut! Bis dahin zwinge noch den müden Fuß, Dort raften wir, und trinken trinken

Aufſchluchzend.)

Ach,

Wie wird das köſtlich ſein! Dſchemſchid

(wire): Ja köſtlich. Komm!

Sudabe:

Wenn das ein ſtehend Waſſer iſt, ſo muß Es Kräuter geben Sträucher Früchte wohl Welch Glück, o Gott! welch Glück! O fanden wir Zwei Tage früher dieſen Segensquell, So waren unſre Tiere auch gerettet. Gleichviel wir ſind's und unſer heißer Dank Soll lebenslang Hal

(Der Glanz ift erloſchen.

Oſchemſchid: Fort. Ich dacht' es wohl.

Sudabe:

Was iſt? Verdunkelt plötzlich ſich mein Blick? Dſchemſchid? Wo iſt es?

Dſchemſchid

(steht ſie erſchuttert an ſich): Arme Sudabe! (Er führt fie fanft die Dline wieder hinab, zum Rubeplag zurück.)

120

Grete Auer: Oſchemſchid.

Subabe den Irrtum plötzlich begreifend): O Dfchemfchid! Dſchemſchid! Iſt es nicht genug, Daß wir fo leiden? Iſt es nicht genug, Daß Gott uns ftraft? Muß er und auch noch höhnen?

Dſchemſchid: Er ſtraft nicht und er höhnt nicht, Sudabe.

Sudabe

Was dann? (uederſintend): I Liebſter, jal Ich weiß, ich weiß, Sc frevle. Sprich zu mir. O, wenn du kannſt,

Wenn dir die Zunge nicht am Gaumen Hebt,

Wenn deines Hirns Gedanken nicht verborrt,

Wenn ägend Salz nicht jeder Tropfen Blutes

In deinen Adern o fo fprich zu mir,

Daß ih an Gottes Wefen nicht verzmweifle!

Dſchemſchid Das wär’ das Schlimmftel Arme Sudabe! a, fprechen will ich, will, folang ich fann, Solang ein Hauch in mir tft, zu dir fprechen. Erinn’re dich des Tages, da wir müde Sn einem Waldtal uns zur Raſt begaben, Nach fchwerem Wandern

Subabe

Ich erinn’re mid). Grün war das Tal fo grün! Und Quellen raufchten

Oſchemſchid Nicht davon wollt' ich reden. Weißt du noch, Wie dieſen Tag uns das Geſchick verfolgt, Daß Pfeil auf Pfeil vergebens ich verſchoß, Daß, als der Abend kam, mir keiner blieb Und Nahrung fehlte. Mühſam macht ich mich An's Pfeileſchnitzen. Doch dad Dunkel ſank, Und Wild und Vogel ſchlief im ſichern Horſt. Erinnerſt du dich ganz?

Sudabe Ja.

Oſchemſchid Hungersmatt

Grete Auer: Oſchemſchid. 121

Sinkft du in's Gras, als jäh ein leifer Laut

Uns beben macht. Wir fpringen auf, wir forfchen. Und fieh! ganz nah in niedrigem Geftrüpp

Ein Lerchenneft, vier, fünf der Jungen drin, Halbflügge fchon und rund und wohlgenährt!

Die Lerchenmutter, aufgefchredt vom Schlaf, Umkreiſt mit wildem Schreien ihre Brut,

Mit fieberfchnellem, ängftlichem Geflatter.

Wir fehn und an mir ſchwanken ſchwanken lang. Dann aber ſprach die hungernde Natur

Ihr furchtbarftes Gebot, ihr: „Du follft töten!” Und wir erlagen. Weißt du noch? Erft jest Empfanden wir des Hungers ganze Yual.

Und endlich greift, zwar zitternd, deine Hand

Ins volle Neft. Wie fchrie die Mutter aufl

Da fagteft du, indes den Pfeil ich rüfte,

Der fie der toten Brut vereinen fol,

Um die ihr fcharfer Sammerlaut noch kreiſt

Du fprachft: „Brich mir das Herz nicht, armes Tier!“ Und Tränen ftanden dir im Aug! Gie fiel. Und wieder fprachft du: „Gäb' es Früchte hier, Um ung zu nähren, traun! fo lebteft du

Und deine Kinder. Uber furchtbar ift,

Daß du nicht weißt, warum ihr fterben mußtet, Noch wem ihr dient, ihr armen Heinen Leben! Denn fterben müßt ihr einmal fchlimmern Tod Vielleicht als diefer. Alles lebt ja doch,

Um einem andern Lebenden zu dienen.”

Sprachſt du nicht fo?

Subabe: a, ich erinnere mich.

Dſchemſchid: Wir gleichen alle dieſen kleinen Lerchen. Wir flattern, zittern, jammern, ſterben hin, Und wiſſen nicht, warum. Doch ſind wir glücklich. Uns gab ein Gott, was denen Er verſagt: Zu fühlen, daß Er ſei und wie Er ſei. Und da wir Ihn denn ahnen, können wir Nicht anders als vertrau'n, Er könne ſelbſt Nicht böſer ſein als wir. Und wenn Er tötet, Und wenn Er quält, ſo dient es einem Zweck, Den Er für gut erkennt. Gut nicht für uns, Für jene beſſern Menſchen, welche einſt Uns folgen. Alſo glaub' ich. Haben wir

Grete Auer: Dſchemſchid.

Ein andres Recht, ald jede Kreatur,

Die wir uns dienftbar machen? Dürfen wir Des Tieres Leben fordern und verbrauchen Indeſſen Keiner forderte von uns?

Wir find die Herr’n nicht diefer Erde; find

Nur Stufen einer Treppe, deren letzte

Der Thron der Gottheit ift! Sei denn zufrieden, Daß wir Das wiffen, was das Tier nicht weiß. Dat Tod und Qual nicht blinde Graufamkeit, Mein, daß fie nügen mas das Tier nicht weißl Daß jedes unfrer Leiden Früchte trägt,

Wenn wir auch Den nicht kennen, der fie pflüct!

Sudabe: Ein ſchwacher Troft für Den, der qualvoll ftirbt.

Dſchemſchid: Ein ſchwacher? Sei's! Allein, wie Dem zu Mut, Der ihn nicht hat wohl dir, daß du's nicht weißt. Gefang'ne, die an ihres Kerkers Stäben Bis zur Erſchöpfung rütteln raubtiergleich, In ſchäumender, ohnmächt'ger Raſerei Des Nichtbegreifens: ſind nur halb ſo elend. Gewiß: Erkenntnis ſchützt uns nicht vor Leid Und mildert's nicht da Leid notwendig iſt. Sie lehrt nur Eines, und ein Herrliches! Sie lehrt uns: Segen ſchöpfen aus dem Leid.

Sudabe:

Wie aber kam dir die Erkenntnis? Wie Die ſchöne Feſtigkeit des Gottvertrauens? Sprach Gott zu dir, daß du ſein Wollen kennſt?

Dſchemſchid: Gott ſpricht nicht, Kind, nur die Erfahrung ſpricht. Der Strom, der Jahr um Jahr von jener Stadt, Wo ich einſt König war, ſein Opfer holte, Der niederriß, was Menſchenhand gebaut, Und Fleiß und Kunſt und Kraft zunichte machte Noch zög er mordend ſeine wilde Bahn, Hätt' mir der Jammerlaut der Schwerbetroff'nen Nicht ſchlummerraubend nachts im Ohr gegellt. An meinem Pfühl, von dem der Schlaf entfloh'n, Stand bleiche Angſt und ſprach: „Es trifft auch dich!“ Stand Mitleid, mahnend: „Du, der Macht hat, hilf!”

Grete Auer: Oſchemſchid. 123

Stand das Gemwiffen warnend: „Rechenfchaft Gibft du, der König, einft vor deinem Gott Für Gut und Leben, das Er dir vertraut!” Dann fprachen andre Stimmen die man fonft Mit Recht verachtet: Die Berechnung ſprach, Ehrgeiz und Habgier. Schalt ich fie gemein, So haben ſie's mit guter Tat vergolten: Sie fürderten das große Segenswerf Und trugen wunderbar! diefelbe Frucht, Wie fonft der heilge Baum der Menfchenliebe. Nun denn! Ich ging and Werk, ich zwang den Strom, Und meiner Sklaven freufter, emfigfter, Ward der Verheerer!

Menſchen fagten zwar: Ein Dämon war der Strom, den ich befiegte. Nun wohl! ein Dämon ſei's! Was wiffen wir? Dämonen find vielleicht fo Strom ald Flamme, Luft, Blig und Nacht, ein Dämon ift vielleicht, Ein fürchterlicher, diefe gelbe Wüfte, Die ung verfchlang: Dämonen, die ihr Spiel Zahrhundertlang mit ſchwachen Menfchen treiben, Und Gott fieht zu und weiß: 's ift gut für ung! Denn treiben fie’3 zu bunt, entfpringt ein Funke Dem hartgefchlagnen Kiefel. Zündet der Auch nicht, der nächfte tut’3, der dritte zehnte. Das ift die ſchmerzgebor'ne Kraft des Geiftes, Die in uns fehläft, von der wir fonft nichts ahnten, So wenig wie der Stein von feinem Funten. Laß uns den Schlag denn fegnen, quält er auch, Der das verborgne Feuer in und wedt.

Sudabe (ein wenig bitter):

Dein Wort fällt hin: wenn das (in die Wüfte binausdeutend):

ein Dämon ift, So ift’8 ein unbezwinglicher; ein folcher, Der niemals dienen wird und der nichts lehrt. Und folcher gibt's noch viele.

Dſchemſchid:

Der nichts lehrt? Lehrt er in Wahrheit nichts? Ich weiß doch nicht Und dient nicht? Wäre alſo Zweck für ſich? Gibt es ein Ding, des Daſein Selbſtzweck iſt?

124

Grete Auer: Dfchemfchid.

Ich kann's nicht glauben, weiß ich auch noch nicht,

Was diefe todesftarre Einfamteit,

Vom Menfchengeift befruchtet, zu gebären

Beftimmt if. Immerhin! Da fie befteht,

Hat fie ein Recht vielleicht die Pflicht! zu morben:

Bernichtung auch ift manchmal Förderung! (8 faut in Sinnen.)

Scidfale gibt's, die keinen Rampf geftatten.

Wir find die Einz’gen nicht, o Subabe,

Die in der Wüfte fterben. Menfchen gibt's,

Die ſchmachten Hin im Kreife ihrer Brüder,

Im Leben, in des Wohlftands gold’nem Schoße;

Sie fhmachten, fie verdurften wie wir bier!

Und fo wie wir bier, wenden fie den Geift

Bon ird’fcher Hilfe, die fie nicht erreicht,

Zu einem Troftesquell, der nie verfiegt.

Und fo wie wir bier tauchen fie hinab,

Hinab in des Gedankens fühle Flut,

Und finden Ruhe: denn zu allertiefft

Auf jenes heil'gen Brunnens lauterm Grunde,

Da liegt ein ſchönes, friedevolles Land,

Wo wahr die Wahrheit ift, die Liebe liebt,

Wo tugendhaft das Glüd, die Tugend glücklich.

Wir wandeln ftill und ftaunend und begegnen

Viel bleichen, fanften Menfchen: Allen, die

Wie wir des Wunderlandes Pforten fanden, Als fie in Wüften irrten. Denn das Land Hat keine Pforte, die zum Leben führt. Mein Lieb du lächelt?

Sudabe: Süß ſind deine Märchen, Und ſüß wär's ſie zu glauben. Könnt' ich's ganz! Ach, aber Jene, die das ſtille Land Des Denkens fanden, ſie auch ſind nicht glücklich, Eh fie von feiner Brunnen Lebensflut Nicht einen randgefüllten Segensbecher Der Menfchheit fpenden durften. Alfo nur Erfülle ſich ihr Geſchick: fo dienen fiel (mit ganz andrer Stimme, ſehr ſchmerzlich; indem fie ſich balb aufrichten: Zurück zur Wirklichkeit! O lieber Freund, Was fpenden wir nın? Wofür leiden wir? Kein Sohn wird Erbe diefer bleichen Weisheit, Die deine Lippe kündet. Unſre Qual Dient nicht dem niedrigften der Gottgefchöpfe, Wenn du den Schafal dort nicht rechnen willft, Der fi von unfrem Fleifche Sätt’gung hofft!

Grete Auer: Dſchemſchid. 125

Oſchemſchid (fehr einfach): Was wiſſen wir? Wir ſehn das Künft'ge nicht. Wir können nur vertraun. Gefall'ne Blätter, Verweſend nähren ſie den Mutterſtamm. Wenn ſo das Kleine, das Geringe dient, Soll unſer Sterben nutzlos ſinnlos ſein?

Sudabe: Nutzlos vielleicht. Nicht finnlos: Strafe, Strafe! Oſchemſchid Geliebtel Sudabe:

Ah! Du ſagſt: Gott ſtrafe nicht —?

Nennſt du's nicht Strafe, nenn’ es Folge, nenn’ Es böfe Frucht, aus böfer Saat entfproffen Doch glaub: wir büßen eined Vaters Tränen, Sein freudelofes Alter, feine Schmach Mit diefem Tod!

Dſchemſchid

(erziternd, aber ſanfth:

Bereuſt du, Sudabe?

Sudabe:

Bereuen? Nein. And litt' ich tauſendfach, Was ich ſchon leidel Ständ' ich einmal noch Auf meines königlichen Haufes Schwelle In freier Wahl des eigenen Gefchids: Dir folgt ich wieder, dir, mein holder Flüchtling, In Elend und in Tod. Ich liebe dich. Und wenn dies Strafe ift ich trage fie, Doch ohne Reue! Dſchemſchid (ſehr zärtlich, indem er fie kußth: D du kindiſch Weib!

Und du höchft weifes Kind!

Subabe (ihre Arme um feinen Sals): Einmal noch, Jetzt, da ich diefes Elends Tiefen kenne, Wär’ ich noch einmal Fürftin! Wär’ es nur, Um wiederum zu wählen, wie ich wählte!

(Ste biiden fi einen Moment in feliger Verzüdung tn die Augen, Dann, fehr fein, Indem er fih von ihr 1öft):;

126

Grete Auer: Dſchemſchid.

Oſchemſchid: So hätt' die „Strafe“ ihren Zweck verfehlt? Und dieſes blaſſe Stückchen Menſchheit hätte Zweimal vereitelt eines Schöpfers Willen, Erft das Verbot die Strafe dann mißachtend?

Subabe: Wie meinft du?

Dſchemſchid: Ich? Mein Lieb, ich meine nicht. Dein Meinen iſt's, das ich zu deuten ſuche.

Sudabe (verwirrt) :

Dſchemſchid (fer ernſth:

| Geh nicht von dannen, Sudabe, Mit diefem Wahn, der dich und Ihn erniedrigt. D fieh, wie machſt du deinen Gott fo Klein! ft Er ein Stümper, der fein Bildnis erft Untauglic formt, dann feiner Schwäche zürnt, Und Beff’rung hofft von Zorn und Zücht’gung? Nein! Er ift der Meifter, der uns liebevoll Und zwedbewußt erfchuf und fo verwendet, Daß alles das auch, was wir Sünde nennen! Sich ald notwend’ger Kitt nur wieder in Den Götterbau der Weltvollendung fügt. Nennſt du Ihn fo, fo kennt er Strafe nicht, Noch Rache, traun! da nichts dem hohen Willen, Dem lentenden, Ihm nichts entgegenftrebt. Wenn Gott die Sünde haßte wäre fie?

Allein

Subabe: Iſt Gott denn nicht gerecht?

Dſchemſchid: So ſehr, ſo ſehr, Daß er nicht uns beſtraft für ſeine Tat. Sudabe:

Und iſt die irdiſche Gerechtigkeit Nicht feines Weſens Spiegel?

Grete Auer: Dſchemſchid. 127

Dſchemſchid:

Weib! Bei Gott! Wer fie ald Strafe übt, verftand fie nie!

Sudabe: Wie denn? Wie denn?

Dſchemſchid: Mein Kind, ſtraft denn der Arzt,

Wenn er ein eiterndes Geſchwür entfernt? Gott gab auch das und weiß fürwahr warum. Des Arztes Pflicht ift: heilen weiter nichts. Und wenn das Gift, mit dem er fämpft, ihm nicht Geheimniffe des ganzen Seins enthüllt, Des Körpers Wefen und Bedürfnis, nicht Den Weg zum Heil fo war’3 ein fchlechter Arzt.

Subdabe: Was ift dann Sünde? Dſchemſchid: Förderung! Subdabe: Und was Iſt Unglüd? Dſchemſchid:

Förderung! Zu gleichem Ziele. Doch gab fein Gott ung frei des Werkzeugs Wahl!

Subabe:

Dann wehe denen, die durch Sünde dienen! Sie tun das fohwerfte Wert!

Dſchemſchid: Ja wehe ihnen,

Wenn’s einzelne nur wären! Gott iſt gut:

Er bat die fchlimme Arbeit wohl verteilt.

Ein Jeder fündigt, und ein Jeder leidet.

Vielleicht wer weiß? find Leid und Sünde Eins: Dann fhäge fich fein Sterblicher enterbt,

Dann fihäge keiner fich beglüdt vor andern!

128

Grete Auer: Dſchemſchid.

Sudabe

(nach einigem Sinnen): Dſchemſchid! Ich glaub’ an dich und deinen Gott, Den, der dich fhuf: Er kann nicht Heiner fein, Als fein Gefchöpf. So kenn’ ih Ihn in dir. Und dafür dank’ ich dir in diefer Stunde, Die ohne diefen Glauben furchtbar wäre; In diefer Stunde denn fie ift nun da, Die Stunde (Bte Stimme verfagt ihr.)

Dſchemſchid: Sudabe! Du leideſt bebſt Erblaſſeſt! Großer Gott! Iſt das der Tod?

Sudabe (matt, aber mit ftolgem Lächeln): Und wenn er’3 wäre?

Dſchemſchid (richtet fie ein wenig in feinen Armen auf; feierlich): Grüß ihn denn als Freund! Ja fieh! er naht. Du zitterft?

GSubabe: Nicht aus Furcht. Sprich mir von ihm! Er ift —?

Dſchemſchid: Ein Bote Gottes!

Sudabe: Und welche Botſchaft bringt er?

Dſchemſchid: Wär's nur die,

Daß unſer Tagewerk allhier vollbracht, Daß wir dem Leben jeden Dienſt geleiſtet, Der in uns lag, daß unſer Zweck erfüllt, Daß wir zur Ruhe gehen dürfen das, Das nur allein, mir ſchien es holde Botſchaft Und wert, den Herold freudig zu begrüßen.

Sudabe (ehr leiſe): Doch haben wir gedient?

Grete Auer: Oſchemſchid. 129 nn nn

Dſchemſchid:

Gewiß, gewiß! Denn uns erſchuf, der niemals fehlgegriffen.

Sudabe:

Und jener weiße Bote kündet er Ein Andres noch? Sprich ſchnell! er iſt ganz nah.

Dſchemſchid: Ja, und ein Großes: Die Vergänglichkeit. Vergänglichkeit iſt Wechſel, Wechſel iſt Erneuerung, Erneuerung iſt Leben. Und jene dunkle Wandlung, Tod genannt, Der Menſchheit ew'ge Selbſtverjüngung iſt's.

Sudabe: Allein von uns bleibt nichts, bleibt nichts zurück?

ODſchemſchid: Ein jedes Wort, jedweder Schritt und Blick, Die kleinſte Tat, der flüchtigſte Gedanke, Sie bleiben, leben, wirken. Körnchen Sands, Erdſtäubchen nur vergleichbar unſichtbar Allein vom Wind getrieben und geſammelt Zu ſtiller Nährkraft

Liebfte! folgft du noch?

Sudabe:

Ja, o du Tröſtender, Verſtehender,

Verklärender! And ſei mein letzter Hauch

Ein Dankwort, wie das erſte weißt du noch? Das du zu mir geſprochen. Einen Trank,

Der meiner Seele tiefſten Durſt geſtillt Genug! Vorbei! Mein Meiſter, lebe wohl! Sehn wir uns wieder?

Dſchemſchid (fe): ga!

Sudabe (fintenbd): . Der Becher Leben!!

(Ste ſtirbt.) Sübdeutfhe Monatöhefte. II, 8. 9

Grete Auer: Dſchemſchid.

Dſchemſchid

(nachdem er ſie gebettet): D du Dahingegang’ne, deren Lächeln So fanft des Scheidens Bitterkeit verzeiht, Vernimmſt du mich nun noch, fo hör’, o höre: Wenn du nun da erwacht, wo Wiſſen thront, Und wenn du fiehft, daß wir nur Schatten fennen, Nachtvögeln gleich, die nie die Sonne fah’n;

Und wenn du fiebft, daß ung die Sehnſucht treibt,

Die übermächt'ge Sehnfucht nach dem Licht, Auf jede Flamme blindlings ung zu ffürzen, Erbellte fie auch nur befchränften Raum, Und wär auch Helle und Verderben eind Wenn du das fiehft, o dann verftehft du auch Und wirft verzeih’n, wenn alles Irrtum war, Was dich und mich hienieden fo beglüdt. Wahrheit die kennt allein der lichte Gott! Uns aber fei vergönnt, daß unfer Irren Ein folches fei, daß jegliches Gefchid, Was es auch fei, und daß der Tod dereinft Auf unferm Angefiht ein Lächeln fände, Wie deines, Sudabe, in diefer Stunde. Berfteben können wir das Leben nicht, Nur ihm vertrauen, nur zum Guten deuten Sein tiefites Rätfel.

Wohl ung! wir vertrauten! Ob wir umfonft vertraut —?

Bald weiß ich’8 auch.

Bollende, Wüfte, denn! Vollende!

(Er ruht neben Subabe, fttl den Tod erwartend. Der Mondfchein iſt in ein gelbes Morgenlicht übergegangen. In ber Gerne ftelgt eine intenfiv gelbe Wolte auf, einen Sandfturm anbeutend.)

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Totentanz.

Bon Paul Ilg in Salenſtein (Schweiz). Wie kam ich in den Saal hinein? E83 tanzen hundert Paare.

Ich wollte doch alleine fein —?

Mein Schag liegt auf der Bahre.

Paul Ilg: Totentanz. 131

D Lichterglanz und Geigenflang!

Es war fo kalt im Freien,

Ich ging und ging wer weiß wie lang Dann fing’8 wohl an zu ſchneien.

Und jegt der Taumel um mich ber, Das luſtdurchdrungne Schweben,

Die Luft von Wohlgerüchen fhwer . .. . So liebte ſie das Leben.

Was ſtehn nun alle wie gebannt? Man ſtarrt mich an mit Schweigen. Habt ihr denn meine Braut gekannt, Als ſie noch kam zum Reigen,

Die Blaſſe, mit dem roten Haar, In hellgewirkter Seide,

So jung, ſo ſchön, ſo unnahbar Und ſchlank wie eine Weide?

Die Seele voller Aeberſchwang

Und dennoch keuſch verſchloſſen —? Seht, all dies hab ich mondelang

Als wie im Raufch genoffen.

Was fteht ihr noch? Die Muſik fchweigt, Der Saal wird hell und heller

D Mädchen tanzt, o Geiger geigt,

Das Herz fchlägt fehnell und fehneller

Tanzt, fingt und küßt euch, was ihr könnt, Faßt's Liebehen um die Hüfte

Es kommt ein Gott, der’s euch nicht gönnt, Und ſenkt's in fühle Grüfte.

Wie wird mir doh? Mir wanft die Wand, Es klingen ſel'ge Weifen

Mein Liebehen ruft vom Totenland,

Lebt wohl, ih muß verreifen.

Die hüpfenden Schuhe. Bon Emil Ermatinger in Winterthur.

Die runden Wölklein, die wie zarte Engeldgefichter über die dunkeln Baumfronen des Waldes gudten, erglühten fanft vom legten AUbendrot, als Horand immer noch am Ufer faß und unermüdlich die Schnüre des Neges zufammenfnüpfte. Seine Finger bluteten von dem rauhen Geflecht; die Glieder waren fteif von dem ftundenlangen Sigen, und ihn hungerte fehr; denn er hatte den ganzen Tag nichts gegeflen. Dazu tönte das Rauſchen des Rheins fo lockend und geheimnisvoll an fein Ohr und flüfterte ihm zu: Komm zu mir! Komm zu mir! Uber unabläffig bewegte der Rnabe feine verframpften Finger, fnüpfte Faden zu Faden, und Mafche an Mafche entquoll feinen Händen. Die harten Worte, mit denen der Stiefvater am Morgen früh ihm das Mes zu beenden geboten, tünten lauter in ihm als das Singen der Wellen, und die Schläge, die ihn erwarteten, wenn er faumfelig war, brannten fchlimmer ald Wunden und Müdigkeit. Die Nacht fchlih aus dem Walde heran; er achtete es nicht.

Endlich war die legte Ede verknüpft. Seufzend erhob er fich, kroch zum Rheine und legte fich platt auf das flache Ufer, und indem er die aufgeriffenen Hände tief in die fühlende Flut ſtreckte, neigte er fein Ohr dicht an das Waffer nieder und laufchte eine gute Weile dem leifen Flüftern. Manchmal hüpfte ein Wellchen etwas höher und ftrich ihm mit Fühler Lieblofung über Wange und Ohr; dann durchriefelte ein wonniges Er- fhauern feinen ſchmalen Leib, und weit öffnete er die blauen QUugen, um die Waflerfrau zu fchauen, die ihn geftreichelt. Uber e8 war zu dunfel; er fonnte fie nicht fehen.

Langfam richtete er fich auf, lud das ſchwere Neg auf feine ſchmäch - tigen Schultern und wandte fich der Fifcherhütte zu. Als er gegen den Hof ſchritt, fah er plöglich eine feltfame Helle auf der Wiefe am Walde, wo er früher, als fein Vater noch lebte, manchen Sommertag die fehönen Sternblumen gepflüdt hatte. Er legte das Ne im Schopf nieder und ging dem Scheine nach. Als er näher fam, gewahrte er, daß die Wiefe wie ein einziges Licht ftrahlte, und auf dem glänzenden Plane fchwebten zahllofe ſchimmernde Kindergeftalten in anmutigem Reigen dahin. Das hatte er noch nie gefehen.

Emil Ermatinger: Die hüpfenden Schuhe. 133

Wie er fo ftaunte, da ftand auf einmal, umfloffen von einer fehim- mernden Lichthülle, eine wunderfchöne Frau vor ihm, ald wäre fie aus dem Boden geftiegen. Angſt erfaßte ihn, und ſchon hob er den Fuß, fich zu flüchten, als die Geftalt ihn mit gütigem Klang der Stimme einlud, beran- zutreten und im Reigen der Engelöfinder mitzufpielen. Ihm war, als um- ftridte ihn die holde Rede wie eine feine und ftarfe Kette, und ziehe ihn vorwärts, und indem er zugleich fühlte, wie von feinem zerfchlagenen Leibe die Müdigkeit gleich einem läftigen Mantel niederglitt, trat er eilends zu der fchimmernden Frau. Ohne Scheu blickte er ihr nun ind Antlig und fab, daß es fo über alle Maßen lieblich und rein war, daß er fich nicht erinnerte, je ein ſchöneres Geficht gefehen zu haben. „Romm nur!“ fagte fie lächelnd, faßte ihn bei der Hand und führte ihn zu der Wiefe. Dort winkte fie einem der fchwebenden Engelskinder, raunte ihm flüchtig etwas ins Ohr, und ehe der Knabe fich von feinem Staunen gefaßt, war fie ent- fhwunden. Das Kind aber eilte zu einem Häuflein blinfender Silberfchube, das zierlich aufgetürmt am Rande der Wiefe lag, wählte ein Paar, neigte fih vor Horand nieder und befeftigte fie mit leichtem Griff an feinen bloßen Füßen. Dann nahm es den Knaben bei der Hand, und indem die Schuhe ihn wie Flügel über dem Boden dahintrugen, entführte es ihn in bie Scharen der reigenden Rinder.

Eine unnennbare Wonne lebte in Horand, als er fo leicht in dem fröhlichen Tanz mitfchwebte und alle die Engel ihm freundlich zunickten und vor Freude in ihre weißen Händchen patfchten. Er fchwang feine Füße fo eifrig, daß feine Begleiterin ihm kaum zu folgen vermochte, und einmal, ald er wie ein Wirbelwind fie fchwebend umtreifte, da hob fie mahnend den Finger und rief ihn mit einem feinen Stimmlein an ihre Seite zurüd. „Gib acht,” fagte fie, „daß du vor allzugroßer Wonne nicht dein Glüd verfcherzeft! Denn wenn es gefchähe, daß du im Taumel deinen Fuß an einen der Steine ftießeft, welche die Menfchen da und dort in das Gras geworfen, dann müßteft du diefen glücfeligen Ort auf immer verlaffen und dürfteft nie mehr zu uns zurückkommen. So hat e3 unfere liebe Frau über dich verhängt, weil du ein Menfch biſt.“ „Bift du denn feiner?“ fragte Horand erftaunt. „Bewahre!“ ermwiderte dad Kind. „Wir alle, die du bier fiehft, find Seelen, die noch nicht geboren, oder die nach mühfeligem Leben geftorben find.” „So bin ich bier auf der Seelenwieſe?“ fragte der Knabe; denn er erinnerte fih, daß ihm fein Vater einmal davon erzählt hatte, als er noch lebte. „Aber wie komm’ ich denn nun hieher?“ „Weißt du,” lächelte feine Begleiterin, „dir bat unfere liebe Frau es als ein befonderes Glüd gewährt, daß du jede Nacht fortan mit und tanzen darfft, weil du am Tage fo übergroßes Leid zu tragen haft.“ „So darf ich morgen wiederkommen?“ forjchte Horand, und fein Herz zitterte vor Wonne. „So oft du willſt!“ gab das Mädchen zurüd und legte dabei mahnend den Finger an fein Stumpfnäschen: „Nur hüte deine fchnellen Füße vor den Steinen!“

Alſo redeten und fcherzten die beiden Kinder miteinander und fchwebten derweile in dem Meigen der Tanzenden auf und ab, die ganze Nacht hindurch.

As aber das bleiche Frühlicht zwifchen dem krauſen ichengeäft

134 Emil Ermatinger: Die hüpfenden Schuhe.

bindurchzufchimmern begann, da fchaute das Mädchen Horand mit einem tiefen Blick aus feinen dunfeln Augen an, und indem es feine Hand fanft drückte, fagte e8: „Nun müffen wir für heute fcheiden. Lebwohl! Sieh, wir find ja die legten auf der Wiefel Uber morgen abend, nicht wahr, da fommft du wieder!“ Horand wollte den Gruß erwidern; doch fie war ſchon von feiner Seite weggeglitten, und als er fich umfchaute, da ftand er allein auf der Wiefe, und auf den blaffen KRelchen der Walblilien wiegten fich die erften Sonnenftrahlen. Da fprang er eilends über Gras und Blumen und den Abhang hinunter und ftahl fich ins Haus. Ihm war fo frifch und leicht zu Sinn wie noch nie, und faft fröhlich fah er den rauhen Worten des Stiefvaterd und der harten Arbeit am Ufer entgegen.

Von nun an eilte Horand jeden Abend, wenn die Nacht aus dem Wald gefommen war und niemand mehr wachte, nach der Geelenwiefe, ſchlüpfte in die filbernen Schuhe und vergaß beim fröhlichen Reigen den bittern Harm bes Tages. Da gefchah es eines Abends, daß Horands Ge- fährtin dem Knaben, ald er an den Rand der Wiefe trat, ftürmifcher als je entgegenflog und mit einer Stimme, darin Glückfeligfeit und Bangen zitterten, ihm ind Ohr flüfterte: „Heut ift der Tag unferer lieben Frau!“ Horand, dem Schultern und Hände von der harten Laft des Tages brannten, achtete ihres Wortes faum; fo fehr verlangte ihn, im Reigen feiner Qual zu vergeflen. Raſch fprang er in die Schuhe, die ihm die Begleiterin reichte, und ſchwebte ftrahlend mit ihr von dannen.

Auf einmal gewahrte er etwas Wunderfames. Im Walde bligte ein Licht auf, das mit feinem ftarfen roten Schein den fchimmernden Plan über- glänzte, und jegt wichen, von der Kraft der Lichtftrahlen zur Seite gefchoben, die Bäume auseinander, und aus der Lüde trat jene himmlifche Frau, die Horand nach der Wiefe geführt hatte. Er erkannte fie gleich wieder, ob fie jegt auch taufendmal fchöner war, als er fie zum erftenmal gefeben. Denn fie trug einen langen Mantel, der in filberfchimmernden Falten auf ihre Füße niederwallte, und auf ihrem Haupte ein goldene Diadem, in dem feltene Edelfteine in allen Farben fpielten. Das fchönfte Kleinod aber lag an ihrer Bruft. Das war ein wunderbarer Rubin, und von ihm ging jenes ftarfe Licht aus, deflen Kraft von ferne fehon ihr Nahen verkündet hatte.

Langfam fchwebte die Erfcheinung heran und glitt über die Wiefe dahin, gütige Blicke rings auf die Engelsgeftalten neigend. Die aber tanzten in funftoollem Reigen um fie herum und priefen in einem anmufigen und freudigen Gefang die liebe Mutter. So nahte fie der Stelle, wo Horand in tiefem Staunen über die hohe Frau wie angewurzelt ftand und faum die Füße im Takte der Muſik bewegte. Freundlich lächelnd trat fie auf ihn zu, berührte feine Schultern mit ihren lilienweißen Fingern, neigte fich nieder und füßte ihn auf die Stirne, indes der Schein aus dem Rubin auf ihrem Buſen fein gefchloffenes Auge blendete. Dann fchiwebte fie weiter.

Den Rnaben aber, ald er den Ruß der himmlifchen Frau auf feiner Stirne fpürte, durchfchauerte eine namenlojfe Glückſeligkeit. Am Tiebiten hätte er die Arme gehoben und wäre hoch über Wald und Wiefe in den Himmel entfchwebt. In jubelndem Uebermut fehwang er feine Füße, daß die Silberfchuhe nur fo flogen, und feine helle Stimme durchdrang den Chor

Emil Ermatinger: Die hüpfenden Schuhe. 135

der GSingenden. Geine langfamere Begleiterin hatte er vergeffen. Uber auf einmal o weh! Da fühlte er, wie fein rechter Fuß an etwas Hartes ftieß, daß es einen ſchrillen und feltfam fchneidenden Klang gab, und zugleich merfte er, wie die ſchwere Laft feines jungen Lebens fich an feine Schultern und Glieder hängte, fo daß er vor Müdigkeit feinen Fuß mehr zu rühren vermochte. Und jegt durchzucte ihn die Erkenntnis, was gefchehen, und bitterlich weinend fanf er ind Gras nieder. Mit entfchwindenden Sinnen gewahrte er noch, wie die Himmelskönigin die Schuhe, die feinen Füßen entglitten waren, ihm in die Arme legte; er glaubte ihre Stimme zu ver- nehmen, wie fie in gütigen Worten zu ihm fprach, ohne daß er den Sinn ihrer Rede faßte. Dann entfchwebte fie, umkreift von den Engelsfindern und umtönt von ihrem klagenden Gefang, hoch und immer höher in den Himmel, und der Glanz der Wiefe erlofch.

Die Kühle des anbrechenden Tages wedte den Knaben aus feinem tiefen Schlafe. Wie Dlei lag es in feinen Gliedern, und mühſelig richtete er fih auf. Da fiel fein Bli auf die filbernen Schuhe, die immer noch in feinen Armen lagen. Haſtig nahm er fie, preßte fie an fich und bededfte fie mit zitternden Küffen. Dann mußte er wieder an fein Unglück denken, und indem er den rätjelhaften Worten der lieben Frau nachfann, fah er wie durch einen Schleier fein Leben vor fich, und die Ahnung dämmerte in ihm, daß in den Schuhen eine geheimnisvolle Kraft fchlummerte, die dag höchſte Glück feines armen Lebens fein würde, daß ihr Befis ihn aber auch auf ewige Zeiten von den andern Menfchen trennen und ihm dadurch viel Not bringen werde. Er befchloß, das teure Gut als ein unantaftbares Geheimnis zu bewahren und niemandem ein Wort von feiner Herkunft zu fagen, und erhob fih. Uber jeltfam! Die Gegend, in der er fand, war ihm fremd, und er wußte doch, daß die Wiefe kaum zwei Bogenfchüffe weit von der Fijcherhütte gelegen hatte. Er befann fich, ob er die Schuhe anziehen folle, aber wie er fie anfchaute und die Sonne fich in ihrer glatten Wölbung fpiegeln ſah, da brachte er es nicht über fich, fie durch die Berührung mit dem rauhen und ftaubigen Boden zu befchmugen, und er nahm fie in den Arm. Dann machte er ſich auf, den Rhein zu fuchen,; aber je weiter er ging, defto weniger kannte er Weg und Gteg.

Unverdroffen wanderte er den ganzen Morgen. Seinen Hunger ftillte er mit den Beeren des Waldes und trank dazu aus den fühlen Quellen, die unter den fchattigen Büfchen fprudelten. Gegen Mittag fam er an ein hohes Kornfeld, und auf einem fchmalen Pfade, über den fich die vollen Aehren von beiden Seiten neigten, fchritt er dahin. Der Boden war mit groben Kiefeln dicht befät, welche die Bauern aus ihren Aedern hierher geworfen hatten, und die Füße brannten ihn, fo daß er faum mehr vor- wärts vermochte. Und unaufhörlich ftreckte fich der Weg durch die unab- fehbaren Felder. Aechzend ſank er auf einen Stein nieder und zog Die mwunden Füße an fih. Ein paar Aehrenkörner, die er ausgerauft, frifchten feine Kräfte ein wenig, und in feiner Not befchloß er, die filbernen Schuhe ungeachtet des Staubes an feine Füße zu legen, daß ihm die mühfame Wanderung leichter würde. Aber o Wunder! Raum faßen die Schuhe an feinen Füßen, fo begannen fie auf ungebärdige Weife zu hüpfen und zu

136 Emil Ermatinger: Die hüpfenden Schuhe.

zappeln, daß er fußhohe Sprünge machen mußte. Das wäre Horand nun fhon recht gemwefen, wenn ihm die Schuhe nur auch die Leichtigkeit und Friſche wiedergegeben hätten, die ihn beim Reigen auf der Engelwieje feine Schwere hatten vergeflen laffen. Aber o weh! est fühlte er, je höher er hüpfen mußte, feine Müdigkeit nur umfo qualvoller, und bei jedem Sprung fuhr ein ftechender Schmerz durch feine Bruft, fo daß er laut aufftöhnte. Wenn ihn die hüpfende Lebendigkeit an feinen Füßen nicht töten follte, fo blieb ihm nichts anderes übrig, ald die Schuhe wieder auszuziehen und barfuß weiter zu wandern.

As die Sonne ſich zum Untergange neigte, erblidte er von ferne die Türme einer großen Stadt, und wie er auf dem legten Hügel ftand, ſah er die grünen Fluten des Rheins wieder zu feinen Füßen. Der Anblid gab feinem Herzen neuen Mut, und zuverfichklicher fchritt er aus. Als er fih dem Tore näherte, ftedte er feine Schuhe in das Wang, denn er fürchtete, die Torwächter möchten ihn darnach fragen. Unter dem Tore drängte fich viel fahrendes Volt, und niemand kümmerte fi) um den fremden Knaben, der fich der Mauer entlang drüdte. Er fah fi nun nach Arbeit um, und als er in der erften Gaffe, durch die er fchritt, hinter dem niedern Bogenfenfter einen Schneider und feinen Gefellen mit gefreuzten Beinen auf dem Tifche figen und emfig nähen ſah, da dünkte ihn der Anblick über die Maßen luftig und merkwürdig, fo daß er augenblicks befchloß, hier nach Arbeit zu fragen. Der Meifter fchob die große Hornbrille langfam bis auf die Spige feiner dünnen Nafe herunter und mufterte Horand, als er eingetreten war und bejcheiden fein Anliegen vorbrachte, über die runden Gläfer hinweg mit einem ernfthaften und langen Blicke. Das freie Geficht des Rnaben fchien ihm nicht zu mißfallen; denn nach einer Weile nidte er bedächtig, und indem er fich mit den dürren Fingern einige Male über das Bärtchen ftrich, das mit ein paar dünnen Härchen an feinem fpigen Kinn Hlebte, gebot er Horand, ſich auf der Brüge niederzufegen, zeigte ihm, wie man die Beine bequem und funffgerecht zufammenlege, gab ihm ein Stück billige8 Tuch nebft Nadel und Zwirn und hieß ihn nähen. Nun hätte zwar der müde Knabe lieber ein tüchtiges Abendbrot und ein gutes Bett gehabt, als Nähzeug und Arbeit auf dem harten Brett; aber er fügte fich, Hletterte fo gut es ging hinauf, krümmte die fehmerzenden Beine zufammen und begann zu nähen; denn er dachte, er müſſe Bett und Eſſen erft ver- dienen.

Der Meifter fchien mit ihm zufrieden zu fein; nach einer Weile ftedte er feine Arbeit zufammen, gebot dem Gefellen und Horand ein Gleiches zu tun, ftieg hinab und ging mit ihnen in die Rammer, wo die Meifterin das Eſſen aufgetragen hatte. Dort hieß er den Knaben zugreifen, und der langte fo herzhaft in die Schüffel, daß der Gefelle, der feine breiten Ell— bogen weit in den Tifch hineingefchoben hatte, mit fcheelen Blicken Horands gefhwinden Löffel verfolgte, denn er war gewohnt alles aufzueflen, was der Meifter und die Meifterin übrig ließen. In dem dumpfen Gelaß hinter der Werkftatt, in dem der Gefell fchlief, war in einem Winkel aus Stroh und rauben Lalen ein Lager bereitet. Darauf warf er fih, faum daß er den Mund gewifcht, ohne fich auszuziehen, und todmüde, wie er war, fehlief

Emil Ermatinger: Die hüpfenden Schuhe. 137

er fofort ein. Er mochte faum eine Stunde gefchlafen haben, fo wachte er an einem feltfamen Klopfen an feinem Bufen wieder auf. Erfchroden taftete er nach der Stelle: da fühlte er, wie die filbernen Schuhe unter feinem Wams fich in regelmäßigem Takt bewegten. Er drückte fie feft an fich, um fie zur Ruhe zu zwingen; umfonft, feine Hände mußten mitfamt den Schuhen tanzen. Voll Verzweiflung nahm er fie endlich aus feinem Wams und fteckte fie and Fußende des Lagers. Er laufchte noch eine Weile mit klopfendem Herzen; dann fielen ihm die Augen zu.

Am nächften Morgen, ald das erfte bleiche Licht durch das trübe Bugenfenfter hoch in der Wand bereinlugte, wachte er auf. Es war ihm, die regelmäßige Bewegung zu feinen Füßen, an der er eingefchlafen war, babe plöglich aufgehört. Haftig griff er nach den Schuhen: fie lagen ftill und bewegungslos an dem Drt, wo er fie verftedt. Er zog fie an fich und warf einen fcheuen Blick auf den Gefellen. Der lag noch in ſchwerem Schlafe; er hatte fich geftern abend aus Aerger über den Eindringling einen tüchtigen Raufch angetrunfen und fehnarchte mit weit offenem Munde, daß es Fang, als zerfägten zwei Männer einen fnorrigen Eichenftamm. Da ftahl fi Horand lautlos aus dem Bett und eilte ind Freie. In einer Ede des fchmalen Höfleins hinter dem Haufe, da wo ein Holunderftrauch fein dünnes Geäft Häglich an der rauchgefchwärzten Mauer emporredkte, grub er ein tiefes Loch in den Boden und legte die Schuhe hinein. Dann dedte er ein Brettlein darüber, ftreute ein paar Hände Erde darauf und glättete die Stelle wieder. Hierauf fehlüpfte er wieder ind Haus und fchlug die Läden der Werfftatt auf, wie man’s ihm am Abend geboten, und lungerte eine Weile in der Haren Morgenfonne auf der Straße herum, big der Meifter feine weiße Nachtmüge zum Fenfter hinausſtreckte und ihn zur Morgenfuppe rief.

Tag für Tag lebte nun Horand bei den Schneidersleuten, faß mit gefreuzten Beinen auf der Brüge, zerftach fich für das harte Lager und das magere Efjen die Finger und trug ohne Murren die Schimpfiorte und Stöße des groben Gefellen, der den ganzen Tag nur darüber nach— zudenfen fchien, wie er den Knaben quäle. Uber ob er auch oft feine fehn- füchtigen Blicke aus der dumpfen Werkftatt binausfandte und troß den Schlägen und Schelten feines Vaters fein früheres Leben in der freien Natur zurüdwünfchte: in all feinem Leid erfüllte ihn immer wieder der Gedanke an das Gefchenf der lieben Frau mit unnennbarer Glückſeligkeit. Dft fchlich er fich fpät am Abend in das einfame Höflein, feste fich auf feinen Schag und fchaute in das enge Stücklein Himmel, das zwifchen den fteilen Firften eingeflemmt war. Und wie dann über ihm Stern an Stern fein flimmernd Lichtlein anſteckte und unter ihm die hüpfenden Schuhe ein leifes Rlingen hören ließen, da träumte er wohl fanft entfchlummernd, er fei wieder auf der Geelenwiefe und ſchwebe mit den Engeln im feligen Reigen. Doch wagte er nie, die Schuhe hervorzuholen, aus Furcht, man möchte ihn ertappen.

Aber am Erntefonntag konnte er feine Sehnfucht nicht mehr meiftern, und er befchloß, die Schuhe wieder einmal zu betrachten. Am Nachmittag, als mit den andern Bürgern feine Meiftersleute und der Gefelle vorm Tor

138 Emil Ermatinger: Die hüpfenden Schuhe.

fih auf der Schügenmiefe mit Schmaufen, Tanzen und Bogenfchießen ver- gnügten und es ringsum ftille war, da jchlich fich der Knabe in das Höf- lein unter den Holunderftrauh. Lange wagte er es nicht, das Brett zu heben; ein mächtiges Erfchauern durchbebte ihn, fo oft er die Hände aus- ftreddte. Aber am Abend, ald er auf einmal das geheimnisvolle Klopfen unter fich hörte, da kniete er nieder, und nachdem er noch einmal einen fheuen Bli nach allen Seiten geworfen, hob er das Brett.

In ihrer Grube hüpften die Schuhe auf und ab. Mit rafchem Griff faßte er die zappelnden und eilte in fein Schlafgelaf. Dort zündete er den Kienfpan an, der an der Mauer ftaf, feste fich auf fein Lager und fuhr zärtlich ein paarmal mit der Hand über die blinfenden Schuhe hin. Plöglich, er wußte nicht wie, fahen fie an feinen Füßen, und er war auf- geftanden, und indem Lager und Mauern vor feinem Auge verfchwanden, büpfte er mit zierlichen Sprüngen und unter dem lieblichen Klingeln des Metall auf den harten Fliefen auf und ab, ftundenlang in einfamem Reigen. Der Kienfpan an der Mauer fchwelte und erlofch; er achtete es nicht. Ein holderes Licht erhellte den Raum, ein milder, bläulicher Schein, der den Schuhen entftrahlte, und der fein Herz mit unermeßlicher Seligkeit erfüllte, daß er alles um fich her vergaß.

Inzwifchen war der Gefelle nach Haufe gefommen, früher, als er ge- wünfcht; denn er hatte all fein Geld beim Spiel verloren und war aus der Schenke hinausgemorfen worden. Mißmutig fohlurfte er nach der Kammer und dachte eben darüber nach, wie er feinen Aerger an dem Lehrbuben auslaffen wolle, da gewahrte er durch den Spalt der wadeligen Türe den blauen Lichtfchimmer und hörte zugleich das regelmäßige Rlingeln der Schuhe auf den Fliefen. Verwundert und neugierig fehlich er fich nahe heran und drückte fein Geficht an den Türfpalt. Er wollte feinen Augen nicht trauen, ald er drinnen den Tänzer auf- und abhüpfen ſah. Zuerft glaubte er, der Knabe, aus deffen feltfamem Wefen er nie Hug geworden war, fei vollends närrifch geworden. Als er aber die fchimmernden Schuhe an feinen Füßen ſah, da verzog er feine dünnen Lippen zu einem breiten Grinfen; ein böfer Plan ftieg in ihm auf. Der Bettellnabe befaß ja einen Schaß, der den Wert des verfpielten Geldes überreichlich aufwog. Leife 309 er fich in eine dunkle Nifche des winkligen Ganges zurück und wartete bier das Ende des Tanzes ab.

Gegen Mitternacht erinnerte ſich Horand, daß der Gefelle nun bald nah Haufe fommen würde. Mit aller Kraft entledigte er fich der Schuhe, die feft an feinen Füßen hafteten, und trug fie in den Hof hinaus, wo er fie unter dem Holunderbufch wieder forgfältig verfcharrte. Der Gefelle war ihm nachgefchlichen und hatte fich das Verſteck wohl gemerft, und als der Knabe wieder in der Kammer verſchwunden war und fich nichts mehr regte, da ging er zur Grube, beugte fi), den Kopf gierig vorftredfend, darüber und riß das Brett weg. Aber im Mu fuhr er wieder zurüd, und ein grimmiger Fluch entwifchte ihm: die Schuhe nämlich waren, als der hem— mende Deckel über ihnen befeitigt war, hoch aufgehüpft, und der eine hatte dem Gefellen eine fo kräftige Maulfchelle gegeben, daß ihm augenblicklich die Unterlippe aufging wie ein Rüchlein im heißen Fett; und faum brannte ihm

Emil Ermatinger: Die hüpfenden Schuhe. 139

diefer Schmerz im Geficht, fo hatte der andere Schuh einen noch tüchtigeren Sprung getan und dem Räuber einen fo heftigen Streich aufs rechte Auge gemeflen, daß er das Feuer in Holland zu fehen vermeinte. Aechzend fegte fi) der Mißhandelte an die Mauer und preßte den Zipfel feines Sonntagsrodes auf den blutenden Mund. Für etliche Augenblide war ihm die Luft vergangen, die Schuhe zu befisen. Als aber fein Schmerz allmählich verfurrte und er im hellen Schein des VBollmondes, der neugierig über einen Dachfirft in den Hof hinuntergudte, das blanke Gilber der tanzenden Schuhe jo Iodend gleißen ſah, da erwachte in ihm ein blinder Zorn, und er fchalt fi einen Tölpel, daß er nicht klüger zu Werke ge- gangen war. Die Schuhe mußte er haben, koſte ed, was ed wolle. Er fann und fann, und fchließlich meinte er, von Habfucht verblendet, es fomme nur darauf an, daß er gefchieft in die Schuhe hineinzufchlüpfen verftehe wie Horand, der fich ihrer ja auch ohne Schaden bedient hätte. Hatte er fie dann einmal an den Füßen, dann wollte er fchon fehen, daß fie ihm völlig untertan würden. Er 309 alfo feine Stiefel aus, froch rüdlings, vorfichtig den Kopf zurüdhaltend, gegen die Grube und beobachtete die Sprünge der Schuhe. Dann ftredte er geſchwind erft den einen und darauf den andern Fuß über den Rand und verfuchte mit einer gefchieften Bewegung in die Schuhe hineinzufchlüpfen, als fie eben auffpringen wollten. Es gelang ihm über Erwarten gut; die Schuhe fchienen wie von felber fi) an feine Füße gefchmiegt zu haben. Fröhlich fprang er auf.

Aber wie wurde ihm! Gtatt daß er nun mit feinen groben Füßen die Schuhe zur Ruhe zwingen konnte, büpften fie mit ihm mie toll im Hofe auf und ab. Er mußte mannshohe Sprünge machen und wurde von einer Mauer zur andern gefchleudert, daß ihm Hören und Sehen verging. Er warf fi) auf den Boden und verfuchte, die Schuhe wieder auszuziehen; aber fie hafteten an feinen Füßen, ald wären fie angewachfen, und als er fih platt auf den Bauch legte, und fich mit den Händen an dem Stämmchen des Holunderftrauchs fefthielt, hüpften die Schuhe mit feinen Beinen auf und ab, daß ihm die Knie am Boden zerfehunden wurden. Aechzend ftand er wieder auf, und nun begann der tolle Reigen von neuem, ja die Schuhe gebärbdeten fich, erboft ob feinem Widerftand, immer fchlimmer. Da fchrie er um Hilfe. Schauerlich gellten feine langgezogenen Rufe aus dem engen Hofe in den Nachthimmel empor. Uber fie wedten als Echo nur das durchdringende Schreien eines Katers, der auf dem Firft eines Nachbar- baufes dahinftrih. Won der Straße war der Hof durch die hohen Mauern abgefchloffen, und in den Häufern lagen die Bürger, vom reichlichen Wein betäubt und müde vom Feft, in ſchwerem Schlummer. Es war alles um- fonft; er mußte tanzen, unaufhörlich tanzen. Als der erfte Schimmer des Tages in den Hof fiel, da ließ die Kraft der Schuhe allmählich nach. Uber im gleichen Maße ſchwanden auch des Tänzers Kräfte, und wie die Schuhe endlich nach einem legten Zucken bewegungslos dalagen, fiel er tot zu Boden.

Horand war nicht wenig erftaunt, als er beim Aufwachen das Bett des Gefellen leer fand; denn er war gewohnt, daß jener fich erft noch ein paarmal gähnend und puftend redte, wenn er längft die Werkftattläden geöffnet hatte und wiederkam, ihn zum QUufftehen zu mahnen. Uber er

140 Emil Ermatinger: Die hüpfenden Schuhe.

dachte fich nicht8 Schlimmes, und beim Morgenefjen, ald der Meifter nach dem Fehlenden fragte, erklärte er, er müſſe in der Nacht nicht heimgefommen fein. Da fah der Meifter feine Frau mit einem böfen Blicke über die Brille an und fagte, da fehe fie nun, wohin die Güte bei diefem lieder- lichen Menfchen geführt habe. Jetzt aber werde er nicht mehr auf ihre Bitten hören, und der Nachtſchwärmer folle ihm nur gleich ganz aus dem Haufe bleiben. Nach ein paar Stunden, ald die Meifterin in den Hof ging, um dort allerlei Unrat in die Rehrichtgrube zu ſchütten, fand fie den Leichnam des Gefellen. Auf ihr Gefchrei eilten der Schneider und Horand herbei. Wie erfchral der Rabe, als er feine Schuhe an den Füßen des Toten erblidtel Mit einem zitternden Schrei warf er fich darauf und riß fie an fih. Die Meifterin, deren Blicke gleichfalld auf die glänzenden Schuhe gefallen waren, hatte faum das feltfame Benehmen Horands wahr- genommen, als fie heftig außrief: „DO, du bift der Mörder, du bift der Mörder!“ und aljo fchreiend aus dem Hofe und auf die Straße lief, um die Nachbarn zufammenzurufen. Inzwiſchen nahm der Meifter den Knaben ind Verhör. Db die Schuhe ihm gehörten? fragte er. Horand nicdte fumm. Woher er fie babe? Der Knabe gab feine Antwort. Wie fie an des Gejellen Füße gefommen feien, und was denn mit dem Menfchen gefchehen fei, daß er nun tot daliege? Horand fagte, er wiffe es nicht. „Nun, fo will ich dich ſchon fprechen machen!” rief jegt der Meifter, erboft über die offen- fundige Halsftarrigkeit des Lehrbuben, und zerfchlug ihm die Elle, die er noch in der Hand hielt, am Kopf. Als der Knabe auch jest wieder unter heftig fließenden Tränen beteuerte, er wifle nicht, was gefchehen fei, bat der Schneider einen der Nachbarn, den Büttel zu holen, daß der den trogigen Sünder ind Gefängnis führe, die filbernen Schuhe aber wurden ihm, ob er fich auch heftig ſträubte, entriffen.

So ſaß nun Horand im Kerfer und weinte an einem fort. Er wünfchte, daß er damals geftorben wäre, als die Himmelswiefe ihm in die Luft ent- fhwunden war, oder daß die liebe Frau ihm nicht das verhängnisvolle Gefchent mit auf den Weg gegeben hätte. Da hörte er draußen Schlüffel klirren, und nach etlichen Augenblicken drehte fich die eifenbefchlagene Türe fnarrend in den verrofteten Angeln. Ein roter Lichtfchein huſchte über die naßglänzenden Mauern, und der Kerfermeifter trat ein. Mit polternden Worten hieß er den Knaben aufftehen, umfchloß feine zarten Gelenfe mit einer ſchweren Kette und führte ihn durch gewölbte Gänge in einen büftern Saal, wo in ſchwarzen Talaren und breiten Halskrauſen drei Richter um einen dunfelverhängten Tiſch ſaßen. Mit finfterm Geficht fragte einer nach dem andern Horand, ob er den Gefellen getötet habe, was das für Schuhe feien, und woher er fie habe. Auf die erfte Frage erwiderte der Rnabe unter heftigem Weinen, er ſei unfchuldig. Bei den beiden andern aber blieb er ftumm; denn er wußte, er dürfe das Geheimnis der Schuhe feinem Menfchen vertrauen. „Sp müflen wir den Verſtockten auf andere Weife zum Geftändnis bringen,” ſprach nach einer Weile der mittlere der drei Richter mit fchredlicher Stimme und winkte einem groben Mann in einem roten Kittel, der grinfend in einer Ede ftand und fich mit beiden Armen auf ein breites Schwert ftügte. Der Rote nahm den Rnaben mit rauhem

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Griff und führte ihn in eine dunfle Kammer, wo allerlei fjeltfamgeformte und graufige Werkzeuge an den Wänden hingen oder auf dem Boden ftanden.

Hier rief er einem Knechte und gebot ihm, dem Knaben das Wams vom Leibe zu ziehn. Dann ergriff er eine Peitjche, an deren Enden eiferne Stacheln hingen, und fehlug Horand damit den bloßen Rüden, daß das warme Blut in dunkeln Bächlein niederrann. Der Rnabe gab feinen Laut von fich, ob ihm auch von den furchtbaren Qualen die Sinne zu fchwinden drohten. Auf einen Wink des oberften der Richter hielt der Rote nun inne, und jener fprach wieder, ob er jegt die Fragen beantworten wolle. Der Rnabe fehüttelte ftumm den Kopf, und nur ein tiefes Aechzen brach aus feinem Munde. Da befahl der Richter, dem Sünder das Wang wieder anzuziehen und ihn in den Saal zurücdzuführen. Dort eröffnete man ihm, daß er als offenfundiger Mörder und Zauberer des Feuertods fchuldig fei, und daß er am kommenden Sonntag nach der Frühmefje auf dem Kirch: plag verbrannt werden folle. Der Knabe hörte das Llrteil nicht mehr. Bon den Schmerzen übernommen, war er ohnmächtig auf den Eftrich nieder- gefallen. Wie leblo8 wurde er in den Kerker zurüctgetragen.

Zu Beginn der Nacht wachte er auf einmal an einer zauberhaften Muſik wieder auf, die aus unendlicher Ferne berzulommen ſchien. Er fhlug die Augen auf, und fiehel von einem wunderfamen Licht erftrahlten die Wände feines Gefängniffes und wichen immer mehr zurüd, und durch eine weite Deffnung in der Mauer fah er die Himmelskönigin hernieder- ſchweben, umringt von zahllofen Engelskindern, die himmlische Lieder fangen. Hell glänzte von dem Bufen der lieben Frau der rote Stein, und in ihren Händen trug fie die filbernen Schuhe. Die reichte fie dem Knaben mit gütigem Blicke dar. Und wie Horand das Gefchent erfchaute, da fprang er auf, und die Ketten fielen von felber an ihm nieder. In unnennbarer Glückfeligkeit fohlüpfte er in die Schuhe, und indem er die Hand ber lieben Frau ergriff und die Engel ihn fröhlich umkreiſten, entſchwebte er mit ihnen zum ewigen Reigen auf der Seelenwieſe.

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Auf einfamem PBoften.

Bon 3. E. Heer in Ermatingen.

Auf der Altane einer grünen Berglandfchaft ftehen in malerifcher Zerftreuung die braunen und weißen Häufer des Dörfcheng Lenz und fchauen aus Obftbäumen hervor auf einen lichten blauen See und in den Traum des Schneegebirgesd. Die ausfichtsreichfte Stelle im Landfchaftsbilde nimmt das hell erfchimmernde ftattliche Schulhaus ein und von jeher fprachen die vorüberziehenden Wanderer: „Hier ald Lehrer leben zu können, muß eine Idylle voll Glück und Frieden fein!“

Wandersleute irren oft über den Wert der Dinge, die fie am Wege begegnen. Im Dörfchen Lenz herrfchte feit zwanzig Sahren, feit der Zeit, da das hübfche Schulhaus gebaut worden war, ein ſtilles Zerwürfnis der Sippen. Die einen hätten das Haus lieber etwas höher, die andern etwas tiefer, die einen lieber etwas mehr links, die andern etwas mehr rechts in die Landfchaft gebaut gefehen. Niemand ftand es an der wonnefamen Stelle gut. Allmählich aber vergaßen die ftolzen und wohlhabenden Vieh- händlerfamilien des Dorfes die Urfache ihres heimlichen Zwiſtes und führten dem Lehrer, der im Schulhaus amtete, um fo nachdrüdlicher zu Gemüt, wie niedrig fie feine Dienfte erachteten. Deshalb fchüttelte jeder Lehrer, den das Schickſal auf die lichte Bergzinne von Lenz geführt hatte, bald möglich den Staub des Bergdorfes wieder von den Schuhen. Es gehörte zur KRurz- weil der fonft wenig belebten Kleinen Gemeinde, daß ein- oder zweimal im Jahr die Geftalt eines neuen Lehrers auftauchte und mit feiner Erfcheinung, feinem Gehaben und Wefen die KRoften der bäuerlichen WUbendunterhal- fungen frug.

Einmal aber ereignete es fich, daß ein Lehrer bi8 im dritten Jahr im Dörfchen blieb, ohne daß er von den Bauern weggemurrt worden wäre, denn er befaß die Eigenfchaft, ein guter und ausdauernder Karten- fpieler in ihrem Kreis zu fein. Erft als fich der Unvorfichtige einen weißen Pudelhund zulegte, entdedten die Viehhändler, daß ihnen eigentlich auch das Geficht diefes Lehrers langweilig geworden und das Erfcheinen eines neuen wünfchbar ſei. Sie veranftalteten deshalb im Schulhaus eine Ge- meindeverfammlung und legten ihr die Frage vor: „Darf ein Lehrer einen weißen Pudelhund befigen oder nicht?” Die Bürger befchloffen mit großer Einhelligfeit, ihre Väter und fie hätten das Haus gebaut, damit darin wohl der Lehrer, aber nicht zugleich ein Pudel wohne. Der Lehrer aber

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liebte fein Tier und über dem Gemeindebefchluß verließen fie, Pudel und Lehrer, gemeinfam das verftändnislofe Dörfchen. Mit einiger Spannung erwarteten nun die Männer, Frauen und Kinder von Lenz das neue Geficht.

In der Stadt aber, bei den höchſten Behörden des Voltsunterrichteg, mar man wegen bes häufigen Lehrerwechſels fchon lange auf die hochmütige Viehhändlergemeinde ungehalten und um fie für ihren Uebermut zu ftrafen, fandte man ihr den unnügeften der jungen Lehrer zu, jenen Tobias Heider, der, durch feine fchlechten Verſe und feine bodenlofe DVerträumtheit die Kränkung aller ordentlich denkender Lehrer des Seminars in Küoſen ge- wefen war.

Die Behörde erreichte alfo den Doppelzwed: Sie ftrafte die Ge- meinde Lenz für die vom Zaun geriffenen Schulhändel und Tobias Heider für feine in einem wohlgeführten Seminar unftatthaften poetifchen An— wandlungen.

Wie fein Vorgänger im Schulhaus auf hoher Bergaltane war der junge Lehrer ein Tierfreund. Nachdem er das Dörfchen feiner fünftigen Wirkſamkeit betreten hatte, richtete er unter dem Giebel des Schulhaufes einen Taubenſchlag ein und erfreute fich ftillen Gemüted an den zwei Paaren weißer Vögel, die wie leuchtende Ampeln in den Sonnenfrieden der Landſchaft hinausfchwebten, fi ihm traulich nahten und die Körner aus feiner Hand pidten. Die Bauern von Lenz aber fchüttelten die Köpfe und die Tauben des Lehrer waren ihnen ein Aergernis. „Hat der Vorgänger feinen Hund halten dürfen,“ redeten fie zufammen, „fo ift es nichts wie billig, daß wir die Tauben des Machfolgerd aus der Welt ſchaffen.“ Als Tobias Heider die Tiere eben zur Fütterung lodte, fam es piff-paff hinter ven Bäumen hervor, blutend fielen die weißen Vögel vor feine Füße und als der junge Mann die niedergefnallte Freude feines Herzens begrub, traten ihm über die Bosheit der Bauern beinahe die Tränen in die Augen.

Die Viehhändler von Lenz aber fprachen: „Seid vernünftig, Schul- lehrer, nehmt den Scherz nicht übel, fommt lieber ins Wirtshaus, legt wie Euer Vorgänger die Karten um, dann ift ed möglich, daß wir ein paar Jahre miteinander Brot und Galz effen. Sonft! —“ Gie machten eine deutliche Bewegung gegen das Tal. Tobias Heider aber, die finnende Seele, hatte nie Karten fpielen gelernt, fürchtete die Schlauheit der Vieh: händler und 309 fich, verlegt von der rohen Taubenfchießerei, vom Leben des Dörfchens nah Möglichkeit zurüd.

„Die Schule hält er gut und die Kinder haben ihn gern,“ erzählten fi) die Leute, „er ift aber ein unergründlicher nächtlicher Querfopf; wer um Mitternacht aus der Schenke tritt, fieht im Schulhaus immer noch fein einfames Licht brennen. Was er nur treiben und ftudieren mag?“

„Er rechnet aus, wie viel ganze Erdäpfel er brauchte, um damit einen Kranz von Lenz bis wieder nach Lenz um die Welt zu legen,“ lachte die Antwort.

Tobias Heider war aber fein Mathematiker, fondern ein „Dichter“, der in der Heimlichfeit feiner ftillen Rammer und in nächtlichen Stunden

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eines Jahres zwei Novellen wob. Als er fie fchöpferfreudig überblidte, erwachte in ihm der Wunfch fie gedruckt zu fehen und zwar zunächft, die ihm vollfommener erfchien, „DerGeiger im Hard!" Es gab aber im Bergland zwei Zeitungen „Der Volksbote“ und die „Stimme vom Ober- land“, und da fie miteinander wie Hund und Kate lebten, trug er ſchwere Bedenken, welches von beiden Blättern er durch feine dichterifche Erftlings- gabe auszeichnen wolle. Den „Volksboten!“ Jedesmal wenn das DBlätt- chen aus dem Tal nach Lenz emporgeftiegen fam, fchaute er nach feiner Novelle. Er erblidte fie aber erft wieder in der Form des zurückgeſandten Manufkriptd. Dazu fohrieb der Redakteur: „Wofür halten Sie uns? Blauben Sie, unfere Druderfchwärze fei für jeden Rohl gut genug, den ein grüner Schullehrer fchreibt? Uber wenden Gie fih an die „Stimme“. Da diefe Redaktion feinen Papierkorb befist, kann fie Ihre romantifche Erzählung nicht darin begraben.“ Der „Dichter“ folgte dem guten Rat. Die „Stimme“ aber fchrieb Tobias Heider: „Was, ſchon wieder ein unglüd- feliger Dichter mehr im Oberland! Aus Lenz nehmen wir überhaupt nichts als Berichte über den Viehhandel. Mit Ihrer Liebesgefchichte wenden Gie fi) an den „Boten“. Da er feine Schere eben beim Schleifer hat, wird er Ihnen für das Zeug dankbar fein!”

Wer zulegt lacht, lacht am beiten. Das war Tobiad Heider. Der Sommer fam, die Weltgefchichte fchlief ein, den Lofallorrefpondenten ver- trodnete die Tinte oder fie hatten mit der Heuernte zu tun. Da keuchte der dicke Redakteur des „Boten“, der an ſchwerem GStoffmangel litt, aus dem Tal ins Schulhaus von Lenz empor und bat, den „Geiger im Hard“ noch einmal durchfehen zu dürfen. Der Anfang der Novelle ftand aber faum im „Boten“, erfchien der dünne Redakteur der „Stimme“ im Schul- haus und näfelte: „Wie unflug! Durch die Aeberlaſſung der Novelle an den „Boten“ ermweden Sie den für einen Lehrer befonders fchiefen Schein, als feien Sie ein Parteigänger biefes von allen guten Bürgern über die Schultern angefehenen Blattes. Geben Gie und die andere Novelle fonft fonft —.“ Tobias Heider gab fie und erlebte die Wonne, fih, wenn aucd unter einem Pfeudonym, in beiden Blättern zugleich in zahlreichen Fortfegungen gedruckt zu ſehen.

Darüber quollen in feinem Herzen üppige Wünfche und da er neben dem Dichten und Schulbalten Feine größere Leidenfchaft fannte, als durch Gottes freie Bergwelt fpazieren zu gehen, erfchien ihm für die Ferien ein Zufhuß zu feiner fehmalen Befoldung begehrenswert. Er wagte bei den beiden Blättern die Frage nach einem befcheidenen Honorar zu erheben. „Honorar?“ antwortete aber der „Bote“. „Bei dem Anfehen, das unfere Zeitung genießt, redigieren wir fie ohne Honorar, feinere Köpfe als der Ihrige jegen ihre Ehre darein, unentgeltlich bei ung mitarbeiten zu Dürfen. Wir fommen Ihnen aber entgegen, indem wir Ihnen bis auf weiteres unfer dreimal wöchentlich erfcheinendes Blatt ohne Abonnementsbelaftung zugehen laffen.” Die „Stimme“ fchrieb: „Ihre Bitte um Honorar hat ung peinlich überrafcht. Sie ift eines jener betrübenden Zeugniffe, wie fehr dem gegen- wärtigen Lehrerftand die Fähigkeit abhanden gekommen ift, ideal und uneigen- nügig an der Volkswohlfahrt mitzutun. Da aber die Novelle den Frauen

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und Mädchen ziemlich gefällt, bewilligen wir Ihnen bis auf weiteres ein Freieremplar unferes zweimal wöchentlich erfcheinenden Blattes.”

Ungleiche Brüder, doch gleiche Rappen! Tobias Heider dachte etwas wehmütig an das viele fchöne Papier, das er an feine Erftlinge verfchwendet, an die zwar billigen, aber vielen Zigarren, die er über feinem Dichten verqualmt, und an das fteuere Licht, das feine nächtliche Werkftätte er- hellt hatte. Er erkannte, daß die Schriftftellerei für einen Lehrer eine faft zu Eoftfpielige Ertravaganz ſei und bejchloß, das Dichten mäßiger zu be- treiben. Die Blätter aber hielten das Pfeubonym, unter dem er fich verborgen hatte, nicht geheim, die Viehhändler von Lenz lachten: „Nun weiß man, wo unferm Schullehrer der Sparten im Kopfe ftedt. Ganze Erdäpfel zählt er zwar nicht, aber wir follten wieder einen Lehrer befommen, der feine Karten mit einem Schlag auf den Tifch melden kann! Dichten? Unfere Väter und wir haben doc das Schulhaus von Lenz nicht gebaut, daß ein Narr darin dichtet.“

Die Frauen, namentlich aber die Töchter der rauhen Männer dachten milder. Sie fanden die Gefchichten Tobias Heiderd romantifch und rührend, und redeten miteinander ab, der Schullehrer müfje heiraten, denn wenn eine rechte Frau zu ihm fehen würde, gerieten feine Erzählungen noch fchöner. Die Töchter wandelten nun, die einen mit blauen, die andern mit braunen Augen am Schulhaus vorüber, befahen fich die leuchtenden Tulipanen und Gelbveigeleinftöce im Garten und knüpften ein artiges Gefpräc mit Tobias an, und fagten, es fei doch fehade, daß er fo allein im Oberftod des Schul- baufes wohne. Dahin gehörten eine Frau und eine fchöne Ausſteuer, daran das ganze Dorf Freude hätte. Es war befonders die Tochter des Schulverwalters, des reichften Bauerd im Dörfchen, eine ſchon etwas ältliche Jungfrau, die ſich um das künftige Wohl des Schullehrers in zarten Andeutungen forgte und wäre Tobias fein poetifcher Tor gewefen, fo hätte er fich rafch der ihm entgegengeftrecdtten Hand verfichert, fich in den Schuß der mächtigen Sippe geftellt und hätte in Freude und Herrlichkeit Lehrer in Lenz fein können bis an feinen Tod. Er kränkte fich über den Vater des Mädchens, der die Lehrer aus Bauernhochmut die fauer verdiente Viertel- jahrsbefoldung in Kleine Stüde verzettelt abholen ließ, damit er fie recht oft mit langem Wartenlaffen demütigen könne. Die Tochter hatte den Namen „Babettli“ und einen breiten Mund und beide gefielen dem Träumer Tobias nicht. So zögerte er die Wünfche der Dorftöchter zu erfüllen und war als Dichter der Anficht, daß die Ehe eine nichtswürdige Einrichtung fei, wenn nicht ein elektriſcher Funke von Seele zu Seele fpringe die Liebel

Leber die Unfchlüffigkeit des querföpfigen Lehrers gekränkt, verabredeten die Frauen und Mädchen von Lenz, feine Familie follte ihn mehr zu Tifch und in Pflege nehmen, bis er fich verlobt habe. Ehe aber Tobias das hungernde Dpfer des angedrohten Streikes wurde, fprang der eleftrifche Funke, nur fprang er aus feinem Herzen nicht in das Babettlis, noch einer andern Vieh- bänbdlerstochter der Gemeinde, fondern in die Seele eines Mädchens im Tal.

Es lag dort ein Kleines, altes, durch feine Runftfreundlichkeit befanntes Städtchen. In der Kirche fand ein Konzert ftatt und als Golo- fängerin trat ein Fräulein hervor, die den Raum und die Herzen der Hörer

Suddeutſche Monatshefte. 11,8, 10

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mit einer filberhellen, füßen Sopranftimme erfüllte. Jugendblüte, ein gütiges Geficht, temperamentvolle Wärme des Wefens feflelten Tobias an der ſchlank und elegant gebauten Geftalt, und der Hauch einer freieren Welt fchien ihm um die gewinnende Erfcheinung zu gehen. Herzlicher Beifall erhob fih, als die jugendliche Sängerin geendet hatte. „Sie ift nur furze Zeit in der Heimat auf Befuch“, ging ein Geplauder neben Tobias „in reizendfter Weife ift fie im legten Augenblick für eine erkrankte Sängerin eingefprungen“. Bald kannte er die rührende Gejchichte des Fräuleins, das einer hochachtbaren Familie entfprungen, früh verwaift war und nun als Erzieherin in einer vor- nehmen franzöfifchen Familie die Bildungskoften für drei jüngere Gefchwifter erwarb. Er fand Gelegenheit ſich der Heimatgaftin zu nähern, verftridte fi) in ihre anftandsvolle Liebenswürbdigfeit, in ihre ungezwungene Erzählung von Welt und Leben und auch in ihren Augen bligte es gütig und teilnahme- voll auf, ald man ihr erzählte, daß in dem jungen Lehrer von Lenz ein werdender Poet ſtecke.

Verlobung Kuß und das Verſprechen mit den beiderſeits be- ſcheidenen Mitteln treu und tapfer zuſammen zu halten. Selbſt die von Lenz wagten es nicht ihrer Enttäuſchung über die Wahl Tobias Heiders Ausdruck zu geben, denn die junge Braut war von jeher der Liebling ihres Heimatſtädtchens geweſen und vom Markt brachten die Viehhändler die Kunde nach Hauſe, das Dorf möge ſich glücklich ſchätzen, daß ein ſo feines Mädchen Lehrersfrau in Lenz werden wolle. Im blühenden Mai bewegte ſich der ſchlichte Hochzeitszug mit den feſtlich geſchmückten Schulkindern durch die Fluren, und je tiefer ſich heimlich die ſtolzen Viehhändlersfamilien kränkten, daß Tobias Heider an ihren Töchtern vorbeigegangen war, um ſo reicher beſchenkten ſie zur Verhüllung ihres Zorns das junge Paar.

Als aber die kleine Einrichtung und die Hochzeit der Lehrersleutchen beglichen war, beſaßen ſie faſt kein Geld mehr und merkten erſt jetzt, wie man ſich im Dörfchen doch ärgerte, daß der Lehrer eine Fremde ins Schulhaus geführt hatte. Der Senn gab ohne Geld keine Milch, der Bäcker kein Brot, die Flittertage des jungen Paares gingen bei Erdäpfel und Salz, doch klang der helle Sopran der Frau Emma ſiegreich wie läutendes Glück durch das Haus der armen Schulmäuſe.

Die Sommerferien kamen, wunderweiche blaue Tage ſpannen ſich über See und Gebirge, in der Bruſt Tobias Heiders erwachte das Wanderweh, er hätte zu gern wenigſtens die große Landesausſtellung in der Hauptſtadt geſehen, die das geſamte Volk von einer Grenze des Landes zur andern feſtlich bewegte, es gab aber im ganzen Schulhaus keinen Rappen Geld mehr. Etwas kleinlaut ſtaunte er vor ſich und ſelbſt die Luſt zum Schreiben war ihm vergangen. Womit einen Franken verdienen? Das war die Frage. „Ich hab's“, lachte das junge Frauchen, „ich übernehme Stickarbeiten für den Kaufmann im Städtchen.” Nun ſtichelten die rofigen Finger Tag und Naht und mit einem halben Iauchzer fagte fie nach einer Woche: „Diefen Abend gibt es für dich, armer Mann, ein Glas Bier!“ Gie trug ihre Arbeit in freudigem Lauf ins Tal hinab und ftieg müde und traurig zu Berg. Der Kaufmann war auf die Ausftellung in die Stadt gefahren. Kein AUbendbrot!

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Da ging ber junge Lehrer zum Schulverwalter, und Babettli, bie Tochter, weidete fih an dem in ftummer Empörung zwei Stunden Harrenden. As der filsige Verwalter endlich die Bitte des jungen Ehemanns um ein wenig Geld anhörte, lachte er fpöttifch und bös: „Wie man fich bettet, fo liegt man. Ihr hättet’3 beffer haben können, Schullehrer. In der Kaffe ift aber jest fein Geld, fommt in vier Wochen wieder!” Und hinter dem befhämt Abziehenden lachte Babettli fo grell, daß er es hören mußte: „Vater, in der Kaffe find ja über taufend Franken!“

Hunger, Hunger und Tobiad war wütend auf die Menfchen in Lenz, auf die ftrahlende Sonne, den lachenden Himmel, auf die Eifenbahn tief im Tal und auf die Dampfboote des glänzenden Sees, die nicht für ihn fuhren. Gegen Ende der Ferien aber fam Frau Emma wie ein Reh büpfend vom Städtchen. „Der Kaufmann bat mich für die Arbeit dreier Wochen bezahlt,” jubelte fie. „Da nimm, lieber Mann, fahre auf die Ausftellung in der Stadt. Eine Fleine Ferienfreude follft du doch haben!“ Und Tobias fah die große Landesausftellung. Sein Herz überwallte vor den weit und glänzend ausgebreiteten Bildern der vaterländifchen Arbeit und dem feftlihen Volke, das mit gehobener Seele, mit Sang und Klang und entfalteten Bannern durch die Gärten und Räume pilgerte. Gelber feftlich geftimmt fühlte fi) Tobias als Glied des Volkes, das feine Sorge und feinen Stolz in fonnigen Schauffücten darlegte und eine warme Zu- verficht überfam ihn, daß er den Bann des Heinen Lehrerlebend in Lenz fprengen und feine heiße, weltgierige Geele aus den Ketten der Not be freien würde.

Er griff wieber zur Feder. Die Tage, die Wochen, der Winter wanderten, überrafcht und forgenvoll blickte Frau Emma auf das mwunder- liche Schreiben und Treiben ihres Mannes, und obgleich fie eine gebildete und verjtändnisreiche junge Frau war, begriff fie die Heimlichkeiten der fchriftftellerifchen Werkftatt nicht ganz. Warum ſchrieb der Mann fo viele Blätter an und zerriß fie gleich darauf? Warum fchrieb er, was er ſchon zwei oder dreimal gefchrieben hatte, zum vierten oder zum fiebenten Male? Und fo verträumt ſaß er manchmal am Tifch, daß er gar nicht fpürte, mit welcher hausfräulichen Liebe fie ihm das Feine Mahl gerüftet hatte. Sein junges Weibchen ließ er mit einem zerftreuten Kuß zur Ruhe gehen und brütend wachte er über feinen Blättern bis in den grauenden Tag. Dem tapfern Frauenherzen aber fchienen dieſe Abfonderlichkeiten des Gatten fchwerer zu fragen als die äußern Sorgen des kargen Lehrerlebens. Die Tränen ftanden dem liebenden Weibe in den Augen. „Ich habe früher gedacht, das fchönfte Los einer Frau fei an der Geite eines Schriftftellers zu leben,“ jchmollte fie, „in der Tat aber ift e8 das fchmerzlichfte. Geine Seele gehört ja gar nicht dem Weib, fie gehört dem Stoff, der ihn bewegt.“

„Ich muß, ich muß,” erwiderte Tobias, „ewig wird eg nicht ein un- fruchtbarer Rampf bleiben.“ Un die „Stimme“ und an den „Boten“ wandte er fich nicht mehr, er fandte feine Manuftripte da und dorthin in die Städte, fie fehrten aber wie mit der Regelmäßigkeit eines Naturgefeges zu ihm zurüd und über das finnlofe Hin- und Herfchieben der Pakete

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böhnten der Pofthalter und der Briefträger von Lenz, lachten die Bauern, und Frau Emma fragte fehüchtern: „Iſt es jest, da wir Windeln anfchaffen follten, nicht fchade für die Briefmarken, die fo viel koſten?“

Tobias unterfuchte die zurückgekehrten Manuftripte darauf, ob fie gelefen worden feien, und wenn die Blätter noch durch das feine Tröpfchen Gummi zufammengehalten waren, durch das er fie beim Abſenden verband, tröftete er fih und Frau Emma: „Es ift nur das Wort „Lehrer“, wes- wegen fich die Redaktionen von der Mühe entbinden, die Arbeiten zu lefen. Sie denken, ein Lehrer könne überhaupt nicht anders als langweilig fehreiben.“

Hatte Tobias recht? Kin wenig vielleicht, wahrjcheinlich aber hätten die Redaktionen die Blätter auch zurüdgefchidt, wenn fie die Arbeiten ge- lefen hätten. Denn der junge Mann, der Schriftfteller werden wollte, war ein noch wenig entwidelter Spätling des Lebens, und nur im Stüd der Ehe andern vorausgeeilt. Allmählich fpürte er felbft, wo es feiner Schrift: ftelferei fehlte. An den Bildern aus der fprudelnden Fülle des Lebens, an den AUnfchauungsquellen der bewegten Welt. Hinab zu den Menfchen fehnte fich fein Herz in der Bergeinfamteit.

Endlich gelang e8 ihm, ein paar feiner poetifchen Erftlinge in Heinen Blättern unterzubringen und eine leife Sage ging durchs Land, in Lenz fige ein junger Lehrer, aus dem etwas werden könnte, wenn er in eine geiftig regfame Llmgebung käme. Und da er mit feinen fargen Mitteln nicht in die Welt gehen konnte, war die Welt barmherzig und fam zu ihm.

Im erften Frühling erfchienen in Lenz ein paar Herren aus der Stabt und baten Tobias Heider um die Erlaubnis feinem Schulunterricht beiwohnen zu dürfen. Eine glüdfelige Hoffnung durchftrömte ihn. Nachdem die Herren feinen Lehrftunden bis zum Abend aufmerkfam gefolgt waren, luden fie ihn freundlich zu einem Imbiß ein und eröffneten ihm, daß fie ihn ald Lehrer der Stadt zu ziehen gebächten. Bor Freude fprang ihm beinahe das Herz. Stadt! Wieviel herrliche Lebensmöglichkeiten umfchloß dieſes Wort für einen dürftenden Geift. Das war winfende Erlöfung, ein Traum wie Sonne, und Tobias herzte fein junges Weib und fein goldlodiges Kind,

Drei Tage beiliger Hoffnung! Da kam die Niederfchmetterung, ein Brief: „In Ihrer Seminarvergangenheit muß irgend ein dunkler Puntt fein. Zu unferm Bedauern find wir genötigt, von Ihrer Randidatur abzufehen, da die Stadt felbftverftändlich den Anſpruch auf Lehrer erhebt, die nach ihrer gefamten Vergangenheit empfehlenswert erfcheinen“.

„Was habe ich denn im Seminar Schlechtes getan?“ fehrie Tobias r wahrer Empörung. „Meine Lehrer durch Verträumtheit gefränft. Das ift alles!“

Einige Jahre dauerte das graufame Spiel. Schulbefuche famen mit der wohlwollenden Abficht nach Lenz, die frifche Kraft des fchriftftellerifchen Lehrers in größere Verhältniffe zu ziehen, Hoffnungen aus der ärmlichen Enge des Bergfohulmeifterlebens herauszukommen, fladterten ſtets wieder in ber Bruft Tobias Heiderd empor, fcheiterten aber immer an einem geheimnisvollen Schulterzuden über fein Tun und Treiben während der Seminarzeit. Da

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fuhr er felber in die Stadt und bat die Interrichtsbehörden um Auskunft, mas gegen ihn vorliege. „Die Lehrer haben Sie geärgert durch ihre poetifchen Querköpfereien! Und Sie fegen diefelben ja noch ſtets fort!" Da antwortete Tobias in heißem Zorn: „Und das genügt Ihnen, einem Manne jedes Vorwärtskommen abzufchneiden!" Die Folge der Auseinanderfegung war, daß die Auskünfte über den Lehrer von Lenz noch fchlechter lauteten, ala vorher. Stets noch meldeten fich Befuche, aber der oft enttäufchte und etwas verbitterte Lehrer trat ihnen entgegen: „Es ift mir lieber, meine Herren, wenn Sie meine Schule nicht befuchen, ich weiß, daß ich hier angenagelt bin und Shre Gegenwart bringt mich bloß in ein falfches Licht und in eine unhalt- bare Stellung unter den Dorfbewohnern!“

Sn der Tat zerriffen über den Befuchen manche feine Bande der DVerftändigung und des Wohlwollens, die fich zwifchen Lehrer und Ge- meinde fpinnen wollten. Die Dörfler fpotteten: „Fort trachtet Ihr, aber brauchbar findet Euch niemand. Was follen wir Euch behalten? Wir hätten gern wieder einmal ein neues Geficht im Schulhaus. Geht nur geht!“

Mit Frau und Kind zwifchen Tür und Angel geflemmt verlebte Tobias die Zeit. Entmutigt entfagte er der Schriftftellerei als einer großen Gelbftverblendung und gab den hoffnungslofen Rampf auf. Im Frühling aber wankte er von fchleichender Krankheit ergriffen. „Lungenfchwindfucht“, flüfterte ſich durchs Dorf. Frau Emma konnte die Tränen nicht verbergen, Tobias felber aber, der doch nicht in die Welt hineinzupaffen fchien, kränfte das Sterben nicht weiter, nur um fein Weib und um fein dunfel- äugiges Goldlodenköpfchen tat e8 ihm bitter weh.

Da lud ein Onkel, der in Trieft lebte, den franten Lehrer als Gaft in fein Haus, damit er fich im milden Süden erhole. Der Tag der Schulprüfung fam und vor feiner Reife ſaß Tobias mit den Viehhändler- Honoratioren von Lenz zufammen. „Schullehrer,” fprachen fie beim freund- fihen Prüfungsmahl, „Ihr habt Euer Eramen noch zum Verwundern gut gemacht.“ „Es wird aber jchon das legte geweſen fein,“ flüfterten fie unter fih. Aus den ungewohnt freundlichen und gütigen Neden merkte Tobias am ftärkften, wie fehr fie ihn für einen Todeskandidaten hielten und als der Wein die Zungen ein wenig gelöft hatte, begannen fie frei davon zu fprechen, was für Tugenden das Dorf von feinem Nachfolger fordern müſſe.

Tobias reifte mit dem Gedanken in den blauen Süden, daß er, wenn er wieder gefund würde, auf feinen Fall mehr in Lenz bleiben wolle. Auf der Reife aber ging es ihm fonderbar. Jede Stunde, die er weiter von feinem Bergdorf hinwegfuhr, wich der Drud des Leidend mehr und mehr von feiner Bruft und als der Zug durch die Lombardei braufte, ba hielt er e8 nicht mehr aus im Eifenbahnwagen. Wandern, vom Morgen zum Abend wandern mußte der Mann, der eben noch zu müde gemwefen war, ein paar Treppenftufen zu fteigen und mwonnig und mwunderfam fpürte er, daß fein Leiden nichts Körperliches, nur der ungefättigte, verhaltene Drang der Seele nad) den Bildern der Welt, nach Licht und Glück gewefen war. Im Sonnenuntergang ftand er auf dem Mauerfranz des AUmphi-

150 3. €. Heer: Auf einfamem Poften.

theater von Verona. Die Alpen und der Appennin leuchteten in ber Berklärung des Abends, um das mächtige römifche Baudenfmal, das die Erinnerung der Sahrtaufende weckte, flutete in hellen Scharen fonntägliches Frühlingsvolf, und fröhlicher Fanfarenklang wehte mit den füdlichen Lüften. Da rüttelte und fchüttelte e8 den Wandersmann in urmäcdhtigen Schönheits- ffimmungen, frifche Lebensquellen floffen durch die halbverborrte Geele, unaufhaltſam ftrömten feine Tränen, ihm war, er müſſe die Erde umarmen und in fehluchzender Wonne konnte er nur das Wort fprechen: „Welt!“

Das war die Genefung.

In einem Lorbeergarten am Golf von Trieft griff er zur vernach- läffigten Feder, pries feinen Ferientraum und mwandernd und fchreibend wurde Tobias Heider vom Frühling zum Sommer ein ferngefunder Mann mit einer frohen Geele, die neu zu wagen und zu fämpfen bereit war.

Blätter feiner Ferien fandte er an eine angefehene Zeitung in die Heimat. Und fiehe da die Redaktion behielt fie, verlangte nach mehr und bat den Namen bes Arhebers den forfchenden Lefern bekannt geben zu dürfen. Als er in ftrahlender Gefundheit wieder unter die Dörfler von Lenz trat, da fpürten auch fie, die Halberfchredten, die fich in der Hoffnung auf einen neuen Lehrer getäufcht fahen, daß in der Seele Tobias Heiders eine Wendung zum Guten eingetreten war. Doc wollte er in Lenz nicht mehr bleiben. Durch eine Trieftiner Firma verhandelte er mit einer deutſchen Gemeinde in der brafilianifchen Provinz Efpiritu Santu wegen der Leber- nahme der auf der Siedelung neu zu gründenden deutfchen Schule. So war er bereit, fein Glück felbft jenfeitd des Weltmeeres zu fuchen. Doch feufzte Frau Emma, wenn er von der fernen neuen Heimat fprach.

War e8 denn in der alten nicht wunderfchön? Die Zeitung, die feine Blätter veröffentlicht hatte, ſchickte Geld, ein bochgeachteter Verleger erbat fi die Arbeit zum Buchverlag, begleitete den zweiten Brief mit einer An- zahlung, und beide Honorare zufammen waren faft fo groß wie fein Iahres- gehalt ald Lehrer von Lenz. Grau Emma fang wie ein Vogel und lachte: „Nein, ich will die Schriftftellerei nicht mehr als meine heimliche Feindin betrachten.” Und aus der Stadt kam eine Schulabordnung. Gie fpradh: ner fo frifch zu fchreiben vermag, der muß doch auch frifch in die Rinder- herzen reden können. Seien Sie der unferel Und wenn jemand mit Ihrer Seminarvergangenheit gegen Sie fechten will, fo nehmen wir den Kampf auf!“

Us ein Brief aus Efpiritu Santu fam, alle Bedingungen Tobias Heiders feien angenommen, jubelte Frau Emma: „zu fpät zu fpät!” Der Weg der Lehrersfamilie war jegt die Stadt. In neuern und ältern Rutfchen gaben die Viehhändler von Lenz Tobias das Ehrengeleit ins Tal. Gie verficherten ihm bei dem Schwur, „ber Teufel foll ung die Wefte zerreißen, wenn es nicht wahr ift,“ nie hätten fie einen Lehrer lieber gehabt als ihn. Da fie aber famt und fonders Schalfe und Schelme find, wollten fie damit nur fagen, wie jehr fie fich freuten, daß er endlich von ihnen ging.

Die Stadt aber bot Tobias Heider die Fülle der Bilder, die ein Schriftfteller braucht, um fich zu entfalten.

* * *

3. €. Heer: Auf einfamem Poften. 151

Verehrte Redaktion! Sie haben mich um ein autobiographifches , Stüd gebeten. Da ift es. Ich felber bin Tobias Heider. Die „Ferien an der Adria” haben leider meinen erften Verleger enttäufcht. Neugiershalber faufen hie und da Leute noch das Buch, das feinen literarifchen Wert befigt. Von feinem Abfag erhalte ich jede Weihnacht eine Tantitme von ein paar Franken. Kein Geld nehme ich mit einem beiligern Gefühl in die Hände als diefes. Ich wäge es fröhlich und fchmerzlich und bin froh, daß id) nicht nach Brafilien ausgewandert bin.

Was bangen oft für Schidfale an einem Kleinen Buch!

Regenbogen, Bon Adolf Frey in Zürich.

Fahr wohl! Nun hat mein holdes Glüd, Mein ftilles Glück ein Ende,

Heut küßt' ich dir zum legtenmal

Die fchlehenweißen Hände.

Ich blicke noch einmal zurück Durch deine Gartenpforte:

Du drüdft die Stirne in die Hand Und winfft mir ohne Worte.

Ein Regenbogen bligt und fpringt Aus ſchwarzem Woltenfchleier Und fchüttet über den Garten dir Sein fiebenfältig Feuer.

Es zucdt und flirrt die zitternde Wand Mit ihren fieben Flammen,

Sie lodert zwifchen dir und mir Wir können nicht mehr zufammen!

Fahr wohl! nun bat mein holdes Glüd, Mein ftilles Glüd ein Ende,

Heut küßt' ich dir zum legtenmal

Die fchlehenweißen Hände!

140 72 77

Bon der Zugend. Bon Earl Spitteler in Luzern,

Ob man will oder nicht will, man wird von der Wahrheit gezwungen, die Jugend der Seele von ber Jugend des Körpers zu unterfcheiden. Bringe mir hundert Beweife für die Abhängigkeit der Geele vom Körper, des Geiftes vom Gehirn, einverftanden, allein Beweiſe ftoßen feine Tatjachen um, und eine Tatfache ift, daß die Jahreszeiten des Körpers und der Geele in entgegengefegter Richtung laufen. Nämlich der Körper wird mit jedem Jahre älter, die Seele dagegen je länger je jünger. Das „Kind“ ift eine Erdichtung der Erwachfenen, und das Altern des Ich ift eine Suggeftion von außen. Man fühlt mit zwei Jahren greifenhafter ald mit fechzig Jahren. Darum werden auch die blühendften, lebensfrifcheften Kunſtwerke nicht von Sünglingen gefchaffen fondern von Männern und Greifen. Wären feelifche und leibliche Jugend von Natur wegen beifammen, fo müßte ja beftändig Frühlingsluft durch die Literatur der Völker wehen, da doch gottlob niemal® Mangel an Buben ift, von denen fich alljährlich eine ftatt- liche Zahl in verdanfenswerter Weiſe der Poefie anzunehmen pflegt. Wir hätten dann fo eine Art Rekrutenaushebung der Dichter auf Grund des Geburtsfcheines; der jüngfte Iahrgang dichter allemal die älteren in die Referve, und das Problem des ewigen Frühlings ift gelöft.

Daß diefer fchöne Idealzuſtand fich verwirklichen fünnte, dies zu hoffen fällt wohl niemand ein. Hingegen fällt von Zeit zu Seit einem Bündel Rekruten ein, daß e8 vielleicht leichter wäre, mit der glatten Haut zu prahlen als mit Werfen zu zahlen.

Alſo! Was zaubert ihr? Munter! Die zwanzig Jahre zum Prinzip erhoben und die neuen Sünglingshofen ald Evangelium ausgerufen! Cine Fahne voran, worauf das Wort „Jugend“ ſteht, entdeden fie der ftaunenden Menfchheit zum erftenmale das Weib und die Liebe, und weil fie nichts können, nennen ſie's Genie. Diefes Evangelium ſchmeckt; die Jungen jüngen Zünger; und ehe man fich’3 verfieht, ift das erfte Milliönchen erreicht. Der ganze Nachwuchs wird flügg; „hurrah der Frühling ift dal“ es fingen alle Büblein, alle.

Hierauf gibt e3 ein paar Iuffige Maikäferflugjahre; das dauert, jo lange es dauert, bis eines ſcharfen Morgens alle miteinander am Boden liegen.

Deutfchland hat das Phänomen einer folchen Fahnen „Jugend“ be- reit3 mehrmals erlebt. Was ift dabei für die Literatur herausgekommen? Etwa ein poetifcher Frühling? Gehn wir doch nach:

Carl Spitteler: Bon der Zugend. 153

Das „junge Deutfchland” der dreißiger Jahre, hat es etwa die deutfche Literatur verjüngt? Sind die Werke der Gutzkow und Laube lebensfriſch? Erweden ihre Namen die Borftellung von Saft und Kraft? Und wiederum unfere neuefte „Jugend“, jene Jungen ber beiden legten Sahrzehnte, die wir heute noch ein wenig nachzugenießen das Vergnügen haben, waren das vielleicht Lenzeshäuche, was fie in die Literatur bliefen?

Vergleichen Sie nun damit folgendes Beifpiel: Meyer und Keller waren nichts weniger ald Sünglinge, ald fie am bdeutfchen Horizont auf- tauchten, der eine war mehr als fünfzigjährig, der andere mehr als fechzig- jährig; das hat nicht gehindert, daß ihre Erfcheinung wie Morgenröte wirkte.

Nein, dichtende Zünglingsregimenter verjüngen nicht eine Literatur; fie bewirken höchſtens, daß fortan hüſt gedichtet wird, wenn man früher bott dichtete, oder umgekehrt hott für hüſt. Was die Literatur verjüngt ift die Ankunft eines überwältigenden Meifterwerfes und dahinter die Er- fcheinung eines großen Gefichted. Dann, nur dann kommt plöglich Sonnen- fein und Frühling über eine Literatur.

Wo aber hat der Meifter in feinem Werke den Frühling ber? Don einer ewig frifchen Quelle; die liegt aber tief verftecht im Boden, und um fie zu finden braucht e8 jemand.

Freilich ed muß einen Berührungspunkt zwifchen ber körperlichen und der feelifchen Jugend geben, fonft wäre ja die Verwechflung beider über- haupt unmöglih. Suchen wir ihn:

Ein gefunder Durchfchnittsjüngling trägt neben andern Eigenfchaften einige Tugenden mit fich herum, welche der Mehrzahl der Erwachſenen ab- handen gefommen find: Mut, Glaube, Fähigkeit zu rüchaltlofer Begeifte- rung und rücfichtslofer VBerwerfung. Ideale fehauen, einem hohen Lebens: ziel ſelbſtlos nachftreben, das gehört zur Natur der männlichen Jugend. Wer mit zwanzig Sahren das nicht vermag, ift ein geiftiger Krüppel.

Indem aber die Jugend Ideale ſchaut und fich die höchften Aufgaben ftellt, ift fie keineswegs unbefcheiden. Unbeſcheidenheit ift im Gegenteil, in der Literatur auftreten zu wollen, ohne fich die höchften Aufgaben zu ftellen.

Freilich ift mit alledem noch fein unmittelbarer Gewinn eriworben; denn nicht der Blick aufd Ziel tut es, fondern die Erreichung des Ziels. Zmmerhin, eine normale Jugend tritt auf den rechten Pfad, den Pfab zur Höhe, und wenn alle Welt in den Miederungen watet, fo bedeutet ſchon allein die Betretung des Höhenmweges eine nationale Erquidung. In der Tat wartet auf die Zünglinge der Gegenwart eine ebenſo jchöne wie leichte Nebenaufgabe, die Aufgabe, das Ideal und den Glauben, den eine KRadaverjugend der Nation binweggehöhnt hat, wieder herzuftellen. Tut die heranwachfende Generation das, dann verdient fie den Namen einer Zugend im literarifchen Sinn. Tut fie jedoch das Gegenteil, begnügt fie fich gleich ihren Vorgängern damit, mit ihrer Pubertät Parade zu gigerin, fo propbezeie ich ihr getroft den Kehrichtkorb, fobald einmal eine echte Zugend ind Feld rüdt.

CERTER TER FR FR ER FR FR TER PER ER RER ER ERERTFER

Aus meinem Verkehr mit Conrad Ferdinand Meyer.

Bon Adolf Frey in Züri.

Seit dem Frühling 1877 bis 1892 habe ich mit Conrad Ferdinand Meyer in Verkehr geftanden, alfo während der Höhezeit feines Lebens, wo, nach Ueberwindung tragifcher und geheimnisvoller Hemmungen, feine epifche und Iyrifche Kraft ausbrach.

Mit feinem Vorwiſſen und auf feinen Wunfch habe ich feine Publi- fationen diefer anderthalb Jahrzehnte insgefamt rezenfiert. Das Probeftüd legte ih am „Schuß von der Kanzel“ ab, der im „Zürcher Tafchenbuch auf das Jahr 1880“ erfchien und deſſen Korrekturbogen der Dichter mir zugefchickt Hatte. Ich beabfichtigte, das Meifterwerfchen abgefondert von den Übrigen Beiträgen des Tafchenbuches zu befprechen; doch Meyer wehrte ab. „Es freut mich, geehrter Herr,“ fchrieb er den 29. November 1877, „daß Sie den ‚Schuß‘ goutieren. Etwas apart darüber zu ſchreiben, gebt wegen der andern Herrn nicht wohl an. Wenn Sie dagegen im voraus ein Eremplar und einen Pla in der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ belegen und dann über Rompofition, das treibende dDramatifche Element und die Charaftere der Novelle nachdrüdlich und etwas ausgiebig reden wollen, werden Sie mir große Freude machen. Auch ein Wort über den ‚Senatfch‘, wozu die Epifode mit der Einfchrift in den AUldinifchen Homer ungezwungene Ge- legenheit böte, wäre mir ermwünfcht.“

Bierzehn Tage fpäter ließ er fih in Sachen abermals vernehmen: „Das ‚Zürcher Taſchenbuch‘ haben Sie erhalten, das ich für Sie verlangte? Jetzt wäre mir ein kräftiges Wort von Ihnen über den ‚Schuß‘ in der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ willkommen.“

Der Stand feines literarifchen Anſehens zu jener Zeit, insbefondere bei den Zürchern, und derjenige der Damaligen Kritik in ber Schweiz erflären fein Verhalten und fein Anliegen.

Nicht viel mehr als Schläge ind Waffer hatten feine zwei Büchlein „Balladen“ (1864) und „Romanzen und Bilder“ (1870) bedeutet. Der „Balladen“ hatte fich in der welfchen Schweiz fein väterlicher Freund Louis Vulliemin öffentlich angenommen. In der deutfchen waren fie jo gut wie unbemerkt vorbeigegangen. Und mit Grund empörte fi) François Wille, die „Romanzen und Bilder“ feien totgefchwiegen worden.

Im Spätfommer 1871 erfehnte der Dichter in St. Wolfgang unter- halb Davos eine öffentliche Stimme über feinen „Hutten“ und kehrte früher,

Adolf Frey: Aus meinem Verkehr mit Conrad Ferdinand Meyer. 155

als er vorgehabt hatte, nach Zürich zurüd, als es ftill blieb. Eine wahre Erlöfung und Auferftehung vor den Zürchern war es für ihn gewefen, als endlich am 6. Dftober 1871 Johannes Scherr das Schweigen brach und in der „Zürcher Freitagszeitung” ein warmes Wort über den „Hutten“ fagte. Bald Hang es in gleichen Tönen auch aus deutfchen Blättern, und bie literarifchen Richter ließen fi) ein paar Jahre nachher zögernd auch zur Anerkennung des „Jenatſch“ herbei. Doch einen Namen befaß Conrad Ferdinand Meyer damals, als ich ihn fennen lernte, deswegen immer noch nicht. Ich erinnere mich noch fehr wohl, wie e8 mich, den im Frühjahr 1877 nad) Zürich gefommenen und von einigen Gedichten Meyers und dem „Hutten“ ganz erfüllten Studenten, befremdete und froftig anmwehte, als ich unter jung und alt fo manchen fand, der noch nicht einmal Meyers Namen gehört, gefchmweige denn etwas von ihm gelefen hatte und nun etwa mein grünes Judieium fopffchüttelnd entgegennahm. Es hielt eben in Zürich, trogdem er Lefer gewann, für ihn ſchwer, durchzudringen, fchon weil hier die literarifchen Zirkel nun einmal auf Gottfried Reller eingefchrvoren waren und fi nur mühfam in dem Gedanken zurecht fanden, daß aus dem Bezirk der engern Landskraft noch ein anfehnlicher Poet hervorwachfen follte, und weil man diefen wenigſtens nicht in C. F. Meyer erwartete, der bis zu „Huttens legten Tagen“ (1871) wie ein Halbverfchollener und beinah Uuf- gegebener gelegentlich von feinem Sig am rechten Geeufer her unter den Stadtgenofjen auftauchte, um dann wieder draußen in der Dorfeinſamkeit zu verſchwinden.

Der Ruhm, nad) dem er fo lange vergeblich feine Hände ausgeſtreckt, fiel ihm fchließlich beinahe Über Nacht zu. Das gefchahb um die Jahres- wende 1879,80, als er den „Seiligen“ in der „Deutfchen Rundfchau“ publizierte. Das Werk öffnete den Cinfichtigen die Augen und zwang ihnen die Ueberzeugung auf: unter uns ift ein Großer erftanden.

Auf den Schild gehoben hat den Dichter Deutfchland, nicht die Schweiz, genau wie Deutfchland die Größe eines Gotthelf, eines Gottfried Keller, eines Böcklin zuerft proflamiert hat. „Bei ung gilt einer erft etwas, wenn er mit der großen Trompete über den Rhein hereingeführt wird,“ pflegte Gottfried Keller zu fagen. So wenig wie heute war die Schweiz vor einem Vierteljahrhundert imftande, Namen zu machen. Das liegt in der Kleinheit der Verhältniffe, wo, wie Keller in einem ungedrudten Brief an Jakob Frey fi ausdrückt, „der Philifter mit feinem Schund immer wieder die Oberfläche zudeckt“.

Damals ftand es in der Schweiz auch mit der Kritik nicht beſonders. Eine einigermaßen regelmäßige Befprehung und Beleuchtung literarifcher Neuigkeiten gab es noch nicht; das hing alles an Zufall und Gelegenheit. Während der fünfziger und bis in die fechziger Jahre hatte allerdings der fcharffichtige Friedrich v. Tſchudi, der Verfafler des „Tierlebens der Alpen- welt“, in den literarifchen Beilagen der „St. Galler Blätter“ mit nicht gewöhnlicher Einficht über die Erfcheinungen des Büchermarktes zu Gericht gefefjen. Aber der war eine Ausnahme. Beim Feuilletonredafteur des in den fiebziger Jahren angefehenften Schweizer Blattes traten die Rollegen zu jeder Stunde ungeniert ein und packten nach Belieben als gute Beute

156 Adolf Grey: Aus meinem Verkehr mit Conrad Ferdinand Meyer.

für Weib und Kind oder fonft wen von den vorhandenen Mezenfions- eremplaren unter den Arm, ohne nur zu fragen, ob eine Befprechung erfolgt fei. Der Chefredakteur der zmweitwichtigften, bald nachher aber in die erfte Stelle einrüdenden Zeitung ließ jeweilen ein ordentliches Pad Rezenfions- bücher fi anhäufen und fchicte fie dann, Befprechung hin, Befprechung ber, ind Antiquariat. Man kann fi) danach an den Fingern abzählen, wie ed auf den Schreibftuben Eleinerer Blätter herging.

Diefe Zuftände begannen fi) anfangs der achtziger Sabre fachte zu wenden. Deutjchland fing an die fehmweizerifchen Literaturgepflogenheiten zu modeln und zu färben. Sein Reichtum, feine Städte, feine Blätter wuchfen, der literarifche Betrieb ſchwoll an und zu ung berüber.

Ungefähr um diefe Zeit eröffnete 3. VB. Widmann, der fich ſchon feit mehr als einem Jahrzehnt gelegentlich als Nezenfent hatte vernehmen lafjen, von Berufs wegen feine bis heute tapfer aufrecht erhaltene kritifche Tätigkeit am Berner „Bund“, geiftreich, frifh, wohlmollend, unermüdlich. Ihm entgeht feine literarifche Erjcheinung, die irgendwie das Intereffe des weiteren Publikums beanfpruchen darf. Der Neuling ift feines ermunternden Zurufs, der Erprobte gebührender Wertung ficher. Nicht leicht erlebt man es wieder, daß ein Kritifer neben hervorragender und erfolgreicher Dichterproduftion ein DVierteljahrhundert hindurch ftets neue Waffen und Schmudftüde in feinem Arſenal findet und bittern Erfahrungen zum Trog Rekruten und Beteranen ungemindertes Wohlwollen bewahrt, ja mehr ald das, nämlich die völlig neidlofe Fähigkeit, um nicht zu fagen die Leidenfchaft, die Sache der wirklich fchöpferifchen Geifter immer von neuem in der Arena zu ver- fechten. Widmann zuerft hat die literaturempfängliche Schweiz an regel- mäßige und mit dem Reiz der ausgefprochenen Perfönlichkeit ausgeftattete Kritit gewöhnt. Natürlich förderte den Wandel der kritifchen Zuftände auch der Ruhm unferer Dioskuren, der gerade damals kräftig aufleuchtete und die Schweiz mit dem Schein eines Halbparadiefes der Poefie über- ſchimmerte.

Indeſſen, wie geſagt, zur Zeit meiner erſten Bekanntſchaft mit C. F. Meyer war die ſchweizeriſche Kritik noch etwas Wildnishaftes, Unberechenbares. So lag es denn auf dem Wege, daß er, um ihren Fährlichkeiten wenigſtens in Zürich nicht ausgeſetzt zu ſein, gerne mein Anerbieten annahm, ſeine nächſten Landsleute auf den „Schuß von der Kanzel“ aufmerkſam zu machen, zumal ich mich ſchon hin und wieder mit Beſprechungen hervorgewagt hatte.

Ich traf es ihm ordentlich nach Wunſch. „Meinen freundlichen Dank, geehrter Herr,“ ſchrieb er den 17. Dezember 1877, „für Ihre Beſprechung meiner Novelle in der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘, die mir ſehr gefallen hat, nicht nur das Lob, fondern der ganze Schritt und Tritt bes Artikels.“

Bon jest an galt e8 zwifchen ung als ausgemachte Sache, daß ich jedes feiner neuerfcheinenden Werle vor der Deffentlichkeit anzeigte, auch nachdem ich im Frühjahr 1879 zur Fortführung meiner Studien nach Leipzig gezogen war. Zunächft kam die Reihe an den „Heiligen“, für den ih mir im Berner „Bund“ Gelegenheit zum Wort erbat. Meyer fchrieb mir am 9, Juni 1880: „Schmeichler! fagte ich, da ich las. Bei fchließ-

Adolf Grey: Aus meinem Berlehr mit Conrad Ferdinand Meyer. 157

licher Betrachtung fand ich aber, daß Ihr Artikel wo nicht das Geleiftete, doch die Intention, das Ideal desfelben nach der Wahrheit bezeichnet. Meinen felbftverftändlichen Danf! Meißner Rezenfion in den ‚Blättern für literarifche Unterhaltung‘ ift unglaublich flach und flüchtig, obgleich fich felbft aus diefer Armfeligteit noch etwas lernen läßt. Mit dem einförmig düftern Ton, meine ich, hat er, Meißner, recht. Es ift wahr, etwas mehr Leuchtkraft muß ich meinen Sachen geben. Das liegt aber am Stoff. Wieder eine Predigt der vanitas, vanitatum vanitas des Literaturweſens. Ic habe für den Bettel höflich gedankt und die Nuganwendung gemacht, fortan mehr als je rein nach meiner Ueberzeugung und fo inftinktiv als möglich vorzugehen. Die Sache ift, daß von den namhaften Schriftftellern jeder fo voll von fich felbft ift, daß ihm jedes liebevolle oder nur gerechte Eingehen auf Fremdes eine ſchmerzhafte Bewegung ift.“

Auf den Tag übers Jahr empfahl er mir im voraus die dritte AUuf- lage des „Hutten“, die er gründlich und einfchneidend umgepflügt hatte, und verlangte den 31. Auguft meinen Eindrud von den KRorrefturbogen: „Mein I. Herr, jegt fomme ich mit einem Anliegen. Geit es fich herum- fpricht, daß ich meinen ‚Hutten‘ verändert habe, vergeht fein Tag, an welchem mir nicht mündlich oder fchriftlich, gröber oder feiner, infinuiert wird, ich möchte denfelben wohl verdorben haben. Gie, der einzige, der die KRorrektur- Fahnen gelefen hat, bitte ich um ein Urteil. Es ift nur, damit mir das Geſchwätz nicht meine gute Stimmung verderbe.“ (31. Auguft 1881.) Nach ungefähr einem Monat äußerte er fich über meine inzwifchen in der „Deutſchen Rundſchau“ erfolgte Befprehung: „Der Hutten-Artikel hat mich gefreut. Er ift vortrefflich gefchrieben und das Zuviel des Lobes abgezogen trifft er ind Schwarze. Ich kann Ihnen nicht fagen, hoffe, Sie werden es auch einmal erleben, wie wohltuend es für den Aelteren ift, von dem Süngeren in einer Weife gewertet zu werden, wie er ed von feinen Altersgenoffen unmöglich verlangen kann. Mir fcheint, in diefem Falle (oder auch, wenn man von einem weit QUelteren [vide Vifcher] gewertet wird) veredelt fich das fonft fo ftrenge Gefe der Gegenfeitigkeit, des Gegen- dienfte8 zur Dankbarkeit gegen den Aelteren und gegen den Süngeren zu echtem, wahrem Wohlmwollen.“ (27. September 1881.)

Die gleichfalls für die „Deutfhe Rundſchau“ mit der Redaktion vereinbarte Anzeige von Conrad Ferdinand Meyers 1882 erfchienener Ge- dichtfammlung wäre beinahe aus meinen Händen in andere geglitten, da mich vorübergehend erfchütterte Gefundheit an der Niederfchrift hinderte. Der Dichter redete mir zu, mich zu fchonen; lieber wolle er zumarten oder auf die Rezenfion ganz verzichten, ald mich dadurch fehädigen. „Glauben Sie mir, lieber Herr und Freund, Ihre Gefundheit geht mir über die ganze gefegnete deutfche Literatur mit allen ihren Epochen und Handbüchern!“ (12. Dezember 1882.) Den 2. Januar des folgenden Jahres ließ er mich wiflen: „Rodenberg fchrieb mir, Ihre Befprechung für die Rundfchau, ‚warm und ftimmungsvoll gefchrieben, habe ihm einen außerordentlich an- genehmen Eindrud gemacht.‘ Ich gratuliere Ihnen und mir.” Daß ihn der Heine Auffag nicht enttäufchte, teilte er mir am 6. Februar -mit: „Un Ihrem Artilel wünfchte ich fein Pünktchen anders. Beſſeres wurde nie

158 Adolf Frey: Aus meinem Verkehr mit Conrad Ferdinand Meyer.

über mich gefchrieben! Andere mir vorliegende Rezenfionen, 3. B. eine ganz unvoreingenommene ex populo der Tante Voß markieren recht deutlich die Linie der Anerkennung, welche gegenwärtig nicht überfchritten werden darf.“

Auch meine Anzeige der „Hochzeit des Mönche“ entfprach feinen Wünfhen. Im Konzert erfuhr er davon und ließ ſich das betreffende Eremplar der „Neuen Zürcher Zeitung“ er hielt damals an ihrer Stelle die „Augsburger Allgemeine” auf der Heimfahrt aus der Stadt, wenig vor Mitternacht, von der Schwiegermutter im Talader'), wo das Vater: haus feiner Frau fteht, aus dem Fenfter in den Wagen werfen: „Ich bin über alle Erwartung erfreut davon. Wie es zu geben pflegt, waren mir jest, nach verfloffenem Raufche, die von Ihnen nur leicht angedeuteten Mängel befonders ſichtbar.“ (5. November 1884.) In meiner Rezenfion der „Richterin“ dagegen vermißte er die Hervorhebung deffen, was ihm als das DBefondere erfchien: „Ihr Artikel in der geftrigen Zürcherin hat mir fehr gefallen, auch die Referven. Das eigentlich Charakteriftifche der ‚Richterin‘ ift doch wohl die Emanzipation vom Stofflihen und die ftärfere Individualität.” (18. Sanuar 1886.)

Ehe ich die Feder anfegte zum Urteil über die „DVerfuchung des Pescara”, gab mir der Dichter einen unerwarteten Wink; „Bitte, wertefter Herr, wenn Sie mir die Freude machen, den ‚Pescara‘ in der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘ zu befprechen, fo laſſen Sie die fterile Rontroverfe, ob er mein Beſtes ift, beifeite, ja, weifen Sie diefelbe als unkritifch (mas fie auch tft) zurüd. Gie hat fich wie durch Verhängnis in diefen Tagen in deutfchen Blättern (befonders Breslauer Zeitung) entfponnen zu meinem Verdruß.“ (23. November 1887). Diefe Senfibilität deutet vielleicht fchon auf eine gewiſſe Heberreizung und auf die Spuren der Erkrankung, die den Poeten nah Vollendung des Pescara befchlich und, nach langen Leiden mühfam abgefchüttelt, ihm nur noch die Ausgeftaltung der „Angela Borgia“ gejtattete, um ihn dann nicht wieder frei zu laffen. Als mein Llrteil über den Pescara in der Neuen Zürcher Zeitung dem Dichter zugegangen war, fchrieb er mir den 16. Dezember: „Ihr Artikel hat mir Freude gemacht und ich dankte vorgängig herzlich.” Ebenfo erklärte er feine Zufriedenheit mit meinen Auslafjungen über das nämliche Werk im „Kunftiwart“, nicht ohne noch einen Wunfch übrig zu haben: „Eben leſe ich in der Kölnerin vom 22. Dezember: ‚Uns fcheint es, ald habe der Dichter zeigen wollen, wie Hein der größte Menfch vor dem Gefamtbild einer weltgefchichtlichen Epoche erjcheint, als habe er die Ironie des Verhältniffes der Rieſin Welt- gefchichte zu dem Menfchenlofe zeigen wollen in dem Umſtande, daß der- jenige, der die erfte Rolle zu fpielen berufen fcheint, ein todwunder Mann ift, der hinfiecht, während die Gefchidle der Zeit ihren gemeffenen Gang gehen.‘ So etwas, aber befjer, hätte ich noch von Ihnen gefagt gewünſcht.“

Ungeteilte Freude bereitete ihm dann meine Rezenfion der „Angela Borgia“: „Teurer Herr, Sie erraten, welche Freude mir Ihr übrigens ganz objektiv vorzüglicher, heutiger Artikel macht.“ (19. Dezember 1891.) Es war feine legte Publikation.

!) Straße in Zürich.

Adolf Frey: Aus meinem Verkehr mit Conrad Ferdinand Meyer. 159

Meyer intereffierte fich nicht nur für meine Rezenfionen, fondern auch für meine literarbiftorifchen Arbeiten und namentlich für meine poetifchen Pro- duftionen, von denen er die neuentitandenen jeweils mitzubringen mich häufig aufforderte. Von Anerkennung und Freude, die er mir oft bezeugte, ſchweige ich.

Trotz feiner Neigung, Angenehmes und Freundliches zu fagen, hielt ihn doch feine wahrhaftige Natur davon zurück, aus Freundfchaft irgend eine Leiftung zu überfchägen und mehr zu fagen, als er dachte. Ich teile einen Fall mit, wo er fein Hehl hatte, daß er mit mir nicht eins war.

Ich hatte in der „Neuen Zürcher Zeitung” ein Feuilleton über den fchweizerifchen Lyriker Ferdinand Dranmor (1823—88) veröffentlicht. „Die Lektüre Ihres Artikels über Dranmor”, fehrieb Meyer den 17. April 1888, „babe ich eben beendigt. Er ift mit Sicherheit nach den guten Prinzipien gefchrieben. Was über Keller Lieder (deffen GSterblichkeitsglauben ich übrigens entfchieden nicht teile) und deren liebenswürdige und füße Eigen- [haften gefagt wird, gerade den Eitelfeiten des ‚Nequiem‘') gegenüber, ift völlig wahr. Der Artikel ift gerecht, aber allzu ftreng, wenigftend formell. Mir fcheint, das Richterliche (das auch leicht einen pedantifchen Zug ge- mwinnt) follte gemäßigt werden. Bei dem größeren Stücke, welches Gie meditieren, werden fich die Eden ſchon verfchleifen. Vielleicht bietet auch das Leben, wenn Gie taugliches biographifches Material erhalten, fym- patbifch zu vertvendende Züge.“

Wenige Tage darauf konnte ich wieder den Charakterunterfchied zwiſchen Conrad Ferdinand Meyer und Gottfried Keller ſo recht mit Händen greifen; anläßlich eines Beſuches nämlich, den ich dem Altſtaatsſchreiber abſtattete, lobte er die Heine Arbeit über Dranmor und bezeichnete gerade meine Ein- wände gegen ded Berner Poeten Eitelkeit ald wohl angebracht. Beiläufig bemerkt, fcheiterte meine beabfichtigte Monographie über Dranmor, der mich, meinen Einwänden zum Troß, immer gefeffelt hat, an der Unmöglichkeit, das genügende Material zufammenzubringen.

C. F. Meyer hat auch einige Rezenfionen gefchrieben, jedenfalls aller- böchftens zehn. Drei davon gehen mich an. Der Zufall wollte es, daß er den 27. Januar 1877, bevor wir und fannten oder er nur etwas von meinem Dafein wußte, den Jahrgang 1877 des „Schweizerischen Miniaturalmanachs“, worin ich mit meinen poetifchen Erftlingen aufrüdte, in der „Neuen Zürcher Zeitung” kurz rezenfierte. Meine Freude war nicht gering, als ich erfuhr, daß das erjte öffentliche Lob und Augurium von feinem Geringeren herrübhrte, als von dem Verfaffer des „Hutten“. Ich fege den Kleinen Artikel hierher, weil außer mir wohl fehmwerlich mehr jemand Kenntnis davon hat:

„Der ‚Schweizerifche Miniaturalmanach‘ auf das Sahr 1877 von Rud. Buri, deffen bisher in feinem Zürcherifchen Blatte Erwähnung gefchah, verdient eine nachträgliche Zeile der Anerkennung. Neben einer Novelle und einer Biographie bringt das Büchlein, in welchem und ein feltener Rafus die Poefie beffer vertreten fcheint als die Profa, einige ganz vorzügliche Gedichte. Das KRalendarium begleiten zwölf Lieder von G. Keller, alte, liebe Lieder, vom Dichter wieder durchgefehen. Da ift

1) Bon Dranmor.

160 Adolf Frey: Aus meinem Verkehr mit Conrad Ferdinand Meyer.

‚Winternacht‘ und ‚Am Wafler‘, fo verfchieden ald möglich geftimmt und jedes in feiner Art volllommen. In ‚Erfter Schnee‘ ändert der Meifter es koſtet ihn ein paar Federzüge vielleicht noch die zwei Schlußzeilen für feine endgültige Sammlung. Cine entfchiedene Begabung beweift Adolf Frey. Die ‚Lieder eines Freiharftbuben aus den Burgunderfriegen‘ treten brav und frifch und doch in feiner Weife renommiftifch auf; auch unter feinen übrigen Gedichten finden fich glückliche Motive, 3. B. das: ‚Ob, wir wiffen, was du denkeſt‘. Ein junges Talent reizt die Neugierde. Wird e8 gegen fich felbft ftrenge fein? Wird es zu feinem Kerne durchdringen? Viktor Widmann gibt diefes Mal nur ein paar gefühlte Strophen: ‚Um Grabe 3. Freys‘. Was ift aus der fchönen epifchen Dichtung in Dftaven geworden, deren erften Gefang uns der Jahrgang 1875 mitteilte? Don den beigegebenen Holzfchnitten gefällt ung ‚Der gefährdete Blumenftrauß‘ am beften, auch die poetifche Dichtung desfelben von R. D. Ziegler ift ganz hübſch. M.“

Im Jahre 1880 beſprach Meyer mein Buch „Albrecht von Haller“ (Leipzig 1879) in der „Deutfchen Rundſchau“ und 1890 am nämlichen Drte mein Werk über „Johann Gaudenz von Salis -Seewis“. Ausdrüdlich ver- fiherte er mich, er habe mit diefer Rezenfion zugleich feinen fünftigen Bio- graphen zu legitimieren beabfichtigt: „Es ift mir recht“, jchrieb er mir den 3. September 1890, „daß ich den Ton getroffen habe, ich dachte wirklich für Sie über den Artikel hinaus.“

Für die Biographie hatte er mir autobiographifche Aufzeichnungen zugefagt, fobald „die Borgianovelle vollendet fein würde” (8. Juni 1890), und bemerkte dazu eine Woche fpäter, er würde „den fraglichen Aufzeichnungen am liebften Tagebuchform geben“ (14. Juni 1890).

Freilich gelangte er nicht dazu, diefe Abficht auszuführen, da dem Ab⸗ fchluffe der Borgianovelle die Anfänge der Erkrankung unmittelbar folgten. Ebenfowenig fam er zu einer der „Deutfchen Rundfchau” zugedachten Re- zenfion meiner „Feftipiele”, die ich zur Sechshundertjahrfeier der Gründung der Schweizerifchen Eidgenoffenfchaft gefchrieben hatte und an denen er das regfte Intereffe nahm. „Ich danke für die Spiele. Wahrfcheinlich werde ich in der Rundfchau ein Wort über die Auguftfeier im allgemeinen, das Volksſchauſpiel und dann von Ihren Spielen insbefondere fagen.” (4. DE tober 1891.) „Für die Feftfpiele habe ich mir einen Heinen Rahmen erfonnen.” (7. Dftober 1891.) „Ich habe noch eine Schuld zu zahlen: Die Rezenfion der Feftfpiele, und muß mich, folange ich mein rheumatifches Augenleiden habe, als bankerott erklären. Die Rechnung wird immer größer, und ich muß auf Ihre Nachficht provozieren.“ (2. Dezember 1891.)

Und nun fein legter Brief. Es handelte fih um die Lektüre meines Dramas „Erni Winkelried“, das ich ihm mit der Bitte um fein Urteil zu- gefandt hatte ohne zu ahnen, wie ſchwer fein Leiden fchon damals war. „Richt ohne eine gewiffe Wehmut, lieber Herr, die mir nicht erfpart bleiben follte, muß ich Ihnen fagen, daß ed mir unmöglich ift, Ihnen den Kleinen Dienft, den Ihnen zu leiften mir unter andern Umſtänden eine Herzend- und Geiftesfreude geweſen wäre, nicht ermweifen kann.

4, it 1892. : Apri Herzlich grüßend Ihr C. F. M.“

Adolf Frey: Aus meinem Verkehr mit Conrad Ferdinand Meyer. 161

Die fchwere Ermüdung, in der diefe Zeilen gefchrieben wurden, zeigt fi darin, daß fie aus der Ronftruftion fallen. Drei Monate fpäter befand fi) der Dichter ſchon in der Heilanftalt Rönigsfelden.

Wenn mich zuweilen das Heimmeh nach dem Gefchiedenen überfommt, fo fege ich mich über den Hort der reichlich anderthalbhundert Briefe, aus denen ich hier einige Stellen herausgehoben habe. Sp vermag ich mir dann die teuern Züge zu vergegenmwärtigen und, als ob es eben jet geweſen wäre, die Empfindung wachzurufen, womit ich feine Briefe empfing. Cines war mir immer gewiß: ich war ficher, daß mir aus den Zeilen mit der großen, ſchöngeſchwungenen Schrift ein warmes Wohlwollen, freundfchaftlicher Rat und abelige Gefinnung entgegenblicten.

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Mondnacht.

Von Vietor Nathan in Alm.

Ueber die ſchwarzen Rieſen am Berge, Ueber die Nebelgeſichter im Waſſer Schreitet der Mond, Stumm, der Herr im Schweigen der Nächte, Ewig entſagender Ruhe Verklärung, Ueber die Fluren und Meere und Lüfte, Ueber die Welten, die Welten

dahin.

Was biſt Du, Menſch? Ein Körnchen im Winde, Eilender Fluten im ehernen Kreiſe

Flüchtiges Rind!

Klein, ein Spiel von Vielen, erbauſt Du Schwindender Seele vergängliche Bilder,

Bis dir wie Ahnen und Brüdern und Kindern Alles im Dunkel, im Dunkel

erliſcht.

Schenke mir Träume, Träume der Liebe, Und der unſterblichen Wanderſchaft Gleichnis, Göttlicher Mond!

Tod, triff zul Es hauchen die Lippen Emiger Liebe verflärende Ruhe Leber die Welten und Menfchen und Kinder, Schlürfen im Tode, im Tode

das Glüd.

Cr

Süddeutihe Monatäbefte. II, 8. 11

Der Heilige und die Tiere.

Bon Zofef Hofmiller in Münden.

„And war allda in der Wüfte vierzig Tage, und warb verfucht von dem Satan, und war bei den Tieren, und die Engel dieneten ihm.“ Ruhig gleitet das Auge hundertmal über den Ders des Marfusevangeliums, ein bundertunderftesmal kommt es nicht weg über das fonderbare Wort „und war bei den Tieren.” Bei Matthäus, Lukas, Iohannes fehlt es, nur Markus weiß davon zu berichten. „Und war bei den Tieren.” Die Seele wird mwunderlich erregt von dem feltfam unbeftimmten Worte. Nach innen wendet fich der Blick, wie ein großer, großer Vorhang legt fich etwas vor das Auge, etwas Weites, Fernes, Unendlihed ......

Gelb dehnt es fich dort auf gelbem Sande, am waſſerloſen Bachbette: die Lömwin, das Löwenkind, und in Hugem Abftand der falbe Wüftenfuchs, Fenek, der Liftige, Feige. Ruhig reckt fi) das gelbe Getier und blinzelt. Der alte Löwe, wo er nur bleibt? Fenek fürzt die Weile mit Heldenfagen grauer Vorzeit, von jener Menfchenhochzeit zu Nadabath, deren feftliche Schar von den Makkabäern erlegt ward; von dem ſtarken Reden, der gen Thimnath 309 und des Löwen Kiefer zerbog. Da der alte Löwe: un- wirfch, wie nie. Mißlang der Sprung? Entrann die Beute? Ein Menfchen- mann?

Bon ſchlankem, Ihmächt’gen Wurchfe war der Mann, Kein Enaksſohn, Schwach, ſchwankend faft, gebüllt In fchlecht Gewand, das lang hinab ihm floß.

Wie aus der Sonnenfcheibe fam er gefchritten, ſah den Löwen ftillen Angefihts und ruhigen Auges, und ging vorüber. in Heiliger? Ein Gott? Ein andrer Gott ficherlich, als jener, der aus fernen Landen einft fam, heilige Panther vor dem goldenen Wagen, Sauchzen wilder Luft und blutigen Taumeld überall erwedend. Der Gott taugte ber Löwin. Gie hätte dem ftillen Wandler mit einem Tagenfchlag den fchlechten Fetzen herabgeriffen. „Du? Du vielleicht! Ich vermocht es nicht.“ In ber Ferne wiehert etwas: brüllend fegen die drei Löwen davon.

In weißem Mondlichtfehimmer blinkt die bleierne Scheibe des toten Salzſees. Starr und fchweigend fteht der Kreis der Berge. Da plöglich gleißt es bläulicy aus der früben Flut, auf taucht ein büffer leuchtender riefiger Schwimmer, ftößt mit wuchtigen Zügen an ben bleichen Strand,

Sofef Hofmiller: Der Heilige und die Tiere. 163

reckt fich fpähend, ungeduldig, herriſch: Afafel, der Herr der Wüfte. Er ruft Lilith. Uber leer und höhniſch kommt des vergeblichen Rufes Wiber- ball ihm zurück. Wo ift Lilith? Die gefpenftigen Rephaim wiſſen's nicht hinter den Bergen, noch die vermummt fpufenden Sumfumim. Da gleitet’3 wie Nebelduft herab: Lilith. Wo weilte fie, daß fie nicht dem erften Rufe des Wüſtendämons gehorchte? Bei einem fchönen Mädchenmwunder:

Ein Menfchentind, wie keins ich je getroffen,

So fchön, fo flammend heiß und doch fo fühl; Ein fühes Schlänglein, glatt und jung und böfe, So fohlimm, daß ich nichts mehr dazu vermag, Und wenn ich meinen eignen Gürtel löſe

Und gürte fie, bei der ich koſend lag.

Die Irdifchel wie ift fie meinesgleichen!

Zum erjtenmale fühlt ich was wie Neid.

Dies Kind wird Ruhm noch wie fein Weib erreichen, Wird Menfchen töten, brechen jeden Eid,

nd wird, wenn lachend fie den Erdenföhnen Vom Rumpf die Häupter mit dem Fächer fchlägt, Sich hohnvoll reden, weil das legte Stöhnen

Der Sterbenden noch Liebesfeufzen trägt.

Wie heißt die glatte Natter? Salome! Halt’ fie im Aug! Sie wird fich noch bewähren! Doc andre Aufgabe wartet auf Lilith: den Heiligen zu verführen. Sie ziert fich, weigert fich, lacht gezwungen, errötet aah! fie hat es ohne Auftrag ſchon für fich verfucht doch wie aus weiter, lichter Ferne fprach der Heilige langfam diefe Worte: „Du armer, irrer Geift!“ Der muß durch feineren, geiffigeren Röder gelodt werden. Wohlan! In Taubengeftalt überbringt ihm Lilith den Wunder: ring Salomonis, der das Ohr für die Sprache der Tiere auffchließt, und in heftigen Reden deutet fie ihm an, daß es fchmerzuolles Wiſſen fei, die Tiere zu verftehen: da, ihr zu Häupten dräut der Geier Afafel, ftößt herab, entführt fie.

Drei Raben faufen gierig einem Hafen nad), treffen ihn in die Seher, und boden fich zum leckern Mahle. Zu fpät kommt der Heilige. „Wir fterben alle ſo“ ...

Wir fterben alle fo vier arme Worte, Des Lebens Arteil aber liegt darin.

Wir fterben alle fo... Muß das fo fein? Gibts loszulaufen fie fein Löfegeld?

Die Raben werden ungeduldig. Weg, du! Du dort! weg! Gaffer!... Wie, der Mann kann rabifch? Ja, rabifch fprechen, das kann er, nicht aber rabifch denken:

Wenn abends fie den Plas im Schaufpiel füllen, Und Krebs und Aal im Abgrund ihres Wanftes Bei Wachteln liegen und bei jungem Lammfleifh

164 Joſef Hofmiller: Der Heilige und die Tiere,

Aus diefen übertündhten Gräbern würd ed

Aus diefen Mördergruben blöfen, muben,

Sn allen Tönen fchnarren, piepfen, flöten,

Wenn, was da ganz und halb und viertels modert Noch Laut und Stimme hätt. Und wir nur follten Das Fleifch nicht koften dürfen unfrer Mühe?

Betroffen tritt der Heilige zur Geite und laufcht der wunderlichen Rabenweisheit: Der alte Rolf erzählt von dem Lande, da wochenlang vor Kälte das Fleifh im Felde ftarrt; von dem mitternächtigen Froftlande, deffen frommer Glaube zwei Naben dem höchften Gotte auf die Schultern fegt,; und Roms Adler ſanken vor diefem frommen Volke! Ja, wenn auch hierzulande einer den Raben eine Mahlzeit mit Nömerfleiſch anrichten wollte! Was zudt der bleihe Mann? Was fpricht er? Verſuchung? Trugbild?

Abend. Ein zerfallener Königsbau ftarrt blind in goldnen Himmel. Schafale haufen, der Wiedehopf fchnarrt hier, Eulen mwimmern, eine Schlange fährt zifchend aus dem Moder der Jahrhunderte. Hier raftet auf einem Säulenreft der Heilige, in tiefer Herzensnot des unausfchöpfbaren Leides aller Kreatur gedentend. Da wälzt wüſter Streit aus nächtiger Höhlung fih and Dämmerliht: Fenek, vom GStachelfchweine gejagt, in deflen Bau er fich’8 bequem gemacht. Und nun beginnt häßlichftes Schelten und heuchlerifches Sich-Bezichtigen. Der Maulwurf fcheut ſich nicht? So etwas macht fich auch noch maufig? Der Schwarzpelz, der fich die armen Würmer mit leichtem Biſſe lähmt, daß fie ihm mondelang in dunfler Rammer als lebender Vorrat bereit liegen! Pie grüne Heufchrede, die dem Männchen im Augenblict der höchften Luft mit fcharfen Fängen den Kopf abreigt! Fernes Gebrüll: Der verwundete Löwe lechzt nach Durftes- ftillung, ehe er fich zum Tode redt. Der Heilige hebt die leere Schild- frötenfchale aus dem Sande, füllt fie, beugt fich zum Löwen nieder: „Ich liebe, was da lebt.” „Du liebft, was krank!”

Du fei gefegnet doch, daß du gekommen.

Auch du ein König! Uber über mir!

Aus einem (Feuergeift find twir genommen.

Doch ward mein Teil verfchachert in ein Tier.

Und jest iſt ... feine... este... Glut ... verglommen.

Auf ſchmalem Felfenpfad wandelt der Heilige zum Gipfel Da hört er das Gterbelied der Blaudroſſel: Leife, holde Töne, dad Danflied des Gefhöpfchens, das auf heiligem Berge, nicht vom Falten gehegt noch von Ameiſen ermittert, in Friede fein Leben zu Ende klagt:

Du ſchöne Welt, adel ade!

Sch muß dahin, mein Herz ift krank. Doch, liebe Welt, nimm, eh ich geh, Noch diefen legten Lebensdant,

Sofef Hofmiller: Der Heilige und die Tiere. 165

Ih weiß nicht, war mein Leben leicht?

Es war am Ende voll Befchwer ?

est aber, da es mir entweicht,

GStrömt voller Glanz aus ibm mir ber.

Dh! große Welt! ich bin fo Hein

Und muß num gehn, mein Herz ift krank

Nun werd ich nie und nimmer fein... .

Du Schöne Welt... bab Dank... hab Dant...

Da fteht der Dämon neben dem Heiligen. Kündet ihm feiner ge heimften Regung Sinn, deutet Trauer zur Läfterung, Mitleid um zur Empörung, und alles Wiffen um unrettbare Qual und grenzenlofes Leid quillt bitter fehrend von der feinen Lippe. Tiefe Wehmut träufelt der Berfucher dem Heiligen ing liebende Herz: Was mwillft du dich für Menfchen opfern? Für nie zu Beffernde, nimmer folchen Opfers Werte? Siehe bie Tiere, deine ärmften Mitkreaturen ftarren flagenden Auges ftumm dich an. Du kannſt fie erlöfen! Don diefem Fels ftürze dich hinab! Dielleicht ift dein Dpfer fchon angenommen: lichte Cherubim barren, ihre Schwingen unter dir zu breiten... . Du willft nicht? Wirfft den Ring, der Wunder: gabe dir verlieh, in tieffte Tiefe? Legft Mitgefühl von dir, mwillft frei das Leben leben? Go bete mich an, und ich will dir Macht geben und Kraft und Gewalt und Größe und ungeheure Herrfhaft ... .

Bor dem abweifenden Worte ift Afafel verfunfen. Im Nachtwind ſäuſelts fanft. Himmlifcher Jubel durchbrauft die Lüfte, Engel nahen in liebendem Drang.

Sprecht, ift in meines Vaters großem Haufe, Wo Wohnung fih an lichte Wohnung reiht, Bereitet eine ftille Friedesklaufe

Dem ärmften Tier nach allem Erbdenleid?

Daß dort, was einjtmals hart ihm ift gejcheben An Angſt und Qual und bittrer Todespein, Als Freudentelch es fiehet vor fich ftehen

Und jauchzt verzüdt: „Dies alles mußte fein! Ich ward zerfleifcht, zerriffen und zerrieben nd ftarb, und wähnte, daß es niemand ſah, Nun ward mir alles, alles gutgefchrieben, Mein legter Seufzer ach! auch -du bift dal”

Verhüllt find auch Engeln die legten Dinge. Auch am Himmel kreifen tote neben lebendig leuchtenden Sonnen. Leichen drehen fich im Weltallreigen, Sterben und Erwachen, Lachen und Weinen, alles grüßt fich, wirbelt fich ewig vorbei. Wird jedem Elend feine Zeit und fein legtes Stündlein fommen? Wir Engel harren. Harren und fehweigen. Deine Zeit aber ift nunmehr geflommen. Dort warten deine Brüder! Irrende, der Erlöfung Bedürftige! Zu ihnen! Zu den Lebendigen! Den Menfchen!

Ich folg euch, ſchöne, hohe Himmelsboten. Doch laßt mich Abfchied nehmen bier zuvor,

166 Sofef Hofmiller: Der Heilige und die Tiere.

Abſchied von den Lebend’gen und den Toten, Die ich gefunden faum und jchnell verlor.

Ihr lehrtet Eines mich, ihr fchlichten Guten: Sich felber treu fein und unjchuldig bluten.

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Myſterium und Tierfabel, Theodizee und Vorforderung des Welt- urhebers, in edler Versſprache erzählt, mit ſanfteſten Worten rührend, mit tiefem Hohne erfüllt und tiefer Trauer ſo zeigt ſich Joſeph Viktor Widmanns Dichtung!) von den poetiſchen Gaben der legten Zeit als die eigenartigfte, die feinfte, die bebeutendite. En Marge des Vieux Livres nennt Jules Lemaitre die foeben erfchienenen zwanzig Arabesfen, die er in glüd- lichen Stunden an den Rand der antifen Epen, der Evangelien, der goldenen Legende gezeichnet hat. Leicht und licht hingeftrichelte Dinger, voll Teifer Sronie und von zarter Schlanfheit der Form. LUngleich bedeutender ift Widmanns Dichtung. Im Juniheft des erften Jahrgangs der Süddeutſchen Monatshefte hat Felix Weingartner mit begeifterten Worten auf Garl Spittelers Dlympifchen Frühling bingemwiefen, und dem höchft eigenartigen Geftalter und Denker Freunde geworben. Neue Freunde wärb' ich heut gerne dem Schweizer Widmann, der, felbft ein wahrhafter Dichter, allezeit für den genialen Landsmann eingetreten ift. Die Schweizer dürfen ftolz darauf fein, zwei „folche Kerle” zu haben.

Es ift unmöglich, von dem Werke einen Begriff zu geben. Man muß es leſen, wiederholt lefen, um all feiner finnvollen Kunſt inne und froh zu werden. Nie ſchwelgt der Dichter in wohlfeilem Pathos. Maf- voll und doch kraftvoll fpricht Klage und Zweifel fich aus, mephiftophelifcher Spott zudt in den Replifen des Wüftenfuchfes und Afafels, gleichwie der Schluß, mit den wundervoll individualifierten Erzengeln Michael, Gabriel, Rafael, an den Prolog im Himmel erinnert, ohne je in Ropie zu verfallen. Gleich fein ift die Charakteriftif der Lömwenfamilie, eine glänzende Mifchung von Hohn und Tieffinn das Gefpräch zwifchen Afafel und Lilith. Hier folgt das drollige Idyll vom Sündenbod: In die friedlich grafende Schar wilder Ziegen rennt der foeben in aller Form verfluchte Sündenbod, halb wahnfinnig vor Angft. Die wilden Ziegen aber begrüßen ihn mit Iuftigftem Gemeder, denn fie wiffen, daß man nur die ftärfften Böcke zu diefem Zwecke wählt; er ift nicht der erfte, den fie fo daherrafen fahen. Er mag die Raffe verbeffern, das junge Prinzeffin-Geißlein Meltana heiraten, und on Hirkus, einft Sündenbod wie er, wird ihm den Hochzeitsfantug medern.

Das Gefpräch zwifchen dem Heiligen und der Taube Pilith fteht in ſcharfem Kontraft zu der Bukolik, die ihm vorangeht, und dem graufamen Humore der Rabenfzene, mit dem alten Kolk aus Germanien, dem ſchön zu fpeifen und ſchön zu fprechen faft dasfelbe ift, „und beides tut er gern, der weife Greis, der tief erfaßt der Dinge Wirklichkeit”. Noch graufamer,

) 3. V. Widmann: Der Heilige und die Tiere. 1.4. Taufend. 187 ©. Frauenfeld. Berlag von Huber & Co. Gebunden 4 Mar.

Sofef Hofmiller: Der Heilige und die Tiere. 167

aber auch noch tiefer find einzelne Detaild der nächtlichen Szene im ver- fallenen Palafte. Hier zeigt Widmann im Maulwurf, in der Heufchrede, Repräfentanten tierifcher Graufamfeit. In der Tat wirkt auf das menfch- liche Gefühl die Qual gerade der Heinften Tiere am fchlimmften: die lebende Raupe, die vom Gingvogel langfam zerpictt wird; die in fandiger Falle von der mörberifchen Zange des Ameiſenlöwen gepackte Ameiſe; das Infekt, das durch wohlberechnete Stiche ind Bauchmark getroffen, in die Erbhöhle der Grabweſpe gefchleift wird, um den unbehilflichen Larven als widerftands- lofer, und dennoch lebender Fraß zu dienen; die Raupe, die von der Schlupf. weſpe gelähmt wird, damit fie als Brutforb der Eier tauglich fei; der vom langgeſtreckten Rüſſelegel ausgefogene Fiſch —: grauenvolle Bilder, die fich leicht vermehren ließen. Wenn die dolchfpige Dialektik der Schlange in dieſer Szene noch eine Derfchärfung zuließ, fo ift die grandiog-blasphemifche Kosmologie des verfuchenden Dämons nicht mehr zu übertreffen. Hier ift der Dermerf angebracht, der fich eigentlich von felbft verfteht: daß Wid- manns Dichtung nicht in KRonfirmandenhände, anftatt eined® Bandes von Gerof etwa, zu geben ift. Gie ift ein Buch für reife und nachdenfliche Naturen, nicht für naive und kindliche Seelen. Alle Schwermut und aller Trotz, alle Hoffnung und alle Schönheitsfehnfucht einer unruhvollen Zeit fpricht aus ihr.

Es ift ein feiner Zug, daß nach dem bymnifchen Schwunge, mit dem die Dichtung fchließt, der Verfafler nicht mehr auf den einfachen Rahmen zurücigreift, in bem er das Ganze darbot. Den Tierfzenen gehen nämlich drei Menfchenfzenen voran. Auf lateinifcher Zehrung pilgern zwei Kandidaten: Wernide aus Mitteldeutfchland, und Nagelfchmidt aus Schwaben, ber erfte vom äußerften linken Flügel, der andere vom gemäßigten Freifinne proteftan- tifcher Theologie. Sie gehn zum Pfarrer Lur, der einft wegen allzu freien Gehabeng im Kanton Zürich abgefegt worden. Zweite Szene: Der Pfarrer und feine Schwefter in einem Gefpräh, in dem fchon alle Themen bes KRommenden angefchlagen werden: Prinz, des Pfarrers Spitz, hat eine trächtige Hafelmaus totgebifjen! Dritte Szene: Bor dem Vorhange des Schattenfpieles figen die Theologen mit der Schwefter; denn nur Schatfen- fpiele find die tieffinnigen und mächtigen Szenen, von einem ftreitbaren freifinnigen Theologen vor einem theologifchen Publitum gefpielt, das jede Anfpielung, fei fie noch fo leife, verfteht. Die befcheidene Einfleidung läßt das Werk nur noch größer hervortreten. „Noch ift die fchlichte, edle Dichtung fein Modeartitel für Weihnachtsbefcherungen. Was verfchlägts? Wer fo reine, harmonifche Werke vollendet wie Widmann, bleibt gleich. wohl den Mufen und Menfchen ein Wohlgefallen.” Mit diefen 1887 gejchriebenen Worten über ein anderes Wert des Schweizer Ariofto hat Anton Bettelheim Necht behalten. Mit jeder neuen Dichtung hat Wid- mann fein Ziel fich höher gefteckt, feine Versfprache ift immer bezaubernder, feine Weltanfchauung immer tiefer, feine geftaltende Kraft immer wuchtiger und ausdrudsvoller geworden. Heute fteht er auf feiner Höhe.

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Fremdeninduftrie.

Bon Friedrihb Naumann in Schöneberg.

Wenn jemand vor 50 Jahren vorausgefagt hätte, welche Bedeutung heute der Erholungsverkehr hat, würde er feine Aufmerkfamteit gefunden haben, obwohl gerade damals die Zeit voll neuer Verkehrsprojefte war und überall Aktiengefellfchaften für neue Bahnen entftanden, denn die neuen Verkehrsprojekte wurden für den ernfthaften Reifenden gemacht, für den Delzhändler, der zur Meile fährt, den Hopfenhändler, der München befucht, für den Mann mit der Mufterkarte und dem großen Paket. Neben ihm erfchien der Sohn, der mit der Eifenbahn an das Krankenbett feiner Mutter eilt, und ganz zulegt erjt dachte man derer, die etwa zum bloßen Pläſier auf dem Dampfmwagen fahren würden. Als große Menge konnte man fich diefe legteren nicht denken, denn die bisherige Erfahrung ließ das Reifen zum Pläfier als eine teure und feltfame ariftofratifche Tätigkeit erfcheinen. Wer wird ein fo ernfthaftes, ſchweres Inftitut wie eine Eifenbahn bemühen, wenn er nichts will als nur wo anders fpazieren gehn als zu Haufe?

Und heute find fie Legion geworden, die ohne gefchäftliche Zwecke die Eifenbahn benugen! Wer viel fährt, hat manchmal den Eindrud, der Er- bolungsverfehr fei größer als der Gefchäftsverfehr. Man kann es ja nicht ftatiftifch erfaffen, ficher aber find es 200 oder 300 Millionen Mark, die in Deutfchland jährlich verfahren werden, ohne daß diefe Ausgabe irgendwie ale Gejchäftsunfoften, Spefen, VBerwaltungsaufiwand oder fonft etwas ähn- liche8 gebucht werden kann. Wahrfcheinlich jedoch ift die Summe noch höher. Man ftelle fich folgendes vor:

einen Sonntagsverkehr auf den Berliner Vorortbahnen,

einen Ferienzug nach Tirol, Bafel, Emden oder Stettin,

einen Luruszug über den Brenner nach Rom!

Diefe Beifpiele follen nur der Phantafie helfen, alle die Millionen Menfchen zu ſehen, die im Laufe des Jahres mit der Abficht, fich zu vergnügen, an die Fahrkartenausgabe treten. Heute ift es längft feine Abfonderlichkeit mehr, gewiſſe Eifenbahnen direkt für den Erholungsverfehr zu bauen, und wenn man die verfchiedenen Finanzminifter aufgefordert hat, die Perfonen- tarife zu verbilligen, fo verfprach man ihnen in erfter Linie erhöhten Fremden-, Sonntagd- und Ferienverfehr. Wir find kein feßhaftes Volt mehr, weder in den fauren Wochen noch in den frohen Feften. Alles rollt! Die ärmften Klaffen find natürlich ſchwach an der Ortsveränderung zu Erholungs- zwecken beteiligt, aber man denke nicht, daß man fehr hoch hinaufgehen

Friedrich Naumann: Fremdeninduftrie. 169

müffe, um junge Leute zu finden, die Geld für unrentable Bahnfahrten ausgeben! Die Sommerreife ift ſchon fehr demofratifiert, fo fehr, daß die Ariftofratie im Hochfommer zu Haufe bleibt, um nicht mit zu viel Menfchen zufammen zu reifen. Und je größer die Städte, je enger die Wohnungen werden, defto mehr fehreien die innerften Regungen der Menfchen nach dem Tage, wo man hinausdampft, abfährt, dem Zwang entfährt, in die Natur bineinfährt.

Draußen aber in der Natur werben die Erholungsgäfte erwartet, weil fie Geld mitbringen. Man locdt fie mit Kunſt und Reklame nach allen Winkeln. In allen Blättern, die auf zahlungskräftige Lefer hinweiſen fönnen, annoncieren die Badevermwaltungen, Kurkomitees, Sanatorien, Hotel- bireftionen und teilen mit, daß man den fchönften Wellenfchlag, den ozon- reichften Wald, die abwechflungsreichfte Szenerie finden werde, wenn man alle anderen Orte fich felbft überlaffen und nur dahin fahren werde, wo die offenen Arme eines Haufes mit Fahrftuhl und eleftrifcher Beleuchtung bei vorzüglichjter Küche fich öffnen. Iſt aber der Lejerfreis des Blattes mehr der fleine Mann, fo empfehlen fich die billigen Sommerfrifchen, mo man ungeniert feine alten Hauskleider abtragen fann und wo die Kinder in irgendwelchem Sande gratis fpielen dürfen. Daneben aber rufen hundert MWald- und Gartenlofale in die Welt der Großftadt hinein, daß es bei ihnen am Sonntag Militärmufil, Tanz und Naturgenuß gibt. Un den Anfchlagfäulen aber find bunte Schiffe abgemalt, die auf irgend einem See fahren, Wafferfälle, die irgendwo raufchen, blaue Tannen mit weißen Wald- hütten oder Sonnenaufgänge über irgendeiner Bergwirtfchaft. Wer im Wartefaal der Eifenbahn mit Koffer, Kind und Kegel fit, kann an den Wänden, die fich zu Ausftellungen graphifcher Künfte geftalten, ftaunend fehen, welche Wunder er in Ungarn, Dalmatien oder Südfrankreich erleben fönnte, wenn er Geld genug hätte, alle Roftbarkeiten, die aus Berg, Wald, Wafler und Himmel zufammengewoben find, der Reihe nach zu befuchen. Schon diefe ganze breite Reklame fpricht für den gewaltigen volfswirtfchaft- lihen Umſatz, den das Erholungsbedürfnis hervorruft.

Der Erholungsbedürftige hat längft aufgehört, etwas vereinzeltes und zufälliges zu fein. Er entjteht fo ficher wie es immer wieder Leute gibt, die Kleider oder Goldwaren brauchen. Es ift deshalb auch ganz richtig, wenn man von einer Fremdeninduftrie geredet hat. Der Fremde ift ein Rohproduft, das in der freien Luft einen „Veredelungsprozeß“ durchmachen fol, um dann gebeffert und wertvoller wieder an die Städte abgeliefert zu werden. Es ift ein Verfahren, wie wenn wir die ftädtifche Leinwand auf die Bleichpläge der Vororte fenden, wie wenn wir unfere alten Lappen in die Papierfabrifen draußen werfen, damit fie als weiße Papierballen wieder fommen. Der ftarfe Verbrauch geiftiger und phyſiſcher Kraft, der mit dem modernen Stadtleben verbunden ift, verlangt eine Hilfseinrichtung zur Reparierung der Stabtmenfchen. Um diefer Reparierung willen zahlen die Städte das viele Geld, das fie jährlich im Gebirge und an allen Waflern verausgeben. Wieviel es ift, läßt fich nicht beftimmen, aber man fann annehmen, daß die ftädtifche Bevölkerung, wenn man Sommerreifen und Sonntagsausflüge zufammenrechnet und die Winterfahrten dazu nimmt,

170 Friedrih Naumann: Fremdeninduftrie.

Yıs ihrer Einnahmen wieder nach draußen trägt. Der Lefer kann ja bei fich felbft nachrechnen, ob er diefen Anfag für zu hoch findet. Er trifft unferes Erachtens vielfach auch in der Arbeiterfchaft zu, wenigſtens überall da, wo junge Leute in Betracht fommen. Aber mag e3 auch weniger fein, fiher ift, daß es ſich um viele hunderte von Millionen Mark banbelt. Wenn in Berlin an einem fonnigen Feiertag 400000 Billetts verkauft werden, fo find ficher 200000 Menfchen draußen gewefen, und diefe haben fiher 300000 Mark draußen gelaflen. Was aber will für unfern Gegen- ftand der bloße Berliner Vorortöverfehr an einem einzigen Sonntage fagen?

Jede große Stadt und jedes Induftriegebiet ſchafft fich einen engeren und einen weiteren Kreis von Orten, denen es Erholungsgelder zahlt. Um von der größten deutfchen Stadt nochmals zu reden, fo ift der engere Kreis das ganze Gebiet der märkifchen Seen, ein Gebiet, deflen traumhafte bori- zontale Schönheit auch Menfchen fefleln kann, die die Schönheiten ftolzerer Länder reichlich genoffen haben. Der weitere Kreis aber heißt Oſtſee, Nordfee, Harz, Thüringen, fächfifhe Schweiz und Riefengebirge. In allen diefen Gebieten ift die Berliner Familie ein gangbarer Artikel für das Erwerbsbedürfnisg. Und daß fie auch in Oberbayern und Tirol nicht ver- ſchmäht wird, brauche ich den Kennern der Gafthöfe und Penfionen diefer Landesteile nicht erft zu fagen. Natürlich find die Kreife, die München, Nürnberg, Stuttgart fich fehaffen, nicht fo breit wie die, die fih Berlin erzeugt, aber vorhanden find fie und halb München liegt ja an gewiſſen Tagen im Gebirge. Befonders auffällig ift die große Zahl der reifenden Sachſen. Der Verdienft diefes Induftriegebietes hat, wie es jcheint, eine fabelhafte Neigung, fich der Erholungsinduftrie darzubieten. Erſt hinter den Berlinern und Sachſen fcheinen die Rheinländer zu fommen, aber auch fie ftellen ein tüchtiged Quantum. Se fapitaliftifcher ein Gebiet wird, deſto mehr erzeugt es Naturftationen. Man wagt gar nicht, in die Zukunft hinein zu phantafieren, welche Fülle von Menfchen in einigen Jahrzehnten auf allen Klippen figen wird, fich gegenfeitig durch ihre Menge die Natur verfürzend. Schon heute reiht fi) an der Dftfee Bad an Bad. Bald wird es von KRolberg bis Flensburg nichts als eine Linie von Heinen Häufern geben, vor denen Rinder in Wafchkleidvern frabbeln. Und die Nordfeeinfeln werden zu Hein und die belgifche Küſte wird deutſche Sommerfolonie. Wie aber foll Tirol ausfehen, wenn ed noch viel mehr Ulpenpilger gibt? Wo wird es in den ÖGletfchergebieten der Schweiz noch wahre eifige Einfamteit geben und wo wird man noch ftille Täler finden? Leberall, überall rinnt der Menfchenftrom. Und welche legte Platane wird nicht benugt werben, um ladierte Bänke unter ihr anzubringen? Man fieht fchon im Geift, wie die anfpruchsvolleren Reifenden dann noch mehr als jest nad Mor- wegen, in die Apenninen, ind WUtlasgebirge, in die Tiefen des Balkans flüchten werden, bi8 auch diefe Länder übergofjen find von der Unerfchöpf- lichkeit der Zivilifation.

Bleiben wir aber zunächft mit unferen Gedanken im deutfchen Inland! Was bedeutet die Leberflutung aller einigermaßen ſchönen Gegenden mit ftäbdti- ſchen Menfchen und ftädtifchem Geld? Man kann fagen, fie fei eine gerechte Wiedererftattung der großen Beträge, die alle Hauptftädte auf dem Wege

Friedrich Naumann: Fremdeninduftrie. 171

der Steuern und Hppothefenzinfen beftändig aus dem Lande berausziehen. Es ift nur feine gleichmäßige Wiedererftattung, denn was können die Bauern zwifchen Ulm und Augsburg dafür, daß fie nicht im Hochgebirge wohnen? Die Verteilung gefchieht nach dem Gefichtspunft: Schönheit ift Rente, ein Geſichtspunkt, der auch bei der volkswirtfchaftlihen Betrachtung der Ehe- ſchließungen nicht ganz unbefannt if. Der unverdiente Wertzumachs, von dem die Bodenreformer reden, tritt hier in feiner liebenswürdigften Form auf und ich bin weit entfernt, ihn fofort „wegfteuern“ zu wollen, weil er ald Trieb- kraft für die Erfchließung der Gegenden dient. Derfelbe „Zufall“, der fonft durch induftrielle Umgeftaltungen eine Gruppe Menfchen in die Höhe wirft auf Koften der anderen, wirft hier die alten Befiger biederer Dorfgafthöfe in die Höhe, big fie die potenteften Geftalten der ganzen Gegend werden. Un ihren Erfcheinungen fann man den Entwidlungsgrad der landfchaftlichen Schönheits- rente ablefen. Ein Wirt, der eine wundervolle Klamm hinter ſich hat, hört nacht3 die goldenen Bäche raufchen, und ein Bauer, deffen Vater in feiner erfchütternden Einöde faum zweimal im Jahr fremde Menfchen fah, gewöhnt fi) daran, daß ihm der Tribut der Gebirgsfletterer mehr einbringt als der Verkauf feiner paar Rinder. Und da im allgemeinen die Vorfahren aller der Menfchen, die feit einiger Zeit Geld in ihre Hände befommen, das fie früher fich nicht träumen ließen, ein fnappes, arbeitfames Dafein führten, fo bleiben fie auch bei dem größeren Gegen aus der Fremde meift rechnende Köpfe. Es tritt im ganzen fein Taumel ein, nicht einmal eine übergroße Spekulation im Bauen und Anlegen. Hie und da fieht man ein Hotel, das blind ins Blaue hinein gebaut ift, aber felten find es die Einheimifchen, die es auf- richteten. Es waren Großftädter, die den Landleuten Konkurrenz machen wollten und dabei nicht fühlten, was der Erholungsreifende eigentlich fucht, nämlich nicht eine AUftienplantage für Stadtpflanzen. Aber trog der DBe- fonnenheit, die man im ganzen den Befuchsgebieten der Städter nicht abfprechen fann, find fie in einer großen Gefahr, fi) und ihren Charakter zu verlieren. Sie müfjen fürchten, aus freien Leuten zu bezahlten Bedienten und aus unabhängigen Selbftwirtfchaftern zu Anhängfeln der Stadtwirtfchaft zu werden. Je weniger hoch und ftolz die Natur ift, defto größer ift für die Bewohner diefe Gefahr, denn gerade die Feine Sommerfrifche, das Heine Bad, die Wirtfchaft vor einem Berg von nur ein paar hundert Metern haben das Beftreben, durch Dienftfertigkeit und Anpaſſung die Schwäche ihrer natürlichen Schönheitsrente zu verbefjern. nd es ijt leider nicht zu leugnen, daß auch gerade die Stadtleute, die aus befcheidenen Ver- bältnifjen fich mit Opfern herausmwindend aufs Land fommen, nicht immer geeignet find, den Charakter ihrer Wirte zu erhöhen, da fie in der fnappen Freizeit da draußen ſich für die eintönige Gebundenheit ihres ftädtifchen Straßendafeind entjchädigen wollen. Das ift an der ſchweizer Bevölkerung immer wunderbar gewefen, daß fie durch die Maffe der Fremden zwar ver- ändert aber nicht eigentlich verborben worden if. Die hohe Kraft der alpinen Natur und die heilfame Gefamtwirtung der demokratifchen DVer- faffung und Lebensauffaffung haben fich als ftark genug ermwiefen, den Grund- charakter des Schweizer Volkes zu erhalten. Der Fremde kommt zu Leuten, die zwar gefällig fein und verdienen, aber fich dabei nicht wegwerfen

172 Sriedrih Naumann: Fremdeninduftrie.

wollen. Viele deutfche Gebiete haben erft die Probe abzulegen, ob fie die neuen Verhältnifje ohne Schaden ertragen lernen. Ein Teil des Nutzens des Landaufenthaltes für die Städter beruht aber gerade darin, daß fie draußen Charakter finden und nicht bloß Bedientenhaftigfeit und Trinfgeld- fchufterei. Aufgabe der Reifenden ift es, daß fie die Erhaltung bes Charakters der Gegenden, in die fie fich bineinwerfen, zu ſchützen Sonſt treiben wir Raubbau an den letzten Eindrücken natürlichen Volkstums, die der Ziviliſationsbürger überhaupt noch hat und verderben uns unſere Fremdeninduſtrie erſt moraliſch und dann volkswirtſchaftlich.

Leider iſt das deutſche Reichsgebiet an großen Naturſchönheiten von Weltruf nicht übermäßig reich, da wir aber die Tiroler und Schweizer wie Brüder anzuſehen pflegen, rechnen wir das, was ſie von uns finanziell an ſich ziehen, ihnen nicht mit ſaurer Miene zu. Immerhin geht von uns zu ihnen viel Geld außer Landes. Denkt, wie die Geldtaſchen derer ausſehen, die nach dem Vierwaldſtätter See fahren, und derer, die von dort oder vom Berner Oberland oder von Pontreſina heimkehren! Es mildert zwar den volkswirtſchaftlichen Schmerz etwas, wenn wir uns klar machen, daß vieles, was wir draußen verbrauchen, in Deutſchland hergeſtellt wird. Je weiter ſich aber die Außengrenze unſerer Erholungsſtationen in die Fremde erſtreckt, deſto weniger ſicher iſt dieſe Art des Austaufches. Wir ſchaffen Geld nach Italien, Oeſterreich, Schweden, Norwegen, Dänemark, Belgien, das durch keine Handelsſtatiſtik erfaßt werden kann, und können kaum rechnen, daß der Beſuch der Ausländer bei uns dieſe Ausgabe ausgleicht. Das ſoll uns nicht abhalten, die ausländiſche Schönheitsrente durch unſere Mitwirkung zu erhöhen. Der äſthetiſche Genuß und phyſiſche und geiſtige Gewinn der Auslandsreiſen iſt ſo groß, daß er von einem an Wohlhabenheit wachſenden Volke ruhig mit etwas materieller Einbuße bezahlt werden kann. Aber Vorbedingung iſt zu dem allen unſer eigenes ſteigendes Erwerbsleben. Unſere Maſchinen und Waren müſſen von aller Welt gekauft werden, dann erſt können wir auch im Schatten aller Eichen, Pinien oder Palmen liegen und dann erſt kann auch der einfache Mann ſich ein perſönliches Verhältnis zur Natur bei allem Induſtrialismus erhalten, nur dann. Aus der großen Sommerflutung ind Land hinaus muß neue gebeſſerte Arbeits- energie erwachfen. Gefchieht das nicht, dann ift die Ausgabe volfswirt- fchaftlih zu groß.

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Rundſchau.

Hansjakobs Schweizerfahrten.

Roſen der Alpen

Bluͤhn ohne Stacheln; Nimmſt du ſie talwärts, Treiben fie Domen, Danfios, je mehr bu Hegend fie pflegfi.

Dies Gedicht des Zuger Profeffors Herzog fiel dem Pfarrer von St. Martin ein, da er ſich befann, welchen Titel er dem Bericht über feine Schweizer Fahrten) geben follte. Jawohl, Schweizer Fahrten. Aber nicht mit der Eifenbahn, wie das gewöhnliche Touriftenvolf, fondern der Iofef fpannt die Schimmel ein, und der Herr Pfarrer fährt von Ort zu Drt: im jeweiligen Pfarrhof oder im Klöfterli wartet man ſchon auf den kuriofen alten Herrn, der lieber in feiner Kutſche im Land berumfährt, als mit der Teufelseifenbahn, und lieber eine Schüffel frifche Milch als Abendtrunf bat, als eine Flaſche Wein. Dafür ift fein Joſef fein MWeinfeind: der probiert in allen Schenfen umeinander, wo das fühlfte Bier und der goldenfte Tropfen zu finden fei. Derweil fist fein Herr in ftiller Stube und zeichnet fit) auf, was ihm der Tag gebracht bat: an Natur und Kunft, und vor allem an Menfchen. Berühmte Menfchen? Nein: denen läuft er lieber davon. Uber wenn man den Band weglegt, hat man eine Menge merkwürdiger Leute kennen gelernt: felbftlofe Pfarrer, fleißige Mönche, fromme Klofterfrauen, moderne Wirte und unmoderne Bauern, eine brave Gaaltochter, einfame Grau- bündner Küher und Basger, und nicht zu vergeffen, den Pfarrer von St. Martin in Freiburg: Heinrich Hansjakob. Wer äſthetiſche Schwelgereien erwartete, ift enttäufcht; wer ſich auf aparte Naturfchilderung gefaßt machte, nicht minder. Uber wer hoffte, einen Menfchen zu finden, hat ihn gefunden: einen Menfchen und einen Mann. Manchmal brummt er, denn er ift ein alter Mann in zwei Jahren wird er fiebenzig —: die Preußen mag er nicht, die emanzipierten . Wibervölfer mag er nicht und die Raten mag er auch nicht. Den Ruffen wünfcht er alle erdenklihen Prügel, die geiftlichen Geden und eren mit den violetten Krawatteln, die Monfignori und päpftlichen Hausprälaten wünjcht er ins Pfefferland, und die Automobile wünfcht er gleih gar zum Teufel. In— brünftig haft er Ludwig XIV., „den größten Mord» und Brandkönig, den die gebildeteren Hausfnechtömenfchen feinerzeit den Sonnenkönig nannten, Sata— nas 1.” In biftorifchen Dingen nimmt er fih fein Blatt vor den Mund. Er nennt die Säkulariſation ein Gottesgericht und Joſef den zweiten einen ebenfo brutalen als ungefchicdten Reformer. Er gibt offen zu, daß das Basler Konzil

) Alpenrofen mit Dornen. Reifeerinnerungen von Heinrih Hansjakob. Zlu- ftriert von Gurt Liebih. Verlag von Adolf Bonz & Comp. in Stuttgart. 585 Geiten. Sechs Mart.

174 Rundichau.

in feinem ehrlichen Beftreben, Haupt und Glieder der Kirche zu reformieren, von Rom aus geftört worden fei: „was überhaupt im Mittelalter an kirchlichen Reformen angebahnt und vollführt wurde, ging nie von Rom aus, fondern von einzelnen Männern.“ Er ift ein guter Demokrat. Einem PVorgefesten, der den LUntergebenen nicht wieder grüßt, wünfcht er die Strafe, die auf Gruß: unterlaffung fteht. Er ift dafür, daß man die Namens: und Geburtstagsfeiern der deutjchen Fürften abfchaffe, und dafür am 18. Januar den Geburtstag des Deutfhen Reiches feftlich begebe. Er bat feine belle Freude am Freiherrn von Mirbach, der Drden und Titel für Geld zu wohltätigen Ziweden bergab. Er liebt die Natur und das Bauerntum, alte Volkstrachten und große Mifthaufen, die Huffiten und die Priefterbärte. So zieht er, räfonnierend und nachdent- lich, durch die Schweiz. Berühmten Gegenden läuft er nicht mehr nach als berühmten Menfchen. Er kommt nicht nach Interlafen und nicht ins Berner Dberland, nicht nach Zermatt noch St. Moriz. Kleine Täler, ftille Dörfer, ein armer Pfarrbof das ift fein Fall; da kehrt er zu. Um Ende des Buches aber, ebe er fich feinen Zoll für Gäul und Wagen zurüdzahlen läßt, fagt er der Schweiz einen ftarten Ubfchiedsgruß und der Gruß wird zum Hymnus und endigt mit einem Segensſpruch:

„Die Schweizer haben fich felbft befreit Schritt für Schritt und Gieg für Sieg und zwar von innen heraus. Das Bergvolk bat der Freiheit zuerft eine Gaffe gemacht und fie dann binausgetragen in die Städte und in die Ebenen.

Und deshalb lieb ich vor allem die Schweizer Freiheit, weil fie eine Bauern- freiheit ift; weil Hirten fie auf ihren Morgenfternen leuchten ließen, bis der Tag diefer herrlichen Göttin angebrochen war im ganzen ſchönen Schmweizerlande, und weil diefe Hirten fo tapfer waren, daß ſelbſt die ſtolzen Städter nach ewigen Bünden trachteten mit den Helden der Berge.

So fteht fie denn vor uns, die hehre Jungfrau „Helvetia“, eine Leuchte der Volksfreiheit und ein glänzender Beweis dafür, daß ein Volk Jahrhunderte lang eriftieren, gedeihen, wachfen und blühen fann ohne Fürften, und daß, wie fhon der fchwedifche Kanzler Drenftierna in Bezug auf die Schweiz fagte, wenig Weisheit dazu gehört, ein Land in Ordnung zu balten.

Ohne Bürokratie, ohne Staatswiffenfchaften und ohne ein Heer von „ftu- dierten” Beamten geht die Welt ihren geordneten Gang in diefem Heinen Land der Bolfsfouveränität, in welchem die Staatsmänner ohne befondere Schule fich bilden an der freien PVerfaffung des Landes,

Auf allen Gebieten leiftet dies Heine Land Tüchtiges und Großes: In Wiffenfchaft, in Runft, in Induftrie, in der Landwirtjchaft.

Lleberall fieht man Behagen und Wohlſtand, nirgends einen Bettler, der dem Fremden die Hand entgegenftredt, um feinen Hunger zu ftillen.

Leberall Fleiß und Arbeit und Ordnung und Ruhe und Stille und Anſtand.

Und dazu wohnt diefes freie Volk in einem berrlichen Land, das wie feines würdig ift, ein Gig der Freiheit zu fein, in einem Lande, wo die Frei- beit über den Bergen weht und aus den GSturzbächen raufcht, wo die einzigen Majeftäten im königlichen Hermelin die Firnen find, die den Aether des Himmels füffen, wo die erhabenften Triumphlieder die Latwinen donnern und die Berg- flüffe fingen und wo die Natur ihre ganze Größe, ihre ganze Majeftät und ihre volle Freiheit einem freien Volle zeigt.

Bewegten und dankbaren Herzens nehme ich Abſchied von ſolch einem Lande und folch einem Volke, beftärkt in meinem alten Glauben an die Lebens- fähigkeit und an die Kraft der Demokratie; beglüdt, ein Volt gefehen und ge- funden zu haben, das groß ift durch fich felber, groß in feinem Freiheitsgefühl und feinem Abmangel jeglichen Rnechtfinnes und jeglicher Rnechtfeligteit.

Rundfchau. 175

Möge, fo lange die Gletfcher in der Ubendfonne glühen, fo lange von den Firnen ewigen Schnees die Bergwaffer raufchen, fo lange ein Hirte jauchzt auf hoher Alm, fo lange der Föhn fein Sturmlied brüllt in Täler und Schluchten möge fo lange die Republit Helvetia der Welt erhalten bleiben als ein leuchtendes Vorbild für Volksfreiheit und Volksregiment!“

München. Sofef Hofmiller.

Ludwig Ganghofer

wird am 7. Juli 50 Jahre alt. Wenn wir diefes Tages gedenken, fo werden wir dem Verdacht pro domo zu fprechen, nicht entgehen und wollen es auch gar nicht; denn es ift uns ein befonderes Vergnügen, daß wir unfere Mitarbeiter guten Gewiffens rühmen können. Der Bonz'ſche Verlag läßt zum 7. Zuli „Die Jäger“ von Ganghofer erfcheinen. Die erften Porträts aus diefer Sammlung baben wir im erften Jahrgang unferer SZeitfchrift veröffentlicht, die durch ihr Beftreben, die ſüddeutſche Volkskunde zu pflegen, wohl die erfte Veranlaffung zur fchriftlichen Firierung der Zäger-Gefchichten gewejen if. In dem Bande findet der Leſer eine Reihe prächtiger Gefellen: die Dioskuren von Zipfelbach, die beinah wegen fünfzehn Marfl miteinand überzwerch gefommen wären; den fürftlichen Saumwärter Xaver Nagl mit dem fchönen Leibfpruh „Vor nir muaß ma fi ferchten“. Da ift der alte Zäger-Llerle, der bei einer Hochzeit fich zu Tod er- ſchreckt, bei einer richtigen Bauernhochzeit, wo fie den Tanzboden im oberen Saal durchgetanzt haben; vierzehn waren bleffiert und drei tot. Der Wachtler Flori ift da, der vor dem herrlich gefrorenen Gebenfee in dumpfer Ergriffenbeit dafteht, und ganz ernfthaft jagt: „Herr Doktor, da därf ma net einitrappen mit Die dredeten Schuah!” Einer ift da mit dem Spisnamen Hans Dauerhaft, hinter dem die Wilderer an die ziwanzigmal fchon nachgefchoffen haben: „Net amal Schießen könnens, dd GSaulumpen, miferabligen!“ Da ift der k. b. Jagdgehilfe Joſef Weftler, zweiundreißig Jahr alt, drei Zentner wiegt er, und ein „Hindernis“ bat er, über das er nicht hinüberfommt. Der Chriftl ift auch da, der fieben Nächt lang mit dem Tod getanzt bat, und bat die Luftigfte Leich gehabt, feit die Welt ſteht. Noch manch andrer geht vorbei, gute und fchlimme Gefellen, und nicht alleweil liegt nur ein Bod da, wenn wo ein Schuß rat... Kurze, fnappe Geſchichten, fchlicht hinerzählt, wie man halt erzählt, wenn die Pfeife nicht zweimal angezündet werden fol. Einfache Scidfale, einfache Lebensläufe, mit dem Tod werden auch feine langen Gefchichten gemacht. „So hat er gebeißen, das ift ihm paffiert, wegen dem und dem.“ Cine männliche, oft erfrifchend harte und berbe Urt, zu berichten. Daneben, fparfam angedeutet, tiefe Weichheit des Gemüts, die neben robufter Anfaffung des Lebens fehr wohl befteht. Ein langer, langer Zug Jäger: keiner wie der andre, alle von fcharfem Auge gefeben, von fiherer Hand gezeichnet. Nicht nur mit der Hand auch mit dem Herzen.

Ueber Ganghofers neueften Roman „Der hohe Schein” haben wir im April» Heft berichtet. Unſere Lefer wird es freuen, nun den Dichter felbft über feine beiden legten Werke und auch über fein nächftes reden zu bören. Am 4. Dezember 1904 fchrieb er an Vincenz Chiavacci:

„Mein lieber Alter!

„Beftern bin ich von allerlei Fahrten und Wanderungen nah München zurücgefehrt, und da ich Bonz fveben gefchrieben habe, Dir ein gebundenes Eremplar vom „Hohen Schein“ zu fenden, ift meine Feder noch warm von

176 Rundfchau.

Deinem Namen, und da will ich flint einen Purzelbaum über meine gewohnte Schreibfaulheit machen und Dir einen Gruß fchiden und im Geift Euch alle abbuffeln.

„Vom Hohen Schein hoff’ ih, daß er Deinen Beifall findet. Nach mancherlei bittren Kämpfen der legten Sabre hab’ ich über diefem Buche meine Arbeitsruhe wiedergefunden den ungepreßten Klang einer vom Zeitfchnupfen erlöften Sängerkehle.

„An der Rompofition babe ich nachträglich vieles auszufegen aber die Note, die ich anfchlagen wollte, hat doch geflungen wie mir fcheint, ein Lebenslied, das zu Frobfinn und zur Helle binweift und zu den Göttern, die unfer Dafein ſchön machen.

„Manches in dem Buche wird wohl fchroffem Widerfpruch begegnen fo mein Zweifel am Wert der fpekulativen Wifjenfchaft. Uber was in mir ift, feit Sahren ſchon, das hab ich aus mir herausgefagt. Die Wirkung kümmert mich nicht.

Jetzt hoble ich fchon wieder an neuen Brettern. Im Herbft hab ich den 5. Roman aus der Berchtesgadener Serie begonnen. Er beißt „Der Mann im Salz“ und fpielt vor Beginn des dreißigjährigen Krieges nationale Serriffenheit im Fladerfchein der Herenbrände. Cine Zeit, die künftlerifch ſchwer zu faffen ift! Weil man immer vor der Gefahr fteht, daß die Wahrheit wirken muß wie Irrſinn und Pamphlet. Bei aller Reaktion von heute und aller fonfervativen Torheit des homo sapiens liegt doch eine weite, für das Berftändnis faum zu überbrüdende Kluft zwiichen der Gegenwart und jener Zeit, die den Hexenhammer gebar und fich binüberfchlängelte zum Prager Fenfterfturz.. Das Studium der Quellen ift mir eine Kette grauenvoller Er- fchütterungen. Um entfeglichften wirten immer vier Silben auf mich, die in den Dpferliften der Herenbrände zu bundertmalen wiedertehren:

‚Ein fremdes Weib‘,

„Mehr wußte man nicht von diefen Verlorenen, ale daß fie Weiber waren und fremd! Um diefer beiden Verbrechen willen mußten fie brennen.

„Da kann ich ftundenlang figen und immer binftieren auf dieſe vier Silben, unter einem Wirbel von quälenden Gedauten und bufchenden Bildern. Und immer ſeh' ich in den hilflofen Augen diefer Namenlofen den graufigen Schreck vor der Zeit, der fie angehörten. Aus dem Zittern diefes Grauens heraus hab ich den Stoff angepadt. Ein erquidliche® Buch wird das nicht aber ich denfe ein erfchütterndes, ein mahnendes!

„Daneben jchreib ich in Erholungsftunden eine Serie von Porträtftudien „Die Jäger“ fie alle, die ich feit meiner Kindheit kennen lernte, will ich getreu der Wirklichkeit nachzeichnen, ohne Beigabe, ohne Zufchnitt und Zu- geftändnie. Nur das objektiv Gefehene will ich fchildern, als einen Beitrag zum PVerftändnis des Volles und aller abfonderlihen Züge feines Lebens: gefichtes.

„Du ſiehſt, Urbeit liegt genug vor mir! Und ich habe Freude dran und Ruhe dazu. Obwohl mein fonftiges Leben auch manche Sorge und Un— rub fennt.

„Ach, guter Alter, wo find die fchönen, jungen, gefunden Seiten bin, in denen fih auch ein „Weltkataftropherl“') als eine Quelle des Humors für

) Wir machten und damals über die kofenden Diminutive der vormärzlichen Lyriker luftig und bildeten fcherzweife ähnliche Wörter, darunter das Wort: „Welt- fataftropherl”.

Chiavacei.

Rundſchau. 177

uns zu entpuppen pflegte! Und aller Schmerz mit einer Hakenſchwenkung zu neuer Freude führte!

„Was glaubft Du erft, an was ich gedacht habe, draußen in Hubertug, während der letten Schneenächte, wenn über die weißen Grate der fchöne große Stern aus dem Rätfelbau zu mir berunterfunfelte?

„Gottlob, Erinnern ift auch Erleben! Und oft fcheint mir, als wär’ es noch das bejlere.

„Alle Freuden des Lebens doppeln ſich in der Rückſchau. Lind meine fünfzig Sabre waren reich an Sauchzen und Lachen! Das klingt mir noch immer bell in den Ohren

„And weißt Du, Alter, ich hab einen dummen, jungen, Hugen Traum, Wenn unfere Rinder einmal im Strome des Lebens pritjcheln, dann bauen wir uns ein Häuschen! Irgendwo in der grünen Stille! Und ganz weiß muß es fein von außen und innen! Dann wollen wir uns in weißes Leinen Heiden und in weißer Stube mit weißen Geelen beifammen figen als lachende Patriarchen! Und mit den Rätfeln der Ewigkeit fpielen, wie mit Dominofteinen |

„Ob es fo kommen wird, weiß ich nicht; aber immer denk ich dran!

„Da Hingelt auf meinem Schreibtifch die Weckeruhr!

„Guten Morgen, lieber Zunge!

Dein Ludwig.“

Das Buch, deffen Aushängebogen diefer Brief entnommen ift „Ludwig Ganghofer. Ein Bild feines Lebens und Schaffens von Vincenz Chiavacci” erfcheint gleichfalls zum 7. Zuli im Bonz’fhen Verlag und gibt eine Lebens- gefchichte, die im höchften Grad anziehend wirken würde, auch wenn der Held ein beliebiger Unbefannter wäre. Wie der Sohn einer alten Forftmeifterfamilie, erfüllt von zunächſt unflarem idealen Streben, nach umfangreichen wiffenfchaft- fihen Studien durch feine Leidenschaft fürs Theater dazu getrieben wird, den berühmten Münchnern vom Gärtnertheater das von ihnen gewünſchte Stüd zu Schreiben, mit einem Schlag ein berühmter Schriftfteller wird, von der Bewunderung für den großen Dichter Anzengruber nah Wien gezogen, mit diefem feinem verehrten Vorbilde felbft in Berührung fommt, in der fchredlichen Nacht des Ringtbheater-Brands einen Bund fürs Leben ſchließt und dann mit der treuen Lebensgefährtin fich ein Leben, wie er es in der Jugend unklar und unbeftimmt erträumt hatte, nun wirklich erfämpft, das lieft fich wie ein Roman und zwar wie ein guter. Bis zu welcher Meifterfchaft aber in der ſcheinbar fo leichten, in Wirklichkeit fo ſchwierigen KRunft, Natur und Menfchen zu fchildern, er es im Verlauf diefes Lebens gebracht hat, brauchen wir nicht zu Jagen; die Gefchichte, die wir im vorigen und diefem Heft an erfter Stelle gebracht haben, fpricht fo kräftig wie wir e8 nur wünfchen können pro domo.

mn Un un f

Holbein und Bödlin.

Die Münchener Pinakothek befist ein Bildnis des Bryan Tufe, bes Schagmeifterse von Heinrich VIII. Vor dem koftbar gekleideten Mann liegt ein Zettel mit einem Zitat aus dem Buche Hiob: Numquid non paucitas dierum meorum finietur brevi. Zur Slluftration diefer düfteren Worte hat fich neben den ruhig dreinfchauenden Mann der blaffe Tod mit der Genfe gedrängt und deutet mit dem dürren Rnochenfinger auf das vor Bryan Tuke ftehende Stundenglas.

Süddeutfhe Monatshefte. U, 8. 12

178 Rundſchau.

Das Bild wird auf Grund der Inſchrift dem jüngeren Holbein zuge— ſchrieben und dieſe Zuſchreibung mag auch im allgemeinen ſtimmen, obwohl die Inſchrift nicht echt iſt.

Das Porträt befindet ſich eben ſchon ſeit dem 16. Jahrhundert im Beſitz der Wittelsbacher und hat dadurch eine viel zu gute Provenienz als daß man gegen die Taufe ohne zwingenden Grund viel Zweifel ausſprechen dürfte. Immer- bin ift die Arbeit etwas äußerlich und mitunter faft derb.

Nun fchreibt Waagen in feinem Werk über die Runftfchäge in England, dab das Bildnis des Bryan Tuke noch ein zweitesmal vorkomme und zivar in Grosvenorhoufe, wo die berühmte Sammlung des Herzogs von Weftminfter aufbewahrt wird, Waagen bemerkt dabei, da die englifche Replif den Mann ohne die Begleitung des Todes zeige. Das gleiche berichtet noch Scharf im Jahre 1868. Spätere Holbeinforfcher wie Woltmann haben das Bild in Gros- venorhoufe nicht mehr gefehen. Dem Berfaffer diefes Aufſatzes aber war als KRonfervator der Pinakothek der Fall wichtig genug um ihm näher nachzugehen; denn an dem Befund der englifchen Replik mochte fchließlich das Urteil über dag Münchener Eremplar weſentlich aufgellärt werden, jedoch fonnte er das von Waagen und Scharf erwähnte Bild nicht in Grosvenorhoufe finden. Der Sekretär der Sammlung war liebenswürdig genug, in einer andern dem Herzog von Weftminfter gehörigen Galerie recherchieren zu laffen; aber auch diefe Be— mühung war erfolglos, Während er mir nun die zur Recherche benüste Photo- graphie zurüdgab, ſah uns der fteinalte eisgraue immer noch ftattliche Portier von Grosvenorhoufe über die Schulter und fagte ganz beftimmt: I know this picture. It must be in this house; but there was not the death’s head. Der Mann bat gewiß Waagens und Scharfs Referate nicht gelefen. Er kann aljo als unbe- fangener Zeuge gelten und aus der Lebereinftimmung feiner Ausſage mit der der erwähnten Kunftforfcher gebt hervor, daß erſtens Waagen wohl recht hatte als er fagte, daß es ein zweites Bildnis des Bryan Tuke gab und dab auf diefem die Darftellung des Todes fehlte. Mehr habe ich über das Bildnis nicht erfahren können; aber troß diefer Dürftigkeit haben wir doch in Waagens ein ſehr ſchätzbares Material zur Beurteilung des Münchener Bildes erhalten.

Der Tod hat nicht nur auf der engliſchen Replik gefehlt, ſondern iſt auch urſprünglich auf dem Münchener Exemplar nicht geweſen. Man ſieht deutlich, daß die für die Unterſuchung der Echtheit alter Bilder jo wichtige Sprungbil- dung bei dem eigentlichen Bildnis fo fein und zart ift wie bei den altdeutjchen Gemälden überhaupt, während fie auf dem ganzen Hintergrund das Toten- gerippe mit einbegriffen nicht nur viel gröber, jondern überhaupt prinzipiell anders ift. Es kann fomit fein Zweifel walten, daß der Hintergrund von einer Farbmaffe bededt ift, die anderer Urt ift als die des Porträts jelbft.

Man fieht ferner, daß unter der Partie des Gkelettes, die über das Kleid des Bryan Tuke übergreift, diefes Kleid noch durchichimmert, daß alfo das Skelett über das Tuch gemalt ift und endlich fieht man, daß unter dem Stun— dengla® noch der karrierte Brofatftoff von Bryan Tukes Uermel in voller Deut: lichteit daliege. Wenn man dann das Bild aus dem Rahmen nimmt, zeigt fih auch, daß der Hintergrund in dem charakteriftifchen Grünblau gebalten war, das bei Holbein jo oft vorkommt. Es handelt fih alfo bier um eine der in = alten Pinakothek nicht feltenen Llebermalungen und Abänderungen an alten

ildern.

Wenn wir mın die Urt prüfen, wie das auf den Aermel gemalte Stunden- glas zur übrigen Behandlung paßt, fo zeigt fih, daß der zweite Maler aus Mangel an Plab recht ins Gedränge fam. Das Stundenglas ift übel in den

Rundfchau. 179

Raum gejtellt und befindet ſich eben an ungeeigneter Gtelle. Die offenkundige Fehlerhaftigkeit diefer Partie macht einen um fo fehlimmeren Eindrud, als der Urheber der Uebermalung nicht das gleiche gute Gold benüste wie der Meifter des Porträts, Die Nuancen des Goldes beim GStundenglas und beim Brolat ftehen ſehr hart gegeneinander.

Bösartiger als diefe Einzelheit wirkt die ungefchlacht lange Genfe, die der Tod vom rechten Rand des Bildes über deffen ganze Breite weg nach links geben läßt. Gie ift fo flach und zugleich plump, daß der Autor des knapp ge fchilderten Porträts, den wir einftweilen Holbein nennen wollen, unmöglich dafür verantwortlich fein kann. Er kann fchon deswegen nicht dafür verantwortlich ge- macht werben, weil der materiellen Schilderung des Metall in Form und feinem blintenden Glanz nicht entfernt die Beachtung gefchenft wurde, die man nicht nur bei Holbein im Allgemeinen, fondern auch im Befonderen bei diefem Bild- nis dem fogenannten Beiwerk gewidmet findet.

Trogdem ift die Trivialität im Urrangement der Genfe und die Gering- wertigteit ihrer malerifchen Erjcheinung nicht das fchlimmfte an der Darftellung des Todes. Viel peinlicher wirkt der Unterfchied zwifchen der zwar flauen, aber tonig warmen Behandlung des Todes und dem vornehmen, aber fühlen Email: glanz des Porträts. Heiß und Kalt, Süß und Sauer, find feine fo unverföhn- lichen Gegenfäge wie die Nuancen der Darftellung des Todes und des Porträts von Bryan Tuke. Hier ftehen fich zwei völlig verfchiedene Stile gegenüber. Der weiche, malerifch fo reich nuancierte vom 17. Jahrhundert und die fcharfe Sadhlichkeit des frühen 16. Jahrhunderts, dem Holbein angehörte.

Nicht nur malerifch genommen ftehen ſich aber bier zwei verfchiebene Seit: alter gegenüber, fondern auch im Fulturhiftorifchen Sinn läßt fich der gleiche Unterfchied erweifen. Die alte Zeit, zu der wir noch Holbein rechnen müffen, tannte feine Anatomie. Wie großartig ift Holbeins Totentanz, wenn wir ihn nur als Kunſtwerk betrachten, aber wie ganz verfehlt ift er vom anatomifchen Standpunkt aus, Woahrfcheinlih wäre er allerdings künftlerifch defto meniger gut, je mehr er anatomifch korrekt wäre. Die alte Zeit ließ den Menfchen auch als Gerippe noch leben, handeln, denken und ſprechen. Go ſchuf fie jene Ge- ftalten des Todes, für die der Anatom als folcher vielleicht nur Verachtung bat, aber die der übrigen Menfchheit die tiefften Gefühle aufwüblen, fo wie das eben Holbein in feinem Totentanz zu fun gewagt bat.

Der Tod auf dem Münchener Bildnis des Bryan Tuke dagegen bat nicht das Sprechende, Ergreifende, Aufregende der alten Todesfiguren. Er ift ein glatte afademijches Skelett, ofteologifch ziemlich wacker behandelt, nicht ohne einigen Stolz des KRünftlers auf die Kenntnis der Urtitulation des Rnochenbaus; aber er ijt fo gähnend langweilig, wie eben ein braves Gfelett fein muß. Er ift fogar etwas unangenehm, aber auch das liegt eben in feiner anatomifchen Korrektheit.

Von größtem Intereſſe wäre es nun, zu wiſſen, ob wenigſtens die nicht übermalten Partien von Holbein gemalt find. Auf dieſe Frage kann zur Zeit eine beweisfähige Antwort nicht gegeben werden. Die Lebermalung fälfcht den Eindrud fo fehr, daß man troß der unleugbar wenig qualitätvollen Urt des eigentlihen Porträts das Bild in feiner urſprünglichen Anlage dem Holbein nicht abiprechen darf. Das fieht man bejonders an dem Ausdrud des Mannes, der jest fataliftifch-phlegmatifch erfcheint und deſſen ftumpfes Lächeln man ver: fucht ift, als Gleichgültigkeit gegen den Tod auszulegen. Diefe Auslegung ift aber gewiß nur eine Unterfchiebung, die durch das nebenanftehende Skelett ber- vorgerufen wird. Alſo laffen wir am beften die Frage nach der Eigenbändig- teit der Ausführung durch Holbein auf Geite,

180 Rundfchau.

Mit dem Ergebnis diefer Llnterfuchung vergleihe man nun die Bemer- tungen, die Meier: Gräfe in feinem Buch „Der Fall Bödlin“ über das be- ſprochene Bild macht. Er ftellt e8 Bödlins Gelbftbildnis mit dem fiedelnden Tod gegenüber und kommt zu dem Refultat, daß diefes ein fchlechtes, weil un- einheitlich empfundenes Bild fei. Geite 95 fchreibt er: Noch empfindlicher ver- mißt man den lebensfähigen Organismus bei dem Gelbftporträt mit dem Tode. Es ift nur noch gerade der Verſuch gemacht, den Vorgang in das Malerifche zu übertragen, aber eilig, wie man in Kriegszeiten Brüden für die Soldaten baut. Bei jedem neuen Befuch entdeckt man neue Mängel. Es geht bei fchlechten Bildern genau entgegengefegt zu wie bei guten; fie werden immer fchlechter. Geite 113 ff. führt Meier-Gräfe dann den Vergleich ziwifchen dem Holbeinfchen Porträt mit Böcklins Berliner Gelbftbildnis weiter: „Der Zufall will, daß der foeben befprochene Vorwurf Bödling drei und ein halbes Jahrhundert vor ihm einem der größten Maler der Vergangenheit diente, einem Ahnen deutfcher Runft, vor dem wir uns alle in Verehrung beugen: Holbein. Und das Bild ift eines feiner Meifterwerte geworden.

„Auch Holbein malte einft einen Menfchen mit einem Totengerippe, ganz ähnlich wie das erwähnte Gelbftporträt Bödlins der Nationalgalerie: es ift das befannte Schagmeifterbildnis mit Tod und Stundenglas der Münchener Pina- kothek. Man weiß nicht, ob Holbein auf den Einfall fam oder der Kunde, ob es ihm angenehm war oder nicht. Er malte das Bild jedenfalls, ald ob es fo fein müßte. Das Gtelett ift bei nahem betrachtet eigentlich viel unbeimlicher als das Böcklins, ja es bat einen ungeheuerlich graufigen Ausdruck, während der Moderne das feine milder. Es grinft mehr als operettenhaft; mit der gewiffen oder vielmehr ungewiffen Gefte toter Knochen, die längft feine Haut mehr ge- fehen haben. Bei Bödlin geht der phufiognomifche Ernft des Menfchen einiger- maßen mit dem Memento mori zufammen. Bei Holbein aber gar nicht. Denn das Geficht des Schagmeifters lächelt in breiter, liebenswürdiger Behaglichkeit, als ſäße daneben ein hübfches Kind vom Hofe Heinrich VIII. oder als fpeifte er in befchaulicher Gefellichaft. Das beißt: der Holbein ift im Vorwurf viel fraffer noch ale Bödlin. Denkt man ihn fich nicht gemalt, fondern diefes breite, bebagliche Lächeln und dieſes graufige Gerippe in der Wirklichkeit nebeneinander, fo erhält man einen Kontraft, den man nicht ohne Entfegen oder Empörung ertragen könnte. Woher fommt eg nun, daß man bei dem fanfteren Bödlin nicht das Unbehagen, von dem ich fprach, unterdrüden kann, während der wilde Holbein zu den Lieblingen des Kunftfreundes gehört. Weil der Holbein pbänomenal gemalt ift und der andere nicht. Man vergleiche die grobe Unficher- beit Bödlins, feine faum zufammenhängende Materie mit der Art des anderen. So überwältigend ift die Runft in dem GSchagmeifter, daß nichts von dem Be- denklichen bleibt. Der furchtbare Rontraft im Gegenftande geht vor dem Kon— trafte der Farben unter. Das höhere Wunder gefchieht: die Schöpfung der Materie. Unendlich größer als der Mut zwei fo heterogene Dinge wie Leben und Tod zu vereinen, ift die Erfindung diefer Harmonie von Dlive, Gold und Schwarz; unübertrefflich diefe Zufammenftellung der Stoffe im Koftüm, die ficher fhon im Leben bewundernswert waren, bier aber eine über alles Brokat und Gold weit hinausgehende Pracht erreichen. Das Reichfte von allen aber fcheint mir juft der Tod. Er fteht mit feinem Dlive nicht nur in dem berrlichen Kon— traft zum Fleifchton, der fchwarzen Geide u. ſ. w., nicht nur bildet er in Umriß und Modellierung eine dem Lebrigen überrafchend angefchmiegte AUrabeste, fon- dern er entiwidelt noch obendrein in fich felbft eine nur dem Hauch vergleichbare AUbftufung der Farbe von fahlem Graubraun bis zum ftarfen Olive. Dadurch löſt fih das Scheußliche in Schönheit. Es verfchwindet nicht, wir fehen es ja

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deutlich, deutlicher als bei Bödlin, es verliert nichts von feiner fichtbaren Urt. Es gebt in eine höhere Eriftenz über. Hexerei gibt es nicht. So muß alfo wohl die Malerei der Wundertäter fein.“

Meier» Gräfe macht auf Geite 33 feines Buches eine etwas mißgünftige Bemerkung über die „Renner“ der alten Meifter. Er wird fich alfo durch die oben angeftellte Prüfung von Holbeins Bildnis kaum fehr betroffen fühlen und wie das in folhen Fällen üblich ift, fagen, daß es ihm gleichgültig fei, wer den Tod gemalt babe, ob Holbein oder ein anderer, wenn die Malerei eben nur gut fei. Darum möchte ich diefe Gegenrede bier fo weit wie möglich fchon im Boraus entkräften.

Ein Kunſtwerk wird, je beffer es ift, deſto mehr Stil haben: nicht nur den perfönlichen Stil des Meifters, fondern auch den der Zeit, in der es ent- ftanden ift. Unter allen Umſtänden bedeutet darum die im Gtile einer andern Zeit oder Perfon ausgeführte Veränderung eine Störung der alten ftiliftifchen Einheit. Ob die Erweiterung gut oder fogar noch befjer gearbeitet ift ald das Werk urfprünglih war, kommt dann weiter nicht in Betracht. Die fchönfte Rototofapelle wird an einem romanijchen Dom immer ein ftörendes Beiwerk bilden, wie man das z. B. an der gewiß fein gebauten Schönbornfapelle fehen kann, die den an fich weniger fein fonjtruierten alten Würzburger Dom nicht etwa fchmüdt, fondern entftellt. Unſere prezidfen Gefchmadsrichter von heute fönnen es faum ertragen, wenn man ein Gemälde nicht in den Rahmen jtellt, der ihm aus ftiliftifchen Gründen gebührt; aber wenn das Gemälde dann in feinem inneren Aufbau fo von Grund auf verändert wird, wie das des Bryan Tule, fönnen fie doch in Entzüdung geraten. Weniger Raffinement des Gefchmadesg, aber mehr Ronfequenz und Urfprünglichkeit der Anſchauung wäre entichieden beifer.

Der befprochene Bergleich zwifchen Holbein und Böcklin bat noch ein ganz befonderes Intereffe. Meier-Gräfe gehört gewiß zu jenen, die fich zu einer vorurteilslofen Auffaffung der alten und neuen Runft befennen. Ob ein Bild von Holbein oder von Böcklin gemalt fei, gibt ihnen, wenn man ihren Worten glaubt, nicht den AUusfchlag bei der Beurteilung des Wertes. Gie behaupten mit Recht, daß ein vollwertiges modernes Kunſtwerk nicht verliere, wenn man es mit einem erftklaffigen alten Meifterwerf vergleiche. Uber ich fürchte doch ſehr, daß wir es hier nur mit einer allerdings fehr guten Theorie zu tun haben, die in der Praris nicht befolgt wird. Im gegebenen Fall wenigitens handelt es fih um ein altes Gemälde, das von Haus aus wohl nie fehr gut gewefen ift und das in fpäterer Zeit fehr unglüdlich umgearbeitet wurde, Uber das Ge- mälde ift ein Porträt und foll von Holbein d. j. ftammen. Nun kommt die ewig zu beobachtende Befangenheit und jene Urt der Beurteilung, die nicht die vorhandenen Tatfachen Har beobachtet, fondern mit Hilfe von Bernunftsfchlüffen freilich unvernünftig genug den Wert des Kunſtwerkes feftzuftellen fucht. Der Gedantengang ift bier folgender: Das Bild ift nicht bezweifelt; alfo echt. Ein echtes Porträt von Holbein d. j. muß immer gut fein. Alſo ift das vorliegende Bild gut, womöglich fehr gut und muß darum beivundert werden. Daran fnüpft fih der weitere Gedantengang: Holbein ijt der Urheber des Tootentanzes, der glänzendften Paraphrafe über den Tod, die der bildenden Kunſt überhaupt ge lungen ift. Das Porträt enthält ein Skelett, das jedenfalls auch von Holbein gemalt ift; denn es ift noch nie bezweifelt worden. Das Skelett muß aber erſtens gut gemalt und außerdem erfchütternd tiefjinnig fein. Indem dann beide Ge- danfengänge fich verbinden, entſteht das Schlußrejultat der verfchiedenen logifchen Operationen: aus dem entitellten Bildnis des Bryan Tuke, das möglicherweife nicht von Holbein berrührt und niemals fehr bedeutend war, wird ein Meifter- werk erften Ranges, gegen das jedes andere Porträt, auf dem ein Skelett oder

182 Rundſchau.

Totenkopf vorkommt, einen ſchweren Stand hat. Iſt dann gar die Theſe zu beweiſen, daß Böcklins Selbſtbildnis mit dem fiedelnden Tod ein ſchlechtes Bild iſt, an dem man bei jedem neuen Beſuch neue Mängel entdecken wird, dann braucht das Holbeinſche Bild nur reſolut gelobt zu werden und der Böcklin iſt in Grund und Boden kritiſiert.

Meine Abſicht iſt hier nicht für Böcklin einzutreten; denn für meinen Ge- ſchmack bat er zu viel alademifches in der Farbe und arbeitet zu fehr mit einem wenig variablen Apparat der faft ftet? gleichen Stimmungen und Figuren, als dab das Llrteil über ihn nicht noch einmal revidiert werden müßte. Aber vieles von dem, was Meier-Gräfe an Holbein lobenswert findet, das trifft für Bödlin zu, vor allem die Cinheitlichkeit der Konzeption, und nichts von dem, was aus dem durch Meier-Gräfe gezogenen Vergleich gegen Bödlin zu folgen fchien, läßt fich bei einer genauen Prüfung des Münchener angeblichen Holbein aufrecht halten.

Münden. Rarl Boll

Bon fchweizerifcher Runft.

PVielartig wie Natur und Sprache ift die Kunſt der Schweiz. Das glüd- liche Fehlen einer Akademie hat fie vor Uniformität bewahrt. Im Ausland lernen die meiften Runftjünger; aber die fremde Schule, die Anregungen einer anders gearteten Landfchaft, fie haben den Gelbftändigen noch nie ernftlich ge- fchadet, ihre Eigenart nicht vermifcht und verwifcht. Arnold Bödlin ift allem Italien zum Trog fein Romane geworden. Auf die Suche zu geben nach dem, was das ganze Spezififche des Schweizer Künftlers ausmacht, wäre unfres Er— achtens verlorne oder doch überflüffige Mühe. Welfche und deutfchichiweizerifche Kunft gehen in ihrem Wefen recht bedeutfam auseinander. Im ganzen ift das Geficht der erftgenannten nah Weften, nach Paris gerichtet, und einzelne könnten auch recht wohl als Parifer Maler angefprochen werden, namentlich was ihre ganze Faktur, was ihre Fünftlerifche Handfchrift betrifft. Uber auch innerhalb der Deutfchfchweizer felbit, denen an diefer Stelle naturgemäß allein unfer Intereffe zu gelten bat, wieviel Differenzpunktte je nah Schulung, Talent, Individualität! Man braucht gegenwärtig nur die Malertolonien zu vergleichen, die Bafel, Bern, Zürih in ihren Mauern oder in ihren Umgebungen beherbergen: es gibt an allen drei Drten mehr oder weniger eng zufammenhängende Gruppen von Kunit- befliffenen, diefe find aber unter fich überaus ſtark verfchieden, in der Urt ihrer Naturauffaffung und -Wiedergabe, in ihrem figürlichen Gtil, in ihrem formalen und koloriftifchen Wollen. Und neben diefen vielfah noch nicht völlig ausge: reiften, aber in ihrer Richtung bereits recht kenntlich markierten Malern (die Bildhauer bedeuten leider nicht allzuviel) Erfcheinungen wie Albert Welti, wie Ferdinand Hodler, wie Cuno Amiet, um die drei zu nennen, die in letzter Zeit wohl zu den meiftgenannten Schweizer Künſtlern auch in deutfchen Landen gehören.

Mit feinen Radierungen hat fih Albert Welti, der Zürcher, fchon feit einer Reihe von Jahren in Deutſchland bekannt gemacht. Geine Bilder fah man an den AUusftellungen in München, in defien Nähe der Künftler lebt. Welt ift eine köſtliche Individualität, voll munterer Fabulierluft, voll fonnigen Humors, voll tiefen Gemüts, aber, wie beftimmt betont fei, in erfter Linie ein Künftler, der in lebendigfte bildliche Anfchauung umzufegen weiß, was feine reich und launig fchaffende Phantafie in feinem Geift auffteigen läßt. Welti verlangt Kunftfreunde, die fchauen und empfinden; fie follen ihm liebevoll auch auf feine Nebenwege folgen, in feine Arabesken hinein; fie follen ihm aufmerkſam

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zuhören, wie und was er im Bilde erzählt. Seine Phantafie hat etwas Volts- tümliches, naiv Einfaches bei aller fprudelnden Fülle Für die herrliche Mond- nacht-Radierung, wo das Paar auf dem Prachtbett ruht, er dumpf fchlafend, fie fehnfuchtsvoll wachend, und draußen, durch das offene Fenfter, ein einfamer Reiter fichtbar wird zu diefem Blatt könnte man ſich ein Gedicht „im Volks— ton” denten voll Melancholie und Liebeswehs. Uber ob all diefem feelifchen Gehalt darf man nicht vergeffen, daß man ein vollgültiges Kunſtwerk vor fich bat, das aus ſich allein fein Eriftenzrecht herleiten fann. Der Geiger auf dem Kirchhof bei Mondfchein die jüngfte von Weltis Radierungen, die auf Weih- nachten erfchien löſt fchon durch das Mittel der Licht: und Schattenführung, der Verteilung von Hell und Dunkel jene traumbaftelegifhe Stimmung aus, die das ganze Thema in fich verkörpert. So Hingt auch das KRolorit auf Weltis Bildern mit feiner Haren, präzifen, faubern Farbigkeit, mit der bei Bödlin ge- lernten Farbenfreudigkeit, fein und harmonifch mit dem was das Gemälde fchildert zufammen. Ich könnte mir eine Radierblatt: oder Bilderfolge Weltis zu Dich- tungen Gottfried Kellers, etwa zu deffen wunderherrlichen Legenden, denken, die neben dem Pichterwort fich ganz felbftändig behaupten würde, weil fie niemals im GStofflichen fteden bleiben, fondern ftet8 darüber hinaus zu einer bildmäßig künftlerifchen und darum ihren eigenen Wert in ſich tragenden Faffung gelangen würde. Man darf von Albert Welti noch viel Schönes und Herzerfreuendes und Eigenwüchſiges erwarten. Gin durch und durch origineller Menſch von teichem, lauterem Gemüt und dabei ein KRünftler von reifem, abgeklärtem Können, ift er unter den lebenden deutfchfchweizerifhen Malern wohl der volllommenfte alemannifche Künftlertypus. Hebel und Keller find feine Geiftesbrüder.

Ein völlig anderer ala Welti ift Ferdinand Hodler. Er ift ein Berner, und von urwüchfiger bernifcher Kraft fteckt ein gut Teil in ihm. Die Geftalten auf feinem prächtigen Schwinger-tmzuge, der im Süricher Künftlergut hängt als eines der vorzüglichiten Stüde der Sammlung, find fo, wie man fich Gotthelfiche Figuren vorſtellt. Und fie haben noch eins mit den Bauern gemein, die der Lügelflüher Pfarrherr vor uns binftellt: die große, fefte, einfache Linie, den faft monumental zu nennenden Zug. Gotthelf und Hodler find erftaunliche Zeichner, Meifter der fchlagenden, das Wefentliche auf den erften Anhieb treffenden Linie. Bei Hodler fommt dann noch etwas hinzu. Wie er infolge feines Aufenthalts in Genf das Franzöfifche weit ficherer beberrfcht ala das Deutjche, fo läßt fich auch in feiner KRunft etwas entdeden, was man als ein romanifches Element bezeichnen könnte: der Sinn für die große, ausdrudsvolle Gebärde, etwas GSta- tuarifches. Nicht umfonft find fchon wiederholt in Deutfchland, wenn von Hodler die Rede war, die Namen Giotto und Michelangelo genannt worden. Es lebt etwas von diefer wuchtigen, einfachen Größe in Hodlers Schaffen. Daher zieht es ihn auch umtiderftehlich zum Fresto bin. Gein Bildftil ift Freskoftil; fein ganzes malerifches Verfahren aus dem Geift des Freslo geboren, feine ganze Bildgeftaltung immer in erfter Linie gedacht und berechnet ald Ausſchmückung der feften Wand. Daher lauter ftarke, fprechende Akzente, nichts Leberflüffiges; Klarheit und LHeberfichtlichteit des Bildfeldes; deshalb möglichfte Vereinfachung der Rompofition: lieber ein reliefartiges Nebeneinander, als ein gruppiertes Hinter⸗ einander; denn der Eindrud des Flächenhaften fol nach Kräften gewahrt bleiben. Hand in Hand damit geht dann die Vereinfachung der Landfchaft, die mehr linear andeutet und das Figürliche leife accompagniert, als räumlich plaftifch fi entfaltet. In der reinen Landfchaftsmalerei, die Hodler gleichfalld mit aue- gezeichneter Eigenart pflegt, machen fich diefe Prinzipien geltend in der Art, wie immer nur das Wefenhafte, das Charakteriftifche des Naturbildes gegeben wird, wie in breiten Flächen mit erftaunlicher Einfachheit die Farbe bingefegt ift, und

184 Rundfchau.

dann, wie die ganze Linienführung vereinfacht, nur das GSprechende und Ein- drückliche ertrabiert wird. Go entwickeln diefe Landfchaften in ihrer Haren Fär⸗ bung, in ihrer wuchtigen Einfachheit und Konzentration eine Frifche und Kraft, die ihresgleichen in der modernen Landfchaftsmalerei fuchen. Zugleich find fie wahre Mufter echt deforativer Wirkung.

Hodler liebt felbitverftändlich den nadten Körper, an dem er den ganzen Reichtum der Form und Bewegung am einleuchtendften darlegen kann; und wo er das Gewand gibt, da geht fein Beftreben ſtets dahin, daß es in feiner vereinfachten Urt nur „das taufendfache Echo der Geftalt” wird. Jeder Falten- wurf erhält Leben und Ausdrud. Und zu welcher fprechenden Kraft und Ein- dringlichkeit gelangt alles, was Körperbeiwegung heißt! Die Drehung in den Ge- lenken, die ausgreifende Gebärde, das ruhige Wandeln, das ftolze Schreiten, das müde Zufammentniden alles wird vollftändig deutlich und Har gemacht, und lieber opfert Hodler die Linie der Schönheit, ald daß er das Charafteriftiiche im geringften zu kurz kommen ließe. Das ift wieder ein echt germanifcher Zug in ihm.

In der Welt des Symbolifchen, man könnte auch wohl fagen der Ab— ftraftion fühlt ſich Hodler heimifh. Es berrfcht ein Rhythmus in feinen Bildern, dem feine Geftalten, nebeneinanderfigend, hintereinander im Gänſemarſch fchrei- tend, im Halbkreis ftehend oder fich lagernd, gehborchen. Leber der Aus— dructsfähigkeit der Bewegung wird die des Gefichtes nicht vernachläſſigt. Es gibt bei Hodler Köpfe von einer pfuchologifchen Tiefe, die ſolchen Dürers nichts nachgibt. Alles ift mit Form gefättigt, und doch gehen darüber die großen Zu- fammenhänge, die Einbeitlichkeit der Erfcheinung nie verloren.

Hobdler ift der monumentale Figurenmaler kat’ exochen. Wie fchade darum, daß ihm bis jest erft einmal Gelegenheit zu einer eigentlichen Fresko— aufgabe geboten ward: dem Rückzug der Schweizer Krieger nach der Schlacht von Marignano, den Hodler in drei Feldern der einen Schmalfeite der Waffen: balle des Schweiz. Landesmufeums in Zürich gemalt hat. Der Karton zu dem Hauptbild, dem eigentlihen Rüdzug, bat letztes Jahr in der Berliner Sezeffion größtes Aufſehen gemacht. Hodler hat das Zeug zum Hiftorienmaler in fich, freilich nicht im Ginne einer antiquarifch-eraften Gefchichtsmalerei, wohl aber im echten Sinne einer das Große und QAUusfchlaggebende einer Aktion feit und mächtig und Har herausarbeitenden Darſtellung. Man muß im Basler Mufeum Hodlers Skizze zur Schlacht bei Näfels fehen, um zu wiffen, wie diefer Maler folche mit tonventioneller Langweiligfeit oft bis zum Unerträglichen belafteten Szenen künftlerifch zu löſen weiß mit feiner markigen, vereinfachenden, ftilvollen Kunſt.

Wenn wir Welti und Hodler hier noch Cuno Amiet anſchließen, ſo geſchieht dies vor allem deshalb, weil Amiet, ein gebürtiger Solothurner, als Koloriſt eine ganz beſondere Stellung unter den Schweizer Malern einnimmt. Er hat von Hodler unzweifelhaft ſtarke Eindrücke empfangen; in dieſer Schule lernte er vor allem das Geheimnis des vereinfachenden Stils zum Zweck ſtarker, eindringlicher Wirkung. Uber zu diefem mehr formalen Einfchlag Hodlers brachte Amiet von Anfang an ein ihn Eennzeichnendes ausgeprägtes koloriftifches Wollen mit. nd dadurch, daß er diefes nun nach der ausgefprochenen dekorativen Geite bin immer mehr ausbaute, fand er feinen eigenen Stil, der von der Farbe aus oder noch genauer von der farbigen dekorativen Flächenwirkung aus Landfchaft: liches und Figürliches organifiert. Wie die Farben fich gegenfeitig fteigern, wie ein Ton den andern ruft und bedingt, wie fie ſich gegenfeitig zu einem ſchmückenden Gefamteindrud verbinden das macht das Wefen und den Charakter der Bilder Amiets aus. Ein ungemein kräftig und fein reagierendes® Farbenempfinden lebt fih in feinen WUrbeiten aus, Die Naturbeobachtung wird dabei nicht etwa ver-

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neint, aber fie wird in lester Inſtanz immer diefer fchmüdenden Funktion des Bildes dienftbar gemacht. Die Raumwirkung wird nach Kräften ausgefchaltet, das Flächenhafte fol (nach japanifhem Mufter) das Entjcheidende fein, und wie in diefer Fläche die Farben zufammenftehen, welch ein Eindrud ſich aus ihrer Ver- bindung und KRontraftierung ergibt, das foll den äjthetifchen Charakter des Bildes beftimmen. Amiet ſchreckt bei diefem fouverän malerifchen (oder farbigen) Ver— fahren vor Gewalttaten gelegentlich nicht zurück. Um der farbigen Impreffion willen fchlägt er unter Umſtänden auch dem guten Gefchmad ein Schnippchen. Uber es geht von feinen gelungenen Sachen ein fo frifcher, kräftiger Hauch aus, die dekorative Wirkung ift nicht felten eine fo intenfive, ja blendende, gelegentlich auch wieder eine fo ungemein belifate, daß man wohl verfteht, warum Amiet im legten Jahre gerade in der Wiener Gezeffion, wo er (zugleich mit Hodler) mit ungefähr dreißig Bildern vertreten war, fo vielen Anklang gefunden bat.

Auch Cuno Amiet gehört zu den ftarfen, originalen künftlerifhen Potenzen der Schweiz, und darum durfte juft bier, wo es fich in erfter Linie darum handelte, auf eigentliche representative men unfere® Kunſtſchaffens aufmerffam zu machen, fein Name nicht fehlen.

Zürich. 9. Trog.

VI. Tagung der Schweizerifchen Tonkünſtler in Solothurn, den 1. und 2, Zuli 1905.

In Celtis nihil est Salodoro antiquius; unis Exceptis Treveris, quarum ego dicta soror.

Am Marktturme, dem Wahrzeichen Solothurns, ftehen die ftolzen Verſe des Dichters Glareanus eingemeißelt. In ihren fnappen Worten ift eine lange Gefchichte niedergelegt; die zweitaufendjährige Entwidlung vom NRömerkaftell zur Hauptitadt des eidgenöffifchen Kantons. Freilich, vom alten Salodorum ift wenig übrig geblieben, die Alamannen haben auf ihren Verheerungszügen alles weljche Wefen gründlich weggefegt und die Stätten der römifchen Kultur dem Erdboden gleichgemadt. Die heutige Stadt geht auf die bald nach der Zerftörung des Kaftelld erfolgte fränkifhe Neugründung zurüd; die Frankenfiedelung, die freie Reichsftadt, die eidgenöffiihe Stadt unter dem franzöfifchen QUmbaffadoren- regiment reden in zahlreichen Hinterlaffenfchaften ihre eindringliche Sprache. Und zu allen Zeiten haben die Solothurner diefer Sprache gern gelaufcht; der Stolz über das ehrwürdige Ulter des heimeligen GStädtchens fchwellt ihnen noch heute die Bruſt. Die Phantafie der Jahrhunderte ift in den Dienft der Heimatliebe getreten, und eine reiche legendäre Leberlieferung verknüpft die einzelnen Seit- abfchnitte zu einem erbebenden Geſamtbilde. Auch Märtyrergefchichten aus frübhefter Zeit fehlen nicht, die Blutzeugen find St. Urfus und St. Viktor. Bor der Gefahr eines ausſchließlichen Vergangenheitskultus bat die Golothurner all- zeit ihr unternehmender vorwärtsdrängender Geift bewahrt. Mit einem feltenen Perftändnis für die kulturellen Bedürfniffe unferer Zeit und unter großen ma— teriellen Opfern haben fie fo in den letzten Sabrzehnten für Kunft und Wiffen- fchaft Stätten errichtet, die man gewiß nicht in einem Städtchen von zehntaufend Geelen fuchen würde. Der Saalbau, der den ftilvollen Rahmen für die Ton- fünftlertagung abgab, enthält für Theater- und Konzertdarbietungen zwei Räume von vornehmer Intimität. Das Mufeum birgt wertvolle Schweizer-Ultertümer, eine einzig daftehende Sammlung von Petrefatten aus dem Jura und eine wert volle Gemäldegalerie, in der u.a. Holbein d. j., Ribera und van Dyd vertreten

186 Rundfchau.

find. Das Hauptftüd der bedeutenden archäologifchen Abteilung ift die „Venus von Golothurn“, eine 60 cm hohe Marmorfigur im Charakter der Venus von Medici. Das ehrwürdige Zeughaus endlich birgt in feinen Mauern die größte fchweizerifhe Sammlung von Rüftungen und Waffen. Was an alten Bau- dentmälern die Stadt ziert, Patrizierhäufer, Brunnen, Baftionen, ift in fo un— aufdringlich feiner Weife aufgefrifcht, daß in meinem gut pfälzifchen Herzen wehmütige Erinnerungen an das barbarifch aufladierte Heidelberger Schloß wach wurden.

Soviel von Solothurn, dem traulichen Feftorte, der mir in den kurzen Tagen and Herz gewachfen. Die bier empfangenen Eindrüde waren mir ein jo weſentliches Stimmungsmoment für die Beurteilung des Feftes, daß fie felbft aus einem kurzgefaßten Berichte nicht wohl auszufchließen waren.

Der Samstag war den Rongreßfigungen vorbehalten. Matthis Luffy, der bedeutende Mufittheoretiter und feinfinnige Wegleiter auf den ſchwierigen Ge- bieten der Rhythmik und des mufikalifchen Ausdruds, verbreitete fih in hoch— intereffanten, wenngleich ftart zum Widerfpruch reizenden Ausführungen über „l’Anacrouse dans la musique moderne“, Die Anregungen, die E. Jaques-Dalcroze in feinem PVortrage „über mufitalifchen Unterricht“ gab, werden vorausfichtlich große praftifche Bedeutung gewinnen. Die Generalverfammlung der Tonkünftler bat den Genfer Meifter beauftragt, feine Ideen auszuarbeiten und dem Erziehungs: departement zu übermitteln. Saques') geht von völlig neuen Prinzipien aus und fonnte in der Tat überrafchende Refultate feiner Lehrtätigkeit aufweifen. Zu näherem Eingehen muß leider auf die Brofchüre verwiefen werden.

Die Konzerte vom Sonntag braten ausſchließlich Kammermuſik. Den größten Eindrud machte Hans Hubers Violinfonate „Appasionnata“, die in mufter- gültiger Wiedergabe durh HG. Marteau und W. Rehberg aus Genf geboten wurde. Don den Jüngeren hatte Volkmar AUndreae, der im legten Jahre mit feiner fimfonifhen Fantafie (Schwermut Entzüdung Bifion) in Frant- furt a. M.?) Aufſehen erregte, mit feinem Gtreichquartett in bdur einen durchichlagenden Erfolg, Wir hatten feinerzeit die Uraufführung des Wertes in Zürith angehört; der damalige trefflihe Eindrud wurde nun durch die vollendete Interpretation des Genfer Marteau-Quartettes vertieft. Das Quartett ift eine geiftoolle Rompofition von großem Klangreiz und außerordentlicher Wärme. Bon mufifalifchen Qualitäten tritt ein feines Gefühl für intime Wirkungen des Rhytb- mus hervor. Wir find überzeugt, das impulfiv frifche, fo einheitlich aufgebaute Wert wird erfolgreich feinen Weg durch Deutfchlande KRonzertfäle machen. Henri Marteau, der gefeierte Geiger, der Adagio und Fuge aus der Badh- fhen gmoll Sonate für Violine allein muftergültig vortrug, fteuerte felbjt ein Streichquartett in ddur bei, dem leider bei unverkennbar feinen Einzelzügen und vornehmer Diktion die leitende Idee und damit tiefere Wirkung abgeht. MWoldemar Pahnke, Bratfchift des Marteau-Quartettes, läuft Gefahr, mit feinem a moll Streichquartett in das entgegengefegte Ertrem zu verfallen; feine feine, ſehr zurücthaltende Urt, feine körnig-herbe Harmonik berührt fympatbifch, doch reißt das Werk, deffen Themenmaterial faft ausfchließlih auf den gleichen Ton- folgen aufgebaut ift, den Hörer nicht eigentlih mit ſich. Don E. Jaques- Daleroze, deffen ingeniöfe Anregungen auf dem Kongreffe wir leider fo kurz abmachen mußten, hörten wir die Gerenade für Gtreichquartett op. 61. Die fech8 äußerft feinfinnig und grazidös gearbeiteten Tonſätze des liebenswürdigen

y Vol. feine bei Gebr. Hug erfchienene Brofchüre: Vorfchläge zur Reform des mufitalifchen Schulunterrichtes. Züri und Leipzig. 1905. ») ©. den Bericht Paul Marfops im Auguftheft 1904.

Rundfchau. 187

Meifter8 gewannen mit den erften Tönen die Herzen der Hörer und errangen den gleichen warmen Erfolg wie auf dem Grazer Mufikfefte. Die Werke der beiden Suisses Romands Marteau und Saques brachte das Basler Streich- quartett prächtig zur Geltung; Undreaes und Pahnkes Quartette fpielte das Marteauquartett mit gewohnter Meifterfchaft. Bon fonftigen Inftrumental- werten fielen E. Blanchets „Variations sur un thöme original* für Klavier durch wirkungsvollen polyphonen Sat auf, der virtuofe Anforderungen ftellt. Bokalquartette von $. Karmin und 3. Lauber mußten leider ausfallen.

Am Ende des Feſtes angelangt, ftehe ich nicht an, den Gefamteindrud von dem zeitgendffifchen fchweizerifchen Mufitfchaffen, wie ich ihn in Solothurn empfing, als hervorragend günftig zu bezeichnen. Schon die Tatfache, daß Rammer- mufifiwerte von durchweg vornehmer Geftaltung in folcher Zahl geboten werden fonnten, fpricht für den fünftlerifchen Ernft der meift noch in jüngeren Sahren ftehenden Romponiften. Llnbefchadet der Gigenart der verfchiedenen Künftler- perjönlichkeiten weiſt das fchweizerifhe Mufitfchaffen unverkennbar bedeutfame einheitliche Züge auf. Für den Geift diefes Schaffens ift die Schilderung des Feftftädtchens Solothurn, wie fie zu Anfang gegeben wurde, faft fymbolifch. Hier wie dort die alten Traditionen einer urwüchfig bodenftändigen Rultur, neu belebt von dem kräftig vorwärts drängenden Geift einer neuen Seit. Es weht ein frifcher Zug in der fchiweizerifchen Runft, der fie dem beften in den Schwefter- nationen ebenbürtig zur Geite ftellt. Als ich vom fonnenüberfluteten Gipfel des Weißenftein auf die weiße AUlpentette fchaute, zu meinen Füßen Solothurn und die Aare, eingerahmt von fattem Wiefengrün, da war mir, als müßte ich rufen: Schweizerland, deine Künftler find deiner wert!

Zürich-Fluntern. Deter Rap.

Die Pinaktothef-Frage.

Seit dem Erfcheinen des Artikels „Runft und Künftler“ im Mai- Heft ift aus der Ankaufstommiffion der Königlichen Pinakothek ein Mitglied (Künftler) ausgefchieden, infolge deffen deren LUmbildung notwendig geworden. Auf Wunfch der Redaktion lege ich meine Anſichten über die zwedmäßige Zufammenfegung einer derartigen Rommiffion nieder.

Die allgemeine Aufgabe einer Staatsfammlung ift, künſtleriſch wertvolle, guterhaltene Bilder zu erwerben, deren Autoren gefichert find durch Gignatur oder Provenienz. Die befondere Aufgabe ift, empfindliche Lücken zu füllen.

Erfte Vorausſetzung für Ankäufe ift der gute Vorfchlag. Diefer fol nur vom verantwortlichen Leiter der Sammlung gemacht werden. Er wieder hat be- ftrebt zu fein, feine Markttverbindungen möglichft auszudehnen, um fich ein reich- baltiges Angebot zu fihern. Die Rommiffion nun bat zu entjcheiden: ift das Bild künftlerifch wertwoll der begabte Beamte, der Sammler, der Kunſt⸗ freund und der Künftler werden ſolche Entjcheidungen treffen können: ift das Bild gut erhalten der Reftaurator und der Künftler treten vor, zugleich auch die Signatur prüfend: ift das Bild das Werk des genannten Autors der Runfthiftoriter hat hier feine Spezialaufgabe und wird zugleich die Signatur nah dem Autor und die Provenienz prüfen: ift der verlangte Preis endlich richtig der Sammler, der Händler wird das zu entfcheiden haben, bis der Staat an die Erziehung einer Beamtenfchaft geht, die auch in ſolchen Fragen des Marktes bewandert ift.

Eine Rommiffion alfo, welche fih aus dem Direktor der Sammlung,

188 Rundſchau.

ſeinem erſten Beamten, Kunſthiſtorikern, Sammlern, Kunſtfreunden, Reſtauratoren und Händlern zuſammenſetzt, wird für Erfolge forgen können, wenn ein erfah— rener, künſtleriſch empfindender Leiter an der Spitze der Sammlung fteht. Die Pinakothek ift durch viele Jahre von Männern mit beften Eigenfchaften geführt worden. Wie aber bat der Staat für den Nachwuchs geforgt? Iſt planmäßig auf die Ergänzung und Verbefferung bingearbeitet worden ?

Dem Eingeweihten ift bekannt, daß von allem Anfang an dem KRunft- wiffenfchaft treibenden die ungünftigften Zuftände feinen Lebensweg erfchweren. Auf der Univerfität fehlt troß der weltberühmten, hervorragenden Gamm- lungen Bayerns eine ordentlihe Profeffur für Kunftgefchichte. Infolge diefes Mangels ift die Dotierung des kunfthiftorifchen Seminars eine fo geringe, dab das allernotwendigfte WUrbeitsmaterial, eine gute Fachbibliothek und eine ausgedehnte Photographienfammlung nicht gefchafft werden können. Ohne Material kann der befte Lehrer nicht arbeiten: der Zuzug von geeigneten Lehrkräften ift darum auch nicht der wünfchenswerte.

Mangelhaft ausgebildet kommt der KRunfthiftorifer zu feiner Antrittsſtel⸗ lung. Jahrelang unbefoldet, bezieht er fpäter einen fo geringen Gehalt, daß ihm irgend weitere Ausbildung durch Reifen unmöglich gemadt if. Für Bildungs: reifen feiner Beamten aber, für ihren Beſuch des MWeltmarktes, der großen Auktionen bat der Staat feinen Pfennig vorgefehen. Go kommt es, daß der Beamte im allerbeften Falle feine eigene Galerie fennt, in Fragen aber, die weiteren Blick verlangen, abfolut verfagt. Mit diefer Brachlegung von jungen begabten Kräften verfündigt fi der Staat nicht nur am Einzelnen, fondern nicht minder an fich felbit.

Die Tatfachen fprechen zu laut, um daran zweifeln zu fünnen. Der Staat muß ſich darauf befchränfen im Lande Angebotenes zu faufen und fommt für die Erwerbung von wirklich bedeutenden Bildern, welche den Markt von Lon- don oder Paris befchäftigen, gar nicht in Frage. Ab und zu erfolgt ein An— gebot von auswärts in Formen, welche andern großen GStaatsfammlungen gegenüber unmöglich wären und aufs Unangenehmfte berühren. Der Parifer Händler N. N. ſchickt eine große Kollektion englifcher Bilder mit unerhörten Dreifen nah München, mit feinem andern Zwed als einzelne Stüde durch die Ausftellung dem Staat aufzufchiwagen. Wochenlange Debatten der Ankaufs⸗ fommiffion find nötig, um von Käufen abzufehen. Jeder Hardentende Sammler wäre niemals auf diefe Kaufgelegenheit eingegangen. Während um das Bild des Lawrencer geftritten wird, fommt ein gutes englifches Bild nach dem andern auf den Münchner Markt, um ein Viertel des Parifer Preifes zu haben was kümmert e8 die Rommiffion? Was gehen fie die Beftände der Münchner Händler an? Vor zwei Wochen ift eines der fchönften Werke des Venetianers Guardi bier verkauft, verſchenkt worden mit feinem Bild ift dieſer geiftreiche, modernfte Venetianer in der Pinakothek vertreten niemand bat das Bild geſehen.

Den Antiquitäten- und Bilder-Markt beherrſchen heute Männer von un- geheurer Kenntnis und ficherftem Gefchmad. Gie find die wahren Lehrer für Mufeumsbeamte. Die Leitung der Berliner Sammlung bat dies längft erfannt und fich die engfte Verbindung mit dem Weltmarkt gefchaffen. Die bervor- tragenden Händler gehen in Berlin ein und aus und die Direktion weiß von allen guten GStüden, die irgendwo auftauchen. Durch Reifen und perfönliche Anknüpfungen wird für alle nusbringenden PBerbindungen geforgt und eine große Erfahrung und Sicherheit zeichnet darum die Berliner Beamten vor allen andern aus,

Würde der gute Wille zu befjern in Bayern einmal vorhanden fein, fo

Rundfchau. 189

wäre nicht unfchtver auch der Berliner Konkurrenz zu begegnen. Auch dort ift ein Mangel zu rügen die Einfeitigfeit. Es gibt für Berlin ein Datum, mit dem die Kunft aufhört. Alles, was reife oder überreife Runft ift, wird nicht gewürdigt. Der Standpunkt ift falfch, weil er modifch if. Mit Sicherheit ift anzunehmen, daß eine Staatsfammlung ihren heutigen Leiter überdauert. Gie muß darum auch mit AUnfprüchen kommender Seit rechnen, die lächerlichen Zu- rückſetzungen, wie fie heute die Kunſt des Geicento erfährt, nicht anertennen wird. Eine Staatsfammlung bat alles zu fammeln, was künftlerifche Qualität befist. Das eben macht den Kenner aus, daß er alles Gute zu würdigen verfteht und fih nicht den Schönheiten einer disqualifizierten Zeit verfchließen kann. Hier läge auch die Chance, für billiges Geld das zu kaufen, was aufer Mode ift und die Erwerbung von heutigen Modebildern den fpäteren Gefchlechtern zu überlaffen.

Nun wird die Antwort kommen, die immer fommt: Wir haben fein Geld, darum ift nichts zu ändern. Doch nur Rurzfichtigkeit würde fie verftändlich machen. Berlin bat für die notwendigften Bedingungen geforgt und dann Hein ange: fangen. Uber weil das Beginnen zielbewußt war, hat es Vertrauen gefunden. Man fah das Aufblühen und es regte fih die Opferluft. Größte Summen fließen dem Staate zu, jeder bringt fein Scherflein, fi an der regen Arbeit freuend. Wer aber wird verfehrte DVerhältniffe, wie fie in unferem jchönen Lande gedeihen noch unterftüsen? Wer wird fich fehuldig machen an dem ful- turellen Schaden, den das Land durch den Stillftand feiner Sammlungen erfährt?

Fiefole. Dr. Ludwig von Buerkel.

u Cr Ce

Eine neue Zean Paul- Ausgabe.

Den im Maiheft geäußerten Wünfchen und Borfchlägen von Dr. Joſef Müller kann ich nur lebhaft beiftimmen. Und zwar feinen fämtlichen Ausführungen, Wort für Wort. Ich felbft verdanfe Müllers glänzend zur Einführung geeignetem Werte „Sean Paul und feine Bedeutung für die Gegenwart” (München, Lüne- burgs Verlag) entfcheidende Anregungen. Und um es nur gleich zu fagen: ich halte gerade Dr. Iofef Müller, deffen „Iean-Paul-Studien“ und Eritifche Unter: fuchungen im Euphorion mir gleichfall® befannt find, für den geeigneten Heraus- geber einer endlich einmal wirklich zuverläffigen und vollftändigen Sean-Paul- Ausgabe. Dr. Müller hat außerordentliche Sachkenntnis und fchreibt mit jener leidenfchaftlihen Wärme, die feiner tiefen Liebe zur Sache entftammt und die zur Anteilnahme zwingt.

Jean Paul hat unermeßliche Schönheiten. Und er ift auch für den feiner geftimmten Laien durchaus nicht „tot“, wenn fich der Lefer nur einmal mutig ein Weilchen durch diefen Urwald hindurchgearbeitet hat, Kürzlich erjt hatte ich Gelegenheit, an einem höheren Beamten, der nur als „Lefer” an Sean Paul berantrat, das wachfende Entzüden zu beobachten, mit dem fich mein Freund in den feltfjamen Dichter einlas. Er begann mit den „Flegeljahren“, nachdem ihn ber „Wuz“ zum Eindringen in größere Werke. gereizt hatte; „Schmelzle” als Zwifchenfpeife, „Ragenberger”, „Quintus Firlein” folgten; Sean Paul ift ibm ein Freund und Lebensverklärer geworden.

Diefer Lefer ift allerdings aus fräntifchtbüringifchem Geblüt und Gemüt, Uber jedem unbefangenen Herzen und jeder weitfichtigen Phantaſie kann Jean Daul an allen Enden Deutfchlands QUnregungen geben. Ueber feine „Formlofig- keit“ find wir uns einig; fie hängt mit feinen Vorzügen zufammen. Uber man

190 Rundfchau.

muß pofitiv lefen können: und da wird man Sean Paul, nach feinen künftlerifchen und gedanklichen Einzelheiten wie nach jeiner Gefamt-Lebensanfchauung, ruhig die eigenartigfte Schöpfer-Geftalt unferer Literatur nennen dürfen.

Gräfenroda (Thüringen). Frig Lienhard.

Spzialfinanzielle Rundſchau.

Wenn diefe Zeilen in Drud geben, ift dad Meifterturnier um Marokko zu Ende gegangen und diejenigen, welche bei einer fo fchönen Gelegenheit ein Schachbrett mit einem Schlachtfeld durchaus verwechjeln wollten, werden nach: träglih über fich felbft erftaunt fein. Immerhin ift die betrübende Tatfache zu fonftatieren, daß weite und ernfte Kreife bei ung, wenn auch feine faufmänni- fhen, in drei fchweren Irrtümern entweder befangen fein konnten, oder be- fangen gemacht werden konnten. Piele, viele Deutfche haben nämlich geglaubt, dab wegen Maroflos ein Krieg mit Frankreich drohe; daß die Franzofen fchließlich den Mut haben würden, gegen uns zu Felde zu ziehen: zur Geite eine zerfchmetterte Landmacht: Rußland, und eine noch keineswegs bereitiwillige Gee- macht: England; daß vor allem die Briten von ihrem vitalen Interefje überzeugt feien, die Franzofen in einen Krieg gegen Deutfchland zu been, um auf diefem Wege unfere Flotte zerftören zu können. Un diefer vollftändigen politifhen Unmündigkeit, nicht etwa von QUnalphabeten, fondern hochgebildeter Menjchen läßt ſich das alte Märchen erft richtig würdigen, wonach die Deutjchen mehr als alle andern Völker nüchtern und befonnen zu denken vermöchten, anftatt wie 3. B. ihre Nachbarn, eine wahre Ehre darin zu fehen, über jede Verwick— lung fogleich in nervöſeſte Aufregung zu geraten. Leider haben inmitten von diefem Stimmengewirr die Vertreter unferer Sandelsintereffen nicht laut genug ihre Meinung geäußert. Gonft würde man fchon vernommen haben, daß bdasjelbe England, welches uns noch immer ein Fünftel unferer gefamten Ausfuhr ab- nimmt, bei einem Deutfch-franzdfifchen Kriege nur ungeheure materielle Nachteile davontragen würde, daß jenfeit® des Kanals nicht eine lächerlich geringe Zahl von Chaupiniften, fondern die Kaufleute, Fabrifanten und QUrbeiter die Politit machen; daß diefe erfahrenen Praktiker ihren Mißmut über eine neue Kon— kurrenz feineswegs durch Vernichtung der betreffenden Kriegsflotte auszudrüden pflegen, die ja nach einem Pezennium noch ftärker und in ihrer Technik voll- fommener wieder hergeftellt fein könnte. Dieſe nicht mehr zu ertötende Sucht, beftändig ein englifches Gefpenft fehen zu wollen, ift wohl bei Feinden echter politifcher Freiheit verftändlich, aber nicht bei modernen GStaatsbürgern. Und wenn das Auswärtige Amt in London wie u. a. jest diplomatifche Schachzüge gegen ung vornimmt, fo handelt dasfelbe in feinem GStaatsintereffe genau jo berechtigt wie wir, die hoffentlich ebenfalls nicht anders als zu unferem eigenjten Mugen Netze auswerfen und zu angeln verjteben, was maßvollerweiſe zu erreichen ift. Warum follte alfo bier ein eifriger Wettbewerb unter Nationen zu einem blutigen Kampf ausarten? Lebrigens ift von den europäifchen Börfen daraufhin nur Daris recht flau gewefen, wo die Baiffefpefulation von jeher ein bejonderes savoir faire in der Llebertreibung und Ausnützung äußerer Verwicklungen befaß. Und dies, wo die Franzoſen felbit, im Intereffe des Friedens ihren balsftarrigen Delcafjs weggefchiett hatten, deſſen impertinente Haltung die Berliner Diplomatie noch vor einem Jahre ruhig über fich ergeben ließ. Sogar erjte Blätter bei

Rundfchau. 191

und, die damals fofort auf Deutfchlands Intereffen in Marofto bingewiefen, wurden von offiziöfer Seite rajch zum Schweigen bewogen; damals

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Bei dem Plane eines Zehnmillionenfonds für Dffiziere ift das Hinaus- treten des Fürften Hendel noch immer eher zu begreifen, ald das des deutjchen Reihsbantpräfidenten. Iener fchlefiiche Magnat plädierte in dieſer Sache vor unferer Hochfinanz, die doch bier ganz allein angefprochen wurde, wie vor ihm fern- ftehenden Leuten, denen vielleicht der Träger eines hohen Titeld auch zu einer Art von fachlicher Heberzeugung zuweilen verhelfen fann. Cine völlig andere Figur macht aber dabei der Chef unferes leitenden Noteninftitutes, der Truftee unferer Währung, der jeden Augenblick an Stelle der Zinspolitit eine Goldpolitif treten laffen kann, der erfte Diskonteur Deutfchlands, von deffen Beurteilung die wichtigften Akzepte abhängen. in folcher Faktor des AUllgemeinintereffes, der gegenüber den Gefchäftsintereffen unferer Bankkreife beftändig als ausgleichende Macht zu wirken bat, durfte niemals denfelben Bankkreiſen mit einer inhalts- fchweren Vereinsbitte nahen. Und die Tatfache, daß die betreffenden Millionäre aus irgend einem höchſt perfönlichen Grunde mit Nein antworteten, fchließt noch teineswegs die Möglichkeit aus, bei einer weniger unbequemen Gelegenheit die Herren tief in den Beutel langen zu fehen. In Preußen find folche Verhält- niffe, in denen man hohen Beamten nichts ablehnen zu können glaubt, noch ziemlich neu!

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Sowohl Japan, als auch Rußland ſchließen jetzt neue Anleihen ab. Nur daß das erſtere im Auslande die gewünſchten 30 Millionen Pfund erhalten hat, während das letztere ſich mit einer inneren Emiſſion beſcheiden muß. Ob die Ruſſen reich und vor allem vertrauensvoll genug find, ihrer autokratiſchen, un— tüchtigen und durchaus forrupten Verwaltung noch mit Hunderten von Millionen entgegenzulommen, wird fi ja bald zeigen. Einftweilen ſchenkt man dort be- tanntlih fogar dem Roten Kreuz nichts mehr, weil die Unredlichkeiten der be- treffenden Kaſſierer ſowohl „boher“ als „niederer“ Geburt von allen Dächern widerballen. All das hindert natürlih Mendelsfohn in Berlin nicht, vorläufig noch viele ruffifche Papiere aufzunehmen, die an den Markt fommen, freilich immer für Rechnung der Zarenregierung. Was die Anleihe Japans betrifft, jo foll diefelbe auch zur Zurücdzablung der inneren Schulden dienen, fodaß aljo ein frifcher Goldftrom zugleich dem Volke felbft zufließt. Früher meinte man immer, daß die Japaner ſelbſt aus Patriotismus auf eine Verzinfung verzichten würden. Wie uneuropäifch!

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Die Schiffsmeuterei vor Odeſſa und die hierdurch in jener Hafenftadt hervor: gerufenen Zuftände hatten natürlich auch viele Getreideverfendungen erfchwert. Merktwürdig genug fab man in der Nichtverficherung diefer Abſchlüſſe für den Kriegsfall einen ganz befonderen Mangel, als ob Kämpfe im Innern oder nach außen unter der gleichen Klaufel geben würden. Nur eine Affekuranz, die nad großer Reklame begehrte, würde vielleicht einmal einen durch Unruhen erlittenen Schaden als Kriegsverluft erfegen, vorausgefest, daß fie nicht damit eine weit gehende Präjudizierung zu fürchten hätte. Uebrigens lauten die Handelsberichte aus faft allen Getreidehäfen des Schwarzen Meeres ohnehin recht fchlecht. Gelbft dort anfäffige deutjche Firmen wollen feine Lieferungsverfäufe mehr riskieren, weil fie ſich binfichtlich der Weizen-Dedung böchft unficher fühlen. Es find die Bauern,

192 Rundfchau.

welche behaupten, der Zar habe ihnen die Felder der Gutsbefiger gefchentt und die fich zum Teil anfchiden, die neue Ernte ſelbſt zu verbrauchen.

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Die viel befprochene Hibernia-Affäre macht nach faft halbjähriger Stille wieder von fich reden. Und zwar heißt es diesmal nicht, daß der Staat nadh- geben werde, fondern daß die neugebildete Truftgefellichaft ihre Hibernia-Aktien dem Staat endlich verlaufen wolle. Einerlei, ob der Fiskus hierfür einen hohen Rurs zu bezahlen hätte, übermäßig hoch wäre fchon parlamentarifch unmög- lich, fo bedeutete dies immer einen Sieg des Minifters Möller. Denn jenes Ronfortium von Banken und KRoblengefellfchaften, welches bisher eine fo ftarfe Dppofition machen konnte, kämpfte nicht um den Kurs, fondern um die Gelb- ftändigfeit der betreffenden Großinduftrie überhaupt. Und die Regierung mag noch fo oft beteuern, daß fie fih mit ihrem Verlangen nach Grubeneigentum an der Ruhr auf die Hibernia befchränten werde, fo dürften doch auch hier die Berhältniffe ftärter ald die Menfchen fein. Es wäre vielmehr damit nur der erfte Schritt zur wirklichen Verftaatlihung der Ruhrkohle gefchehen.

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In einem unferer Artikel, der u. a. auch vom fünftlichen Indigo handelte, wurden die (Farbenfabriten vorm. Bayer als in der Herftellung diefes Produktes mit obenan ftehend genannt. Indeffen nimmt das große Elberfelder Unternehmen einftwweilen noch Patente und Umgehungspatente auf Sulphurfäuren, alfo auf die Robftoffe unter Umſtänden zur Indigofabrifation. Die legtere wird wohl in der Sauptfache bei uns von den Höchfter Farbwerfen und der Badifchen Unilin- und Godafabrif zu Ludwigshafen betrieben, da 3. B. Kalle in Biebrich fich auf die Indigopafte bejchränft.

Frankfurt a. M. ©. v. Halle.

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DBerantwortlich für den fozlalpolitifchen Zeil: Friedrih Naumann in Schöneberg; für ben übrigen Inhalt Paul Nitolaus Coſſmann in Münden.

Nachdruck der einzelnen Beiträge nur auszugsweife und mit genauer Quellenangabe geftattet.

Die Höhlenbären

Das Ende einer Schülerverbindung. Bon C. Ferdinands in Berlin.

Man konnte von den Höhlenbären eigentlich nicht behaupten, daß fie eine Schülerverbindung bildeten, wenn man wenigſtens im Biervertilgen und GSfatfpielen den Zweck diefer Vereinigungen fieht. Solchen Dingen waren die fünf Höhlenbären durchaus abhold. Es läßt fich ſchwer aus- drücken, was fie trieben, wenn fie zufammen waren. Alles, was aufßer- gewöhnlich und anders war, liebten fie auf ihren abendlichen GStreifereien zu erleben; es war ein leidenfchaftlicher und freudiger Naturdienft, dem fie fi hingaben; der Geruch des Moofes, des Heidekrauts und der lfer- meiden am Rheine machte fie trunfen und löfte ihre Zungen. Gie lagen in der Dunkelheit auf dem DBergrüden, der nahe bis an die Stadt fich binzieht, in der Heide, duckten fich, wenn der Förfter vorbeifam und ftritten untereinander über die Gotteöbeweife, den Anfang alles Srdifchen, über deutfehe Kunſt und ähnliche Schwierigkeiten; dies gefhah mit Nachdrud halbe Nächte lang. Oder fie ruderten über den Rhein auf die Infel Rommerswerth, zündeten ein Feuer an, röfteten fich Kartoffeln und er- wärmten ihre Primanerfeelen; kam die Stromwache auf dem puffenden Dampferchen den Fluß beraufgefeucht, um die Frevler zu fangen, fand fie nur die glühende Afche vor und das Meft ausgeflogen. Dann fuhren die Höhlenbären längft übers fullernde Waſſer am dunflen Ufer hin nach Haufe. Oder fie trugen ein paar Flafchen Südwein an den Dörfern vorüber zu irgend einem Heubarmen, Eletterten herauf und ließen ſich vom Mond befcheinen. Dann ging der filberne DVereinsbecher, auf deſſen Schild die Namen der Mitglieder brüderlich nebeneinander eingegraben waren, blinfend in der Runde, bi8 die Bauern mit Miftgabeln und Peitfchenftielen kamen und alles in eine jubelnde Flucht mit Hallo und Juchei endete.

Ihre Fahrten fanden aber immer ihren Anfang oder ihr Ende in der Höhle, und daher ftammte auch der Name, den fie fich gegeben hatten. Damit hatte es folgende Bewandtnis. In den Schlid und Mergelboden des DVorgebirges waren einige Täler eingefchnitten, deren fteile Kieswände von fpärlichem, überhängendem Gebüfch gefchügt waren. In diefe Wände

Sübdeutfhe Monatshefte. I, 9. 13

194 E. Ferdinande: Die Höhlenbären.

batten die Brauereien der Stadt hier und da Stollen getrieben, die ſich drinnen zu Rellern und Galerien erweiterten. Die meiften diefer Felfen- keller waren noch im Gebrauch, einige aber lagen auch verlafjen, befonders die im fogenannten fühlen Tal, auf deffen Sole fich im Frühjahr der Schnee am längjten bäft.

Eines Abends hatten nun bei einem ihrer Streifzüge die Fünf das fühle Tal mit den verlaffenen Stollen entdeckt und dieſe einer forgfältigen Mufterung unterzogen. Faſt alle endeten blind, das Stüggebälf war beruntergeftürzt und verlegte den Weg, abbrödelnde Steine halfen mit, fo daß man faum zehn Schritt weit vordringen konnte. Nur der legte in der Reibe, der im Tal am weiteften aufs Gebirge zu gelegen war, zeigte fich gut gemauert und fchien tief in den Berg zu führen. Die Höhlenbären liefen ins nahe Dorf Neuntirchen herunter, rüfteten fich mit Kerzen und Streihhölzern aus und unterfuchten dann den Bau. Etwa dreißig Schritt geradeaus gings vom Eingang, der im dichten Gebüfch, dad auch den ver- fallenen Fahrweg der Brauereien überwucherte, verftect lag: Balken, Geröll und Dorngeftrüpp ließen nur langfam weiterfchreiten, dann bog der Keller rechtwinklig um und fandte drei Räume tiefer in den Fels, zwei davon waren zerfallen und unwegſam, der dritte und tiefite erhalten, er war wohl fünfzig Schritt lang, auf beiden Seiten hatte er in Sitzhöhe fteinerne Lager- bänte für die Fäffer. Unruhig hufchten die Lichter der fünf Kerzen über Boden und Wände, die von weißen Galpeterblüten wie Atlas glänzten. Hier und da waren Nifchen angebracht und ganz in der Tiefe führten zwei Luftfchachte mit mäßiger Steigung nach oben, ein dünnes Wäſſerchen tropfte von beiden herunter. Der ſchwere, kalte Dunft, der den Raum erfüllte, roch moderig und berb, wie frifch aufgebrochener Waldboden.

Ganz erfüllt von der Entdedung diefes unterirdifchen Gelaffes, festen fih die fünf auf die Steinlager.

Der Führer Klapps verkündete in einer feierlichen Mede, daß bie Bereinigung von jegt ab hier haufen werde; und Rotvogel, der Hagere mit den allzeit hungrigen Primaneraugen, erfand den Namen Höhlenbären. Es wurde bejchloffen, diefe Burg mit Lebensmitteln und allem Nötigen zu verfehen, fich wöchentlich hier zu verfammeln, die Streifzüge von hier aus zu machen und als fichtbares Zeichen der Treue einen filbernen Becher zu faufen, auf dem die Namen der fünf eingefchrieben feien.

In den nächften Tagen arbeiteten die Höhlenbären fieberhafl. Wie Füchſe fchlichen fie fih auf verfchiedenen Wegen zur Höhle, fobald Die Schule genug Zeit ließ. Alles trugen fie zufammen, Weinflafchen, Benzin- lampen, ein paar Bände Goethe, einen Raften mit Zwieback, Schreibpapier, einen Pfropfenzieher und was fie fonft noch für wichtig hielten. Nicht zu vergeffen eine Guitarre, die Witterfchlid, den fie gelegentlich wegen feiner platten Lippen das Schnabeltier nannten, meifterhaft zu fpielen verftand. Alles wurde in die verfchiedenen Nifchen verftaut und von den morfchen Ziegelfteinen, die am Eingang der Höhle lagen, fleine Mauern davor errichtet, damit nicht ein Eindringling auf den erjten Blick die verborgenen Schätze entdeden könne.

Genug, als der Abend der Einweihung nahte und die Höhlenbären

C. Ferdinands: Die Höhlenbären. 195

auf fünf verfchiedenen Schleichwegen den Schlupfwintel im fühlen Tal er- reicht hatten, ſah es ziemlich wohnlich darin aus. Die ruhigen Benzin- flammen beleuchteten die drei Flafchen fechsundfiebziger Rüdesheimer, die Dachs, das fünfte Rad am Wagen der Höhlenbären, umter einem glaubwürdigen Vorwande feinem Dater ausgeführt hatte. Die langen Pfeifen qualmten und man ftritt fich über Eichendorff und Tief. Die felt- fame Umgebung und die Rellerfühle drücdten auf das Geſpräch und endlich wurde es ftill. Witterfchlid ftimmte auf der Guitarre den Rönig in Thule an und die Anderen hörten ftumm den fchwingenden Tönen zu.

Da zog Klappe den neuen Becher aus der Tafche und redete feine Freunde an: „Dies ift der Becher unferer Jugend, den wir heute weihen wollen. Wie unfere Namen auf dem Metall nebeneinander ftehen, wollen wir felbft im Leben zufammen ftehen. Und der Trunf, den unfere Jugend ung zu trinken gibt, fol immer fo freu und gut fein, wie der Wein den ich jet einfchenfe. Und ein gütiges Schidfal foll uns fo alt werden laffen, wie den König in Thule, ehe wir dieſen Becher unferer Jugend wegwerfen!“

Dann nahm er einen Schluf auf das Wohl der Höhlenbären und jeder Folgende tat es ihm nach.

Wieder griff Witterfchlid auf der Guitarre das Lied und gedämpft begleiteten die Stimmen der Höhlenbären die dunfle Weife.

Der filberne Becher ging rundum, der Sechsundſiebziger tat das Seine und bald fachte fich das erlofchene Gefpräch wieder zu lebendiger Flamme an.

Dachs, das fünfte Rad, der immer ein wenig hausbaden war, äußerte feine Sorge darüber, daß nicht eines Tages all die fchönen Sachen, Die man bier zufammengetragen und verſteckt habe, von irgend einem (Fremden weggefchleppt würden.

Die übrigen Höhlenbären fahen fich an, der Einwurf ſchien berechtigt, man trat in eine umftändliche Beratung ein. Der Pfeifenqualm, der feinen rechten Ausweg fand, lagerte in dicken Schwaden über den Verſchworenen. Nah langem Hin und Her wurde befchloffen eine ganz dünne Schnur in Meterhöhe quer vor den Eingang zu fpannen und durch einen befonderen Knoten zu befeftigen. Denn man bielt es für ausgefchloffen, daß Jemand beim erften Eindringen in die Höhle gleich die verborgenen Schäge in den Nifchen entdecken werde. War aber die Schnur zerriffen, fo wußten die Höhlenbären, daß Jemand dagemefen und konnten ſich danach einrichten. Gelbft, wenn der Betreffende die Schnur entdedt und den Knoten gelöft hätte, würde er ihn doch nicht in derfelben Weiſe wieder zu ftande bringen.

Den Einwurf des Dachs, der meinte, daß vielleicht auch durch einen der Luftfchachte ein Menfch in die Höhle gelangen könne, wurde nach einer genauen Befihtigung von innen und außen zwar nicht für ganz unmöglich erklärt, doch hielt man es für ausgefchloffen, daß jemand ohne dringendfte Not durch diefe engen fhmugigen naflen Röhren herunter oder herauffrieche.

Uber auch ein zweites Schugmittel, das Rotvogel ausgehedt hatte, wurde mit Jubel begrüßt. Er fchlug vor, jeder der Verſammelten folle einen Grofchen geben, die fünf Geldftüde wolle man fein fäuberlich neben einander auf die Steinbank legen, fodaß fie jedem, der fich mit einem Licht im Raume befand in die Augen fallen müßten. War das Geld weg, fo

196 E. Ferdinands: Die Höhlenbären.

wußte man ficher, daß einer dagewefen. Das war unbeftreitbar. Es war ja möglich, daß diefer Betreffende durch den Fund angeregt, nachfuche und auch die anderen Schäge entdede, aber diefe Gefahr fchien den Höhlen- bären nicht fo groß, als die andere, ohne es zu wiffen, den Beſitz der unterirdifchen Burg mit einem Unbekannten zu teilen.

So legten denn die Fünf, ehe fie fich nach Haufe begaben, ihre Grofchen in Reih und Glied auf die Bank, verfchloffen mit einem fehwarzen Faden den Eingang und fuchten nach einer Nachtwanderung ind Gebirge die Stadt wieder auf.

Don jest ab hatten alfo die Höhlenbären ihre Burg, die fo feltfam war, daß ficher fein anderer Schülerverein fich rühmen konnte, etwas ähn- liches fein eigen zu nennen. AU die Fahrten, von denen eingangs erzählt wurde, nahmen alfo von der Höhle aus ihren Unfang, und mehr als ein- mal verfehwanden die Fünf auf rätfelhafte Weife den verfolgenden Bauern, wenn fie fie auf dem Vorgebirge fchon eingekreift glaubten; denn nie und nimmer fiel den ftumpfen Verfolgern der Gedante bei, daß die blaffen fhmalen Stadtjungen in einem der alten verrufenen Brauereifeller ver: fchwinden könnten, um die ein ordentlicher Bauersjunge einen weiten fcheuen Bogen fchlug, weil allerhand gefährliches Gefindel zeitweife darin nächtigen follte. Von diefem legten Umftande erfuhren nun allerdings die Höhlen- bären wiederum nichts oder wenigſtens dann erft, ald es zu fpät war.

Jedenfalls hatten die Fünfe fich feierlich gefchmoren über die ganze Angelegenheit mit der Kellerburg fein Wort zu verlieren. Wie überhaupt bei den anderen Lateinfchülern über das verborgene Treiben der Höhlen- bären nur ganz unbeftimmte Vorftellungen umgingen. So hielt man die Berbündeten hauptfächlich für höchft geriffene und verfchwiegene Schürzen- jäger, was aber durchaus nicht der Fall war, wenn man davon abfieht, daß Dach einmal feiner Mutter Dienftmädchen gefüßt hatte, deswegen vom Hausfnecht gefnufft und geohrfeigt wurde und fchließlich fo dumm war, es zu erzählen. Die übrigen fchwärmten in die Sterne hinein, hatten Zwiefprache mit Quellen und windbewegten Aeſten, wußten faum, ob ihre Flamme das Haar aufgeftectt hatte oder einen Zopf trug, und pauften fich, wenn Not an den Mann ging, mit Brummen und Knurren das nötige Griehifch und Franzöfifch ein, von der Mathematik gar nicht zu reden.

Der Erfte, der bei den Fahrten jedesmal in der Höhle eintraf, mußte forgfältig wie ein Polizeibeamter den Zuftand der zarten Schnur am Ein- gang des eigentlichen Keller und die fünf Grofchen auf der Steinbanf unterfuchen und den vier Nachfolgenden darüber berichten. Und jedesmal fand man fie unberührt, auf die Grofchen hatte fich fchon eine ganz dünne Salpeterftaubfchicht gefentt und Rotvogel meinte in feiner übergroßen Sicherheit, die Salpeterkrufte werde noch fo dick werden, daß man gar nicht mehr erfennen fönne, was darunter ftede.

So kam langfam der Herbft heran, als eine drohende Gefchichtsprüfung die Höhlenbären ebenfo wie die anderen Schulgenoflen zwang, wochenlang zu Haufe zu figen und Zahlen auswendig zu lernen. Da mußten fürs erfte die Wanderfahrten aufgegeben werden und nur von Zeit zu Seit ftreifte ein fehnfüchtiges Wort die Frage, wie jest wohl die Höhle im

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fühlen Tal ausfehen möge, ob die Grofchen noch da lägen und die ſchwarze Schnur noch gejpannt fei. Der Dereinsbecher ruhte bei Klappe auf dem unterften Boden eines Reifeorbs. Als dann endlich der gefürchtete Gefchichts- tag vorüber gegangen, ohne einen der Höhlenbären ernftlich zu Fall zu bringen, beſchloß man, trotz der bedenklichen Nähe des Schlußexamens, den Abend zu einer Sitzung in der Kellerburg zu benutzen.

Dachs, dem es bisher noch niemals gelungen war, als Erſter ſich davon zu überzeugen, daß alles in Ordnung ſei und dies nachher den Genoſſen zu melden, ging diesmal eine volle Stunde zu früh von Hauſe weg.

In den Feldern unter dem Vorgebirge begann das Laub der Apfel⸗ bäume fchon braun zu werden und die Obfternte war in vollem Gange. In weitem Bogen umfchritt Dachs das Dorf Neunfirchen, fam auf die waldige Hochebene des Berges, über die große Schneife und ftieg in einem ausgetrodneten Waflerlauf ins fühle Tal hinunter.

Er war noch nicht ganz einig mit fich ſelbſt; er wollte den vier anderen irgend einen Streich fpielen; fie, die ihn fo oft verhöhnt hatten, durch irgend etwas tüchtig erfchreden; er dachte daran, in eine Edle des Kellers Blätter und Heu zufammenzutragen, ald ob da jemand gelegen habe. Er malte fich mit Behagen aus, wie die vier um das Lager herumftehen und die Keller- burg aufzugeben befchließen würden. Dann wollte er die Sache erflären und die Freunde mit ihrer Leichtgläubigfeit gehörig aufziehen.

Unterdeſſen war er am Eingang des Keller angekommen. Er fchritt, nachdem er der Höhlenbärengewohnheit nach zuerft fich verfichert hatte, daß niemand zufehe, auf dem befannten Wege hinein, taftete fich, im rechten Winkel abbiegend, im Dunkeln weiter, ftrich erft, als er fich in der Nähe des fchwarzen Fadens wußte, das Streichholz an und brachte es an die Kerze in feiner Hand. Das dünne Lichtchen erhellte den Raum nur fpärlich; Dachs hatte die Empfindung, als fei die Luft heute fchiwerer, fie roch nach füßlichem, kaltem Zigarettenraud. Er fuchte, als die Kerze beffer anbrannte, mit den Augen in der Finfternis die ſchwarze Schnur. Er fühlte mit der Hand, da war feine Schnur mehr gejpannt, er leuchtete rechts und links an den Mauerpfoften entlang, da hingen die Refte, der Faden war zer: riffen.

Oho, dachte Dachs, da ift mir doch wieder einer zuporgelommen, oder vielleicht Alle, die figen hinten im Dunkeln und rollen fich vor Lachen, wenn ich Furcht zeige.

Kaum bligte diefer Gedanke auf, fo richtete er ſich hoch und ging mit feften Schritten bis an die Stelle, wo die bewußten fünf Grofchen lagen. Er ließ den Schein der Kerze dahin fallen, die runden Flecke, wo die Geldftüde gelegen hatten, waren noch zu fehen, fie felbft fehlten. Statt deſſen lag daneben ein blinfendes Fünfzigpfennigftück.

Nun war Days vollftändig überzeugt, daß im legten, dunklen Winkel die vier ſäßen und ihn beobachteten. Er fchritt alfo den ganzen Raum ab; er war leer, ganz am Ende lagen einige Zigarettenftummel auf der Steinbank.

Sonſt war alles wie ſonſt, aus den Luftſchachten tropfte das Waſſer und die Wände ſchimmerten von Salpeter. Mit langſamen Schritten ſuchte

198 €. Ferdinands: Die Höhlenbären.

Dachs den Ausgang des Kellers; ald er am Fünfzigpfennigftüdt vorbei fam, ſah es ihn wie ein böfes Auge an; allmählich befiel ihn die Angſt, er drückte fich durch den Eingang, an dem der verhängnisvolle zerriffene Faden hing, er blied das Licht aus und ftolperte zum Ausgang.

Er fletterte den Abhang etwas hinab bis zu einer freieren Ausficht und feste fich auf einen Rafenfled. est, wo er draußen war, ſchloß fich die Furcht mit Eifenketten um ihn.

Er fah wie abwefend auf die weite Ebene mit der Stadt, die fich zu feinen Füßen ausdehnte, Felder, Dörfer, Waldftrihe und Wafleradern ineinandergeflochten zu einem bunten famtartigen Gemwebe. Er fühlte, daß er allein war; bis nach Neunfirchen herunter wars noch weit, die anderen Dörfer und Vorſtädte lagen noch weiter entfernt. Cine größere Straße führte in der Nähe nicht vorbei, er faß ganz allein in der beginnenden Dämmerung im fühlen Tal.

Wenn der unbefannte Eindringling jest fam oder gar mehrere, Un— ausgefegt fuchte er fih einzureden, daß einer der Höhlenbären die Sache mit dem Fünfzigpfennigftüd fich geleiftet habe, aber ein fremdes Furcht: gefühl ließ ihn nicht recht an diefe naheliegende Möglichkeit glauben.

Dachs fah fortwährend nach allen Geiten aus, ob fein Höhlenbär fich zeigte. Er hätte jest wohlgeborgen in der Mitte der Freunde figen mögen. Die hatten wenigftend alle ordentliche Muskeln, gar nicht zu reden von dem DBelten, der e8 mit jedem Ringlämpfer aufnahm. Dachs ſchob fich mit den fchmächtigen Armen hin und her, als es dunkel und dunfler wurde und fein Höhlenbär fich zeigte.

Da kamen fie endlich fchlendernd alle vier den verfallenen Brauerei- weg herauf geftapft.

Mit einigen haftigen Sägen war Dachs bei ihnen. „Wo ftedt ihr denn fo lange, und nun fommt ihr fo öffentlich den Weg herauf, daß dann alles verraten ift, kann man fich fchon denken“ fuhr er mit gepreßter Stimme die (Freunde an, die in eine Zankerei über die Sahresringe an den, Eich- bäumen vertieft, nur halb auf ihn hörten.

Klappe nickte ihm zu: „n' Abend Dachs, na, wiefo eilt e8 denn fo fehr, wir brauchen und doch auch nicht zu verbergen, bier ift ja fein Menſch im Walde.“

„Das follft du nicht fo behaupten, Klappe,” antwortete Dachs und erzählte, ald nun bei feinen ſcharf gefprochenen Worten auch die anderen aufmerkten, feine Beobachtungen in der Kellerburg.

Er hielt die vier im Auge, um im richtigen QAugenblid, wenn er merkte, daß man ihm eine Falle gelegt babe, fich mit Ehren zurüdziehen zu können.

Man lachte ungläubig über feine Mitteilungen, zündete ſchon im Eingang des Gemölbes die Kerzen an und drängte vorwärts. Als Dachs geftehen mußte, daß er aus Angſt die Verbörgniffe in den Nifchen nicht unterfucht habe, wurde er noch mehr verfpottet.

Nachdem der zerriffene Faden, das Geldſtück und die Zigaretten- ftummel genügend betrachtet worden waren, festen fich die vier grinjend zu einem Gericht über Dachs zufammen auf die Steinbanf, Er wurde

GE. Ferdinands: Die Höhlenbären. 199

einem peinlichen Verhör unterworfen und zugleich verjuchte Velten durch eine Urt freundlicher Tortur ein Geftändnis zu erpreflen, er drückte dem mageren Dach8 die Schultern zufammen, fo daß diefer laut auffchrie, puffte ihn in die Seite und fuchte ihm auf die Zehen zu treten: Alles begleitete er mit demfelben zufriedenen, gutmütigen Lächeln ftarfer Menfchen.

Uber Dachs blieb bei feiner Ausſage; da ftanden die anderen auf und unterfuchten die Dertlichkeit aufs Neue.

Rotvogel ſchlug vor den Boden zu betrachten, im feinen Sande müßten fih Fußfpuren finden. Um nicht zu ftören, fegten fich die übrigen wieder, wobei Velten feinen lieben Dachs auf das GSteinlager preßte, als ob diefer eine Polierplatte fei. Unterdeſſen kroch Rotvogel, vorfichtig fpürend, gebüdt im Raume herum und unterzog den Fußboden einer genauen Befichtigung.

Endlich feste er fich wieder mit würdigem, ernftem Geficht in den Kreis der Höhlenbären nieder und verfündete: „Jawohl, Dachs hat dies- mal recht, es find noch mindeftend zwei fremde Leute hier gewefen, einer mit langen fchnabelförmig zugefpigten Schuhen, die anfcheinend eine gerippte Gummifohle tragen, ein anderer, vielleicht ein Kind, anfcheinend mit Pan toffeln, wie man fie an der See trägt. Beide Abdrücke find deutlich ver- ſchieden von den Abdrücken unferer Schuhe.“

Damit ließ er, wie um fich noch einmal zu überzeugen, das Kerzen- licht langfam über die fünf Paar Schuhe gleiten.

Mit lauten Worten fuhr jest Dachs los: „Nun ja alfo, ich habs doch geſagt, was braucht ihr mir das nicht zu glauben, ih ..

„Ruhig, Dachs,“ fuhr ihm Klapps über den Mund, „frei nicht fo, ift ung ja ganz egal, was du glaubft.“

Unterdefjen waren alle, leife auf den Zehen, zu den Spuren gegangen, die Rotvogel zeigte, und betrachteten fie ftumm. Sie fanden ſich an der Stelle, wo die Stummel lagen, führten an die Verbörgniffe in den Nifchen und verloren fich dann in den frifchen Spuren der Höhlenbären am Ein- gang des Kellers.

Da konnte Witterfchlit nicht mehr an fich halten, fprang vor und ſah nad), ob in der Nifche feine Guitarre noch liege.

Sie fand fich vor.

Erleichtert nahm er fie herunter und wollte fpielen. Aber plöglich fagte er laut „Donnerwetter“ und betrachtete die Saiten. Unverkennbar war eine neue E-Gaite aufgezogen, darüber ließ fich gar nicht ftreiten.

Alle andern Schäge fanden fich richtig vor, ald der Inhalt der Nifchen unterfucht wurde.

„Halten wir feft,” fagte Rotvogel, „es find zwei Menfchen mindeſtens etwa eine Stunde lang hier gewefen, denn fie haben acht Zigaretten geraucht, fie vergreifen fich nicht an unferem Eigentum, benugen ed aber, denn eine neue Saite ift auf die Guitarre aufgefpannt. Einer von beiden muß Mufit verftehen, woher foll er ſonſt die E⸗Saite haben und fie ziemlich richtig ftimmen; es ift vielleicht ein verbummelter Künftler, der auf der Kirmes zu Neuntirchen aufgefpielt hat und bier nächtigte. Er raucht anftändige Zigaretten; er hat einen Begleiter, der noch jung fein muß. Er wird auf

200 C. Ferdinands: Die Höhlenbären.

jeder Kirmes die Märe von unferer Burg zum beften geben, über ein paar Wochen fennt die ganze Umgebung unfer Verbörgnis, wir können nicht länger bier bleiben.“

„Rotvogel hat recht,“ meinte Klapps, „wir müffen uns eine andere Burg fuchen; wir verjehen und morgen mit Säden, wandern aus und legen die Sachen vorläufig auf Rommerswerth in das Weidenverhau, Die Guitarre nimmt Witterfchlid heute nach Haufe.“

„Heute?“ fragte Witterfchlid, „das ift ganz unmöglich, ich muß meinen Dater am Theater abholen, nach Haufe kann ich vorher nicht, der würde Augen machen, wenn ich das Dings bei mir hätte. Ich nehme fie morgen mit.”

„uber morgen wird erft Abfchied gefeiert,“ mifchte ſich num Velten ein, „wir wären doch Ramele, wenn wir all die Flafchen fchleppen wollten, beffer leer machen.“

„Wollen jegt fchon anfangen!”

Klappe holte den Jugendbecher aus der Tafche, bald war eine Flafche Tarragona entlorft und der Becher ging rundum. Jeder mußte fein Glas auf das Wohl des Unbekannten und feines Begleiters trinken.

Witterſchlick fehlug die Guitarre an, die E-Gaite hatte einen mefler- ſcharfen, fchrillen Klang.

„Armer Teufel hat fein Geld, ſich was anftändiges zu kaufen, doppelt nett von ihm, daß er fie auffpannt auf ein fremdes Snftrument, bat eine angenehme Weltanfchauung, der Menih!”

Er drängte zum Aufbruch).

Man verabredete alles für den folgenden Tag und trennte fich.

Witterfchlid ging gleich nach Neunkirchen hinunter, das noch mit den Kränzen und Ehrenpforten von der Kirmes her geſchmückt war, eine dunfle, fhwere Herbftnacht hing darüber und ließ die Flitter und Bänder der Guirlanden im Laternenlicht grell aufleuchten.

Von der Kaferne her famen die langgezogenen Töne des Zapfen- ſtreichs.

Eine unfaßbare Traurigkeit bewegte Witterſchlick, es war ihm, als ſeien die großen Ferien jetzt zu Ende, als fange heute eine dumpfe, alltägliche Arbeit an.

Er dachte an die große Prüfung, die bevorſtand, an die kommende Studentenzeit, an ſeine Eltern.

Aus den niedrigen Bauernkneipen an der Straße klang noch das gröhlende Lärmen der Kirmesnachfeier, Gedudel einer Harmonika, Geklirr von hingeſtoßenen Gläſern.

Witterſchlick ſchritt weiter auf die Stadt zu, ſchon wuchſen die ſteilen, angerauchten Häuſer der Vorſtadt um ihn herum. Er biß die Zähne zuſammen. Wäre ſeine Mutter jetzt in dieſem Augenblick bei ihm geweſen, er hätte ihre Hand genommen und ihr gebeichtet.

* * *

Am folgenden Nachmittage trafen ſich die Höhlenbären ſchon in der Nähe der Stadt und gingen zuſammen nach ihrer Kellerburg, die ſie heute

E. Ferdinands: Die Höhlenbären. 201

verlaffen wollten. Dachs und Belten hatten zufammengerolite Säde unter dem Arm. Da ihnen jest nichts mehr daran lag, ihren Schlupfiwintel geheim zu halten, fo betraten fie ganz offen, im Ungefichte des Dorfes Neunkirchen das fühle Tal.

Die Hafelnußbüfche am Abhange trugen fehon gelbe Zweige, die einen milden Einklang mit dem Herbſthimmel bildeten, der darüber blaute. Unten auf den Feldern von Neunkirchen fah man eine Kette von Jägern, bie Hunde davor auf der Suche glichen Kleinen braunen Blättern, welche ein unrubiges Lüftchen hin und her übers Stoppelfeld trieb. Auf der Stadt und ihrem Umkreiſe lag blauer Duft, in der Gegend, wo der Rhein fließt, ftieg hier und da eine ſchwarze, die Wolle von einem Schleppdampfer empor. Die Berge in der Runde waren ſchon bunt gefärbt, nur da, wo Kiefern- beftände die Höhen hinauf zogen, lagen noch fatte blaugrüne Streifen.

Die Höhlenbären ftanden ftumm vor der Ausficht.

„Hört mal, ich bin doch froh, daß wir aus dem Kellerloch heraus- fommen,“ fagte Velten leife, „wir wohnen am Rhein, können täglich auf den Bergen und dem Fluß liegen, und friechen in ein Maufeloch, wie mans auf dem platteften Lande auch haben kann.“

„Nee, Zunge,“ antwortete Rotvogel faft böfe und Klappe nickte dazu heftig, „fo was wie unfere Gigungen hier unten in dem Keller gibts anderswo nicht mehr. In unferem Keller ift auch rheinifche Luft. Solchen Keller gibts im Plattland gar nicht! Mur ift es ein Sammer, daß mir weg müſſen!“

„Jawohl,“ mifchte fi) Dachs ein, „jegt fängt die ewige Waller: fahrerei wieder an.“

„Dachs, Dach,“ meinte Velten, „du bift übermütig, follft froh fein, daß du mitgehen darfft, kannſt ja zu Haufe bleiben, wenn wir diefen Abend nach NRommerswerth fahren. Wir haben dich ja nicht nötig.“

Die übrigen drei, die wußten, wie das alles von Velten gemeint fei, lachten zu diefen Worten und Dachs wußte nichts Beſſeres zu tun, als feinem Widerfacher eine lange rote Zunge herauszuftreden, was Ddiefer wiederum benugte, um Dachs einmal die Muskeln zu prüfen, wie ers nannte. Dann gabs blaue Fleden.

Unter folhem Getriebe waren die fünf am Eingang des alten Kellers angelommen. Die Sonne ftand fchon hinterm Berg und die Kiefernftämme oben an der Bergfante fchimmerten brandrot.

Die Höhlenbären ließen ihre gewohnte Vorficht, vor dem Eintritt in das Verſteck die gegenüberliegenden Abhänge genau zu beobachten, diegmal gänzlich außer acht. Laut plaudernd brachen fie auf den Vorſchlag von Rotvogel Zweige von den Eichenbüfchen ab, die über die verfallenen Wege hingen.

„Sehr gut,“ lachte Witterfchlid‘, „wir befränzen ung zum Opferfeft, ich fchlage vor, daß wir der Göttin diefer Höhle den fetten Dachs fchlachten. Fett duftet wohl in den Nafen der Götter.“

„Schlachte dich ſelbſt,“ brummte Dachs, „kommt doch voran, wir können ja fonft vor zwölf Uhr nachts nicht auf Rommerswerth fein.”

Die Höhlenbären waren übermütig; Cichenlaub an den Hüten,

202 €. Ferdinands: Die Höhlenbären.

tummelten fie fich wie Heine Rinder in dem Gewölbe herum, warfen mit den morfchen Siegelfteinen und mwetteten fchließlich, wer zuerft im Dunkeln die Stelle finde, an der das berühmte Fünfzigpfennigftüd liege. Das gab ein Gefchrei und Gepolter, recht nach Sinn und Urt der Höhlenbären.

Während Dachs vorfichtig hinterher froch, denn ein Gewühl, bei dem man verlegt werden konnte, war nicht nach feinem Gefchmad, balgten fich Velten, Rotvogel und Klapps ſchon an dem Plage herum, die Hände tafteten, Stiefel fragten über den Boden, man hörte dad Keuchen der Ringenden.

Endlich zündete Witterfchlid fein Licht an und rief: „Kerle, ihr fchmeißt am Ende unferen Obolus noch auf die Erde und ftoßt ihn zwiſchen die Steine! Halt, halt!“

Die hielten einen Uugenbli inne, während auch Dachs fich näher berandrüdte. Nun ftanden bei dem Scheine des fchmächtigen Wachs- ftreichhölzchens die fünf und fuchten, zuerft auf dem Steinlager, dann unten auf dem Boden.

„Seht ihr, nun habt ihr’s in irgend eine Ritze gelehrt mit euern Floffen, nun haben wir feinen Obolus mehr,“ fagte Witterfchlid.

„Entfchuldigen die Herren, ich dachte, die Jugend von Neunkirchen fäme, da habe ich das Stück weggenommen, damit es nicht in fremde Hände falle, bier ift es!“

Die fünf Röpfe der Höhlenbären fuhren herum und fuchten nach dem Sprecher, deffen Elingende Stimme vom legten Winkel des Kellers her tönte.

Zugleich aber nahte ſich eine Geftalt, nun fonnte man den Umriß erkennen, nun ſchon die Gefichtäzüge. Stumm blidten die Höhlenbären auf ben Fremden; eine Feine Mütze, wie fie Bereiter tragen, deckte einen vier: edigen Schädel, dem verfniffenen Geficht gab der vorftehende Unterkiefer und eine rote Narbe, welche die Unterlippe ein wenig trennte, etwas Raub- tierhaftes. Der breite wulftige Hals war bloß, nur lofe mit einem dünnen bunten Tuche ummidelt. Der unterfeste breitfehultrige Körper ftedte in einem höchſt modijchen und eleganten Gummiüberzieher, der zu den fledigen, großgeftreiften Manchefterhofen einen auffallenden Gegenfag bildete.

Mit einer vollendet weltmännifchen Bewegung trat der Eindringling ganz in den büfteren Lichtfreis, das Fünfzigpfennigftüd zwifchen zwei Fingern.

Er reichte es herum.

„ber bitte meine Herren, nehmen Sie doch, ich irre wohl nicht, wenn ich annehme, daß es Ihnen gehört!“

Die Höhlenbären fanden wie dumme Zungen da, zuerft fand fich feiner, der nach dem Gelbe griff. Dachs rüdte im Hintergrund vorfichtig einen Schritt näher zum Ausgang hin.

Endlich ſtreckte Rotoogel die Hand hin und nahm dad Stüd an fid.

„Sch danke fehr!“ „Aber bitte, feine Urſache.“

Die Höhlenbären famen noch immer nicht aus ihrem Erftarren heraus.

„Donnerwetter, Witterfchlid, du verbrennft dir ja die Finger!” rief da plötzlich Rlapps.

C. Ferdinands: Die Höhlenbären. 203

Wirklich war das Wachsftreichholz faft ganz herunter gebrannt.

Statt vorher ein neues anzuzünden, warf Witterfchlid den Reft zu Boden, die Höhlenbären befanden fi) mit dem Fremden im Dunteln, dem Dachs fuhr eine dreifache Gänfehaut über den Nüden.

Klappe, Witterfchlid und Rotvogel hatten zu gleicher Zeit wieder Licht, während Velten auf der Bank ſaß und, die Arme über der Bruft gefreuzt, den Unbekannten betrachtete.

„ber bitte meine Herren, nun laffen Sie fich doch nicht ftören, nehmen Sie doch Plas, zünden Sie doch Ihre Lampen an, tun Sie ganz fo, als ob Sie zu Haufe wären.“

Velten erhob fich, ald wollte er dem Sprecher eine fcharfe Antwort geben.

Rotvogel ftand neben ihm und flüfterte ihm zu: „Sei ftill, laß den Menfchen, fieh doch, der hat ja die Schuhe mit den Sohlen an, das wird ja ein Hauptfpaß !* |

Dann wandte er fih an den Mann im Gummimantel und fagte lachend: „Nein, Herr, wir haben uns ja niemals ftören laffen, weshalb heute, wir haben noch ein paar Flaſchen Tarragona da, darf ich Sie ein- laden, in unferer Höhle unfer Gaft zu fein, wir feiern Abſchied heute.”

„Mit Vergnügen.“

Die Unbeholfenheit, die fich über die Höhlenbären gelegt hatte, wich, eine fraufe Gefchäftigkeit begann, man legte die Säde hin, die Benzin- lampen wurden geholt, während Klapps zu dem Fremden gewendet meinte: „Ta, Sie wiffen ja fo genau, daß wir Lampen bier haben, na, na!“

„ber gewiß, ich habe vorgeftern und geftern alles angefehen, aber felbft- verftändlich, Sie haben mir das hoffentlich doch nicht übel genommen, daß ich mir die fünf Grofchen einmwechfelte, ich hatte gerade Feines Geld nötig.“

Unterdeſſen begann es hell im Keller zu werben.

Us zwei Lampen angezündet waren, rief plöglich Velten: „Laß ich mich hängen, da figt ja noch jemand!”

Der Unbekannte, der fich unterdeffen eine Zigarette angezündet hatte, drehte fich mit einer geziert liebenswürdigen Bewegung, als fpiele er im Zirkus, zu der im äußerften Dunkel bei den Luftfchachten figenden Geftalt und rief: „Sufu, du bift erkannt, fomm her, Schwefterchen, fe dich ang Feuer zu uns hin!“

Sufu, wie es fchien in einen unförmigen Schafspelz eingewickelt, brummte etwas, fehüttelte fich mal, fam aber nicht.

Ihr Geficht konnte man nicht erfennen, aber Rotvogel, der mit Klappe an einer Nifche ftand, um die Flafchen herunter zu holen, raunte diefem zu: „Sufu feheint eine üble Schwiegermama zu fein. Sieht aus wie von Lappland!”

Der Fremde ging nun Suſu felbft holen und 309 fie hinter fich ber bis nahe an das Licht.

„Sufu, die Herren nehmen dir dein Kleid nicht übel, wir find eben fahrende Leute.“

Die Höhlenbären ftanden um das Paar herum, Rotvogel entdedte, daß im Pelzkragen ein rundes Mädchengeficht verborgen fei. „Es ift doch feine Schwiegermama,” zifchte Klapps ihm ins Ohr.

204 C. Ferdinande: Die Höhlenbären.

„Aber Fräulein, warum fträuben Sie fich denn fo,” fagte plöglich Dachs aus dem Hintertreffen.

Das kam fo unbeholfen felbftbemußt heraus, daß alle in ein lautes Gelächter ausbrachen und Velten die Gelegenheit wahrnahm, um den Dachs fchnell einmal in die Kniekehle zu ftoßen, ſodaß er wie ein Tafchenmefler zufammenflappte.

Fräulein Sufu lächelte dazu und ſchien fich heimifcher zu fühlen, denn fie warf den Pelz weg.

„Da laß ich mich hängen,“ murmelte Velten vor fich hin, während die andern nur lauter und fchneller atmeten.

Ein dünner Atlasrof und ein niedriges Mieder von blaffem, wie ausgewafchenem Blau umfchloß eng anfchließend die fchmiegfame, kräftige Geftalt. Ein elfenbeinfarbenes Seidenhemd legte fich lofe um Suſus Hals und fiel mit weiten Aermeln bis auf die furzen, breiten Hände. Offenes braunes Haar fraufte fihb um Stirn und Naden. Ehe Sufu fich feste, ordnete fie ihre Loden, die Aermel fielen zurüd und die matt gebräunten Arme fchimmerten.

Sie blickte mit halbgefenkten Augenlidern im Kreife, Sufu mußte, daß fie fchön war.

Der Unbekannte hatte die Hände in die Seite geftemmt und fah dem Schaufpiel zu, wie ein Maler, der lächelnd die Wirkung feines Bildes auf einen Runftfreund beobachtet.

Klappe und Notvogel hatten noch je zwei Flaſchen in den Händen und auch die anderen ſaßen und ftanden jo da, wie fie gerade die uner- wartete Erfeheinung betroffen hatte, alle ftarrten das Mädchen an, feiner dachte daran, etwas zu fagen.

Dem Eindringling ſchien gar nichts daran zu liegen, diefe ftille An— fhauung zu unterbrechen, er begann zu erzählen, feine Schweiter und er feien Mitglieder einer Zirkusgefellfchaft, die in Neunkirchen während der Kirmes aufgetreten fei, das Geld fei fnapp, deswegen hätten fie in dem Keller übernachtet, morgen gebe e8 nach Holland herunter, er freue fich aber wirklich, diefen Abend in fo anregender Weife mit den Herren GStu- denten verleben zu fönnen, es fei ein föniglicher Gedanke, in diefem Keller bier Kneipe abzuhalten, das fei doch etwas ganz anderes, ald in der Stadt die verqualmten Lokale.

Sufu betrachtete ihre grauen Sämifchlederfchube, legte den Kopf ein wenig auf die Seite und wendete fih an Rotvogel: „Sie machen ja den Wein ganz warm in Ihren Händen!“

Der wurde rot wie ein gefcholtener Schuljunge und feste fcheu feine beiden Flafchen neben ſich; Klappe tat es ihm nach.

Witterfchlid, dem die ganze drüdende Lage auf den Fingernägeln brannte, jprang auf, nahm feine Guitarre und fchlug an.

Da fiel ihm die neue E-Saite wieder ind Auge.

„Haben Gie hier die Saite bingefpannt, Herr?“ fragte er ben Unbekannten.

Der machte eine große Geſte nach Suſu hin.

Witterſchlick ſprang auf: „Sie, Fräulein?“

€. Ferdinands: Die Höhlenbären. 205

„Da, die alte Saite war gefprungen, ich hatte von meiner Violine ber gerade noch eine.“

„Ach danke, danke,” fagte Witterfchlie haftig, „aber fagen Sie, haben Sie die Violine hier?“

„Alles verfegt, Herr,“ fiel der Fremde ein, „alles verfegt, unfereing muß fich fo durchichlagen.“

„Können Sie fpielen, Fräulein, ach bitte, fpielen Sie doch,” fagte Witterfchlid und ging einige Schritte auf das Mädchen zu.

„Nein, gar nicht, ich kann nur ein bischen Violine fpielen, aber du!“

Damit nahm Sufu dem betroffenen Witterfchli die Guitarre ab und legte fie ihrem Bruder auf die Hände.

„Sie find doch nicht böfe, daß ich vorgeftern etwas gefpielt, Herr,“ wandte der fih an Witterfchlid.

„Nein, gar nicht,“ antwortete diefer, ohne Suſu aus den Augen zu laflen.

Das Mädchen ſchien fich in der Wärme all diefer Blicke wohl zu fühlen, fie dehnte und fchmiegte fich wie ein junges Käschen in der Sonne und meinte leichthin: „Na, nun machen Sie mal die Flaſchen auf, wir haben doch Durſt!“

Während der Unbekannte ein wenig an den Saiten herumftimmte und dann Akkorde griff, entlorkten nun die Höhlenbären ihren Weinvorrat.

Klapps 309 den filbernen Becher aus der Tafche und goß ihn voll, er merkte, wie er zitterfe dabei. Dann trug er ihn zu Suſu herüber und bot ihr den Zugendbecher zum Trunk an.

Die nippte zuerft nur ein wenig, ledte fich die Lippen, prüfte und tranf dann ganz aus.

„Das laß ich mir gefallen,“ lachte Velten.

„Ih laß e8 mir auch gefallen,“ fagte Sufu, „die Sorte mag ich.“

Nun ging der Becher fchnell herum, der Unbekannte trank, dann die Höhlenbären, bei der folgenden Runde verzichtete Sufu. Bald waren vier Flafchen leer und laute Luftigkeit wurde wach. Der Eindringling legte den Ueberzieher ab und ſaß in einem MWollenwams da, das die mustulöfen Arme frei ließ. Witterfchlid und er wechfelten fich mit der Guitarre ab, während die übrigen fangen.

Sufus fchneidende, helle Stimme zitterte über denen der anderen; fie bog den Kopf zurüd und fchüttelte ihr Haar. Witterfchlids Volkslieder ließen fie ruhig, aber zu der Hesjagd von Tönen, die ihr Bruder aus den Saiten ſchlug, bewegte fie mit leidenfchaftlihem Atmen die Füße und trommelte mit den Händen auf die Steinbanf.

Noch einmal wurde der Becher von jedem gelehrt, da begann der Fremde ein altes Kölner Schelmenlied zu fpielen, wie ausgelaffene Böckchen ftießen die Töne im Gewölbe gegeneinander. Während er mit den Füßen und dem ganzen Rörper den Tadt hinhadte, wiederholte er immer wieder den Kehrreim:

Juckel nit efu, Wackel nit efu, Sonft fällt et Hüschen in!

206 E. Ferdinands: Die Höhlenbären.

Zudel nit efu,

Wadel nit efu,

Sonft fällt et in!

Fällt auch et Hüschen in, Muß doch gejudelt, jucelt fin, Gev mer ne Bus, Marie, Schenk noch en$ in!

Schon während diefes Liedes, deſſen Rehrreim die Höhlenbären mit- brüllten, war Suſu aufgeftanden und hatte ihren Begleiter angefehen, als ob fie das Ende nicht erwarten könne. Nun bat fie ihn: „Du, fpiel mal Spaniſch!“

Und ſogleich raſſelten die knatternden Tonfolgen eines ſpaniſchen Tanzes unter den behenden Fingern des Unbekannten hervor.

Suſu lief zwiſchen den beiden Steinbänken ein wenig nach rechts und links, um ſich Platz zu ſchaffen, wobei ſie Dachs, der mit offenem Munde ganz vorn ſtand, einen guten Schritt zurückdrängte. Dann begann ſie zu tanzen, ihre Bruſt hob ſich und bebte, ſie tanzte nicht ſchnell, ihre Be— wegungen waren ganz ſo, wie ſie auch ſonſt ſich gab und doch war ein geheimer Einklang mit der atemloſen Muſik. Sie ſchmiegte den Kopf an ihren nackten Arm und küßte ihn inbrünſtig mit geſchloſſenen Augen, ſie hob ſich dabei auf die Zehen und bog ſich in Leidenſchaft. Sie drückte die Hände an die Bruſt, und beugte ſich nieder, dazu flüſterte ſie mit kaum geöffneten Lippen: Suſu, Suſu! Sie hielt die Finger ans Ohr und lauſchte und rief wieder leiſe Suſu. Sie rieb ſich übers Auge, als ſei ſie eingeſchlafen und wecke ſie einer. Der mattblaue Atlasrock legte ſich um ihr rundes Knie und raſchelte, wenn eine neue Bewegung ihn mitzog.

Die Höhlenbären waren ergriffen. Velten ſaß da mit zuſammen-— gefniffenen Augenbrauen, Rotvogel, an Klapps gelehnt, biß die Zähne auf- einander, um Witterfchlidd Mund grub fich ein frauriger Zug ein, er war erfchöpft von der betäubenden Unmut diefes Tanzes.

Allmählich ſchwamm die aufftachelnde Weife, die der Unbekannte fpielte, in ein fchweres Hagendes Moll hinüber, das dann leifer und leifer wurde.

Sufu hatte die Augen faſt ganz gefchloffen, die erhobenen Hände lagen in ihrem Haar an den Schläfen, fie wiegte fich faum mehr, fie fchien nur manchmal aufzubeben, von einem wüften Traum befangen. Und fo bielt fie noch eine Weile, als ihr Begleiter ſchon geendet hatte, fich den Leberzieher anzog, aus dem filbernen Becher, der neben ihm fand, einen langen Zug tat und ihn, ohne daß die Höhlenbären darauf achteten, in feiner Tafche verfehwinden ließ.

Da dröhnte plöglich ein dDumpfes Getöfe aus dem äußerften Winkel des Kellers, ein paar Steine fullerten aus einem der Luftfchachte herunter, der Fremde fprang nach der Ede zu, Sufu lief mit angftvoll aufgeriffenen Augen hinter ihn.

Die Höhlenbären ftellten ſich zufammen.

C. Ferdinands: Die Höhlenbären. 207

Da kamen aus dem Schacht ein paar frabbelnder Beine zum Vorſchein, wie ein Klotz fiel ein Menfch herunter.

Klappe trug Licht näher hinan.

Es war ein mißgeftalteter Zwerg mit roten QUugenlidern.

Er ftotterte; der Unbekannte fchüttelte ihn derb an den Schultern, endlich machte ſich der Krüppel verftändlich: „Der Putz ift da, Gendarmen recht3 und links, macht euch fort, der Kreis ift bald geſchloſſen!“

Ohne ein Wort zu verlieren, nahm der Fremde Sufu auf, ſchob fie in den Schacht, ließ den Zwerg nachflettern und folgte dann felbft. Vorher rief er noch gedämpft den Höhlenbären zu: „Schnell, meine Herren, die Gendarmen! Gie werden alle beftraft!“

Ohne weiteres kroch Velten hinter ihm her, Witterfchlid folgte ihm, Rotvogel und Klappe verfuchten den andern Schacht. Gteine fielen auf die Kletternden nieder, einer fehlug tönend an die Guitarre, die Witterfchlick fi) umgehängt hatte. Ehe fie dachten, waren die vier oben, Rotvogel und Klapps fo früh, daß fie zu dem anderen Schacht laufen und Suſu beim Ausfteigen belfen konnten. Rotvogel, der Suſus runde Bruft an der feinen gefühlt hatte, hätte fie am liebften ergriffen und ftundenlang durch den Wald getragen.

Unterdeffen waren in aller Stille der Zwerg, der Unbekannte und Velten oben herausgeftiegen, da ftolperte Witterfchlic, der zulegt fam, und fiel mit der Guitarre auf einen Baumftumpf, das gab einen dumpfen, metallenen Ton.

Sogleich wurden unten in der Talfohle und am DBerghang Stimmen lebendig, man hörte Schritte, unterdrücktes Befehlerufen, das Tal und der Hang fchien befegt, die Höhe noch frei, man ftob nach allen Geiten aus— einander der Höhe zu.

* * *

Während dem war Dachs noch immer in der Höhle. Er hatte mehr- mals verfucht, den anderen zu folgen, doch war er in die Röhre überhaupt gar nicht hineingefommen, die Arme trugen ihn nicht jo hoch. Er machte noch mehrmals einen Anlauf, es gelang nicht. |

Nun feste er fich wieder bei den drei Benzinlampen hin und ftarrte nach dem Eingang; er erwartete jeden Augenblic die Gendarmen eintreten zu fehen. In dem Rahmen der Mauer lag wie ein ſchwarzes Loch der vordere Keller, Funken fchienen ihm da zu tanzen und blaue Ringe zu kreifen. Er dachte daran, dab fein Vater Amtsgerichtsrat fei, an feine Mutter, an die Schule. Nun fällt ihm der Becher ein, auf dem mit den andern fein Name fteht, er fucht haftig danach und überzeugt fich, daß er nicht mehr da if. Dann löfcht er plöglich alle Lichter aus, er taftet fich durch bis an den Quergang und von da bis in den erjten Stollen, der ins Freie führt.

Er hörte draußen leife reden, er fteht mit herzklopfender Angſt zwifchen den Trümmern.

Da rief von oben irgend woher eine Stimme: „Sie, Gerharz, bie

208 E. Ferdinands: Die Höhlenbären.

Kerls find den Berg herauf, wer weiß wie, ausgeriffen, fommen Sie noch mit herauf. Sie, Bender, bewachen den Eingang, ftehen im Anfchlag, fommt einer, Hände body, fonft fchießen Sie!“

„Jawohl, Herr Leutnant!“

Dachs hörte den Schritt des Davoneilenden und mußte, daß dem Eingang gegenüber der Mann mit dem Gewehr in Anfchlag ftand. Er dachte, hätte ich eine Flinte, könnte ich den Mann wegfchießen; er fchüttelte fich, wurde diefe Vorftellung aber nicht 108.

Minuten vergingen, die länger ald Stunden waren. Das Eingangs- tor erfchien immer heller, e8 war, als ob draußen Morgendämmerung fei, die Büfche gegenüber bewegten fich im Wind.

Da rief wieder die Stimme: „Bender, es fcheint, daß der Narben- guftan hier oben dabei war, Nickenich hat ihn deutlich erkannt, das Mädel ift ficher dabei, die blaue Fahne habe ich felbft gefehen. Gehen Sie mal in den Keller herein und fehen Sie nach; ift noch was da, fo fchießen fie, dann fomme ich.“

„Sawohl, Herr Leutnant!“

Dachs fühlte, wie fein Herz ftill ftand. Langfam kam der Polizift heran und ging gerade auf ihn zu. Uber nachdem er ſechs Schritt ing Dunfel gemacht hatte, blieb er ſtehen und ſah nach dem Gewehr, der Hebel nackte.

Dachs überlegte, ob er auf den Mann zugehen und ihm die Sache erzählen folle, aber er unterließ es, weil er fürchtete, daß der Polizift blind- lings auf ihn fchieße.

Der wirtfchaftete unterdeffen zwiſchen den Steinen herum, plöglich aber wandte er fich wieder um und ging hinaus.

„Herr Leutnant!”

„Bender !“

„Der Keller ift leer, Herr Leutnant, find alle ausgerückt!“

„Dann kommen Sie, Bender, oben find wir nöfiger. Es ift ein ordentliches Treiben diefe Nacht!”

Dann fallen, während die Schritte der Poliziften fi) den Berg hinauf verlieren, zwei Schüffe, furz nacheinander. Das Blut fchießt dem Dachs in den Kopf, er ftellt fich vor, daß einer der Höhlenbären blutend im Graben liege. Das Weinen ift ihm nahe, die Angſt frampft ihn zufammen. Er drückt fich vorfichtig bi8 an den Eingang, er wartet lange, lange Zeit, ehe er beraußtritt. Dann fpringt er mit fcheuen Sägen die alte Straße herunter, auf dem Felde vor Neunkirchen fühlt er fich fehon ruhiger, auf der großen Heerftraße angelommen, fist er auf einem Kilometerftein und wird faft ohnmächtig.

Dann aber kehrte er dem dunkeln Berg den Rücken und ging nach Hauſe, als wenn er aus der Turnſtunde käme. Wie gewöhnlich ſchloß er die Türe auf, ſtieg das dunkle Treppenhaus hinauf bis auf ſein Zimmer.

Er legte ſich zu Bett und grübelte darüber, weshalb wohl die ganze Hetzjagd von der Polizei angeſtellt worden ſei. Je mehr er nachdachte, deſto weniger geheuer erſchien ihm die Sache mit dem Fremden. Er fand auch ſchließlich Schlaf, aber immer wieder fuhr er zitternd auf, immer

C. Ferdinands: Die Höhlenbären. 209

wieder weckte ihn derfelbe gräßliche Traum, er hörte die fcharfen Schüffe, fah den langen Velten blutüberftrömt auf einem Waldiweg liegen, den Zugendbecher in der Hand.

* * *

Die anderen hatten fich, als fie den Abhang des fühlen Tales hinauf- Hletterten, zuerft noch ziemlich zufammengehalten, als ihnen aber faft auf der Höhe eine barfche Stimme entgegenfchrie, ftoben fie nach ziwei Richtungen auseinander. Witterfchlid und Rotvogel hatten Sufu in ihrer Mitte und halfen ihr, wo es ging.

Klappe, Velten und der Unbekannte waren nach der andern Geite durchs Gebüfch gebrochen.

Witterfhlid und Rotvogel hielten einen Augenblick und horchten. Bon rechts, links und oben tünte das Rufen der Verfolger.

Witterſchlick mit feiner Guitarre drängte nach oben weiter.

Rotvogel blieb zurück und flüfterte dem Mädchen zu: „Wir wollen herunter, unten im Tal ift e8 jest ſtill!“

Vorſichtig ftiegen die beiden zwifchen den dicken Rnüppelbuchenknorren herunter. Im der näheren Umgebung fchien e8 ganz ruhig, der Lärm von oben fam gedämpfter, ald wenn er ſchon hinter der Bergkante herkomme.

Rotvogel zitterte vor Erregung. Er fühlte den gefpannten Arm des Mädchens, wenn er ihr beim Klettern half. Solange wie es fteil abwärts ging, ſtützte fie fih ganz auf ihn, als aber unten der Eichenhochtwald anfing und die Böfchung ſich mehr und mehr abflachte, merkte er, wie fie vor- fihtig ihren Arm aus dem feinen löfte,

Er wollte ihre Hand nehmen und fie füffen, fie 309 fie ihm heftig zurücd: „Ach laflen Sie doc den Schnack!“ fagte fie faft zifchend.

Mit jedem Schritt nach unten zu wurde es heller, man fonnte die Felder fchon deutlich zwifchen den Stämmen fchimmern fehen, mit jedem Schritt leuchtete aber auch Suſus blaues Kleid fchärfer auf.

Rotvogel drüdte das Mädchen ind Moog nieder und flüfterte: „Warten Gie hier, man fann ihr Kleid fo gut erkennen, ich will mal an den Waldrand, fehen, ob abgefperrt ift.“

Angelommen, fpähte er über die Feldmark; e8 war eine klare Nacht, die Sterne lagen tief im Himmel, Neunfirchen drohte wie ein ſchwarzes Bollwert am Horizont. Zwifchen dem Dorf und den Bergen führte der Gemeindeweg, er zeichnete fich lichtgrau ab gegen das dunfle Grün der Aecker, fehneeweiß tauchte hier und da ein Prellſtein auf.

Auf dem Wege und im Felde war wohl niemand; doch, die Reihe der Prellfteine war unterbrochen, ftatt deſſen fchien ein dunfler Baumftumpf an der Stelle zu fein, nein, e8 bewegte fich doch, Rotvogel erkannte den Helm und das Geitengewehr, er wußte genug.

Er fchlich fich wieder zu Sufu zurüd, die an den Wurzeln der Eiche zufammengefauert hockte. „Wir kommen nicht heraus, befonders Gie in dem hellen Kleide nicht, der Weg ift befegt, da fteht ein Gendarm!“

Jetzt erft bemerkte er, daß Sufu meinte, es fchüttelte fie fo beftig, daß ihre Schultern zudten. Er ftrich ihr fcheu durchs Haar und fragte:

Süddeutfhe Monatähefte. 1,9. 14

210 €. Ferdinands: Die Höhlenbären.

„ber nun fagen Sie doch nur, weshalb ift die Polizei nun eigentlich fo binter Ihnen?“

„Weiß ich? gegen ung geht's immer, wir haben fein Recht, elend ift es ja, feinen Augenblid Ruhe haben,“ das Hang hart wie Glas, das zerfpringt.

„Wollen wir verfuchen am Rande hinzugeben, um hinter den Dörfern ber in die Stadt zu fommen?“

„Mir egal, ich bin fo mübde.“

Wieder ftrich Rotvogel ihr durch das feuchte Haar, fie zudte zurüd, ald wenn glühendes Eifen ihr nahe gekommen fei.

Da fielen oben im Berg die langnachhallenden Schüffe.

Sufu halb aufgerichtet, jammerte faft laut: „Das waren ſcharfe Schüffe, jest haben fie ihn getroffen, jest haben fie ihn!“

Und dann warf fie fi) Notvogel, der neben ihr fniete, an den Hals und flüfterte leidenfchaftlih: „Kommen Sie, wir müffen hinauf, wir müffen, oben hinauf, fehen, was gefchehen ift!“

Dhne zu antworten, füßte Rotvogel ihre Wangen, ihr Haar und ihren Hals.

Sie ließ fih ihm, bat nur leife: „Nun kommen Gie, ach bitte!“

„Es geht doch nicht, Mädchen, es geht doch nicht, man ſieht Doch das Kleid, es ift ja alles voll Poliziften oben. Wer weiß, was der Schuß fol, ein Jäger vielleicht!”

Er füßte fie wieder.

„Kein Zäger, ach das weiß ich zu gut.“

Dben hinter dem Berge fchrillten die Polizeipfeifen.

Sufu wimmerte leife.

Plöglich ſchmiegte fie fi) ganz eng an Rotoogel und fagte mit einer auffchluchzenden, girrenden Stimme: „Ach, mich friert fo!“

Der preßte fie an fich, fprang auf, warf feinen Rod aus und zog ihn dem Mädchen an.

„Iſt es beifer fo, Rind?“

Mit beiden Händen nahm er ihren Kopf und wollte wieder füffen, da fühlte er feine Finger umflammert, einen jähen, reißenden Schmerz, fodaß er aufichrie und das Mädchen los lieh.

Die ein Schatten verfehwand Suſu den Berg hinauf.

Bon dem Zeigefinger feiner rechten Hand tropfte e8 warm, Blut; er laufchte, von Sufu war fehon nichts mehr zu hören.

Er atmete einmal tief auf, dann widelte er fein Tafchentuch um die blutende Hand.

Nun fiel ihm erft ein, daß er ohne Rod fei. Es war ihm faft gleich- gültig. Wohl eine Diertelftunde faß er da, feine Schläfen klopften und das Erlebnis überftrömte ihn. Dann ward er Harer und fiberlegte.

Er pirfchte fih wieder bi8 ans Feld, der Gendarm drüben war meg. Gebückt fchlich er ſich durch den Sturzader weiter, immer näher an den Weg, jest erreichte er ihn, nichts regte fich, jegt überfchritt er ihn und näherte fich den Gärten von Neuentirchen.

Nur ja nicht in eine Kneipe gehen und um einen Rod bitten, fagte er zu fich felbft. Lieber fo verfuchen.

€. Ferdinands: Die Höhlenbären. 211

Er fchritt auf der Straße, nun lag dad Dorf ſchon hinter ihm, nun famen fchon die erjten Häufer der Stadt.

Drei, vier Leute gingen an ihm vorbei, er taumelte, als fei er be- trunfen, das Eichenlaub am Hut paßte dazu.

GSelbft der Nachtwächter fah ihm lachend nach, vielleicht hielt er ihn für einen Meggersburfchen, der draußen gefchlachtet hatte und nun ſchwer geladen nach Haufe 309.

Us er unbehelligt oben auf feinem Zimmer anfam und das Licht angezündet hatte, ſank er aufs Bett.

Nun wo die erfte Gefahr vorüber war, befiel ihn die ſchwere Frage: was gefchah mit deinem Rod. Er überlegte, in den Tafchen war nichts Befonderes: Feuerzeug, ein Tafchenmeffer, ein Pfropfenzieher. Uber die Brufttafche hatte er die Briefe herausgelegt oder nicht; jäh fprang er auf und fuchte in feinem Schranfe herum.

Da lag das Häuflein Briefe, heute mittag hatte er fie zufällig, faft achtlos hingelegt, jegt nach Mitternacht war's ein Schag für ihn.

Er ging nicht zu Bett, er Löfchte das Licht, ſaß am Fenſter und dachte über den vergangenen Abend nach, er fchien ihm ſchon Monate lang vergangen zu fein.

* 3* *

Als Witterſchlick ſich ſo unvermutet allein ſah, wollte er zuerſt wieder herunter, den Beiden nach.

Da hörte er in ſeiner Nähe leiſe, aber ſchwere Schritte.

Er ſchritt unverzüglich den Berg hinan, immer hörte er die Schritte hinter ſich, bald näher, bald entfernter. Er deckte die Guitarre mit ſeinen Armen, weil die Zweige, durch die er ſich drängen mußte, an das Holz anſchlugen und ein klingendes Geräuſch verurſachten. So kam er bis an die Bergkante; wollte er nun weiter ins Gebirge hinein, ſo mußte er eine ausgedehnte kahle Heidefläche überſchreiten, oder rechts oder links am Rande entlang laufen bis zu den Stellen, wo das dichtere Buſchwerk wieder anfing auch die Hochebene zu bekleiden.

Die Schritte ſchienen ihm bald von rechts, bald von links zu kommen, er wußte nun nicht mehr, wohin er ſich wenden ſollte.

Er ſtand im Finſtern unter dem breiten Buchendach und fühlte ſein Herz klopfen.

Dann begann er kurz entſchloſſen an einem der Stämme empor zu ſteigen, deren zahlreiche Seitenäſte das Klettern erleichterten. Oben an— gekommen, verbarg er ſich ſo gut es ging im falben Laub und drückte ſich nahe an den Stamm; von ſeinem Hochſitz aus konnte er die Heidefläche und die Wälder in der Runde überſehen, ſogar die Lichter aus dem Rhein- tal fchimmerten herauf.

Er horchte, jest kam ganz deutliches Nafcheln von links, ſtoßweiſe wurde e3 laut, dann wieder ftill.

Er hielt den Atem an, nun war es fchon nahe am Rand, wie von Mehreren, die vorfchleichen. Es konnte fünfzig Schritte weit entfernt fein. Nun bewegte fi) etwas am äußerften Bufch, nun ſchob es fich wie gebückt

212 €. Ferdinands: Die Höhlenbären.

vor. Es war ein Reh, drei andere folgten. Das erfte äugte lang auf den Wald zu, dann fenkte e8 den Ropf und begann zu äfen. Die beiden anderen rupften auch ſchon das Heidegras ab.

Da fielen zwei Schüffe, ziemlich weit ab, in der Richtung der großen Schneife. Mit einem Ruck hoben die Rehe den Kopf wieder und ftanden wie aus Erz gegofjen. Die Schüffe fehienen fie aber nicht zu beunruhigen, Witterfchlik fah, wie fie wieder Aefung fuchten.

Ein weiches und friedliches Gefühl der Sicherheit und Weltabgefchieden- heit überfam ihn. Ein Streifen hellerer Wollen warf mildes Licht in die Landfchaft, die wellige Linie der Gebirge drüben auf der anderen Rheinfeite begann fich fcharf gegen den Himmel abzuheben. Eifenbahnfignale Hangen durchs Land und hallten verfchwimmend aus den Schluchten wieder.

Langfam, Schritt vor Schritt gingen Rehe über die Heide auf die gegenüberliegende Kiefernfchonung zu, die weißen Spiegel tauchten noch immer aus dem tiefen Heidekraut auf.

Witterfchlid fam gar nicht auf den Gedanken, daß die Schüffe einem der Berfolgten gegolten haben könnten; er hatte in der Höhle die Worte des Zwerge und den Zuruf des Fremden nicht verftanden und glaubte, daß nur die Neunfirchener Bauern aus alter Feindfchaft hinter den Höhlen- bären ber feien.

Er hörte unten an der Erde etwas fcharren, ein Raninchen kratzte fi) eine Röhre, nun famen noch drei andere, die vier Tiere fpielten mit- einander, liefen fich nach und nagten an den Wacholderfträuchern herum.

Sonft lag Berg und Tal ganz ftille da.

Witterfchlid fah eine Zeit lang dem Treiben der Kaninchen zu, dann fam ihm ein drolliger Einfall; er mußte halblaut lachen. Er feste fich feſt auf feinem Plage, bog den linken Arm noch zum Ueberfluß um einen Aft und dann nahm er feine Guitarre vor. Zuerft ftrich er mit flachem Finger über die Saiten, fo daß die Akkorde nur ihm felbjt vernehmlich blieben, dann auf einmal griff er den vollen Ton; als habe der Blis zwifchen fie eingefchlagen, fuhren die Kaninchen ind Gebüfh. Witterfchlid fpielte den König in Thule, die E-Saite Hang anders ald am Abend, klar und rein. Er ſah auf die neue Saite, er dachte an Suſu; das Bild des fanzenden Mädchens legte fich beruhigend in feine Geele, aus jeder ihrer Bewegungen mwuch® eine beglückende Erinnerung.

Ohne daß er e8 merkte, verließ er die dumpfe Weife und leitete mit ein paar Tonfolgen in ein anderes Lied über: „Es ift eine Ros entfprungen aus einer Wurzel zart“ ; er fummte dazu die erfte Stimme, doch ohne die Worte der Strophen auszufprechen. Die hohen Kiefern, welche rechter Hand die Heide entlang ftanden, fauften im Einklang, die Buchenblätter um ihn furrten leife, der erjte Morgenmwind glitt in die weite fchlafende Rheinebene hinab.

Als fein Lied zu Ende war, ftieg er vom Baume herunter und ging unbebelligt über den Berg nad) Haufe.

* = *

Der Anbekannte und die zwei übrigen Höhlenbären hatten weitaus die ſchärfſte Verfolgung auszuhalten. Schon gleich zu Anfang zogen ſie

GE. Ferdinands: Die Höhlenbären. 213

den Gendarmen, der die Gefelljchaft durch fein Haltrufen auseinander ge- trieben hatte, hinter fich her. Es ging eine wilde Hegjagd mit großen Sätzen den Abhang hinauf; Feiner fprach ein Wort, es war ein tierifches Vor— wärtshaften. So hörten fie, als fie oben an der Kante anfamen, ihre Ver- folger noch auf halber Höhe durchs Didicht ftampfen.

Der Fremde wifchte fich mit dem Rüden der Hand über die Stirn und fagte halblaut: „Na, das wäre gefchafft, ehe die oben find, haben wir den Fahrweg und fünnen nach der Stadt herunter!“

Klappe, noch ziemlich hinter Atem, fragte gerade den Unbekannten in einem heftigen Tone, was er denn eigentlich mit der Polizei habe, als, ehe diefer ihm antworten konnte, etwa dreißig Schritt von ihnen ab einige Schatten auftauchten und jemand Feuchte: „Herr Leutnant, da find ja die Kerls!“

Die drei fuhren auseinander, Velten wieder quer den Berg hinab auf die Stadt zu, Klappe und der Fremde im erften Schreden gerade auf die fahle Haidefläche hinaus. Kaum waren fie aus dem Gebiete der Baum: fchatten heraus, als fich hinter ihnen und von den Geiten ber Pfeifen und Rufen erhob. Die beiden, dicht aneinander, liefen wie Pferde. Das ver: wachfene Haidekraut vor den windfchnell bewegten Schenfeln riß entzwei wie welkes Gras.

Us man hinter ihnen her rief: Halt, ich fehieße, waren fie fchon binter den erften Safelnußbüfchen der gegenüberliegenden Geite.

Klapps, der jegt nur den einen Wunfch hatte, der Polizei zu ent« fommen, um nicht in irgend eine Unterfuchung verftrictt zu werben, rief feinem Begleiter zu: „Nach links, nach der Schneife, dahinter ift Fichten- didung, da kann feiner nach!“

So bogen die beiden im Schuge der Gebüfche jäh nach links ab. Als fie noch zehn Minuten weiter geeilt waren, ftanden fie einen QUugen- blick, um zu borchen; da alles ftill fehien, gingen fie langfamer weiter auf die große Schneife zu. Nun durchquerten fie ſchon den dünnen Kiefer- wald, der die Schneife begrenzt. Wieder horchten fie, fein Geräufch.

Nun gingen fie hintereinander über die breite Schneife, da gellte dicht bei ihnen: Halt, halt, halt! Kaum war das dritte Halt verflungen, als kurz nacheinander zwei Büchfenfchüffe fielen. Klappe hörte die Kugel vorbeifchneiden, einen dumpfen Auffchlag, er fah den Unbekannten taumeln, dann aber mit verzweifelten Sägen auf die Dickung zufpringen.

Das hohe Moos, das zwifchen den Fichten wuchs, verjchlang die Schritte der beiden, immer tiefer drangen fie in die Schonung ein. Bisher war fein Wort gemwechfelt, nur der pfeifende Atem war hörbar.

Da ſah plöglich Klapps, wie der Unbekannte in einen Aſt griff, wantte und dann lautlos zufammenbrad.

Die beiden Schüffe hatten Klappe ganz von Sinnen gebracht, nun faßte er fich wieder und fniete bei dem Fremden nieder. Der warf einen Mund voll aus, ein dunkler Streifen lief über feine Wange.

„Blut!“ raunte Klappe in tiefem Entjegen.

„Sch hab's in der Lunge,“ röchelte der andere, er wollte weiter fprechen, doch ein neuer Huftenanfall, den er aber zu dämpfen fuchte, unterbrach ihn, wieder quoll Blut hervor.

214 » €. Ferdinands: Die Höhlenbären.

„Sch kann nichts mehr fehen vor Augen, ich glaube, es hat gepadt 2 RE * und wieder kamen quälende, auffchnappende Huftenftöße.

Klappe Iniete noch immer neben dem Schwerverwundeten, er fämpfte mit fih, er wollte fragen, weshalb diefe wüſte Verfolgung fei, aber er brachte die Worte nicht über die Lippen, das ftumme GSichabquälen des Mannes, der neben ihm im Moos lag, ließ ihn fchweigen, er litt bebend unter dem Gefühl, nicht helfen zu können.

Kein Aft bewegte fich, weit die Schneife hinauf Fang eine fchrille Dolizeipfeife.

„Die Gendarmen fcheinen weg zu fein, fie denten wohl, daß fie gefehlt haben!“

Der Fremde nidte ein wenig, dann verfuchte er nach feiner Tafche zu greifen, der Arm fiel aber fraftlos nieder. Er wollte etwas fagen, da brach ein neuer Blutftrom bervor und plöglich ftredte er Arme und Beine lang aus, 309 das rechte Bein noch einmal an, ftredte e8 wieder, ftieß einen hauchenden Laut aus und lag ftill.

Eine Weile fniete Klapps noch, ohne fich zu rühren, denn er glaubte, ber Verwundete fei vor Erſchöpfung eingefchlafen.

Dann befiel ihn aber eine unfaßbare Unruhe. Der Daliegende fchien nicht mehr zu atmen.

Klappe beugte fich vor, e8 war nicht? zu hören, er bob den noch warmen Arm in die Höhe, der fiel wie ein Stein auf den regungslofen Körper. Er faßte einen der halb gefchloffenen Augdedel an, das Auge blieb offen ftehen, graufig fah es in den Himmel.

Klappe kniete im tiefen Dickicht allein bei einem unbefannten Toten; er ftand auf und wagte nicht, fich zu bewegen; fo ftand er lange.

Da kreifchte e8 dicht neben ihm gellend auf; als wenn er einen Schlag auf den Kopf befommen habe, wanfte er, fein Herz fchlug bis an den Hals. Wieder kreifchte es, er war ruhiger, jest erfannte er den Laut, ed war ein Waldfauz, den wohl der frifche Blutgeruch angelodt hatte. Er machte einen Schritt vorwärts, da fuhr das Tier fauchend aus den Imeigen auf, wieder frampfte ihn ein tödliches Erfchreden zufammen.

Sein Blid blieb in der Höhe, die Wipfel der Fichten und das aus- gezadte Stück Nachthimmel darüber ftarrte er unverwandt an. Achtlos faßte er an feinen Hut, da fühlte er die Eichenzweige daran. Als wenn die Berührung der fühlen Blätter ihn gewedt hätte, fuhr er auf. Er zog haftig den Hut ab, riß die beiden Aeftchen unter dem Bande hervor, warf fie ing Moos und drückte fie mit dem Fuße tief in das wollige Polfter ein.

Dann wandte er fich jäh um und irrte, ohne den Toten noch einmal angefehen zu haben, im Didicht herum.

Endlich fand er den Ausweg.

Er hielt auf die Schneife zu. Als er fie erreicht hatte, ging er mit langfamem Schritte herüber, ohne nach der Geite zu bliden.

Alles blieb ftill.

Sp ging er auch weiter den Berg hinab, langfam, mit ſchwerem Schritt, vorwärts ohne umzufehen.

* *

GE. Ferdinands: Die Höhlenbären. 215

Während fonft die Höhlenbären morgens im legten Augenblid vor Beginn des Anterrichts mit verfchlafenen Augen in das Schulzimmer gelaufen famen, waren fie heute bi8 auf Velten vor dem eifernen Tor ver- fammelt, noch ehe es um halb acht aufgefchloffen wurde. Gie fahen bes- wegen aber nicht weniger übernächtig aus.

Man gab fich die Hand und fand zuerft die Worte nicht.

„Himmeldonnerwetter, wer hat denn oben gefchoflen?” fragte Rot- vogel, nachdem Witterfchlid, Dachs und er felbit ihre Erlebniffe mit atem- lofen Sägen erzählt hatten, er felbft aber einiges weggelaffen und feine ver- bundene Hand in der Tafche verborgen hatte.

„Ich weiß nicht!” fagte Rlapps und fah wie fragend, ernft im Kreiſe.

„Ih dachte, es ſeien Jäger geweſen,“ rief Witterſchlick, „das iſt ja toll, ein ganzes Aufgebot von Gendarmen! Aber wieſo, weshalb denn, wir find doch feine Staatsverbrecher!“

„E38 hängt wohl mit dem Fremden und dem Mädchen zufammen,” meinte Rotoogel, bei fich nannte er fie Sufu, laut fprach er von ihr als von „dem Mädchen.“

„Wohl möglich,“ fagte Klapps leichthin, „ein Glück, daß wir nicht hineingemengt werden fünnen, das genügte, um und kurz vorm Eramen von der Schule zu jagen.”

„ber Velten ift doch noch nicht da, wer weiß etwas von Velten?“ fragte Witterfchlict, der erft jegt verftand, was fich abgefpielt hatte.

Klappe erzählte, was er wußte und meinte dann, er käme doch immer ziemlich fpät.

„Wir andern fonft doch auch, aber heute find wir alle bier, nur Velten nicht.“

„Den Belten fingen fie ficher nicht, der läuft beffer als alle Gendarmen zufammen, wir wollen erft mal warten.“

„Daft du den Becher, Klappe?“ fragte Dachs mit unficherer Stimme.

Der war viel zu fehr von allem, was in der Nacht gefchehen, erfüllt, als daß er an den Becher gedacht hätte. Test ſagte er ziemlich betroffen: nein, ich habe ihn nicht, das ift ja feheußlich, der liegt dann noch in der Höhle, nun kommen wir doch noch in die Tinte!“

„Ich war doch zulegt in der Höhle, ich habe danach gefucht, er ift nicht in der Höhle, ficher nicht, ich weiß es genau,“ fagte Dachs ſchnell.

Die Gefichter der Höhlenbären wurden lang.

„Wenn fi Dach nicht irrt, fo muß der Fremde oder die Tänzerin ihn haben,” ſchob Witterfchlid ein.

„Das Mädchen hat ihn nicht, die hat ja feine Tafchen, um ihn zu verbergen. Alfo muß der Fremde ihn mitgefchleppt haben. Klappe, du warſt doch am längften bei ihm, erzähl noch mal!“

Klapps machte ein paar frippelnde Schritte, als fei Feuer in feinen Sohlen, dann ftand er wieder aufgerichtet ftill da.

nBelten ift noch immer nicht da,” fagte Dachs; unterdeflen war das Tor nämlich längft geöffnet, die Schüler ftrömten hinein und warfen neu- gierige Blicke auf die vier Primaner, die feitwärts am Gitter ftanden und fo erregt auf einander einfprachen.

216 €. Ferdinands: Die Höhlenbären.

„Stil, Dachs, laß den Klappe doch erzählen I”

„Wir hatten die Gendarmen auf den Ferfen, gingen den Abhang hinauf, am Heiderand ftanden wieder Gendarmen, wir jagten über bie Heide auf die Schneife zu, hinter der Schneife wurden wir... famen wir auseinander in der Dunkelheit... ich ging dann nach Haufe.“

„Haft du den Mann gefragt, Rlapps, weswegen das alles fei?“

„Sch wollte ihn fragen, doch wurden wir auseinandergetrieben, ich fonnte ihn dann nicht mehr erreichen, das war hinter der Schneife.“

Nun ſchien es gewiß, daß der Fremde den Becher mitgenommen oder geftohlen habe.

Es war böchfte Zeit, der Zeiger ftand ſchon auf zwei Minuten vor Acht; die Höhlenbären gingen ins Gebäude hinein, Klappe voran, gebeugt, wie in tiefe8 Nachdenken verfunten.

„Zelten ift immer noch nicht da,“ zifchte Dachs zwifchen den Zähnen.

Man feste fih; der Klaffenlehrer hatte ſchon die Türklinfe in der Hand. Die Höhlenbären fahen fich höchſt beftürzt an.

Da fam Velten an; fonft war er, felbft wenn er zu fpät fam, ganz rubig und bebaglich auf feinen Pla gegangen, heute war er mit brei Schritten an feiner Stelle neben Klappe, warf feine Mappe ins Gefach, verficherte fich, daß die Zunächftfigenden nicht laufchten und flüfterte dann fchnell: „Es fteht fchon in der Zeitung, der Alte hatte das Blatt, ich konnte es nicht eher friegen, deshalb fo ſpät erft, lies!”

Er reichte unter dem Tifch das Blatt feinem Freunde hin, mit dem trat auch der Lehrer ein und der Unterricht begann.

Klapps hielt die Zeitung in der Hand, feine Augen verfchwammen ihm, er kniff fie ein paar mal heftig zufammen, nun konnte er lefen; da ftand, daß die Polizei endlich dem entwichenen Zuchthäusler Guſtav Roffel- mann, genannt Narbenguftav auf die Spur gelommen fei. Er habe ſich während der Kirmes in Neunfirchen aufgehalten, in feiner Gefellfchaft habe fih ein noch unbefanntes Mädchen befunden; es fei unterdeffen auch er- wiefen, daß derfelbe Guſtav Roffelmann mit dem Verfchwinden des Rauf- mannslehrlings Schufter aus Elberfeld zufammenhänge. Es feien Anhalts- punkte dafür, daß er den jungen Mann durch das Mädchen in Köln an fi) gelodt und ihn dann irgendwie beifeite gefchafft habe. Man babe fpät abends feinen Schlupfwintel in einem Gemäuer im Walde ausgemacht, auffallenderweife habe er, was nicht vermutet wurde, eine Anzahl Spieß- gefellen bei fich gehabt; die Verfolgung, welche zur Zeit noch immer im Gange fei, habe bisher zu feinem Ergebnis geführt. Man fei jedoch dem Berbrecher auf der Spur.

Wieder verfchwamm die Schrift vor den Augen bes Lejenden; es war ihm, als hänge er mit feiner Bank ganz allein im Weltraume, es faufte und fang um ihn, wie von Sternen und Schidfalen.

Da rief der Gefchichtölehrer feinen Namen auf und fagte: „Nun bitte, erflären Sie mir die Urfachen des fpanifchen Erbfolgefrieges.“

Und Klapps ftand auf und gab mit zufammengefniffenen Augbrauen feine Antwort, fo furz und beftimmt, daß der Lehrer fich zu einem beifälligen Niden berbeiließ. * i «

GE. Ferdinands: Die Höhlenbären. 217

Gegen Mittag begann ein dichter fprühender Regen zu fallen, die Dächer in den Dörfern am Vorgebirge trieften und glänzten, den nächften Kirchturm konnte man nur ald grauen Schatten fehen, fo dicht und fein war der Wafjerftaub in der Luft; fein Wind rührte an die naffen Aeſte im Forft, feine Bewegung, nur daß die regenbefchiwerten, gelben Blätter leife von den Aeſten abfanfen.

In den Schluchten fingen die ausgetrockneten Waflerläufe wieder an fich zu füllen und auf der Hochebene fog Moos und Heide wie ein Schwamm die Feuchtigkeit auf. Die Waldarbeiter, die Bauern, die für ihr Vieh Streu im Gebüfch zu fuchen pflegten, die Weiber, welche Reifig fammelten, alle waren zu Haufe geblieben, weil man in folhem Wetter feine zehn Schritt durch die Didung gehen fonnte, ohne bis auf den legten Faden Durchnäßt zu fein.

Da ftieg Klappe auf einem weiten Ummege, faft eine Stunde noch hinter der Schneife ind Gebirge. Er fürchtete fich, er fam fich vor wie ein Dieb auf Diebswegen.

Die Mittagszeitung hatte einen ziemlich genauen Bericht gebracht, des Ziegenfellmanteld und der GSäde in der Höhle war Erwähnung getan, fonft aber fchien man dort nicht? Auffallendes gefunden zu haben. Da- gegen wurde erzählt, daß gegen die zweite Morgenftunde ein Mann, auf den die Befchreibung des Narbenguftavs paßte, in der Nähe der Förfterei bei Befenfeld gefehen worden fei. Befenfeld lag hinter dem Gebirge am andern Ende der Schneife. Dadurch fei erwiefen, daß die Gendarmen recht gehandelt hätten, wenn fie ihre Verfolgung in der vergangenen Nacht auf Befenfeld zu lenkten.

Klappe wußte befjer, wie alle lag und doch beunruhigte ihn die Meldung fehr, immer wieder fragte er fich, ob er fich nicht doch geirrt haben könnte. Es zerrte ihn, wie mit unfichtbaren Klammerarmen zu der Fichtenfhonung hinter der Schneife, es war nicht nur der Becher, der ihm im Sinne lag, es war noch etwas QUnderes, er mußte noch einmal an die Stelle, wo der Erfchofiene lag. Er fühlte die unabweisbare innere Nötigung dazu.

Er fagte fich alles, wie gefährlich das fei; daß unterdefjen der Leichnam gefunden fein und bewacht werden fünne; daß Gefellen des Toten dort auf der Lauer liegen könnten; fopfjchüttelnd überdachte er alles und doch eilten feine Füße auf dem durchweichten Boden weiter.

Jetzt fah er ſchon von ferne die Schonung, die hinter dem entlaubten AUhorngebüfch wie ein grünes, Hippenreiches Gebirge aufragte.

Er war fchon fo naß, daß er kaum fchreiten konnte. Nun erft zwifchen den Tannenäften wurde er wie mit Eimern begoffen, er achtete nicht darauf. Schimmernde rote Fliegenpilze ftanden im tiefen Moos, manchmal ver- ftricften fich die Zweige fo eng, daß er fich mit aller Gewalt darauf werfen mußte, um durchzufommen.

Wie ein Jagdhund fpürte er herum, fein Herz Hopfte, jeder Ge- danke ſchwieg. Er fand nichts; ein ftöhnender, gepreßter Laut brach aus feiner Kehle. Es fchwindelte ihm.

Am Ende hatten die Zeitungen doch recht, der Fremde war doch

218 E. Ferdinands: Die Höhlenbären.

nicht tot. Da fiel er, ald er fich wieder durch ein paar verfilzte Fichtenäfte fchlug, faft auf den Körper des Toten. Er fprang feitwärts, der Tote ſah fchredlich aus in feinem Blute, der Mund weit geöffnet, die braunen Zähne bloß, Käfer krochen übers Geficht.

Klappe hockte ins naffe Moos, er ftarrte mutlo8 auf die Tannen- ftämme ringsum. Da befiel ihn die Furcht wieder, er laufchte, es rafchelte in den WUeften, war das nicht ein gedämpfter Ton, ald wenn einer über den diden Moosboden heranfam. Er legte feinen Ropf aufs emporgezogene Rnie, er fühlte, wie fein Herz gegen den Schenkel fchlug.

Dann riß er fich auf, ging zu dem Toten hin mit feftgefchloffenen Lippen, fajt ohne zu atmen und griff in die rechte Tafche des hellgrauen Ueberziehers.

Er faßte etwas und zogs heraus.

Es war eine ſchwere, feingearbeitete Herrenuhrkette, eine goldene Uhr ſchaukelte daran. Als habe er eine Schlange angefaßt, ließ Klapps die Uhr fallen.

Er ſtand wieder gerade, ein paar Regentropfen blinkten auf dem Glas- dedfel der Uhr, die Zeiger ftanden auf vier.

Wieder bückte er fi) und griff in die andere Taſche. Das Blut, welches in großer Lache an den Kleidern Elebte und ftreifig im Moofe hing, hatte die Tafche zufammen mit dem Regen durchweicht. Er fühlte ein Tuch, etwas Eingemwideltes, endlich auch den Becher. Er zerrte ihn vor, ed war der Jugendbecher, quer über die eingegrabenen Namen ging ein Blutfleck.

Klapps ſprang auf und drängte ſich in gebückter Stellung durch das Dickicht, während er mit einer Hand den blutigen Becher, ihn reinigend, durch die naſſen Gräſer zog. Als er an der Schneiſe ankam, ſteckte er ihn ein.

Er ging die Schneiſe entlang bis an die Bergkante. Auf der naſſen Steinbank ſaß er nieder.

Die Gebirge gegenüber waren von der Regenluft verhüllt, in grauem Alltag ſtanden im Tal die Fabriken, langſam und ſtetig trieb der Rauch von den Kaminen; ein endloſer Güterzug mühte ſich talaufwärts; dicht unterm Berg, im dunklen Felde, warf zögernd ein Pflug Scholle auf Scholle um und brach den Acker auf zu neuer Saat.

Den verſunken Daſitzenden ſchüttelte die Kälte der naſſen Kleider, kle— bende, welke Blätter fielen auf ihn, aber innerlich wärmte ihn eine entſchloſſene, beige Sehnfucht nach täglicher, berubhigender, lebenausfüllender Arbeit.

* x *

Am anderen Tage teilte Rlapps den anderen Höhlenbären mit, daß er ben Becher nun doch gefunden habe; er habe in einer Tafche geſteckt, an bie er nicht gedacht habe.

In den Zeitungen war es ftill vom Narbenguftav, er blieb verfchollen.

Die Höhlenbären fchienen umgewandelt, über Nacht war ihnen ein- gefallen, in welch bedrohlicher Nähe die Schlußprüfung fei. Die Zeit, welche ihnen die Vorbereitung darauf noch ließ, wendeten fie in unerwarteter Weife an.

Witterfchlid fa ftundenlang bei feiner Mutter, die fich freute, fo

E. Ferdinands: Die Höhlenbären. 219

unvermutet ihren Sohn wiedergetwonnen zu haben, den fie während ber Primanerzeit immer mehr verloren hatte; die beiden faßen zufammen und machten Pläne, fie hatten fi) die Borlefungsverzeichniffe der Hochfchulen kommen lafjen und nun verglichen fie, rechneten und ftellten Stundenpläne auf.

Rotvogel, deffen Eltern auswärts wohnten, hielt es, wenn er genug gearbeitet hatte, auf feiner fchmalen Bude nicht mehr aus und ging in die Stadt; Sufus betörender Tanz lag ihm noch in den Gliedern und fo fam es, daß er bald nicht mehr allein ging, fondern mit Gretchen Huber, einem Heinen molligen Ding, das wie ein Kreifel tanzen konnte und ein Stumpf: näschen hatte.

Den langen PBelten hatten einige alte Herren der Burfchenfchaft Rhenania mit Befchlag belegt und weihten den gelehrigen Schüler in die Geheimnifje echten Burſchenweſens ein.

Klapps, deffen Fähigkeiten feine große Arbeit für die Prüfung ver- langten, arbeitete den ganzen Nachmittag in einem benachbarten Bleiberg- werk, deſſen Leiter feinen Vater zufällig kannte und bereitete fich ſchon fürs Bergfach vor.

Der Einzige, der mit der neuen Wendung nicht zufrieden fehien, war Dach, er hatte fich in feiner Urt fo fehr an das Treiben der Höhlenbären gewöhnt, daß er es jest entbehrte; immer wieder lag er den vier andern in den Ohren, doch mal wieder eine Fahrt wie in früherer Zeit zu ver- anftalten, trogdem es ihm oft ſchon rundweg abgefchlagen worden war.

Endlich, als die Prüfung von allen, fogar von Dachs glüdlich über- fanden war, die fünf zufällig einmal zufammen fanden und Dachs wieder fhüchtern anfing, ob man nicht heute mal wieder herausfahren folle, fagte Klappe zu und die anderen fügten fich.

E3 war fchon faft dunkel auf dem Rhein, ald Velten mit fchweren Ruderfchlägen den Kahn nach der Infel Rommerswerth zutrieb.

Dachs, der im ſcharfen Vorfrühlingswind fror, fing an von der befannten Nacht zu fprechen.

Keiner antwortete. Witterfchlict fchaute ind Weite, Rlapps trommelte mit allen zehn Fingern auf den Knieen, Rotvogel faß in fich gekehrt da, fein Geficht hatte einen faft mürrifchen Ausdrud, er dachte daran, daß Grethen Huber jegt aus ihrem Gefchäft kam, das verftimmte ihn.

Plöglich ftand Klapps auf und z0g den Jugendbecher aus der Tafche: „Die Höhlenbären gibts fchon lange nicht mehr, wir wollen die legte Er- innerung daran in den Rhein werfen!“ Die anderen blickten verwundert auf.

Dachs meinte, dann wolle er fich lieber den Becher zum Andenken verwahren.

Klappe fah ihn an, ala ob er ihm eine Ohrfeige geben wolle: „Meinen Anteil befommft du nicht!” „Meinen auch nicht,“ rief Witterfchlid, „wirf den Becher ins Waſſer, Rlapps!“

Die Ufer von Rommerswerth begannen aufzutauchen, die Weiden ftanden mit rötlichem Schein wie ftarre Befen in der blauen Nachtluft. Steil, faft zornig fliegen dahinter die Linien des Gebirges in die Höhe.

Klappe warf mit weiter Gebärde den Jugendbecher in die Wellen, das Gedächtnis der furchtbaren Herbſtnacht hatte ihn überwältigt.

220 €. Ferdinands: Die Höhlenbären.

Velten hielt den Kahn an.

„Dreh um!” fagte Klappe heiſer. Alle ſchwiegen dazu.

Dachs duckte fich, er fand fich nicht mehr in den anderen zurecht.

Das Boot trieb auf die Stadt zu, deren gefpiegelte Lichter wie ei Schrauben raftlos ins Waſſer bohrten.

Dachs fühlte fi) beengt, er fing ein Gefpräh an, er wollte nur reden und warf unvermutet die Frage auf: „Wo mag nun jet der Un- befannte aus der Höhle und die Tänzerin ſtecken?“

Klappe zudte zufammen, dann wandte er fich fo ſchnell zu Dachs um, daß der Kahn ins Wanten fam und fuhr ihn heftig an: „Ned keinen Unfinn, Dachs, geh nach Haufe, tu was!“

Und wieder fchiwiegen alle, nur die NRuderfchläge fielen dumpf und regelmäßig ins ftahlgraue Wafler.

CERFER CR ER FER FR ER LER FREE FER ER CR FE ER ER ER

Amſelliedchen. Bon Cäſar Flaiſchlen in Berlin.

Sp weh was tut, nur Mut! nur Mut! e8 wird wieder gut!

und gebt vorbeil

nur Mut! nur Mutl

Ein Bögelein im Tcanngeheg fangs mir heut früh auf meinen Weg...

So ſchwer was wär,

nur Mut! nur Mutl

es geht vorbeil es geht worbeil und wenn es noch fo Winter wär, ed wird Doch wieder Mail

Es wird doch wieder Mai und grün

und die Sonne fommt und die Rofen blühn! es wird fo fchön, wie e8 immer war

in jedem Mai und jedes Sahr!

Lieb Bögelein im Tannenried

ich dank dir für dein Heines Lieb! ich fings dir nach

und fchreib es auf

und bring e8 meiner Liebjten beim fie fol auch nicht mehr traurig fein!

CHRFEERER

Hermann Rurz in der Zeit jeines Werdens, Biographifhe Mitteilungen von Ifolde Kurz in Florenz.

1.

Am 10. Oktober 1873 hat der Dichter Hermann Kurz die Augen geſchloſſen. Seine Lebensgefchichte ift bis zur Stunde noch nicht gefchrieben.

Die knapp umriffene, aber meifterlihe Porträtſtizze, die Paul Heyfe in feinem Vorwort zu der erften Gejamtausgabe der Werke von Hermann Kurz entworfen hat, ift noch immer das einzig zuverläffige Bild, das von dem Dichter eriffier. Was von anderer Geite hinzufam, war häufig eher dazu angetan, die Züge zu vermwirren, als fie deutlicher berauszuformen. Es gibt vielleicht fein Dichterlog, das einen größeren Gegenfag zwifchen innerer Anlage und äußerem Lebensgang aufweift als das feinige. Da er ein Freund aftrologifcher Studien, verfteht fich zu poetifchen Zwecken, war, fo verftößt es nicht gegen feinen Geift, wenn ih von ihm fage, daß er nach der KRonftellation feiner Geburtsftunde zu den fonnigen Jupiterskindern gehörte, daß aber böfe faturnifche Einflüffe frühe in fein äußeres Geſchick eingriffen und fein Dafein mit Rampf und Not erfüllten. Daher fteht fein perfönliches Leben in tiefem Schatten, während über feinen Werten der Sonnenfchein des fiegreichen Humors, der unzerftörbaren Weltfreudigkeit lacht. Diefes Gegenfages zwifchen Naturell und Schidfal fiy immer bewußt zu bleiben, ift für den nachgeborenen Biographen nicht leicht, der für des Dichters Perfönlichkeit ganz auf die fchriftlichen Zeugniffe, vor allem auf feine eigenen Briefe angewiesen ijt. Hier findet er nur den oft herzbrechenden Bericht über feinen Rampf mit der Außenwelt, aber die Ergänzung fehlt, die die Briefempfänger in Händen hatten: das Bild der gemeinfam durchfchwelgten hohen Stunden und des elaftifchen Siegesmuts mit dem der Dichter nach jeder Enttäufchung fich wieder aufrichtete; denn was fi) von ſelbſt verfteht, das pflegt man in Briefen nicht auszufprechen. Wer nun feine Laufbahn Schritt für Schritt an der Hand diefer Zeugniffe verfolgt, um fie in den fehroffen Außenlinien wiederzugeben, wie fie fich etwa in dem Briefwechſel mit feinem Jugend- freunde Rudolf Kausler darftellt, der ift in Gefahr, fein Bild viel zu fehr grau in grau zu malen, wie e8 den meiften begegnet ift, die über ihn fehrieben.

Da kann e8 auch beim wärmften Bemühen nicht an Verzeichnungen fehlen: derfelbe Mann, von dem Heyfe aus feinen trübften Lebensjahren berichtet, daß, wer fein Schickſal nicht Fannte, ihn nach dem Glanze feiner

222 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feined Werdens.

Augen, feiner freien Haltung, der Milde und freudigen Kühnheit feines Weſens für einen der Lieblinge des Glückes halten mußte, erfcheint in den Darftellungen der Späteren nicht felten ald ein düfterer, früh verbitterter, fnorriger, menfchenfeindlicher Sonderling. Es ift ihnen daraus fein Vorwurf zu machen, fie fannten ja nur die Nöte, die ihn bedrängten und die wach- fende Bereinfamung feiner Mannesjahre, aber nicht die frifchen Hilfsquellen, die fort und fort in feinem Innern fprudelten. Heyſe allein, der aus dem unmittelbaren Austaufch fchöpfte, befaß noch die Mittel, diefer Erfcheinung die volle Lebenswahrheit zu geben. Uber feine unübertrefflich fchöne Schilde- rung ift nur ein Umriß, und befchränft fich auf des Dichters legte Lebens- jahre. Den fpäteren Darftellern liegt es ob, die von Heyfe angelegte Skizze zum Gefamtbild zu erweitern. Das ift Feine leichte Aufgabe. Es braucht dazu außer dem nahen Vertrautfein mit dem Boden Alt-Württembergs die eingehendften Kentniſſe der literarifchen und politifchen Verhältniſſe feiner Zeit. Beides fteht mir nicht zu Gebote. Und leider bin ich nicht einmal imftand, diefe Mängel durch eine Fülle lebendiger Erinnerungen aufzumwiegen. Fiel doch meines Vaters beftes Leben lange vor die Zeit meiner Geburt, und der Mann, dem als Süngling von feiner dionyſiſchen Tafelrunde (S. „Das Wirtshaus gegenüber”) das beneidenswertefte Mundſtück zu- erfannt worden war, redete ald Familienvater faft gar nichts mehr, am wenigften in den fpäteren Iahren, wo ich erjt zu einem Austaufch fähig wurde. Ich fann alfo auch meinerfeit3 nicht den Anſpruch erheben, die Lücke befriedigend auszufüllen. Doc gibt mir der Beſitz von intimen Familienbriefen und manche erhaltene Leberlieferung wenigſtens einen Ein- blick in die Zeit feines Werdens, und der Vorteil des gemeinfamen Blutes läßt mich hoffen, manche Züge feines Wefens richtiger ald dem Fremden möglich ift, zu deuten und fo dem künftigen, beffer ausgerüfteten Biographen die Gefichtspunfte für die Auffaffung des Menfchen und des Dichters Hermann Kurz zu liefern.

Als ich mein geiffiges Auge zu öffnen begann, lebte mein Vater ſchon wie ein lebendig Verfchollener. Ein Bannkreis umgab den fchweigenden Mann, der ihn gleichfam von der Mitwelt abjonderte. Es war, als wären alle übereingefommen, von dem, was er der Welt gegeben hatte, zu fchweigen. Die mit ihm jung gewefen, feine Freunde und Mitftrebenden, hatte das Schickſal frühe ftumm gemacht. Das nachwachfende Gefchlecht befaß in jener literarifch matten Zeit nicht fo viel felbftändigen fünftlerifchen Inftinkt, um fich ohne Hinweis von außen für eine echte Kunſtſchöpfung zu begeiftern. Die politifche Partei, der er feine beften Mannesjahre geopfert hat, ftand feiner reinen tendenzlofen Kunſt fühl gegenüber. In der Literatur wurde er gar mit Heinrich Kurz, dem Literarhiftorifer, verwechſelt. Die Jugend fang feine Lieder nach den GSilcherfchen Melodien und wußte nicht mehr, wer ber Berfaffer war. Wir fühlten und wie Königskinder im Eril, deren Vater feine rechtmäßige Krone nicht tragen barf.

„Ich bin zwifchen die Zeiten gefallen,” fagte der Dichter felbft, wenn er in fpäteren Jahren fich je einmal über feine literarifche Laufbahn äußerte. Ja, er war zu fpät gefommen für die Zeit, wo rein poetifche Intereſſen im Vordergrund des deutfchen Geifteslebens ftanden. In den bald danach

Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit ſeines Werdens. 22

ausbrechenden politifchen Stürmen verftummte feine parteilofe Mufe, während der Dichter felbft zum Rämpfer wurde und feine ganze perfönliche Erifte n für feine Ueberzeugung einfegte. Nachdem der Sturm fich gelegt hatte, gab es fein literarifches Württemberg mehr und ein Deutfchland, das dem Dichter hätte vergüten und vergelten können, gab es überhaupt noch nicht. Unter diefer, böfen Konjunktur verfloß fein Leben. Als er dann nach feinem Tode in den Gefammelten Werfen zum erftenmal in gefchloffener Geftalt vor das Publifum trat, da wiederholte fich das „zwifchen die Zeiten fallen“, Nun gab ed zwar ein Deutfchland, aber diefes Deutfchland, das eben erft im Großen und Groben von dem gewaltigften Werfmeifter zurechtgezimmert war, hatte zunächft anderes zu tun, als äfthetifchen Intereffen nachzugehen, und als es fich endlich auf diefe wieder befann, da wollte man in dem neuen Reiche alles neu haben, am neueften die Runft; man lebte von der Erwartung der Dinge die da fommen follten und ließ fi) nur fehr ungerne daran erinnern, daß es fchon vordem eine deutſche Dichtkunft gegeben hatte. Ueberdies wurde jest das mit der politifchen Führerfchaft verbundene Leber- wiegen bed norbdeutfchen Geifte® auch in der Literatur der Verbreitung eines fo fpezififch füddeutfchen Dichters, wie Hermann Kurz, hinderlich. Und als fchlimmfter Gegner fam noch der rohe Naturalismus dazu, der wieder für lange Zeit die Wege der wahren Kunſt verfchüttete. Wenn zuvor Sermann Kurz mit feinem fühnen und frogigen Wahrheitsfinn für eine matte, durch flaue Schönfärberei verzärtelte Periode zu männlich und ſtark gewefen war, fo wußte diefe, die die Fahne eines falfchen Realismus ſchwang, wiederum nichts mit ihm anzufangen, weil feine Wahrheitsliebe auf die typifche, immer wiederkehrende Wahrheit, nicht auf die zufällige, einmalige gerichtet ift. Aber auch die jchlimmfte Konjunktur nimmt einmal ein Ende. Zwar nur langfam, wie Gletfcher fchieben, aber unaufhaltfam verfchiebt fich ein Rulturbild. So ſcheint nun endlich der Tag für Hermann Kurz anzubrechen. Schon in den legten Jahren ftellten ſich Zeichen ein, daß die Erinnerung an ihn zu erwachen beginne, die Reelamſche Univerfal- bibliothek verbreitete feine Heinen, feinen Erzählungen, dann mit Ablauf der literarifchen Schugfrift erfchienen als die erften Schwalben die Neu- auflagen der großen Romane, denen jetzt fort und fort weitere Ausgaben folgen, und endlich brachte ald danfenswerteftes Unternehmen der Verlag von Mar Hefle die neue, von Hermann Fifcher, dem Sohne des Dichters 3. ©. Fifcher, beforgte Ausgabe der Sämtlichen Werke, die durch einige wertvolle, in der früheren Gefamtausgabe fehlende Stücde ergänzt und mit gediegenen, von liebevollem Verſtändnis durchdrungenen Einleitungen zu jedem Bande verfehen if. Wie ein. Verfchütteter aus tiefem Schachte fteigt der Dichter heute herauf, in voller Frifche, unberührt vom Fittich der Zeit, die fo viele feiner gefeierteren Zeitgenoffen unterdeffen in Staub und Aſche gewandelt hat. Kein Rünzelchen auf der blühenden Wange feiner Mufe. Geine Geftalten find noch lebendig und menfchlicy wahr big in die Heinfte Nebenfigur herab, Sprache und Gedanken find unveraltet, jede Zeile neu und blank, ald wäre fie heute gefchrieben. Go tritt der Dichter einem neuen Gefchlecht gegenüber, auf das der alte Unftern nicht mehr wirkt: es gibt heute feine literarifchen Moden mehr, da in unfern

224 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Seit feines Werdens.

Tagen alles und nichts Mode ift, der Zeitgeift wendet fich wieder den äfthetifchen Intereffen, wenn auch noch mit ungenügenden Mitteln zu, die geiftigen Zollfchranfen innerhalb Deutfchlands find gefallen, und wenn der Süden fi des Vorrechts feiner älteren Rultur begeben hat, um auf dag bewegtere Geiftesleben feiner norddeutfchen Brüder einzugehen, wenn er fogar zu diefem Zweck das Fremdartige der niederdeutfchen Sprechmweife überwindet, fo darf er jest vom Norden das gleiche Entgegentommen für feine führenden Geifter erwarten. Damit ift dem Dichter, der die Heimat- funft pflegte, lange bevor dieſes neue Wort für eine alte Sache geprägt war, endlid der Weg aus der engeren Heimat, die für feine Maße zu Hein war, in das große Gefamtvaterland eröffnet.

Um aber zu begreifen, wie es zuging, daß ein Dichter von der Stärke und Bedeutung eines Hermann Kurz von feiner Zeit fo unter Schutt begraben werben fonnte, muß man fich den Boden Alt-MWürttembergs, dem er entfproffen ift, und die Zeit feines Wachstums vor Augen halten.

Die Schwaben gelten gewiß mit Necht für einen reich begabten Volksſtamm. Aber auf engen Raum zufammengedrängt und von Natur mit harten Röpfen begabt, haben fie ſich von jeher fchlecht miteinander ver- tragen. Das Beftreben einander zu verkleinern, ja lieber einen ganz (Fremden, wäre er auch minder verdienftvoll, anzuerkennen, al8 einen der eigenen, ift ein unverwifchbares Stammesmerfmal. Diefe Sucht, ſich gegenfeitig am Zeuge zu fliden, die durch das angeborene Fauftifche Element verfchärft wird, ift fo allgemein, daß der Schwabe fich derfelben faum bewußt ift und häufig gar feinen böfen Willen damit verbindet. Gelbft in die Klang- farbe des Dialekt hat fich diefe Streitfucht eingefchlichen; denn wenn zwei Schwaben auf der Straße zufammenreden, fcheint e8 dem uneingeweibten Ohre, als zankten fie fih. Erft im Ausland kommt es ihnen zum Bemwuft- fein, wie viel fchonender andere Stämme unter fich verkehren.

In diefem Lande gedeiht das Talent nicht durch Förderung, fondern durch Gegenfag und Widerftand: das dickköpfige Philifterium ift dort der Nährboden des Genius, der mit ihm zu kämpfen hat. Das ift ein Krieg auf Tod und Leben, wobei meiftend der Genius auf die Dauer feiner Erdentage unterliegt, um dann fpäter in verflärter Geftalt aufzuerftehen und den Kampf mit befferen Ausfichten fortzufegen. Aller Ruhm WUlt- Württembergs geht von feinen Diffidenten aus. ‚Diefe find ſämtlich Ge- fhwifter von Schiller ab, zwar ungleich an Talent und Temperament, aber gleich an wetterfeſtem, not- und todverachtendem Idealismus. Ein Familien- zug, der fie von weiten fenntlich macht, ift ihre trogige Gebärde; fie wollen ftet3 mit dem Kopf durch die Wand. Gie find eben feine Dlympier, fie find Titanenfinder. Cine Ausnahme bildet Mörike, der die umgebende Welt ſich affimiliert, indem er fie mit feiner fpielenden Phantafie, faft ohne e8 zu bemerken, volllommen umgeftaltet. Diefer lebte denn auch unangefochten dahin, die Philifter taten ihm nichts zu leide, er verfehrte mit ihnen auf du und du, und fie bemerkten gar nicht, daß er ein Genie war, fondern hielten ihn für ihresgleichen.

Allein nicht nur der Philifter war in Württemberg dem aufftrebenden Genius binderlich, auch feine Geiftesverwandten verlegten ihm den Weg.

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Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens. 225

Das Heine Land war ja viel zu reich an Talenten, um ihnen allen Raum zur Entfaltung zu geben; an den Grenzen aber war die Welt mit Brettern vernagel. Wer darüber hinausftürmte, der konnte im Elend zugrunde geben wie Waiblinger, oder wie Hölderlin als ein Schiffbrüchiger zurüd- fehren. Darum ging es, wie e8 oft in begabten aber armen Familien zu gehen pflegt, wo ein jeder fein Talent und feine Individualität zur Geltung zu bringen fucht und feiner den andern recht auflommen läßt. Anderwärts ereignet fich gerade das umgefehrte: man bildet Cliquen zur, gegenfeitigen Anpreifung und Förderung, daß der Fremde glauben könnte, in eine ganze Pflanzichule von Genies geraten zu fein. In Württemberg aber fehlte es dem Genius von vorn herein an Verkündigern. Gollte ein einheimifches Erzeugnis dort Anerkennung finden, fo mußte es zuvor erportiert und mit einer auswärtigen Marke wieder eingeführt werden. Ein preußifcher Haupt- mann war es, der die erfte Ausgabe von Hölderlind Werfen veranlaßt bat. In unfern Tagen hat der Norden begonnen, den Ruhm des halb- verjchollenen Mörike zu machen, wie er zuvor den Uhlands gemacht hatte. Bon Schiller ganz zu ſchweigen. Nicht umfonft fingt Mörike von diefem:

der an Herz und Gitte

Ein Sohn der Heimat war,

Stellt fih in unfrer Mitte

Ein hoher Fremdling dar.

Das war es, was ihm fchließlich feine Geltung gab, daß er als Frembdling wiederfam. In echt ſchwäbiſchem Sinn hat einmal Theobald Ziegler den Urfprung der Nedensart „er ift nicht weit her“ unterfucht. Daß er nicht weit her war, ließ auch Hermann Kurz nicht in feiner vollen Bedeutung erfcheinen; gerade fein ſtarkes Heimatgefühl, das ihn binderte, den Boden Württembergs zu verlaffen, ift ihm in der Heimat fchädlich geworden. Nicht ald ob es den Schwaben an Sinn für ihre heimifchen Produfte gebräche, fie tun fich vielmehr auf die große Menge ihrer fchöpferi- ſchen Geifter recht viel zugute; aber fie haben nun einmal die Neigung, diefen bei Lebzeiten den Brotkorb fo hoch wie möglich zu hängen. Das mwunbderliche Stammes-Gelbftbewußtfein, das fie jo oft getrieben hat, ihre Großen als quantit& negligeable zu behandeln, findet feinen Haffifchen Aus- drud in dem föftlichen Vers von E. Paulus:

Der Scelling und der Hegel, Der Schiller und der Hauff, Das ift bei ung die Regel, Das fällt ung gar nicht auf.

Auf einem fo fonderbaren Boden war die berühmte alte „Schwaben- kultur” aufgebaut. Freilich, ed war ihr auch anzufehen. Sie umfaßte die ganze Welt des Gedankens und befaß doch nicht das kleinſte Fleckchen, auf dem fie fich fichtbar niederlaffen konnte. Das macht: fie war aus: ſchließlich Männerfache; die Schwäbinnen, wenigftens die des Mittelftandes, taten nicht mit, fie beharrten mit Ueberzeugung in der Unkultur. Es gab feine gefellfchaftliche und äfthetifche Erziehung durch die Frau; bei der Heirat brach entweder die Entwidlung des Mannes ab oder es trat bei

Südbeutfhe Monatshefte. 1,9. 15

226 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens.

ihm eine völlige Teilung des inneren und des äußeren Menfchen ein. Da- ber blieb diefe Kultur eine rein literarifche, die aus dem Studierzimmer der Poeten und Gelehrten nicht einmal bis in die nächfte Umgebung den Weg fand, fo daß, während das Familienhaupt zu den Sternen am geiffigen Himmel zählte, häufig die nächften Angehörigen in einer faft bäurifchen Unwiffenheit und Formlofigfeit dahin lebten. Es hat etwas Schauerlicheg, fi die Weltweite diefer Geifter und dazu die erdrüdende Enge ihres leib- lichen Dafeins vorzuftellen. Dazu kommt, daß faft alle talentvollen jungen Leute durch die Armut zum unentgeltlihen Studium der Theologie getrieben wurden und daß eine Landpfarrei das gewöhnliche irdifche Ziel der Titanen- föhne war. Der Weg dahin führte durch die Pforte des „Landerameng“ in die Hlöfterliche Zucht der Geminarien und von da in das befannte „Tübinger Stift.“ In diefem Stift, der wahren Stiefmutter unferer großen Geifter, wurden fie in den Entwidlungsjahren von allem äußeren Leben ferngehalten und fyftematifch zu jener vielberufenen ftiftlerifchen Unwelt⸗ läufigfeit erzogen, die ihnen fpäter das Weiterfommen auf jedem anderen ald dem von der Anſtalt vorgefchriebenen Wege fo fehr erſchweren mußte. Wenn e8 ohnehin die Art der fchöpferifchen Naturen ift, fich unter dem Eindrud ihrer inneren Gefichte ſchwerer in der Welt zurechtzufinden als der gewöhnliche Menfchenfchlag, fo hat Alt- Württemberg feinen genialen Männern noch gefliffentlich Ketten um Ketten an die Füße gelegt. Hermann Kurz ift am 30. November 1813 zu Reutlingen geboren, der ehemaligen freien Reichsftadt, die ein Dezennium zuvor württembergifch geworden war. Die Eindrüde, die er dort empfing, haben all feinem fpäteren Dichten und Schaffen die Grundfarbe gegeben. Sch felber kenne die altertümliche, von den Geiftern der Döffinger Schlacht umfchwebte Zugendftadt meines Vaters nur aus feinen Dichtungen; das Reutlingen, das ich fpäter mit Augen ſah, ift davon fo völlig verfchieden, daß es mir niemals möglich war, beide in ein Bild zufammenzufaffen. Geine Eltern waren, als ich zur Welt kam, lange tot. Ueberhaupt kannte ich feines von feinen früheren Angehörigen, ald feinen einzigen Bruder, der ihn um wenige Sabre überlebte. In meiner Kinderphantafie fpielte die mütterliche Familie, das alte Freiherrngefchlecht von Brunnom, unter deffen Reliquien wir beranwuchfen, eine große Rolle, während ber väterlichen Vorfahren nie von und gedacht wurde. Das war fehr begreiflich: mein Vater ſprach ung nicht von ihnen, und meine Mutter hatte fie nicht gekannt. Sein Schweigen rührte jedenfalls zum Teil davon ber, daß er diefe Geftalten fhon in Poefie verwandelt hatte und daß es ihm gegen die Natur ging, das dichterifche Gewebe in feinem Geifte wieder aufzulöfen und den nackten biftorifchen Inhalt herauszuholen. Für ihn waren fie nunmehr völlig das, was feine Phantafie aus ihnen gemacht hatte. Ich hielt alfo, bevor ich feine „Familiengeſchichten“ kannte, nicht viel auf diefe ehrfamen Reutlinger Glodengießer und Sprigenmeifter, und mit der Offenherzigkeit, die Rindern eigen ift, fagte ich eines Tages zu meinem Vater: „Es ift eigentlich doch recht fchade, daß unfere Mama nicht lieber einen Standesgenoffen geheiratet bat, dann wäre ich jegt auch eine Geborene.“ Er antwortete lächelnd, aber doch mit einem gewiffen Nahdrud: „Du bift fchief gewickelt, liebes Rind,

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wenn du dir viel auf deine mütterlichen Ahnen einbildeft, die ald Raub- ritter auf ihren feften Burgen faßen und harmloſe Wanderer plünderten., Da waren deine Ahnen väterlicherfeit8 ganz andere Leute: regierende Bürger: meifter und Senatoren einer kleinen Republif, die über Leben und Tod, über Krieg und Frieden zu entjcheiden hatten.” Diefe Worte imponierten mir fehr, und von da an betrachtete ich die Reutlinger Vorfahren mit ganz anderen Augen, obgleich ich mich in ihre harte und enge Welt doch nicht hineinzudenken vermochte.

Sie reichen urkundlich bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurück, wo fie als freie Bauern auf ihrem eigenen Erb und Lehen faßen. Um 1483 war ein Hanns Kurs von Defterreich mit einem Grundftüct bei KRirchentellinsfurt belehnt worden. Von da an verfchwindet der Name Kurg nicht mehr aus den Annalen der freien Reichsftadt. Es wird feinen Trägern nachgerühmt, fie hätten frühe das Streben gezeigt, zur geiftigen Uriftofratie des Landes aufzurüden. Jedenfalls erfcheinen fie fehon in den älteften Urkunden als ein freimütiges, unternehmendes, wohl auch etwas hochfahrendes, dabei aber fernhaftes und tüchtiges Gefchlecht, das alsbald mit perfönlichen Zügen bervortritt. Auch die Wander- und QUbenteurerluft, die viele Glieder fpäter- bin weit über die Erde verftreut hat, zeigt fich zeitig: im 16. Jahrhundert begleitet ein Sebaftian Kur Kaifer Karl V. als fuggerfcher Agent nach Stalien und wird durch feine Aufzeichnungen zur wichtigen Gefchichtöquelle für den fchmalfaldifchen Krieg, Die Familie fchrieb ſich abwechfelnd Kurs, Kurz und Eurtius; unfer Zweig hielt an dem älteren „8“ feft bis im Sabre Achtundvierzig mein Vater, feinem fonft fo ausgeprägten biftorifchen Sinn entgegen, das „t“ aus dem Namen ftrich, weil jegt jeder Zopf fallen müffe. Die Nachkommen haben aus Pietät die von ihm beftimmte Schreibart bei- behalten, obwohl fie ſtets das QAUufgeben der älteren Form bedauerten. Unfer Familienwappen, ein goldener Löwe, der, auf grünem Dreiberg ftehend, eine fchwarze Hausmarke in den Pranken hält, wurde im Anfang des fiebzehnten Jahrhunderts verliehen. Ein anderer Zweig, der bald aus- ftarb, erhielt für die in Kriegszeiten dem Kaifer geleifteten Dienfte ein Wappen, worauf der römifche Ritter Curtius dargeftellt ift, wie er auf weißem Ro in goldener Rüftung in den von Flammen umzüngelten Ab— grund fprengt. Unfern Aſt begründete ein Michael Kurs, der zu Ende des fiebzehnten Jahrhunderts an der Spige einer großen Werkſtatt für Gloden und Feuerfprigen ftand und feine Erzeugniffe durch die Schweiz und einen großen Teil Deutfchlands verfandte. Don ihm wird berichtet, er fei einmal auf vierzehn Tage in den Turm gefegt worden, weil er gegen die vielen Steuern opponierte, und bei feiner Freilaffung habe er einen Schein ausjtellen müffen, daß er nicht, wie er gedroht, den einen oder andern Ratsherrn, wenn fie bei feinem Haus vorbei in die Kirche gingen, nieder- Ihießen würde. Man traute ihm zu, daß er der Mann wäre, feine Drohung wahr zu machen, denn man hatte ein mit zwei Kugeln geladenes Feuerrohr bei ihm gefunden. Auf diefen Feuerkopf folgte fein ebenfo energifcher Sohn Johannes, jener vielgewanderte Ururahn mit dem fpanifchen Leibfluh und dem „bordierten Hütlein,“ bei dem meines Vaters Familien- gefchichten beginnen. Das „bordierte Hütlein,“ das der mwadere Zunft:

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meifter und Ratsherr als Zeichen feiner Würde trug, wurde in der Ver— wandtfchaft ſprichwörtlich bis auf unfere Generation; denn fo oft einer aus der Familie den Kopf etwas hoch trug, hieß es von ihm: „er hat das bordierte Hütlein auf.“ Diefer Iohannes, der fich im Ausland in feiner Kunſt fehr vervolllommt hatte, brachte das väterliche Gewerbe erft recht in Flor. Nach feiner Rückkehr heiratete der ftattliche junge Meifter jene liebliche, durch einen Vormund um ihr Vermögen geprellte Schafhirtin, deren Gefchichte in der „Reutlinger Glodengießerfamilie” erzählt ift.

In Wirklichkeit hieß fie Margarete; der Dichter hat ihr diefen Namen genommen, ſchwerlich aus Irrtum, fondern weil er ihn für die im „Witwen- ftüblein“ erzählte Gefchichte feiner eigenen Vatersſchweſter, der befannten Frau Dote, brauchte, und hat ihn durch den gleichfalls poetifchen Namen einer andern Vatersſchweſter Dorothea erfegt. Herr Johannes war ein heftiger und ehrfüchtiger Mann, der nicht die geringfte ihm zugefügte Un- bill ertragen konnte; aber als bei dem großen Brande feiner Vaterſtadt, dem er ald Sprigenmeifter zu wehren hatte, ein langjähriger Freund fein ganzes ihm anvertrautes Hab und Gut veruntreute, nahm er diefen Schlag geduldig ald göttliche Schickung hin und begann getroften Muts fein Hand- wert von neuem. Was von ihm in der „Reichsjtädtifchen Glodengießer: familie” erzählt wird, feheint durchweg auf Tatfachen zu beruhen, wogegen bei der romantifchen Liebesgefchichte feines Sohnes Franz ebenfo wie in ber feines Enkels „Wie der Großvater die Großmutter nahm“ der hiftorifche Zettel ftart mit dichterifchem Einfchlag verwebt ift. Dagegen find die Derfönlichkeiten hier wie in den nachfolgenden Gefchichten getreu nach den Leberlieferungen und zum Teil nach der Erinnerung gezeichnet, befonders jener legtgenannte Großvater, der alte patriarchalifche Senator Johannes, der „Herr Ehni“ des Dichters, der ald Giebenundachtzigjähriger wenige Tage vor feinem Tod in Gegenwart feines Enfeld Hermann beim Scheiben: ſchießen den Meifterfhuß tat. Diefem liebenswürdigen Greis wird eine an den Jünger Johannes erinnernde Sanftmut nachgerühmt, welche Eigen- ſchaft bis dahin nicht zu den vorwiegenden Stammesmerfmalen gehörte. Züge von ihm finden wir fpäter in der heimeligen Geftalt des alten gloden- gießenden „Amtsbürgermeiſters“ der „Heimatjahre” wieder, dem fogar ein verſtecktes Kennzeichen beigegeben ift: die Zinnbecher, aus denen der Wackere feine Gäfte labt, tragen das Kurtzſche Familienwappen, den Löwen, ber auf dem Dreiberg fteht. Es liegt ein unmiderftehlicher aus dem Gemüte fließender Zauber über der Schilderung feines Heimmefeng „eine Heim- ftätte, two wir ewig verweilen möchten,” nennt es der geiftvolle Rürnberger in feinen „Literarifchen Herzensſachen.“ Dom Lrurgroßvater bis zur un« vergeßlichen Frau Dote hat der Dichter vier Generationen feiner Familie in ihren Eigenheiten und ihrer Umgebung gefchildert; ihnen ſchließt fich noch das Bild vom alten Vaterhaufe feiner Mutter in Tübingen an, das im erften Buch der „Denk: und Glaubwürdigfeiten” fo lebendig gezeichnet it. Leber die eigenen, früh verlorenen Eltern aber geht der Dichter mit wenigen eingeftreuten Worten rafch hinweg; wohl nicht, weil ihn fein Ge- dächtnig auf diefem Punkt im Stiche ließ, fondern aus einer Scheu des Gefühlslebens, die ihm gerade über die Nächften und Teuerften den Mund

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verfchloß. Es waren auch feine Erinnerungen fo heller und freudiger Urt, die ihn mit dem eigenen Daterhaus verfnüpften.

Sein Vater Gottlieb David Kurt, der ſchon im dreiundvierzigften Sahre an der Schwindfucht jtarb, war ein Mann von vorwiegend geiftigen Sntereffen, ein heller Kopf, dabei glühender Verehrer Schillers, der glücklich war, wenn fein begabter Aelteſter jchon als Keiner Junge Schiller’fche Balladen und andere Gedichte rezitierte. Uber er hatte den faufmännifchen Beruf ohne innere Neigung ermwählt, und diefer brachte ihm fein Glüd; Da er nun obendrein ſelbſt eine Fortfchrittd- und Diffidentennatur war, fich auch durch einen Aufenthalt in der Schweiz größere Gefichtöpunfte an- geeignet hatte, konnte es ihm in der ſtockenden Enge feiner heimifchen Ver- hältniſſe nicht allzumohl fein. Er wurde ein Parteigänger feines unglüd- lihen Landsmanns, des „Weltverbefferers” Lift, und fpann dabei nach dem Zeugnis feiner Gattin „Leine Seide‘. Wie der große Nationalölonom um jene Zeit in feiner Heimatftadt angefchrieben war, beweift des Dichters Bericht, daß, wenn er in der Knabenzeit ſich irgendwie nicht in den ber- gebrachten Schlendrian fügen wollte, erſchreckte Bafen ihm zu drohen pflegten: „art, dir wird ed geben wie dem Lift!” Durch unglüdliche Unter- nehmungen fam mein Großvater um den größten Teil feines Vermögens. Der Kummer über dieſes Mißgeſchick, zu dem fich das körperliche Leiden gefellte, verbüfterte feinen frühen Lebensabend und trübte den Humor, der als Familienzug auch ihm nachgerühmt wird. Darunter hatte die Jugend des Sohnes zu leiden. Die beiden waren ganz gefchaffen, fich zu verjtehen, aber wie es häufig zwifchen einem reizbaren Vater und einem lebhaften Sohne zu gehen pflegt, fie fanden den Weg nicht zu einander. Zwiſchen dem fränflichen, verftimmten Mann und dem begabten, tempe- ramentvollen Raben fam e8 häufig zu Mißverftändniffen, die noch in der Seele des Sohnes fehmerzlich nachzitterten, als er felber ein gereifter Mann war. Als düfterfter Schatten aus feiner IJugendzeit begleitete ihn die Er- innerung an des Vaters Sterbeftunde.. Es war am 13. Upril 1826, daß den Leidenden in Gegenwart der Geinen der Tod ereilte. Man glaubte ihn fchon verfchieden und der zwölfjährige Sohn Hermann hielt ihm ein Licht an den Mund, um zu fehen, ob er noch atme. Da öffnete der Gterbende noch einmal die Augen und ließ einen großen Bli über ihn hinrollen, in dem das erfchrodene Kind einen Vorwurf über diefe legte Störung zu lefen glaubte. Des Vaters unbefriedigendes Schieffal muß dem jungen Hermann Kurz vor allem vorgefchwebt haben, als er im Jahr 1841 einem neu- geborenen Meffen die Verſe fehrieb:')

Du bift o Kind von einem Stamme, Dem es noch felten bier gelang, Ein ſchöner Stern war jene Amme, Doch leider ftets im Untergang. Die einen find im Sand verfunten, Vom dumpfen Mißgeſchick bedrängt, Die andern find im Schlund ertrunfen, Vom jähen Mut dabingefprengt. ') Ungedrudt.

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Stets? unvollendete Gefchide,

Der Anfang groß, das Ende Hein! Wird das fo bleiben mit dem Glüde? Das halbe nie ein ganzes fein?

Gei du es denn, in deffen Leben Vollendet ift der Väter Haus, Dein, dein fei unfer ernfte8 Streben, Und führ es du ans Ziel hinaus,

Dir fei’s, mein Liebling, zum Gewinne, Was edel war an ung und echt,

Du unfer Erbe und beginne

Ein neues glüdliches Gefchlecht.

Diefelben Gedanken und Empfindungen hatte er fchon brei Jahre früher in einem Brief an Eduard Mörike ausgefprochen.

„Diefes Mißlingen nämlich, von dem ich fagte, feheint den Meinigen von der gegenwärtigen Generation läßt fich noch nicht? jagen an- geboren: mein Vater hatte die größten Anfprüche auf ein gelungenes Leben und ift bitter getäufcht worden, und ebenfo ift eg mit Onfeln und Vettern gegangen: die einen faugten gar nicht in die Welt, die andern haben mit dem beften Willen und Verftand nicht? Gefcheites herausgebracht (ich kann fagen juft die, die den Familiencharakter entfchieden an fich trugen; an Indifferenten hat's nicht gefehlt, die vorwärts gefommen find), fo daß fich einer, der das in feinem Blute fühlt, oft fragen mag: wird diefer Typus fo fortdauern oder fommt zulegt einer, dem Fortuna das gibt, was fie feinen Vorfahren fo oft hinhielt und wieder zurückzog?“ Iener Neffe, dem er die im felben Brief erwähnte, fauer zu verdienende „Vollendung“ zugedacht hatte, follte ihrer freilich nicht teilhaft werden, denn er ftarb im frühen Kindesalter.

Ich geftehe, daß ich den auch fonft in der Familie verbreiteten AUber- glauben, ald ob ihre Glieder zum Unheil prädeftiniert feien, meinerfeits nie begriffen habe. Ich weiß freilich nicht, wer die „im Schlund verfunfenen“ find. Die von dem Dichter gefchilderte Ahnengalerie zeigt lauter Charafter- föpfe, die fich mit ihren Eigenheiten und ihrem Willen durchzufegen wußten. Um Hermann Kurz’ dornenvolles Dichterlos zu erklären, bedarf es feines befonderen Familienunfterns, die politifchen und fozialen KRonftellationen feiner Zeit und feines Heinen DVaterlandes genügen dazu vollauf. Und wenn Goethe recht hat, dab das höchſte Glück der Erdenkinder die Per- fönlichkeit ift, fo darf fich diefes Gefchlecht fogar ein begünffigtes nennen, denn es hat zu allen Zeiten ftarfe Perfönlichkeiten hervorgebracht. Ich will von der fpäteren Generation, neben dem Dichter felbft, nur feinen Lieblings- vetter, den eidgenöffifchen DOberften und Präfidenten des Berner Großrats Albert Kurtz nennen, von dem er und Kindern gern das kühne Stüd er- zählte, daß er, als einft in Bern ein Engländer fich in angetrunfenem Zuftand in den ftädtifchen Bärenzwinger hinabgelaffen hatte, den Unfeligen mit eigener höchfter Lebensgefahr der fürchterlichen Geſellſchaft entriß, freilich ſchon zerfleifcht und als Leiche.

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War die Stellung zum Vater eine fehiwierige, fo ftand der Knabe feiner Mutter um fo inniger nahe. Gie war eine Tochter ded aus weft- fälifher Familie ftammenden afademifchen Buchdruderherrn Schramm aus Tübingen, eine zarte ftille, finnige Natur, von der nach den Aufzeichnungen des jüngeren Sohnes der Dichter die feine Auffaffung menfchlichen Wefens und Treibeng und die Milde des Charakters geerbt hat, während ber poetifche Sinn vom Vater ftammen fol. Ob fich das lestere fo ohne weiteres behaupten läßt, möchte ich jedoch bezweifeln. Daß mein Groß- vater dem phantafievollen Anaben die Romane, die diefer wirr Durcheinander (a8, aus den Händen nahm oder vielmehr riß und ihm dafür Reiſe— befchreibungen und dergleichen unterfchob, zeugt zwar von päbagogifcher Weisheit und von gutem Gefchmad, und daß er den Uberglauben in jeder Geftalt verfolgte, macht feinem Verſtand Ehre; daß er aber den Rationa- lismus fo meit trieb, auch mit den alten „Volksbüchern“ in Fehde zu liegen, fpricht gerade nicht für poetifchen Sinn. Daß das eigentlich poetifche dennoch von Seiten der Schwertmagen ftammt, glaube ich aber gerne, denn die Pfarrerin Kenngott, befannt unter dem Namen der Frau Bote, des Kaufmanns David Kurs ältefte Schwefter, die die zweite Erzieherin des Dichterd wurde, war felbft ein lebendiges Hiftorienbuch und befaß daneben eine fo große Phantafie, daß diefer ihr im „Witwenſtübchen“ fagen konnte: „Ich weiß wie fehnell du ein Märchen zufammenbringft, wenn man eins von dir haben will.“ Von diefer köſtlich frifchen temperamentvollen Frau mit der unverfiegbaren Laune und dem draſtiſchen Mluttermwis, deren Wefen, freilich in viel engeren Rahmen und unter viel befcheideneren Formen, mannigfach an die berühmte „Frau Rat“ erinnert, ift augenfcheinlich die Luft am Fabulieren in die Familie gelommen und der Humor, der die Welt überwindet. Dagegen ift der fichere pfychologifche Inftinkt, der fich oft in den Briefen der Mutter Kurs ausfpricht, dem Romandichter als ſchätzbares Kunkellehen zugefallen. Hinter der kraftvollen Silhouette der Frau Dote tritt freilich die Mutter des Dichters mit ihren zarten, faft hingehauchten Linien etwas zurüd, aber eine unbedeutende Frau ift fie darum keineswegs gewefen. Bei aller Zartheit zeigen ihre Briefe eine große Gelbftändigfeit des Denkens, fo befonders, wenn fie ihren Hermann wiederholt ermahnt, fi auch der neueren Sprachen zu befleißigen, da er fie einmal nötig haben fönne, und vor allem den Widermwillen gegen das Franzöfifche zu überwinden, das nun einmal Weltfprache fei. So weit dachte niemand in ihrer Um— gebung. Auch ein empfindliches äfthetifches Gefühl ift ihr eigen: einmal praflelt fie in helle Entrüftung auf, als der ebenfo fein geartete Sohn ſich vorübergehend in einer rohen Ausdrudsweife gefällt, womit die Kameraden ihn angeftedt haben, und vom Klarinettblafen rät fie ihm ab aus demfelben Grunde, weshalb einjt Alkibiades die Flöte verwarf.

Beide Söhne haben die Frühverftorbene als ein ftilles, rührendes Heiligenbild verehrt; von ihr wurde in der Familie auch der ariftokratifche Zug in der Natur des Dichters abgeleitet. Gie hatte eine für ihre Zeit und ihren Stand durchaus nicht gewöhnliche Bildung und fchrieb mit fließen- der gleichmäßiger Hand im Gegenfag zu den feltfamen Kragfüßen und dem fofjilen „Gothiſch“ der Frau Dote ein modernes, faft reines Deutfch.

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Auch ihre jüngere Schwefter, die im Sahre 1863 verftorbene Pfarrerin Moor, von der noch eine Erinnerung wie ein blafjer Schein in meine eigene Kinderjahre fällt, hob fich durch ein feineres und vornehmeres Wefen von ihrer Umgebung ab, foll jedoch der Schwefter nicht gleichgefommen fein. Bon dieſen Jugendeindrücken fehreibt fich jedenfalld des Dichter Vorliebe für zarte weibliche Naturen ber, die in gedrückten Verhältniffen ihren an- geborenen Adel bewahren. Solche fpürte er im Leben gerne auf und bat ihren Typus auch im „Weihnachtsfund“ in der fanften und faft feherifch tief blickenden Geftalt der Schufterin gezeichnet, die zwifchen den derben Figuren der Umgebung bervorfchimmert wie eine in grobes Geftein eingefprengte Goldader. Troß der geringen Gorgfalt, die damald auf die Mädchen- erziehung verwendet wurde, hatte der civis academicus Schramm erflärt, daß jede feiner fechd Töchter etwas lernen dürfe, entweder Malen oder Mufit; meine Großmutter mit zwei andern Schweftern hatte dag Malen gewählt, was ihr dann ale Witwe, freilich in befcheidenfter Form, zugute tommen follte, da fie durch Anmalen von Bilderbogen (zu zwei KRreuzern pro GStüd!) einen Heinen Zufchuß erwarb, wobei ihr der jüngere Sohn Ernft, wenn er die Schulaufgaben fertig hatte, des Abends noch ein paar Stunden behilflih war. Es gibt ein rührendes, altwäterifches Familienbild, fi) die beiden, Mutter und Sohn, bei der Dellampe oder dem Talglicht über ihren Bilderbogen zu denfen, wie fie mühfam ein paar Kreuzer zufammen- verdienen, das Lehrgeld für den begabteften LUelteften, der damals fchon als Zögling in der Maulbronner Klofterfchule fih auf das theologijche Studium vorbereitete.

Der Dichter charakterifiert das Wefen feiner Mutter in wenig Worten, indem er fagt, daß fie alle Eigenfchaften zur Führerin des heranwachſenden Zünglings gehabt hätte, daß es ihr aber bei ihrer Milde und Sanftmut gänzlich an der Schneide gebrach, die einem Knaben gegenüber erforderlich ift. Deshalb rief die Witwe in fchwierigen Fällen, wo die mütterliche Autorität nicht ausreichte, die im Nachbarhaufe wohnende Schwägerin Kenngott zuhilfe, die das Regieren von Grund aus verftand. Mit welch anmutiger Leberlegenheit die alte Frau dabei zumege ging, iſt im „Witwenftüblein” zierlich dargeftellt. Des Autors ausführliche Schilderung feiner Schulnöte und wie fchalfhaft Hug die Frau Dote als ftrictende Mufe feinen Iateinifchen Pegafus zum Wettlauf anfeuerte, hatte Heyfe in feiner Ausgabe der Gefammelten Werke aus fünftlerifchen Gründen geopfert, und es hätte vielleicht dabei fein Bewenden haben dürfen, weil die Haupt- gefchichte, von diefem Geftrüppe befreit, fich wirkfamer abhebt. Fifcher hat die geftrichenen Stellen und damit die etwas befchnittene Geftalt der Frau Dote wieder ergänzt; was die Runft dabei verliert, hat die Autobiographie gewonnen. Vielleicht ift diefes Kapitel auch kulturgefchichtlich nicht ganz unwichtig; es zeigt, wie fauer unfern Vätern der Weg zur Schule gemacht wurde und was die gute alte Zeit, aus der Nähe gefehen, für ein fnochen- hartes Geficht hat. Mit Graufen erinnere ich mich gewiſſer Maffenerefutionen in der Schule, von denen mein Vater, in der Erinnerung felbft noch graufend, erzählte.

In dem halb Höfterlich, halb militärifch eingerichteten Seminar dauerte

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die firenge Zucht, wenn auch natürlich ohne körperliche Strafen, fort; wie ihr der Jugendübermut an allen Eden und Enden Schnippchen fchlug, ift in den „Jugenderinnerungen“ ergöglich zu leſen. Noch ausführlicher hat der Dichter das Maulbronner Treiben in dem früheren Schluß der „beiden Tubus“ dargeftell. Manche der dort eingeflochtenen Anekdoten habe ich ihn als felbfterlebte erzählen hören, wie überhaupt in allen feinen Schriften, den einzigen „Sonnenmwirt“ vielleicht ausgenommen, ein gut Stück Auto— biographie verwoben ift.

Ein frifcher, geiftig angeregter Zug ging durch die ganze Promotion, ') der Hermann Kurz angehörte und die weltabgefchiedene Lage des alten ſchönen Klofters inmitten tiefdunfler Wälder, feine herrlichen, Damals etwas verfallenen Bauformen regten den Hang zur Poefie und Romantik mächtig auf. Nicht nur zu folchen nächtlichen Abenteuern wie den Kletterpartien über die Dächer und der Entdeckung des berüchtigten Blutflecks an der Mauer in Dr. Faufti Gemah (zu welchem Fund jedoch Mutter Kurz fegerifch bemerkte: „Ich glaub’8 gewiß nicht, daß den Fauft der Teufel geholt hat“) taten fich die Kameraden heimlich zufammen; man pflegte auch ganz in der Stille ideale Intereffen, die im Seminar als AUllotria verpönt waren, und mancher, der fpäter ein zahmer Philifter werden follte, bat damals munter feinen Pegafus mitgetummelt. Da wurde ein „Maul: bronner Mufenalmanach” geführt, zu dem die mehr oder minder begabten Mitarbeiter ihr beftes an Poefie oder Wis beigefteuert haben. Von den darin vereiwigten Namen ift nur der des „Primus“ Eduard Seller, des nachmaligen Berliner Philofophieprofeffors, der Deffentlichkeit befannt geworden. Un denfelben Zeller ift wiederum ein launiges Gedicht meines Vaters gerichtet, worin fich die Strophe findet:

„Zeller, lieber Zeller, fage, Was ich in dem Herzen trage, Denn die Philofophen können Alles was es gibt benennen.“

Beweis, daß jeder von den beiden Siebzehnjährigen feinen fünftigen Beruf vorausgenommen hatte. Der Almanach ift zwar von meines Vaters Hand gefchrieben, aber die Kinder feiner eigenen Mufe enthält er nicht; diefe, die neben den dilettantifchen Berfuchen der andern fchon die Löwenkralle zeigen, ftehen in einem befonderen Heft; darunter fogar einige feiner beften Iyrifchen Sahen neben andrem ganz unreifem, wie es dem Alter des Verfaflers ent- ſprach. Aus feinem fpäteren rücblidenden Gedichte „Maulbronn“ fieht man, welcher Vorfrühling diefe zeitigen Blüten herausgelockt hat.

„Qber nachts wenn alle fchliefen, wacht” ich bei der Lampe Licht, Forfchend in des Lebens Tiefen, denn die Ruhe kannt’ ich nicht. Doch es kam ein Frübgemitter über meinen Lebenstraum,

Und ein Doppelregenbogen ftand an meines Himmels Saum.

) Unter Promotion verfteht man die Abiturienten einer Altersllaffe des niedrigen Seminars, die gemeinfam zur Hochfchule abgeben; auch dieſe Altersflaffe ſchlechtweg.

%

234 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens.

Lieb und Freundfchaft wie erhellten fie mein dunkles Herz zugleich! Wie mit Leid und Freude machten fie mein armes Leben reich! ')

Und in manchem leifen Liede löſt' ich dunklen Herzensdrang,

Das in ſcheuer Trauer zwifchen fernem Waldgebüfch verklang. —“

Der liebebebürftige Jüngling hatte fih nach einigen vorangegangenen Enttäufchungen mit dauernder Neigung feinem gleichaltrigen Stubengenoffen Edmund Bilhuber angefchloffen, mit dem er Bett an Bette fchlief. Von dem Freunde, der auf feine poetifchen Intereffen einging und fich auch nach- mals verfchiedentlich an feinen metrifchen Ueberfegungen beteiligte, wurde Hermann Kurz je und je zum Maienfeft oder über die Weihnachtöferien in fein Elternhaus nad) Vaihingen mitgenommen, wo der Vater Apotheker war. Dieſer, ein literarifch angehauchter und fehr mwohlgelaunter Mann, pflegte den jungen Dichter dadurch in Harnifch zu bringen, daß er die im Literaturblatt abgedrudten Angriffe Menzeld auf Goethe wiederholte und eifrigft verteidigte, was dann heftige KRontroverfen hervorrief. Dort lernte er die drei Schweftern des Freundes kennen und der älteften, Luife, widmete er feine erften und vielleicht ernfteften poetifchen Huldigungen. Der Schau- platz diefes ganz aus Sllufion gewobenen Jugendglüds hat fi) dem Dichter tief ind Herz geprägt; die Enz, die jened Tal durchzieht, raufchte noch mächtig in feiner Phantafie, ald er die „Heimatjahre“ fchrieb; das Lottchen dürfte die idealifierten Züge der Jugendgeliebten tragen. Auch die Lieder, in denen fich der „Dunkle Herzensdrang” löfte, find nicht alle verflungen; die beiten davon wie „Bei dem lieblichiten Gefchäfte" und „Stille, ftille“ finden fi noch in der neuen Ausgabe. Ebenſo mie die Unruhe einer erften Leidenfchaft trieb den Züngling das Gären und Wogen der Dichter- phantafie umher und der Unmut, fich bei dem eifernen Stundenplan der probuftiven Stimmung nicht hingeben zu dürfen. Einige ungedrudte Ge- dichte aus diefer Zeit laffe ich als Kleine Nachlefe am Schluß des Kapitels folgen; damals ſchrieb er unter anderm auch ein fchwäbifches Sonett, wohl das erfte, das in diefer Mundart gedichtet worden ift, wie der Verfaſſer felbft vermute. Man erwarte feine reingefchliffenen Iyrifchen Edeliteine, nur als Zeugniffe des Werdens haben diefe Gedichte eines Siebzehnjährigen für die Nachlebenden ihre Bedeutung.

Der Freiheitsfampf der Polen regte in der politifchen Stille jener Tage dag Gemüt des deutfchen Volkes mächtig auf. Unſre Maulbronner Zugend fpendete der unterliegenden Sache nicht nur reichlichen poetifchen Tribut, fie verband fih auch zur werftätigen Unterftügung der Flüchtigen. Die Zöglinge veranftalteten Auktionen, wo diefelben Gegenftände zmei- big dreimal verkauft wurden; auch Konzerte und eine Theateraufführung „zum Benefiz der edlen Polonen“ fanden ftatt. Hermann Kurz, damals ein

1) Hier fanden fich in der erften Ausgabe der Gedichte von 1836 die Seilen:

Wenn ich denke, wie als Gaft ich weilt in ihrem lichten Haug, Sprech’ ich beide jeufzend immer noch mit einem Namen aus.

Das „lichte Haus“ der Liebe und Freundſchaft war die hellgelb angeftrichene Apotheke zu Vaihingen.

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ſchmächtiger, lang aufgefchoffener junger Menfch, fpielte in Körners „Banditenbraut” die Titelrolle.

Uber das junge Talent mit feinem wühlenden inneren Leben und feinem ftarfen Unabhängigkeitstrieb konnte ſich in die ftarre Klofterdisziplin nicht finden, und feine häufigen Verftöße zogen ihm das Mißwollen der Lehrer zu, obgleich gegen feinen Fleiß und feine Fortfchritte nichts einzuwenden war. Insbeſondere ein Mepetent namens Hartmann, ein nicht unedler, aber jähzorniger und nervös aufgeregter Mann, war ihm auffäßig, und es ſchien eine zeitlang, als habe es diefer „tiran“, wie ihn die Frau Dote in ihren Briefen nennt, darauf abgefehen, den Ausfchluß des unbot- mäßigen Zöglings zu veranlaffen. Es regnete auf den Lebelangefommenen mit Noten und Rarzerftrafen, die alsbald nach Reutlingen berichtet wurden und die beiden MWitwenftübchen in Angſt und Aufruhr festen.

Zu dem rafchen Wefen des Sünglings ftehen die angftvollen Mutter- briefe, die der Sohn pietätvoll aufbewahrt bat, in wehmütigem Kontraft. Wie quält fich die arme Frau um die Entwicdlung und Zukunft des Wild- lings, wie glücklich ift fie, wenn feine Briefe ihr die Hoffnung geben, daß jest ein fanfterer Geift in ihn eingezogen feil Sie fucht ihm das Wefen feiner Lehrer zurechtzulegen, die fie doch nur aus feinen Schilderungen fennt, fie rät dem Ungeftümen vom übereilten Freundfchaftfchliegen ab und warnt vor falfchen Kameraden, die fie mit feinem Inftintt aus der Ferne durdh- fhaut. Gewiß ift das Gedicht:

Monika die bange Mutter Auguſtins des Stolzen, Hohen

aus der Erinnerung an diefe Uengfte geboren. Einmal bat er ſich gar eine Pfeife angefhafft! Eine Pfeife, die unnüges Geld koſtet, während er weiß, daß das Rauchen im Seminar aufs ftrengfte verboten ift, ja mit Ausfhluß aus der Anftalt beftraft werden kann. Uber die Kameraden haben ein heimliches Rauchkonventikel eingeführt, und wer fich entzieht, wird als Ropfhänger verfpottet. Schweres Dilemma für ein Jünglings- herz! In einem vier Geiten langen, tränenüberftrömten Brief läßt die Mutter Hölle und Himmel auf ihn einftürmen. Und damit nicht genug; auch die Dote mit ihrem Ur- und KRerndeutfch rückt diesmal zur Unterftügung der Schwägerin heran. Mit ihrer erftaunlichen Pfote und einer ganz un- erbörten Orthographie fehreibt jie dem jungen Sünder:

„bey deinem ab’ Schied war ich fo vergnüt und Sagte zu Dir, ich hab ich feine Sorgen mehr über dich aber es hat nicht lang gewehrt, jo fommen fie mit Haufen. Warum bift du wieder ind Katzer) gefonnen, was haft du gethan um Gottes willen, wen du noch Einmal darein konnſt, fo wirft du hin aus geworfen, was wehre das for ein unglid for dich und deine I. Mutter und l. Ernft und die par Tag wo ich noch leb. es ift doch zu arg was du und for iammer Machſt. Das hat viel tränen ver urfchat?) und noch eine Pfeife gefauft und feine Eigenen 1 7°) dar zu gehabt und eben das Hinaus werffen dar auf geſetz ift,

) Rarzer, ) verurfacht, ) Kreuzer.

236 Iſolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens.

ed Scheint mir bald voll!) als thafte*) du ed dar auf. Fein größer un- glüc läß fich denken vor dich und deine fo zärgli Mutter, die blos vor ihre Rinder lebt und für ihr wohl, —“

Ein andermal bei ähnlichem Anlaß faßt die Dote fich fürzer und rät ihm nur aus ihrer Lebensfenntnis heraus:

„Was andere thun das du ia Selber nicht vor gut halt fu es ia nicht. Dir nimms man vor übeler auf ald die Reiche Kerl.“

Das A und D der mütterlihen Ermahnungen ift das Sparen. Gie empfiehlt ihm, den Wachsſtock nicht unnüß zu verbrennen, denn er hat vier- undzwanzig Kreuzer gefoftet! und auch das Giegellad auf den Briefen befler zu fparen die „verpetjchierten Briefe“ erzürnen fie ohnehin, weil fie nicht fchnell genug zum Inhalt tommen kann. Diefe Sorge für das Allerfleinfte darf man nicht mit Kleinlichleit verwechfeln, bezeugt doch auch der in viel glüclicheren Berhältniffen aufgewachſene Robert v. Mohl in feinen „Lebens- erinnerungen,“ daß man im alten Württemberg „nicht durch Einnahmen fondern durch Nichtausgeben wohlhabend wurde oder wenigfteng die Lebensforderungen befriedigen konnte“. Wenn dies von den Familien der Geheimen Räte und Präfidenten gilt, fo kann man daraus den Rückſchluß auf das Witwen- ftübchen meiner Großmutter ziehen. Gie fargt und darbt denn auch, wie es nur eine Mutter fertig bringt, fie „malt fich faft blind,“ um ein paar Kreuzer für ihn zu erübrigen, der kleine Bruder fteuert gelegentlich fein eigenes Erfpartes bei und dann beben beide, ob der Strudelkopf das Geld auch richtig verwende. Diefer tut fein Beftes, aber ein Spargenie wie die andern Familenglieder ift er nicht. Immer wieder läßt er fich Fleine Ausschreitungen zu fchulden kommen, bie er zwar reuig felbft befennt, aber umfonft, die Berfuhung zum Spiendidfein überwältigt ihn ſtets aufs neue. Zumeilen droht die arme Frau, ihm die Fleinen Subfidien ganz zu entziehen, aber fie bringt es nicht überd Herz, und am Schluß des DBriefes legt fie dann doch wieder ihren Taler ein. Daß der Süngling eines Tages ſolch einen fauer gefparten mütterlichen Taler in einem Biergarten der aufwarten- ben Hebe als ſcheue Huldigung unbemerkt ing Schürzentäfchchen gleiten ließ, das hat fie zum Glüd nie erfahren! Raſch zehrte der Drud des Lebens diefen zarten Organismus auf. Zwar fobald ein Sonnenftrahl in ihr trübes Dafein fällt, fo bricht auch ihr jugendliche Gemüt wieder durch, fie ift imftand, fich böchlich an einem Geiltänzer zu ergögen und wünſcht fich die Freude, bei einer Hochzeit in der Verwandtjchaft noch einmal mit ihrem Hermann zu tanzen, aber mit vierzig Jahren neigt fich ſchon ihr Leben zum Ende.

In ihr letztes Jahr fiel die Hinrichtung des Helferd Brehm’) jene ſchauerliche Begebenheit, die F. Ih. Vifcher unterm Namen „Schartenmaier“

') beinahe, *) täteft.

») Der Prozeß des Hilfsgeiftlihen oder „Helferd“ Brehm war zu feiner Seit eine cause celebre, von der heute wohl nur noch wenige wiffen. Der unglüdliche Vikar hatte das neugeborene Kind feiner Magd, mit der er ein Liebesverhältnis unter- bielt, bei Seite gefhafft und wurde wegen Kindsmords zum Tode verurteilt. Als erfchwerender Umſtand fiel ind Gewicht, daß er Geiftlicher war.

Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens. 237

im Bäntelfängerton befungen hat. Ihr jüngerer Sohn wurde mit der übrigen Schuljugend nach der milden Sitte der Zeit zum Zufchauen fommanbdiert, woran er noch als alter Mann mit Entfegen dachte. Für die feinfühlige Frau, die viel Humaner empfand als ihre Zeit, war das ein fürchterlicher Tag, wie ſchon der ganze Prozeß, über den fie ihren Ueltejten immer auf dem Laufen- den hielt, ihr mit der Menfchheit ganzem Sammer zugefegt hatte. Und angftvoll war ihr vor diefer fchauerlichen Mahnung der Zweifel aufgeftiegen, ob ihr Sohn denn wirklich zum Geiftlichen auch den inneren Beruf habe. Als wäre fie hellfehend geworden, wirft fie fchon jegt die Frage auf, die den Süngling wenige Jahre fpäter in fo fchwere innereKämpfe ftürgen follte.

Während Mutter und Sohn die Tage bis zu den nächften Ferien zählten, lauerte fchon der Tod, dag Wiederfehen zu vereiteln. Um 16. Februar 1830 wurde die Liebevolle ihren verwaiften Söhnen entriffen.

Da fie nie von ihrem Leiden fprach und der legte Brief, der vierzehn Tage vor ihrem Tode gefchrieben ift, noch mit derfelben Sorgfalt auf alle Heinen Einzelheiten eingeht, muß der Schlag den abweſenden Sohn ganz unvorbereitet getroffen haben. Er überließ fich der leidenjchaftlichiten DVer- zweiflung, jo daß der jüngere Bruder ihn fröften mußte. Diefer, dem Berhältniffe und Anlagen eine viel bejcheidenere Laufbahn beftimmten, ſah ftet3 mit Bewunderung zu den glänzenden Gaben des Aelteren auf, war aber bei feinem gelaflenen, gleichmäßigen Temperament und feinem fried- lichen Lebensgang öfter in der Lage, Jenem eine Stüge zu fein. Ein liebevolleres, neidloferes® Bruderherz hat es nie gegeben. Der Aeltere er- widerte die brüderliche Liebe mit der gleichen Anhänglichkeit und ließ den Züngeren an feiner geiftigen Fülle teilnehmen, fo weit ed die getrennten Lebenswege geftatteten. Die Brüder find ſich denn auch lebenslang in unmandelbarer Treue verbunden geblieben; der Züngere, der felbft ein an- mutiges poetifches Formtalent befaß und mit größter Leichtigkeit launige Gelegenheitsgedichte fchrieb, hat das Schaffen des Dichters, wie er felber fagt, „mit Andacht“ verfolgt, er hat ihm in ſchweren Zeiten ein Afyl in feinem Haufe geboten und ift fpäter deſſen Hinterbliebenen ein treubeforgter Berater geweſen, bis den Hellen, Freundlichen felber unerwartet ein düſteres Verhängnis wegriß.

Nach dem Tode der Mutter trat die Frau Dote mit ihrer ganzen Derfon in die Lücke. Sie nahm den Knaben Ernft unter ihre warmen Sittiche, bis er etwa fünfzehnjährig bei feinem jpäteren Schwiegervater, dem Stabsamtmann Faber ') als Incipient die Notariatskarriere betrat. Shren Hermann, der ihr Augapfel war und blieb, bemutterte fie aus der Entfernung, forgte für all feine Heinen Bedürfniffe und feste ihm den Ropf zurecht, wenn er fich in die Menfchen nicht fchicfen wollte. Es läßt fich fein liebenswürdigered Verhältnis denken, als das zwifchen der einfachen alten Frau und dem genialen hochftrebenden Jüngling, zu deffen ihr kraus dünfenden Wegen fie nie da8 Vertrauen verliert, daß es die rechten feien, weil es ja die feinen find, und der feinerfeit3 mit den gährenden Welten

») Diefer Faber tritt in den „Heimatjahren,“ deren Epifodenreichtum ja vielfach

auf Heberlieferungen beruht, ald der Nürtinger Lateinfchüler auf, der dem vom Herzog geſchoſſenen Hafen den kunftgerechten Genidfang gibt.

238 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit ſeines Werdens.

im Hirn doch immer den Reſpekt vor der fchlichten ungelehrten Menfchlich- keit feiner alten Pflegerin bewahrt. Uebrigens fam er mit feinen DBor- gefegten beffer zurecht, feit jener Hartmann, der fi nach und nach mit der ganzen Promotion verfeindet hatte, vom Schauplag abgezogen war und ftatt feiner der junge David Friedrih Strauß als Nepetent Colleg las. Diefer entzückte ſchon damals durch feinen geiftvollen und lebendigen Unter- richt die jungen Leute, die er ein Sahr fpäter auf der Hochfchule abermals als begeifterte Zuhörer feiner philofophifchen Vorträge um fich verfammeln follte.

Im Herbft 1831 fand die Schlußprüfung ftatt, die dem Zögling die Pforten des höheren theologifchen Seminars in Tübingen öffnete. Als der Maulbronner Freundeskreis fich trennte, fehrieb der junge Hermann Kurz einem Kameraden mit Namen Scherber auf das erfte Blatt feines Stammbuchs:

Die wir jung und lebensfrifch Hier in Scherbers Album haufen, Werden einft an feinem Tiſch Als befreuzte Blätter fchmaufen. Grüß’ ich denn biemit den Trupp Der noch kommenden Genoffen, Denn dereinft im ftillen Klub Bleibt der Mund mir feit verfchloffen. Scherbern auch den edlen Wirt, Grüß ich namens aller Gäfte, Wenn er mit uns fchmauft und Elirrt Un dem ftummen Totenfefte.

Wie charakteriftifch ift diefer Stammbuchverd für die überftarfe Zugendkraft, die in ihrer Luft am Gegenfas fo gerne mit dem Todes- gedanken fpielt!

Nachlefe aus den Gedichten der Maulbronner Zeit.

Noch weiß ich einen ſchönen Augenblick, Ob alles auch mich kränke, Wenn ich an den gedente, So fühl ih Glüd! Gleich kurzem Strahl aus trüber Wolken Grunde Mar mir’s als eine flücht'ge Weile Ein fchönes liebes Haupt in Eile Zum Gruß an meines fih gedrüdt: Warum, fo hoch beglückt, Ab warum ftarb ich nicht in jener Stunde?

Nichts hab ich heute aus dem Schacht Zu Tag gebradt, Doch hab ich ftets an dich gedacht. Ich blidde aufwärts zu dem Glanz der Sterne Und flüftre in die Ferne: Mein fühes Leben, gute Nacht!

Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens.

Doetifhes Ringen.

Wie brauft das Herz, wie wogen die Gefühlel Es flutet mir, ein ftarf bewegtes Meer, Das innre Leben treibend hin und ber, Die Klarheit finkt in diefem Wellenfpiele!

Aus diefer Stürme ungeftümen Heer, Aus diefem heftig ſchwankenden Gemwühle D lenkte mich ein Gott zu einem Siele! In diefem Drang fühl ich mich felbft nicht mehr.

Bergebens! Nicht in Worte kann ichs greifen, Die Hand erfaßt ein dunkles Schattenwefen, Wenn innen die Empfindungen fich häufen.

Nur in ein Ahnen wills zulett fich löfen, Und dann ummeht mich friedlich ftilleg Sehnen Und aus dem Buſen quellen fanfte Tränen.

Gig ih fo da, von Träumerein gebunden, Bewußtlos irrend auf der Dichtung Gaiten, Gefpinnjt zufammenrollend aller Zeiten,

Das Aug ins Blau des Weltall hingeſchwunden.

Das Herz, getroffen und geheilt von Wunden, Läßt Bilderreihn zu holdem Weben gleiten, Ahnungen, die auf künftge Schöpfung deuten: Das find des Klofterlebens fchönjte Stunden!

Ein Walten regt fih duntelhell am Simmel, Es ift ald wollte fallen eine Hülle, Da fteigt ein fchönes Bild vom Meer der Klippen,

Es dringt durch das verfchwindende Gewimmel, Die Arme weit, gefchwellt des Bufens (Fülle, Und immer näher ſchwebt e8 zu den Lippen.

Wie fhön, o fühe Freundin, wenn im Schweben Des Geiftes wir auf einem Weg uns finden, Wie in des edlen Schachtes tiefen Gründen Sich grüßen zwei in Einer Ader Streben.

Schlug nicht dein Herz in einem fühen Beben, Wenn ein verwandtes Wort uns konnt entzünden Zu eines Strahles feligem Verbinden,

Auf dem die Geelen ſich zum Aether heben?

Da find die Augen aus dem Buch geflogen, Die Blicke find in Einen Blick gefloffen, Zufammeneilend auf der Liebe Flügeln, Zufammenfhwimmend auf der Liebe Wogen. Es ift ald wär ein neuer Bund gefchloffen, Und diefen darf doch wohl ein Kuß befiegeln?

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240 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens.

Einfam, verbannt in eine leere Wüſte, Nah’ ich zu eurem Tempel, teure Mufen, Und werf in eure Arme liebend mich.

Ich babe niemand, keine treue Bruſt,

Aus der ich Troft und Freude faugen könnte, Mit der ih Glüd und Unglück teilen dürfte; Wohl hab ich Freunde, aber keinen Freund! Kein Herz ift das mein Herz verftehen möchte, Kein Geift, der auf den Schwingen der Gedanken Mit meinem Geift den Flug vereinen wollte, Ich wohne ftill, ein Fremder unter Fremden, In mich gedrängt, die Pflanze die fein Baum In feine Arme faffend ſchützt und bält.

Bater und Mutter haben mich verlafjen

Und ruhen tief von diefes Lebens Mühn.

Ih babe keine Schweitern, die mein Herz

Mit treuer inniger Liebe feit umfaßten.

Seid ihr, o Mufen, meine lieben Schweitern nd belft mir tragen alles was mich preßt; In euren ftillen Bufen laßt michs legen, Wenn Glüd den meinen fehwellt, in eure Bruft Laßt mich vertrauensvoll den Kummer fchütten, Der mir ein Erbteil war feit Jahren fchon. Ich muß ja jemand haben, daß ich nicht Vergeh, verſchmacht' in diefer Einfamteit.

Ein Wefen lebt, zu dem mein Herz mich zieht, Nah ifts und doch fo fern, denn ich bin Sklave, Galeerenftlave, der die Kette fprengt,

Und diefes Wefen, euch o teure Schweftern Euch weih' ich diefe liebliche Geftalt,

In eurem Tempel ftell ich auf ihr Bild

Und Inte fehiweigend in dem Heiligtum,

Das Haupt gefenkt, der Priefterweihe wartend, Die vom Gemeinen rettend mich erhebt.

Nun find des Tages Stunden voll, Verklungen auch ein halber Gang; Wie mir doch heut der Bufen ſchwoll Im beißen Liederdrang!

Die Töne find ins Herz gedrüdt, Erloſchen ift des Liedes Licht, Ich babe keine Blum’ gepflückt, Warum? Ich durfte nicht.

D Nachtigall, ich frage dich, Wer von uns beiden edler fei? Doch was bift du, und was bin ich? Gefangen ich, du frei! (Schluß folgt.)

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Lleber Geftalt und Spektrum der Atome.)

Bon Ferdinand Lindemann in Münden.

Us die würdigfte Feier alademifcher Gedenktage gilt es allgemein, wenn der Redner bei dem feftlichen Anlaſſe über ein Gebiet feines Faches im Zuſammenhange berichtet. Für den Mathematiker ift diefe Aufgabe fhwierig; geftatten Sie ihm deshalb, wenigftend die reine Mathematik bei Seite zu laflen und bier ein Gebiet aus den Anwendungen feiner Wilfen- ſchaft zu befprechen.

Die Chemie lehrt ung, daß alle irbifchen Stoffe ſich aus einigen fiebenzig fogenannten Elementen zufammenfegen laffen; auf die genaue Zahl fommt es bier nicht an, fie wird fich wahrfcheinlich bei weiterer Verfeinerung der Beobachtungsmethoden noch weiter vergrößern. Uber die Tatfache feffelt unfere Aufmertfamteit, daß die feheinbar unendliche Mannigfaltigfeit aller körperlichen Erfcheinungen, feien fie organifcher oder anorganifcher Natur, aus einer fo Heinen, vor allem aus einer endlichen Anzahl ver- fchiedener Stoffe fih aufbauen läßt.

Worin befteht der Unterfchied diefer Stoffe? Der Chemiker gibt uns KRennzeihen für die Unterfcheidung durch feine Analyſe, die Farbe ber Niederfchläge bei gewiffen Reaktionen, die Kriftallform diefer Niederfchläge u. f. f.; dadurch find indeflen immer nur charafteriftifche Erfennungsmert: male bezeichnet; die Frage nach der innern Natur der verfchiedenen Elemente bleibt unbeantwortet. Wir müfjen vielleicht zweifeln, ob diefe Frage über- haupt zu beantworten if. Im Gegenfage zur Philofophie genügt es der Naturwiffenfchaft zu zeigen, daß die Unterfchiede vorhanden find, und daß man Mittel hat, fie ftreng zu Haffifizieren. Darauf befchränft fie fich gern; und wenn fie auch weiter gehen wollte, fo würde die Linie, über welche hinaus ung die Antwort verfagt bleibt, vielleicht verfchoben, niemald wird fie ausgelöfcht werden. Immerhin dürfte es lohnend fein, Dies wenigſtens zu verfuchen: vielleicht gelingt e8, die Frage nach den qualitativen LUnter- fchieden der Materie quantitativ zu formulieren, 3. B. auf eine rein geo- metrifche Frage der Form zurüdzuführen; ift doch in der analytifchen Geometrie auch jedes Problem der Form leicht quantitativ auszudrüden. Dann hätten wir die geftellte Frage mathematifch präzifer gefaßt und da— mit wenigftend vereinfacht.

') Rede, gehalten am 26. Zuni 1905 bei Gelegenheit des Gtiftungsfeftes der Ludwig · Marimilians - Univerfität in München vom derzeitigen Rektor.

Süddeutihe Monatshefte. II, 8. 16

242 Ferdinand Lindemann: Ueber Geftalt und Speltrum der Atome.

Borftellungen über die tatfächliche Einheit aller Materie find von jeher allgemein verbreitet gewefen; die Mechanik und die Aftronomie arbeiten ſtets mit den Begriffen von Gewicht und Maffe, bei denen fein Unterfchied zwifchen den verfchiedenartigen Elementen der Chemie gemacht wird, bei denen aber implicite ſchon die Idee von der Einheit der Materie zu Grunde liegt, indem eine aller Materie gemeinfame Eigenfchaft poftuliert wird.

Die Atome der Chemiker find die Heinften Teile der Materie, die felbftändig für fich beftehen oder mit andern Atomen in Verbindungen ein- treten können. Das hindert nicht, daß fie felbft fi) aus noch kleineren Teilhen zufammenfegen, deren Sfolierung und nur nicht gelingt. Im der Tat hat man ja in allerneuefter Zeit geglaubt, auch bier einen Schritt vorwärts tun zu können, indem man fich vorftellt, daß unter Wirkung von eleftrifchen Kräften in den fogenannten Geisler’fchen oder Crookes'ſchen bezw. Hittorf’fhen Röhren ein Zerfpalten der Atome tatfächlicy eintritt, daß die fogenannten Kathodenftrahlen eben nichts anders find, als die Bahnen der zerftäubten Moleküle, und die Verfuche mit dem rätjelhaften Radium fcheinen fogar dahin geführt zu haben, folche Uratome fo umzu- lagern, daß fih aus einem Elemente ein anderes, aus dem Radium das Helium bildet. Wie es ſich auch mit diefen noch unficheren Verſuchen verhalten mag, fo viel fteht feit, daß dieſe neueften phufifalifchen Speku— lationen dazu beigetragen haben, die Heberzeugung von der Wefenseinheit aller Materie neu zu beleben und allgemeiner zu verbreiten.

Wenn der Mathematiker mit den ihm eigentümlichen Hilfsmitteln die aufgeworfene Frage behandeln will, fo muß er zunächft aus der Mannig- faltigteit der chemifchen Merkmale ein folches herausgreifen, das der quanti- tativen Darftellung zugänglich ift, und das fich wirklich nur auf das Atom (nicht, wie 3. B. Kriftallform, auf Atomgruppen) bezieht. Jedem Elemente fommt ein ganz beftimmtes, aus einer gewiffen Zahl von wohl definierten Linien beftehendes Spektrum zu, an welchem das Element umgekehrt ficher erfannt wird; d. h. im gasförmigen und glühenden Zuftande (mo die Atome fi) einzeln frei bewegen) fendet jedes Element (alſo jedes einzelne Atom dieſes Elementes) Licht aus, das durch den Speftralapparat betrachtet, nicht ein Eontinuierliches, in verfchiedenen (Farben gefärbtes Bild liefert, wie z. DB. das Sonnenlicht, fondern eine Anzahl diskreter Linien, deren Lage mit außerordentlicher Genauigkeit feftgeftellt werden fann, und deren jede einer ganz beftimmten Wellenlänge der zugehörigen, die Farbe erakt defi- nierenden Lichtſchwingung entfpricht. Diefe Wellenlängen find Zahlen, alfo quantitative Größen, durch welche alle qualitativen Eigenfchaften des be- treffenden Elements völlig beftimmt fein müffen.

Bon diefen Zahlen wird der Mathematiker ausgehen. Er bat dann folgendes Problem vor fih: Im fonft leeren Raume, der nur mit Licht: äther erfüllt ift, jchwebt ein materielles Teilchen, von dem eine Reihe von Schwingungen, jede mit genau definierter Wellenlänge, ausgehen, die fich nach allen Richtungen verbreiten und als Licht beftimmter Farben gefehen werden; welche Eigenfchaften muß das Teilchen haben, um nur Licht: ſchwingungen mit diefen beftimmten Wellenlängen oder Gruppen von Wellen- längen und feine anderen zu erzeugen? Für die mathematifche Behandlung

Ferdinand Lindemann: Ueber Geftalt und Spektrum der Atome. 243

können als ſolche Eigenfchaften nur die Form des Teilchens und die Ver- teilung der Materie in feinem Innern, d. h. die Dichte und Claftizität diefer Materie in Betracht kommen, aber für folche Behandlung muß die Frageftellung zunächft umgefehrt werden: Gegeben ift ein materielles Teilchen von beftimmter Geftalt, Dichte und Elaftizität, das frei im Lichtäther ſchwebt; welcher Art find die von ihm ausgehenden Lichtfchwingungen, d. h. welche Wellenlängen haben feine fogenannten „Eigenfchwingungen“ ?

Sp geftellt, Hat man es mit einem wohl definierten mathematifchen Probleme aus der Theorie der partiellen Differentialgleichungen zu tun: Die Materie im Innern des Teilchens wird in Schwingungen verfegt (3. B. durch Zufammenftöße mit anderen Teilchen); diefe Schwingungen fegen fich in den umgebenden Lichtäther durch die Oberfläche des Teilchens hindurch fort, ohne daß an diefer Oberfläche irgendwie eine Unterbrechung der Stetig- feit ſtattfände; dadurch ift eine endliche oder unendlich große Anzahl von möglichen Wellenlängen mathematifch beftimmt, die auf ebenfoviele diskrete und völlig beftimmte Linien im Spektrum führen.

Man bat nun Dichte, Klaftizität, Geftalt und Größe zu variieren und zu fehen, ob man dadurch zu den erperimentell feftgeftellten Verteilungs- gefegen der Speftrallinien gewifler Elemente fommt. Das mathematifche Problem ift leider fo fompliziert, daß es nur für eine befchränfte Anzahl von Fällen genauerer Behandlung zugänglich ift, und auch bier werden Die Gleichungen fo außerordentlich verwickelt, daß man fich meift begnügen muß, die gefundenen mathematifchen Löfungen fo weit zu diskutieren, daß der allgemeine Typus für die Gefege der Linienverteilung erfichtlich wird; find doch auch umgekehrt manche Elemente fchon durch diefen Typus voll- ftändig genügend charakterifiert.

Der einfachit mögliche Fall ift der folgende: Das betrachtete Atom bat die Geftalt einer Kugel und ift mit Materie gewiffer Dichte und Elaftizität gleichmäßig erfüllt; welche Lichtwellen fendet diefe Kugel aus? Hier läßt fich die Rechnung ziemlich weit durchführen; die gefundenen Spektrallinien find indeflen nach fo einfachem Gefege im Spektrum verteilt, wie ed bis jest bei feinem Elemente erperimentell gefunden ift. Obgleich es alfo in vielen Problemen ber mathematifchen Phyſik genügt, fich Die Atome fugelförmig vorzuftellen (insbefondere 3. B. bei den meiften Pro- blemen in der finetifchen Gastheorie), fommt Doch eine genau kugelförmige Geftalt der Atome wohl faum vor.

Dennoch geben uns die für die Rugel gültigen Formeln ein praftifch verwertbares Refultat an die Hand. Hat man nämlich zwei Rugeln, die aus Materie gleicher Dichte und Elaſtizität beftehen, ſich aber durch ihre Größe unterfcheiden, fo ergibt fich das folgende Geſetz: Sind die Speftral- linien des von der einen Kugel ausgefandten Lichte befannt, fo findet man diejenigen der andern Kugel, indem man die Wellenlänge jeder be- fannten Linie mit dem Verhältniffe der Radien beider Kugeln multipliziert. Sind die Kugeln nun von gleicher Dichte, fo ift diefes Verhältnis der Radien gleich der Kubikwurzel aus dem Verhältniſſe der Gewichte der Kugeln, d. 5. der Atomgewichte derjenigen Elemente, deren Atome durch die beiden Kugeln dargeftellt fein follen. Im diefer Form erlangt das Ge-

244 Ferdinand Lindemann: Ueber Geftalt und Spektrum der Atome.

feg dann aber ganz allgemeine Gültigkeit: Haben zwei Atome gleiche Form, gleiche Dichte und Klaftizität, find fie alfo einander ähnlich und unter- fcheiden fie fih nur durch die Größe, jo verhalten fich die Wellenlängen der Speftrallinien diefer Atome, wie die Rubilwurzeln aus ihren chemifchen Atomgemwichten, und hiernach können die Linien des einen Elementes aus denen des andern berechnet werden.

Dies Gefeg läßt fich leicht an der Hand der Erfahrung einer Prüfung unterwerfen; man braucht zu dem Zmwede nur die zur Verfügung ftehenden forgfältig gearbeiteten Tabellen der Speftrallinien verfchiedener Elemente zu vergleichen. Dabei ergibt fi) das Refultat, daß die Spektra der folgen- den Gruppen von Metallen diefem Gejege teild gut teild näherungsweife je unter fich genügen:

1) Zint, Cadmium und Queckſilber. 2) Magnefium, Calcium, Baryum und Strontium. 3) Silber, Rupfer und Gold.

Das find Gruppen von Elementen, die auch fonft wegen ihrer chemi- ſchen Eigenfhhaften zufammengehören. Von den Atomen der Elemente jeder Gruppe können wir hiernach ausfagen, daß fie einander ähnlich find. Umgekehrt aber läßt Aehnlichkeit im chemifchen Verhalten durchaus nicht auf Aehnlichkeit der Atom-Form fchließen. Beweis dafür find die Alkalien (Lithium, Natrium, Ralium, Caefium, Rhubidium). Die Speftrallinien diefer zufammengehörigen Elemente fügen fi dem erwähnten Gefege durchaus nicht. Wodurch wird nun bier der Unterſchied bedingt, wodurch der Unter⸗ ſchied zwifchen den erwähnten drei Gruppen? Entweder find die Atome aus verfchiedenartiger Materie aufgebaut, oder ihre Formen find einander nicht ähnlich.

Wir bleiben bei der Annahme gleichartiger Materie und variieren die Geftalt. Statt der Rugel wählen wir zuerft ein geſtrecktes (alfo unge- fähr eiförmiges) Notationsellipfoid, wie es geometrifch entfteht, wenn eine Ellipfe um ihre große Achfe rotiert. Hier ergibt die mafhematifche Theorie, daß die Spektrallinien eines folchen leuchtenden Ellipfoids von drei Zahlen abhängen, fich alfo nach drei verfchiedenen Prinzipien in Gruppen anordnen laffen. Diefe Zahlen ergeben fich ald die Wurzeln gewiſſer tranfzendenter Gleihungen und laffen ſich demnach aus den Achfenlängen des Ellipfoidg, aus deſſen Dichte und Elaftizität berechnen, eine Rechnung, deren wirkliche Ausführung allerdings kaum durchführbar erfcheint.

Die erfte diefer drei Zahlen beftimmt uns eine Gruppe von zufammen- gehörigen Linien, eine fogenannte Serie; den verfchiedenen möglichen Werten der erften Zahl entfpricht eine gewiſſe Reihe folcher Serien. Die zweite Zahl beftimmt in jeder Serie eine Untergruppe von Linien, und die dritte endlich legt in jeder Untergruppe eine einzelne, individualifierte Linie feft. Die Art wie diefe dritte Zahl in die Rechnung eingeht, lehrt uns ferner, daß die reziprofen Werte der Wellenlängen für einzelne Linien der erwähnten Untergruppe untereinander konſtante Differenzen bilden, d. h. Differenzen, die nur von der Natur des gegebenen Ellipfoids abhängen. Hierdurch iff ein charakteriftifcher Typus der Linienverteilung gegeben, ein Typus, der ung aus den Katalogen der Speftrallinien wohl befannt ift, und fich nur

Ferdinand Lindemann: Ueber Geftalt und Spektrum der Atome. 245

bei den erwähnten Alfalien findet. Für diefe haben Rydberg, Rayfer und Runge aus den Beobachtungen gewiffe Gefegmäßigfeiten abgeleitet, welche fih mit den für das Spektrum eines geftredten Rotationsellipfoids foeben gefchilderten im wefentlichen decken, indem die aus der Erfahrung gewonnenen Formeln mit den aus der mathematifchen Theorie gewonnenen dem Typus nach übereinftimmen. Die lesteren ergeben fi) aus der Darftellung der Integrale linearer Differentialgleihungen mittels femilonvergenter Reihen. Eine wirkliche Durchrechnung in alle Einzelheiten ift bei der Rompliziertheit der Formeln allerdings bisher nicht möglich. Die Atome der Alkalien (Li, Na, K, Cs, Rh) haben alfo, fo fönnen wir umgekehrt fchließen, die Geftalt von verlängerten Rotationsellipfoiden; für jedes einzelne Element find die WUchfenlängen diefer Ellipfoide völlig beftimmt; für verfchiedene diefer Elemente find die betreffenden Ellipfoide einander nicht ähnlich‘).

Zu einer wefentlih anderen Liniengruppierung führt das fogenannte abgeplattete Rotationsellipfoid oder Sphäroid. Es treten bier ebenfo viele Gruppen, Serien und Untergruppen auf; aber jenes Gefeg der konftanten Differenzen hat nicht fo allgemeine Gültigkeit; die Wurzeln der aufzuftellen- den tranfzendenten Gleichungen werden teilweife imaginär; infolge deffen beftehen einzelne Gruppen nur aus einer einzigen ftarfen Linie, andere aus einer befchränkten Zahl. Je ftärker die Abplattung ift, defto reiner tritt diefer Typus hervor. Aus ber Erfahrung ift legterer befannt durch bie Gruppierung der Linien im Speftrum der Metalle: Gold, Silber, Rupfer. Auch der Waflerftoff, der in feinem Verhalten fo manche Analogie zu den Metallen zeigt, gehört hierher, infofern ein dünnes rundes Plättchen, auf: gefaßt als äußerſt ſtark abgeplattetes Ellipfoid, ein Spektrum vom Typus des MWaflerftofffpeftrums liefert.

Drittens betrachten wir das allgemeine dreiachfige Ellipfoid, d. h. wir fuchen die Wellenlängen des von einem folchen Ellipfoide in glühendem Zuftande ausgeftrahlten Lichtes. Die entjprechenden Linien des Spektrums hängen hier ebenfalld von drei Zahlen ab, die durch tranfzendente Gleichungen beftimmt werden, und deren jede eine gewiffe Reihe von diskreten Werten durchlaufen kann. Diefe Linien laffen fih aber nicht wie in den beiden anderen Fällen in Serien und Gruppen ordnen, da fie ſich über das ganze Spektrum verteilen; nur wenn die Geftalt des Ellipfoids dem eined Ro— tationsellipfoids fehr nahe fommt, wird man einige Serien zufammenftellen tönnen. Das trifft nun bei dem Spektrum der alfalifchen Erden (Baryum, Strontium, Calctum und Magnefium) in der Tat erfahrungsmäßig zu, alfo bei den Elementen, die auch in ihren chemifchen Eigenfchaften zwifchen ben Alkalien und den eigentlichen Metallen ftehen. WUehnliches gilt für Zink, Cadmium und Quedfilber. Jene ftehen dem geftredten, diefe dem abgeplatteten Ellipfoide näher.

) Die mathematifche Ableitung der hier und im folgenden erwähnten Refultate findet fih in zwei Auffägen, die ich in den GSigungsberichten der f. bayer. Alabemie der Wiffenfchaften, math. naturw. Klaffe, Bd. 31 und 33 (1901 und 1903) veröffentlicht babe. Die Ableitung der genaueren Formeln mitteld der femitonvergenten Reihen, fowie die Behandlung der Schwingungen von Ringen und Wulften wird man in einer demnächſt erfcheinenden Fortfegung jener Auffäge finden.

246 Ferdinand Lindemann: Sleber Geftalt und Spektrum der Atome.

Gehen wir von einem Rotationgellipfoide aus und denken ung dasfelbe allmählich fo deformiert, daß es fich in ein allgemeines Ellipfoid verwandelt, fo werden fich mit der Geftalt des Atoms auch feine Speftrallinien ftetig verändern, und zwar ergibt die mathematifche Behandlung, daß dabei aus jeder einzelnen Linie acht neue hervorgehen. Ein folches Auffpalten einer Linie fann man andererfeit3 erperimentell hervorbringen, indem man die leuchtenden Atome des betreffenden Elementes zwiſchen die Pole eines ftarten Magneten bringt; es ift die befannte Zeeman’fche Erfcheinung. Zwiſchen den Magnetpolen befindet fi) der Lichtäther im Zuftande der Polarifation, d. h. im Zuftande einfeitiger Spannung; die mathematifche Behandlung der Lichtfchwingungen im fo polarifierten Aether ift aber für ein Rotationsellipfoid genau diefelbe, wie die Behandlung der Schwing- ungen eines allgemeinen Ellipfoids im nicht polarifierten Lichtäther. Wir können alfo umgekehrt fagen: Der fogenannte Zeeman-Effeft, d. i. die Spaltung der Speftrallinien durch den Magneten, ift eine Folge der Polari- fation des Aethers und findet fo ftatt, ald wenn das Atom durch Drud entfprechend deformiert würde.

Endlich legen wir einen Ring als mögliche Geftalt eines Atoms der mathematifchen Analyfe zugrunde, d. h. den Körper, welcher entiteht, wenn ein Rreis um eine nicht durch feinen Mittelpunkt gehende Achſe rotiert. Wir haben zwei Fälle zu unterfcheiden:

1) Die Achfe fchneidet den rotierenden Kreis nicht; der Ring ift in der Mitte offen, er hat die Geftalt eines runden, zufammen- gebogenen Drahtes oder Stabes, oder furz eines Fingerringes.

2) Die Achfe fchneidet den rotierenden Kreis, der Ring ift in der Mitte gefchloffen, wir fprechen dann von einem Wulfte, die Ge- ftalt ift etwa derjenigen einer Orange oder eines Apfels ähnlich.

Auch beim Ringe läßt fi) das Schwingungsproblem noch behandeln, wenngleich fich die Schwierigkeiten häufen; damit ift aber die Zahl der bisher in diefer Beziehung mathematifch erledigten Körper abgefchloffen.

Die Speftrallinien eines leuchtenden Ringes findet man abhängig von vier Zahlen, deren jede eine Reihe von Werten durchlaufen muß, und zwar fann man den Typus des Spektrums am einfachften dadurch fih ar machen, daß man das Spektrum eines verlängerten Rotations- ellipfoids mehrmals nebeneinander ftellt, dabei natürlich jedesmal die gegenfeitige Lage der Linien im Hilfsfpeftrum etwas verfchiebend.

Stellt man in ähnlicher Weife das Spektrum eines abgeplatteten Rotationgellipfoidg wiederholt nebeneinander, fo entfteht ein folches Syſtem von Speftrallinien, wie es einem leuchtenden Wulfte der oben be- zeichneten Art zukommt.

Genau in diefer Weife befchreiben nun Pafchen und Runge bie Gruppierung der Speftrallinien im Spektrum des Sauerftoff und Heliums einerfeits, des Schwefel und Gelens andererfeit3, denn das Gauerftoff- Spektrum entfteht nach ihnen, indem man dasjenige eines Alkalimetalls mebrmald gegeneinander verfchiebt, das Schwefelfpeftrum, indem man im Sauerftoff- Spektrum gewiſſe Gruppen von Einien durch einzelne ftarte Linien erfegt.

Ferdinand Lindemann: Leber Geftalt und Spektrum der Atome. 247

Sp fommen wir zu dem Schluffe, daß dem Gauerftoffatome mwahr- fcheinlih die Geftalt eines Rings, dem Schwefelatome diejenige eines Wulftes zukommt.

Es hat einen großen Reiz den Folgerungen nachzugehen, die fich an diefe Vorftellungen und Refultate anknüpfen laffen. Vor allem erfcheint auch die hemifche Berwandtfchaft der Elemente als abhängig von der Geftalt ihrer Atome. Neben anziehenden und abftoßenden Kräften muß die geometrifche Form der Atome für Möglichkeit und Stabilität einer Verbindung beftimmend fein. So werden 3. B. die Oryde der Metalle entftehen, indem fich ellipfoidifche Metallatome in die Deffnung des Sauerftoffringes legen und diefe verfchließen.

Das Waffer- Molekül befteht aus einem Atom GSauerftoff und zwei Atomen Wafferftoff; legtere kennen wir bereits als dünne runde Blättchen. Bon oben und unten wird fich alfo je ein folches dünnes Blättchen auf die Deffnung des horizontal liegenden Ringes legen, und fo wird ein Waffer- Molekül entftehen. Analog ift der Aufbau eines Schwefelwafferftoff- Moleküls, denn der Wulft eines Schwefelatoms zeigt oben und unten je eine Vertiefung, an die fich ebenfalls je ein Waflerftoffatom anlegen kann.

Hier darf das Waflerftoff- Atom überall durch ein ellipfoidifches Metall oder Alkali · Atom erfegt werden, wodurch Hydroryde und Oxyde bez. Schwefel- metalle entftehen. Inter Umſtänden bilden fich Höhere Orydationsftufen, indem ſich auf die beiden Metallatome wieder Sauerftoffatome auffegen, welche dann ihrerfeits freie Höhlungen zum Anſchluſſe weiterer Metallatome darbieten.

Bei diefer Vorftellung hängt die fogenannte Wertigkeit der Atome von ihrer Geftalt ab; unterfcheiden muß man die Wertigkeit in Bezug auf Wafferftoff (allgemeiner in Bezug auf Ellipfoide) und die Wertigkeit in Bezug auf Sauerftoff (allgemeiner in Bezug auf Ringe). Die erjtere ift gleich der Zahl der Höhlungen des Atoms, an die fich ein ellipfoidifches Atom anlegen kann, legtere gleich der Zahl der Vorfprünge oder Wölbungen, auf die ſich ein Ring auffegen fann.

Bon befonderem Intereffe würde es fein, unter diefem Gefichtspunfte die Chemie der Rohlenftoff- Verbindungen zu ftudieren. Da erhebt fich vor allem die Frage nach der Geftalt des Kohlenſtoffatoms; das Spektrum des- felben ift in feiner ganzen Ausdehnung faft gleichmäßig von GSpeftrallinien durchzogen; es fehlt fomit die Möglichkeit empirifch irgend welche Gefeg- mäßigfeiten feftzuftellen; die mathematifche Behandlung kann alfo feine Dienfte leiften. Man muß bier die Frage umkehren und verfuchen, aus der chemifchen Natur der Verbindungen des Kohlenſtoffs mit anderen Elementen auf die Geftalt des Rohlenftoff-ANtoms zu ſchließen. Das ift ein Weg, den man in Bezug auf den Kohlenftoff in der Tat nach dem Vorgange von Le Bel, van’t Hoff und Werner betreten hat, obgleich man bei anderen Elementen (abgefehen vom Stidftoff) die Frage nach der Geftalt der Atome bisher bei Geite ließ; dadurch gelingt es der organifchen Chemie, Ordnung und Leberficht in der unendlichen Mannigfaltigkeit von Kohlenſtoff- Berbindungen wefentlich zu erleichtern. DVerfchiedene Vorfchläge find gemacht worden, um die Geftalt des KRoblenftoffatoms fo zu beftimmen, daß fich aus ihm insbefondere eine Erklärung der fogenannten ifomeren Verbindungen

248 Ferdinand Lindemann: Ueber Geftalt und Spektrum der Atome,

ableiten läßt. Ob diefe Vorfchläge mit den hier entwidelten Anfchauungen über die Wertigkeit verträglich find, ob fie nicht vielmehr modifiziert bez. ergänzt werden müßten, kann bier nicht erörtert werden. Die Frage wird dadurch ſchwierig, daß die moderne Stereochemie, welche es fich zur Aufgabe macht, den Aufbau eines Moleküls aus feinen Atomen im Raume zu veranfchaulichen, fich zunächit damit begnügt, ganze Gruppen von zufammengehörigen Atomen wieder ald neue Einheiten zu behandeln. Wenn e3 aber wirklich gelingen foll, die Atom-Geftalt des Roblenftoff.-Atoms nicht nur als Symbol für die fyftematifche Ordnung von Beobachtungen zu benugen, fondern die Moleküle der organifchen Chemie in ihrem räumlichen Bau aus der Geftalt aller benusten Atome heraus wirklich aufzubauen, dann ift ed notwendig, eine jede Atomgruppe, welche im Moleküle einen gewiffen engeren Verband bildet, felbft wieder in ihre Atome aufzulöfen. Dadurch wird das Problem außerordentlich verwidelt, und wir müſſen ung zunächft begnügen, dasſelbe hier zu bezeichnen.

Bei folhem Aufbau der Moleküle wird jedem Atome ein wohl definierter Pla im Moleküle angewiefen; vielleicht bleibt ihm fo viel Frei- heit, daß es an diefem Plage um eine gewifle Gleichgewichtslage Schwing- ungen ausführen fann. Ganz abfehen müffen wir aber von der vielfach verbreiteten Vorſtellung, daß die einzelnen Atome im Moleküle um gewiffe Zentren geſchloſſene Bahnen befchreiben, wonach dann jedes Molekül gleich: fam ein verkleinerte Planetenfyftem darftellt. Diefe Vorftellung hat man ausgebildet, um fich über die ficher vorhandene „innere Energie“ der Moleküle auf Grund mechanifcher Begriffe Nechenfchaft zu geben. Diefe innere Energie befteht nach den bier vorgetragenen Gedanken in den inneren Schwingungen der Atome, die nur zum Teil als Lichtftrahlen nach außen zur Geltung kommen, während andere fich als elektrifche oder magnetifche Strahlungen geltend machen werben, und zwar abftoßend oder anziehend, fo daß fie von wejentlihem Einfluffe auf alle Wechfelwirtungen der Atome find. Inſofern e8 fich hierbei um die fogenannten Eigenfchwingungen handelt, d. h. um folche, welche fich ohne irgendwelche Unftetigfeit aus dem Innern des Atoms nach außen in den Lichtäther fortpflanzen, lehrt ung die mathematifche Behandlung, daß fie fich immer nur gleichzeitig von innen nah außen und von außen nach innen ausbreiten können, daß alſo die verlorene innere Energie immer von außen ber wieder erjest wird, indem ber Lichtäther diefe Energie von felbft wieder zurüdgibt. Während diefer Austaufh von Schwingungen bei den meiften Atomen unter gewöhnlichen Umftänden nicht merklich ift und erft durch von außen zugeführte Wärme oder durch eleftrifche Energie angeregt werden muß, fcheint bei anderen Elementen (wie Radium, Thorium zc.) diefer Austaufch ſchon unter gemöhn- lihen Umftänden befonders lebhaft vor fich zu geben.

In anderer Weife fucht fich die fogenannte Eleftronentheorie von ber inneren Energie der Moleküle Rechenfchaft zu geben. Sie nimmt an, daß mit jedem förperlichen Atome eine große Anzahl von „Elektronen“ ver- bunden ift, die ſich um dasfelbe bewegen; diefe Elektronen felbft find weder Materie noch Lichtäther, fondern ein drittes Etwas: Elektrizität. Diefe Vorſtellung ift im Anfchluffe an die Gefege der Ionen-Wanderung bei ber

Ferdinand Lindemann: Ueber Geftalt und Spektrum der Atome. 249

Elektrolyfe entftanden und ftügt fich ganz befonders auf die merkwürdigen Strahlungs-Erfceheinungen im Innern einer Geislerfchen Röhre, insbefondere auf die Beobachtungen an den Kathodenftrahlen. Dft werden auch die Elektronen direft ald die „Lratome” angefehen, aus denen die eigentliche Materie befteht; die eleftrifchen Kräfte zerftäuben die materiellen Atome in dieſe Uratome, deren Bahnen dann die KRatbodenftrahlen find. Die Speftrallinien follen dabei durch periodifche Schwingungen der Uratome um gewifle Gleichgemwichtölagen erzeugt werben, während nach anderen jedem Elektron eine beftimmte Eigenbewegung und fomit eine beftimmte Speftral- linie zulommt, wobei dann die Anzahl der Linien im Spektrum gleich der Anzahl der Elektronen wäre, die mit dem materiellen Atome verbunden find. Eine mathematifche Herleitung der erperimentell feftgeftellten Grenze über die Gruppierung der Speftrallinien auf Grund folcher Hypotheſen ift * allerdings bisher nicht gelungen. Zur Erklärung von elektriſchen Er- fcheinungen erfüllt diefe Theorie in mancher Beziehung ihren Zweck; was die Rathodenftrahlen angeht, fo fteht fie mit den hier vorgetragenen An- fhauungen über fefte charafteriftifche Atomgeftalten nicht in Widerfpruch, denn es ift fein Grund vorhanden, weshalb ein Atom beftimmter Form unter geeigneten Umſtänden nicht in noch Feinere Teile zerftäubt werden follte. Wunderbar bleibt dann nur, daß fich die Uratome immer gerade fo wieder zufammenfinden, daß nach Aufhören der eleftrifchen Störungen das urfprüngliche Atom wieder gebildet wird. Die weitere Verfolgung diefer Bemerkungen würde zu weit in die Theorie der Elektrizität binüber- führen, al8 daß fie und jest befchäftigen könnte. Es follte hier nur fon- ftatiert werden, daß die zugunften der Eleftronentheorie fprechenden Tat- ſachen auch mit der Hypothefe beftimmt geformter Atome vereinbar find; in ber Tat, wenn man annimmt, daß im Innern der Atome elaftifche Schwingungen ftattfinden, fo ift dies verträglich mit der Vorftellung, daß die Atome fich ihrerfeits aus Heineren Teilchen zufammenfegen, die ihre gegenfeitige Lage bei den Schwingungen periodifch ändern.

Unfere Betrachtungen haben ung dahin geführt, das Problem der qualitativen Unterfcheidung chemifcher Stoffe auf ein mathematifches Problem der Geftalt und der Zahl in einer Reihe von Fällen zurüdzuführen. Das einzelne Element erfcheint charakterifiert durch die drei QUchfenlängen des das Atom darftellenden Ellipfoids oder durch die Zahlen, welche Größe und Form eines Ringes oder Wulftes definieren. Anaufgeklärt bleibt dabei die weitere Frage, weshalb nur gewiſſe, ganz beftimmte Zahlengruppen in Betracht kommen, fo viele Gruppen, ald es verfchiedene Elemente mit ellipfoidifchen oder ringförmigen Atomen gibt. Weshalb kann man biefe Achfenlängen und fonft beftimmenden Zahlen nicht ganz beliebig wählen und dann immer ein ihnen entfprechendes Element angeben? oder kurz, weshalb gibt ed nur eine endliche Anzahl von Elementen? weshalb fehlen die Zwifchenglieder? Es müflen Kräfte in der Natur vorhanden fein, die ung noch unbelannt find und die bei Bildung ber Atome beftimmend wirkten, vielleicht noch heute andauernd wirken, um die Atome in ihren feſten Geftalten zu erhalten oder etwa entftehende Abweichungen und Variationen fofort wieder zu vernichten. Es ift diefe Frage ganz analog der andern,

250 Dtto Cohnheim: Ernährungsprobleme.

weshalb nur eine endliche beftimmte Anzahl von lebenden Organismen eriftieren oder eriftenzfähig find. Wir wiffen, daß hier der Kampf ums Dafein und die Auswahl des Tüchtigften einen hervorragenden Einfluß auf Bildung und Erhaltung der Organismen ausübten; follten analoge Berhältniffe auch in der anorganifchen Natur herrfchen? follten die eri- ftierenden Elemente eben deshalb vor etwaigen anderen Möglichkeiten aus- gezeichnet fein, weil fie ſich am beften den für fie geltenden äußeren Be— dingungen anpaflen? Das find Fragen, die wir zur Zeit faum in ein mathematiſches Gewand einfleiden, noch viel weniger beantworten können; bis zu ihnen dürfte e8 gelungen fein, die Grenzlinie unferer Erfenntnis zu verfchieben, um qualitative Merkmale der Materie auf quantitative Unter- fcheidungen zurüdzuführen; wir dürfen vertrauen, daß die Zukunft unfere ferneren 3meifel löfen und Hären wird.

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Ernährungsprobleme.

Don Otto Eohnheim in Heidelberg.

Für die Ernährung des Kranken haben die Aerzte feit alterd DVor- fchriften gegeben. Was aber der gefunde Menfch effen und trinken foll, das bat fih nur durch die Erfahrung geregelt, und erft in den legten Dezennien hat die Phyſiologie der Ernährung hinreichende Fortichritte gemacht, um bei praftifchen Fragen zu Rate gezogen zu werden. Allerdings ift e8 auch heute noch nicht möglich, etwa einem Menfchen genau vor- zufchreiben, was und wieviel er effen fol. Aber das läßt fich meift be antworten, ob die tatfächlich beobachtete Ernährung eines Menfchen oder einer Bevölkerungsklaffe mit den theoretifch gewonnenen Folgerungen über- einftimmt. Vor allem fünnen wir heute eine Reihe von Erfcheinungen phufiologifch begrünnde und als phyfiologifch begründet feftftellen, die wir bis dahin lediglich als Tatfachen hinnehmen mußten. Die phyſiologiſche Betrachtung der Volksernährung aber wird und andererfeit3 auch verftehen lehren, wie e8 fam, daß foziale Werturteile Jahrzehnte lang auf die phyfio- logiihe Erkenntnis hemmend und richtend eingewirkt haben.

Die Nahrung des Menfchen fest ſich befanntlich aus Eiweißkörpern, Fetten und KRohlehydraten zufammen. Die Eiweißförper nehmen eine be- fondere Stellung infofern ein, als unfer Körper felbft zum größten Teile aus Eimeiß befteht und daher nur das Eiweiß ald Material zum Aufbau des Körpers dienen fann. In den meiften Nahrungsmitteln werden die drei

Otto Cohnheim: Ernährungsprobleme. 251

Klaffen von Nahrungsftoffen im Gemenge genoffen, nur etwa Zucker und Butter find reines Rohlehydrat bezw. reines Fett. Den größten Teil unferes Eiweiß führen wir in Brot und Fleifch zu. Um eimweißreichiten ift das Fleifch, daneben Fifche, Eier, Räfe, furz die aus dem Tierreich ftammen- den Nahrungsmittel. Die ältere Phyſiologie hat fich wefentlich mit der ftoff- lichen Zufammenfegung der Nahrungsmittel befchäftigt, und wenn auch ſchon Liebig den ganzen Stoffwechfel als einen Verbrennungsprozeß erkannt hat, fo ift e8 Doch das Verdienft der Voitfchen Schule, daß fie in den Mittel- punft der Betrachtung den Falorifchen Wert der Nahrung gefchoben hat. Die Nahrung liefert durch ihre Verbrennung dem menfchlichen Körper die Energie, deren er bedarf. Ihr Wert bemißt fich daher nach der Energie- menge, die fie liefert und er läßt fich rein und fcharf in dem üblichen Maß ber Energie, in Wärmeeinheiten oder Kalorien, ausdrüden. Es ift nun durch Iahrzehnte lange Arbeit mehrerer Forfcher feftgeftellt worden, daß fi die einzelnen Nahrungsmittel nahezu vollftändig nach ihrem falorifchen Wert vertreten können. Rubner, Zung und Atwater find auf ver- fchiedenen Wegen zu dem gleichen Schluß gefommen, daß der Organismus für Wärme und für Musfelarbeit, d.h. für die ganz überwiegende Menge feiner Ausgaben, Eiweiß, Fett und KRohlehydrate, pflanzliche und tierifche Nahrungsmittel ganz gleichmäßig verwenden fann. Wenn die Rulturnationen Europas und Amerikas fich mwefentlih von Brot und Fleifh, wenn fich Inder und Chinefen faft ausfchließlich von Reis, die Eskimos von Fett nähren, fo liegt das nicht an ihrer phyfiologifchen Drganifation oder an verfchiedenen Bebürfniffen ihres Körpers, fondern an der mehr oder weniger leichten Befchaffenheit der Stoffe, an der Fruchtbarkeit des Bodens und an ähnlichen ſekundären Dingen.

Der Sat von der Falorifchen Gleichwertigfeit aller Nahrungsftoffe bat nur eine wichtige Ausnahme. Soweit man bisher die Nahrung irgend welcher Menfchen und Völker unterfucht hat, hat man immer eine gewiſſe und zwar ziemlich gleichmäßige Menge von Eiweiß gefunden. Auf die Art bes Eiweiß fommt e8 weniger an, tierifches und pflanzliches ift gleichwertig; aber etwa 100 Gramm Eiweiß ſcheinen in der täglichen Nahrung des Menfchen konſtant vorhanden zu fein. Voit fand in der Nahrung eines kräftigen Mannes, der mittelfchwere Musfelarbeit verrichtete, 118 Gramm Eiweiß im Tage und legte diefe Zahl den Ernährungvorfchriften für die Armee zugrunde. Schwächere, weniger angeftrengt arbeitende Menfchen brauchen nach Voit weniger Eiweiß. Bei den ganz fchlecht genährten, aber auch zu jeder intenfiven Arbeit unfähigen Zittauer Handwebern, unter den Armen Neapeld, unter der ärmften Negerbevöllerung von Alabama fanden von Rechenberg, Manfredi und Atwater viel niedrigere Zahlen. Im kurzdauernden Laboratoriumserperiment konnten auch Munk, Hirfchfeld, Rumagama und befonders Siven mit erheblich weniger Eiweiß ausfommen. Uber bei gut genährten Menfchen und in längeren Perioden fand nur Chittenden einmal weniger Eiweiß, jonft ift e8 nach allen phyfio- logifchen Unterfuchungen und nach den Erfahrungen des täglichen Lebens nicht zweckmäßig, auf die Dauer weniger als 100 Gramm Eiweiß am Tage zu genießen. QUndererfeits ift auch ein ftärfered Herausgehen über biefe

252 Otto Cohnheim: Ernährungsprobleme.

Grenze felten, zeigen doch die Unterfuchungen des amerifanifchen Phyfio- logen Atwater, daß felbft die Nahrung der wohlhabenden Amerikaner, die uns als eimweißreich erfcheint, faum je mehr als 100 Gramm Eiweiß enthält, und die Unterfuchungen der frei gewählten Koſt verfchiedenfter Menfchen haben ftet3 zu ähnlichen Zahlen geführt.

Es ift nun ſchon wiederholt die Frage aufgeworfen worden, wozu der menfchliche Körper eine Eimeißmenge von 100 Gramm täglich braucht. Mit Sicherheit können wir fie auch heute noch nicht beantworten. Immerhin haben ung gerade die legten Jahre eine Reihe von Gründen fennen gelehrt.

Daß zunächft der wachfende Organismus Eiweiß bedarf, ift felbft- verftändlich, kann er doch das Eiweiß, aus dem feine Organe beftehen, nur aus dem Eiweiß der Nahrung beziehen. Wir wiſſen aber, daß auch der erwwachfene Organismus feine Organe gelegentlich erneuert und vermehrt, alfo ebenfalls Eiweiß braucht. Auch kennen wir heute den Zuſammenhang zwifchen manchen Spaltungsproduften des Eiweiß und verjchiedenen Stoffen, die der Körper braucht, ein reichlicher Vorrat aller Baufteine des Eiweiß ift daher jedenfalls wünfchenswert. Ein zweiter Grund ift ſchwerer zu faflen. Schon Voits erfte Stoffwechfelverfuche zeigten, und Rubner, Zung und viele andere haben es immer von neuem beftätigt, daß das Eiweiß fchneller und leichter verbrannt wird, ald die Rohlehydrate und befonders als Fett. Die Zellen unferes Körpers können ihren Bedarf mit allen drei Nahrungs- ftoffen deden. Wenn ihnen aber alle drei angeboten werden, fo verbrennen fie das Eiweiß zuerft. Bei reichlichem Angebot der beiden anderen ſchützen diefe das Eiweiß vor der Verbrennung, bei Mangel an Fett und an Rohle- bydraten kann der Körper dagegen leicht dazu kommen, fein eigenes Eiweiß anzugreifen. Es dürfte dies der wichtigfte Grund fein, weshalb befonders bei niedriger Gefamtmenge der Nahrung ein beftimmtes Eiweißminimum erforderlich ift.

Einen dritten Grund haben uns in den legten Jahren die Anter fuchungen des großen ruffifchen Forſchers Pawlow enthüllt. Wir kennen feitdbem den engen nervöfen Zufammenhang zwifchen dem Verdauungsſyſtem und den Ginnesorganen ded Kopfes, die den Wohlgefcehmad der Nahrung beftimmen und die dadurch die Nahrungsaufnahme regeln. Wir willen aber ferner durch Pawlow, Weinland und Starling, daß diefer Zufammen- bang nicht ein für allemal feftfteht, fondern daß er fich nach den jeweiligen Bedürfniffen außerordentlich fein einſtellt. Wenn wir daher finden, daß an irgend einem Punkte ein folcher Zufammenhang befteht, jo müflen mir fchließen, daß er zweckmäßig, d. h. durch die Bedürfniffe des Körpers bedingt ift, denn fonft würde er in kürzefter Zeit verfchwinden. Nun ift das Eiweiß felbft gefchmad- und geruchlos und wirft auch nicht auf die fenfiblen Nerven des Magens und Darmes, dagegen iſt es in den natürlich vorfommenden Speifen immer aufs engfte mit den fohmedenden und den die Verdauung anregenden Beftandteilen der Nahrung vergefellfchaftel. Für uns ebenfogut wie für den von Pawlow zunächft unterfuchten Fleifchfreffer find die eimeiß- reichften Nahrungsmittel die fchmadhafteften und den Appetit am meiften anregenden. Die eimeißärmeren Eimweißmittel, wie Reis und Kartoffeln regen die Verdauung weniger an und find deshalb ſchwerer verdaulich.

Otto Cohnheim: Ernährungsprobleme. 253

Eine eiweißfreie Nahrung zu verfüttern, hat fich bisher felbft im Tierverfuch als unmöglich herausgeftellt, bei den Verſuchen fich felbft auch nur eitveiß- arm zu ernähren, ftießen Siven und Röhl wegen der mangelnden Schmad- baftigfeit der Nahrung mit der Zeit auf unüberwinbliche Schwierigkeiten.

Wenn uns alfo die Gründe auch noch nicht alle befannt find, fo ijt das doch jedenfalls ficher, daß für längere Zeiträume und für die natürliche Ernährung Voit das richtige getroffen hat, als er eine Menge von 100 Gramm Eiweiß im Tage als nötig oder doch jebenfalld wünfchenswert bezeichnete. Sntereffant ift nun aber, daß diefe Menge die gleiche ift für Menſchen aller Berufe, daß fie unabhängig ift von der Mustelarbeit eines Menfchen.

Bekanntlich wird der Nahrungsbedarf des Menfchen faft ausfchließlich von feiner Musfelarbeit beftimmt. Die geiftige Arbeit kommt in der Nahrung nicht zum Ausdruck. Ob jemand fein Gehirn intenfiv anftrengt oder ob er ed möglichft vollftändig ruhen läßt, das ändert, foweit wir heute wiffen, an dem Gnergiebedarf des Körpers und damit an feinem Nahrungsbedarf nichts. Auch die Energiemenge, die der einzelne Menfch zur QAUufrecht- erhaltung feiner Körpertemperatur braucht, differiert recht wenig, da die Unterfchiede der Außentemperatur durch die wunderbar fpielende Wärme- regulation unferes Körpers und durch die fünftliche Wärmeregulation unferer Kleidung und Wohnung nahezu ausgeglichen werden. Umſo größer tft der Einfluß der Musfelarbeit. Ein Menfch, der völlig ruhend im warmen Zimmer liegt, braucht im Tage 15—1700 Kalorien. Jemand der durch feinen Beruf zu figender Lebensweife geführt wird, produziert 2100 bis 2400 Ralorien. Bei leichter Handarbeit fteigt der Bedarf auf 2800, bei Landarbeitern, die ſchwer angeftrengt find, haben Liebig und andere 4 big 6000 Kalorien beobachtet. Bei Holzfällern in Maine fanden Atwater und Woods bis zu 8000 Kalorien. Im Durchfchnitt aller feiner Verſuche beobachtete Atwater 2270 Kalorien für den ruhenden, 4550 Kalorien für den körperlich ſtark arbeitenden Menfchen, alfo genau das doppelte.

Wenn nun die Gefamtmenge der Kalorien je nach der Arbeit ver- fchieden, die Eiweißmenge für alle Menfchen etwa gleich ift, fo ergibt fich daraus eine wichtige Schlußfolgerung. E83 muß nämlich die Nahrung körperlich nicht arbeitender Menſchen relativ eiweißreicher fein, da fie die gleiche abfolute Eiweißmenge in einer Elei- neren Öefamtmenge enthalten muß. Die eiweißreichiten Nahrungs- mittel find wie erwähnt das Fleiſch und die anderen aus dem Tierreich ftammenden Produfte, und wir fehen denn auch, wie die Nahrung umfo reicher an Fleiſch wird, je weniger an Mustelarbeit der Menfch Ieiftet. Ein Beifpiel möge das erläutern. Ein Landarbeiter bat ſchwere fürperliche Arbeit zu leiften und bedarf daher einer Nahrung, die ihm 5000 Kalorien am Tage liefert. Wenn er nur von Brot, Kartoffeln und anderen Begeta- bilien lebt, fo erhält er in den 5000 Kalorien mühelos 100 Gramm Eiweiß, ja mehr. Nun wandert derfelbe Mann in die Stadt und wird dort zu einem Beruf geführt, der ihn zu figender Lebensweife zwingt. Er bedarf daher nur noch 2500 Kalorien. Behält er nun feine Nahrung der Qualität nach bei, fo ift zweierlei möglich: entweder ißt er die bisherige Menge, das

254 Otto Cohnheim: Ernährungsprobleme,

ift auf die Dauer unmöglich, da der Körper die überflüffige Maffe nicht bewältigt, oder er fchränft fie auf die Hälfte ein, dann ift die KRalorien- menge richtig, aber er befommt dann nur 50 Gramm Eiweiß pro Tag. Will er fich richtig ernähren, fo muß er feine bisherige Nahrung auf die Hälfte verringern, aber dafür 50 Gramm Eiweiß, 3. B. 250 Gramm Fleifch, hinzufügen.

Das Beifpiel ift ertrem und wird in diefer Schärfe nicht allzuoft vorkommen. Aber das Prinzip können wir ftet3 beobachten. Die Nahrung der wohlhabenden, das beißt, der nicht körperlich arbeitenden Klaſſen ent- hält in allen Ländern am meiften Fleifeh, und das ift fein Lurus, fondern es ift phyfiologifch begründet. Vergleicht man verjchiedene Völker oder verfchiedene Entwiclungsftufen eines und besfelben Volkes, fo zeigt fich immer: In dem Maße, in dem die reine Handarbeit durch die Arbeit des Kopfes und die Arbeit der vom Menſchen nur beauffichtigten Mafchine erfegt wird, in dem Maße nimmt der Fleifchgenuß zu. Am deutlichften aber zeigt fich die Geltung des Gefeges, wenn wir in einem Lande die länd- liche mit der ftädtifchen Bevölkerung vergleichen. Auch die moderne indu- ftrielle Arbeiterbevölferung lebt „von ihrer Hände Arbeit.” Uber diefe Arbeit ift meift eine andere, ald die der Landarbeiter. Die Beauffichtigung und Lenkung der fomplizierten Mafchinen wie jede andere gelernte quali- fizierte Arbeit erfordert Aufmerkfamteit, Intelligenz und Gefchicklichkeit, aber nicht entfernt foviel Musfelarbeit als Mähen, Drefchen und Holzfällen. Mit diefer geänderten Tätigkeit muß fih Menge und Urt der Nahrung ändern. Die ftäbtifche Bevölkerung ißt im ganzen weniger, aber diefe Nahrung ift qualitativ anders, fie muß aus relativ eiweißreichen Stoffen beftehen, d. h. mehr Fleifch und mehr Animalien enthalten.

Die geringere Nahrungsmenge der Induftriearbeiter im Vergleich mit ber Landbevölferung ift von nationalöfonomifcher und auch von ärztlicher Geite ald ein Zeichen der Degeneration betrachtet worden. Dffenbar mit Unrecht, denn es gibt ja gar fein allgemeines Nahrungsmaß, das für alle Menfchen zutreffend oder auch nur wünfchenswert wäre. Die Nahrung richtet fich vielmehr nach der Menge der Muskelarbeit. Andererſeits hat man wohl die Begehrlichkeit der Städter verantwortlich gemacht für ihren gefteigerten Ronfum von Fleifh, von Eiern und von den anderen wohl fchmedenden, weil eiweißreichen Nahrungsmitteln. Nichts kann falfcher fein. Gerade für die Klaſſe, Die das Gros der ftädtifchen Bevölkerung ausmacht, ergibt fich, wie gefagt, der Genuß von Fleiſch und anderen eiweißreichen Nahrungsmitteln als phyfiologifches Poftulat, und für die andere Menfchen- Kaffe, die einen großen Teil der ftädtifchen Bevölkerung bildet, Kaufleute, Beamte, Schreiber gilt dies in noch höherem Maße. Denn ihre Mustel- arbeit im Beruf ift noch geringer, ihre Nahrung muß aljo relativ noch eimeißreicher fein.

Es ift nicht meine, des Phyfiologen Aufgabe, die weiteren Folgerungen aus dem aufgeftellten Prinzip zu ziehen, daß die Nahrung der ftädtifchen Bevölkerung eine weniger vegetarifche fein muß. Ich will vielmehr noch auf den merfwürdigen rückwirkenden Einfluß der befprochenen Berhältniffe, auf die Phyfiologie eingehen. Die körperlich nicht arbeitenden Klaffen find

Otto Cohnheim: Ernährungsprobleme. 255

die oberen und wohlhabenden. Wenn man ihren ftarfen Fleifchgenuß fab, lag es nahe, die Fleifchnahrung überhaupt für die wertvollere und beffere zu halten. Dies Vorurteil ift in Laienkreifen weit verbreitet. Auch die Phyfiologie hat fich lange nicht davon frei machen fünnen. Der große Liebig, der Begründer der wiflenfchaftlichen Ernährungslehre, hielt das Fleiſch für das einzig wirkliche Nahrungsmittel und fchrieb ihm einen ganz bejonders hohen Nährwert zu. Liebigs Lehre ift fchon vor 40 Jahren von Voit und von Fid und Wislicenus eindeutig widerlegt worden. Uber noch heute gibt es Phyfiologen, die an der Liebigfchen Lehre fefthalten und die Mefte diefer Lehre ſpuken noch überall in der Phyfiologie und Medizin herum. Die Zählebigkeit des alten Irrtums wäre faum zu er- Hären, wenn er nicht feheinbar durch die tägliche Erfahrung geftügt würde, dab der Wohlhabende Fleifch, Eier u. f. w. ift, während der handarbeitende Tagelöhner ſich mit Brot und Kartoffeln begnügt.

Aus der verfchiedenen Ernährung von Menfchen, die ihre Muskeln anftrengen und folchen die es nicht tun, ergibt fich aber noch ein meiteres. Der einzige, in größeren Mengen vortommende unverdauliche Beftandteil der menfchlichen Nahrung ift die Zellulofe. Die Zellulofe ift nur in der Pflanzennahrung enthalten und ihre Menge tritt deshalb in der Nahrung des nicht FZörperlich arbeitenden Menfchen ſtark zurüd. Nun kennen wir aber ſeit Enyrim die große Bedeutung der Cellulofe für die Verdauung. Der Fleifchfreffer mit feinem kurzen mustelftarfen Darm bedarf ihrer nicht. Der Pflanzenfreffer mit feinem langen gewundenen ſchwachen Darm kann fie auch für furze Zeit nicht entbehren. Der Menfch fteht wie in der ganzen Organifation feines Verdauungsapparates auch hier in der Mitte zwifchen beiden. Die Zellulofe ift für ihn nicht unbedingt erforderlich, aber ihr Mangel führt bei vielen Menfchen zu motorifcher Trägheit des Darmes, zu chronifcher Obftipation und ihren Folgen. Der Zufammenhang zwifchen figender Lebensweife und Obſtipation ift ja längft befannt, aber man bat ihn oft zu mechanifch zu erflären verfucht, während das Bindeglied die Nahrungszufammenfegung der figenden Menfchen ift. Sie effen überhaupt weniger, befonders weniger Pflanzliches und damit weniger Zellulofe. Un diefer Stelle fegen feit langem die Degetarianer ein, die beobachten, wie viele Verdauungs- und fonffigen Störungen des Städters der meijt vege- tarifch lebenden bäuerlichen Bevölkerung fehlen und fuchen ohne Kenntnis der phufiologifchen Gefege diefe Schäden zu heilen, indem fie dem Städter die Nahrung der Bauern als Ideal hinftellen. Aber was für den Land- bewohner phyfiologifch ift, der 4—5000 Kalorien aufbringen muß, ift es nicht für den, der nur 2300 Kalorien oder noch weniger bedarf. Er fommt dann entweder in die oben gefchilderte Lage, zu wenig Eiweiß in der Nahrung zu haben oder er hilft fich dem Prinzip zuliebe mit eiweißreichen, aber dann auch zellulofearmen Vegetabilien und erreicht damit nichts.

Das einzige Heilmittel für die Störungen, die in legter Linie auf mangelnder Mustelarbeit beruhen, ift vielmehr, diefe Musfelarbeit außer- halb des Berufes zu pflegen, wie ed im Sport gefchieht. So ift e8 denn ebenfalls kein Zufall, fondern eine notwendige, phyſiologiſch begründete Erfcheinung, daß überall da das Bedürfnis nach fportlicher Betätigung fich

256 Sriedrih Naumann: Im Zeitalter des Verkehrs.

einftellt, wo fich eine foziale Klaffe gebildet hat, die in ihrem Berufe der Muskelarbeit entbehrt. Das ältefte Induftrieland England ift auch die Heimat des heutigen Sports, in Deutfchland waren die erften Stätten des Sports die Univerfitäten, in denen taufende junger Männer ausfchließlich geiftiger Arbeit leben. Heute hat der Sport weitere Kreife, Kaufleute und Induftriearbeiter, ergriffen. Der Sport führt dann fofort zu einer AUenderung des Nahrungsbedarfes, jeder Radfahrer und jeder Bergfteiger weiß, daß ihm auf Touren Dinge munden, die ihm zu Haufe niemals fchmeden würden.

Ich muß mich Hier auf diefe Andeutungen befchränten, die natur- wiffenfchaftlihe Gefegmäßigteiten auf einem Gebiete enthüllen, das von dem Ausgangspunkte fern abzuliegen feheint. In mühfamer Arbeit hat die Phyfiologie der Ernährung fefte, weil naturwifjenfchaftlich-erperimentelle Grundlagen gefchaffen, auf denen andere Wifjenfchaften aufbauen können.

Sm Seitalter des Verkehrs.

Bon Friedrih Naumann in Schöneberg.

Die neue bayrifche Kammer foll über Waflerftraßen beraten und wird es fich nicht nehmen laffen, über die Eifenbahngemeinfchaft mit Preußen zu reden. Dabei ift es möglich, daß ein Mitglied der Mehrheit die Worte braucht: „wir leben im Zeitalter des Verkehrs”. Don welchen Gefühls- tönen ift dann diefes Wort umgeben? Es heißt dann: „wir leben troß des Zeitalter des Verkehrs, wir leben und ihr werdet e8 merken!” Es beißt: „wir leben gerade noch, wir leben, aber es ift fein Spaß, ein folches Zeit- alter zu haben“. Im Grunde heißt e8: „wir leben im Zeitalter des Ver— kehrs wie auch fonft Chriften in der Welt zu leben gewohnt find, mit Ge- duld und Hoffnung einer befferen Ewigkeit, wo es feine Eifenbahnen und Dampffchiffe gibt, da die Bilder der Ewigkeit entworfen wurden, ehe diefe Ungetüme Land und Waſſer zu ftören begannen”. Auf der anderen Seite aber klingt e8 zurüd: „wir leben im Zeitalter des Verkehrs, denn wir ver- dienen nur durch den Austaufch und Verkehr”. Die Fremdenftraßen Ober- bayerns rufen: „wir leben!” Die Spinnereien und Webereien Augsburgs fprechen: „wir!“ Die Erportbrauereien jagen: „wirl” Und ganz links fchwenft der Sozialdemofrat feine rote Fahne mit dem ſchwarzen Flecken und füllt die Luft mit dem Gefchrei: „wir, wir, wir leben im Zeitalter des Verkehrs, denn an ihrem eigenen Verkehr ftirbt die bürgerliche Gefellfchaft”.

Friedrich Naumann: Im Zeitalter des Verkehrs. 257

Laßt uns alfo bedenken, was es mit diefem Zeitalter des Verkehrs auf ſich hat!

Das Zeitalter des Verkehrs ruiniert das Mittelalter und zwar eben- ſowohl feine Vorzüge wie feine Befchränftheiten, was aber nicht zmeierlei ift, da es eben der Vorzug des mittelalterlihen Menfchen ift, eine gewiſſe kräftige und fröhliche Befchränktheit zu haben. Die Mehrheit der mittel- alterlihen Menfchen war feßhaft; fie waren Schwaben oder Franken oder Tiroler und über ihnen gab ed nur zwei Stände, die fchon immer im Zeit- alter des Verkehrs gelebt haben: die Kaufleute und die Priefter. Diefe famen von jenfeits der Berge, aus der anderen Welt und brachten von dort die Gewürze Indiens und das Gold der römifchen Wahrheit, fie vermittelten den Eifenverfauf und die Literatur, das Volk jelbft aber hatte feine fleinen Welten für fich, feinen Markt, feinen Dialekt, feine Tracht, feine befonderen Speifen, Heiligen und Kirchtürme. In diefem Volt gab es zwei Grund- geftalten: den Bauern, der fo wenig wie möglich kaufte und verfaufte, und den Handwerker, der feine feſte Kundſchaft verwaltete wie die Mönche ihren Weinberg. Leber dem Bauern ftand der gnädige Herr, aber er war viel- fach eben nur der höhere Bauer, das heißt der Vertreter derfelben ab- gefchloffenen Wirtfchaftsmweife auf breiterer Grundlage, und der ftäbtifche Datrizier, der fi zum Handwerker geringerer Art verhielt wie der Adel zum Bauern. Diefe alte Welt war in fich ſelbſt keineswegs friedlich fondern voll beftändiger Krakehle und Fehden, aber alle diefe alten Fehden haben etwas Rührendes in ihrer Umgrenztheit. Wer 40 gemwappnete Reiter hatte, war fchon ein rechter Mann. Es lag in diefem ganzen Dafein eine un- gewollte, naive Befcheidenheit, die fih mit der Weltanfchauung ber individuellen Trogigkeit zu einem Gemifch von merfwürdigem grauem Zauber _ verband, und die es leicht machte, die weite Welt da draußen als das böfe Land der Berfuchungen, des Wahnglaubens und der Mammonstnechtfchaften erfcheinen zu laffen. Un diefem alten Dafein änderte auch die Reformation nicht viel, denn ihr Ergebnis war nur eine lutherifche Seßhaftigkeit neben einer fatholifhen. Da faßen fie mit dem Katechismus und da mit dem Roſenkranz aber jeder Strich für fich, hier die eine, da die andere Gebunden- beit, beiderſeits aber diefelbe Stätigfeit und lokale Gefinnungstreue.

Diefe alte Welt, die ein faft orientalifch mofaifartiges Anfehen hatte, wurde durch die Eifenbahnen verdorben und wird beftändig weiter verdorben. Die Eifenbahn verdirbt den lokalen Charakter ſowohl der Wirtfchaft wie des Geiftes. Sie zerftört den abgefchloffenen Markt des Handwerfers, die freie GSelbftändigfeit der einzelnen Stadt, die naturalwirtfchaftliche Unabhängigkeit des Bauern und die felderweife Abgefchiedenheit der Ronfeffionen. Es ent- fteht ein gräßliche8 Durcheinander aller vorher ifoliert entitandenen Eigen- heiten, eine unerhörte Anordnung der Arbeits⸗, Lebens: und Glaubensbelennt- niffe. Diefe Unordnung ift das Zeitalter des Verkehrs. So wenigſtens erjcheint es denen, die fich in ihm fehlecht zurechtfinden können. Sie rufen wie die Ängftlichen Kinder beim Baden: „macht doch Feine folchen Wellen, man ertrinkt ja! Sprigt nicht fo!” Im diefer Aengftlichkeit haben fie fich erft an die Wand drüden laffen, dann aber ftärfte fi ein Angftvoller am andern und die Truppe der Geängftigten rückte gefchloffen vor: „wir müffen

Südbeutfhe Monatshefte. II, 9. 17

258 Friedrihd Naumann: Im Zeitalter des Verkehrs.

im Zeitalter des Verkehrs die Ordnung erhalten!” Das waren die, deren Programm lautete: „Leine Neichseifenbahnen, feine Ranäle, keine Verbilligung der Tarife, Erhaltung des Heimatrechtes, Wiederherftellung der Innung, Her- ftellung von Zollgrenzen, Erhaltung der Ronfeffionsfchulen.“ Diefe find es, die nach langem fchwerem Rampfe jegt triumphierend rufen: „wir leben im Zeitalter des Verkehrs!”

Ihnen aber ftellen fich diejenigen entgegen, denen gerade dieſe „Un- ordnung“ als die natürliche Ordnung der Dinge erfcheint. Sie fagen: „der (ofale Charakter des Geiftes und der Wirtfehaft war eine Unnatur, denn der Menfch ift ein bemwegliches Wefen und alle feine Güter find beweglich, alle Wälder können transportiert, alle Nahrungsmittel können verfrachtet, alle Kohlen können gefahren, alle Mafchinen können verfendet werden. Es gibt feinen Vorteil, der nicht allen gehören follte. Je beweglicher der Menfch und feine Güter werden, defto eher befommt jeder feinen Plas, der für ihn paßt, feine Arbeit, die er gerade leiften kann und feinen Ertrag, den er fich fauft, defto fchneller wird fein Geijt frei vom Banne des Winfeld und aus dem Kinderfpiel in der Ecke wird der große Tummelplag der freien Kräfte, die fich ausleben können, wo und wie es ihnen glüdt. Geht ihr nicht, daß wir wohlhabender werden, je mehr Dampfichiffe wir haben? Fühlt ihr nicht, daß jest erft die Tenfter aufgemacht wurden, daß nun erft große Atemzüge in freier Luft gemacht werden können, und daß nun erjt die Sonne die Fäulnis der abgejchloffenen Gehöfte leuchtend durchfäubert? Auf, laßt ung noch mehr Kanäle bauen, noch mehr Eifenbahnen anlegen, noch größere Kähne und Schiffe hertellen, laßt ung die alten Waſſerſtraßen vertiefen, laßt ung Verkehrsſyſteme machen, die feine Landesgrenzen kennen, laßt ung den Drient an den Okzident heranziehen und Südamerika zum Nach- barn des Böhmerwaldes machen, laßt ung Indien mobilifieren und die Wälder Rußlands in unfere Bergwerke tragen, laßt ung Aegypten als unfere Baummollplantage betrachten und die Küfte Nordafrifas als unfere Gefundheitsftation, laßt und aller Zeiten Geifter zum Konzil der Wahrheit verfammeln und abftreifen, was eng und altfränfifch unfere Menfchheits- Harheit hindert! Wir wollen hinaus aus der Enge: nicht ihr, wir leben im Zeitalter des Verkehrs!”

Und dieje waren die Stärkeren, trog des Gegenaufmarfches der An— deren, denn ihnen halfen alle Kräfte, die irgendwo ihren perfönlichen Vor- teil fuchten. Ihnen Half vor 50 Jahren das Gold Kaliforniens, mit dem die Eifenbahnen der erften Periode des neuen Verkehrs gebaut wurden, und ihnen hilft jest das Gold Auſtraliens und Südafrikas, mit dem die Eifen- bahnen über alle Erdteile hin gelegt werden und mit dem die Dampffchiff3- gejellfchaften fich verdoppeln. Noch ift e8 nicht in das allgemeine Bewußt⸗ fein übergegangen, daß feit 1890 die zweite Periode des Weltverkehrs be- gonnen bat, die Zeit der Internationalität an fih. Es fei deshalb erlaubt einige Ziffern zu geben, damit die Phantafie etwas feftes bat, an das fie fih Mammern kann. Zwiſchen 1890 und 1903 wurden an Eifenbahnen gebaut:

Friedrih Naumann: Im Seitalter des Verkehrs. 259

Europa . » 2... 76000 Kilometer

QAmerita. - » . . 102000 2 Aien . » 2 2. 41.000 . Aria . » 2»... 16000 e Auftralien . . . 8.000 5

243 000 Kilometer.

Rechnet man auf den Kilometer nur 200000 Mark AUnlage- und Betriebskapital (in Bayern 267000, in Württemberg 352000, in dünner bevölferten Ländern billiger), fo gelangt man zu der fchönen Summe von 48 600 000 000 Marf, die in den legten 13 Jahren in Eifenbahnen veran- lagt worden ift. Das iſt die Wirklichkeit des Zeitalters, in dem wir leben. Schon heute hat Dftindien foviel Eifenbahnen wie Deutfchland im Jahre 1890 und Südafrika hat foviel wie heute Bayern und Württemberg zufammen. Und diefer fabelhaften Verkehrövermehrung auf der ganzen Erdoberfläche geht eine gleiche Vermehrung des Dampffchiffäverfehrs zur Geite. Hier fönnen wir nur bie Ziffern der größeren deutfchen Gefellfihaften aus den legten 8 Sahren geben und zwar geben wir das Aktienkapital, weil an feinem Wachstum der rapide Fortfchritt am reinften erfehen werden kann:

1896 1901 1903 Hamburg-Amerita . . 30 Mi M. 80 Mill. M. 100 Mil. M. Norddeuticher Lloyd . 40° 80 10900 Hamburg-Südameria . 75 123 + 11.281. Hanſa.. 10 15 ng 15 ea Rom .: 2.2... 65. © 11 ——— 11 Fr Hamburg-Auftralien. -. u u 9 u. 12 2 Petroleumgefellihft » u u 9 ii SW 9 ur Deutfhe Levantelinie . e 4 2 6 2

94 Mil. M. 219,25 Mil. M. 264,25 Mill. M.

Und diefe deutfchen Gefellfchaften find doch nur ein Feiner Teil der zweiten Periode des SZeitalterd des Verkehrs auf dem Waſſer. Eng- land und Nordamerika geben in ähnlichen Verhältniffen vorwärts. Das kann nicht ohne die weitreichendften Folgen fein. Die Austaufchwirtfchaft, die Mobilifierung der Menfchen und Güter, die Ueberwindung aller lokalen Bindungen hebt nun erft zum eigentlich großen Tanze an. Die „Unordnung“ wird in den nächifen zwanzig Jahren ganz foloffal werden, wenn die neuen Verkehrsmittel ihre Wirkungen zeigen. Alle alte Marktvereinzelung wird mit einer ungeahnten Macht zerbrochen werden. Das neue Austauſchſyſtem kommt über uns wie in den fünfziger Sahren die Eifenbahn über Deutfch- land fam, und damit fommt nach aller menfchlichen Vorausficht eine zweite Welle des Freihandelsgeiftes, die teild aug Drang zum Gewinn und teile aus Verzweiflung über künſtliche Hemmungen fi im Laufe des nächften Menfchenalters emporwölben wird und irgendwann im Sturm fiber das Heer der Geängftigten hereinbricht, alle ihre Zäune, Stadete, Dämme in wilden, tollem Wellenjubel nieberreißend. Ob dann fpäter die Geängffigten ſich nochmals wieder fammeln, wifjen wir nicht; möglich ift es. Das Zeit-

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alter des Verkehrs kommt wie alle Gefchichtsbewegungen in großen Stößen, denen dann wieder die Ermattung folgt. Die jegige Lage ift, daß die Er- mattung bes erften Zeitalter die Gefeggebungen beberrfcht, während Die Vorbereitung des zweiten Zeitalter im Untergrund der MWirtfchaftsdinge vor fich gebt.

Es ift aber wohl möglich, daß viele, die im Auffteigen des erften Zeit- alterd mitgeftürmt und mitgejubelt haben, dieſes Mal ſich zurückhalten, weil ihnen die neue Welt gar zu gigantifch zu werden droht. Wirklich feft für das zweite Zeitalter des Verkehrs ift heute nur der Großhandel, das Groß- fapital und die AUrbeiterfchaft und auch fie machen, jedes auf feine Weife, ihre Einfchränfungen. Sie fühlen, daß fie in der neuen Flut ſich furchtbar ftreiten werden. Teilweis wirft auch bei ihnen die Ermattung der erften Deriode noch nach: man möchte etwas Zeit haben, fich zurecht zu finden, ehe es wieder los geht. Etwas Ruhe, etwas Paufe! Deshalb ift die Kraft des Gegenftoßes gegen die Geängftigten heute im allgemeinen fo ſchwach. Man proteftiert, aber man läßt fie machen und Hilft ihnen gelegentlich ſowohl bei Zolltarifen wie bei Landtagswahlen. Die zweite Periode fommt nicht aus dem Willen der Mehrheit heraus, aber fie zwingt fich ihrem Willen auf, denn fie wirft uns einfach die mobilifierten Güter und Menfchen aller Zonen vor die Füße und fpricht: „wollt ihr mitmachen oder wollt ihr zer- drückt werden?“

Diefes ift die Lage, in der die Sozialdemokratie mit der ihr eigenen boshaften Gutmütigkeit zur bürgerlichen Gefellfchaft jagt: „ſiehſt du, das Zeitalter des Verkehrs benimmt dir den Atem, erlaube, daß ich mein Bei- leid ausdrücke!“ Die bürgerliche Gefellfchaft aber reibt fich das Waſſer aus den Augen, ſchluckt und pruftet und antwortet: „du follft ganz ruhig fein, denn du weißt ja auch nicht, ob dich die Welle hochträgt oder verfchlingt; du bift ja auch ganz atemlos, und geftern haben wir dich fogar drüben bei den Geängjteten geſehen!“ So fprachen fie beide: „wir leben im Zeitalter des Verkehrs“. Inzwiſchen aber kommen auf je 10000 Menfchen an Eifen- bahnen:

in Britifch-Nordamerita . . . . . 57 Kilometer Aufedien -. . 2 2 54 s den PBereinigten Staaten . . . 8 a „Argentiniennn. 35 „Kapland... 432 „Uruguannyhqyg.. er „der Schweizz......12 Bayern... 8111 F— ED ee 41411 = „Preußenn. 110 „Württemberg. 9

Wir brauchen weniger Kilometer, weil wir dichter bevölkert ſind! Ganz richtig! Aber die Kilometer der dünn bevölkerten Länder fangen an, mit ung zu reden.

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Rundihan.

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Ungarn und Deiterreich.

Während dreier Jahrzehnte hatte die fogenannte dualiftifche Form funktioniert, die gleich nach den kriegerifchen Entfcheidungen von 1866 Kaifer Franz Joſef mit Deak, dem Hugen Führer der damaligen ungarifchen Dppofition vereinbart, fie hatte eine einheitliche Leitung der auswärtigen Politit und eine einheitliche Berwaltung der Armee ermöglicht. Alle zehn Jahre mußte nach den getroffenen verfaffungsmäßigen Beftimmungen der Ausgleich erneuert werden, die Normen der gemeinfamen Angelegenheiten mit ihren finanziellen Erforderniffen und anderer: feit8 das Zoll- und Handelsbündnis. Zweimal war der Abſchluß der Erneuerung gelungen, indem beide male die Krone ihren überwiegenden Einfluß auf die öfter: reichifche Vertretung zu Gunften der gefteigerten Forderungen der Ungarn ent- fcheidend geltend gemacht hatte. Im Ungarn waren die leitenden Staatsmänner im Verein mit dem Reichstag ſtets darauf bedacht gewefen, den nationalen magpyarifchen Staatsgedanken tro Kroaten, Rumänen, Serben, Slovaken und der Giebenbürger Sachfen zur alleinigen Herrfchaft zu bringen und dies gelang auch trefflich durch den ftets bereiten Beiftand, den auch bier wiederum die Krone feiftete. Das Verhältnis zu Defterreich ward dabei entweder als eine läftige Not- wendigteit behandelt oder noch lieber kühl ignoriert. Auf wirtjchaftlichem Gebiet ward das ftärfere Deftereich gefchict ausgenügt, doch auch davon ward felbftver- ftändlich nicht gerne jenſeits der Leitha gefprochen, fondern jeder Verſuch Ungarn auch nach diefer Geite bin unabhängig zu machen, mit fichtlicher Genugtuung begrüßt. In Defterreih fahb man folcher Tendenz und Stimmung, in der fich Abneigung und Geringfchäsung ausdrüdten, geduldig zu. Die induftriellen Kreiſe und die Börſe fchästen an Ungarn das Land des dfterreichifchen Exports und hoher Rapitalsverzinfungen; der ſtärkſte und wirtfchaftlich tätigfte unter den Volks— ftämmen in Defterreich, der deutjche, war in Parteien zerfpalten, von denen die Mehrzahl von einer kräftigen nationalen Politit bimmelweit entfernt war; feit Beginn der unfeligen Wirtfchaft des Grafen Taaffe hatte übrigens das deutfche Element einen fo mühfamen Kampf um fein eigenes Dafein zu führen, daß an einen wachſamen Widerftand gegen die wachjenden Anfprüche der Ungarn kaum gedacht werden konnte. Die Deutfchen vertraten ferner mit großem Eifer den Öfterreichifchen Großmachtsgedanten und glaubten ihm die ſchwerſten Opfer bringen zu müffen und da Tjchechen, Polen, Slovenen diefe Reichsidee in fo verläßlichen Händen wußten, überließen fie den Deutſchen die Fürforge allein und verfolgten um fo ffrupellofer ihre nationalen Anfprühe. Tſchechen und Polen, wie ihre Heineren Freunde ließen fich alfo ihre Zuftimmung zu jedem Ausgleich mit Ungarn durch nationale Zugeftändniffe teuer bezahlen und die Deutjchen hatten fchlieplich die Koſten zu fragen,

262 Rundfchau.

So kam ber Ansgleich von 1897 heran. Das öfterreichifhe Minifterium Babdeni hatte den Entwurf mit dem ungarifchen Minifterrum Banffy ausgearbeitet. Wiederum hatten die Ungarn bedeutfame Zugeftändniffe zum Nachteil Defterreichs berausgefchlagen. Trotzdem wurde die Veröffentlihung der Ausgleichsvorlage in Ungarn mit der üblichen Unzufriedenheit aufgenommen, denn vielleicht konnte im PBerlauf der parlamentarifchen Verhandlungen noch mehr erreicht werden. Uber auch in Defterreich erfuhren die Ausgleichsbeftimmungen eine böchft ungünftige Kritik. Polen und Tfchechen beobachteten in der berechtigten Erwartung neuer- licher Zuwendungen fürs erfte eine fchroff ablehnende Haltung und die Deutfchen erklärten den vorliegenden Ausgleichsentwurf für grundfäglich unannehmbar, weil er Defterreich neue Laften aufbürde, die jeden Wert und PVorteil des Lnion- verhältniffes für Defterreich illuforifch machten. In der Oppofition der Deutfchen machte fich diefes Mal aber noch ein anderes Motiv bemerkbar. Die Chriftlich- Sozialen unter der Führung Dr. Luegers, des Bürgermeiftere von Wien, wollten damit den in Ungarn herrfchenden Liberalismus, der ſtark mit jüdifchen Elementen verfegt ift, bedrohen. In Ungarn war damals eben in hartem Kampf mit der Kirhe und trog des MWiderftandes der Krone eine konfefjionelle Gefesgebung durchgefeßt worden, jest antwortete die Kirche durch ihre Chriftlich-Sozialen mit der Bekämpfung des Ausgleihe. Graf Badeni jedoch glaubte fich gegen alle Dppofition gefichert. Er hatte feine Landsleute, die Polen, bereits gewonnen und um die Dfterzeit erfaufte er fich die Tfchechen durch die berüchtigten Spracden- verordnungen. Er follte fofort merken, daß er die deutſche nationale Bewegung arg unterfchäst hatte. Die Heine radikale Gruppe, die Schönerer und Wolf führten, fand das richtige Merkwort politifcher Leidenschaft für die Deutfchen, fie riß die Maffen in den Sudetenländern mit fich fort und zwang die großen Parteien, ihr Gefolgfchaft zu leiften. Es kamen erregte Tage. Die Regierung griff zu Gewalt- "mitteln in und außerhalb des Parlaments. In Wien drohten Straßentämpfe. Damit war der Zufammenbruch des Minifteriums Badeni, dem der gegenwärtige Minifterpräfident Gautfch als Unterrichtsminifter angehörte, befiegelt und mit ihm vorderhand das Schickſal des neuen dfterreichifch-ungarifchen Ausgleichs.

Geit Badenis Ende ſteht der Ausgleich im Zeichen des Proviforiums, Durch acht Jahre hindurch haben in Defterreich und in Ungarn die Regierungen, die nacheinander herauflamen, fich die Aufgabe gefegt, eine altionsfähige Parlaments» mebrbeit für einen Ausgleich zu befchaffen. In Defterreich kamen und gingen Gautfh, Thun, Wittef und Körber, in Ungarn nah Banffys Sturz, Gzell, Kuhn: Hedervary und Tisza. In Defterreich verfuchte zuerft Gautſch und nach ihm Graf Franz Thun vergebens mit den fragwürdigen kleinen Praktiken, die unter Taaffe noch ausgereicht, zum Ziel zu gelangen; dann ſchien dem viel geplagten alternden Staatsweſen eine Wendung zum Beſſern befchieden. Das Vertrauen der Krone fiel auf Dr. v. Körber, einen ausgezeichneten Beamten, der die gefamte Verwaltung mit einer nicht gewöhnlichen Sachkenntnis beberrfchte und im perfönlichen Verkehr die parlamentarifchen Verbältniffe durchbliden gelernt hatte, Körber verftand den Deutſchen dadurch Vertrauen einzuflößen, daß er eine Urt von Gleichgewicht innerhalb der großen Parteien eintreten ließ und feiner Regierung die legten Entjcheidungen vorbehielt und indem er fich eine bald unbeftrittene und verdiente Autorität fehuf, war fogar ein Anſatz von einer Vorſtellung zu gewahren, die feit langem einer völligen Verfümmerung anheim- gefallen war: es gab wieder einmal gemeinfame öfterreichifche Intereffen, die von einer zielbewwußten öjterreichifchen Regierung vertreten wurden. In der Ausgleiche- frage konnte Körber nur einen halben Erfolg verzeichnen, doch war die Schuld, wenn man diefen und nicht den Ausdrud „böſer Wille" wählen wollte, jetzt nicht bei Defterreich, fondern bei Ungarn, Körber und Koloman v, Szell ver-

Rundfchau. 263

einbarten jenes Proviforium des Ausgleichs auf fieben Jahre, das heute noch in Gültigkeit if. Die Verhandlungen, die zu diefem Abſchluß geführt, hatten fih unter fcharfen Kämpfen abgefpielt. Während des Minifteriums Thun hatten die ungarifchen Minifter die Notwendigkeit betont, angefichts der Aktionsunfähig- feit des dfterreichifchen Reichsrats für die Fortdauer der beftehenden Verhältniffe zu forgen. Mit leidiger Geringihäsung ward in Ungarn auf die dfterreichifche Krife hingewiefen und die Beforgnis geheuchelt, daß durch fie das eigene Staats- wejen in lngelegenheiten geraten könnte. Körber gegenüber mußte eine folche Auffaffung fallen gelaffen werden und zum erften Mal wußten die öfterreichifchen Minifter auf dem Kampfplag des Ausgleichs fich zu behaupten. Körber wußte fich des Vertrauens der Krone ficher und führte die Verhandlungen mit unüber- windlicher Zähigkeit. Un feinem loyalen fehwarzgelben Eifer, den Zuſammenhang mit Ungarn unerfchüttert zu bewahren, konnte nicht gezweifelt werden, um fo gewichtiger wirkte er, wenn er in einzelnen Punften beftimmt erflärte, gewiſſe ungarifche Forderungen, die mit der Schwäche Oeſterreichs rechneten, ablehnen zu müffen. Als endlich mühevoll das proviforifche Lebereintommen abgefchloffen war, nahmen die Ungarn aus Wien den unbequemen Eindrud mit, daß man es in Defterreih mit einer Regierung zu tun habe, die jest hinreichend ftarf genug fei, an eine definitive Erledigung des Ausgleichs beranzutreten und das gab zu denken.

Beweggründe der auswärtigen Politit und die entfprechenden Delegations- befchlüffe bewirkten dann 1903 eine verhängnisvolle Wendung, der in Ungarn Szell und fein Nachfolger KRhun-Hedervary und fchließlih in Defterreich Körber zum Opfer fielen. Das Reichskriegsminifterium verlangte die Be— twilligung bedeutender Kredite für neue Gefchüge und für Marinezivede und ferner einen erhöhten Refrutenftand. Die Rekrutenangelegenheit machte in Ungarn ernfte Schwierigkeiten, die Bedeckungsfrage in Defterreich. Die magyarifche Agitation warf fich mit ihrem lauten Fanatismus auf die Armeefrage. Heeres- verwaltung und Oberkommando find adminiftrative Angelegenheiten, deren legte Ent- fcheidung im Sinne des Ausgleichsgefeges der greife Kaiſer Franz Joſef fich jtets vorbehalten hat. Er hält, geleitet durch die vielgeftaltigen Erfahrungen, die ihm feine lange Regierung gebracht, noch an dem Gedanten einer einheitlichen Verwaltung und an den wenigen deutjchen Worten der Rommandofprache, die für die gefamte Armee Geltung haben müjfe, feit. Der Kaiſer bat, genötigt durch die Anſtürme der magyarifchen DOppofition, in den lesten Jahren die wichtigiten Zugeftändniffe auf dem Gebiet der Heeresverwaltung gemacht. Was er der fogenannten Neuner- fommiffion des Reichstags an magyarifchen Begünftigungen zugebilligt, das machte fogar die militärifchen Fachkreife beftürzt, und man konnte die Aeußerung ver- nehmen, der oberjte Kriegsherr habe damit de facto ſchon preisgegeben, was er nur formal nach feſthalte. Jetzt lehnte der ungarifche Reichstag die Erhebung des Rekrutenftands, der in Dejterreich fehon angenommen worden, ab und ferner verhinderte die Obſtruktion der Unabhängigkeitsgruppen die liberale Reichstags: majorität, die Bewilligung zur normalen Rekrutenaushebung zu erteilen. Die Forderung der ungarifchen Kommandofprahe ward zu einem Schlagwort für die gefamte Dppofition, ein anderes ward die Ablehnung des Ausgleihs und die wirtfchaftliche Trennung. Die Gegner der liberalen Regierungsmebhrbeit baben fich jest zu gemeinfamem Handeln zufammengefunden. Zu den beiden Fraktionen des Unabhängigkeitsprogramms war die fchroff Herifale Volkspartei und der Anhang des Baron Banffy binzugelommen. Banffy, vor kurzem noch der allgewaltige liberale Minifterpräfident, batte ſich mit den liberalen Führern verfeindet und war von ihnen fallen gelaffen worden. Der ehrgeizige Giebenbürger fann auf Rache und vertrat nun eine DOppofitionsrichtung, die an ertremen Formen

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die Angriffe der Unabhängigkeitsgruppen weit überbot. Der Reichstag war gänzlich gelähmt, die Liberalen entmutigt, die Mehrzahl der Führer ratlos. Nur einer war noch da, ein Ilnverbrauchter, der aus den Wirrniffen herausführen fonnte: ein wegen feiner rücfichtslofen Energie und fchroffen Ronfequenz ge fürchteter, wegen feiner überlegenen Gefchäftstenntnis gefchägter Mann, deffen Name allein ſchon die ftolze Tradition der gefährdeten liberalen Partei darjtellte, Graf Stefan Tisza. Er war weder am Hofe, noch im Reichstag beliebt, aber geachtet und gefürchtet. Tisza ward berufen und fam mit einem ausgiebigen Programm, das auch für die magyarifchen GSelbftändigkeitstendenzen eine Menge fchöner Dinge verhieß. Zuvor verlangte er aber eine Abänderung der Gejchäfte- ordnung des Reichstags, die in Zukunft eine Objtruftion unmöglich machen follte und ferner predigte diefer Staatsmann der nüchternen Tatfachen die derzeitige Notwendigkeit, den Ausgleich durchzuführen, und dann die Trennung, wenn fie fhon einmal von der Nation gewünfcht werde, vorzubereiten. Für eine wirt- fchaftlihe Iirennung, meinte er, bedürfe es gründlicher Vorarbeiten, für die militärifche vor allem eines neuen ungarifchen Volksſchulgeſetzes, durch das die andern Nationalitäten, die in vielen Teilen Ungarns die überwiegenden find, unter die Herrfchaft der magyarifchen Sprachen gelangen müßten. Dann erjt fönnte eine ungarifche Armee mit magyarifcher Armeeſprache möglich gemacht werden. Gtefan Tisza verfehmähte fein Mittel, um feine Regierung beliebt zu machen. Er ſelbſt, der intranfigente felbftbewußte liberale Führer bediente fich der liebenswürdigften, entgegentommendften Sprache, um die Oppofition von ihrer obftruierenden Haltung abzubringen. Er veranlaßte den Kaifer-Rönig zu einem feierlihen Handfchreiben, das die Heimholung der in Ronftantinopel befindlichen Gebeine des Rebellen und Habsburgsfeindes Rakoczy anktündigte. Mach Deiter: reih und Wien führte Tisza eine tendenzidös abgemefjene kühle Sprache, die fich einmal fogar zu einer beleidigenden Abfertigung Körbers verftieg.

Und Tisza durfte dann den Sturz Rörbers begrüßen. Aufzeichnungen aus unferer Zeit werden wohl einmal dartun, der erfte Anlaß, daß der KRaifer in die Entlaffung diefes Minifters willigte, der in fchiwierigeren Zeiten beffer die aller- böchiten Wünfche und Sorgen wahrgenommen, als ſelbſt Taaffe, fei von Ungarn ausgegangen. Körber hatte gegenüber dem geſchickten Szell den öfterreichifchen Standpunkt behauptet, er hatte gelegentlich der Alrmeefrage fogar einmal um feine Entlaffung gebeten, weil er bezüglich der gemeinfamen Angelegenheiten einen unverrüdbaren Standpunkt einnahbm. Körber hatte auch, das PBertrauen der Krone vorausgefegt, eine, fämtlichen öfterreichifchen Parteien überlegene, ſtarke Pofition inne. Daß der Mann die fchönften Pläne ftören fonnte, darin waren alle ungarifchen Parteien einig. Soll doch noch nachträglich ſich Koſſuth bei feiner Audienz in der Wiener Hofburg energifch gegen den bereit? zurüdgetretenen Körber ausgefprochen haben. Der erfte, wabrjcheinlich der entfcheidende Anlaß alfo ift von Ungarn ausgegangen, das übrige beforgte man, fobald der Umfchlag der Hofſtimmung fich leife bemerkbar machte, in Defterreich felbft. Ein paar hohe Militärs haben vielleicht mitgeholfen, doch den eigentlichen Todesftoß voll- führten Parteiführer aus dem AUbgeordnetenhaufe. Bei den Feudalen war der bürgerlihe Beamte wohl nie recht beliebt gewesen, den Tſchechen und Polen hatte er die Möglichkeit eigenmächtiger Politit genommen, nur untwillig ertrugen jte die Eriftenz einer ftarten Zentralregierung. Und dazu famen noch jene deutjchen Politiker, deren unbefriedigter Ehrgeiz in dem langlebigen Beamtenminifterium und gar in dem kühl und überlegen abjchägenden Minifterpräfidenten ein un- erträgliches Hemmnis haften. Zu der fchlimmften Minierarbeit gaben fich dieje Deutfchen ber. So batte Körber angefichts der bedenklichen Angriffe auf die gemeinfame Armee feitens der Ungarn für den öfterreichifchen Neichsrat das gleiche

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Recht einer Beeinfluffung der AUrmeeverwaltung geltend gemacht. Da fiel ihm der dialektiſch gewandte Führer der deutfchen Volkspartei Dr. v. Derſchatta in den Rüden, indem er zur Verblüffung feiner parlamentarifchen Kollegen diefes Recht allein der Krone zufprah. Körber wollte eben die Krone bezüglich der andrängenden Ungarn entlaften und das Gewicht der dfterreichifchen Vertretung erhöhen; durch den Antrag Derfchattas war diefer geſchickte Zug empfindlich ab- geſchwächt und die gereizte Stimmung in Ungarn noch weiter gefteigert. Zur felben Zeit, als fih Stefan Tisza anfchicdte, die neue Gefchäftsordnung dem Reichstag aufzuziwingen und er mit einer ungewöhnlichen Energie Tag für Tag den Anfturm der wirkenden DOppofition abwehrte, hatte Körber ernfte Schwierig: keiten mit den Bededungskrediten für die QAUrmeeforderungen. Der Kaiſer, von einigen Generalen ungeduldig gemacht, verlangte eine fchnelle Erledigung, wie fie im Reichsrat nicht möglich war. Den Ausweg mit dem befannten Aushilfe: paragraphen 14, der außerparlamentarifche Verfügungen mittels einer zweifelhaften Rechtsauslegung geftattet, wollte der Raifer vermieden fehen. Raum merkten die Feinde Rörbers die augenblicliche Verlegenheit und die veränderte Stimmung der Hofburg, die fih an der Energie Tiszas erbaute, als fie zur rafchen Tat fchritten. Körber erlitt im Ausschuß bei der Bededungsfrage eine Abftimmungsniederlage, die er fofort richtig deutete und mit feiner Demiffion beantwortete. Wiederum batten die deutfchen Führer gegen ihn entjchieden und das Gefchäft ihrer gefähr- lihen Feinde beforgt. Allerdings nahm einer von ihnen, der MWortführer der Chriftlih-Sozialen, Dr. Lueger, dabei feine private Revanche. Körber, der durch feine fühle Duldung die fozialdemokratifchen AUgitationsredner zur Verzweiflung gebracht, denn es gab fein Martyrium, Feine AUuflöfungen mehr, Körber hatte auch eine fozialdemokratifche Demonftration gegen Lueger, als Wiener Bürger: meifter, ungehindert fich abfpielen laffen und damit den empfindlichen Mann, der fonft Körber richtig zu würdigen gewußt hatte, ſchwer verlegt. Im Verein mit Derfchatta und dem Führer des deutſchen Adels, Dr. Bärnreither, entfchied er in jener Ausſchußſitzung. Zur großen Genugtuung Tiszas und der Ungarn be- willigte der Kaiſer fofort das Demiffionsgefuh. in AUbfchnitt öfterreichifcher Dolitit, der ſich boffnungsvoll angelaffen hatte, fand fo ein jähes Ende.

Kurz nach Körber Rücktritt wagte Tisza feinen Gewaltftreich im Reichs- tag. Scheinbar gelang er, die Seffion ward gefchloffen, das Haus aufgelöft und die Regierung appellierte mit den Wahlen an das Land. Das Ergebnis war der tragifche Zufammenbruch Tiszas. In der vorlegten Stunde hatte fich unter der Führung des Grafen Julius Andraffy (des Sohnes des einftigen Mitbegründers der deutſch- öſterreichiſchen Allianz) der wichtigfte Teil des Hochadels von Tisza getrennt. Bei den Wahlen 309 diefe WUriftofratie im Verein mit Koſſuth und den Klerifalen gegen die Regierung und die Liberalen in den Kampf, der den Alliierten und namentlich der Unabhängigkeitsgruppe einen nicht geabnten Erfolg bereitete. Die Liberalen hatten ihre Majoritätsjtellung, die fie feit 1866 mühelos behauptet, weitaus eingebüßt; an der Partei, die durch die Wahlen die ftärkfte geworden, an der Unabhängigkeitspartei war es vorerft, die Bildung der neuen Regierung zu beftimmen. Doch bier ergab fich eine Verlegenheit: Koſſuth und die Geinigen batten nicht daran gedacht, regierungsfähig zu werden, fie hatten eine umfaſſende Wabhlagitation entiwicelt und in der üblichen Weife mit den kühnften radikalen Schlagworten um ſich geworfen. Gie hatten ihren leicht ent- zündbaren Wählern die felbftändige ungarifche Armee, die Perfonalunion und die völlige Trennung von dem verhaßten Defterreich mit feiner „Hoftamarilla“ verfprochen. Jetzt hieß es, dies alles ernftlich zu vertreten. Tisza felbit, der geſchlagene Minifter, forderte die Häupter der fiegreichen Oppofition auf, dem König ihre Programm vorzutragen. Der geduldige Monarch empfing eine anjehn-

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liche Reihe von Parlamentären, als erften KRoffutb, den Sohn jenes Mannes, der einjt Franz Joſef und fein Haus des ungarifchen Throns verluftig erklärt batte, Koſſuth, den Vertreter der Unabhängigkeitsidee und Gegner des Doak'ſchen Ausgleichs. Die Oppofitionsführer hatten fih darin geeinigt, daß von jenen der Wöählerfchaft verheißenen fchönen Sachen, wenigftens einiges tatfächlih als natio- nale Forderung ausgefprochen werden müffe. So verlangte alfo die jegige Majo- rität die ungarifche QUrmee in der Form der ungarifchen Kommandofprache und die twirtfchaftlihe Trennung. Der König batte für alle Herren, die er empfing, diefelbe Antwort: bezüglich der Trennung des Wirtfchaftsgebiets müßte die Ver- tretung Ungarns mit der öfterreichifchen unterhandeln, bezüglich der Kommando: fprache fühle der König fich verpflichtet, zum Schuge der gemeinfamen QUrmee die deutfche Kommandoſprache aufrecht zu erhalten; weiter an nationalen Zu. geftändniffen, ald gegenüber der Neunertommiffion könne er unmöglich geben. Die DOppofition erhielt alfo bezüglich der einen Forderung eine fachlich nüchterne, ungewiffe, bezüglich der andern eine verneinende Antwort. Der Weigerung der Krone feste fie jest ihre Weigerung, eine Regierung zu bilden, entgegen. Ein gefeglofer Zuftand hob an, der heute noch fortdauert und fich im Laufe der Mo- nate noch wefentlich verfchärft hat. Der Reichstag hat Kampf der Krone an- gekündigt, einen prinzipiellen Rampf, aus dem er als Giegespreis die Souveränität über die Krone heimbringen will. Aus der Ausgleichsfrage ift eine Machtfrage geworden und die Entfcheidung, die bier fallen wird, dürfte nicht nur Ungarns fondern auch Oeſterreichs fernere politifche Entwidlung beftimmen.

Noch im Jahre 1865 bezeichnete Heinrich v. Treitſchke es als die große und wichtige Aufgabe Deutfch-Defterreichs, die KRarpatbenländer des Südoſtens, das „jubgermanifhe Europa“ durch feine Verwaltung der modernen Kultur zu- zuführen. Und fo mochten in diefen Zeiten Dahlmann, H. v. Gagern und etwa Uhland, in Defterreich Radetzkhy, Bach, Schmerling und Benedek gedacht haben. Mit diefer deutfchen Illuſion mußte 1866 gründlich gebrochen werden. Die Öfterreichifche Staatsidee war (nicht ohne Zutun der preußifchen Politik) zu fehr geſchwächt worden, als daß von ihr ein folches ſchwieriges Problem noch getragen werden konnte. So fchloß denn Kaifer Franz Iofef mit dem anerkannten Ver: treter der Magyaren, mit Franz Peak, den Frieden und den „Ausgleich“ ab. Den Frieden nämlich zwifchen der Dynaftie und den Magyaren, nicht zwifchen Defterreich und Ungarn! Cine geraume Zeit fpäter erhielten erft „die im Reiche: rat vertretenen Königreiche und Länder“ diefen ſchönen Titel befam jest Zie- leithanien die Verfaffung von 1867 und der nun einberufene Reichsrat befam in Baufch und Bogen den Ausgleich, der die Aufhebung der Verfaffung von 1861 darjtellte, zur Anerkennung mitgeteilt. Heute mögen der greife Herrſcher und feine öfterreichifchen Minifter die verhängnisvolle Unterlaffung bitter empfinden, die damals durch die Ausschaltung Defterreichs, die dem Eugen Deak überaus erwünſcht fein mußte, begangen worden ift. Durch diefe politifche Vergewaltigung des Ungarn wirtfchaftlich und kulturell weit überlegenen Defterreich erhielt tat- fächlich der Ausgleich einen fatalen Zug der Perfonalunion, indem Ungarn ſich eben nur mit der PDynaftie auseinanderfegte, die pragmatifche Sanktion zum Ausgangspunkt nahm und Defterreih als habsburgiſche Hausmacht behandelte, die jchlieglich mitgenommen werden mußte; ein amtlicher Verkehr mit ihr war einmal notwendig, ihre reihen Mittel nüslich, ja unentbehrlich. Die Hegemonie aber erhielt ſchon 1866 Ungarn. In der auswärtigen Politit der Donau-Grof- macht hat Ungarn den Ausschlag gegeben und es muß zugeftanden werden, daß es im großen und ganzen dies nicht fchlecht gemacht hat. Um was es fich heute handelt, ift eine weitere Ausbildung und deutliche Betätigung der Hegemonie. Ungarn fol feine ungarifche Armee mit magyarifchen Fahnen und Rommando-

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worten erhalten, aber die Roten foll nach dem bisherigen vorteilhaften Schlüffel Defterreich mit beftreiten, Ungarn darf fich feinen Import nach Belieben organi- fieren und ohne Rüdficht auf die öſterreichiſche Induftrie feine Handelspolitif aus: geftalten, aber die ungarifche Ausfuhr, das ungarifche Getreide foll feine zollfreie PVorzugsftellung in Defterreich beibehalten. Dazu ift der apoftolifche König von Ungarn gehalten, die ungarische Berfaffung gebietet ihm, daß er in diefem Sinne ald Regent feiner Hausmacht walte; auch in Defterreich hat er als der König von Ungarn zu regieren. Kofjutb bat vor einigen Wochen diefer Auffaffung dadurch deutlichen Ausdruck verliehen, als er meinte, der König bätte ja, falls die von der gegenwärtigen ungarifchen Majorität geforderten Abmachungen in Defterreich Schwierigkeiten finden follten, durch den Paragraphen 14 die Macht, fie ohne Parlament durchzufegen!

In diefer Auffaffung find fämtlihe magyarifchen Parteien einig, die Libe- ralen, wie die bisherige Oppofition. In feiner Neujahrsrede bat Stefan Tisza ausdrücklich den Gedanken der Hegemonie auseinander gefest. Nur wünfcht ihn der liberale Politifer mit und nicht gegen den König verwirklicht, er erachtet Uebergänge als unvermeidlich und fchlieflih mag er eine brüsfe Dftroierung in Defterreich doch für bedenklich halten. Leber die lesten Ziele jedoch herrſcht eine ſchöne Lebereinftimmung. Und nicht minder harmonieren wohl alle Gruppen in ber ftillen Lebereinftimmung, daß das Schlagwort der Perfonalunion derzeit vielleicht für die Agitation feinen Wert babe, daß feine Verwirklichung aber die größte Gefahr für Ungarn in ſich berge. Und zwar ganz abgefeben von der ſchweren Mebrbelaftung durch die felbjtändige Armee und von der aus ber Derfonalunion refultierenden tatfächlichen wirtfchaftlichen Trennung von Defterreich; e8 handelt fich nämlich dann um eine völlige Revifion des dfterreichifch-ungarifchen Staatsrecht3 und da gelangt der ungarifch-troatifhe Ausgleich auf die Tagesordnung. Nur durch die QUutorität der gemeinfamen Dynaftie und durch die Vorftellung, daß auch Defterreich für den Ausgleich von 1867 folidarifch bafte, Hat fich die magyarifche Herrfchaft in Kroatien und Slavonien halten können. DBielleicht ift auch die Runde von den Gewaltfamfeiten der ungarifchen Regierung und der Stimmung im Agramer Landtag nach Deutjchland gedrungen. Die Südſlaven haſſen die Magyaren noch kräftiger als die Deutfchen, deren fulturelle Leberlegenbeit fie anerfennen müffen. Die ungarifchen Südflaven haben ferner Durch die nationale Bewegung in den Balkanländern für ihre politische Phantaſie ganz beftimmte Tendenzen verfolgen gelernt, die fich gelegentlich einer ftaatsrechtlihen Umgeftaltung Defterreich-Ungarns fofort geltend machen würden. Die Ronftituierung der Perfonalunion würde ferner die rumänifche Bewegung in Ungarn bedenklich twachjien machen. In demfelben WUugenblid, da für die Länder der ungarifchen Krone der magyarifche Nationalgedanke als der alleinige berrfchende proflamiert würde, gelangte die rumänische Agitation in ein neues günftiges Fahrwaſſer. Die Rumänen haben in zablreihen Romitaten die ſtarke Mehrheit, werden aber trogdem von der Regierung bart niedergebalten. Nur dem freundichaftlichen Verhältnis der Gefamtmonarchie zum Königreich Rumänien, das Kaiſer Franz Iofef durch einen Befuch in der Sommerrefidenz Sinaio feierlich bekräftigt bat, ift ein Llebergreifen der ungarischen Mafregeln auf die auswärtige Politit bisher verhütet worden. Doch droht Ungarn die Gefahr einer Rumania irredenta und eine Umgeſtaltung der Verfaffung böte den willlommenen Anlaß zu einer nationalen Erhebung. Die ungarifchen Polititer würdigen felbftver- ftändlih die eben angeführten und ihnen vertrauten Tatfachen, es hieße ihnen Unrecht tun, wenn man fie für wahnwitzige Fanatiker nähme. Geit nahezu vierzig Jahren regiert die ungarifche Gentry das Land und fie bat in Ddiefer Zeit bedeutendes geleiftet; eine Fülle von Talenten ging aus ihr hervor, die fich

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der Verwaltung und der Gefesgebung widmeten. Ihre Politiker find vielmehr Huge und ftille Rechner, die die Verhältniffe genau und richtig abſchätzen, als leidenfchaftlihe Draufgeher; fie wiffen auch den Augenblick zu wählen, wo fie zu dem Mittel der pathetifchen AUlarmrufe, als einem notwendigen und wirffamen greifen follen.

Schon die nächſten Monate werden erweifen, ob die zur Reichstagsmehr- beit emporgewachjene DOppofition richtig gerechnet oder der von ihr befiegte Stefan Tisza mit feinem dringenden Warnen Recht behalten hat. Siegen die Andraſſy, Apponyi, Banffy mit Roffuth, dann erfcheint die Macht der Krone nahezu ver- nichtet; felbft der föniglichen Gewalt in England ift ein Kampf mit der Majorität des Unterhauſes möglich, wie dies noch im vorigen Jahrhundert das Zurüchveichen Deels vor der jungen Königin Viktoria bewiefen bat. In Ungarn würde das Aufgeben der deutjchen Rommandofprache die endgültige Kapitulation des Königs vor dem Reichstag darftellen. Ungefähr achtzig deutiche Worte find es, um die es fich handelt; mechanifch werden fie den nichtdeutjchen Rekruten, die im übrigen nach der den Aushebungsbezirken entfprechenden Regimentsfprache abgerichtet werben, beigebradht. Der Kampf alfo ift jest ſchon ein prinzipieller geworden; wegen der achtzig Worte find? Minifterien geftürzt und infultiert, die Steuern und die Aushebung verweigert worden. Während der letzten ſechs Monate find von der Hofburg wiederholt DVermittlungsakttionen angebahnt worden und wiederholt hatte e8 den guten QUnfchein, ald ob eine Verftändigung gelungen fei, aber jtets fhlug in Peft über Nacht auf eine für die Deffentlichkeit unerklärliche Weiſe die Stimmung gründlich um und die Ausficht auf den Frieden machte nur einer noch gefteigerten Feindfeligkeit Plas. Dieſe Vorgänge entbehren noch der er- fhöpfenden Erklärung. Man bringt das ungeftüme Vorwärtsdrängen der Oppo- fition mit der Ubficht in Zufammenhang, die Verfaffung und die ungarifchen Armeeverhältniſſe vor einem jeden Verſuch der Rüdbildung im zentraliftifchen Sinne zu bewahren. Dem Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand werden in Ungarn folche Tendenzen nachgefagt, der Prinz foll nur ungern in Ungarn verweilen und mit den Erfolgen der national-magyarifchen Politit unzufrieden fein. Senfeits der Leitha zirkulierten Aeußerungen aus der Llmgebung des Erz- berzogs, die ſich auf die Notwendigkeit einer durchgreifenden WUenderung der Dinge bezogen. Freilich fteht mit diefer Annahme eine Tatſache in einem ge wiffen Widerfpruch, Erzherzog Franz Ferdinand, wie feine Gemahlin, die Fürftin Hohenberg⸗Chotek, gehören der unbedingt irchlichen Richtung an und im Lager der Oppofition übt, wie ſich das bereits wiederholt gezeigt bat, die Herifale Volks— partei einen entfcheidenden Einfluß aus. Die Kirche fcheint alfo trotz der Er- gebenheit des Thronfolgers noch ihre ganz befonderen Zwecke zu verfolgen. Gie bezeigt der Dynaftie, die ihren politifchen Anſprüchen ftets eine jo weit gehende Berücdfichtigung erwiefen, wahrlich in der ungarifchen Krife einen fchlechten Dant. Ihre Geiftlichkeit kämpft und flucht gegen die fönigliche Regierung, der bobe Klerus hält fich fchweigfam zurüd und die Eirchlich gefinnten Magnaten bereiten der Krone auch im Oberhauſe eine empfindliche Niederlage! Auch der Politiker, deffen dämonifche Geftalt der Oppofition voranfchreitet, der mit feiner zündenden Rede jede nüchterne Anwandlung von Gorge oder Zweifel zu befiegen weiß, Graf Albert Apponyi, ſteht unter firchlichem Einfluß; viele Wandlungen bat diefe glänzendfte Erfcheinung des Reichstags bereits durchgemacht, nur die Ergeben- heit gegen die Kirche ift unverändert geblieben. Giegt alfo die Oppofition, dann erwartet die Kirche zweifellos den anfehnlichiten Teil der politifchen Beute. Zur Stunde find aber ihre Wünfche und Ziele noch unbelannt.

Wird die DOppofition fiegen? Der Rampf mit der Krone nähert fich den äußerten Grenzen und jeder Tag kann irgend eine unbeabfichtigte oder auch eine

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gewollte Erplofion bringen, von der es dann fein Zurüd mehr gibt. Die Krone wird durch eine Urt von Beamtenregierung vertreten, an deren Spige der greife General Freiherr v. Fejervary fteht. Ein tapferer Militär, durch lange Jahre hindurch ift er als tüchtiger Minifter für die Honvedarmee (Landwehr) eine un— gemein beliebte volfstümliche Perfönlichkeit geiwefen. Heute, da er auf dem Plate ausbält, auf den ihn fein alter Kaiſer bingeftellt hat, ift der mit dem Maria Thereſienkreuze geſchmückte Soldat den gröbften ehrenrührigſten Infulten aus- gefest. Dabei darf der Minifterpräfident ſich darauf berufen, daß er fich ftrenge auf dem Boden der Berfaffung halte. Dies behauptet auch die Dppofition, nur legt fie fich die bedenklich vieldeutigen Beftimmungen der Verfaffung nach ihrem Belieben aus. In einem Paragraphen ift zwar nach Déaks grundlegender Arbeit ausdrücklich dem König die oberfte Leitung und Verwaltung der gemeinfamen, alfo auch der ungarifchen Armee vorbehalten, trogdem folgert ſich die Oppofition die Forderung heraus, daß der König auch auf diefem Gebiet fich der Mehrheit des Reichdtages fügen müſſe. Gie läßt feinen Zweifel an der Berechtigung ihrer willtürlichen Auslegung zu, das ungarifche GStaatsrecht ift eben, wie ein trefflicher Heidelberger Rechtslehrer neulich gefchrieben, eine noch recht dunkle Sache.

Unter anderem geftattete eine ganz befondere Auslegung der Verfaſſung der Oppofition, als Reichstagsmehrheit dem Minifterium Fejervary die Ermäch- tigung für die Beitragsleiftung zu den gemeinfamen Auslagen (Armee, Flotte, Diplomatie und SZinfen der gemeinfamen GStaatsfchuld) zu verweigern. Und bier rächt fich wieder jene politifche Sünde, die 1866 an Defterreich begangen worden. Wohl bilden die gemeinfamen Beftimmungen auch einen Beftandteil der öfterreichifchen Verfaſſung, aber der Wortlaut der Leberfegung ift nie durch einen ungarifchen Parlamentsakt anerfannt worden und heute ift in der ungarijchen Dreffe wiederholt zu lefen, daß jene Leberfegung feine finngetreue wäre. Die ganze Entwicklung des gegenwärtigen Konflikts zwifchen der Krone und der Reihstagsmehrheit betrifft die gemeinfame Armee, allein in der Hofburg fcheint jest eine parlamentarifche Kundgebung in Defterreich, die hiezu Stellung nimmt, unerwünfcht. Don der loyalen aber entfchloffenen Haltung Körbers ift man ſchon wieder weit entfernt. Sein Nachfolger, Freiherr v. Gautſch, ift ein höchſt geſchickter und erfahrener parlamentarifcher Unterhändler, der feine wichtigfte Auf: gabe darin fieht, den jeweiligen Willen der Krone zu verwirklichen. Don ihm haben jene Parteiführer, die Körber zu Fall gebracht, gehofft, daß er fobald als möglich fein Minifterium zu einem parlamentarifchen umbilden und ihren Ehrgeiz befriedigen werde. Bis zur Stunde hält diefe Hoffnung noch an, obwohl ein Termin, für den der Minifterwechfel erwartet wurde, ereignislog vorübergegangen if. Dem Nachfolger Rörbers haben jene Parteihäupter alles fofort bewilligt, was fie Körber verweigert und noch laftet auf ihnen die Furcht, der unangenehme überlegene Mann könne einmal wiederfehren. Gie felbjt aber find betreff3 der ungarifchen Krife, die fih nun auf das gemeinfame Verwaltungsgebiet binüber- entwickelt hat, unter fich uneinig geworden. Um den AUlldeutfchen ein wirkſames Agitationgmittel zu nehmen, hatte Dr. v. Derfchatta die Einfegung eines Aus— ſchuſſes beantragt und durchgefegt, der wachfam die Ereigniffe in Ungarn, foweit fie die gemeinfamen Angelegenheiten berührten, verfolge und im Notfalle die ent- Iprechenden Maßnahmen beantragen follte.e Lange Zeit feierte der Ausſchuß, deifen Eriftenz der Hofburg und daher auch der gegenwärtigen Regierung nicht genehm fein dürfte. Jedoch abermals durch wiederholte Interpellationen genötigt, mußte endlich eine Sigung einberufen werden. Herr v. Gautjch gab eine allgemeine Erklärung, in der die Regierung ihre Entfchloffenheit befundete, die öfterreichifchen Intereffen zu fchüsen. Doch als die Deutfchen, in erflärlicher Rückſicht auf die gefürchteten Alldeutfchen, auf fachliche Beratungen und Vorkehrungen eingehen

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wollten, wurden fie durch Tfchechen, Polen und Feudale in die Minderheit gedrängt und zur Untätigkeit verurteilt. Die Allianz, die zum Sturze Körbers gefchloffen worden, ift erfchüttert, Tfchechen und Polen werden wiederum ihre eigenen ertrag- reihen Wege geben, fie werden auch der Krone, fall endlich eine mühſelige PBerftändigung auf KRoften Defterreihs möglich werden follte, ihre guten Dienfte für die „Perfektionierung“ des Ausgleichs im Neichsrat gegen entjprechenden Entgelt anbieten. Und die Deutfhen? Zur Genugtuung ihrer Gegner bieten fie Ddiefen wiederum das willkommene GSchaufpiel ber Xlneinigkeit und des gegenfeitigen Mißtrauene. Die Erinnerung an traurige Erfahrungen und an den gegen Badeni errungenen Erfolg ift verblaßt, ja die deutfche Partei, die früher am lauteften den Kampf gegen bie anfpruchsvollen „Zudaeo-Magyaren“ angekündigt, die Chriftlich-Gogzialen, beobachten jett, wahrfcheinlich ebenfalls auf tirchliches Geheiß, ein bebarrliches dumpfes Schweigen.

Sollte aber die ungarifche Krife wider die Erwartung und Rechnung der verbündeten Dppofitionsparteien zu einem endgültigen Zufammenbruch der dua- liſtiſchen Form führen, dann tritt an die öfterreichifche Regierung und an fämtliche Volksſtämme und Parteien Defterreihs die Notwendigkeit heran, dabei zu fein, wenn ein neuer Bau, und wäre es auch nur ein Notbau, zurecht gezimmert wird. Bielleicht erfahren dann gemeinfame Intereffen eine Wiederanfachung ihrer früheren Kraft und vielleicht finden fich in folcher Enticheidungsftunde die Deutjchen einig zuſammen. Oder follte e8 wieder bei der Hausmacht des Königs von Ungarn“ bleiben ?

Wien, Juli 1905. Franz Iweybrüd.

Spzialpslitifche Briefe aus Bayern.

1,

Es gab eine Zeit fie liegt nur ein halbes Jahrhundert zurüd da erfhien Preußen den Süddeutſchen, wenigftens den Regierungen, als bie liberale und demokratiſche Vormacht. Damals konnte es fich ereignen, daß ein Beichluß des Bundestags zur „Verhütung des Mißbrauchs des Vereins- und Berfammlungsrechtes und der Wanderfreiheit der Handwerksgeſellen“ der preußi— hen Regierung zu realtionär war. Und noch in fpäterer Zeit äußerte u gelegentlich die Befürchtung, „die Preußen feien den Süddeutfchen zu iberal.“

Heute liegt die Sache umgekehrt. Die fortſchreitende Verknöcherung des norddeutſchen Liberalismus hat den deutſchen Süden in den Ruf gebracht, für freiheitliche und fortſchrittliche Ideen den aufnahmefähigeren Boden zu beſitzen, namentlich auch in Arbeiterangelegenheiten. In den Betrachtungen norddeutſcher Sozialpolitiker erſcheint die Mainlinie daher beharrlich als Grenze der Gemütlich- keit in ſozialpolitiſchen Dingen. Nicht einmal Bayern bleibt von dieſem wohl: wollenden Vorurteil ausgenommen. Gilt doch München felbft den norddeutfchen Sozialdemokraten als das „Capua“ ihrer Partei !

„Die Berliner find in Süddeutfchland nicht eben beliebt“ fo meint ein Berliner Korrefpondent in Nr. 254 der „Münchner Neueften Nachrichten“ vom 1. Juni 1903 „wenn auch die Lrberliner daran weniger die Schuld tragen, als die WUuchberliner, die in der Reichshauptſtadt nur das Gelbjtbewuhtfein des eivis romanus und sit venia verbo die „Schnoddrigfeit” ihres „Vogtlandes“ erworben haben. Diefe beiden Eigenfchaften, in Reinkultur gezüchtet, find es vor-

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nehmlich, die den Lohntämpfen in Berlin ihr eigenartiges Gepräge der Verbittert- beit und Ilnverföhnlichkeit aufdrüden, die fie in Süddeutfehland weitaus niht im felben Maße haben. Der Boden ift freilich auch verfchieden be- adert, und es ift beinahe, als ob ein Stamm gefchichtliche Vorfprünge ſchwer ein- bolen könne. Wir denken nicht der älteften und alten Zeit, aber merkwürdig bleibt e8 doch immer, daß dort, wo, wie in Süddeutfchland, die Verfaffung früher als in Preußen eingeführt worden ift, nicht bloß das liberale und demokratifche Denken fih fchneller zu praktiſchem Handeln verdichtet hat, fondern auch das fozialpolitifche Empfinden bei den Meiftern und Unternehmern Ausnahmen beftätigen die Regel und vor allem auch bei den Behörden über das bloße Anempfinden binaus in Fleifch und Blut gedrungen ift, und praftifche Früchte trägt, wenn diefe auch erft durch Vergleichung mit den Zuftänden und Taten in anderen Landes- teilen deutlicher erfennbar werden.“

Was wir gegenwärtig bier erleben, ift nicht gerade geeignet, dieſe optimiftifche Auffaffung der fozialpolitiihen DVerhältniffe in Bayern zu befräftigen. Es war aber auch ſchon vorher nicht recht verftändlich, wie gerade Bayern in den Ruf befonderer Fortgefchrittenheit auf diefem Gebiete fommen fonnte!

Die bayerifhe Landesgefeggebung kann diefen Ruf nicht begründet haben, Man braucht zum Beweis dafür noch nicht einmal bis auf das kurbayerifche Mandat vom 17. September 1762 zurüdzugehen, wonach „derjenige, welcher in Zukunft mehrer Taglohn gibt, als 15 Rreuzer, um 10 Thaler geftraft, derjenige aber, welcher hiervon mehrer begehrt, oder annimmt, auf 8 Täg ing Arbeitshaus mit Waffer und Brot, dann alltäglichen Garbatfchenftreichen condemnieret“ wurde, oder auf das kurbayerifche Mandat vom 6. Auguft 1769, wonach „Ehehalten, die gegen ihren Brotherrn aufpochen, oder vor der Zeit aus dem PDienft treten, auf 3 oder 6 und mehr Jahre unter das Militär geftoßen“ wurden, oder auf die allerhöchite Belanntmachung vom 13. Auguft 1822, welche die Arbeitgeber zur Bildung von Vereinen zur Herabdrüdung des Lohnes aufforderte, während Verabredungen der Arbeiter zur Erlangung höherer Löhne mit Strafe belegt waren. Es genügt vollftändig, darauf binzumweifen, daß die Rückfichtnahme auf den „Nahrungsitand der eingefeffenen Meifter” die Einführung der Gewerbefreiheit in Bayern big zum 30. Sanuar 1868 verzögert hat, obwohl fchon der Verfaffer des bayerifchen Landrechts von 1756 in der ihm eigenen kernigen Sprache meinte, „der Hund fei nicht mit fo viel Flöhen angefüllt, wie das Handwerk mit Mifbräuchen“. Und während beifpielsweife in Sachjen bereit3? am 1. Sanuar 1862 mit der Gewerbe- freiheit auch die KRoalitionsfreiheit wenigftens auf dem Papier eingeführt wurde, brachte die bayerifche Gewerbeordnung nur den Meiftern das Recht freier Vereinsbildung. Die Roalitionsverbote fielen in Bayern erft mit der Einführung der Reichsgewerbeordnung, die durch Geſetz vom 12. Juni 1872 erfolgte. Auch gab e8 fo lange in Bayern keine Arbeiterſchutzgeſetzgebung; nur für einige wenige Gewerbe beftanden auf Grund von Minifterialverordnungen hygieniſche VBorfchriften. Wie fehr das Recht des AUrbeitsvertrags in Bayern gegenüber anderen deutjchen Bundesstaaten bis in die neueſte Zeit herein zurüd- geblieben ift, erhellt daraus, daß erft feit Inkrafttreten des Bürgerlichen Geſetzbuchs das körperliche Züchtigungsrecht der Dienftherrfchaft gegenüber dem Gefinde ab- gefchafft if. Noch heute aber beruht das Gefinderecht in Bayern zu einem guten Teil auf den kurbayeriſchen Mandaten von 1755, 1761 und 1781. Noch heute find die Art. 106 ff. des Polizeiftrafgefegbuches vom 26. Dezember 1871 in kraft, welche für Dienftboten, die ſich mehrfach verdingen, den Dienſt vorzeitig verlaffen, die Pflicht der fchuldigen Achtung gegenüber der Dienftberrfchaft gröblich verlegen, zur Nachtzeit die Behaufung ordnungswidrig verlaffen u. dgl. mehr friminelle Be- ftrafung vorfehen und auch die ländlichen Tagelöhner einem kriminellen Aus-

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nahmerecht unterftellen. Noch heute werden in Bayern SHandwerkögefellen, Gewerbsgehilfen, Lehrlinge und Fabrikarbeiter, welche den fogenannten blauen Montag feiern, nach Artikel 155 des Polizeiftrafgefegbuhs an Geld bis zu 45 Markt oder mit Haft beftraft und es ift bezeichnend, daß, als die Gozial- demofratie im Landtag die Befeitigung diefer gänzlich veralteten Beftimmung verlangte, die fich wie ein foffiler Reſt aus einer entſchwundenen Rechtsformation ausnimmt und fonft nirgends in Deutfchland vortommt, der Führer der bayerifchen Liberalen, Dr. Caffelmann, die Beibehaltung diefes Ausnahmegefeges wärmftens befürmwortete.

Wenn es biernach noch eines Nachweifes bedürfte, daß die fozialpolitifche Landesgefeggebung in Bayern mehr ein Mufter vollftändiger Zurüdgeblieben- beit als ein Vorbild modernen fozialpolitifchen Geiftes darftellt, fo würde dieſer Nachweis durch die Tatfache erbracht werden, daß in feinem deutfchen Bundesitaate die Sozialverfiherungsgejege mangelhafter durchgeführt find, als in Bayern. Dies gilt namentlich von der Rranfenverfiherung. Bayern bat die Gemeinde- frantenverfiherung in einem viel ftärferen Verhältnis als irgend ein anderer Bundesjtaat. Die Gemeindekrantenverficherung ift aber die niederfte Form der Kranfenverficherung. Es wird von derfelben nur Kranfenunterftügung, dagegen weder MWöchnerinnenunterftüsung noch Gterbegeld gewährt. Trotzdem ift fie in Nürnberg noch heute für 80000 WUrbeiter maßgebend. Auch klagen die bayerifchen Arbeiter mit Recht über die viel zu niedrige Feftfegung des orts— üblichen Tagelohns durch die höheren Verwaltungsbehörden in Bayern, wodurch fie in ihren Anſprüchen auf Kranken- und Unfallrente verkürzt werden. Ferner nehmen die Dienftboten in Bayern, foweit fie nicht einer Gemeindekrankenkaſſe an- gehören, an der durch die Novelle zum KRrankenverficherungsgefeg vom 25. Mai 1903 eingeführten Ausdehnung der Unterftügungsdauer von 13 auf 26 Wochen nicht teil. Bon der Befugnis, die Rrankenverficherungspflicht auf die in der Land- und Forftwirtfchaft befchäftigten Arbeiter auszudehnen, hat man bis heute in Bayern feinen Gebrauch gemacht, fo daß diefe Arbeiterkategorien nur auf Grund des Armen gefeges unterftügungsberechtigt find. Im legten Landtag bat die Regierung die charakteriftiiche Erklärung abgegeben, der Verficherungsziwang könne deshalb nicht auf die Landarbeiter ausgedehnt werden, weil e8 auf dem Lande an den nötigen Krankenhäuſern fehle! Die Entwidlung der Invaliditäts- und Altersver- fiherung leidet in Bayern unter den mafjenhaften Beitragsbinterziehungen ; denn in feinem Lande dürfte die Kontrolle eine fo mangelhafte und das foziale Pflichtgefühl der Unternehmer fo wenig entwidelt fein, al® in Bayern. Auch auf dem Gebiet des Arbeiterfchuges verdient Bayern durchaus nicht gegenüber anderen Bundesftaaten als leuchtendes Vorbild gepriefen zu werden; man braucht nur an die mangelhafte Ausführung des Rinderfchusgefeges zu erinnern. Immerhin find einige Fortfchritte anzuerfennen, fo die im allgemeinen befriedigende Regelung des Fabrikinſpektorats und die Verbefferung der Grubentontrolle in den Bergwerfen.

Un dem ungünftigen Gefamteindrud der bayerifchen Sozialpolitik vermögen diefe Lichtpunfte aber nichtd zu ändern. Steht doch der Verbeſſerung der Gruben- kontrolle in den Bergwerken die Tatfache gegenüber, daß bei der jüngften Revifion des Berggefeges das Verbot des Nullens in Bayern nicht durchzufegen war, etwas, was fogar in Preußen gelungen ift. Der technifchen Verbeſſerung der Ge- werbeaufjicht aber fteht die unerfreuliche Tatfache gegenüber, daß die Regierung die Berichte ihrer Auffichtsbeamten fo gut wie gar nicht beachtet. Während diefe, ins- befondere im Hinblid auf die Verminderung der Unfallsgefahr, der Verkürzung der QUrbeitszeit lebhaft das Wort reden und den Wert ftarker, gut geleiteter AUrbeiter- organifationen für die Herbeiführung einer allmählichen Verringerung der Arbeits- dauer hervorheben, konnte bei der Beratung des Berggefeges vom Miniftertifch

Rundfchau. 273

aus die für das in bayerifchen Regierungskreifen übliche Maß fozialpolitifcher Ein- ficht überaus charakteriftifche Bemerkung fallen: „man fordere den Achtſtundentag, bald werde man den GSiebenftundentag fordern und fchließlich werde überhaupt nichts mehr gearbeitet werden“. Kein Wunder, wenn die ftaatlichen Betriebe in Bayern ebenjo weit davon entfernt find, foziale Mufteranftalten im Sinne der faifer- lichen Februarerlaffe von 1890 zu fein, wie die preußifchen. Kein Wunder, wenn die Gleihberehhtigung der Arbeiter bier ebenfowenig gewahrt wird, wie dort. Zwar gibt es in Bayern keine vierte Wagentlaffe. Daraus folgt aber keineswegs, daß fich der bayerifche Arbeiter in größerem Maße als der preußifche, der praftifchen Durchführung demokratifcher Grundfäge erfreut. Das ganz veraltete, reaktionäre Vereins- und Verſammlungsrecht findet auch in Bayern eine durchaus ein- feitige Anwendung zum Schaden der Roalitionsbeftrebungen der QUrbeiterfchaft. Der Ronfumvereinserlaß des preußifchen Eifenbahnminifters hat fein Gegenftüd in einem Erlaß feines bayerifchen Kollegen vom 26. Februar ds, 38., in welchem die Bildung von Konfumvereinen durch ftaatliche Beamte und Bedienſtete als eine unerfreuliche Erfcheinung mißbillige wird, „weil die Tätigkeit folcher Vereine von dem gewerblichen Mittelftande, auf deffen Erhaltung und Förderung fih die Beftrebungen von Regierung und Landtag feit Jahren vereinigen, als eine Schädigung feiner Erwerbsintereffen empfunden werden muß“. Und daß fich die bayerifche Regierung jo wenig fcheut wie die preußifche, die politifchen Rechte der von ihr abhängigen Beamten und DBedienfteten zu verkürzen, hat fie jest eben fur; vor den Landtagswahlen beiviefen, indem fie es für unvereinbar mit den Pflichten des Staatsdienftes erklärte, einem fozialdemo- kratifchen Verein anzugebören, was die „Münchner Neueften Nachrichten” ver- anlaßte, die intereffante „Doktorfrage“ aufzumwerfen, ob fich dies auch auf die Stimmabgabe für die Sozialdemokratie beiden Wahlen beziehe. Daß endlich die bayerifche Regierung auch der fogenannten Zuchthausvorlage im Bundesrat zugeftimmt und fich an der Sammlung des tendenziöfen „Materials“, das zur Begründung diefes Attentats auf die Roalitionsfreiheit der Arbeiter dienen follte, eifrig beteiligt bat, fei lediglich der Vollftändigkeit halber gleichfalls erwähnt.

Was man in bayerifchen Regierungskreifen unter Sozialpolitik ver- fteht, ift das gerade Gegenteil von dem, was man fonft gemeinhin unter diefem Begriff zu denken gewohnt ift. Man verfteht darunter wefentlih „Mittelftands- politik“ in dem durchaus reaktionären Sinne, wie fie insbefondere vom Zentrum gedacht wird: Liebesgaben an die Bauern und allerhand Chikanen für großfapitaliftifche Unternehmungen der Induftrie und des Handels. Ueber die „Landesfürforge für den Bauernftand“ ließ fich die „Zentrums-Parla- ment3-Rorrefpondenz“ folgendermaßen vernehmen:

„Sn der letzten Landtagsjeffion find auf Antrag des Zentrums folgende Erleichterungen befchloffen worden: Für Ablöfung der Bodenzinfe 1 Million, für den Bodenzinsfonds !/. Million, für den Refervefonds der Hagelverficherung 1’; Millionen, Herabfegung der Grundfteuer um 1,100,000 ME,, für Grund- fteuernachläffe 300,000 ME. Das find zufammen 4,400,000 ME Die Grund» fteuer-Herabfegung hat noch ihre befondere Bedeutung wegen der Diftrikts: und Kreisumlagen. Zur genannten Summe kommen noch jährlich je 500,000 ME, für Bodenzinsnachläffe und für Bodenzinsablöfungen, was für die zwei Jahre der Finanzperiode 2 Millionen ausmacht (Gefese vom 12. Februar 1898 und vom 12. Dezember 1899). Für Hebung der Viehzucht, Pferdezucht, Hagel- verficherung, Flurbereinigung, Rreisausichüffe zc. find für 1904 und 1905 rund 6 Millionen vorgefeben. Insgeſamt weift das verabfchiedete Budget 12,400,000 ME. Zuwendungen an die Landwirtfchaft auf. Wahrlich, das find enorme Leiftungen des Staates”,

Suddeutſche Monatshefte. 11,9. 18

274 Rundſchau.

Dabei kommt in obigen Ziffern noch keineswegs alles zum Ausdruck, was der bayeriſche Staat „zur Hebung der Landwirtſchaft“ tut. Derſelbe Staat, der den KRonfumgenoffenfchaften der Arbeiter aufs feindfeligfte gegenüberfteht, fördert die landwirtfchaftlihen Genoffenfchaften auf jegliche Weife, insbefondere auch durch Gewährung von PVorzugstarifen bei der Eifenbahbn. Das find in der Tat enorme Leiftungen des Staates. Dabei ift zu bedenken, daß die Zeit, da der Bauernftand auch in Bayern, wie der weitüberwiegende, fo auch der am meiften mit Steuern belaftete Teil der Bevölkerung war, längft dahin if. Noch 1882 wurden 50,9 %o der bayerifchen Bevölkerung von der Landwirtfchaft ernährt. 1895 waren e8 nur mehr 45,8 0. Während zwifchen den beiden letten Berufs: zählungen die landwirtfchaftlich Erwerbstätigen um 10,7 %o abgenommen hatten, bat fich die Zahl der Erwerbstätigen in der Induftrie um 30,2 %o, in Handel und Verkehr um 44,8% vermehrt. Geither find wieder zehn Jahre ins Land ge: gangen und haben das Verhältnis der agrarifchen zur induftriellen Bevölkerung abermals zum Nachteil der erfteren umgeftalte. Dabei ift die GSteuerbelaftung der landwirtfchaftlichen Bevölkerung fortgefest gefunfen. Die Grundfteuer betrug 1819/20 noch 72 °/o, 1879 52 °/o, 1894/95 37,52 %/o, 1904 30 %/o der direkten GStaatsfteuern. Lnd während der Anteil der Grundfteuer an den direkten Steuern fortgefest finkt, tritt die Bedeutung der direkten Steuern überhaupt gegen- über den indirekten auch im bayerifchen Budget immer mehr zurüd. Die direkten Steuern machen heute alle zufammen nicht mehr als 10 °/o aller bayerifchen Staats- einnahmen aus und der Malzauffchlag allein bringt in jeder Finanzperiode das Vierfache der Grundfteuer ein. Während die Grundfteuer dem Staate für jedes Jahr der Finanzperiode ca. 10 Millionen ME. abwirft, gibt der bayerifche Staat gleichzeitig 6200000 ME. zur „Hebung der Landwirtfchaft“ aus! Die andere große Bevölkerungsgruppe, die fich der „ſozialpolitiſchen“ Fürforge des bayerifchen Staates erfreut, ift der fogenannte „Mittelftand“. Man verfteht darunter in Bayern im wefentlichen die Rleingewerbetreibenden. Wenn man den Ugi- tatoren der Mittelftandsparteien glauben dürfte, fo lebte der bayerifche Staat über: haupt nur von den Gteuergrofchen des „Mittelftandes“. Dabei zeigt die Ge- werbefteuerftatiftit, daß !/s %/o aller Pflichtigen in Bayern 52 %o der gefamten Gewerbefteuerfumme bezahlen, und bievon 50 kapitaliſtiſche Großbetriebe allein die Hälfte. 70 %/o aller Gewerbefteuerpflichtigen, wovon mehr ala * auf dem platten Lande wohnen, zahlen zufammen nicht mehr als 237 266 ME. 83 Pfg. Gewerbe: fteuer an den Staat, bei einem Gefamterträgnis diefer Steuer von 12348 283 ME. 65 Pfg. Die ſchwächliche Nachgiebigkeit der Regierung gegenüber den fogenannten mittelftändlerifchen Umfturgbeftrebungen bat dem Lande nicht allein die Gewerbe- fteuerreform von 1899 befcheert, die einen ausgefprochen feindfeligen Charakter gegen moderne Großbetriebe jeder Art, insbefondere aber gegen die Warenhäufer, trägt, fondern ift überhaupt die wichtigfte Urfache, warum Bayern auf dem Wege zum Induftrieftaat jo überaus langfame Fortfchritte macht. Daß die Produktions: bedingungen in Bayern an fich troß der großen Entfernung von den Standorten der Kohlen-, Robeifen- und Stahlproduktion der Entſtehung großer Induftrien nicht im Wege ftehen, beweift die Tertilinduftrie in AUugsburg und Hof, die Mafchineninduftrie in Nürnberg, Augsburg und München, von der DBrauerei- induftrie ganz zu fehweigen. Bayern verfügt eben, insbefondere in den Induftrie- zentren Nürnberg und Augsburg über einen alteingefeffenen Stamm bochgelernter Arbeiter. Wenn trogdem in Bayern der Kleinbetrieb weit überwiegt, fo ift dies wefentlich eine Folge der gefennzeichneten Urt von „Sozialpolitit“, wie fie von der baperijchen Regierung mit Llnterftügung des Landtags betrieben wird, in welchem dank einem völlig veralteten Wahlfyftem das platte Land ein ebenfo ungerechtes wie verhängnisvolles politifches Lebergewicht über die Städte befist.

Rundſchau. 275

In jüngſter Zeit hat nun die bayeriſche Regierung in einer an ihr ganz unge- wohnten Anwandlung fozialpolitifchen Eifer fi der Tarifbewegung an- genommen. Bei diefer Gelegenheit hat fich fofort die betrübende Tatfache heraus- geftellt, daß unfere bayerifchen Großunternehmer, die fih und mit Recht über die gewerbepolitifche Rüdjtändigkeit der bayerifchen Regierung nicht genug ereifern können, fobald es fih um fozialpolitifche Dinge handelt, noch rüd- ftändiger fein können, als felbft die bayerifche Regierung. Die Lnternehmer des bayerifchen Kleingewerbes haben bei diefer Gelegenheit hinter den großinduftriellen Scharfmachern auch nicht zurücbleiben wollen. Und fo erleben wir in diefem Augenblid in Bayern eine wahre Hocflut von Streits und Ausfperrungen, deren gemeinfames charakteriftifches Merkmal der Verſuch der Unternehmer ift, den Arbeitern das Roalitionsrecht zu rauben. Die Formen, in welchen dieſe Kämpfe geführt werden, und die Haltung, welche Preffe und öffentlihe Meinung zu ihnen einnehmen, verdienen eine eingebendere Darftellung. Hier fei in diefem Zufammenhange nur noch die Tatfache feitgeftellt, daß es ein gewaltiger Irrtum ift, zu glauben, Lohnkämpfe in Südbdeutfchland unterfchieden fich in ihrem Wefen im geringften von Lohnkämpfen im Norden oder fpielten fich wenigftens in zivilifier- teren Formen ab. Wie wäre dies bei dem ftarfen Leberwiegen des doch fonft allgemein als fozialpolitifch am minderwertigften erfannten gewerblihen Klein— betriebs auch anders zu erwarten? E8 hat in Bayern einft einen Minifter gegeben, der fih im Hofbräuhaus das unter feiner Verantwortung gebraute Bier inmitten einer ganz bürgerlichen Stammtifchgefellfchaft in aller Leutfeligkeit und Gemütlichkeit munden ließ. Deshalb bat e8 aber doch die feiner Leitung unter- ftebende Hofbräubausverwaltung feinerzeit abgelehnt, an den Verhandlungen über den Abſchluß eines Tarifvertrags teilzunehmen. Derfelbe Minifter hat im Landtag das Koalitionsrecht der Bergarbeiter unummwunden anerkannt; troßdem haben die Mitglieder des fogenannten „alten Verbandes" LUrfache, ſich wegen der ihnen zuteil werdenden Behandlung zu befchweren. Und obwohl derfelbe Minifter ale Chef der ftaatlihen Forftverwaltung an der Spitze des größten Handelsgewerbebetriebs in Bayern ftand, hat er doch der blindwütigen Feind- ſchaft der Mitteljtändler gegen die Großbetriebe der Induftrie und des Handels die bedenklichften Ronzeffionen gemacht.

Baperifche Unternehmer find durchaus keine befferen Menfchen, als nord- deutfche; auch bayerifche WUrbeiter nicht. Vielmehr hört auch in Süddeutſchland bei einem gewiſſen Punkte die Gemütlichkeit auf. Das „liberale und demokratifche“ Denken der QUrbeitgeber „verdichtet“ fich dann im Handumdrehen zu ftod- fonfervativer Gefinnung und aus den „Capuanern“ werden die energifchften Verfechter der Arbeiterſache.

München. Mar Prager.

Berliner, Elga und Böcklin.

Eine, leider anonyme, Zufchrift aus Bochum macht mir den Vorwurf, Hauptmann unrecht getan zu haben. Ich fchrieb: „Das Naturfpiel blondes Haar und fchwarzes Auge ift ihm entgangen; bei ihm ſieht das Kind der Mutter ähnlich, nicht dem Buhlen. So aufmerkſam bat er feinen Grillparzer gelefen.“ Der Verfaſſer der Zufchrift verweift mich auf die Stelle, da Gtar- Ihensty das Porträt endedt, und feine Züge mit denen des Kindes vergleicht: „Klein Elgas Augen und diefe Augen! Klein Elgas Brauen und diefe.

276 Rundfchau.

Brauen! Klein Elgas Haar und diefes Haar! Ihr Kinn, ihren Mund und diefen Mund!" Die Stelle wäre ein Beweis gegen mich, ftände ihr nicht eine andere (S. 14) entgegen. Dort fagt Starfchensty: „War es nicht gut, daß man fie Elga hieß, nach der Mutter? Hat fie nicht ganz dasfelbe Haar? Schwarzes Haar und blaue Augen?“ Ich laffe gleich das dritte Dokument folgen. Bei Grillparzer heißt es: „In allen ſchon angekündigten Formen der Mutter Abbild, fehien fich die fehaffende Natur bei dem holden Köpfchen in einem feltfamen Spiele gefallen zu haben. Wenn Elga bei der Schwärze ihrer Haare und Brauen durch ein bellblaues Auge auf eine eigene Urt reizend an- ſprach, fo war bei dem Kinde diefe Verkehrung des Gemwöhnlichen nachgeahmt, aber wieder verkehrt; denn goldene Loden ringelten ſich um das zierliche Häuptchen, und unter den langen blonden Wimpern barg fich, wie ein Räuber vor der Sonne, das große, fchwarzrollende Auge. Der Graf fcherzte oft über diefe, wie er es nannte, auf den Kopf gejtellte Aehnlichkeit.“ Später, da der Graf das Porträt entdedt, beißt e8: „Es war das Bild eines Mannes in polnischer Nationaltracht. Das Gefühl einer entfeglichen Aehnlichkeit überfiel den Grafen. Da war das oft beiprochene Naturfpiel mit den fchwarzen Augen und blondem Haare, wie bei feinem Kinde“ uſw. Bei Grillparzer ſteht alfo ein ganz originelles Motiv: Der Graf muß ja wie vom Blitze getroffen werden, wenn er das Porträt findet! Alles ift mit einem Schlage fürchterlich erhellt! Was hingegen haben wir bei Hauptmann? Er bat zu baftig gelefen; das feine Motiv ift ihm ent- gangen. Denn, wenn das Kind in Haar und Augen ganz feiner Mutter gleich fieht, jo beweift der Fund des Porträts nichts mehr: bei Grillparzer ein Blis, bei Hauptmann ein Schlag ins Waffer. Es ift ganz ausgefchloffen, daß der Graf fo argwöhniſch wird, angefichts einer Aehnlichkeit, an die er fich ja doch längft gewöhnt bat: denn „die auf den Kopf geftellte Aehnlichkeit“ ift bei Haupt- mann wieder richtig geftellt, Rind und Mutter haben dasfelbe Saar, diefelben Augen, und wenn der Graf das Porträt findet, gibt ed nur einen naheliegenden logiſchen Schluß: daß nämlich der Mann Frau Elgas Bruder ift. Im übrigen verweiſe ich auf meinen genauen Vergleih im WUprilbeft, wo der Lefer alles nötige findet.

Es war mir aber angenehm, dab ich nochmals auf Elga zurüdfommen fonnte. Gerade die befprochene Stelle zeigt deutlih, wie Hauptmann jedes originelle und dramatifch wirkſame Motiv verdirbt. Man erinnere fich, wie er den Armen Heinrich behandelt bat: jeder ftarfen Wirkung forgfältig, ängftlich ausgewichen. Grillparzer lieferte ihm (um mich des boshaften Wites von Herrn Dr. Mamroth zu bedienen) das Madapolam. Hauptmann hatte aljo nur die Faffon liefern müffen. Wie bat er fie geliefert! Diefe talentlofe Pfufcher- arbeit aber wurde gedrudt. Gie wurde aufgeführt. Irene Triefch propagiert fie in ganz Deutſchland. Nichts zeigt beffer, welches Managertum von Berlin ausgeht.

Hier drängt fi mir nun eine auffallende Analogie auf. Man erinnert fih der Intoleranz, mit der Hauptmann von Berlin aus dem übrigen Deutfch- land als erfter lebender Dramatiker aufgenötigt wurde. Inzwiſchen bat die fo- genannte neue Richtung fich als lebensunfähig erwiefen, und zwar war es Süd— deutjchland, das fich diefe Kunſtwerke einfach nicht mehr gefallen ließ. Seit Jahren werden nun wir Güddeutfche belehrt, daß die von einigen Berliner Malern geübte KRunftrichtung die vor allem berechtigte, wahre, tünftlerifche fei. Die große malerijche Entwidlungslinie heiße: Velasquez Rembrandt Goya Manet Monet Degas. Diefe Weisheit klingt nachgerade recht Fade und riecht ranzig: Erinnerung an Zolas L'Oeuvre, AUteliergefhwäs, Malerfchlagwörter, die vor zwanzig Jahren in Paris modern waren, Reporterphrafen. Wir kennen die Einfeitigfeit eines

Rundfchau. 277

Brahms, Wagner, Hugo Wolf zu gut, um uns unfre Meinung über Mufit von Mufitern und Mufikfchriftftellern diktieren zu laffen. Noch viel weniger haben wir Beranlaffung, es buchftäblich und ernft zu nehmen, wenn ung Maler oder Kunftjchriftfteller irgend eine Richtung als allein berechtigt, eine andere als falfch darftellen. Die Urt aber, mit der neuerdings verfucht wird, uns Böcklin zu diskreditieren, riecht nach Senſation um jeden Preis’). Der Maler, der die Größe Böcklins nicht erfennt, mag vielleicht ein bildender Künſtler fein: ein gebildeter Rünftler ift er nit. „Künftler, die ibm am Können un- endlich überlegen find, ftehen wie Tröpfe neben ihm, weil fie als Perfönlichkeiten gegen ihn überhaupt nicht in Betracht kommen. Geine Perfönlichkeit war größer als feine Leiftungen.“ Es ift einer der befannteften Berliner Runftfchriftfteller, Hans Rofenhagen, der diefe Worte fchrieb. Was er aber vielleicht ald Tadel meinte, dab Bödlins Perfönlichkeit größer war als feine Leiftungen dies feheint uns das Kriterium jedes großen Künftlers zu fein. Web dem Maler, beffen Derfönlichkeit nicht bedeutender ift als feine Leiftungen! Er mag fünftlerifch fein er ift nur fünftlerifh! Die Herren fangen an, uns zu langweilen: die Dichter für Dichter, die Mufiter für Mufiker, die Maler für Maler; wir glaubten das Schlagwort L’Art pour l’art feit den Zeiten der Goncourts ab- getan. Man kann Bödlin und Liebermann für bedeutende Künftler halten. Den einen für einen größeren Rünftler ald den andern erklären, hieße behaupten, ein Pfund Zuder fei fehwerer als ein Pfund Salz. Wen man perfönlich mehr liebt, ift nicht Sache des KRunftgefchmades, fondern des Herzens. Nicht der er- fennende Menſch fchafft fi Meinungen, Lieblinge, Abneigungen, fondern der wollende. Erſt hinterher fucht er feine unverrüdbaren inneren Grundtatjachen mit den GErgebniffen feines Nachdentens in Einklang zu bringen. Darum ift alle Diskuffion über Grundfragen fo zwedlos. Keiner befehrt den andern. Man kann böchftens verfuchen, das Individuelle zu erklären. Böcklins Kunft ift nur von Böcklins Auffaffung aus zu verftehen. Mit jeder anderen, von den Kunft- werfen anderer abgeleiteten Auffaſſung tut man ihm unrecht. Unrecht tut man aber auch den meijten anderen KRunftiwerfen, wenn man fie mit Böcklins Maß— ftabe mißt. Was find es doch für ärmliche Intellekte, die immer mit „Richtungen“ aufmarfchieren, mit Schlagwörtern ſchießen und den Kafpar gegen den Melchior oder Balthafar ausfpielen. Intolerantes Gefchwäs, das nur ein borniertes Ent- weder Der kennt! Entweder Michel Angelo oder Tizian, entweder Brahms oder DBrudner, entweder Goethe oder Schiller! Keine Nation ift in ihren Runftanfchauungen fo ftumpffinnig auf „Richtung“ eingefchiworen wie die dummen Deutfchen, die fich ihre feinften Künftler dadurch verefeln laſſen. Als ob8 nicht auch im himmlifchen Haufe der Runft viele, viele Wohnungen gäbe!

München. 9. Sofmiller.

Die Schwaben in der Literatur der Gegenwart. (Bon Dr. Theodor Klaiber, Stuttgart 1905, GStreder & Gchröber.) Klaiber bat fich fein Thema in der Frage geftellt: „Welche Schwaben

können als Dichter und GSchriftfteller ernſtlich Anſpruch auf Beachtung in der Literatur der Gegenwart erheben?” und in der ausführenden Beantiwortung

ı) Denn bei derlei Schriften gleich auf den „Fall Wagner“ zu eremplifizieren, wollen wir dem Ungeſchmacke ſolcher überlaffen, die von innerlicher Not nichs wiffen.

278 Rundfchau.

diefer Frage geht er dann von dem richtigen Standpunkt aus: Zunächſt ift es einmal notwendig, fich eine PVorftellung und ein Llrteil darüber zu bilden, was die „Schwaben“ in der Literatur (und für die Literatur) der Gegenwart geleiftet und infolgedeffen zu bedeuten haben, nicht aber wie fie dies in ihrer befonderen fchwäbifchen Eigenart zum Ausdruck brachten und wie fie fich dabei im Refler eines befonderen Schwabenfpiegels darftellen. Der Verfaffer entzieht fih aljo erfreulicherweife von vornherein der eigenfinnigen Manie, nachtveifen oder eigenbrödlerifch aufjpüren zu wollen, was etwa an einem Paulus, Eggert, Chriftian Wagner, einer Sfolde Kurz, einem Cäfar Flaifchlen ufw. gerade befon- ders „Schwäbiſch“ fein mag; daß einzelne Züge bei diefem und jenem Dichter oder GSchriftjteller die Stammesangehörigkeit und gewiffe Stammeseigenjchaften da und dort auf die eine oder andere Urt immer wieder mehr oder weniger berausheben, das freilich zieht Klaiber nicht in Abrede, er widerfteht bloß der querköpfigen Unart, folhe landsmannfchaftlihe Sondermerkmale anderen mit partifulariftifcher GSelbftüberhebung aufzudrängen. Die Charakteriftiten der zur Beſprechung kfommenden Dichter, beginnend mit dem vor Iahresfrift verftorbenen Karl Weitbrecht und berabführend bis zu dem 1880 geborenen Walther Eggert: Windegg find recht eingehend und treffen ftets zu; das Gleiche läßt fich über die Stimmungszeichnung ihrer Werke im allgemeinen und einzelnen hervorheben. Vollſtändig erfchöpfend konnte allerdings das Buch, welches fich aus verfchiedenen Borträgen und Auffäsen zufammenfest, nicht ausfallen, fo hätte 3. ®. neben Walther Eggert oder im Anſchluß an Cäfar Flaifchlen, als ein modern dichtender Schwabe wohl auch Adolf Ehriftlieb mit feinen 1903 erfchienenen Gedichten „Liebespfeile“ wenigftens erwähnt werden dürfen. Bei Iſolde Kurz fällt auf, daß die meifterliche Lebensgefchichte ihres Bruders Edgar, im vorjährigen GSeptemberheft der „Süddeutſchen Monatshefte“ veröffentlicht, nicht genannt tft. In dem innerhalb des Schlußworts angedeuteten KRreife von Dialektdichtern ift und das erfcheint mir als eine befondere Unterlaffungsfünde Karl Schmidt -Buhl mit feinen teilweife ganz prächtigen berbrealiftifchen „Volksgefchichten aus Schwaben und Franken“, die 1898 in Stuttgart unter dem Gammeltitel „Ung’fchmintt“ berausgefommen find und von denen ich bier nur „Die Brüder“ und die Föftlich komiſche Gefchichte „Der Zylinder des Prälaten“ empfehlend erwähnen möchte, nicht einmal genannt. Schmidt trägt den Dialekt nicht breit vor, er afzentuiert ihn nur und das halte ich eben für das Richtige. Klaiber macht fich freilich Voll- ftändigfeit auch gar nicht zur Aufgabe, und verweift für weitere Namen auf Jäckhs Aufſatz in den „Süddeutfchen Monatsbeften" und einen Aufſatz des Referenten in der „Neckarzeitung“. Beſonders eingehend find andererfeits und mit Recht behandelt Cäfar Flaifchlen, Hermann Heffe, Karl Guftav Voll: möller und Heinrich Lilienfein; die drei legten Namen find ja diejenigen, welche in den legten Jahren angefangen baben, befonders von fich reden zu machen.

Im allgemeinen läht fih aus dem Klaiberfchen Buche entnehmen, daß auch die württembergifchen Schwaben mit dem Gang der Poefie in der Gegen- wart, insbejondere was die Lyrik anbelangt, wieder recht gut fchritt- und tritt balten können und dabei zeigt fich auch, daß die Kluft zwifchen Ulten und Jungen bei uns im wefentlichen gar nicht einmal fo groß ift, wie fie anderswo eine Zeitlang war und wie fie manchem bei uns auch beute noch gerne erfcheinen möchte. Die Jungen ftoßen fich bei ung nicht ſprunghaft von den Ulten ab, fie fchließen fich vielmehr, ohne ihnen afademifche Heerfolge zu leiften, organisch an fie an, fie löjen fie mehr ab, als daß fie verfuchten, fie mit der lärmenden Reſpekt⸗ lofigfeit eines literarifchen Proletariertums zu verdrängen.

Schließlich erwähnt dann Klaiber auch noch, daß fich demnächit „zahlreiche

Rundfchau. 279

gedrudte und ungedrucdte Dichter in einem Schwäbifchen Dichterbuch, das einen Ueberblid über die poetifchen Beftrebungen der lebenden Schwaben geben fol, zufammenfinden follen“ und daß das Material hiezu von dem Stuttgarter Schrift: fteller Ernft Rrauß bereits gefammelt fei. Diefes ſchon mehrfah in Ausficht geftellte Dichterbuch könnte das Licht der Deffentlichkeit allerdings ſchon längſt erblidt haben vielleicht wartet Herr Krauß noch bis zum nächften Jahre da- mit, um dann feine Gabe als Beitrag zur Zentenarfeier der Erhebung Württem- bergs zum Königreich auf dem Altare des VBaterlandes niederzulegen.

Stuttgart. Theodor Maud.

Vom Allgemeinen Deutfchen Mufifverein. Ein Rüdblid und Ausblid.

„Lleber den vergänglichen Erfcheinungen des Lebens fteht die bleibende, ervige der Kunſt. An ihr vergleichen, an ihr mejfen wir, was uns der Tag, was uns der QUugenblid bietet, und wir fragen uns daher auch zunächft: dienen diefe Fefte überhaupt und das jüngft erlebte insbefondere zum Heil, zur Förde: rung der Kunſt? Geben fie darauf aus, tragen fie dazu bei, die reine Idee der Kunft mehr und mehr von umhüllenden Nebeln zu befreien, ihr zur befruchtenden Einwirkung auf das Leben zu verhelfen, ihre Fülle des Reichtums mehr und mehr allen, dem Volke, der Welt, zu erfchließen, die Künftler zum Wirken, die Hörer zur Teilnahme anzueifern ?“

Als Peter Cornelius vor nunmehr 28 Jahren eine Befprechung des fünften Tonkünftlerfeftes des Allgemeinen Deutſchen Mufitvereing in der Augsburger Allgemeinen Zeitung!) mit diefer Frage einleitete, glaubte er fie „von ganzem Herzen mit ja beanttvorten” zu dürfen. Wollten wir ung heute nach der 41. Fahres- verfammlung des Vereins, die in den Tagen vom 31. Mai bis 4. Juni in Graz ftattfand, die gleichen oder ähnliche Fragen vorlegen, fo hätte die Antwort, fürchte ich, ganz anders auszufallen. In der Tat, wen die Norn nur ein Hein wenig verliehen von jenem „nie zufriedenen Geift“, aus dem alles Neue und Große auf Erden geboren wird, der kann fich nicht länger mehr der Einficht verfchließen: die Tonkünftlerfefte des Allgemeinen Deutfchen Mufitvereins, wie fie heute gefeiert werden, haben ſich überlebt, fie find etwas, was in der Gegenwart jegliche böbere Bedeutung verloren hat. Wen e8 gegeben ift, in fatter GSelbftzufriedenheit fich daran zu laben, „wie wird fo berrlich weit gebracht,“ der mag fich ihrer gleich anderer „Segnungen“ modernen Runft: und Rulturlebens erfreuen. Wen es aber drängt, den Blid vorwärts in die Zukunft zu richten und nach neuen Entwidlungs- möglichkeiten auszufpäben, der wird fich jagen mülfen: auch bier ift man nicht mit der Zeit gegangen, hat man es verabfäumt, den gänzlich veränderten Daſeins— bedingungen unferes gegenwärtigen Mufillebens ſich anzupaffen, und fo ift eine Einrichtung, die in einer noch nicht fernen Vergangenheit der begeifterten Zu- ftimmung und? Mitwirkung der beften fich rühmen durfte, allmählich zu einem obfoleten Rudiment herabgefunten, das keinerlei vitale Funktion im Organismus der fkünftlerifchen Gegenwart mehr auszuüben bat, zu einem Lleberbleibiel, deffen gänzliches Verſchwinden kaum mehr als ein tatjächlicher Verluſt empfunden werden würde.

') Peter Cornelius, Auffäge über Mufit und Kunft (Leipzig 1904) ©. 114 ff,

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Die Entftehung des Allgemeinen Deutfhen Mufitvereins fällt ins Jahr 1859; er blictt aljo auf ein Dafein von nahezu halbhundertjähriger Dauer zurüd für eine folche künftlerifche Vereinigung ein ganz refpektables Alter. Als Franz Brendel, der damalige Herausgeber der „Meuen Zeitfchrift für Mufil“, zum 25jährigen Gründungsjubiläum diefes Blattes für die Zeit vom 1. bis 5. Juni 1859 eine Tonkünftlerverfammlung nach Leipzig einberief, erhoffte er fi von folcher Ermöglichung perfönlihen Zufammentreffens und mündlicher Ausſprache einen Ausgleich der fcharfen künftlerifchen Gegenfäge, die im Laufe der lestverfloffenen zehn Jahre immer mehr zu einem ausgefprochenen Parteiantagonismus fich zu- gefpist hatten. Er eröffnete die Verfammlung mit einer „Zur Anbahnung einer Verſtändigung“ beftimmten Rede, worauf Louis Köhler die Begründung eines Vereins in Vorſchlag brachte, welcher Vorfchlag von Brendel befürwortet und durch die alles Zaudern und Zögern mit fich fortreißende Initiative Franz Liſzts zur Tat wurde.) Was Brendel, deffen Zeitjchrift als eine Schöpfung Robert Schumanns und als dermaliges Organ der Weimarer Schule zu beiden feind- lichen Lagern Beziehungen hatte, anftrebte: Verſöhnung und PVerftändigung, wurde natürlicherweife durch die Begründung des Vereins nicht erreicht. Im Gegen- teil: fie wirkte gerade umgelehbrt und zivar, wie mich bedünken will, weit fegensreicher, ald wenn es zu einer äußerlich oberflächlichen KRonzilifierung not- wendiger und in der Natur der Entwiclung felbft begründeter Gegenfäge gefommen wäre fo nämlich daß fie zu dem führte, was man im politifchen Parteileben eine „reinlihe Scheidung“ nennt. Im folgenden Jahre (1860) erließen 3. Brahms, 3. O. Grimm, 3. Ioahim und B. Scholz als MWortführer der Gegenpartei jene berühmte öffentliche Erklärung über die Verderblichkeit und DBerdammungs- würdigfeit der Prinzipien und Produkte der fogenannten „neudeutjchen Richtung“, mit der fie etwas taten, was allerdings den Vertretern des mufifalifchen Fort- ſchritts damals ebenfowenig wie heute eingefallen wäre: nämlich dem Gegner und feinen Werten ganz einfach die fünftlerifche Eriftenzberechtigung abzufprechen. Motgedrungenerweife wurde fo der Allgemeine Deutfche Mufitverein die Rampfes- organifation aller derer, die an eine gedeihliche Fortentwicklung der deutfchen Mufit in fortfchrittlihem Sinne glaubten und willens waren, diefen Glauben auch durch die Tat zu befennen. Als folhe war er eine nüsliche, ja unentbebrliche Sache, folange die Ausfperrung andauerte, welche die damaligen Machthaber des deutfchen Mufiklebens über Wagner und Lifzt wie über ihre Getreuen verhängt hatten, d. b. ungefähr ein PVierteljahrhundert lang, bis zu Lifzts Tode (1886).

Damals verlor der Verein in dem Weimarer Meifter nicht nur feinen geiftigen Führer, der bald darauf einſetzende Umſchwung der öffentlihen Meinung in bezug auf all das, was vordem als „Zukunftsmuſik“ verhöhnt und verleumdet worden war, beraubte ihn auch des eigentlichen Ziele® und Zwedes, dem feine Beranftaltungen bisher gedient hatten. In demfelben Maße als fich die „ordent- lichen” Konzertfäle den künftlerifchen Erzeugniffen der neuen Richtung öffneten, in demfelben Maße minderte fih die Bedeutung der „außerordentlichen“ Auf— führungen des Vereins. Gewiß, man bätte auch jest noch die eine oder die andere Aufgabe gehabt, um derentwillen Dpfer und Anftrengungen fich verlohnt hätten. Zum erftenmale wieder feit Schubert? Tode war das deutfche Defter- reich für die Gefchichte umferer hoben und ernften Mufit von Wichtigkeit geworden, indem es mit zwei eminenten Begabungen, von denen die eine genial im umfaffenden Sinne des Wortes, die andere zum mindeften ein geniales Spezialtalent war, in die Entwidlung eingriff. Sich an die Spitze der reiche: deutfchen Propaganda für Anton Brudner und Hugo Wolf zu ftellen, wer

) Nah 2. Ramann, Franz Lifzt II, 9.

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bätte dazu berufener fein können als der Allgemeine Deutfche Mufitverein ? Was aber in Wirklichkeit dafür geſchah, war null, oder doch nahezu gleich null. Auch unter den jüngeren deutjchen Romponiften war einer oder der andere, dem es felbjt nach dem Umſchwung der öffentlihen Meinung ſchwer fiel, ſich und feine Werke zu gebübhrender Geltung zu bringen: ich erinnere nur an Männer wie Hans Pfigner und Friedrih Klofe. Auch für fie kraftvoll einzutreten, wurde vom Verein verabfäumt, bezw. man ließ es fich entgehen, die Initiative zu ergreifen, auf die in folchen Fällen alles anlommt. Nun, Anton Brudner und Hugo Wolf, Hans Pfisner wie Friedrich Klofe, fie find auch ohne den Allgemeinen Deutfchen Mufitverein durchgedrungen; aber der Verein fant in dem Jahrzehnt nach Lifzts Tode in immer erfichtlichere Stagnation. Die Ueber: zeugung, dab etwas Eingreifendes gefchehen müffe, wenn man den Verein lebens- fähig erhalten wolle, bemächtigte fich weiterer Kreife innerhalb der Mitglieder- ſchaft, und fo konnte e8 zu jener Regenerationsbewegung fommen, deren wich- tigftes Refultat das auf der Basler Tonkünftlerverfammlung des Jahres 1903 durchberatene und angenommene neue Bereinsftatut war.

Wenn nun troß Ddiefes neuen Statuts, troß der neuen Männer, die in den Borftand famen und deren Namen dem Verein ebenfo zur Zierde gereichen, wie ihr guter Wille und ihre aufopfernde Arbeitsfreudigkeit ihm von vieljeitigitem Nusen find, wenn troß alledem in den beiden legten Jahren die facies Hippocratica feinem gefünderen Ausſehen bat weichen wollen, fo fragt es fih, wen bie Schuld daran zuzufchreiben fe. Wie mich bedünfen will: weder dem Statut, das vortrefflich ift, noch den Männern des Vorſtands, die man faum durch befjere erjegen fünnte, noch auch dem, was vielleicht ganz radikal Gefinnte ver- muten möchten, daß etwa der Verein überhaupt feine Eriftenzberechtigung mehr babe; fondern ganz einfach der Tatfache, daß der Verein auch heute noch faft ausfchließlih mit Mitteln arbeitet, die fich tatfächlich überlebt haben, daß er feine Siele auf einem Wege verfolgt, der heutzutage fchlechterdings nicht mehr gangbar ift.

Die Haupttätigkeit des Vereins befteht bekanntlich darin, daß er alljährlich ein großes Mufikfeft veranftaltet, zum mindeften ift dieſe Veranftaltung die einzige Geite feiner Tätigkeit, mit der er vor eine weitere Deffentlichkeit tritt. Nun ift ein Mufikfeft worunter man befanntlich eine raffinierte Art der Tortur verfteht, darin beftehend, daß die Delinquenten in der heißeften Jahreszeit maffen- baft in zu enge und ungenügend ventilierte Räume eingepfercht werden, wo man fie zwingt, innerhalb weniger Tage ein Quantum Mufit zu fonfumieren, zu deffen gehöriger Verdauung zum mindeften ebenfoviele Wochen nötig wären ein Mufitfeft ift von vornherein eine greuliche Sache. Uber in früheren Zeiten batten diefe mufifalifchen Maffenabfütterungen wenigftens einen Sinn, ja fie waren geradezu eine, wenn auch traurige, Notwendigkeit. Damals blieb das Mufikbedürfnis all der Menfchen, die nicht gerade in der Großftadt wohnten, das ganze Jahr hindurch fo gut wie unbefriedigt. Das öffentliche Mufikleben felbft größerer Provinzftädte war noch fo wenig entwidelt, daß man folche Feſte veranftalten mußte, auf denen von nah und fern herbeigeeilte Zuhörer ihren Jahresbedarf an mufitalifchen Eindrüden auf einmal deden, en gros mit dem fich verforgen konnten, was fie elf Monate lang hatten entbehren müſſen. Uber auch nachdem es damit anders ich hüte mich zu fagen: beffer geworden war, behielten die Mufikfefte des Allgemeinen Deutfchen Mufitvereins ihre Bedeutung. Denn fie waren ausdrüdlich der Pflege einer ganz beftimmten künftlerifchen Richtung gewidmet, die damals noch allgemein verpönt und verfehmt war; bier konnte man Werke hören, die nirgend oder kaum irgendwo anders zur Auf: führung gelangten. Heute ift die Herrſchaft einer Partei, die das deutiche Mufit-

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leben mit Gewalt in fonfervative, ja reaktisnäre Feſſeln fchlagen wollte, gebrochen, und der Tendenz nad ausgiebiger Berüdfichtigung des Neuen und Fortichritt- lihen kommt jest die Gefinnung der meiften modernen Konzertleiter wie der Geichmad des Publitums in gleicher Weife entgegen. LHeberhaupt find die fcharf ausgefprochenen Parteigegenfäge nahezu völlig verfchtvunden, es gibt feine fana- tiichen Sekten mehr, die fich gegenfeitig die fünftlerifche Eriftenzberechtigung ab- fprechen, und die Meinung, dab ein jeder Mufifer, der fih durch Begabung und Können irgendwie auszeichnet, welcher „Richtung“ fein Schaffen auch immer angeböre, verdient gehört und beachtet zu werden, fie ift gegenwärtig faft in allen lebendig, die auf das öffentlihe Mufitleben Einfluß haben. Gewiß, auch beute noch iſt e8 möglich, ja wahrjcheinlich, daß einer, der unerhört neues zu fagen bat und zuvor noch gänzlich unbegangene Wege zu bahnen fich erfühnt, länger unbemerkt bleiben und heftiger um feine Anerkennung zu kämpfen haben wird als folche, die der Mode des Tages folgen oder dem Fortjchritt auf der offiziellen Heerftraße nachgeben. ber dagegen können feine Mufikfefte und feine Vereine belfen. Und um es noch einmal zu wiederholen mufikalifche Richtungen und Tendenzen, die als folche von den Machthabern des öffent: lihen Mufillebeng in QUcht und Bann getan wären und für deren Propagierung die Mufikfefte des WUllgemeinen Deutfchen Mufitvereins ein geeignetes Mittel abgeben könnten, die gibt es heute nicht mehr.

Daß der Verein mit der PVeranftaltung von Mufikfeften in der herkömm— lichen Anordnungs · und Ausführungsweife feinem Zweck einer zeitgemäßen Pflege des mufikalifchen Fortfchritts heutigentags zum mindeften nur höchft unbefriedigend dienen könne, davon hatten auch fchon die Verfaſſer des Tertes der neuen Vereins- fasgungen eine Ahnung. Denn fie wiefen ausdrüdlich auf feftlihe mufitdrama- tifche Aufführungen bin als eine wünfchenswerte, ja notwendige Ergänzung der feftlihen Ronzertaufführungen, in denen ſich der Verein bei feinen Jahresver- fammlungen bisher allein oder doch vorwiegend betätigt hatte. Damit war eine vortreffliche Anregung gegeben, der man auch Folge zu geben fich redlich bemüht bat, allerdings in einer Weife, die doch wohl noch weiterer Ausgeftaltung fähig wäre. Denn wenn man jagen darf, daß gegenwärtig ein begabter junger Kom— ponift im Ronzertfaal auch obne Hilfe einer Vereinsorganifation in verhältnig- mäßig kurzer Zeit fich durchfegen kann, felbft wenn er dag Rainsmal der Genialität auf der Stirne trägt, liegen für den DOperntomponiften die Verhältniffe ganz anders. Es würde zumweit führen und zum Teil auch überflüffig fein, den Ur— fachen dieſer Erfcheinung nachzugeben. Wie fehr fie Tatfache ift, dafür möge aber wenigfteng ein Beifpiel angeführt werden: daß Richard Strauß in den legten Jahren als KRonzertlomponift zu fo hohem Anſehen gelangt iſt, bat auf das Schidfal feines „Buntram“ nicht den geringften Einfluß auszuüben ver- mocht, und der Umftand, daß Strauß heute der erdrücenden Mehrheit des Konzert: publiftums als die bedeutendfte moderne Komponiftenerfcheinung gilt, bat nicht einen einzigen Intendanten oder Direktor veranlaßt, fich jenes gewiß mit Unrecht faft vergeffenen Werkes zu erinnern. Daraus mag man erfeben, wie fehr der fünftlerifch ernft und bochjtrebende Dperntomponift einer Unterftüsung in feinem Kampfe gegen die Mächte bedarf, die das Dperntbheater ganz allgemein auch heute noch beberrjchen und deſſen Entwidlung zu einem Runftinftitut bintan- halten. Solche Unterftügung bat der WUllgemeine Deutſche Mufikverein in den legten Jahren, allerdings mehr indireft, durch folche fremde Veranftaltungen, für welche die Tonkünftlerverfammlungen nur der Anlaß waren, als direkt durch eigene Initiative, mehrfach in erfreulicher Weife gewährt. Man börte 1903 bei Gelegenheit des Basler Feſtes in Karlsruhe Rlofes „Ilſebill“, 1904 in Mann- beim Pfigners „Die Rofe vom Liebesgarten“ und in diefem Jahre in Wien

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Straußens „Feuersnot“, wiederum Pfitzners „Roſe“ und Liſzts „Heilige Eliſabeth“. In den Feſtſtädten ſelbſt wählte man im vorigen Jahre in Franf- furt Baußnerns „Bundſchuh“, ein Werk, das diefer Auszeichnung und zwar nicht nur wegen des intereffanten Tertbuches ganz gewiß nicht unwürdig war, und heuer in Graz Kienzls „Don Quichote“, eine perfönlich verftändliche, aber fachlich zu mißbilligende Ronzeffion gegenüber einem liebenswürdigen, auf anderen Gebieten erfolgreichen, aber gerade in diefer „mufifalifchen Tragikomödie“ recht wenig glüdlihen Mufiter, der an feinem ftändigen QAufenthaltsorte Graz mit Recht eines großen Anſehens ſich erfreut.

Wenn ich gefagt habe, daß der Verein mit der PVeranftaltung feftlicher Ronzertaufführungen im Rahmen eines herkömmlichen Mufitfeftes feinen befon- deren Iweden und Zielen heute faum mehr dienen könne, fo follte das nicht beißen, daß folche Konzertaufführungen von den Tonkünftlerverfammlungen fortan gänzlich zu verbannen feien. Nein, man möge auch fernerhin Feſtkonzerte geben; aber ihres leidigen „Muſikfeſt“-Charakters follten die Tonkünftlerverfammlungen dadurch entkleidet werden, daß man fich in der Zahl diefer Konzerte, foweit nur irgend möglich, befchränfte. Cine oder höchſtens ziwei große Aufführungen mit Orcheſter und Chor, dazu ein Rammermufif- und Liederabend, alſo im ganzen drei Ronzertveranftaltungen nebft einer oder zwei Opernaufführungen würden bei etwa fechstägiger Dauer des Feſtes volllommen genügen. Matinees und, was ihre Folge ift, das Zufammenfallen von zwei Konzerten auf einen Tag wären durchaus zu vermeiden. Bei diefer Einfchräntung könnte dann auch viel leichter das Plat greifen, woran es bei Aufftellung der Grazer Programme fo fehr gefehlt bat: jene fachlihe Strenge, die feinerlei perfönliche Rückſichten kennt, einzig und allein das allgemeine künftlerifche Intereffe im Auge hat und auch vor einer gewilfen Härte, ja Unbarmberzigkeit nicht zurückſcheut, wenn es gilt, Ausleſe zu halten und nur das pofitiv Wertvolle zu berüdfichtigen. Abgeſehen von folchen Fällen, wie heuer in Graz einer vorlag, wo die Aufführung eines erhabenen Meifterwertes in vollendeter, an die Perfon eines einzigen fongenialen Interpreten gebundener Wiedergabe ich meine Brudners 8. Symphonie unter Ferdinand Löwe den Feftgäften ein künftlerifches Erlebnis jeltenfter Art vermitteln konnte, abgefehen von foldhen und ähnlichen Fällen, zu denen auch Aufführungen aus Pietätsrücfichten gegenüber einem wahrhaft großen und um den mufifalifchen Fortfchritt im allgemeinen und um den Verein im befonderen ausnahmsweiſe verdienten Meifter wie Franz Lifzt zu zählen wären abgefehen davon dürften nur Uraufführungen geboten werden: ein anderwärts ſchon gehörtes Wert bedarf der mäeutifchen Dienfte des Vereins nicht mehr, Ddiefer bat fich feine Schüslinge ausjchließlich aus dem mufikalifchen limbus innatorum zu holen. Und auch von folchen zuvor noch nirgends aufgeführten Werfen wären diejenigen auszufchließen, die vorausfichtlich ihren Weg durch die Ronzert- fäle machen würden, auch ohne daß der Mufilverein für fie einträte. Wenn man fo ſtreng verführe, würde nicht nur die vorgefchlagene Heine Zahl von KRonzertveranftaltungen volllommen genügen, fondern ich glaube fogar, daß man einige Mühe hätte, die zu ihrer Ausfüllung nötige Anzahl von derartigen Werten aufzubringen.

Eine Mufterung der Grazer Programme dürfte diefe Meinung beftätigen: unter den 22 zur Aufführung gelangten Werfen (in einer Programmnummer vereinigte Kleinere Stücke als ein Werk gerechnet) befanden ſich 13, die voll» ftändig neu waren. Als berechtigte Ausnahmen von dem allgemeinen Prinzip, daß die Tonkünftlerverfammlungen eigentlihb nur Llraufführungen zu bringen hätten, durften gelten: die Brudnerfhe Symphonie, für die außer dem oben angegebenen Grunde einer erzeptionellen Interpretation noch das anzuführen wäre,

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was auch für die Aufnahme der Wolfiſchen Lieder ſprechen mußte: daß näm- lich ein pietätvolles Gedenken der beiden größten öfterreichifchen Meifter der jüngften Vergangenheit auf der erften in Defterreich abgehaltenen Verfammlung de DVereins durchaus am Plage war, M. Schillings’ „Dem Berklärten“ (yiymniſche Rhapfodie nah GSchillerfchen Worten für Chor, Baritonfolo und Drchefter) und Lifzts ſymphoniſche Dichtung „Die Ideale“ beide, abgefehen von der Pietät, die der Verein gerade Lifzt fchuldet, in Rückſicht auf das Gchiller- Gedächtnisjahr. Dagegen wären die beiden Regerfchen Variationenwerke (Bach: variationen für Klavier zu zwei Händen und Beethovenvariationen für zwei Klaviere zu vier Händen), Straußens „Heldenleben“, Pfisners Streichquartett und Wagners Kaiſermarſch trog der Bedeutſamkeit, die einem jeden Ddiefer Werke in feiner Urt zukommt, ftreng genommen auszufchließen gewefen. Don den neuen Werken hätten Mahlers Drcheftergefänge (nach Texten aus „Des Rnaben Wunderhorn“ und Rücderts Kindertotenliedern) wohl ebenfowenig der Propaganda einer Tonkünftlerverfammlung bedurft wie Boehes prächtige ſym— pbonifche Epifode „Dönffeus’ Heimkehr”, Weißmanns reizvolle Märchenballade „Fingerhütchen“ (für Bariton, 4 Frauenftimmen und Orchefter), Jaques Dal: crozes harmlos fympatbifche Serenade für Streichquartett oder Buds tüchtige Männerhöre. Aber diefe Sachen waren doch immerhin teils wirklich gut, teils wenigftens eigenartig und intereffant. Von Draefeles formell ebenfo meifter- lihen wie inhaltlich trodenen GStreichquintett für zwei Violinen, Viola, Violotta und Violoncello, Hauseggers Liedern der Liebe (mit Orchefter, nach Dichtungen Lenaus) und Streichers bläferbegleiteten Männerchören mag man es be» zweifeln, ob fie viel Beachtung in den Konzertfälen finden werden. Gie haben aber auch den Mufikfeftgäften ein ziemlich mäßiges Vergnügen bereite. Otto Naumanns „Der Tod und die Mutter“ für Soli, Chor und Orchefter wird fhon wegen der von Dora Naumann nach AUnderfen recht ungeſchickt bearbeiteten STertdichtung nicht allzuviel Glück in der weiteren Deffentlichkeit machen. Aber eben deshalb durfte man die Berüdfichtigung gerade diefes Werkes auf dem Grazer Fefte vollauf billigen: es ift die als folche verfehlte Schöpfung einer anerfennbaren, förderungswürdigen Begabung. Nicht ohne Talent, aber unreif und nur ſehr teilweife feflelnd zeigte fih dann R. v. Mojſiſovies in dem Schlußteil einer romantifchen Phantafie für Orgel und G. Peters in zwei Sätzen einer Symphonie in e moll, während P. Ertels in jeder Hinficht wertlofes Machwerk: „Der Menfch“, ſymphoniſche Dichtung für großes Orchefter und Drgel in Form eines Präludiums und einer Tripelfuge nach dem Triptychon von Leffer Ury die Schranken einer einigermaßen ftreng urteilenden Aufnahme: jury überhaupt nicht hätte paffieren dürfen.

Wenn nun durch Einfchräntung der Konzerte auf wirklich bedeutungsvolle Uraufführungen die Tonktünftlerverfammlungen derart entlaftet werden könnten, fo wird man fragen, was mit der fo gewonnenen Zeit anzufangen wäre. Goll fie nur der Erholung und dem Amüſement gewidmet fein? Gewiß nicht. Ich bin weit davon entfernt, mich zum Wortführer jener rein „Eulinarifchen Eriftenzen“ aufzuwerfen, die in der (übrigens wirklich entzücdend arrangierten) Alt-Wiener Zaufe im Hallerfchlößchen bei Graz „den Glanzpunft der Ronzertveranftaltung (!) anläßlich des Tonkünſtlerfeſtes“ erblidten (Neue Freie Preffe Nr. 14647 vom 3. Juni 1905, ©. 5) oder die Anregung eines früheren Beginns der Feit- fonzerte vor der Hauptverfammlung des Vereins damit motivierten, daß einem fo wie die Konzerte jetzt anfingen „der ganze Abend verdorben werde.“ Zwar bin ich allerdings der Meinung, daß die Möglichkeit eines regeren perfönlichen Ver— kehrs und mündlichen Gedankenaustaufches unter den Feftgäften in jeder Weife gefördert werden follte. Daran fehlt es jetzt faft gänzlich und jene Mufitentlaftung

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würde ohne Zweifel zur Befferung der PVerhältniffe auch nach diefer Richtung bin beitragen können. Im übrigen aber denfe ich mir, daß die zu gewinnende freie Zeit zunächft einmal der Hauptverfammlung zugute fäme, bie unter den gegenwärtigen Umftänden doch wohl etwas allzufehr rein „geſchäftsmäßig“, haftig und ohne lebhaftere Teilnahme der Mitglieder abgetan zu werden pflegt,') weiter- bin aber auch foldhen Beratungen und Verhandlungen, die man außerhalb des Rahmens der Generalverfammlung abhalten könnte. Eine Menge der aller: wichtigften Fragen auf dem Gebiete der praftifchen Aeſthetik, der Kunſtpolitik und der DOrganifation unferes öffentlichen Mufiklebens barren der Erledigung. Mich dünkt, daß der Allgemeine Deutfche Mufitverein es feinen Prinzipien und feiner Vergangenheit fchuldig wäre, an diefen Problemen, von deren Löfung fo außerordentlich viel abhängt, nicht länger mehr vorüberzugehen. Auf allen Ge- bieten des öffentlichen Lebens ift organifatorifche Arbeit das, was in unferer Zeit am dringendften not tut, wenn wir nicht dem Chaos entgegengeben wollen. Daß auch das Reich der Tonkunſt davon nicht ausgefchloffen ift, ich meine, von diefer Notwendigkeit und von diefer Gefahr dieſe Leberzeugung in immer weiteren Kreifen zu weden, wäre recht eigentlich die Sache eines Vereins, der die Devife des Fortfchritts auf.fein Banner gefchrieben hat. Daß er aber diefem feinem Fortfchrittspringipe durch die herfömmlichen, in der Form feiner „Mufik- feite“ gehaltenen Tonfünftlerverfammlungen beutigentags kaum mehr zu dienen vermag, das dürfte ernftlich von niemandem beftritten werden können.

München. Rudolf Louis.

Sozialfinanzielle Rundſchau.

Unſere Handelswelt bleibt noch immer zu ſchweigſam! Und dennoch iſt in der⸗ felben Zeit wo jest ein Schreien nach endlicher (!) Ubrechnung () mit England entftand, auch die nachträgliche Verfion eingelaufen von der Möglichkeit einer deutfchen Kriegsclique gegenüber Frankreich. Cinerlei ob diefe legtere Meldung via Rom und fodann München in weitere Kreife gelangte, indeffen Berlin nichts ver- riet, jo darf doch unfer Bürgertum eine bündige Aufllärung erwarten. Es kommt bier weder darauf an, daß fein Vernünftiger fich vorftellt, auf welche kriegstechnifche Weife wir mit Waffengewalt gegen England vordringen könnten, noch daß bei einem etwaigen Niederringen Frankreichs weit und breit fein Objekt fichtbar wäre, deſſen Faßbarkeit uns auch nur einigermaßen für die ungebeuren Opfer an Blut und Geld zu entjchädigen vermöchte. Zur dauernden Beunrubigung genügte es vielmehr, wenn eine derartige Clique, welche mit dem heute anfcheinend ifolierten Frankreich anzu⸗ binden rät, wirklich eriftieren würde und zwar nicht auf dem TFechtboden einzelner enragierter Parteien fondern auf dem weit gefährlicheren Hofparkett. Obgleich es fowohl die Franzofen als auch die Engländer an Intriguen und Demonftrationen gegen Deutfchland nicht fehlen laffen, wobei nach altem Diplomatenbrauch jede Macht ſich al8 das Lamm und nicht als den Wolf hinftellt, fo tragen doch folche Spannungen

) Daß 3. DB. Das eigentlich felbftverftändliche Verlangen nach Einzelabftimmung bei der Borftandswahl offen zur Schau getragenem Unwillen in der Verfammlung begegnen konnte, und zwar nur wegen des mit Der Zettelwahl verbundenen Zeitverlufts, würde gerabewegs unmwürdig zu nennen fein, wenn man nicht bedächte, wie fonzertüber- laden die Feftprogramme find und welche Strapazen fie den Feftteilnehmern zumuten,

286 Rundfchau.

keinerlei Reime zu einem Kriege in ſich. Und es ift weit nüslicher, diefe Grundwahr: beit laut auszufprechen, als mit ängftlicher Heimlichkeit einen fo großen Scha wie den BVölkerfrieden von den Reibereien des Tages abhängig machen zu wollen. Gerade unfere altmodifche Furcht vor Rabinettskriegen, in denen die „Untertanen“ nichts mit- zubeftimmen haben, könnte einzelnen Militär- und Udelskreifen den Lebermut zu unverantiwortlichen Ratfchlägen eingeben. Indem nun unfer Bürgertum zumeijt durch Handel und Induftrie vertreten wird, könnten diefe beiden Stände vereint ſchon einmal ihre Stimme gegen alle lauten oder leifen Friedensuntergrabungen erheben. Man könnte ja einwenden, daß unfere Induftriellen, foweit fie Techniker find, zum Seil ſelbſt, als recht lebhafte Chauviniften gelten, aber von Ddiefer felbftbewußten Eiferfucht auf eine mächtige Auslandskonkurrenz bis zu einem PVertaufchen der gefhäftlihen Waffen gegen Bajonett und Schnellfeuergeichüs, bleibt doch noch ein weiter Weg. Gedenfalls gibt es für unfere werbenden Stände Gelegenheiten genug, um für die Erhaltung des Weltfriedens über alle Maulwurfsarbeit hinweg immer wieder deutliche, eindringliche Worte zu reden.

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Miniſter Witte iſt bereits an Ort und Stelle der Friedenskonferenz eingetroffen, nachdem er ſowohl in Berlin, als in Paris, als in Newyork eingehende Konferenzen abgehalten hat. Mit Vorliebe find dabei weniger Staatsmänner als Finanziers auf: gefucht worden, denn gleich wie man fich zu einem Kriege mit Waffen verfehen muß, ebenfo notwendig ift zu einem Friedensabfchluffe nach Niederlage auf Niederlage das Geld zu einer großen KRontribution. Diejenigen Kreife in des Zaren Nähe, welche juft eine Milliardenentfchädigung als eine Hauptentehrung binftellten, haben meift aus den ärgften Urfachen des Eigennutzes und der Korruption gefprochen; fie gebrauchten eben eine Fortfegung des Krieges. Anders aber ein Mann vom Range Wittes, der ganz offen den Vorteil begründet, den die Zahlung fchiwerer Summen gegenüber einer Weiterführung des nutlofen Kampfes unbedingt für fich bat. Deshalb bleiben auch jene Meldungen durchaus unglaubhaft, wonach der ruffifche Unterhändler Mendelsfohn und den Kredit Lyonnais fogleih um eine neue Anleihe angegangen babe. Im Gegenteil, Herr Witte hat ein befonderes Intereffe daran, feinen mächtigen Gegnern in Petersburg zu beweifen, daß Rußland, folange es Krieg führt, überhaupt nirgends mehr Geld befommt. Freilich eine Friedensanleibe, und fie fcheint ja fchon einigermaßen in die Wege geleitet zu fein, dürfte ficher ein großes und williges Uebernahmstonfortium finden. Denn vor allem die Franzofen müſſen ſich doch ihren ungebeuren Befis an Zarenwerten (vielleicht acht Milliarden) durch einen endlichen Frieden ala um foviel gebefferter ausrechnen, daß es in einem ſolchen Fall alles eher heißen würde, als gutes Geld zu fchlechtem tun. Augenblidlich ftoct natürlich die Raufmeinung für ruffifche Fonds vollftändig, während z. B. die neuen Japaner glänzend untergebracht worden find.

Geit mehr als anderthalb Monaten befindet fich der deutfche Kurszettel, foweit Kohlen, Eifen- und Induftriepapiere in Betracht fommen, in einer unge wöhnlichen Aufwärtsbewegung. Vielleicht bat ſich unſer Optimismus, der noch dazu die saison morte unterbrach, bei Drudlegung diefer Zeilen wieder gemindert, jedenfalls dürfte die Fejtftellung notwendig fein, daß Friedenshoffnungen bei der ganzen Hauffe noch keine Rolle gefpielt haben. Es ift vielmehr die jehr gute Beihäftigung unferer Zechen, Hütten und Fabriken gemwefen, welche das große und faſt jederzeit unternehmungsluftige Publitum Rheinland-Weftfalens als Käufer

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zur Börſe trieb. Da wir heute Großbanken mit außerordentlicher Kapitalſtärke beſitzen und Mittelbanken ſo bedeutend wie früher die Großbanken nicht waren, fo brauchte es dem Publikum jener Provinzen nicht ſchwer zu fallen, die Bar— mittel für feine Käufe durch die Rommiffionsinftitute vorlegen zu laffen. Auf folche Weife ift ftreng genommen unfere Hochfinanz in der Hauffe, da fie ja gegen fünf Prozent (Zinfen und Provifion) das Riſiko einftweilen mit zu tragen bat. Wären unfere Bankdirettoren anders als fie wirklich find, fo könnten fie fpefulativer Weife jest eine Baiffe hervorrufen, indem fie ja die Leberzahl der noch fehwebenden Hauffepofitionen, d. 5. der noch umbezogenen Stüde nur zu genau fennen. In Wien und Paris pflegten folche Manipulationen wenigftens fchon vorzufommen. Ausgegangen ift die ganze Aufiwärtsbewegung bei ung von der rätfelhaften KRursfteigerung der Deutfch-Luremburger Bergwerksaktien, die vom 30. Juni bis 31. Juli bis 65 Proz. gewinnen konnten, wobei e8 tageweiſe zu Rursfprüngen von 20 Proz. kommen konnte. Damit war das Gignal zu einem Emporfchnellen fat fämtlicher Kohlen- und Eifenaftien gegeben, fo daß die heutigen Kurſe felbjt die böchjten Dividenden mit noch nicht 5 Proz. ren- tieren laffen. Entweder aljo die Käufer fühlen fich bei einem folchen Papier fo ficher wie bei Anlagewerten, oder fie fpekulieren auf Wiederverkauf zu noch höheren Kurfen. Und einer muß da ſchwarzer Peter bleiben! Übrigens ift e8 heute gar nicht gefagt, daß wenn es den Großen gut geht, auch die Kleinen, oder auch nur die Mittleren mit Nuten arbeiten können. Leben wir doch heute in den Tagen nicht nur der Syndikate, fondern auch der Anſätze zu Truſts und zuerft der Stahlverband mit Herrn Thyffen als spiritus rector bat nunmehr den äußerſt ſchwierigen Beweis zu bringen, daß die Großen nicht ausschließlich für fich ſelbſt forgen.

* * *

Bon allen ſtatiſtiſchen Regierungsmeldungen aus Wafhington hatten ſich die Berichte über den Baummollitand bisher des ficherften Rufes wenigſtens in Europa erfreut. Nach der Verhaftung aber des betreffenden Gefretärs fcheint es wohl feftzuftehen, daß die Unterlagen, welche jenem Departement geliefert wurden, ebenjo fragwürdig geweſen find, wie etwa diejenigen über Getreide, Tabak uſw. Bekanntlich ift die Hauffefpekulation einer Handvoll ameritanifcher Großen gerade in Baumwolle jest ungewöhnlich groß, allein auch nach jener Verhaftung vermochten die Preife nicht zu fallen. Soweit fich der Verbrauch an Union-Baummwolle überfehen läßt, die ja am Weltmarkte den Ausfchlag gibt, reicht die Zahl von 12 Millionen Ballen aus und da diesmal die Ernte dem ungefähr entfpricht, fo wäre eigentlich fein Grund zu fo ftarten Preishinauf: fegungen zu erfehen. Es gibt freilich eine beachtenswerte Meinung, auch die von feinem Geſchäftszweck getrübt ift wonach der Konſum neuerdings bis 13 Mil: lionen Ballen beanfpruche. Das würde jedenfall eine intereffante Perſpektive in die beffere Lebenshaltung vieler Völker eröffnen. Und wären es auch feine europäifchen, fondern oftafiatiiche Völker, die auf dem Wege der ameriktanifchen Handelsvermittelung ihre Belleidungsftoffe jest öfters erneuern, als dies arm- feliger Weife früher der Fall war.

* * *

Der fchredliche Unfall auf der Zeche Boruffia kann unferer Bergbebörde die Frage nicht erfparen, weshalb fie nicht fchon lange auf den eifernen Ausbau der Schächte drang, auf Ausmauerung der Grubenbaue, und will man ganz modern fein, auch auf Anlage eines zweiten Fahrſchachtes. Es ift richtig,

288 Rundfchau.

dab ſolche Neubauten rafcheftens in anderthalb Jahren bewerfftelligt werben fönnen, fowie daß die betreffenden Koften für alte aufgearbeitete Zechen eine äußerft ſchwere Finanzlaft bedeuten, Allein, da Menfchenleben über jede Bilanz geben, fo brauchte der Staat nicht erjt durch diefes Unglück darauf aufmerkfam zu werden, daß als er den „König Wilhelm“ zu einer Modernifierung zwang, auch die Zeche „Boruffia“ bierzu reif war. Hoffentlich wird es bald weder im Ruhrtal noch auf der Wittener Mulde irgend eine Zeche geben, die fich durch ihre finanzielle Schwäche gehindert fieht, für die Sicherung der Grubenleute aus- giebig zu forgen. In foldhen Fällen wäre wenigſtens die Gtilllegung gerecht- fertigter, als früher, wo hierüber nur hohe Ausfaufsfummen entjchieden.

Frankfurt a. M. ©. v. Halle.

REFERENT ERFEER ER FE FR ER ER FE ER ER ER ER EI FER

Verantwortlich für den fozialpolitifchen Teil: Friedrich Naumann in Schöneberg; für den übrigen Inhalt Paul Nilolaus Cofjmann in München.

Nachdruck der einzelnen Beiträge nur auszugeweife und mit genauer Quellenangabe geftattet.

Die Infel der Seligen.

Eine Komödie in vier Alten.

Don Mar Halbe in München.

DPerfonen:

Bruno Wiegand, Begründer der Infel der Geligen, Dorothee, feine Frau.

Jürgen, beider Sohn.

Dubsky, Pamphletift.

Baron von Marenholdt.

Hedwig Bauer, Malerin.

Kasper, Bildhauer,

Dräger, Nationalötonom.

Medardus Neumann, der alte Dichter. Canzinger, der junge Dichter.

Rebbein, Kandidat.

Marquardt, KRunfttifchler.

Rafumoff, Maler.

Finfterlin, Buddhiſt.

Die Moritura, Dichterin.

Frau Lindenblatt.

Frau Römerſchmidt.

Schätzli Stüßli, genannt Scheit Ibrahim. Lothario, Direktor einer reiſenden Truppe.

Roderich, Liebhaber

Marcipansty, Komiker

Lamormain, Charakterſpieler Mitglieder Nelly von Schildburg, Naive ſeiner Truppe. Die Imhof-Adolphy, komifche Alte

AUfra

Bärbeli Dienftmädchen.

Mitglieder der Infel der Seligen. Schauplag: Eine ferne Infel,

Süddeutihe Monatshefte. 11,10, 19

Erfter Aufzug.

Großer Sartenfaal in Wiegands Landhaus.

Züiren führen rechts und Iinfs zu den anberen Wohnräumen des Haufes, Rechts In ber Mitte ift der Eingang zur Bücherei, der durch eine ſchwere Portiere verhängt ift. In der Mitte des Gartenfaals ftebt ein langer, grün besogener Eichentifh mit Papieren, Schriften, Brofchüren, Zeitungen, Büchern aller Art bebedt. Rechts vome Korbfofa mit Seffeln und Tiſchchen. Andre Gartenfeffel, Stühle und Meine Tiſche find rings im Saal verteilt. An der linfen Wand vorne ein Apollo, hinten eine Venus in guten Nachbildbungen, in der Mitte ein figendber Buddha. Davor eine Art von Rebnertribüne, zu der ein paar Stufen binaufführen.

Die Wände find mit Bildern, Rabdierungen, Stichen bedeckt. Auf ben Tiſchchen fteben Blumenvafen mit Feuerlilien, langgeftielten Rofen, Päonien und anderen Blumen. In ber gläfernen Rüdwandb bes Saales find die breiten Schiebetüren zur Gartenveranda weit zaurüdgeichoben. Eine Freitreppe führt von der Veranda in den Garten hinunter, Veranda und Treppenftufen find mit Dieandern, Magnolien, Palmen und Blumen aller Art geſchmückt.

Der Garten ftößt rechts hinten an einen See, beffen blaugrüne Waſſerfläche in duftiger Ferne von bochanfteigenden Bergzügen begrenzt wird. Links hinten ſchließen fich reiche Obft- und Rebenbügel an den Blumengarten. Am Horizont auch bier wieder Wälder und Bergtuppen.

Es tft ein ftrablenber Zunttag. Garten unb Gee glänzen in beiterftem Licht.

Hedwig Bauer, vierundzwanzigjähriges Mädchen mit feinen, burchgeiftigten Zügen, ftebt binten im Saal vor einer Staffelei, auf die vom Garten ber volles Licht fällt. Dorothee Wiegand, Dreißigerin, auffallend hübſche Frau von fübländbifhem Typus, figt im buftigen Sommerfleid, das dunkle Haar mit roten Rofen gefrängt, den Schäferbut vor fich auf den Stnten, in einem Korbſeſſel nabe ber Veranda.

Hedwig (malt eifrig an Dorothees Bi, wirft ab und zu der Sihenden einen mufternden Blick au).

Dorothee (flieht lächelnd vor fih Hin. So vergeben ein paar Augenblide, dann bört man Läuten einer Schiffsglocke, gleich darauf einen pruſtenden Pfiff, ber weit über den a ie cborcht au: Da fährt der Dampfer ab. Sie müffen bald ier fein.

Hedwig (immer matend): Ja, jest fährt er ab... von der Infel der Seligen.

Dorothee (eufzt Hard tomiſch au: Du großer Gott! Wer wohl auf das Gemäre zuerft verfallen ift!

Hedwig: Wer auf das alles hier verfallen ift. Eie zeigt mit dem Pinſel in der Runde) Dein Mann doch! Wer fonft?

Dorothee: Ja, dem hat der Herrgott eine hübfche Portion Verrückt beit mitgegeben!

Hedwig: Bitte, den Kopf etwas nach links! So! Gut!

Dorothee: Uebrigens find mir vernünftige Männer ein Greuel. Männer müffen übergefchnappt fein. Ein Mann ohne einen richtigen Sparren fommt mir vor wie eine Bowle ohne Geft.

Hedwig: Den Kopf etwas höher, bittel Und mehr zu mir berüber!

Dorothee: Wo Bruno nur bleibt? Sie müßten doch fihon bier fein. Es ift ja nur fünf Minuten zum Landeplaf.

Hedwig: Daß der Dampfer überhaupt bier anlegt!

Mar Halbe: Die Inſel der GSeligen. 291

Dorothee: Paßt dir das nicht?

Hedwig: Den® doch mal, eine Infel der Geligen mit Dampfer- verbindung!

Dorothee: Soll man vielleicht in der ewigen Geligkeit bier ver- ſchimmeln? Von mir aus könnt's lieber heut als morgen zur Abfahrt bimmeln! Mit Paden würd ich mich nicht lang aufhalten.

Hedwig (äßt den Pinfer finten: Eine Infel der Geligen ... eine wirkliche Inſel der Geligen... Ganz, ganz anders müßte die fein! Ift denn einer bier, der nicht am Leben leidet? Wie nennt das dein Mann? Die Erden- ſchwere!

Dorothee: Wir ſind doch nun mal auf der Erde. Ich hab' noch kein Bedürfnis, wo anders zu ſein.

Hedwig werfonnen): Wenn wir wirklich fo eine beſſere, fo eine höhere Gemeinfchaft wären, dann müßten wir ganz andere Menfchen fein. Ganz heiter! Ganz wunjchlos! Ganz Geift!... Männer und Frauen müßten na- türlich nadt gehen! (Sie fängt wieder an zu mafen.)

Dorothee: Einen ſchönen KRuddelmuddel fünnte Das geben!

Hedwig rend: Nacktheit adelt.

Dorothee (nad einem Augensiih: Du, Hedwig, fomm mal ber! Schnell! Schnell! (Sie ſchaut angelegentli nad lints in den Garten hinüber.)

Hedwig (ungeduldig näbertretend) : Alfo ...7

Dorothee (eierlich: Dort hinten auf dem Gemeindeacker ſteht Finfterlin der Budbhift in grüner Badehofe und gräbt an feinem Kohlrabibeet! Iſt deine Sehnfucht nun erfüllt?

Hedwig (mendet ſich ab): So ein Pofeur!

Dorothee: Nacdtheit adelt doch?

Hedwig: Uber nicht folche Charlatane! (Sie geht zur Staffelei zurück)

Dorothee (port nach draußen): Das find doch Schritte im Garten?

Hedwig (ebt nad rechts Hinaus): Ja, fie fommen. Dein Freund ift auch dabei.

Dorothee: Die Hauptfache, er ift Brunos Freund. Bruno braucht eine Aussprache. Er ift in einer bedenflihen Kriſis.

(Aus dem Garten ber find inzwifchen Bruns Wiegand und Baron Marenbolbt, weiter zurück Afra,

bie des lestern Gepäd trägt, herangelommen, fteigen die Gartentreppe herauf. Wiegand tft ein großer,

breitfchultriger Mann von vierzig Jahren, mit ſchweren und doch geichmeidigen, faft baftigen Bewe-

gungen, ftarfeın Haarwuchs und kurz gefchnittenem VBolbart, ſommerlich leicht aber nicht ohne Sorgfalt

gefleidet. Baron Marenholbt, fchlanter, vornübergebeugter Vierziger mit ſcharf ausgeprägtem, etwas vermwittertem Charakterfopf, in nachläffig eleganter Haltung und Kleidung.)

Wiegand (der Marenholdt ungeduldig um ein paar Schritte voraus iſt, ruft Dorothee von der Treppe aus zu): Alſo, Weib, da haben wir ihn endlich wieder! Lang, lang bat e8 gedauert! (Er fpringt mit ein paar Sägen die Treppe herauf und tritt Über die Veranda in den Gaal.)

Marenholdt qum langſamer forgend): Note Nofen im braunen” Haar! Den Kranz ewiger Jugend um die Stirnel So hab’ ich mir unfer Wieder- fehen vorgeftellt. (Er wintt Dorothee von der Treppe aus zu.)

Dorothee dit aufgeftanden, fteht in der Berandatiir): Komm nur erft näher! Die Enttäufchung dann!

Marenholdt coven auf der Treppeh: Du wirft nie enttäufchen, liebe

Freundin!

292 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Dorothee: Weil man nichts von und erivartet, meinft du?

MarenHoldt (ritt auf fie zu: Mein, weil du nie etwas verfprechen wirft, was du nicht halten Fannft!.... Und damit guten Tag, Dorothee! «er tüßt ihr die Hand.)

Dorothee: Guten Tag, Hubert! Wir freuen uns fehr, daß du ger fommen bift!

Marenholdt: Sagt mal im Ernft, in was für einem Zauberlande lebt ihr bier eigentlich? Leber Dorothee wundere ich mich ja nicht. Ich babe dir ja immer ewige Jugend prophezeit. Uber au Bruno... Wenn ich da mich anfehe!

Wiegand di wäprenddes zu Sedwig getreten, die rubig weiterarbeitet, wendet ſich jest zuruch: Weißt du, wen wir das verdanken?

Marenholdt: Na?

Wiegand arm: Unferer Infel der Seligen!

Marenholdt: Da hätt’ ich allerdings früher fommen follen!

Dorothee: Eingeladen haben wir dich ja oft genug.

Marenholdt seyn: Zum Weltverbeflern gehört nun mal Zeit. Ich hatte genug zu tun, meine Güter zu verbeflern.

Wiegand: DO, wir wollen hier auch nicht die Welt verbeffern, alter Freund! Wir wollen nur uns felbft beffer und glüdlicher machen!

Marenholdt: Und dadurch doch wieder auf die Welt wirken, alfo fie verbeſſern? Oder nicht?

Wiegand: Gewiß! Infofern ja! Wir find Propagandiften der Tat! Wir wollen ein Beifpiel geben!

Marenholdt: Na, und die Refultate?

Dorothee: Ach, du gerechter Strobfad!

AUfra Pte ingoifhen mit Marenpoldts Gepät dabeigeftanden har): Bleiben die Sachen bier unten? Oder was ift?

Dorothee unwinig): Abwarten, nafeweifes Göhr'l (gu Marenpomy: Ich wollte dich fragen....

Marenholdt: Parbon! Ich möchte mich nur vorftellen. (Zu Hedwig): Entfchuldigen Sie, gnädiges Fräulein...

Hedwig (ualend, über die Schulter weg): Wir find hier nicht fo förmlich, wir Zufunftömenfchen.

Wiegand (qlast ſich vor den Kopf): Wahrhaftig vergeflen! . (Bor- frenend): Mein alter Freund Marenholdt, meine Baſe Hedwig Bauer.

Hedwig (mit fluchtiger Kopfneigung): Malweib, wie man fieht.

Marenholdt au vorotheey: Du wollteft etwas fragen?

Wiegand (einfatend zu Dororpe): Was fteht denn die Afra noch da?

Afra vontppip): Ich kann nichts dafür! Ich hab’ gefragt!

Dorothee: Halt’ den Mund! (gu Marenpom): Was zieht du vor? Ausfiht nach dem See oder nach dem Garten?

Marenholdt: Ganz wie du befiehlit!

Dorothee m Ar: Alſo nach dem roten Zimmer mit dem Gepäd! Marfch !

Afra (brummig links vorn ab.)

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 293

Wiegand (u Dororper): Weshalb Haft du eigentlich das Mädchen an- geſchnauzt?

Dorothee: Weil du fie ſyſtematiſch verdirbſt wie alle meine Mädchen!

Wiegand: Ich bringe fie nur zum Bemwußtfein ihrer Menfchenmwürde.

Dorothee: Damit wirft du bei dem fünfzehnjährigen Ding weit fommen.

Wiegand: Laß doch das ewige Widerfprechen!

Dorothee: Hab’ ich etwa feine Menfchenwürde?

Marenholdt Wer veiuftigt zugepört Hay: Die Redefchlachten im Haufe Wiegand blühen ja nach wie vor.

Dorothee: Ja, wir kabbeln uns bald Tag und Nacht, nächſtens laffen wir uns fcheiden.

Wiegand: Wenn ich wieder auf die Welt komme, werd’ ich DBier- brauer oder fo was. Vielleicht paß' ich dir dann beffer.

Dorothee: Ich werde Konfiftorialrat! Dder ich geh’ zum Variete! Jedenfalls werd’ ich nicht deine Fraul

Marenholdt: Ihr feid ja hier ganz rabiate Geelenmwanderer!

Dorothee: D, du ahnft gar nicht, was wir alles find, Buddhiſten, KRommuniften, Mofticiften, Alchymiften ....

Wiegand: Alchymiſten? Geit wann?

Dorothee: Na, dann werden wir’3 noch!

Wiegand (aufpraufend): Jetzt aber Schluß mit dem Gefchnatter!

Dorothee: Der eine ſchnattert! Der andere reitet Prinzipien!

Wiegand: Nur mit dem Unterfchied, daß die Welt folche Prinzipien- reiter braucht! Mit den brutalen Tatfachenmenfchen fäßen wir heute noch im Pfahlbau.

Marenholdt: Db fich der Sag nicht auch umgefehrt formulieren ließe?

Wiegand verig: Niemals!

Marenholdt (nad einem Augenblich: Wenn's euch recht ift, möcht’ ich mich ein bischen renovieren nach der langen Fahrt.

Wiegand: Immer mir nach! (ergeht gegen die Tür lints vorn.)

Marenholdt (olst ifm, bleibt vor den Standbildern Iints ftehen): Buddha! Hml .... Und zwifchen dem Bogenfpanner und der Schaumgebornen .... Das bat natürlich fombolifche Bedeutung ?

Wiegand: Ja, das ift nämlich hier unfer GSigungsfaal. «er ſieht Marenhotdt an: Du lächelft?

Marenholdt: Ich dent’ mir das etwas... . etwas unbequem, fo fein Haus zu einem Taubenfchlag für Zufunftsmenfchen zu machen.

Wiegand (mus tagen): Es handelt fich janur um diefen einen Raum....

Dorothee einfattend): Und die Bibliothek nebenan!

Wiegand: Na ja, die auch).

Dorothee: Und der Leuchtturm am See, wo Rehbein und Medarbug Neumann haufen.

Wiegand: Der würde ja boch leer ftehen.

Dorothee: Und der Garten, wo man nicht einen Augenblicd allein fein fann....

Wiegand (anietzutend: Kleine Unbequemlichkeiten !

294 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Marenholdt: Das kann ich mir denfen.

Dorothee: Und dann der Schrecken der Schreden! Der Gemeindeader!

Marenholdt: Der Gemeindeader?

Dorothee: Ja, wo fie pflügen und graben und in der Erde rum- wühlen. Jeder hat da fein Stüd Land.

Wiegand u Marenpongy: Du weißt, das ift die Grundlage meines Syſtems. Die innige Berührung mit der Natur, mit dem Boden! Darauf beruht unfere ganze Gemeinfchaft bier. Bebaue deinen Ader! Darauf fommt es an! PBebaue deinen Uder!

Dorothee: Ja, aber womit? Es wächft ja nichts bei euch! Micht mal 'n ordentlicher Kohlkopf oder ’ne Sellerie! Geht mir Doch ab! Dubsty bat fein ganzes Beet von vorn bis hinten mit Difteln befät.

Wiegand: Man darf fäen, was man till.

Marenholdt: Nur daß Difteln fich fehr ſchnell ausbreiten!

Wiegand: Das darf natürlich nicht fein! Freiheit nur, ſoweit fie die Freiheit des Nächften nicht beeinträchtigt. Aber Dorothee übertreibt ja auch. Der Acker gedeiht ganz gut.

Dorothee: Auch fonft muß man einen großen Bogen machen. Vor: ber ftand Finfterlin in grüner Badehofe an feinem Rohlrabibeet und fuchtelte mit dem Spaten in der Luft herum.

Wiegand: Er nahm eben ein Luftbad.

Dorothee: Unfinn! Zeigen wollte er fih! Eindruck wollte er machen! Hedwig war auch ganz weg!

Hedwig (ote inzwifchen an ihrem Bild gearbeitet bat, drebt fich entrüftet um): Dorothee! Ich muß dich wirklich bitten.....

Dorothee: Na, na, beiß' mich nur nicht!

Marenholdt: Ich kann mir aber doch denken, daß das alles zu- fammen ziemlich unbequem... . ziemlich ftörend fein fann. Befonders für die Dame de3 Haufes!

Dorothee: Er hat ja fo eine Dumme gefunden, die's aushält!

Wiegand: PVerläftere doch nicht dein eigenes Leben! Schließlich haft du’8 doch drei Jahre gelebt!

Dorothee: Aber wie!

Wiegand: Umfonft ift der Tod, und Opfer fordert jede große Sache.

Marenholdt: Sonft wäre wohl aucy fein Verdienft dabei. Möchteft du mir jetzt vielleicht den Weg zeigen ?

Wiegand: Gern! Weg-weifen ift ja mein PBerufl Alſo komm! (Er führt ihn links vorn binaus, ab.)

Dorothee (wendet fih zu Hedwig): So, jetzt können wir weiterarbeiten. (Ste fest fich in den Korbfeffel, nimmt ihre vorige Stellung ein.) Wie gefiel er dir denn?

Hedwig: Ich habe nun mal eine angeborne Abneigung gegen alles, mas von heißt!

Dorothee: Er bat fich doch nicht felbft gemacht! ... Trottel!

Hedwig wertis): Ich kann's nicht leiden, wenn jemand fo erhaben auf unfere Gemeinfchaft herabfchaut!

Dorothee: Hat er vielleicht nicht recht?

Hedwig: Das follte dein Mann hören!

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 295

Dorothee: Bruno fühlt das felbft am allertiefiten! Er ift bloß zu ftolz, um fich’8 einzugeftehen.

Hedwig terre: Ufo ringsum Lug und Trug! Weshalb geht man dann nicht feiner Wege!

Dorothee: Bruno zwingt fich zu etwas was er innerlich nicht mehr glaubt! Deshalb hab’ ich Marenholdt gebeten, herzulommen.

Hedwig wersuifn: Du haft Marenholdt gebeten . . .? Ufo daher der Beſuch?

Dorothee gewenſchaftuch: Bruno wirft feine beften Jahre und feine fchönfte Kraft weg! Das muß ein Ende haben, fo oder fo! Sonft geh’ ich!

Dubsky (fMredt den Kopf rechts hinter der Portiere der Bücherei hervor): Guten Morgen, meine Damen!

Dorothee (ohne fi umzubreben): Wer ift denn da?

Hedwig: Dubsky.

Dorothee (über die Schulter nad rüdwärts): Immer herein in den Tauben- ſchlag! (Zu semwig): Malft du nicht mehr?

Hedwig (fhtebe die Staffelet na Hinten: Mein! Es ift ja alles Dred! (Ste padt ihr Malgeug zufamınen.)

Dubsty (dar ſich von der Portiere Iosgelöft, tommt näpen: Von Dreck bift du! Zu Drede follft du wieder werden! Und das ift gut! Denn wo follte all der neue Dreck herfommen, den die Welt braucht, wenn der alte abgenugte Dred nicht immer wieder auf den Dunghaufen müßte! Es gäbe ja längit feine fogenannten Menfchen mehr!

Dorothee: Dubskys Morgenpredigt!

Dubsky: Die Schöpfung macht es wie eine vernünftige Badedireftion. Die gebrauchten Moorbäder werden in den Sumpf zurüdgefarrt, fozufagen zur Maffe gefchlagen. Nach fünfzig Jahren find fie vollftändig wie neu. Die zimperlichfte Iungfer kann fich hineinlegen. (Er tritt zur Staffelet, die von Hedivig gegen die Wand getehrt iii): Darf man das Bild nicht fehen? (Er win das Bild ummenden.)

Hedwig Mazwiigentrerend): Ich verbitte mir das! Verftanden?

Dubsky (ännefterigend): Du haffeft mich, Hedwig! Hab’ ich dich durch das Wort Jungfer beleidigt? Sei nicht böfel Es bezog fi ja nicht auf dich! j

Hedwig: Unverfchämtheit! (Sie nimmt ipren Mattaften, geht ohne ſich umzuſehen durch die Tür links hinten ab.)

Dubsky cine nafependy: Diefe Herbheit! Diefe Sprödigfeit! Ah! (Er ſchnatzt mit der Zunge, tritt dann zu Dorothee, betrachtet fie): Du fiehft entzückend aus mit den Rofen im Haar, Dorothee!

Dorothee nimmt den Kranz ad): Geh’ nur ab! Fang’ nicht mit mir an! Du kannſt einen Menfchen bis aufs Blut reizen!

Dubsky geird: Ich bringe eben Leben in die Bude! Ich bin ber Sauerteig in eurem Glücfeligkeitsftrudel! . ... Brunos Verdienft in allen Ehren! Er hat die Sache hier begründet. Das ift ja auch feine Kunſt! Auf diefen Rohlrabi- und Noterüben-Rommunismus würd’ ich mir wirklich nicht8 einbilden. Uber da die Gefchichte einmal gemacht ift, fo bin ich eg, der fie in Gang hält. Ohne mich liefe die Rarre feine acht Tage weiter.

Dorothee: Verfuch’ es doch mal! Reife ab!

296 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Dubsky (mit pathetiſcher Bert): Warum liebft du mich nicht, Dorothee?

Dorothee: Weil ich dich nicht ernjtnehmen kann!

Dubsky: Natürlich! Wenn ihr nicht gleich den Blutgeruch wittert .. .

Dorothee: Du bift einfach nicht mein Geſchmack.

Dubsky: So fchaff’ dir doch einen beflern Gefchmad an!

Dorothee: Außerdem ftellt man der Frau feines Freundes nicht nach. Daß ift gemein!

Dubsky (säpmefierigend): Gemein ift ed nur, wenn man damit abfällt! Gibt es denn eine günftigere Gelegenheit? Wozu bat denn dein Mann diefe Gemeinfchaft freier und erleuchteter Geifter gegründet? Wir wollen bier doch feine Maskerade aufführen. Was nügt ed, daß wir mit Hade und Spaten hantieren....

Dorothee (einwerfend):; Auf deinem Diftelbeet!

Dubsky: Daß wir ung phufifch auf die Natur zurückziehen, wenn wir's nicht geiftig und moralifch tun! Und die Natur ift polygamifch! Poly- gamifch bis auf die Knochen!

Dorothee: Meine Natur ift leider monogamifch bis auf die Knochen! Ich mwünfchte, e8 wäre anders |

Dubsky (anfstiepend): Wenn wir auf der Infel der Seligen noch nicht foweit find, dann pfeif” ich auf die ganze Geligfeit!

Wiegand (eſcheint wieder von lints vorpen: Ah, da ift ja auch Dubsky!

Dubsky qabnefletſchendd. Ja, ich habe eben Dorothee ins Gemiffen geredet.

Dorothee (ftebt auf, geht auf Wiegand u): Dubsky findet mich altmodifch.

Wiegand au Dussty): Du batteft wohl wieder deine befannte Walze aufgezogen?

Dubsky (mir bochgezogenen Brauen): Auf diefer Walze fpielt fich das Leit- motiv der Schöpfung ab. «er feirth: Uebrigens ift Dorothee unzugänglich. Sonft hätte ed den vereinten Bemühungen deiner Freunde ſchon längft gelingen müffen....

Wiegand casyendy): Bemüht euch nur weiter, mein befter Dubsty!

Dubsky gabasogiſch: Eine Frau ift jung, folange ihr Befig noch irgend einem Manne begehrenswert erfcheint. Es ift alfo eine einfache Artigkeits und Anftandspflicht, einer Dame Anträge zu machen.

Dorothee: Für den Anftand bedanf ich mich! Aus Artigkeitsrück⸗ fihten laffe ich mich nicht verführen!

Wiegand qu Dusery: Auf warn war doch die Sitzung heute nady- mittag angefagt?

Dorothee: Ich glaube auf vier Uhr.

Wiegand (Dussty ins Auge faffend,: Haft du irgend etwas von... . von gewiffen Plänen gehört?

Dubsky cetferig: Mir ift nichts davon bekannt.

Wiegand: Du läßt mich nicht ausreden, lieber Dubsky. Ich meine Pläne, die unfere Zukunft betreffen, die Zukunft unferer Gemeinfchaft, unfere Ausgeftaltung bier. Es foll nämlich derartiges bei und umgehen?

Dubsky: Ich bin jedenfalls nicht mit im Spiel.

Wiegand: So? Alfo nicht! Hm!...

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 297

Dubsky: Du weißt, daß ich deine Autorität hier immer rückhaltslos anerfannt habe.

Wiegand: D bitte! Ich verlange nur offene Karten! Weiter nichts!

Dubsky: Die Infel der GSeligen ift dein Werk, du haft fie in die Welt gefegt! Dir gehört das DVerdienft! Sch werde der legte fein, der deine Kreife ftört!

Dorothee (mit einem Ausbruch Halb komiſcher Empörung auf Dubsty zu): Du bift doch wirklich ein ganz abgefeimter ... .!

Dubsky (eirendy: Schurke... Halunke ... Gauner ... Bitte zur Auswahl!

Dorothee (ausnrehendn): Alles zufammen reicht noch nicht aus!

Wiegand (epfſchutteind. Uber Dorothee!

Zürgen (viergepnjäpriger Junge, kommt ſchnell von rechts ber durch den Garten gelaufen, run: Mutter! Mutter! Ift der Vater da?

re (die nahe der Verandatür ſtehty; Hier hängt er!... Wo brennt’3 denn

Wiegand: Ja, etwas in Ruhe abmachen gibt's nicht!

Dorothee criegeriſch: Er ift eben der Sohn feines Vaters!

Wiegand: Bumms! Hat man fein Teil weg! Der Junge ift tabu wie ein Megerfetifch!

Dorothee (m Zügen: Den ganzen Vormittag fieht man dich nicht! Wo Haft du dich wieder herumgetrieben?

Wiegand: Sa, wo haft du dich wieder herumgetrieben? Sch werde dir nächftend die Geige wegnehmen. Du lernt ja doch nichts.

Dorothee (u Wiegand): Da bin ich auch noch da! (Zu Zürgen): Der Bater bat recht! Du taugft auch wirklich nichts!

Jürgen per inzwiſchen in den Saal gekommen ift und unbehaglich zugehört han: Bitte fehr! Ich hab’ zwei Stunden im Wald gefeflen und geübt. Nachher hat der Himmel fo heruntergelacht und fo ein fehöner Bergwind ift gegangen, da bin ich in den Kahn gefprungen und hab’ Segel aufgeſetzt ..

Dorothee (aufgenrane): Diefe verdammte GSeglerei und Rahnfahrerei! Wie oft hab’ ich dir das verboten!

Wiegand: So etwas läßt fich ein Junge nicht verbieten. Ein Junge, der ein Mann werden will!

Dorothee: Bravo! Steh’ ihm nur beil

Wiegand werfonnen: Wir tun ja alle nichts anderes, fegeln ins Un- befannte!

Zürgen: Ins Unbefannte fegeln! Fein! So was hab’ ich mir auch gedacht, wie ich über den Gee gefligt bin im hellen Sonnenfchein, unfer Haus ift immer fleiner geworden und unfere Infel immer mehr untergetaucht ... Da nad Weſten, da ift der See ja ganz unabfehbar, da kann man fahren und fahren!

Dorothee (an feinen Lippen hängend): So ein Hundejunge! Na warte!

Jürgen: Nachher ift auch der Dampfer gekommen, wo du den Onkel Marenholdt damit eriwartet haft.

Dubsky au Wiegand): Iſt denn euer edler Baron eigentlich angelangt?

Wiegand: Ga, er zieht fih oben um.

298 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Dubsky: Die Infel der Seligen hat Glüd!

Wiegand: Wiefo?

Dubsky: Der Intimus des regierenden Fürften von Tecklenburg fteigt zu den Petroleufen herab! Der Grandfeigneur fraternifiert mit Anar- chiſten und Demokraten !

Wiegand: Marenholdt war immer ein freier Geift. Sonſt hätte er wohl mit einem ausgewieſenen und vorbeftraften Revolutionär nicht fo gute Freundfchaft gehalten.

Dubsky: Vorbeftraft und ausgemwiefen find wir hier wohl fo ziem- lich alle.

Wiegand: Eben deshalb! Mir fcheint, das fpricht für Marenholdt!

Dubskhy (weist ſich die Hände): Ich fuche fehon lange nach einem neuen Stoff für meine Flugblätter zur Zeitgefchichte. Meine Lefer draußen werden ſchon ungeduldig. Wo bleibt denn Heroftrat? heißt es.

Wiegand mie Verveugung): Ich ftelle aljo Herrn Heroftrat den Fall Wiegand-Marenholdt zur Verfügung.

Dubsky (mie Bruftton): Du weißt jehr gut, lieber Bruno, daß mir der Begründer der Infel der Seligen viel zu hoch für fo etwas fteht.

Wiegand: Bitte, ich verlange feine Schonung! Habe nie dergleichen verlangt! Schlimmftenfalld werd’ ich mich zu wehren wiflen! («er wende ſich zu Zügen): Du riefft doch vorhin nach mir?

Zürgen: Ach ja! Onkel Marquardt will dich fprechen.

Wiegand: Wo ift denn Marquardt?

Zürgen: Beim Bau nafürlih! Beim neuen Sonnentempel! Wird der aber kurios!

Wiegand (u Dubsty): Gehſt du mit? (Er wendet ſich zum Geben.)

Dubsky: Wenn du erlaubft! So oft ich das Monftrum fehe, fchießen mir die Tränen in die Augen! Die Dummheit der andern ift fchließlich

noch das einzige, wad man vom Leben hat! (Beide geben die Treppe hinunter, ver- ſchwinden nad rechts Im Garten.)

Jürgen (fepr innen nah): Ich hab’ noch was im Kahn vergeffen. Das muß ich holen.

Dorothee: Du willft doch bloß Hinterher! Was haft du denn ver- gefjen?

Jürgen: Mein Notizbuch! Im Kahn liegt’3!

Dorothee (fährt mit einem ſchnellen Griff in feine Taſche und holt ein Buch heraus): Faule Ausrede! Da ftedt’s ja!

Fürgen wütend): Das ift doch wirklich ftarf! Einem in die Tafche zu faflen!

Dorothee MurKslättert das Bud flüchtig und findet eine eingefhlagene Photographie): Was ift das?

Sürgen: Gib das Bild her!

Dorothee: Jet gerade nicht! (Sie sieht das Bim aus dem Imflag: Das ift

ja der Vater! (Das Bir vetragtend): Werd’ nur fo wie der! Dann geht’s ſchon! (Ste gibt ihn Buch und Bild zurüd.) Zürgen (nach einem Augendlid): Du bift doch eigentlich ganz vernünftig! Dorothee: Wirklich? Findeſt du?

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 299

Zürgen (nodendy: Ich wollt’ dich fehon lang was fragen, Mutter?

Dorothee: Losgefchoflen!

Zürgen: Weshalb heißen wir hier eigentlich die Infel der Geligen, Mutter?

Dorothee <auftayend): Das möcht” ich auch wifjen!

Jürgen: Die Seligen, das find doch eigentlich die Götter auf dem Olymp oder fo was?

Dorothee: Sieht du, Die Menfchen möchten eben Götter werden. Statt froh zu fein, daß fie Menfchen find, möchten fie am liebften in den Himmel fliegen. Das geht aber nicht! Und wenn fie dann herunterpurzeln, dann kommen fie hierher, fegen fich zufammen, reden und tun und fchimpfen und machen fich die Hölle heiß und möchten gleich aus der Haut fahren..... Ma, und das heißt dann die Infel der Seligen! Das ift doch ganz einfach!

Jürgen: Ich weiß, wenn ich groß bin, ich ſetz' mich nicht auf fo eine Infel! Ich geh’ in die Welt hinaus! Es gibt fo ein Märchen von taufend Meilen hinter Weihnachten. Es ift ja natürlich nur ein Märchen. Aber da möchte man wohl hin.

Dorothee: Viel Glück auf die Reife!

Sürgen: Daß Vater jest hier fo feftfigt! Ich erinnere mich, wie ich flein war, find wir immer von einer Stadt zur andern gezogen. “Fein war das!

Dorothee roten): Sehr fein! Sal Wo wir hinfamen, wurden wir ausgewiefen! Sie dachten, wir werfen gleich Bomben.

Jürgen: Ihr feid doch auch mal in Perfien gemwefen?

Dorothee: Das war vor deiner Geburt. Da war dein Bater noch bei der Miffion.

Jürgen: Daß Vater auch mal Paftor gemwefen ift, kann man fich gar nicht vorftellen.

Dorothee: Und ih Frau Pfarrer!.... Sa, was ift dein Vater nicht alles gewefen! Sogar Prinzenerzieher!

Zürgen (topfisüttemp): Toll!

Marenholdt (rut von lints Her wieder ein, er ift gewählt gekleidet, reibt fich behag- tih die Hände): So! Das wäre in Ordnung! (Er bemertt Zürgem: Ah! Da ift ja

auch Sürgen!.... Teufel! Bift du groß geworden! Er geht auf ihn zu, reicht ibm die Hand.)

Jürgen (hn vegrüßend): Ich kann mich noch ganz genau befinnen, wie der Onkel Marenholdt und das legtemal befucht hat.

Marenholdt: Bor ſechs Jahren. Ja.

Dorothee: Ehe Bruno die Erbfchaft machte. Das war unfere fchlimmfte Zeit!

Zürgen: Wir haben Onkel Marenholdt noch zur Bahn gebracht. Grüß’ die Heimath! fagte der Vater noch.

Dorothee: Ja, damals durfte man nicht zurüd, und heut’ wo man's könnte, heut’ will man nicht. Cine verrücdte Welt!

Marenholdt: Man wird fchon wieder wollen. Es muß nur einer fommen, der die Fäden herüber hinüber fpinnt.

Dorothee wm Zürgen): Geh’ doch mal und beftell’ was zum Frühftüd.

300 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Marenboldt: Danke! Ich frühftüde nie!

Dorothee: Aber ein Glas Wein! au Jürgen); Du weißt ja Beſcheid im Keller.

Zürgen: Na und ob! (Er geht lints Hinten ab.)

Marenholdt mes: ihm nach: Wie das heranwächlt! Wie das heranwächft, Dorothea! Jeder trägt ja feine Lebensuhr in fich ſelbſt. Sonft fünnte man an denen da Stunde und Minute ablefen.

Dorothee: Ich mag garnicht zurückdenten. Es fcheint alles wie geitern. Plötzlich ift e8 zehn, fünfzehn Jahre her. Mir ſchwindelt's manchmal!

Marenholdt: Ia, wir figen im Erpreßzug und rafen dahin. Um beiten, man macht die Augen zu und denkt an was Stille, Angenehmes. Bei mir ift jegt das ſchöne Stadium angebrochen, wo alle® mindeftens fünfundzwanzig, bald dreißig Jahre ber ift.

Dorothee nase: Du haft eben früh angefangen.

Marenholdt (masventig): Wir beide kennen ung doch auch ſchon ... über fünfzehn Jahre wird e3 fein. Bruno lub mich ein. Ich glaube, es war dein Geburtstag, Man mußte hübſch Treppen fteigen ...

Dorothee: Ich dachte mir, wen fchleppt denn Bruno da mit! Es follte doch fo geheim bleiben! Ein Prinzenerzieher und zufünftiger Paftor, der eine Liebfte hat... Ich bitte dich!

Marenholdt: Später ift es ja doch berausgelommen.

Dorothee: Weißt du noch, wie du uns zuerft die Nachricht brachteft, Bruno wird nach Armenien gefhict? War das ein Jubel!

Marenholdt: Ich habe Bruno verfchiedene wichtige Nachrichten gebracht.

Dorothee: Ja, durch dich fam er ja auch an den Hof. Der alte Fürft Hätte doch fonft nie daran gedacht.

Marenholdt: Vielleicht kann ih Bruno wieder fo eine wichtige Nachricht bringen.

Dorothee (Med: ipn erftaunt an: Wie meinft du das?

Marenholdt: Du fchriebft mir doch, ich möchte euch befuchen. Es ſchien mir dringend.

Dorothee: Weil Bruno mir nicht gefällt! Weil er mit fich uneing iſt! Weil das Leben Hier nicht fo weitergehen fann! Kurz ... du weißt, ich bin feine große Briefjchreiberin. Einen andern hatte ich nicht, da wandte ich mich an dich.

Marenholdt: Du fiehft, ich bin da und vielleicht, wie gefagt, nicht mit leeren Händen.

Dorothee (mie Bit in den Garten): Stil! Er fommt! ... Kannſt du mir’s nicht fchnell noch jagen?

Marenholdt: Du wirft es ſchon erfahren.

Dorothee (opfigürteind: Eine wichtige Nachricht?

Marenholdt aägemdy: D Neugierde! ... Nimm an, ich bin auf die Welt gelommen, um Bruno wichtige Nachrichten zu bringen. Das ift ein Beruf wie andre,

Wiegand dit die Gartentreppe heraufgefommen, tritt in den Gaal, zu Marenholdt): Nun? Wie gefällt dir dein Zimmer? Bift du zufrieden?

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 301

Marenholdt: O! Wunderfhön! Der Blick nach dem Gee und den Bergen ift primal Da begreif’ ih, daß ihr euch wie im Märchen vorkommt und nicht fortwollt!

g ür GEN (erfcheint links hinten mit einer Weinflafhe und Gläfern auf einem Tablett, ruft ſchon in der <ür): In der Küche zanfen fie fich wie verrüdt! 's Bärbeli hat dem Aferl eine runtergehauen, Aferl hat den Feuerhafen genommen ...

Dorothee: So eine Bande! Na wartel (Sie nimmt Jürgen das Tablett ab.) Weshalb bringt Bärbeli das nicht? (Sie trägt das Tablett zu einem Tiſchchen rechts vorn.)

Zürgen (ft lints Hinten nahe der Tür ftehen gebtienen): Weil fie feine Zeit hat! Weil fie fi durchhauen müffen! (Man bört Durch die Halb offene Tür fernes Geteif.)

Marenholdt: Viel Temperament!

Dorothee: Das gibt’3 bei ung alle Tage! Keilerei und Tanzvergnügen! Natürlih! Man muß ja die Mädchen zum Bewußtfein ihrer Menfchen- würde bringen!

Wiegand (seäsger): Das verftehft du nicht! Das find eben noch die Eierfchalen der früheren Sklaverei!

Dorothee: Ich werde ihnen bie ——— ſchon abklopfen! Eie

läuft zur Tür links, von wo jetzt das Gekeife lauter ert

Wiegand (aufsraufend): Beedle Maul halten! laß ich fagen, fonft komm' ich und bring’ fie zur Raifon!

Dorothee: Nötig tät's! ESie Läuft hinaus.)

Zürgen: Jetzt fteigt Mutter ihnen auf den Ropf! Das muß ich mit anfehen! (Er fäuft hinterher, die Tur wird gefchloffen, das Gekeife Hört bald auf.)

Wiegand mie Heftigen Schritten auf und ad): Menfchenpad! ... Wann wird das mal erzogen werden!

Marenholdt: Meinft du, daß es fich überhaupt lohnt?

Wiegand: Man kann fie doch nicht fo laflen. Man muß fie doch mal herausholen. Schon im eigenen Intereffel Der Übergang ift ja nicht grade erfreulich.

Marenholdt: Ind dauert auch ein bifichen lange.

Wiegand: Die Entwidlung vom Höhlenmenfchen bis heute hat noch länger gedauerf. (Cr tritt zum Tiſch rechts vorn, ſchentt die Gläſer vol.)

Marenholdt: Dann find’ ich, follten wir ung erft recht nicht über- eilen. Dann hat e8 ja Seit.

Wiegand: Rauchft du? Er bietet ihm feine Taſche an.)

Marenholdt: Eine Zigarette, wenn du erlaubft! (er nimmt eine Zigarette, zündet fie an.)

Wiegand (erhest fein Sad): Trinken wir, alter Freund! Trinken wir!

Marenholdt cesento): Alſo auf den Fortfchritt der Menfchheit, wenn du abfolut mwillft!

Wiegand: Ab bah! Auf Vergeffenheit! Auf weiter nichts!

Marenholdt: Na, der Trank entgeht ung ja nicht. cer trintt, fege ſich in den neben ihm ftebenben Korbſeſſel.)

Wiegand (fest nd evenfans: Wie ſchmeckt dir der Wein?

Marenholdt: Ausgezeichnet! Wohl Eigenbau?

Wiegand: GSelbftgezogen! Gelbftgefeltert! Gelbftgelagert!... Ja, die Mutter Erde! In der täufcht man fich nicht. Alles andre, die Menſchen ... nal Die Erde ift ehrlih! Die Erde ift zuverläffig! Sie

302 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

gibt einem wohl mal einen jchlechtern Jahrgang. Gut! Aber fie lügt einem nichts vor. Man kann ihr glauben.

MarenHoldt (na einem Augenblich: Ihr baut bier viel Wein?

Wiegand (veuter nach links in den Garten): Dort hinten, das find alles Reben. Und Obft natürlich.

Marenholdt: Wirklich ein prachtvolles Befistum! ... Haft du dir dag mal träumen lafjen?

Wiegand: Wie follt! ih! ... Und wäre fie nicht gemwejen ...

Marenholdt: Deine Iugendfreundin?

Wieg AND (seigt auf ein ötbild an der rechten Wand): Dort hängt ihr Bild! Du haft fie ja auch gefannt?

Marenholdt: Flüchtig! Du brachteft mich einmal mit ihr zufammen.

Wiegand: Gie hatte jahrelang mit einem reichen Jungen gelebt. Pöglich ftarb der, wurde überfahren oder ſowas, und hinterließ ihr das ganze Vermögen. Damals lernte ich fie kennen. Und beinahe zwanzig Fahre fpäter werd’ ich ihr Erbe! ... Wär’s nicht fo vertrackt, man könnte an eine Vorſehung glauben!

Marenholdt: Waren denn feine Verwandten da?

Wiegand: Ganz entfernte nur! Die hatte fie mit Legat abgefunden.

Marenholdt: Sie muß dich doch ... ziemlich gern gehabt haben!

Wiegand werfonnen): Vielleicht! ... Vor langer Zeit!

Marenholdt: Und es war nicht Bedingung, daß du das Geld hier in diefe Gründung fteckteft?

Wiegand: Nein! Das war mein freier Wille! Ich hatte zehn Jahre geredet und gefchrieben: Gebt mir die Mittel, dann zeig’ ich euch was ich kann, zeig’ euch was fich aus den Menfchen machen läßt, wenn man die Natur zu Hilfe nimmt! Und jest, wo ich die Mittel hatte, follte ich auf einmal fneifen? Gollte wie der erfte befte Spießbürger nur an meinen eigenen Bauch denken? Nein, das ging nicht! Das wäre Verrat an mir felbft und an meinen Ideen gewefen! Deshalb hab’ ich das hier gefauft und jo langfam alles begründet ... was fich jest fo herrlich ausgewachfen hat!

Marenholdt: Sehr fiegesfreudig Hingt das grade nicht! Vorhin als ich fam, fprachit du anders.

Wiegand: Man denft eben nicht immer gleih. Manchmal glaubt man ja, man ſei auf dem rechten Wege und e8 kann noch alles gut werden. ber wenn man dann näher zufieht und das Fazit zieht ...

Marenholdt: Haft du nun alle deine Freunde ...

Wiegand Guter: Freunde!

Marenholdt: Sagen wir alfo Genoffen! Haft du die hier in deinem Haufe untergebracht?

Wiegand: Nein! Grundfäglich nicht! Die Bedürftigften natürlich ja! Die hab’ ich aufgenommen und tue was ich kann. Die übrigen wohnen bier jo herum, bei Bauern oder fonftwo. Ich ftelle Feld, Garten, Wein- berge zur Verfügung. Jedem gehört, was er aus dem Boden herauszieht. Aber das ift ja eben der GStreitpuntt! Einer von den Streitpunften! Gie find nicht zufrieden! Sie wollen mehr! Ich foll ganz für fie auflommen! Sch fol fie füttern! Soll womöglich auch mein anderes Hab und Gut mit

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 303

ihnen teilen! Es wird gewühlt und gewühlt! O man lernt die Menfchen fennen!

Marenholdt: Das ift das Leben! Man darf auch dafür dankbar fein! Wir haben ja nichts anderes als das Leben. Jetzt fage ich dir: Nimm’s als einen Uebergang!

Wiegand: Das kann ich eben nicht! Ich habe das Gefühl, es geht nicht mehr weiter! Es fteht mir nicht3 mehr bevor!

Marenholdt «äsemd: Einer, der noch nicht vierzig Jahre alt ift!

Wiegand (aßt Marenpomes Arm): Du bift älter als ich! Sag’ mir, iff das nur fo eine Mittagsmüdigkeit, die vorübergeht, und fommt noch etwas darnach, oder ift wirklich fchon alles zu Ende? Zu Ende, eh’ es noch richtig angefangen hat! Es ift ja nur ein Augenblid, den man gelebt hat! Soll nichts Neues, Großes mehr bevorftehen? Iſt wirklich fchon alles zu Ende?

Marenholdt: Vielleicht kann ich dir eine Art von Antwort darauf geben. Ich habe dich nämlich im Namen deines alten Zöglings zu fragen, ob du zu ihm fommen willft? Ob du fein Vertrauensmann, fein eriter Beamter ..... fein.... das Wort klingt dir hoffentlich nicht zu bart.... fein Minifter werden willft?

Wiegand (fast ihn an: Bon wen fprichft du?

Marenholdt: Von deinem einftigen Zögling. Bon Hans Ioachim. Du weißt, er ift vor einem halben Jahre zur Regierung gekommen.

Wiegand wie vorber): Und du fprichft in feinem Auftrag?

Marenholdt: Ja natürlih! Als tedklenburgifcher Grundbefiger hab’ ich doch auch ein Intereffe daran.

Wiegand: Das ift ftarll.... Das ift ſtark! cer laßt ſich im feinen Geffer zurüdfallen.)

Marenholdt: Wiefo? Er will frifche Luft in fein Land bringen. Er will Reformen einführen. Daß er dabei an dich denkt als dein Schüler... Weißt du auch, daß dein Buch über Bodenbefig und Arbeit feit Zahren auf feinem GSchreibtifch liegt? Auch fonft.... Wir haben viel über dich gefprochen, damals als du die große Landgenoffenfchaft organifierteft, und fpäter die Gefchichte bier.... Glaube mir, der Junge ift über alles infor- miert und weiß ganz genau, was er will!

Wiegand caus feiner Erftarrung Heraus): Und du?.... Was fagjt du dazu?

Marenholdt: Mein Gott, es hat fehon Fürften mit dümmeren Einfällen gegeben.

Wiegand (vieder faffungstos:: Ich fol Minifter in Tecklenburg werden?

Das ift ftark!

Dorothee (öffnet die Tür Links Hinten, tommt ſchnell herein): Die Afra müſſen wir entjchieden wegſchicken, Bruno! Das ift ja der reine Kobold in Men- fchengeftalt! Jetzt hat fie der Bärbeli eine ganze Düte voll Juckpulver binten ins Genid geftreut! (Ste ift näher gefommen, muftert verwundert Wiegand und Marenpome): Was habt ihr beide denn? Ihr figt ja da wie die Bildfäulen!

Marenholdt: Ich habe Bruno einen Antrag gemacht.

Wiegand: Marenholdt will mich für den Staatsdienft einfangen! Sch fol Minifter in Tecklenburg werden! Das kommt davon, wenn man Prinzen erzieht und mit Standesherren umgeht!

304 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Dorothee: Donnerwetter noch eins! Mir hat mal vor vielen Jahren ein altes Weib aus den Karten prophezeit, ich befomme einen Minifter zum Mann! Wie hab’ ich die ausgelacht!

Wiegand: Lach’ fie nur weiter aus! «8x ſtebt auf) Aus der Gefchichte kann nie und nimmer etwas werden! Das ift meine Antwort!

Marenholdt: Lebereile dich doch nicht! Den Korb kannft du mir ja immer noch geben.

Wiegand (tegt Marenhotvt die Sand auf die Sutter): Du bift immer ein großer Humorift gewefen, mein lieber Marenholdt! Ich kann mir denfen, wie der Auftrag dich gereizt hat. Der Wärmwolf, der an die Kette gelegt wird! Der alte Verſchwörer, der fi) an der Staatskrippe mäſtet! Hohngelächter der Hölle!l.... Nein, nein, fuche dir ein paflenderes Dbjeft für deine fatirifchen Einfälle!

Marenholdt: Du fagit wie Pofa, ich kann nicht Fürftendiener fein. Das ift fehr billig! Uber auch fehr unfruchtbar!

Wiegand: Soll ich mich zum Kinderfpott machen? Goll ich ab- ſchwören, was mir ein halbes Menfchenalter heilig geweſen ift?.... Nie mals! Niemald! «Er geht fepnell nach rechts in die Bücherei ab.)

Kurze Pauſe.

Dorothee: So ein Didfchäbel!

Marenholdt: Jetzt müßte ich wohl abreifen?

Dorothee: Unfinn! Wir haben dich eingeladen! Du bleibft bier!

Marenboldt: Gut! Richten wir ung auf den Belagerungszuftand ein. Sch werbe dich zur Bundesgenoffin!

Dorothee (qlast in feine Hand ein): Topp! Es gilt!

Marenholdt daceind): Ob deine alte Rartenlegerin wohl recht be- halten wird?

Vorhang.

Zweiter Aufzug.

Dark bei Wiegands Landhaus. Es iſt eine Art von Waldlichtung. Rechts und links anfteigende Hügel mit Büſchen und

Bäumen flanfteren einen flachen Keffel, deſſen Mittelpuntt eine halb verfallene, ſchwach plätfchernde DMarmorfontäne bildet.

Den Hintergrund fchließt in fanft gefchwungener Linie das Ufer bes Sees ab. Links hinten mit der Front gegen die Fontäne, fteht ein großes Leinwandzelt in der Art Der Jahrmarttsbuden. Rechts hinten, dem Zelt gegenüber, ein alter verwitterter Turm, ber auch als Wohnung bient. Da- neben befindet fich ein niedriges Bootshaus mit nicht fihtbarer Anlegeftelle.

Eine Ausfichtsbant fteht ganz vorne rechts auf der Anhöhe. Ein Waldweg führt von rechts ber an der Bank vorbei mit Stufen und Treppen in bie Lichtung hinunter und fest fih an der Fon- täne vorüberleitend nach links hinauf zwiſchen dem Zelt hinten und einer verwachfenen Laube, ganz vorn links, ins Dickicht fort. Diefer Weg Ift die Verbindung zwiſchen der Lichtung und dem Wieganb- ſchen Landhaus, das rechts in größerer Entfernung zu denten tft.

Ein paar bemoofte Marmorfiguren ftehen rechts und lints am Ranb des Gebölzes fowie hinten am GSeeufer. Eine vierfach geteilte Steinbanf umgibt das Baffin der Fontäne.

Die ganze Szenerie trägt einen verwacdfenen und verwilberten Charakter. Nach binten grabezu und rechts hinüber fchweift der Blick Über die unabjehbare Wafferfläche des Sees, Nur links binten, vom Zelt balb verbedt, zeigen fich jenfeltige Uferberge.

Es tft eine Woche nach dem erften Alt, am Nachmittag des Zohannistages. Kreuz und quer über den Plas weg find von Baum zu Baum Stride gefpannt, an Denen bunte Lamplons befeftigt find.

Auf der Steinbanf der Fontäne im Mittelgrund figen und lehnen in zwanglofer Gruppe Dräger, Rafumoff, Marquardt mit etwa fünf, fechs andern Mitgliedern der Bemeinfchaft. Dräger tft dünn, nervös, mit rötlihem Spigbart, Ende zwanzig. Rafumoff, podennarbiger, wilbbaariger, ſchwarzbrunetter junger Ruffe. Marquardt vierfchrötig, ungelenf, Typus des intelligenten jungen Handwerkers. Spaten, Haden und fonftiges Arbeitsgeug liegen zu Füßen der Sigenden. Bor ber Gruppe ſteht Dubsty in der Haltung eines, der foeben gefprochen hat.

Rafumoff au dubety: Bravo, Brüderchen! Das ift e8! Hat wer Geld, foll geben! Hat wer fein Geld, foll nehmen! Werd’ ich mich nicht fhämen, Hand aufzuhalten! Fühl' ich mich überall wie zu Haufe wo immer ift! Meine Heimat die Welt! Freie Männer wir alle! Und freie Weiber erft recht!

Stimmen (aus der Gruppe): Gehr richtig! Nafumoff hat recht!

Dubsky: Die Herren werden mir betätigen fünnen, daß ich mich bier ſtets ald Vorkämpfer der Intelligenz gegenüber dem Geldfad gefühlt, daß ich das Wettkriechen vor warmem KRalbsbraten, NRoaftbeef und Schinfen in Brotteig nie mitgemacht habe! (er Hätt inne, horcht nad rechtsy: Still! Hört man nicht Schritte?

Dräger (nad einem Augenblich: Mein, es war nichts!

Dubsky: E3 wäre fatal, wenn man überrafcht würde! (er ſieht ſich unbebaglich um.) 5

Marquardt: Weil grade von Kalbsbraten ift gefprochen worden, ich fag’ ganz offen, daß mir’s bei Wiegand und feiner Frau immer ver- flucht gut gefchmect hat, fo wahr ich Hans Marquardt heißen tu’!

Dubsky Gabhnefletſchendd: Es klagt dich auch Fein Menfch deswegen an, mein lieber Marquardt!

Marq uardt (chtägt mit der Fauſt auf die Steinbrüftung): Das wollt’ ich auch feinem geraten haben! Ich bin man 'n einfacher Tifchler gewefen! Durch

Suddeutſche Meonatöhefte. IT, 10. 20

306 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Wiegand bin ich hierher auf die Infel gefommen, er bat mir die Mittel gegeben, daß ich mich im Runftgewerbe hab’ ausbilden gekonnt, und fo bin ich was geworben und fteh’ ganz anders da! Goll ich nu vielleicht lügen und fagen, ich bin Wiegand keinen Dank ſchuldig? Hä?

Dräger (ibnarrem): Es komme doch alles darauf an, ob man die Leiftungen Wiegands gegen unfere Gefellfchaft Hier als eine Art von Wohltat oder als felbftverftändliche Verpflichtung anzufehen hat. Sch meinerfeits ftehe natürlich auf legterem Standpunft.

Dubsky: Ich halte deine Ausführungen juriftifch für fehr Lichtvoll, mein lieber Dräger.

Dräger: Wie ift Wiegand in den Befis der Infel bier gelangt? Durch einen Zufall! Nämlich durch Erbfchaft!

Stimme (aus der Gruppe): Erfchlichen!

Marquardt (entrüften: Das ift gelogen, behaupt' ih! Wer fowas fagen tut, derjenige fol’8 auch beweifen! Oder meiner Seel’, fo einer ift für mich ein ganz gemeiner Schuft! (Sqhweigen in der Gruppe.)

Dräger (isneu einfauiend): Ueber die Mittel, denen Wiegand feine Erb- fohaft verdankt, wollen wir bier nicht weiter fprechen! Nehmen wir an, es war der Zufall. Gut! Hätte der Zufall nicht ebenfogut einem andern unter ung paffieren können?

Stimmen: Sehr wahr! Sehr richtigl

Dräger: Und hätte dann nicht jeder von ung mit Dem geerbten Geld eine Infel der Seligen begründen fünnen?

Dubsky: Auch das ift ungemein tieffinnig, mein lieber Dräger!

Dräger: Ergo, was folgt? Die Infel hier und alles was drauf und dran ift gehört nach Naturrecht ebenfogut ung wie Wiegand. Wir find die rechtmäßigen Mitbefiger ..

Dubsky (Hat meprmats unruhig nach rechts gehorcht, unterbricht Dräger): Entfjchuldige, lieber Dräger! Diesmal find es unbedingt Schritte und Stimmen. Ich würde dringend raten, fich zurüdzuziehen. Ich habe feine Luft, jest einen Skandal mit Bruno Wiegand zu provozieren. (Man hört von rechts ber ferne Stimmen fi nähern.)

Ein Er lag Za, wollen geben! Wollen gehen! cine erpenen ſich, nehmen ibre Gerätfchaften auf.)

Marquardt (umsing): Das kommt davon, wenn man forwas hinter dem Rücken von jemand bereden tutl Wie ein Dieb in der Nacht muß man augreißen!

Dubsky Wer mit Dräger ſchon rechts Hinten tft, dreht fih um): Beruhige dich, . lieber Marquardt! Es ift ja ohnehin bald die Stunde des täglichen Waffer: tragens laut Anordnung unferes hoben Präfidenten. Ich werde mich meiner Difteltultur widmen gehen.

Erfter ISnfelgenoffe aum zweiten: Was mahft du? Ich hab’ im Weinberg zu tun.

Zweiter Infelgenoffe: Ich will mal fehen, wie's mit meinen Mohrrüben fteht. (Ste genen nach rechts Hinten.)

Dubsky ins zu den Mitgliedern zurücwendend): Ich danke den Herren für das Interefje und bitte um ftrenge Diskretion. Vielleicht findet fich bei der

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 307

Feftivität heute abend Gelegenheit, die Frage zum Austrag zu bringen. Ale rechts Hinten ab. Gleich darauf erfcheinen auf der Anhöhe rechts vorn Lothario, Marcipansty und Lamormain, ſchwer bepadt mit Rudjäden unb Detorationsftüden. Lotharto tft groß, vornüber⸗ oebeugt, fibelbogenartige Figur, gelichtetes Haar, unraflertes Geſicht, vernachläffigte Garderobe mit Reften von Eleganz. Marcipansty ift klein, ältlich, Tugelrund, Kopf kahl wie eine Kegelkugel. Lamormain blutjung, hohlwangig, glattraflert. Alle drei fteigen von der Anhöhe rechts den Waldweg (in Die Lichtung hinunter.)

Lothario ieige nah dem Leimvandzelt lints Hinten): Wir find am Platz, Genoſſen meiner Schmach! Port die Zinnen unferes Feftfpielhaufes!

Mareipansky umiiht fih den Schweiß von der Stirn): Hol’ dich die Peft, Direktor! Der berühmtefte Falftaff zweier Welten muß Dekorationen und Kuliſſen fchleppen wie der gemeinfte Padefell Man zeige mir den Kontrakt, der mich zu fowas erniedrigt!

Lothario: Man zeige mir den Mann, der mir auf der Stelle taufend Mark pumpt, und ich verfpreche euch ein Leben, Kinder, daß die Mitglieder der hochnäfigften Hoftheaterfchmiere fich wie die Bädergefellen gegen euch vortommen follen! Iſt es mir vielleicht an meiner gräflichen Wiege gefungen worden, dab ich nochmal Requifiten perfönlich über Land transportieren würde? Auf, Kinder!

Lamormain (ebt nad der üpe): Jal Mit der Probe hat es jest wirflih Eile!

Marcipansty: Mit Proben bat ed nie Eile! Die Vorftellung ift ja erft am Abend. Ich wette einen Hofentnopf gegen ein Sektfrühſtück, daß Lamormain feine Rolle ſchon wieder am Schnürchen hat!

Lamormain: Sa, ich lerne immer nachts. Da lernt ſich's am leichtejten.

Lotbario: Rollen lernen? Wird das immer noch gemadt?

Mareipansky: Von wen ift denn eigentlich das Feftfpiel? Wie heißt das Schwein?

Lamormain: Das ift doch wirklich unerhört! Es ift von einer Dame!

Mareipansky: Um fo fchlimmer! (Er Hat feine Rote vorgezogen): Moritura

beißt das Schwein! Ich wußte ja, ed war ein polnifcher Name! (site find währenddes nad) links Hinten gelangt.)

Lothario: Kommt, Kinder, wollen mal zuerft die Bühne zurecht machen! AUnſern Theatermeifter haben wir zu Haufe gelaffen! Der Mann

hat dreizehn lebendige Rinder zu verforgen! «Lite drei treten in das Leinwandzelt links Hinten, ab, Auf dem Waldbligel zur Linken erfcheinen Hebwig Bauer und Lanzinger. Lanzinger tft Mitte zwanzig, ſchmal, defadent, mit müben Bewegungen, elegant angezogen.)

Hebwig (die Lanzinger um ein paar Schritte voraus ift, als wolle fie nichts mit ibm zu tun Haben, dreht fih brüst um, muftert ihm tronifch von oben bis unten): Dann find das wohl auch ſchon die Früchte der berühmten Erbichaft?

Lanzinger (mit Bid an fih herunter): Der neue Sommeranzug? 9a, er figt ausgezeichnet! Auch das matte Oliv fteht fehr rund zu meinem Ton.

H edwig {tft in Die Lichtung hinuntergeſtiegen, bleibt an der Fontäne ſtehen): Früher brauchte man fich wenigstens nur über deine auffallenden Krawatten zu ärgern.

Lanziger: Iſt ed meine Schuld, daß meine Tante nicht eher ge- ftorben ift? Jetzt wo fie glücklich erledigt ift....

Hedwig: Fünf Tage liegt fie unter der Erde!

Lanzinger: Ja, jegt mach’ ich ernft! Mit den Krawatten hab’ ich angefangen. Test geh’ ich auf den ganzen Menfchen.

308 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Hedwig: Und der Gef und Reaktionär ift fertig! Pfui Teufel!

Lanzinger: Liebes Rind, jedes Wefen hat die ihm innewohnende Idee zu verwirklichen. Meine Idee ift....

Hedwig iberti): Zur komifchen Figur zu werben!

Lanzinger Geſieht feine Fingernägen: Wenn das meine Idee wäre, fo ließe fich auch nichts dagegen tun. Wer fragt denn das Weberfchiffchen, das fich abfpult, ob es ihm Spaß macht?

Hedwig: Das heißt alfo, es ift ganz gleichgültig, ob man Raub- mörder wird oder Spinoza?

Lanzinger: So ift e8! Der Raubmörber würde vielleicht auch gern Spinoza werden. Schon weil es bequemer ift. Uber feine Idee läßt es nicht zu. Geine Idee zwingt ihn. So geht meine Idee auf die volle Kon- gruen; der inneren und ber äußeren Individualität. Der Sommeranzug, über den du dich fo fehr echauffierft, ift alfo einfach ein Derivat meines differenzierten Nervenlebens, das ift doch Far wie Kloßbrühe!

Hedwig: Wo haft du denn das machen lafien? Doch nicht hier auf der Infel der Seligen?

Lanzinger: Du haft wohl Tinte getrunfen? Die Wollfäde, die man bier befommt, find höchftens was für Leute wie Rehbein oder Medardug Neumann.

Hedwig (nad rechts weitergedend): Als du die Wollſäcke trugſt, da warſt du ein Menſch, den man noch gern haben konnte. Jetzt..

Lanzinger (pr immer forgend): Ich habe nie Wert darauf in der Plebs unterzugehen. Ich fuche neue Formeln! Neue Senſationen! EGSie find den Weg recht# binaufgeftiegen, beiden an der Ausfictsbant ftehen.) Deshalb geh’ ich in die Großftadt!

Hedwig: Und das alles, weil du zu Geld gefommen bift! Deine Tante hätte auch was Befleres tun fünnen!

Lanzinger (fest ſich auf die Bank, ſchlägt die Beine übereinander): Meine Tante hätte abfolut nichts Beſſeres tun können! Ich werde mich der alten Dame auch dankbar erweifen. Sie foll einen hochmodernen Grabftein befommen. Ich fchreibe eine Konkurrenz für Neutöner aus. Beteilige dich doch daran!

Hedwig: Ich werde einen Grabftein für Dich machen in Form eines Geldſacks und darauf fchreiben, hierunter erftichte der Dichter Rudolf Lanzinger!

Lanzinger: Was verefelft du mir meine Erbſchaft! Hat fich denn dein Abgott Wiegand vor feiner großen Erbichaft gefürchtet? Hat er nicht das ganze ſchöne Geld, das ihm feine Freundin hinterließ, ruhig eingefteckt?

Hedwig cieidenisarrtih): Um es für feine Ideen nusbar zu machen! Um die Infel der Seligen damit zu begründen!

Lanzinger: Meinft du, ich werde mein Geld nicht ebenfalls für die Projektion meiner Ideen nugbar machen? Keine vier Wochen und ich habe mich von allen Senfationen peitfchen und von allen Lüften freuzigen lafjen! Ertafe ift nichts, was einem in den Schoß fällt! Zur Erftafe heißt es fich binauffteigern! Nur aus Taumel und Verachtung erblüht die gelbe Blume der Defadenz!

Hedwig: Alfo dann Glüd auf! Wann foll die gelbe Blume losblühen ?

Mar Halbe: Die Infel der GSeligen. 309

Lanzinger: Sobald ich das Geld der toten alten Frau flüffig ge- macht habel Hoffentlich in den nächften Tagen!

Hedwig: Adieu, Herr Lanzinger! Lafjen Sie ſich's wohl gehen auf Erden! (Sie tepre ihm den Rüden.)

Lanzinger (test aun: Warum Haft du nicht den Mut gehabt, die KRonfequenzen zu ziehen? Hätteft du getan, was alle tun....

Hedwig: Ich bin nicht fo eine! Merk' dir dag!

Lanzinger (wäumeriih): Eine Individualität wie meine läßt fich ja vielleicht überhaupt nicht feſthalten ....

Hedwig caufgerihten: Es befteht auch fein Bedürfnis, Individualitäten wie deine feftzuhalten! Leb’ wohl! «Sie gebt ſchnell rechts ab.)

Lanzinger fee ipr kopfſchütteind na): Fatal fol ein Differenzierungs- prozgeß! Aber unvermeidlich! (Er zude mit den Achfeln, geht pfeifend ebenfalls rechts ab.)

(Gleichzeitig fommen von rechts Hinten ber Finfterlin und Frau Lindenblatt in eifrigem Geſpräch. Finfterlin ift ein großer fhöner Mann mit Chriftustopf, wallendem Haar und Bart, in langen weißen Talar gehlillt, Sandalen an den nadten Füßen, eine hohe, fpige, myſtiſch bemalte Prieftertiara auf Dem Kopf. Grau Lindenblatt ift eine zarte Bierzigerin mit grau meliertem fhönem Haar unb immer noch anziehendem Geficht.)

Frau Lindenblatt (auf Finfterlin einfpredend): Ich weiß nicht, was man immer gegen das Uelterwerden jagt. Eine reife Frau kann doch einem erfahrenen Mann taufendmal mehr bieten als fo ein junges Gänschen, das noch von nichts eine Ahnung hat!

Finfterlin (treicht ſich nachdenklich den Bar: Du denfft zu hoch von den Männern, liebe Lindenblatt! Wir find nichts als die Vollſtrecker des Gat- tungswillend. Die Natur geht auf die Erhaltung der Art. Das ift alles.

Frau Lindenblatt: Bei DurchfchnittSmännern, Meifter! Uber

fpreche ich denn von Durchſchnittsmännern? (Sie gehen langſam über den Play nach links hinauf.)

Finfterlin (immer dartſtreichend: Gewiß, ideale Naturen werden ja das Inftinttmäßige und Untermenfchliche des Vorganges durch höhere Geiftig- feit zu abeln fuchen. Künftlernaturen zumal!

Frau Lindenblatt: Ich dächte, wer den „fterbenden Buddha“ ge- malt und die Blätter „vom freien Tode“ radiert hat....

Finfterlin: Nun, wie gefallen dir meine Blätter vom freien Tode? Sage mir aufrichtig deine Anficht! Du weißt, ich habe mich jegt ganz auf die kalte Nabel gelegt...

Frau Lindenblatt: Wundervoll grauenhaft find fiel Alpdrud kann man davon befommen! Träumen fann man davon!

Finfterlin (ramt in feinem Kaftan): Ich habe eine neue Serie von mafo- iftifchen Sachen bei mir. Wenn e8 dich intereffiert? (Cr unterbricht fi, flieht zum Stmmei au: Aber was wird aus meinem Nachmittagsluftbad? Meine Sonnenuhr drüben fagt mir, daß es Zeit ift!

Frau Lindenblatt: Nimm doch dein Luftbad hier, Meifter! Ich jege mich unterdeffen auf die Bank und ftudiere deine neuen Sachen.

Finfterlin: Der Plag ift mir zu beengt bier! Die vielen bunten Lampions benehmen mir den Atem!

(Man bört von rechts ber aus bem Wald jodeln und laute Rufe):

Holtriaho! Holtriaho! Bruno Wiegand!.... Bruno Wiegand! Holtriaho!

310 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Finfterlin: Da kommen ja auch Leute! Nur fehnell, fehnell fort! Daß ift der grobe Bildhauer! Man hört ed am Sodeln! Ich bin jegt nicht in der Laune, banale Gefpräche zu führen!

Frau Lindenblatt (mir Erteugtung): Meifter, ich weiß eine prachtoolle Stelle hier oben mitten im Märchenwald! Ganz einfam und gar nicht weit von bier!

Finfterlin: Stört ung dort auch niemand ? Meine Sachen wollen mit Andacht genofjen fein!

Frau Lindenblatt ahn nach unts in den Ward ztepend): Komm’ nur! Komm’!

(Beide verfchwinden links. Auf dem Waldweg rechts kommen gleich Darauf Dorothee und Kafper ge- gangen. Kafper tft groß, breitfchuftrig, ungefchlacht, bionder Riefe mit Vollbart.)

Dorothee ma umſehend): Mein, hier fcheint er nicht zu fen. Man fieht feine Menfchenfeele!

Kafper: Aber Stimmen hab’ ich unbedingt gehört! «Sie fteigen die Stufen des Waldwegs in die Lichtung hinab.)

Dorothee: Alfo du fprachft von Dräger.... Ja! Mir war er immer wiberlich! Uber natürlich auf die Frau wird nicht gehört! Ihr müßt ja alles befjer willen, ihr Herren der Schöpfung! Du meinft alfo...?

KRafper: Ich warne euch vor dem DBengel! Glaubt meinem Wort! Du und dein Mann! Dubsky ift ja der Anftifter ..

Dorothee ceintauend): Hoffentlich paffiert heute beim Feſt nichts. Vor einem Jahr wars nahe dran, daß ihr euch gehauen habt! Man hat ſchon immer Angſt, einer bringt den Revolver mit und ſchießt!

KRafper at dröpnend): Keine Sorge! Auf der Inſel der Seligen wird nur gehauen! Schießen verboten!

Dorothee: Glaubft du denn, daß Dubsfy und Dräger und die was vorhaben? Vielleicht heut’ beim Feft?

KRafper: Es liegt was in der Luft! Du weißt, die Gefchichte mit der Gütergemeinſchaft .. . . Dubsky hat das fehr fein eingefädelt! «sie find

unten in ber Lichtung angelangt, fteben an ber Fontäne.)

Dorothee wnrupi: Wo Bruno nur fteden mag? Er follte doch mit Marenholdt hierher gegangen fein?

KRafper weist nach unte hinauf: Vielleicht da oben im en (&r ruft aus voller Bruft): Bruno Wiegand! Bruno Wiegand! Holtria... hol Holtria... bo! (Das obere Turmfenfter im Hintergrundbe rechts wird aufgeftoßen.)

Medardus Neumann (ftredt feinen ftruppigen Kopf heraus, Er iſt anfangs Fünfzig mit verwitterten Zügen. Das ergrauende einft bunfle Saar fällt ihm wire um Kopf und Eihultern. Seine Toilette ift mangelhaft, offenes Hemd, alter ſchäbiger Rod. Er lehnt fi aus dem

Genfter, ruft herunter): Wer ruft bei nachtfchlafender Stunde! Wer mordet den Traum der Mitternacht! Er fei verflucht! Zu fiebenfacher Wiederfunft in dreizehn Ewigfeiten fei er verdammt!

Dorothee (inaufrufend): Guten Morgen, Medardus Neumann! Hier unten haben wir vor drei Stunden Mittag gegeffen!

Medardbus Neumann: Was mahnft du mich an meine Leiblichkeit, fchillernder Erdenwurm! Was fehleuderft du den Begriff des Mittageflens wie eine Brandfadel in mein zeitlofes Turmdaſein!

Dorothee (mie voryer): Es fteht alles am bekannten Platz, Milch und Obft und Brot! Und vergiß nicht dich vorher zu wafchen!

Medardus Neumann (hob aufgerichtet in der Fenfteröffnung): Iſt heut’

Mar Halbe: Die Inſel der Geligen. 311

der Tag der monatlichen Säuberung? Steht Vollmond in eurem Kalender? Oder was führſt du ſonſt für Gründe an, ungeſtüme Mahnerin?

Dorothee: Du wirſt doch nicht ungewaſchen zum Feſt kommen?

Medardus Neumann: Für mich iſt jeder Atemzug ein Feft! In meinem Reich bier oben berrfcht ewiger Feiertag! Soll ich darum unaus- gefegt am Wafchnapf ftehen? Soll ich meinen armen Leib, dies Gefäß ber Sterblichkeit...

Dorothee: Schäm’ dic was! Ich feh’ dich acht Tage nicht an!

Medardus Neumann: Wohl denn, leichtgefchürgtes Sinnenweſen! Um deiner Rofenwangen willen feis getan!

Dorothee: Aber mit Seife! Hörft dul Mit richtiger echter Seife!

Medardus Neumann (fatter die Bände): Vater, Dein Wille gefchehe!

. Was ift denn das für ein fo ganz bejonderer Feiertag, den ihr heute da unten begeht?

KRafper (rufe Hinauf: Bift du denn ganz aus der Zeit? Heut’ vor drei Sahren .... . Du mwarft doch auch dabei!

Medardus Neumann: Wann wär ich nicht dabei gewefen! Iſt irgend jemand, der irgendwann einmal nicht dabei gewefen wäre? Von Ewigkeit find wir dabei gewejen und in Ewigkeit werden wir dabei fein! Aber du haft recht, Füngling! Heute vor drei Jahren tauchte die Infel der Geligen aus dem Ozean des immer und ewig Gemwefenen auf! Die Sonne des goldenen Zeitalter ftieg über den blauen Fluten des Welt: meered empor! Ihr habt wohl getan, daß ihr den Pla da unten mit bunten Wimpeln geſchmückt habt!

Dorothee: Das find ja gar feine Wimpell Das find Ballong, die an ber Leine feftgemacht find!

Medardus Neumann (wieverhote fhwermürtg): Ballon, die an der Leine feftgemadt find! .... Go laßt fie doch fliegen! Schneidet fie ab und fchieft fie zu meinen freien Höhen empor, ein Heer von bunten Sommervögeln!

Dorothee: Sie fallen ja auf die Erde, wenn man fie abfchneibet. Verſuch's doch felbft!

Medarbus Neumann (nneny: Ich müßte die Treppe hinab und nachher wieder herauf... . . Ruft mich fpäter! Ruft mich, wenn die Fledermaus fchwirrt und der Irrwifch tanzt! Gute Nacht! (er ſchlagt das Fenfter zu.)

Dorothee (ruft ipm nah): Schlaf’ wohl, alter hartgefottener Zigeuner!

Rafper: Der feit 30 Jahren feinen roten Heller in der Tafche gehabt hat! And fo einer lebt! So einer eriftiert! Nach Sahrhunderten wird ed noch heißen, da war mal einer, der hat das Geld abgefchafft gehabt! Einen einzigen hat e8 gegeben, vor Jahrhunderten! .... Und den Menfchen bat man gefannt! Mit fo einem Menfchen hat man in einer Zeit gelebt! KRoloffal! KRoloffal!

Dorothee (abe ihn an der Sutter): Kafper! Kafper! Wo bift du?

Rafper (veibt fi die Stirn, fleht um fich): ga, wo bin ih? .... Da drüben ift der Märchenwald, und dies iſt Sohannistag! Jetzt fahr” ich

auf den See und ftürz’ mich in die Flut! Heut abend heißt es frifch fein!

& winkt ihr v windet nach rechts hinten. an bört ibn ee einmal in der Ferne jobeln 5 links De an ———— 2834 en und Marenhold $y 5

312 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Marenholdt: Nimm an, lieber Freund, Tecklenburg läge auf dem Mond! Was Hältft Du davon? Ein Minifterpoften auf dem Mond? Reizt dich das nicht?

Wiegand: Mach’ dich nur luſtig!

Marenholdt: Nein! Nein! Tecklenburg liegt nämlich wirklich auf dem Mond. Ich muß es doch wiffen. Ich fomme ja gerade von daher. Eine niederträchtige Reife, fag’ ich dir! Aber wenn man erft oben ift, das befte Klima von der Welt!

Wiegand (Gebt in die Lichtung Hinunter, ruft Dorothee zu): Was gab’8 denn mit Rafper?

Dorothee gachh: Er war dabei, eine Liebeserflärung zu machen.

Wiegand (in die Lichtung Hinunterfteigend): Wem? Dir?

Dorothee (feiertih): Der alten VBogelfcheuche da oben! Eurem Erz zigeuner, eurem Medardus Neumann!

Marenholdt cevenfalis Hinunterfteigend): Soweit ich das Regime von Medardus Neumann überfehen kann, dürfte e8 für ihn drei Uhr morgens fein. Er dreht fich gerade auf die andere Geite.

Dorothee: Stimmt! Wir hatten ihn aufgewedt. Aber es half nichts. Er fchnarcht ſchon wieder.

Marenholdt: Die Philofophie hätte dir das vorausfagen können. Der Charakter des Menfchen ift indelebilis, unveränderlich. Das merkt

man, wenn man einen alten Freund nad Jahren wiederfieht! «er tiopft Wiegand lächelnd auf die Schulter.)

Wiegand (chuttelt ven Kopf: Und ihn, ach; wie anders findet! Wie unendlich viel anders! Daß mir dein Angebot überhaupt denkbar erfcheint, daß ich mich innerlich damit befchäftige, mich damit abzufinden fuche. . . .

Marenholdt: Geltfame Leute, ihr Zukunftsapoſtell Man bringt euch einen Minifterpoften und ihr werft einen die Treppe hinunter Man zeigt euch einen Weg, wie ihr ins Freie fommen könnt, und ihr fchließt euch in eure Studierftube und pauft die Paragraphen des dritten Reiche. Man gibt euch Mittel an die Hand, eure Ideen fruchtbar zu machen und ihr ftopft euch die Dhren zu und fchreit nur immer: “Freiheit! Freiheit, die ich meine!

Wiegand: Meine Ideen fruchtbar, lebensfähig machen . . . . Wirfft du fchon wieder den Angelhaken aus?

Marenboldt (täcett, ftreicht ſich das Kinn): Ob, ich habe mich mal fehr gut aufs Angeln verftanden! Ich bin ein großer Angler vor dem Herrn gewefen!

Dorothee can die Steinbant vor der Fontäne gelehnth; Mette Fiſche mögen da angebiffen haben!

Marenholdt (immer tägernd): Fiſche aller Arten, fchöne Freundin! Ganz gewöhnliche Sumpfbarfche und ganz delikate Bachforellen!

Dorothee: So durcheinander? Nicht wahr?

Marenholdt: Wie das eben beim Angeln geht. Man kann fich ja nicht ausfuchen, was anbeift. Ja, wenn man ed in der Hand hätte...

Dorothee: Der Renner muß e3 doch fchon beim Anbeißen merken?

Marenboldt: Ach, befte Freundin, über wen fo die richtige Angel-

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 313

leidenfchaft fommt, der fragt nicht viel, was er fängt! Dem wird das Angeln bald zum Gelbftzwed.

Dorothee: So einer bift du alfo auch gewefen?

Marenholdt wie: iacelnd): So ein richtiger Angler! Als ich noch nicht das Reifen in den Gliedern hatte!

Dorothee (au die Fäufte gegen ipn): Oh, ihr Bande, ihr, ihr Hundebande!

Marenholdt (asfezutend): C’est la guerre, ſchöne Freundin! C’est la guerrel (r zuct zufammen, faßt nach der rechten Hüfte.) Siehſt du, es ift ja auch nicht ungeftraft geblieben, es zwickt mich ganz beträchtlich!

Dorothee: Kommt das vom Angeln ber?

Marenholdt: Vom Angeln und vom Sagen und von ähnlichen Sporten! Man konnte fich nicht immer fo in acht nehmen! Es war doch manchmal etwas luftig....

Wieg and (tft auf- und abgewandert, ganz mit feinen Gedanken beichäftigt, bleibt vor Dorothee ftehen): Bift du wieder in deinem Fahrwaſſer? Ich habe zwar nicht zugebört ...

Dorothee: Er hat zwar nicht zugebört, aber irgendwas muß ich doch wieder verbrochen haben!

Wiegand (nad einem Augenblick zu Marenhoit): Wärft du gelommen, ebe ih bier anfing! Wer weiß! Damals war ich noch jung und friſch und voller Mut. Was ich anfaßte, darauf lag das Glück.

Marenholdt: Es folgt alles ſeinem Geſetz, du mußteft erſt dein Penſum hier abſitzen.

Wiegand: And die Quinteſſenz vom ganzen lautet: Meine Ideen waren tot geboren! Mein Leben iſt ein einziger Schiffbruch geweſen!

Marenholdt (nah kurzer pauſe Wie nennt ihr doch den Wald, in dem wir vorhin faßen? Ihr habt ja einen eigenen Namen dafür.

Dorothee: Den Märchenwald meinft du?

Marenholdt: Ganz richtig! Den Märchenwald.

Wiegand: Wir haben ihn fo getauft, weil das Licht fo feltfam zwifchen den hohen Stämmen bereinfällt ...

Marenholdt: Ja, ja, man hat das Gefühl, man fann darin ver- ſchwinden und nie wieder auftauchen.

Wiegand: Oder nach taufend Sahren! Wenn die Zeit fich erfüllt bat! Uber dann ift man grau und alt und zerfällt zu Zunder in dem QUugen- blid, wo man wieder and Licht fommt!

Marenholdt: Der Mann bift du felbft, lieber Freund.

Wiegand (ase kurz aud: Ih? Wiefo? Wir find ja glücklich aus dem Wald heraus, er reicht nur bis dorthin. «Er deutet nach Links Hinüder.)

Marenholdt uägen: Mir feheint, er bedeckt hier die ganze Infell Und du ſteckſt mitten darin! Wo das Licht am feltfamften um die uralten Stämme fpielt, da hält’s dich umfangen!

Wiegand: Mag fein! Dann bin ich eben für eure Welt verloren!

Maren holdt war fih auf die Steinbrüftung der Fontäne neben Dorothee niedergelaffen, fHlägt die Beine fibereinander, ſieht Wiegand bedeutfam an): Eine Rettung gibt es doch!

Wiegand: Und?

Marenboldt: Wenn der Freund, der den andern verfchwinden ſah,

314 Mar Halbe: Die Infel der GSeligen.

das Zauberwort kennt und ed dem Freunde in den Wald nachruft, dann öffnet fich das Didicht, die Niefentannen treten auseinander und geben den Verlorenen frei.

Wiegand: So ganz ohne Löfegeld?

Marenboldt: Vielleicht mit einem nachdenklihen Zug um Mund und Augen! Weil er ja in den Minuten darinnen mehr gefehen und er- fahren hat, als mancher fein ganzes Leben lang.

Wiegand: Ja, der Kopf brummt mir, wenn ich zurücdenfe! Weit, weit zurück! igentlih vom erjten Anfang an! Es hat alles fo einen traumhaften Charakter! Meine ganze Vergangenheit erfcheint mir fo un- wirklich, fo unzufammenhängend, ald ob das gar nicht ich wäre!

Marenboldt: Kein Wunder! Du haft Hofluft geatmet! Du bift Miffionar im Drient gewefen, darnach AUnarchift, Staatsverjchwörer, Geften- ftifter, Bücherfchreiber, Dichter... . .

Dorothee: Ehemann, Vater, Geliebter....

Marenholdt: Diefe drei nur im Nebenamt! Das zählt nicht mit. Uber jedenfalls haft du eine Vielheit der Berufe vereinigt wie felten einer!

Wiegand: Ga, jedes für fi) könnte wohl ein Leben füllen. Daß ich das alles zufammen war, das eben ift das LUnbegreifliche für mich, das gibt mir das Gefühl, als fei meine ganze Laufbahn fo ein Weg durch den Märchenwald gemwefen!

Marenholdt: Und jest fügft du als neue, ich will nicht fagen ala legte Poftftation, das Miniftertum in Teeflenburg hinzu und kommſt als reifer Mann in die Welt zurüd, von der du vor zwanzig Jahren mal aus- gegangen bift. Dann hat fich der Ring gefchloffen. Vorläufig!

Wiegand: Meinft du, das Zauberwort ift ſtark genug, mich aus dem Wald zu rufen?

Marenholdt: Unbedingt! Ein Mann wie du braucht Ellenbogen- freiheit! Ein Mann wie du muß wirken fönnen! Auf wen willft du wirken? Auf Menfchen doch!

Wiegand uasg: Sind das hier feine Menfchen?

Marenholdt: Nein! Mit wenig Ausnahmen. Es find Gehirne! Es find Denkwerkzeuge! Musfelapparate! Kaumafchinen! Gefchlechts- funktionen! Alles möglihe! Aber es find feine Menfchen! Ich gebe zu, einige haben Wis, Geiſt, Phantaſie! Es iſt ſehr amüfant, mit ihnen ein paar Tage zu haufen, aber mit ihnen mein Leben verbringen, dies koftbare einzige Leben.... Bewahre mich Gott davor!

Dorothee (art in die Hände): Bravo, bravo! Du bift mein Mann!

Marenholdt: Gie leiden bier alle an irgend einer Hypertrophie, meift des Gehirns! Es fehlt ihnen das, was Sie in höherem Sinne zu Menfhen macht! Die verbindende Melodie fehlt ihnen! Es ift lauter Inftrumentation! Man kann auf einer viel niedrigeren Stufe ftehen und doch ein Menfch fein. Solche wirft du genug da draußen in Tedlenburg und anderswo finden. Das ift dad Material, das du brauchſt.

Wiegand (dat mit zunehmender Bewegung zugebört, ald wolle er ihn unterbrechen): Umgekehrt! Umgekehrt! Was war denn meine Idee anders, als folche, Die feine Menfchen find, feine echten, wahren Menfchen, dazu zu machen! Des-

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 315

balb rief ich ja alle dieſe Hypertrophifchen, wie du fie nennft, diefe Gehirn- mafchinen und Denfapparate, und führte fie hierher in die Einfamfeit und brachte fie in Berührung mit der Natur, mit der alten, großen Mutter, mit dem Boden, mit der Erde! Hinunterzufchrauben verjuchte ich fie, nicht hinauf! Ihre Organe erft mal wieder mit fich felbft in Einklang zu bringen, die körperlichen und die geiftfigen, und fo aus den Gehirnautomaten wieder befeelte Wefen zu machen, das war die Idee!

Marenholdt: Ich denke, fie war totgeboren? Sie hat Schiffbruch gelitten?

Wiegand: Ah, du willft mich feftnageln!

Marenholdt (anfeizudeny): Deine eigenen Worte!

Wiegand (sunehmend lebhaft, ald habe er ſich wiedergefunden): Sch fage dir, nagele mich nicht feft! Ich laffe mich vielleicht mehr gehen, als gut ift! Solche mutlofen Augenblide hat jeder! Uber wenn ich an all das dente, was ich hier trogdem fchon angepflanzt habe und noch weiter anpflanzen fönnte....

Dorothee reinfauenn):; All die Rohlrabi- und Gelbe-Rübenbeete!

Wiegand ars tomiih): Weib, mach’ mich nicht rafend!

Dorothee cevenioy: Du machft mich rafend! Einen Mann zu haben,

ber alle Tage zwanzigmal von einem Ertrem ins andere umfchlägt! Gechts oben auf dem Waldweg fommen die Moritura, hinter ihr Dubsty in raſchem Schritt. Die Morkitura Ift Ende zwanzig, ſchlank, ätherifch, in wallend phantaftifhe Gewänder gefleidet.)

Die Moritura (aufgeregy: Ein Skandal wär’s, wenn die Probe fchon angefangen hätte! Du hätteſt auch beſſer aufpaffen fünnen! «sie bleibt ftehen, um Atem zu fhöpfen.)

Dubsky (äpnefterihend): Mir fcheint, ich bin nicht bloß auf die Welt gelommen, um aufzupaflen, ob Schmierentomödianten vorbeigehen oder nicht! Sch habe an Wichtigered zu denken!

Die Moritura: Dann verfpricht man es nicht, wenn man es nicht halten will.

Dubsty: Dann verfpricht man e8 gerade! Ich habe in meinem ganzen Leben immer nur das gehalten, was ich nicht verfprochen hatte!

Die Moritura (oütend mit dezeichnender Befte): Sch verfpreche dir auch etwas, aber ich halte es!

Doro tbe (bat ebenfo wie die beiden anderen unwillkürlich nach oben geborcht, legt den Finger an den Mund): Das find Dubsky und die Moritura! Die zanken fich wieder.

Dubsky (ciſt an den Rand der Höhe getreten, hat einen Blick hinunter geworfen, wendet ſich zur Moritura, halblauty; Daft du die Klopfpeitjche nicht gleich bei dir, es könnte eine hübfche Szene geben! An Zufchauern fehlt es ja nicht! (Er wendet ſich zurüd, ruft hinunter): Hat einer von den Herrfchaften eine Ahnung, ob die Künft- ler des Stimmungsenfembles fehon drüben auf der Bühne find?

Dorothee (uft pinau: Ja, ein paar find fihon da. Gie haben fich mit den Kuliſſen abgefchleppt.

Die Moritura (mad oben zu Dubsty, mit den Füßen aufftampfend): Alſo Doch ... Das wird dir angefreidet, du Stiefel! «ste Läuft an Dubsty vorbei, die Stufen hinunter.)

Wiegand (u vorothee): So, die find ſchon da, das wußt ich ja gar nicht.

Die Moritura (ift unten angelangt, faßt fih ans Her, atmet Frampfhaft): Ad, mein Herz! Mein armes, abgearbeitetes Herz!

316 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Dorothee: Warum läufft du fo, wenn du es nicht vertragen fannft? Setz' dich doch Hin! (Sie weiſt auf die Steindant.)

Die Moritura: Aber die Probe bat ja fchon angefangen! Gie werden mir mein Werk verhunzen! (Sie fährt auf Wiegand ios) Hätteſt du dich wenigftens darum gekümmert! (Sie fintt auf die Steindant.) Ach, ich kann nicht mehr!

Wiegand cm Begriff zu gehen, tar): Ruhig Blut, liebe Moritura!

Schlimmftenfalls wird eben von vorne ererziert. Er geht nach hinten links, ver- ſchwindet tm Zeit.) "

Die Moritura: Ruhig Blut! Ruhig Blut! Mein Werk ift mein Rind! Es handelt fih um mein Kind!

Dorothee: Wenn du dich nur halb fo viel um deine beiden wirf- lihen Kinder gefümmert bätteft!

Die Moritura (immer nah Atem ringend): Die find wohl aufgehoben, die beiden Heinen Erdenmwürmer!

Dorothee: Ja, ausgezeichnet! Im Findelhaus!

Die Moritura: Das Leben ift ein Paffionsweg, Leiden bleibt nie- mandem erfpart! Uber es gibt noch höhere Sorgen als die um Kleine Rinder! Mein Wert! Mein armes, unfchuldiges Werk! (Sie fpringt auf.)

Dubskhy Mer der Moritura gefolgt tft und zähnefletſchend neben ihr ſtebth; Willft du dich nicht hinüber bemühen, feine zwanzig Schritte, und du bift auf der Bühne! (Er macht eine galant einladende Gebärbe.)

Die Moritura (auffaprend): Hohn auch noch? Wer ift ſchuld als du, daß ich zu fpät komme! Wozu fest man dich auf die Bank, wo die Schau- fpieler vorbei mußten, wenn du nicht aufpaflen fannft?

Dubsky: Ich hatte Durft, ich mußte etwas trinken gehen.

Die Moritura: Wenn du nicht Alkohol einpumpen Fannft, ift dir nicht wohl!

Dubsky: Der eine pumpt Alkohol ein, der andere Brom in ganzen Wagenladungen! Ich ziehe Alkohol vor.

Die Moritura (fast fit an den Kopf: Gib mir die Aethertropfen! Mir ift Schlecht von all dem Aerger!

Dubsky Giebt ein Fläſchchen aus der Taſche, reicht es ihr): Bitte!

Die Moritura: Den Zucker haft du natürlich vergeffen! An alles muß

man auch denken helfen!..... Ach wie das fchwindelt! Wie dag fchwindelt! (Sie faßt mit der Linfen nach dem Kopf, fest mit ber Rechten die Flafche an.)

Dubsky dust in der Tafhe): Ein Stüdchen muß fich noch irgendwo ver- frochen haben.

Die Moritura (dar gerrunten): Laß nur, es ift ſchon gut.

Dubsky: Du trinkft ihn ja meiftens ohne Zuder.

Die Moritura (aufarmend): Ah, jegt kommt wieder Leben! Leben! Starkes klopfendes Leben!

Marenholdt wer vis jedt ſchweigſam dabei geſeſſen hası: Leiden Sie öfter an folden .... ſolchen Schwindelanfällen?

Die Moritura: Seit meinem fünften Jahre! Es find die Vor-

poften, die der Tod von früh an in mein Dafein gefandt hat. (Bor dem Zeit hinten erfcheint) Wiegand ıruft Hinüser): Liebe Moritura, wir probieren die zweite Szene. Die Moritura caußer fig): Die zweite Szene! Und die erfte? Wo

Mar Salbe: Die Infel der Seligen. 317

ift die erfte geblieben? Man geht ja mit meinem Werf um wie mit einem alten Strumpfl Eie täuft ein paar Schritte, dreht ſich zu Dubsty um) Möchteft du nicht mit?

Dubsky: Du weißt, ich bin Pamppletift....

Die Moritura: Und als folcher haft du fein Organ für ernfte KRunft. Aber das Bühnenbild fiehft du dir an!

Dubs ky tanfetzutenn): Wenn e8 durchaus fein muß... (Er folge ihr zögernd.)

Die Moritura: Hier, fted’ das Fläfchchen wieder zu dir! ESie gibt ihm das Aetherfläfchchen.)

Dubsty: Den Baldrian und das Natron habe ich ſchon. «er ftede das Flaſchchen zu fi.)

Die Moritura: Man muß vorfichtig fein, e8 wird noch genug Aerger heute geben. Dubsky: Ich werde mir nächftend wie eine wandelnde Apotheke

vorkommen. (Beide geben in das Zelt ab. Kurze Paufe. Dorothee und Marenholbt fehen fich ftumm an.)

Marenholdt: Diefer Dubskyl Diefe Moritura! All diefe andern! Das ift alfo das Refultat, wenn man Gehirnraubtiere zu Pflanzenfreffern machen will!

Dorothee: Tut man nicht ein gutes Werk, wenn man Bruno bier binauszubringen fucht?

Marenholdt: Mein Wis ift leider zu Ende.

Dorothee: Der Wis einer Frau noch lange nicht! Ich habe einen Plan, aber du darfft mir nicht widerfprechen! Du mußt ruhig zuhören und mit dem Kopf niden.

Dubsky (tritt aus dem Zelt, kommt näher.)

Dorothee (alblauy: Jetzt gilt's! (Sie ruft Dubstv u Ma, iſt alles in Ordnung?

Dubsky: Der Direktor des modernen Stimmungsenfembles ift ein abgefagter Feind alles überflüffigen Beiwerks auf der Bühne.

Dorothee: Iſt die Moritura nicht fehr aufgeregt?

Dubsky: Ich habe ihr den Baldrian und das Natron dortgelaffen.

Dorothee: Daß du überhaupt Urlaub befommen haft!

Dubsky (formen: Ich bin durchaus in der Lage, meine Entfchlüffe felbftändig zu faflen. Fräulein Selma Schulz nimmt nur den Einfluß darauf, den ich felber wünfche.

Marenholdt: Wer ift Fräulein Selma Schulz? Doc nicht .. .?

Dorothee (einfattend): Die Moritura! Natürlich!

Dubsky (formen wie vorher): Wenn Gie Fräulein Selma Schulz eine befondere Freude bereiten wollen, Herr Baron, fo rate ich Ihnen, fie mit diefem Namen anzufprechen. |

Marenholdt: Danke fehr, Pfeudonyme find mir heilig.

Dubsky (nad einem Augenblich: Es dürften zwanzig Jahre fein, Herr Baron, feit ich die Ehre hatte, Ihre werte Bekanntſchaft zu machen?

Marenholdt: Sa, Sie haften damals einige Heine Schwierigkeiten mit Behörden oder dergleichen ...

QDubsty: Sie fehen, ich bin inzwifchen ein nützliches Mitglied der bürgerlichen Geſellſchaft geworden.

318 Mar Halbe: Die Infel der GSeligen.

Marenholdt: Finden Sie den Lebenskreis hier fo ausgefprochen bürgerlich?

Dubsky: Ueber die Maßen! Wir graben in der Erde! Wir jäten und gießen unfere Beete! Wir feiern Stiftungsfefte nach dem Kalender- datum! Wir hängen Lampions an die Bäume und machen italienifche Nacht! Könnte das alles nicht ebenfogut in einem Kriegerverein gefchehen oder in einer landwirtfchaftlihen Ausftellung mit Rindviehprämierung?

Marenholdt: Fa, e8 gleicht fich ja leider alles auf Erden. Ob Infel der Seligen oder irgend ein fettes Philifterland, es kommt fchließlich auf eins hinaus!

Dubsky: Auf die befannte Handvoll Erde, mit der ung definitiv Der Mund geftopft wird, meinen Sie, aber ehe es foweit ift, ſcheint es mir nicht gleichgültig, ob man Hunderte und Hunderte für Feftivitäten hinauswirft, oder ob man fie höheren Zwecken dienftbar macht!

Marenholdt: Zweden welcher Art?

Dubsky: Zwecken eines gefteigerten und verfeinerten Gemeinfchafts- lebens!

Dorothee (dat abgewandt dagefeffen, wendet ſich pLöglih zu Dussty): Warum jagft du das Bruno nicht ins Geficht?

Dubsky (feirendy: Ich fage es ja dir! Ich möchte Dich gerne mal wieder wütend fehen!

Dorothee: Das nenne ich Feigheit, einem Menfchen ind Geficht freundlich tun und hinter feinem Rücken begen!

Dubsky: Liebe Dorothee, ich habe perfönliche Feigheit nie als etwas Unmwürdiges angefehen. Mut kann jeder Schlächtergefelle haben. Ich werde mich fchön hüten, mir die Finger zu verbrennen! Ich laffe jedem fein Steden- pferd und bitte nur, mir auch meins zu laffen!

Marenholdt: Worin befteht das?

Dubsky: Den Hanswurſt dieſer edlen Gemeinſchaft zu ſpielen! Hans wurſte dürfen ja wohl die Wahrheit ſagen, es glaubt ihnen ja doch keiner!

Dorothee: Leider wirſt du das ———— kaum mehr lange haben.

Dubsky ment fie an: Wieſo nicht?

Dorothee: Das kann ich dir jegt noch nicht verraten.

Dubsky: Wollt ihr mich etwa aus eurem erlauchten Kreife aus— Schließen? Iſt man nicht fügfam genug, hat man fich die allerhöchfte Un— gnade zugezogen?

Dorothee: Wenn es darnach ginge, müßteft du doch ſchon längjt draußen fein, lieber Dubsky.

Dubsty: Du bift fehr freundlich, liebe Dorothee! Was kann es denn alfo jonft fein? Du machſt mich neugierig!

Dorothee (artafifh): Rannft du auch neugierig werden? Ei ſchau!

Dubsky: Haben Sie eine Ahnung, um was es fich handelt, Herr Baron?

Marenholdt (epr refersier): Ich bin dem Zuſammenhang nicht fo genau gefolgt, Herr Dubsty.

Dubsky: Die Hypothefe lautet, ich würde bier nicht mehr lange den Hanswurſt fpielen können. Ift Ihnen etwas darüber befannt?

Mar Balbe: Die Infel der Seligen. 319

MarenHoldt aievorser): Selbft dann würde doch wohl die Diskretion... Dubsky (chmetzend) Liebe Dorothee, du weißt, ich habe Dich immer geliebt! Dorothee: Leider ohne Erfolg!

Dubsky (mie Augenaufihtag, die Hand auf dem Herzen): Es ift noch nicht zu fpät! Fühl' nur, wie mein Herz für dich fchlägt!

Dorothee: Gut! Ich will jehen, ob du diskret fein kannſt.

Dubskhy ante vorge): Diskret wie ein Sperling auf dem Dache!

Dorothee: Nein! Nein! Du mußt mir verfprechen, daß du es nicht weiterfagen willft!

Dubsky: Keiner Menfchenfeele! Ich ſchwöre es dir beim Grabe meiner Mutter!

Dorothee: Ich denke, du weißt nichtd von deiner Mutter?

Dubsky: Umfo eher kann ich doch bei ihr ſchwören! Ulfo jegt fagft du es mir, nicht wahr? Wolle ihr mich wirklich aus eurem Kreife ausschließen?

Dorothee: Nein, aber der Kreis felbft könnte fich doch auflöfen. Bruns könnte zum Beifpiel in eine andere Lebensftellung kommen. .

Dubsky (auffaprend zu Marenhoidth: Dabei haben Gie doch die Hand im Spiele?

Dorothee: Sch will dich nicht länger quälen, lieber Dubsfy, du haft mir ja Diskretion verfprochen.

Dubsky (mie Augenaufihtag: Beim Grabe meiner Mutter!

Dorothee (gepeimnisvon: Bruno fol nämlich Minifter in Tecklen⸗ burg werden... .

Dubsky (wieder auffaprend:: Minifter? Bruno Minifter? Ah, das ift eine Bübereil (er macht ein paar Schritte.)

Dorothee: Sa, nicht wahr? Und ich kann Dir verraten, daß er fhon angenommen bat, aber ganz unter ung! Es darf noch fein Menjch erfahren!

Dubsky (dar fih gefaßt, reicht Dorothee die Sand): Sch gratuliere dir, Liebe Dorotheel Du wirft eine glänzende Minifterfrau abgeben!

Dorothee cdism die Hand fhütteind): Das habe ich mir auch fehon immer gedacht, lieber Dubsty! .... So, und jegt weißt du, warum du nicht länger Hanswurſt bei Bruno bleiben kannt.

Dubsky: Er könnte mich ja zu Hofe mitnehmen?

Dorothee: Ich will mich für dich verwenden. Adieu, mein Freund!

Ich muß anfangen zu paden, die Reife geht bald los! (Sie winte beiden zu, geht raſch nach rechts hinauf, verfchwindet oben.)

Dubsky cfteue ſich mit den Händen in den Hofentafhen vor Marenhown: Und die Fäden des Puppenſpiels halten Sie natürlich in der Hand?

MarenHoldt erben: na): Ich bitte, mich zu entjchuldigen, Herr Dubsky! (Er zieht ſehr höflich ſeinen Hut, geht langſam nach rechts binauf, ab.)

Dubskhy (iebt ihm nach, daut die Fauſh: Miniſter willſt du werden, alter Freund? ... Noch biſt du's nicht! Du ſollſt deinen Hanswurſt kennen lernen!

Wiegand (tritt Hinten aus dem Zelt, kommt raſch nach vorne.)

Dubsky (gebt auf ion u: Gut, daß du fommft! Ich muß dich unbe: dingt unter vier Augen fprechen.

320 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Wiegand: Um was handelt es fich denn?

Dubsky (mäprend des folgenden weich mit Augenaufihlag): Wie lange gebt unfer Weg nun ſchon zufammen, lieber Bruno?

Wiegand (etwas überrafpn: Ja jo an die dreißig Jahre! Ich denke, wir famen gleichzeitig auf die Quinta.

Dubsky: Alfo eine dreifigjährige Freundfchaft!

Wiegand ıagend): Oder ein dreißigjähriger Krieg!

Dubsky: Ja, nach der Auffaffung haft du gehandelt! Dir war nicht wohl, wenn du nicht herrſchen konnteſt! Wo du hinfamft, mußteſt du die erfte Rolle fpielen!

Wiegand (mit verhattenem Laden: Ma, und du? Ich bin gefpannt, was du warit?

Dubsky (uit Augenauffhtag): Ich war der nachgiebige Teill Ich habe mich in Deine Launen gefügt, wo es nur anging.

Wiegand cast taut au: Dubsky! Laß’ dir den Puls fühlen! Wer bat fich ſchon auf der Schule über Mitfchüler und Lehrer, über Gott und Menfchen Luftig gemacht? Wer hat fpäter die blutigften Artikel, die giftigften Berfe gegen alles Beſtehende gefchleudert? Wer ift der gefürchtetite Pamphletiſt des Zeitalter, du oder ih? Befinn’ dich mal, Herr Heroftrat!

Dubsky: Iedes Wort von dir ift ein Reulenfchlag! Sa, ich habe Verſe gedrechfelt und Artikel fabriziert, die durch die Welt geflogen find! Uber du, du, du haft die Taten getan, die für die Nachwelt daftehen! Ich habe Dapierballen mit Tinte befchmiert, und du haft dich in Menfchenherzen eingefchrieben! Wer ift alfo der Beneidenswerte von uns beiden?

Wiegand merfen Geſicht ih verfinftert han: ch bin nicht mehr jung und naiv genug, um dir auf deinen Leim zu friechen. Ich weiß ganz gut, wie weit mein Rönnen hinter meinem Wollen zurücfgeblieben ift, wie vergänglich wohl all mein Schaffen fein wird. Aber das ift auch gleichgültig. Man ift Menfch geweſen und hat mit feinem Pfunde gewuchert! Wie viel oder wie wenig dabei herausfpringt, mögen Spätere entjcheiden !

Dubsfy: Ich bin ja auch durchaus zufrieden, wenn wir weiter fo zufammenftehen, du als erfter, ich als zweiter.

Wiegand: In deinen Worten ſteckt wie immer etwas Hinterhältiges. Sei doch einmal im Leben offen!

Dubsty gathetiſch, mit großer Gedärde): Biſt du offen gegen mich, Bruno?

Wieg AND mad) einem Augenblid, ernft und entjchieden): Rein! Ich bin es auch nicht! Im Kampf aller gegen alle gewöhnt man fich das ab. Die einzige Leberlegenheit, die man vielleicht gehabt hat, gibt man mit dran! Go macht einen das Leben flach und gemein!

Dubsfy (wieder groß auspotend): Bruno! Du willſt Minifter in Tedlen- burg werden!.... Du biſt es in dieſem Augenblicke fchon!

Wiegand einen Schritt zurüd): Woher weißt du das? Wie kannt du das wifjen?

Dubsky (mir Hohgezogenen Brauen): Und feinem von deinen Freunden fagft du ein Wort! Man wird an der Nafe herumgeführt!

Wiegand: Niemand wird an der Nafe herumgeführt! E3 ift ein fach noch nichts entfchieden!

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 321

Du b s k y (wieder pathetiſch mit hochaezogenen Brauen): Mein lieber Bruno! Die Geſchichte kann dir den Hals brechen.

Wiegand (aufsraufend): Brecht mir doch den Hals, wenn ihr könnt! Hier ftehe ich und warte daraufl (er reat fi) in feiner ganzen Höhe auf.)

Dubsky: Ich mache dich nur darauf aufmerkfam, in welche fchiefe Stellung du geraten fannft, wenn die Gefchichte bekannt wird.

Wiegand: Ich bin Manns genug, für meine Handlungen einzuftehen! Dubsky: Lieber Bruno, du bift der Begründer und Vorfteher einer

großen anarchiftifchen Gemeinfchaft und fonfpirierft hinter dem Rüden deiner Genofjen mit den Staatdgewalten! Was muß das für einen Ein- drud auf die Welt machen! Bon beinen Freunden garnicht zu reden.

Wiegand: Ah! Kommft du mit deinen heroftratifchen Flugblättern, alter Freund, erfenne ich meinen Dubsky wieder?!

Du bsky (mit Heruntergegogenen Mundwintein): Du beleidigft mih! Es gibt Zeitungsfchreiber genug, die den fetten Broden auffchnappen würden Was wäre die Folge? Du ftündeft als ein Gerichteter vor der Deffentlichkeit! Und glaubt du, ein foter Mann könnte auch nur Minifter bleiben?

Wiegand (ment mit den Händen auf dem Rüden, in Nachdenken verfunten da, fleht auf): Allerdings! Bei fchiefer Beleuchtung durch Bösmwillige kann die Sache ein fchlimmes Anfehn gewinnen. (&r macht ein paar nachdentliche Schritte.)

Dubsky (mit mühfem verpattenem Triumph): Ste wird ein fchlimmes Anfehn gewinnen! Verlaß dich auf mich!

Wiegand (immer noch nachdentlich: In Wirklichkeit liegt der Fall fo, daß ich an eine neue Lebensbafis gedacht habe, längft ehe Marenholbt Fam.

Dubsty: Uber der war es, der den Stein ind Rollen brachte?

Wiegand (mat wieder ein paar Schritte, bleibt rechts am Fuße der Anhöhe fiehen): Ich bin in dem Alter, wo man zum erften Mal zurücfieht und Inventur macht! Wo man fi fragt, bift du auf dem rechten Wege oder nicht? Ich Habe immer aus dem Vollen gefchöpft, habe nie mit mir felber hausgehalten! Jetzt wo der Weg vorwärts jedenfalls fürzer ift ald das Stüd, das vorbei ift, wo man alfo fchon auf der Nachmittagsfeite wandert, jest wird e8 Zeit, fich zu fammeln! Geine Kräfte, feinen Willen auf einen Punkt zu konzentrieren und ſich das fchlechte Gefchäft, das unfer Dafein nun mal ift, nicht noch unnütz zu verfchlechtern!

Dubsky «educth: Du beklagt dich über fchlechte Lebensgefchäfte? Du?

Wiegand cauf- und adgepend): Lieber Dubsky, wir alle von unferer Generation, wir find grenzenlofe Verfchwender gewefen! Wir find als Revolutionäre, ald Weltverbefferer auf den Plan getreten! Jedes Gefchlecht bat feine Aufgabe zu erfüllen! Unſere war es, Sturm zu laufen und Brefche zu legen! Daß wir dabei am eigenen Glück zu kurz gelommen find, daß wir ung vielleicht vor der Zeit verbraucht haben. ... Kein Wunder!

Dubsky: Und um dem abzuhelfen und künftig beffere Gefchäfte zu machen, willft du jegt Minifter werden?

Wiegand: Ich will eg nicht! Andere wollen e8 von mir! Andere be- haupten, e8 wäre im Grunde fein fo großer Unterfchied zwifchen dem Amte hier, Daß ich mir felbft gegeben habe, und dem Amte, dag mir angetragen wird. Das Ziel bliebe das gleiche, nad) feinen beften Kräften der Menfchheit zu nügen.

Güdbeutihe Monatshefte,. II, 10, 21

322 Mar Salbe: Die Infel der Seligen.

Dubsky wäpmefierigend): Es find verdammt feine Diplomaten, die bir das eingegeben haben!

Wiegand: Was wir hier fun und treiben, gefchieht des Beiſpiels wegen. Durch die Macht des Beifpield wollen wir wirken. Darüber hinaus geht ed nicht, wird es niemals gehen! Als Staatsmann und Minifter kann ich unmittelbar wirken. Soll das einen Mann von meiner Art nicht reizen?

Dubsky (erite vor Wiegand Hin: Du haft von mir wiffen wollen, woher ich die Nachricht von deiner Minifterfandidatur habe? Gut! Ich habe fie von deinem Freund und Vertrauten, Herrn Baron von Marenbholdt.

Wiegand wersufg: Bon Marenholdt felbft? Marenholdt follte herumgehen. ...

Dubsky: Herr von Marenholdt geht herum und erzählt unter dem Siegel tieffter Verſchwiegenheit, daß du Miniſter werden ſollſt!

Wiegand kopfisättemd: Was ſollte er nur für eine Abſicht dabei haben?

Dubsky: Man will dich aufs Glatteid loden, Bruno! Man will dir eine Falle ftellen! Steckſt du den Kopf in die Schlinge und fagft ja, dann überliefert man dich dem allgemeinen Gefpött, der allgemeinen Verachtung!

Wiegand (aufgeregt auf und an): Unmöglih! Solch ein Mittel. . .!

Dubsky: Nah den Mitteln fragen diefe Herren nicht viel! Wenn nur wieder einer von den unfrigen unfchädlich gemacht ift! Daß es gerade den beften, den ehrlichften von allen trifft, was kümmert das einen Cyniker wie Marenholdt!

Wiegand (vrept fih piöstig um): Dubskyl Du Lügft ſchon wieder!

Dubsky (mie Hochgezogenen Brauen und zähnefletihend): Glaubft du mir nicht? Ich ſchwöre es dir beim Grabe meiner Mutter!

Wiegand mise vor iym): Die Wahrheit, Dubsty! Ohne Schwüre und große Worte!

Dubsky ie Hand auf dem Segen): Bei Allem was mir heilig ift!

Wiegand: Uber was ift dir heilig?

Dubsty: Unfere Freundfchaft ift mir heilig! Unſerer Freundfchaft zuliebe warne ich Dich!

Wiegand Gebt ihn Lange an, fhüttelt den Kopp: Ich glaube, du bift viel un- glücklicher, Dubsky, ald du felbft ahnft!

Dubs ky (mit Heruntergegogenen Mundwintein: Hanswurſte find immer tragifche Figuren! Merkft du das erft jegt?

Wiegand: Du bift ein Unfroher! Du bift auf der Nachtfeite ge- boren! Deshalb darf man deine Stänfereien auch nicht fo ernft nehmen. Diesmal aber handelt es fih um eine Lebensfache und um einen Mann, der mein Freund ift....

Dubs ky (par fig gedutn: Ich will dir beweifen, daß ich es aufrichtig mit dir meine. Du weißt, daß in unferer Gefellfhaft eine ftarfe Strömung gegen dich befteht. Ich perfünlich ftehe dem ja prinzipiell fern. Ich habe zum Frieden geredet, wo ich nur konnte.

Wiegand: Und wie verhält es ſich mit der Idee, aus unferer freien und individualiftifchen Gemeinfchaft hier, eine tommuniftifche Smangsgenoflen- [haft zu machen? Gütergemeinfchaft und einzuführen? Wer iſt der Vater dieſer Idee, Dubsky?

Mar Salbe: Die Infel der Seligen. 323

Dub s ky wärnefterihend): Lieber Bruno, die Frage nach der Vaterfchaft ift eine der heifelften, die an einen Mann geftellt werden können. Sch ver- fpreche dir, daß die Idee als ein totgeborenes Kind begraben werden foll....

Wiegand: Und wirft es halten, Dubsky?

Dubsty: Ich halte es, wenn du beine Verpflichtungen gegen un

ältſt.

Wiegand (gehe mit großen Schritten auf und ab, bleibt ſchliehlich vor Dubsky ſtehen): Gut, wenn dein Wort wahr ift, dann foll mich feine Macht der Welt aus eurem Kreis herausbringen! Denn dann Tann ja das wiederflommen, was wie ein Morgenglanz Über dem erften Sahr hier gelegen hat, der Einklang ber Geelen! Das neiblofe Vertrauen vom einen zum andern!

Dubsky: Hier haft du meine Hand! Heute abend beim Feft laß’ ich eine große Kundgebung für dich vom Stapel!

Zürgen Ceſcheint rechts Hinten am Bootshaus, kommt raſch nach vorn, ſchwentt feine Rüge): Guten Tag, Vater! Guten Tag, Onkel Dubskyl (Er reicht Heiden die Hand.) Dubsky: Guten Tag, lieber Jürgen! Du fommft vom Gee?

Zürgen: Ja, ich habe unten am Turm angelegt. Ich hab’ zwei Stunden gerubert.

Wiegand (rope ihm mit dem Finger): Gefegelt willft du fagen?

Zürgen Gebt is um): Aber nicht der Mutter verraten! Herrlich war es auf dem Wafler! (In ver geitöffnung Hinten erſcheint)

Die Moritura card: Dubskyl Bruno Wiegand! Mein Stüd wird gemeuchelt! Mein Stüd wird verhunzt!

Lothario (inter ihr eriheinend): Hilfe! Hilfe, erlauchter Mann! Shre Dichterin bringt mir meinen Komiker um! Hilfe!

Mareipanskhy (pinter den beiden in der Zettöfnung): Sch laffe mich feinen Ochſen kitulieren! Ich habe vor dem Publikum zweier Welten geftanden! Mag die Dame ihr Gewäſch allein fpielen!

Die Moritura (qaumend): Gewäfch! Sie Rindvieh! Sie... Sie...! Wiegand veite nad Hinten: Ruhe, meine Herrfchaften, Ruhe! Die

Probe nimmt ihren Fortgang! Himmel Donnerwetter! (cr faiebt die Streiten- den vor fih ber ins Zelt ab.)

Lothario (allein vor der Zeltöffnung zu Dubsty und Jürgen): Krach auf der Probe,

f ae meine Ara Ein Bombenerfolg wird das! Ein Bombenerfolg!

Dubsky (mit bedeutſamer Handbewegung zu Jürgen): Das ift das Leben, mein lieber Zürgen!

Zürgen: Wie meinft du das, Onkel Dubsky?

Dubsky (mit Heruntergegogenen Mımbiwinfein): Ein PDuppenfpiel im Duppen- fpiel des Puppenfpiels! Wir kämpfen und leiden und nehmen ung ver- zweifelt tragifch! Dabei find alles nur gemalte Ruliffen von Leinwand und Dappe, und wir felber ftehen davor und jagen Rollen her, die uns ein Unbefannter auf den Leib gefchrieben hat! Wir agieren Götter, Dirnen und Hanswurſte mit einem heiligen Ernfte, als feien wir nie etwaß anderes gewefen, künnten nie etwas anderes fein, und in einer Stunde find bie Lichter ausgelöfcht und das gleiche Dunkel verfchlingt den Helbenfpieler wie den Imtriganten.... Bift du einmal in einem Spiegelfaal gewefen, mein lieber Jürgen?

*

324 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Zürgen: Ich den? ſchon, Onkel Dubsky. Man fieht fich felbft fo und fo oft.

Dubsky: Man fieht fünfzig Dubskys und fünfzig Zürgens und noch einmal fünfzig und wieder fünfzig, und alle tun fie das gleiche! Welcher von allen ift nun der richtige?

Zürgen: Man muß fi nur an der Naſe zupfen, Onkel Dubsty.

Dubsky: Meinft du, die andern werden fich nicht auch an der Nafe zupfen und fich einbilden, fie find es?

Zürgen: Das ift ja eigentlich entfeglih! Man könnte verrückt werden, wenn man daran dent, oder fich aufhängen oder vor fich felbft fortlaufen.....

Dub sky (äpnefierggend: Nichts von dem allen! Man ftredt einfach die Zunge heraus, fo lang und fo weit man fann! Gtell’ dir vor, hundert- fünfzig Dubskys, die fich gegenfeitig die Zungen herausſtrecken! Gibt das nicht einen Mordsipaß?

Zürgen (tritt näper, mit einem Gedanten ringend): Onkel Dubsky, ich hab’ mich fhon manchmal danach gefragt... lohnt es fich eigentlich, daß man lebt?

Dubsty (sieht die Brauen How): Es lohnt fich nicht, mein lieber Sürgen!

Zürgen: Wozu find wir dann überhaupt da?

Dubsky: Anſere Rollen zu fpielen, find wir da, ber eine ben König, der andere ben Bettler, und einander die Zungen herauszuftreden!

Zürgen: As du fo alt warft wie ich, Onkel Dubsky, haft du da auch fchon fo gedacht?

Dubsty: Hätt! ich mit vierzehn gewußt, was ich mit vierzig fein würde, ich glaube, ich hätte den erjten beften Strid genommen ... (Er kehrt fich ab, macht gebudt ein paar Schritte.)

Zürgen: Ich komm’ mir manchmal fo dumm vor, wenn ich euch alle bier fehe! Dann auch wieder niht! Man weiß felbft nicht ...

Dubskhy aredbt ih um): Daß das Leben ein ganz gemeiner Pferdehandel ift, das wirft du noch früh genug merken! Meinft du, ich habe nicht auch einmal den Oſſa auf den Pelion getürmt und den Olymp für einen Maul: wurfshaufen angefehen? (8x ſchläat ih vor die Bruft.) Da haft du die Herrlichkeit, die davon übriggeblieben ift!

Jürgen (aussregend): Nein! Es muß doch noch etwas dahinter fein! Etwas, was fi) garnicht jagen, garnicht ausdenten läßt! Etwas ungeheuer Schönes! Wenn man nur erft bier raus wäre!

Dubsky dauernd): Möchteft du von bier fort?

Zürgen: Für mein Leben gern! Das ift ja das Unglück, daß man feftfigt und nicht los kommt! Wenn ich da drüben überm Wafler die Berge ſehe und die blauen Wälder, ganz weit, nur fo wie im Traum... Sag’, Onkel Dubsky, was foll man fun, wenn man es vor Sehnfucht gar» nicht mehr aushält? Was hätteft du an meiner Stelle getan?

Dubskhy qahnefletſchendd Ich wäre ausgeriflen!

Zürgen: Wirklih, Onkel Dubsky?

Dubsky (mie vorber): Sch bin mehrmals von der Schule ausgerifien, mein lieber Zürgen, oder glaubft mir das nicht?

Jürgen ewundernd: Mehrmals ausgeriffen! ... Uber fie haben dich immer wieder befommen, nicht?

Mar Halbe: Die Infel der GSeligen. 325

Dubsky cayfetzutend):; Man hatte fein Geld! Man wurde aufgegriffen! Zürgen (ame die Gau): Wenn ich mal fo was tue, ich richt’3 mir fchlauer ein!... Und ich tu’8 auch noch mall Es geht ja nicht länger fo mit dem Leben hier! Ein Tag wie der andere! Immer das ewige Einerlei!

Dubsky: Graben, Haden, Säen, Waflertragen .. .

Zürgen: Sieh mal zum Beifpiel Mutter an! Die hat früher fo viel gelacht! Jetzt ...? Kaum, daß fie noch mal einen Wis macht!

j Dubs ky mie Hocgezogenen Brauen): Iſt dir ſchon befannt, mein lieber Zürgen, daß dein Vater Minifter im Tecklenburger Ländchen werden foll?

Jürgen (mit offenem Munde): Dater Minifter?!... Uber dann muß er ja von bier fort? Und wir mit, Mutter und ih? Hurral Wir reifen! Wir reifen!

Dubsky: Ihr feid noch nicht weg, mein lieber Jürgen, die Sache ift noch nicht entfchieben.

Jürgen (tät den Kopf hängen): Moch nicht entfchieben? .... (ufleuchtend.) Ah was! Vater muß einfach! Ich eg’ ihm fo lange zu, bis er ja fagt!.... Sag’ mal, Onkel Dubsky, was hat denn Vater eigentlich ald Minifter zu tun?

Dubsky coriniend: Den Leuten Sand in die Augen zu ftreuen, mein lieber Zürgen.

Jürgen (wirft den Kopf zuruch: Mein! Dazu ift Vater zu ftolz!

Dubs ky (gerutn: Vielleicht hat dein Vater ſein Lebtag den Leuten Sand in die Augen geftreut. .

Jürgen (aufbraufend): Das verbitt ich mir, Onkel Dubsky!

Dubsky up: Ich habe nur Spaß gemacht, mein lieber Jürgen, wir tun ja alle nichts anderes!

Jürgen (nad einem Augenblich: Segelſt du mit, Onkel Dubsky?

Dubsky: Wenn du mich am Garten abſetzen willſt.

Jürgen: In fünf Minuten find wir da. (Sie gehen gegen das Bootshaus zu. Zürgen dreht fih zu Dubsty um.) Onkel Dubsky, Vater muß Minifter werben! Ich bring’ ihn dazul Wollen wir wetten?

Dubsky: Ich bin neugierig, wie du das anfangen willft.

Jürgen: Paß nur auf! Ich fu’ etwas, was fich feiner träumen läßt. (Beide rechts Hinten ab.)

Wiegand (tritt aus dem Zelt lints Hinten, ſpricht zu Lothario, ber in der Zeitöffnung ftegen bieibt). Der Karren wäre aljo wieder im Gang!

Lothario (euri: Dank, begnabeter Mann, Dankl Ich rufe mit

Leffing, wohl dem Volk, wo folche Geifter den Ton angeben! «er verſchwindet mit großer Geberde im Zelt.)

Wiegand (geht nachdentlich ein paar Schritte nach reits).

Dorothee (tommt eilends von rechts ber, ben Waldweg herunter, tritt auf Wiegand zu): Sch ſuche dich, mein Gebieter!

Wiegand: Ich dich gleichfalls.

Dorothee: Alfol Deine Sklavin wartet. (Sie kreuzt die Arme über einander, muftert ihn von oben bis unten.

Wiegand: Du bift doch ein Rindetopf, DVorotheel Sei doch mal ernfthaft!

Dorothee: Ich bin doch in feinem Sargmagazin ee Man bat fowiefo jchon immer neben dem Pulverfafje gelebt. .

326 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Wiegand: Du bift ja auch ganz verfchrumpelt davon geworden!

Dorothee: Das könnte dir fo paffen, damit du einen Grund haft, dir eine jüngere zu fuchen. . . .

Wiegand: Weib... .?!

Dorothee: O nein, mein Freund, ich habe eine gute Natur! Ich will mich fo lange wie möglich jung erhalten! Dir zum Trog!

Wiegand: Wenn du vielleicht fertig bift. .

Dorothee: Sprich doch! Ich warte darauf! Es hindert dich ja keiner! (Sie ſieht ihn herausfordernd an.)

Wiegand: Himmeldonnerwetter . . .!

Dorothee: Ja, fluche nur! Fluchen ift ja immer eure legte Zuflucht. . .

Wiegand: Ich fehe, es geht nicht! «Er wendet ſich zum Geben.)

Dorothee: Erft will ich wiffen, wie du dich entfchieden haft?

Wiegand: Dann fei alfo vernünftig!

Dorothee: Nimmft du Marenholdts Vorfchlag an?

Wiegand: Ich Habe dir fchon vor einer Stunde gefagt, ich kann nicht darauf eingehen.

Dorothee: Du hätteft dich ja befinnen fünnen.

Wiegand: Nein! Ich bleibe, wo ich bin und was ich bin! Ich laſſe meine Leute bier nicht im Stich!

Dorothee (tauernd): Iſt denn irgend etwas paffiert, daß das auf ein- mal fo feft fteht?

Wiegand: Ich habe mich mit Dubsky ausgefprochen, wir haben und geeinigt!

Dorothee: Wußte er denn ſchon von der Miniftergefchichte?

Wiegand: Ja, merkwürdigerweife! Er fing felbft davon an... ..

Dorothee (pringt au: Und. mir bat er beim Grabe feiner Mutter geſchworen, er will’ niemand weiter fagen!

Wiegand wersufg: Beim Grabe feiner Mutter? Dir auch?

Dorothee (rürmiss): Und fo gut er mich belogen hat, fo gut wird er dich auch belügen! Merkſt du jest, was du an ihm haft?

Wiegand bGcedherrſcht ſich mühfam): Dorothee, von wem mußte Dubsty die Miniftergefchichte? Es follte doch Geheimnis bleiben! Etwa von dir?

Dorothee (tiumppierend): Ja, von mir! Don mir!

Wiegand: Alfo nit von Marenholdt?

Dorothee: Marenholdt hat kein Wort verraten! Ich war’! Ich habe Dubsky vorgeredet, du haft den Poften ſchon angenommen, es ift alles abgemacht! Test geht er herum und fchreit die Neuigfeit auf allen Straßen aus! Begreifft Du jest, daß du feine Wahl mehr Haft? Daß du fort mußt, ob du willft oder nicht?

Wiegand (aussresend): Und mit folhen Mitteln haft Du mich zwingen wollen, Weib?!

Dorothee: Es war ja zu deinem Beften! Ihr Männer wollt's ja nicht anders haben! Bitten und Vorftellen hilft nichts, alfo heißt es Hug fein und von hinten herum kommen!

Wieg AND (mit großen Schritten auf und ab): Rein, darauf war ich nicht ge⸗ faßt! Daß Dubsky mich belügt.... Gut! Er muß lügen, wie das Opuf-

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 327

fum ftinten muß! Uber daß das Weib, das man lieb bat, hinter dem Rüden des Mannes hinterliftige Intriguen fpinnt....

Dorothee cerres: Gemeinheit! Mich mit Dubsky in einen Topf zu werfen! Weil man nicht mit anfehen will, wie fich fo ein Mannsbild ver- braucht und verzehrt!

Wiegand (in Heftigfter Erregung vor ihr ftehen bleibendd: Weib, ich laffe mir meinen Weg nicht vorfchreiben! Ich laffe mir feinen fremden Willen auf- zwingen! Nicht von dir und nicht von Dubsky, ich kann nur mir felbit und meiner Leberzeugung folgen!

Dorothee (evenfaus aufs äußerfte erreg): Gut! Das Weib hat das gleiche Recht wie der Mann! Ich hab's nicht umfonft von dir gelernt! Meine Ueberzeugung ift, daß unfer ganzes Leben hier nur noch ein Gelbftbetrug ift, und daß wir zu Grunde gehen! Deshalb mad’ ih Schluß.

Wiegand: Was fol das heißen?

Dorothee (wirft den Kopf zuruch: Sch gebe dir big . abend Bedenk · zeit! Bleibſt du dann eigenſinnig, fo gehe ich allein!.... Und den Jungen nehm’ ich mit!

Wiegand: Himmeldonnerwetter! Du bleibft, und der Zunge bleibt ebenfalls!

Dorothee: Ah! Bin ich alfo Fein freies Weib? Darf ich nicht nach meiner Ueberzeugung handeln?

Wiegand (weis): Dorothee, komm' zur Einficht!

Dorothee (wieder perausfordernd): Sch will doch fehen, ob du mich mit Gewalt halten wirft, Herr Weltverbefferer!

Wiegand (chweist einen Augenblick dann ſich umteprend): Tu’, was du mußt! (Er gebt nach rechts gegen die Anhöhe.)

Dorothee (erſchroden Hinterper): Was tft denn los? Wo willſt du denn hin? .... Bruno!

Wiegand (drehe ſich um, finften: Bitte, du bift ein freies Weib! Liebe if Ueberzeugung alles! Alſo, wenn ſich unſere Wege ſcheiden ſollen

. Leb’ wohl! (Reste oben iſth

Lanzinger (eſchienen, erblictt Wiegand): Ah, da bift du ja!

Wiegand (ur angebunden: Was gibt’8?

Lanzinger: Ich wollte dir nur offiziell mitteilen, daß ich übermorgen abreife. Halb und halb weißt du es ja fchon.

Wiegand (tegt Lanyinger die Hand auf die Sutter): Lanzinger! Kerl! Hat dir das lumpige bischen Geld, was du geerbt haft, total den Kopf verdreht? Bedenk', was das heißt, eine Inſel der Seligen aufgeben!

Lanzinger wermundern): Mir fcheint, wer felbft auf der Suche nad) neuen Lebensformeln und GSenfationen ift, follte doch anderen nicht ben Weg dazu verbarrifadieren.....

Wiegand (mie Apnung): Deutlicher, mein Sohn! Deutlicher!

Lanzinger: Oder willft du als Minifter von Tecklenburg die Infel der Geligen weiterführen?

Wiegand: As Minifter von Tedlenburg ....! Wann haft du das von Dubsty erfahren?

Lanzinger: Vor fünf Minuten! Die ganze Infel ift ſchon voll davon!

328 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Wiegand (u vorotheey: Haft du's gehört, Weib?

Lanzinger: Ich habe ja nie begriffen, wie jemand einem ideologifchen Phantasma zuliebe fein ſchönes Geld an eine Horde von ungewafchenen Bohemiend hinauswerfen fann! Iegt verfteh’ ich deine innerfte Tendenz beffer! Du haft dir damit eine Brüde fchlagen wollen zur bürgerlichen Gefellfhaft zurüd! Du haft der Welt dein Organifafionstalent vor- demonftrieren wollen! Jetzt, wo du damit reüffiert haft, jest ftößt du das Sprungbrett beifeitel in fehr ingeniöfer Plan!

Wiegand (in piögtihem Aussruh): Geh’! Geh’ auf der Stelle! Oder bei allen Teufeln .. .! (&r macht eine drohende Geberde.)

Lanzinger (acfeizudend): Ah, du willft den Kato weiterfpielen! Dann Dardon! Ecr geht rechts, woher er gefommen, ab.)

Wiegand (aufgeriter zu Oorotheey: Dein Mittel hat gewirkt! Freuſt du dich?

Dorothee (gemitı): Ach, hör’ doch nicht auf den dummen Jungen! Hör’ auf mich, Bruno! Und auf Marenholdt! Ich hab’ es gut gemeint! Wenn ich mich wirklich verfehen hab’... verzeih! (Ste ſtrect ihm die Hand entgegen.)

Wiegand (ter: fi ſchweigend ab).

Dorothee (weis): Willft du mir nicht die Hand geben?

Wiegand cangewenden: Du haft ein falfches Spiel mit mir gefpielt, Dorothee! Du haft mir vielleicht meine ganze Zufunft durchkreuzt! Du baft mir flipp und klar erflärt, daß du dich von mir trennen willit...

Dorothee wie vorder): Und das haft du geglaubt, du Kindskopf du?

Wiegand: Ich weiß felbft nicht mehr, was ich glauben foll und was nicht. Ich bin etwas irre an meiner Menfchenfenntnis geworben.

Dorothee: Alfo feine Hand, keinen Blick?

Wiegand dmmer adgewenden: Sch komme nicht fo fchnell drüber weg, Dorothee... |

Dorothee (menden ſich ebenfalls ab, nach einer Paufe): Was willſt du tun?

Wiegand: Was jest fommt, ift Einkehr und Nechenfchaft... .

Dorothee (wieder mit Wendung zu itm): Und dabei foll ich dir garnicht ein bißchen mehr helfen?

Wiegand (würeert den Kopp: Mein!... Ich habe mich zu verantworten!

Bor mir felbft und vor den andern! Dazu muß ich allein fein. (er geht, ohne ſich umzuſehen, rechts ab.)

Dorothee (iht ihm nad, wifcht fih über die Augen): Und er meint, ich werd’ ihm den Gefallen tun und ihn allein laffen?... So ein dummer, dummer Kerl!

V (Schluß folgt)

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Hermann Rurz in der Zeit feines Werdens. Biographifhe Mitteilungen von Sfolde Kurz in Florenz. 2.

Aus dem Umftand, daß ihr dreijähriger Hermann, wenn die Mutter ihn Sonntags mit fich zur Kirche nahm, nachher zu Haufe auf einen Schemel ftieg und im Predigerton Verslein und Gebetlein herunter fohnurrte, hatte die Familie auf feine innere Berufung zum geiftlichen Amt gefchloffen und darnach über fein Los beftimmt. Doch wäre vielleicht auch ohne diefe Aeußerung des kindlichen Nachahmungstriebs und ohne den glühenden Wunſch der weiblichen Familienangehörigen, ihren Liebling dermaleinft als mwohlbeftallten Pfarrherrn auf der Kanzel zu fehen, der Würfel nicht anders gefallen. Denn die Ausbildung an den theologischen Seminarien war unentgeltlich, ein Vorteil, den zu verfchmähen bei der bedrängten Dermögens- lage der Familie als ein Frevel gegolten hätte. So wurde ber Süngling unausmweichlich diefen Weg gezogen und er betrieb im Tübinger Stift feine theologifhen Studien und was damit zufammenhing, pflichtgefreu, wie alles was er tat, aber ohne innere Befriedigung.

Doch neben der dürren unfruchtbaren Heide ſeines Brotſtudiums tat fi ihm auf der Xlniverfität das grüne Wunderland der Poefie weit auf. Durch Uhlands Vorlefungen wurde er in den Urwald der deutfchen Mythen eingeführt und er hatte das Glüd, an den poetifchen GStilübungen teil- zunehmen, bie der Meifter mit den begabteften feiner Schüler abhielt. Die jungen Leute reichten Gedichte ein, die Uhland anonym vorlas und Fritifierte; fo machte er fie nicht durch öde Theorie, fondern durch die Analyſe ihrer eigenen poetifchen Verfuche mit den Gefegen des Schönen vertraut und wirkte aufs lebenbigfte für die Kultur der Jugend. Wie manche Poetafterei, die das Schöne im Schmwulfte fuchte, wurde durch diefes einfchneidende und doch perfönlich fehonende Verfahren zum Heil für die Nation im Keime erftict. Hermann Kurz legte feine Maulbronner Erftlinge und einige fpätere Produfte vor; die Uhlandfche Kritit hat er treulich unter bie Manuffripte eingetragen und aufbewahrt. Bei einem Liebehen im Volkston warnt der Meifter vor Nachahmungen des Volkslieds, „weil fie leicht in einen tändelnden Ton verfallen”, welche Klippe er übrigens felbft in feinen Balladen nicht durchweg vermeiden konnte. An der Pilgerfahrt‘) rühmt

) Band I, Seite 3,

330 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feined Werdens.

er „die erfreuliche Ausführung gemütlicher, mit Igrifcher Sicherheit aus- gefprochener Gefühle und Ahnungen“. Die andern von Uhland rezenfierten Gedichte, darunter zwei mit befonderem Lob bedachte, dad Sonett „Un die flüchtigen Polen“ und die „Uhr“ wurden in die erfte bei Hallberger er- fchienene Gedichtfammlung aufgenommen, find aber aus den fpäteren Gefamt- ausgaben mweggeblieben.

Bon Uhland wurde der junge, aber damals ſchon gefeierte Anfänger auch außerhalb des Hörfaals herangezogen und ausgezeichnet; im Uhlandfchen Haufe rüpfte er vielfach Titerarifche Beziehungen an, unter anderen mit Lenau, der auf kurzen Befuch nad Tübingen gekommen war. Als diefer beglücdtende Verkehr fehon im Jahr 1833 durch Ahlands Vertreibung von feinem Lehrftuhl unterbrochen wurde, rief der Schüler dem verehrten Meifter ein ſchmerzbewegtes Sonett nad) ').

Auch zur dramatifchen Mufe trat die ſtudentiſche Jugend in Beziehung, denn einer der geiftig bedeutendften unter den Profefjoren, der originelle Morig Rapp, hatte in feinem Haus an der Nedarhalde eine Liebhaber: bühne eingerichtet, wo Haffifche Stüde nebft feinen eigenen aufgeführt wurden. Hermann Kurz war unter den Mitfpielern; er erinnerte fich noch in fpäteren Sahren mit Beluftigung, wie er einft ald Montgomery in der Hitze des Rampfes fich nicht entfchließen konnte, von den Händen der Jung- frau zu fallen, fondern den ſchwächeren Kommilitonen, der diefe Rolle fpielte, grimmig fechtend zur Bühne hinausdrängte.

Zu jener Zeit ging in Tübingen noch die Poefie lebendig in der Geftalt des irrfinnigen Hölderlin um, den eine Studentengeneration der andern pietätvoll and Herz legte. Auch Hermann Kurz befuchte ihn zu- weilen in feinem Erkertürmchen am Nedar, das noch in meinen Tagen als ein Wahrzeichen der Stadt mit Stolz und Liebe betrachtet wurde, bie es in einer falten Winternacht, die ich nie vergefje, durch Brandftiftung in Rauch und Afche ſank. Hölderlin foll bei folchen Befuchen ftill -und freundlich gewefen fein wie ein Kind; doch fonnte er auch unangenehm werden, wenn einer nicht das Glüd hatte, den rechten Ton zu treffen. Er war die Höflichkeit felbft und überfchüttete feine Befucher mit den erftaunlichften Titulaturen; er felber wollte mit „Majeftät“ angeredet fein, doch gab er fich auch mit dem Titel „Herr Bibliothekar” zufrieden; denn die Hoffnung auf einen Bibliothefarspoften war noch, kurz bevor fein Leiden unbeilbar wurde, als letzter Lichtbli in fein zerrüttetes Dafein gefallen, und diefer Lichtblid folgte ihm in die geiftige Nacht hinüber. Die Heinen Züge, die mein Vater von jenen DBefuchen erzählte, habe ich leider vergeflen. Daß der Unglüd- liche feinen Namen nicht mehr fennen wollte und fich auf den Blättchen, die er den Befuchern auf ihre Bitten vollfchrieb, Sgartanelli unterzeichnete, ift befannt. Durch die innere Verfinfterung warf der Genius jene über: irdifchen Strahlen, die weite, geheimnisvolle Gebiete fo wunderfam erleuchten; Gedichte voll ftammelnden Tieffinns, oft noch ergreifender als was er in gefunden Tagen gedichtet hat, floffen aus feiner Feder. Mein Vater befaß verfchiedene diefer Blättchen, hat fie aber im Lauf der Jahre alle an Freunde

!) Seite 39,

Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens. 331

verteilt. Al er im Juni 1843 die Nachricht vom Tode Hölderlins erhielt, fchrieb er einem jüngeren Runftgenofien: „Es ift mir, nicht als ob einer geftorben wäre, fondern ald ob ein Geift aufgehört hätte zu wandeln.“

Abgeſehen von feinem literarifchen Umgang fand der junge Mann in Tübingen keine Gefelligfeit außerhalb der ftudentifchen Kreiſe. Das alte Städtchen mit feinem feltenen Iandfchaftlichen und baulichen Reiz lag ab- feit8 vom Verkehr und befand fich in fehr zurücigebliebenem Zuſtand. War doch noch zu meiner Zeit, alfo ein Menfchenalter fpäter, die Pflafterung fo ungenügend, daß bei Regenwetter fich breite gelbe Schlammftröme die fteilen Gaſſen herabwälzten. Bon den Säulen des Tanzfaals im Mufeum pflegte ein wigiger Spötter zu fagen, daß fie „auf Stiftlershöhe“ ſchwarz feien. Alle Lebensverhältniffe waren Hleinlich und bäurifch, der Ton plump, felbft in vielen Profefforenfamilien hielt man nichts auf gefellfchaftlichen Schliff, die Frauen als foziales Element fehlten ganz. Der Student war die Hauptperfon, er herrfchte faft fchrantenlos, ſah meltentief auf den Philifter” herab und genoß auf feine Weife das Leben. Aber Weltkenntnis fonnte er feine gewinnen, er konnte feine weitreichenden Verbindungen an- fnüpfen, ſich von dort feinen Weg in ein größeres Leben hinausbahnen. Deshalb fiel nach durchſchwärmten Xniverfitätsjahren das Tor des Para- dieſes hinter ihm zu und er wurde felber „Philifter.” Doch auch an diefer kurzen Burfchenherrlichkeit hatte der „Stiftler“ nur einen fehr befchräntten Anteil, weil er durch die Negeln des Stift an einen beftimmten Tages- plan gebunden war.

In den Anfang der Univerfitätsjahre fällt der erfte, aber noch anonyme Schritt, den Hermann Kurz in die Deffentlichkeit tat. Er hatte als ein begeifterter Verehrer der englifchen Poefie ſchon in der Maulbronner Zeit, ald er eben erft mit einigen Kameraden durch Nebenſtudium des Englifchen etwas mächtig geworden war, unter Mitwirkung ſeines Stubengenofjen Eduard Zeller und des ſchon genannten Edmund Bilhuber eine Anzahl Gedichte von Byron, Moore und anderen überfegt und die Auswahl in Tübingen noch ergänzt; ein gutmütiger Reutlinger Vetter, der Buchdruderei- befiger war, fand fich willig, da8 Bändchen unter dem Titel: „Ausgewählte englifche Poefien in teutfchen Hebertragungen” in Verlag zu nehmen. Den Mißerfolg des ganz unreifen Werkchens, das in feinem löfchpapiernen Gewand auch nicht einmal die Augen beftechen konnte, hat der Dichter in feinen „Zugenderinnerungen“ bumoriftifch dargeftellt; aus ber erften Ub- rechnung des DVerlegerd ftammt das geflügelte Wort: „So ftehet es mit den Poeſien.“ Die launige „Epiftel eines Autors an den andern“ ') bezieht fih auf dasfelbe Malör. Aber das Pech, das diefem Bändchen anhaftete, ging noch weiter, als der Dichter erzählt hat. Als er nämlich mit feinem Freund Bilhuber nach Reutlingen ritt, um die Freieremplare perfönlich in Empfang zu nehmen, hatten fie dort fo lange zu warten, daß fie auf dem Heimmeg die „Philiftersgäule” faft immer galoppieren laffen mußten, um die Stunde des Nachteffens im Stift nicht zu verfäumen. Da ftürzte im „Burgholz,“ einer jegt verfchwundenen Waldpartie, ald e8 ſchon dämmerte,

I) ©. Hermann Kurz, Sämtliche Werte, herausgegeben und mit Einleitungen verfehen von Hermann Fifcher, Band 1, ©, 51.

332 Zfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feined Werdens.

des Dichters Pferd, er konnte zwar wieder auffteigen und auch das Gtift wurde rechtzeitig erreicht, aber o Schmerz, nun zeigte ſich's, daß ihm beim Sturz die Eremplare unbemerkt entfallen waren, und ald nach dem Eſſen die Unglücksſtelle abgefucht wurde, waren fie nicht mehr zu finden. Wohl- meinende Bafen fuchten dag Mißgefchict des Reiters durch Die Bermutung zu erflären, daß das Pferd wohl an jener Stelle den gefpenftifchen Schimmel- reiter gemwittert habe, der damals noch in dortiger Gegend die Wanderer mit dem Kopf in der Hand zu befomplimentieren liebte. Wie der Dichter bald danach den Verleger für den fchlechten Abfag der „Poefien“ durch ein neues Volksbuch entfchädigte, zu dem er die Vorrede dem Setzer aus dem Stegreif in die Lettern diftierte, ift gleichfalls in den „Sugenderinnerungen“ zu lefen.

Unter den Lehrern am Stift glänzte vor allem David Friedrich Strauß, deflen „Leben Jeſu“ noch während Hermann Kurz’ Stubienjahren erfchien. Durch feinen Imgang war der Züngling vorübergehend in die Philoſophie hineingezogen worden, der er fich eine Zeitlang mit größtem Eifer hingab, um doch in Bälde zu empfinden, daß dies nicht fein eigent- liches Lebenselement fei. Der junge Lehrer felbft, der bald zu dem Schüler in freundfchaftliche Berührung trat, war unter den Erften, die feinen wahren Beruf erfannten und Strauß wurde auch fpäterhin nicht müde, dem Poeten zuzurufen: „Dichten müffen Sie, beileibe nicht fpekulieren.“') Zu einem andern jugendlichen Geftirn unter feinen Lehrern, dem damaligen Repetenten Friedrich) Theodor Vifcher, konnte der junge Student feine Stellung ge winnen: Zwei Menfchen von großen Anlagen aber grundverjchieden in den Inftinkten und beide jugendlich unduldfam, mußten der herben Schwaben- natur den Zoll zahlen, fich bei nächfter Nähe innerlich fremd zu bleiben! Viſcher verfannte, wie er mir felbft einmal geftand, in dem jungen Roman- tifer, der auch im Stift fein fondergängerifches Weſen fortjegte, den mann-

) Freilich könnte ed nach dem einzigen, ber Deffentlichkeit bekannt gewordenen Zeugnis, das Strauß über meinen Vater ablegte, einem Brief an feinen Freund Rapp (herausgegeben von Zeller) fcheinen, ala ob er aus einer fühlen überlegenen Höhe auf den Dichter herabgeblickt hätte. Allein diefer ziemlich abfällig gehaltene Brief ftammt aus Strauß’ letzten verbitterten Jahren, wo er die Welt durch einen Schwarzfpiegel anfah und die Erinnerung ihm die Dinge verzeichnete. Sonſt hätte er nicht Hagen fönnen, die politifchen Tendenzen hätten den „Sonnenwirt“ verpfufcht, Da ed doch gerade die Tendenzlofigkeit feiner Runft war, die den Erfolg des Dichter bei den Maffen hinderte. Dagegen fanden fi) in meines Vaters Nachlaß einige Briefe von Strauß aus feiner beften Zeit, worin er den Leiftungen des Dichters die freubdigfte unbedingtefte Anerfennung entgegenbringt. „Bor Ihren pbilofophifchen und mytho- logifhen Studien,“ fchreibt er Das eine mal, „babe ich alle Achtung, auch Ihre Lleber- und Fortjegung von Triftan und Zfolde mit Vergnügen gelefen; Ihr eigentlicher Beruf aber ift, ung zu erzählen, wobei ich Ihnen immer zuhören möchte.” Und an einer andern Stelle heißt es: „Wie Sie fih durch mythologifhe Studien angezogen fühlen, ift mir ſehr begreiflich, und ich fann mir auch denken, daß dergleichen Imwijchen- befhäftigungen auch wieder der Poefie zu Gute fommen werden. Denn wäre das nicht, wäre vielleicht zu fürchten, daß Sie durch gelehrte Arbeiten von den poetifchen abgezogen würden —: dann müßte ich Ihnen unerbitterlih das Merdifche zurufen: . . das können die andern auch! das wenigftens kann ich Ihnen fagen, wenn ic) imftande wäre wie Sie Lebendiges zu fchaffen, fo ließe ich die Toten ihre Toten be- graben.“ Auch die im Tert zitierte Stelle ift einem biefer Briefe entnommen.

Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens. 333

haften, pflichtbewußten Kern; der Außerft fenfible Hermann Kurz dagegen fühlte fi) durch manche Aeußerung des damaligen Viſcherſchen Weſens befrembet, befonders durch die Brehmiade, deren trauriger und fehauriger Gegenftand ihm in den Briefen feiner Mutter menfchlich nahe gerückt worden war. Erſt als reife Männer lernten fie fich gegenfeitig hochſchätzen, doch ohne die frühen Mißverftändniffe völlig verwifchen zu fünnen. Viſcher felbft, deflen große Natur fich bei zunehmendem Alter immer ins edlere und fhönere entfaltete, hat mir einmal viele Jahre nach meines Vater Tode in der würdigften Weife das Herz darüber ausgefchüttet und er fuchte das Berfäumnis, deſſen Schuld er vielleicht mit Unrecht fich allein beimaß, durch das herzlichite Wohlwollen an der Tochter gutzumachen.

Im Stift nannten fie Hermann Kurz „das blaue Genie“ oder kurz mweg „den blauen,“ welcher Spigname bis in feine Mannesjahre an ihm hängen blieb. Er felber erklärt ihn im „Wirthaus gegenüber“ fcherzhaft durch eine von blauen Schnupftüchern ftet3 gefärbte Nafe, womit er nicht nur fich jelbft zu nahe tritt, fondern auch der guten Tante Renngott, die ihm damals noch die Wäfche beforgte und die in der Elaffifchen Stadt ber Färber fich befjer auf wafchechtes Zeug verftanden haben muß. Der wahre Grund fol des Dichter Vorliebe für bläuliche Nöde geweſen fein, mit denen er gegen das rigorofe Schwarz der Stiftstracht verftieß.

Im Tübinger Stift, dem ehemaligen Auguftinerflofter, das hoch von der „Neckarhalde“ aufs Tal berniederfchaut und fchon durch fein Aeußeres den Zwang jeiner mittelalterlihen Einrichtung ausdrüdt, hat von je ein befonderer und ein fonderbarer Ton geherrfcht. Die äußere Einfchränfung und Abfperrung von allem Weltwefen bei einem mächtig vollen Schulfad gaben dem fchüchternen Mittelfchlag der Zöglinge einen Stempel fürs ganze Leben mit, ein unbeholfenes und zugleich felbftgenügfames Wefen, das man eben nur mit dem Wort „ftiftlerifch“ bezeichnen fann; bei den ftarf an- gelegten führten fie zur Ueberfpannung und inneren Revolte. Je größer der Zwang, defto ſchrankenloſer der Freiheitötrieb, je reizlofer die äußere Welt, defto höher der Flug der Phantafie. Auch war ja faft aller geiftige Adel des Landes aus dem Stift hervorgegangen, ed gab aljo eine Genie- tradition, und die Nachftrebenden verehrten die großen Namen der früheren Promotionen wie die Griechen ihre Herven. Was nun aber den Ruhm der Anſtalt ausmachte, das war zugleich ihr Vorwurf; denn eben jene Genies waren ja zumeift entlaufene oder „hinausgeworfene“ GStiftler, und der Kultus, den die Machfolger mit ihnen trieben, verfchärfte noch bie Dppofition gegen das Gtift und feine engherzige Regel. Man erbaute fih an ihren Taten, ahmte fie nach, befang und dramatifierte fie und fah dieſe Studentenftreiche gewiffermaßen fombolifh an als den Kampf des Lichts gegen die Finfternis. Das gab natürlich ein hochgefpanntes Gefühl der eigenen Perfönlichkeit, eine jauchzende Simfonsftimmung, die dad Tor der Philifterftadt aus den Angeln heben oder fie und fich unter ihren Trümmern begraben möchte. Hermann Kurz, der feurigfte von allen, hat diefes überreizte Geniewefen im „Wirtshaus gegenüber” mit blendenden Farben dargeftellt: eine Kleine Studentengenoffenfchaft, die fich im Gefühl ihrer höheren Kultur und ihrer Fähigkeit zum künftlerifchen Lebensgenuß

334 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feined Werdens.

vom eigentlichen Studentenleben fernhält um in geiffigen Sympofien zu fchwelgen. In diefer Novelle hat er feine Perfon in zwei Hälften gefpalten: die eine noch jugenbdlich gährende, unreife ftellt feinen damaligen Menfchen unter dem Gerevisnamen Gaeruleus dar, die andere geläuterte und menfchlich gereifte einer etwas fpäteren Zeit hat er in die Hülle feines Freundes und KRommilitonen Rudolf KRausler gekleidet und zur Hauptperfon der Erzählung gemacht. Denn der wirkliche Rudolf Rausler war nach allem was ich von ihm weiß, eine viel ftillere und fcheuere Natur als diefer gebietende Rumald, in dem ber Verfafler fich felbft fo völlig mit dem Freunde verfchmolgen bat, daß er ihm nicht nur feine eigenen Gefinnungen und die Urt feines Auftretens, fondern auch feine frühen Herzenserfahrungen und fein erftes Liebesgedicht unterfchiebt. Doch zeigt die überlegene Rolle, die er ihn bier fpielen läßt, wie hoch er den Freund ſchätzte und welche inneren Kräfte er ihm beimaß. Auch Rudolf Rausler, der Mann mit dem feinen leidenden Schillerlopf, war ein geborener Poet, aber eine jener Naturen, die fo tief ins poetifche Element verfinken, daß fie faft unfähig werden, e8 zu formen. Er hat fpäter als Nachzügler der Romantiker in einer von der Romantik abgefehrten Zeit ein paar feine ftille Novellen gefchrieben, die im Lärm des Zungen Deutfchlands verhallt find. Eine edle, ebenfo zarte wie feſte ur- eigene Perfönlichkeit, die verdient hätte, ald Vorbild weithin fichtbar dazu- ftehen und die nichts erreicht hat, als was fie in fich ſelbſt beſaß. Ihm ift das Lebenslos noch viel farger gefallen als feinem Freunde Hermann Rurz, denn ihm gelang es nicht, fein Wefen in dauernder Geftalt vor die Nachwelt zu bringen, und für feine hohe Kultur hatte das arme Land feine beffere Verwendung als eine Dorfpfarrei, wo er ein einfames, faft fchatten- haftes Dafein führte.

est aber fegelten die Freunde noch mit faufend Maften, und der ftürmenden jungen Schar fchien die Zukunft zu gehören. Erftaunliche Früh— reife, Weite des Horizonte, Fertigkeit und Sicherheit des Gefchmads und Urteild und eine univerfelle literarifche Bildung war die Signatur des ganzen Kreifes um Hermann Kurz. Dazu gehörte neben Adalbert Keller, dem gelebhrten Germaniften, der Zeitlebens einer von des Dichters Getreuften blieb, vor allen der reichbegabte Ludwig Seeger, der behäbige Reutlinger Gottlieb Findh, wegen feines grotesten Aeußern der „Dftjäd” genannt; ferner der geiftvolle und tiefangelegte Hermann Mögling, Rauslers Intimus, der fich fpäter der Religion in die Arme warf und ald Miffionar nad) Indien ging, wohin ihm der Benjamin des Kreifes, der liebenswürdige und allgeliebte Gottfried Weigle, nachfolgte, um dort den Tod zu finden.

Zu diefen tritt noch eine verhüllte Geftalt, vielleicht die anziehendfte von allen, der „Gerettete” aus den fchönen Gedichten, die diefen Titel führen‘), Das Wefen diefes Zünglings mußte den Dichter tief berührt haben als ein Stück lebendiger Poefie, und fein Tod griff ihm nahe ans Herz. Ich weiß nicht3 von ihm ald daß er Hermann Günzler hieß unb daß er am 13. November 1835 ftarb, irgendiwo äußert der Dichter über ihn, daß er am Uebergang vom Märchen ins Leben zu Grunde gegangen

y Sämtlihe Werte, Band I, Geite 35.

Iſolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens. 335

fei. Ich habe immer bedauert, daß das Gedicht „Der Bebrängte” aus dem Zyklus des „Geretteten“, das dieſe Geftalt fo ſchön in wenigen un- vergeßlichen Strichen fefthält, aus beiden Gefamtauflagen mweggeblieben ift. Es möge deshalb bier ftehen an Stelle der nicht mehr aufzufindenden

Derfonalien. Der Bedbrängte.

Die Götter haben Dem Freunde verliehn Des Gefühles tiefe Gewalt, Und uns zu laben Und an fich zu zieh'n Die reizende Geftalt. Und feine Gefellen Die fcharfen und hellen, Die GSeelenrichter, Haben ihm erregt mit Huger Rede Des Zwiefpalts Wellen Und innere Fehde Und getrübt die braunen Augenlichter. Aber die Wangen ftehn in Jugendblüte, Und insg Reich des Klanges, Wo fie verraufchen, Die Mächte des friedlichen Dranges, Iſt er geflüchtet, mit ftillem Gemüte Gelig zu laufchen. So ift ibm der Kampf gelind, Und er ift für die Feinde blind: Er mag nicht friegen, Er mag nicht fiegen, Er mag nicht berrfchen, er mag nicht dienen, So fteht er mitten unter ihnen, Ein finnendes, fehmerzlich lächelndes Kind.

Dies war der Heine Menfchenbund, mit dem der Dichter damals nach feinen eigenen Worten „ein ganzes volles Leben durchgelebt” hat. Rechnet man nun auch noch den Verkehr mit Silcher hinzu, für deffen ſchöne Volks— weifen Hermann Kurz um jene Zeit die Lieder dichtete, die gleich an allen Enden widerhallten, fo muß man befennen, daß die Jugend des Dichters troß aller Kämpfe und Entbehrungen doch eine unendlich reiche und glüd- verheißende geweſen ift.

Das Bild der Univerfitätszeit wird noch vervollfommnet durch das der Vakanzen, die nach gaftlich altfchwäbifcher Sitte meift auf dem Land in verwandten und befreundeten Pfarrhäufern verbracht wurden. Dort verkehrte männliche und weibliche Jugend auf unfchuldig vertrautem Fuß, man las und mufizierte zufammen und machte gemeinfame Ausflüge, und da die DVerwandtfchaften fich durchs ganze Land verzweigten, war es nicht ſchwer, in jedem der hübfchen Kinder eine nähere oder fernere Coufine zu entdeden; dem Vetter aber, zudem wenn er hübſch und unterhaltend ift, kann das „Bäschen“ ein Küflein in Ehren nicht abfchlagen. So fpinnen fich

336 Zfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werbens.

leicht faft gleichzeitig eine Reihe Heiner Verhältniſſe an, die halb gefchmwifter- licher Natur und halb mehr find und neuen Reiz ins Leben bringen. Zwar in den erften Ilniverfitätsjahren war das Herz des Dichter noch in feiten Händen. In der Familie Bilhuber wurde lange und wird vielleicht noch eine zierliche Abfchrift der Fritjoffage in der Helvigfchen Ueberſetzung auf- bewahrt, die der junge Hermann Kurz für die Schweftern Luife und Pauline anfertigte, „eine Handarbeit fo mühfam wie die funftreichfte Stickerei“ fchrieb mir Edmund Bilhuber darüber.

Was ihm das um mehrere Sabre ältere Mädchen fo teuer machte, war, daß er in ihr Zug für Zug das Wefen feiner Mutter wieder zu finden glaubte. Als die Freundin nach einigen Jahren gemeinfamen poetifhen Schwärmens eine profaifche Verlobung einging, gab ihm bdiefe Erfahrung ſchwer zu fchaffen, obwohl er es ja nicht anders hafte erwarten können, und als fie fchon 1836 nach kurzer Ehe ftarb, traf ihn ihr Verluſt zum zweiten Male tief ins Herz. Nur feinem Rudolf Kausler hat er fich darüber ausgefprochen; fpäter nannte er den Namen des Mädchens niemals wieder. In jenen Tagen aber fchloß er ein Sonett über die Rofe und die Nachtigall mit den Strophen:

Der Sänger weint: Ob fie mir längft verloren, Sp muß ich doch zum zweiten mal ertragen Den Schmerz, der immer wieder wird geboren.

Denn immer werden ſüße Rofen fterben, Und ewig werden Nachtigallen Hagen, Daß Schönheit, Huld und Liebe muß verderben.

Unterdeffen hielt in der alten Daterftadt die Dote noch immer das Meft für den Ausgeflogenen warm. Die bei aller Einfachheit grundgejfcheite Frau war jegt aus ihrer vormundſchaftlichen Rolle in die einer Freundin und Pertrauten übergegangen und fuhr dabei fort in mütterlicher Weife für feine leiblichen Bedürfniffe zu forgen. Zwar fiel e8 ihr ſchwer fich zu überzeugen, daß der ſüße Manbelbrei, einft die Leibfpeife des Knaben, die fie jegt auch dem Züngling nad) heißem Ritte ald Lederbiffen vorzufegen pflegte, nicht mehr denfelben Beifall fand; aber im übrigen war fie elaftifch genug, den Sprung in die neue Zeit refolut mitzumachen und ſich aus der altwäterifchen Frau Dote in die moderne Tante zu verwandeln. Don ihren Briefen, die der Neffe an jedem Botentag empfing und wie Liebesbriefe hütete, bat er jeden Zettel aufbewahrt. Diefe Hleinen, pergamentartigen Papierwifche bleiben jedem, der fie einmal in der Hand gehalten hat, un- vergeßlih. Sie fehen aus wie Keilfchrift und haben in ihrer lapidaren Kürze, in der Direftheit der Ausdruds, die vor nichts zurückſchreckt, und in ihrer ganzen erhabenen Einfalt etwas geradezu Monumentaled. Da ihr ungerreißliche8 Papier fie vor dem Untergang ſchützt, werden fie vielleicht einmal einem künftigen Sprachforfcher ald Fundgrube für jenes „Ult- und Urdeutjch einer altſchwäbiſchen noch halb gotifch redenden Stadt“ ') dienen, wenn er nämlich diefe Gehörshierogiyphen, wie der Dichter fie nennt, weil

26. das Witwenftüblein.

Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feines Werdens. 337

die alte Frau nur dem Laute nach ſchrieb, entziffern kann. Unterdeſſen werden fie ald koſtbare Familienreliquie gehüte. Meift handeln fie zwar von den einfachiten, alltäglichften Dingen, aber die tiefe Liebesmacht, die darin waltet, gibt ihnen einen unvergänglichen Zauber. Die alte Frau berichtet vom ausftehenden Gelbe, das fie für den Neffen zufammentreibt: „Das Geld ift von drei Perfonen bis wir es zu Samen gebracht haben“ von feiner Wäfche die fie ihm beforgt und flickt: „Sid die fehmarze Henter.* !) Dazmwifchen gibt fie Familiennachrichten etwa wie folgt: „Leider ift der Gotthold wieder geftorben, die Eltern tauren mich fehr, es ift arg alle jahr eim Kind die Augen zu trüden, der liebe Gott wolle fie ftärfen, fie tauren mich Sehr.” Oder: „Demmlerd Kinder find in einer Stund geftorben, er thut ärger?) als fie. Zakobs Frau hab ich glaubt, die Sterb an Halsweh, die ift recht fibel dran geweſen.“ Sie ängſtet fich für ihres Lieblings Leben, wenn er außreitet, und wenn er des Nachts einen finftern Wald paffiert, fo fühlt fie es aus der Ferne. „Die Waldangft,“ fchreibt fie einmal, „babe ich gehabt wen ich es gleich nicht gewußt hab.“ Ein andermal: „Gottlob das du fo glüclich durch den Wald gefonnen bift, wiffen hate ich e8 nicht dürfen, ich wäre vergannen vor Elind. Der Io- hannes) ift ſehr vergnüt fommen mie es fo gut gegannen fey aber es ift feine halbe Stund an geftanden ift ein Stunten*) zu der Anamrei?) unter das Haus gekonnen hat nach dir gefragt, du feyft wider zurüd gekonnen ber Nedar fey aus geloffen da gein®) des Kreuß an. ach das vor meine Ohren feine traurige Botfchaft konnen.“

Und wieder in wachfender Angſt um den geliebten Wildfang:

„Lieber Hermann. H. Veter hat mir 2 Gedicht geben ich foll es dir Sicken und gefagt du werftet wie rum’) Bon Pferd geftürzt Sey, ich fol dir doch es Schreiben das du bein edles Leben nicht auf einer fo elend mer?) einbüfeft, von den haft du mir nichts gefagt, und doch hab ich fo eine Angft gehabt bis ich einen Brief befonnen hab das du noch Iebeft. ich bit dich Reit nicht nach Ehingen, was thuft du fo ein par Stund bey in?) fon lieber Freitag Morgen zu mir da fan man auch ein Wort mit einander reden wen man allein ift, deine wafch und alles was du wilft will ich an Freitag Siden, wen bu gleich bier bift. du Faft fie helfen paden ich bite dich um alles willen, Mach mir boch feine angft mehr wegen Reiten, lauf, lauf,'°) aber aber fon nicht fo Spat, Sonft mus ich vor Angft Sterben, wirklich '') bin ich Gottlob recht gefund und mag brot effen, fonn ummer '?) da wirft du es feben. Deine dich liebete tante Pfarr. Renngott.“

Schidl die ſchmutzigen Hemden.

) jammert mehr.

Kurz, ein Brudersfohn meines Vaters, ſpäterer Erzieher Mi.

) —— die alte Magd. Siehe „Jugenderinnerungen“ ©. 97.

*) ging. ) werdeft wieberum. Mähre.

°) ihnen.

, Shwäbifch für „Geh zu Fuße.“ 19 Schwäbifch für gegemmärtig.

1, herüber.

Süddeutfhe Monatshefte. IL, 10, 22

338 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feined Werdens.

Das legtere ift ihr gewöhnlicher Schluß, manchmal unterfchreibt fie ſich auch ſchlechtweg „deine Tante bis in Tod.“

Doch nicht allein des Neffen leibliches Wohl ift ihre Sorge, fie ahnt und fühlt auch feine GSeelenfämpfe mit, als er mehr und mehr mit dem theologifchen Studium in Zwiefpalt gerät. And gerade ihre tiefe echte Frömmigkeit macht fie gegen den Zmweifelnden nachfichtig, da fie die Redlich keit feines Herzens kennt und ja in allem, was gefchieht, Gottes Finger ſieht. „Was du nicht fafen kanſt,“ ſchreibt fie einmal, „das denke Gott wolle dird for jeg nicht auferlegen.“ Geine innere Unruhe macht aud) ihr fchlaflofe Nächte; als er in einer Saulsftimmung dem jüngeren Bruder, der ihn darum angeht, feine geliebte Flöte mweggibt, die fchon in den Wäldern Maulbronnd feine treue Begleiterin war, damit nun auch fein Wohlklang den verftörten Sinn mehr befchwichtige, da fühlt fie den Riß in feinem Wefen fehmerzlich mit. Wenn aber die Nachricht kommt, daß er fich befriedigter fühlt, jubiliert fie: „das du auch große Männer lieb bift weil du mir fo lieb bift, fo was macht mich jo Reich, und fo ein inner Fried, und fo ein heißer Danf gegen Gott in mir.“

Ih kann es mir nicht verfagen, noch eines diefer Blättchen, der frigligen Handfchrift nach eines der lesten, in feinem Wortlaut mieber: zugeben. Der Empfänger, der damals auf eigene Hand das Englifche trieb, bat auf die Rückſeite gefchrieben: „Behold what a true and lovely letter!* Die alte Frau fchreibt in ihrer unzufammenhängenden Sasbildung: „lieber Herman. ich danfe dir auch Vor das Buch, wo du den I. Ernft gefic haft, e8 bat rechte gute Gedanken die ung zur Wirklichen Zeit wo nichts als Deft und KRriegsgefchrey ift, darfen wir unfere Herzen von der Welt lot: reißen und zum Himmel erheben, er!) ift wol noch weit fon ung entfernt, aber wir Sind auch nicht beffer als andere, in Gottes nahmen der Herr thue was ihn mol gefalt, ich freu mich das du bald zu ung fonnft, es gibt bald gute frauben, der liebe Gott erhalte dich gefund. lebwohl deine fante Pfar. Renngott.“

In ihren legten Tagen, da der Huften, „der bös Kerl“, über den fie oft in den Briefen Hagte, immer mehr überhand nahm, ritt der Neffe bei- nahe täglich nach dem nahen Reutlingen zu ihr hinüber und „ſah mit ver- zweifelnder Gewißheit wie das teure Leben nach und nach erloſch.“ „Sie aber war heiter,“ erzählte er im „Witwenftübchen“, „das Meer des Srdifchen raufchte tief und unvernehmlich unter ihr, alle Sorgen um ihr Schmerzensfind hatte fie dem niederen Dunftkreife, dem fie fich fchon zu entheben begann, zurüdgelaffen. Nur wenn fie mich ungeberdig ſah, ver- fprach fie mir, wieder gefund zu werben. So fchieden wir an einem Auguft- abend unter fröftlichen Gefprächen, und noch einmal ſaß die Hoffnung mit mir zu Pferde, aber am andern Morgen hinkte mir die Todesbotfchaft nach.“ ?)

Ihr letztes Brieflein, offenbar am Vorabend des Todes hingekrigelt, ift nur noch ein wirres Stammeln über Dinge, die ihren Liebling betrafen und fchließt: „ieg will ich meine Hoffnung auf Gott Segen und der wird

') Der Krieg nämlich.

9 9. Auguft 1834,

Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Seit feined Werbens. 339

mich nicht verlaffen.” Darunter fteht von der Hand des jüngeren Neffen: „O Gott! Hab Mitleid!“

Das Gedicht an ihren Tod, von Heyfe in der fpäteren, gereifteren Form in die Vorrede verfegt, ift von dem neuen Herausgeber wieder in die Sammlung der Gedichte und zivar in feiner urfprünglichen, noch un- vollflommeneren Geftalt aufgenommen worden.

Mit dem Hingang diefer prächtigen Frau ri das ftärkfte Band, das den Eigenwilligen mit dem ordnungsmäßigen Lebensgang, den die Seinigen ihm zugedacht hatten, verfnüpfte. Geit er niemand mehr hatte, der ihn vor dem „bordierten Hütlein“ warnte, und nicht mehr fürchten mußte, ein liebendes Herz zu betrüben, verfeindete er fich immer mehr mit der Anftalt, der er angehörte und die auch ihre Ehre wollte. Ein Bändchen fatyrifcher Epigramme, das er unter dem Titel „Faufts Mantelfahrt“ druden ließ, fol im Stift fehr böfes Blut gemacht haben; eine mehrtägige Reife, die er ohne Urlaub im Intereffe eines andern unternahm und deren Anlaß er aus Ritterlichkeit nicht bekennen wollte, wurbe endlich der äußere Grund feiner Entlaffung.

Jetzt war er frei, aber die Freiheit koftete ihn ben Reſt feines Kleinen väterlichen Erbteild. Denn da er nicht in den Verdacht fommen wollte, als babe er vor dem „lumpigen Eramen” Reißaus genommen, mußte er die Bollendung feiner Studien aus eigener Tafche beftreiten. Im Herbft 1835 beftand er die Prüfung mit Ehren und trat ein paar Wochen fpäter bei feinem Onkel Moor, einem philofophifch gebildeten und freifinnigen Manne, in Ehningen bei Böblingen als Vilar ein. Aber der Widerfpruch zwifchen feinem Amt und feiner LUeberzeugung, der Zwang, dasjenige ald Dogma zu predigen, was er nur als fombolifche Wahrheit anerkennen fonnte, machte ihn tief unglücklich. Nicht als ob damals ein befonders ftarrer Dogmatifcher Geift geherrfcht hätte. Schon der Umftand, daß fo viele ‚der höchftbegabten bie theologifche Laufbahn wählten, mußte einen freieren Zug in die württem- bergifche Geiftlichkeit bringen. Konnte es doch vorkommen, daß der prote- ftantifche und der katholiſche Geelforger ein und besfelben Ortes auf folle- gialem Fuße verkehrten, daß fogar gelegentlich der erftere die Funktionen des legteren verfah; ja in einem Fall, den ich kenne, ging die Toleranz fo weit, daß ein gebildeter Nabbiner der dritte im Bunde war. Hermann Kurz hätte alfo ebenfo gut wie manche feiner Kollegen, die in der gleichen Lage waren, fich mit feinem Gewiffen durch die Erwägung abfinden fünnen, daß jedes Bild des Llnendlichen nur ein Gleichnis ift, während doch bie Menge eine fefte Form für ihre religiöfen Bebürfniffe braucht. Uber in der Seele des Dichters liegt ein unwiderftehlicher, rückſichtsloſer Wahrheits- drang, und eine produktive Natur muß ihren eigenen Gefegen gehorchen. Er fühlte fih ja nicht einmal äußerlich am rechten Plage, denn der Land- aufenthalt, in dem ein Eduard Mörike, der nur auf die inneren Stimmen laufhen wollte, oder auch der zartgeftimmte Nubolf Kausler fich wohl fühlen konnte, wurde ihm auf die Länge zur Qual. Geine feurige epifche Mufe wäre in der Eindde verfommen, fie verlangte ihre Nahrung aus dem Leben zu faugen, der Dichter felber brauchte die Berührung mit ber Welt, wenn er fich nicht felbft verzehren follte.

340 Sfolde Kurz: Hermann Kurz in der Zeit feined Werdens.

Seine innere Stellung zur Religion hat er, bald nach feinem Bruch mit der Theologie, in einem Brief an Rubolf Rausler ausgefprochen. In diefem Schreiben aus dem Jahr 1836 heißt ed: „Ich glaube eine Borfehung und zwar eine individuelle: lieber Gott, wer forgte denn fonft für ung Genies, blaue und graue (aus dem Lied: meine Mutter hat Gänfe). Uber es ift ein Inftinkt, denn eine Intelligenz wäre erbärmlich, es ift ein Inſtinkt, der einen gewiffen Knaben vor großem Unglüd bewahrte, der bei hoben Fällen oder Stürzen „feinen Engel gefandt hat, auf daß fein Fuß an feinen Stein ftieße“, der ihn einmal vor wilden Pferden durch die Hand eines furchtfamen und fonft wahrhaft feigen Mädchens gerettet hat’). Ich glaube, e8 ift feiner was, der nicht diefen Glauben hat, und dieſer Glaube bat mir oft geholfen. So auch jest und ich bins zufrieden, daß ich meinem Geficht gegenüber eine Wand und feine Gemeinde habe.“

Kürzere Predigten find wohl felten gehalten worden als die des Vikars Hermann Kurz. Eines Morgens ging er von Haufe weg, während ber alte Pfarrer fich noch ankleidete, und als diefer fertig war und ihm folgen wollte, fand er den Neffen auf dem Rückweg von der Kirche. „Haft du deine Aufzeichnungen vergeffen ?” fragt er beftürzt, „bleib, bleib, ich bringe fie dir gleich.” „Nein Onkel,“ ift die Antwort, „ich bin fchon fertig.“

Us heitere Erinnerung an feine Vilariatszeit pflegte er die Anekdote zu erzählen, wie er einft mit einem andern Vikar eine ausgelaffene Wette einging. Sener follte feine Braut Sophie (ſchwäbiſch im Diminutiv: „Sophiele“) von der Ranzel rufen und begann die Predigt mit den Worten: „Sp viele, ach fo viele find es, welche” wogegen Hermann Kurz über- nommen hatte, die feinige mit „fondern“ zu beginnen und demgemäß auf der Kanzel anhob: „Sondern wir, meine geliebten Zuhörer, die chriftliche Religion von allen andern Religionen ab.“

Doch der Galgenhumor half ihm fo wenig wie die Sophiſtik welt- klügerer Rollegen über den Zwieſpalt hinweg. Mehr ald einmal trat bie Berfuhung, feinem Leben ein Ende zu machen, die ihn ſchon im Stift in feidenfchaftlihen Momenten befallen hatte, an ihn heran. Als er biefe Dein einige Wochen mit fich herumgefchleppt hatte, erklärte er eines Tages dem Ontel entfchloffen: „Lieber tot fein als Vikar!“ und der Theologie auf immer Valet fagend, wagte er den Sprung ins Unbekannte, indem er zu Anfang des Jahres 1836 nach Stuttgart überfiedelte, um dort als freier Schriftfteller zu leben. Mit diefem Entfchluß, der damals noch ein ganz anderes Wagnis war als heute, hatte er aber auch auf ein forgenlofeg, feft umfriedetes Dafein für immer verzichtet.

ı) Der Vorfall, auf den hier angefpielt ift, ereignete ſich in Reutlingen während ber früheften Kinderjahre meines Vaters, ald er einmal mit andern Knaben auf der Straße fpielte und durch wild daher rafende Pferde in äußerfte Lebensgefahr ge bracht wurde.

Einiges über Farbenmaterial und Maltechnif.

Bon Hans Thoma in Karlsruhe.

Leone Battifta Alberti in feinen drei Büchern über Malerei fagt in feiner gründlich Hardenfenden Urt unter vielen anderen für Maler immer- bin beherzigendwerten Dingen:

„Sch nehme wahr, daß auf einer ebenen Fläche die Farbe ihre beftimmte Erfcheinung auf jeder Seite bewahrt; auf konkaven und fphäri- fhen Flächen hingegen erleidet die Farbe eine Veränderung, indem eine Stelle im Lichte, eine andere im Dunkel, eine dritte im Halbdunkel fich befindet. Diefer Wandel der Farbe wird nun unmwiffenden Malern Schwierigkeiten bereiten, wo hingegen fie die Lichter mit Leichtigfeit auf- zufegen wüßten, wenn fie, wie ich vorher fchon gefagt habe, die Grenz- linien der Flächen richtig gezeichnet hätten. Sie würden dann fo vor- gehen, daß fie zuerft jede Fläche, welche weiß oder fchwarz nötig hätte, bis zur Scheidelinie mit diefem oder jenem wie mit einer leichten Tau- fchichte überzögen, darauf dann eine andere legten und noch eine andere und fo fort, bis daß da, wo ein ftärferes Licht, auch ein fräftigeres Weiß wäre und da, wo das Licht ſchwächer würde, fi auch das Weiß wie Quft verlöre, ähnlich würden fie es mit dem Schwarz machen.”

Dann empfiehlt er eine gewiſſe Mäßigung mit dem Ausgeben bes Weiß, fo daß man für den Glanz einer mohlgefchliffenen Degenflinge immer noch Licht genug übrig behält, wenn man auch fehon eine weiße Gewandung gemalt habe ebenfo mit dem Schwarz, um die dichtefte Finfternis anzu- zeigen. Er kommt fodann zu folgendem Ausſpruch:

„Ich wünfchte, die Maler müßten das Weiß teurer als die koſt barften Steine erfaufen. Und gewiß wäre es von Nugen, man bereitete das Weiß und Schwarz aus jenen großen Perlen, welche Kleopatra in einer Säure auflöfte, wären die Maler doch dann gezwungen, damit fpar- fam umzugehen, wodurch ihre Werke an Wahrheit und Unmut gewännen.“

Ich hörte fagen, daß auch Tizian eine ähnliche Aeußerung getan und ben Wunfch ausgefprochen habe, daß das Weiß unerfchwinglich teuer fein follte.

Man fieht aus obiger Aeußerung, daß die Maler ihr Licht in den Untergrund verlegten, ein heller Grund, der in einem Grau beftanden haben mag, auf dem ſowohl dag Aufhöhen mit Weiß ald das AUbtönen mit Schwarz ihre Wirkung taten, um die Modellierung der unebenen Flächen

342 Hans Thoma: Einiges über Farbenmaterial und Maltechnit.

darzuftellen. Es fand eine Art von plaftifchem SHerausarbeiten bes Gegenftandes ftatt in Licht und Schatten und der Farbenauftrag gefchah fodann mit durchfichtigen Farben, die der Untermodellierung nicht allzu viel Abbruch tun fonnten. Das den Untergrund bildende Weiß, Grau, Schwarz barmonifierte alle Farben, die Farbenklarheit und Einheit blieb gewahrt weil das trübende Mittel Weiß davon ausgefchieden war. Weiß ift das trübfte dediendfte Farbenmittel und eine farbige Helligkeit, die über Weiß gezogen, kann faktifch heller erfcheinen ald das deckendſte Weiß, obgleich es der Reinheit des Weiß Abbruch tun muß. Es läßt fich eine farbige Licht. helligfeit denten, die etwas Unendliches an fich hat weit über das Weiß hinaus. Anſere Malmittel find freilich befchräntt und Weiß ift das belffte, was wir haben. Wir müffen dies einfehen andererfeitd geht unfer Begriff von der Helligkeit farbigen Lichtes bis in eine Unendlichkeit, in ber fie für das menfchlihe Auge unerträglich wird. Schon in unferen Mal mitteln haben wir die Macht über das matte Schwarz, was wir als fom- paft annehmen, in farbigen Lafuren weit hinaus zu gehen auch hier farbige Dunfelheit, für die unfer Auge nicht gemacht ift. Der Künftler muß mit feinen Mitteln rechnen, wenn er feelifche Eindrücke, die er von der Außenwelt erhält, im Bilde fefthalten, für Menfchenaugen objeftivieren will.

Ein Hauptreiz aller künftlerifchen Tätigkeit befteht in diefem Wiegen und Wägen der ihm gegebenen materiellen Mittel zu feinem Zwecke, den in der Regel nur er allein fennt, den die Welt und ihre Theorien ihm nie mals vorfchreiben kann. Doch auch hier muß er in der Anergründlichkeit des Menfchengeiftes mit Höhepunften, die Einzelne erreichten, nicht in Widerfpruch geraten. Mit der Tagesmeinung kann er jederzeit, und er wird es faft immer, in Widerfpruch geraten, das ſchadet nichts. Alles um ber Sache willen zu tun ift Künftlers Art alſo befonders auch „deutſchen“ Künftlers Urt. In das Chaos ſeines Materiales hat der Künftler ald Schöpfer Maß und Ziel zu bringen und feine Hand ift eine ordnende Hand, die feinem Schöpferwillen Ausdrud zu geben hat.

PH. D. Runge hat in dem in Goethes Farbenlehre aufgenommenen Briefe diefen Ideen über Farbigkeit, über das Wefen der durchfichtigen Farbigkeit, den ſchönſten Ausdruck gegeben und ich möchte hier auf diefen Brief hinweiſen.

Ungetrübtes Licht, ungetrübte Duntelheit, wenigſtens die mit Maler- mitteln erreichbare Idee derfelben ift es, was ung vor großen Werfen mit magifcher Gewalt zu ergreifen vermag daß wir wie vor einer Viſion zu ftehen wähnen, die aus tieffter Seele, fagen wir aus unferem Traumleben, hervorzugehen fcheint.

Sp gibt e8 ja wirklich Bilder, die ung vollftändig gefangen nehmen ohne daß der Gegenftand daran ſchuld ift oder die Erfindung oder der verftandesmäßige Aufbau wir wiſſen nicht, was es ift diefer Zuftand für unfere Sinne fann beim einfachften GStilleben eintreten. Aber wenn wir ung NRechenfchaft darüber geben wollen, fo ift e8 immer die Idee, ald ob wir da vor einem Weltganzen ftehen würden, in dem wir das ganze Sein, wie es ſich dem Auge zu offenbaren möglich ift, erkennen lernten. Es wird eines unferer Urgefühle, das vor aller Begriffsbildung vorhanden

Hans Thoma: Einiges über Farbenmaterial und Maltechnit. 343

ift, in den Kreis diefer Darftellung gezogen und es wirft fo gewiſſermaßen als Zauber auf ung.

Es offenbart fich hier etwas Unergründliches, was freilich leicht, fo bald die Verftandesbegriffe in ihr Recht treten, fich zerftören läßt. Die Sinn- lichkeit in ihrem tiefjten und fchönften Sinne feheint ſolche Werke direft ge- fhaffen zu haben, und die edelfte Sinnlichkeit, wie fie ſich am reinften dem Auge darftellt, ift es, zu der fie fprechen. Bei dem Maler ift es aber eine duch Abſicht are Einficht in feine materiellen Mittel, weit über den Zu- fall erhaben, die ihn befähigt, derartige Wirkungen hervorzubringen.

Er will fie vor allem für fich hervorbringen und ein angeborener Drang lebt in ihm, der ihn dazu treibt, fich Nechenfchaft zu geben, es fich Har zu machen, was vom Weltdafein auf ihn wirft und mie ed auf ihn wirft. Er muß fomweit über feine Mittel Mar werden, um den immer präziferen Ausdruck für feine Abficht zu finden. Diefe befchränften Mittel! Uber vernünftig angewendet fünnen fie doch nach etwas AUnendlichem hin- weiſen. Das Mühen und Suchen, diefe armen Mittel zum Ausdrud von etwas Unendlichem zu erheben, ift wohl des Künftlers fchönfter Teil.

Da ift nun das verftandesmäßige Erkennen, was diefe Mittel ſowohl neben einander wie in ihrem Unter- und Lebereinander hervorbringen können, von größter Wichtigkeit. In den Tagen als ich mich mit diefem Auffas über Farben- und Maltechnit befchäftigte, fah ich zum erften Male den Sfenheimer Altar von Grünewald in Rolmar. Es iſt dies wohl der größte Schatz an Malerei, den wir in Deutfchland befigen es ift der fpezififchfte Ausdrud deffen, was deutfche Malerei zu leiften vermag. Die Idee der Farbenbehandlung ift in diefem großen Werke von einer Vertiefung daß es erfcheint ald aus innerlichfter Anfchauung, die direft an das Traumleben anfnüpft, hervorgegangen zu fein. Die technifchen Mittel vergißt man ganz es find gar feine Prinzipien mehr vorhanden, nach denen man es einrubrizieren könnte, es ift eine ber freieften Schöpfungen, welche die Malerei je hervorgebracht hat. Wie objektiv ftark gegenwärtig ift alles auf diefen Bildern zugleich wie voll des fubjektivften Empfindeng, deffen die Bildkunft fähig ift. Hier ift volle Beherrfehung aller Farbenwunder und alle Theorien werden fo Hein, und doch gerade hier foll der Maler lernen, bier foll er erkennen lernen, zu was die Malerei auf ihrer Höhe- ftufe fähig ift. Er darf dabei auch an die Mittel denken, durch die ein ſolches Wundermwerk hat entftehen können.

Es war nahe daran, daß ich meinen Vorfag, allerlei aus meinen praftifchen Erfahrungen über Maltechnif aufzufchreiben, vor diefen Bildern aufgegeben hätte. Hier lernt man fchweigen, doch will ich gerne auf diefe Grünemwalds hindeuten, es erklärt fich vielleicht dadurch manches, was ih meine, wenn ich von Farben und Maltechnit doch allerlei ſage es find Dinge, die ich aus Erfahrung fenne und die vielleicht da und dort einem jungen Maler einen Fingerzeig geben künnen.

Im fohroffen Gegenfage zu Alberti ſteht e8, daß ein moderner Ala- demieprofefjor gefagt haben foll, es fei feiner ein Maler, der nicht den Tag über ein Pfund Kremſerweiß verbrauche.

Diefe Gegenfäge geben zu denken; denn Alberti, der Hare Denter,

344 Hans Thoma: Einiges Über Farbenmaterial und Maltechnit.

bat gewiß den draftifchen Ausſpruch über das Weiß in vollem Ernfte ge tan ebenfo der moderne Maler; es fagt niemand etwas, und wenn es auch ein ungeheuerlicher Ausfpruch ift, ohne daß fein Denken dadurch nad einer Seite aufgebedt würde. Diefe zwei Ausfprüche zeigen fehr frap- pant zwei Gegenfäge, die in bezug auf Maltechnik vorhanden find. Wenn man es kurz und deutlich fagt, fo ift es der Gegenfag der Lafur- behandlung, der befonders in der Malerei der alten Meifter in der Blüte zeit der Malerei herrfcht, und ber Dedfarbenbehandlung der Modernen, bie fortgefchritten ift bi zur efligen Trodenheit des Paftellftiftes.

Die Art, wie die Modernen die Delfarbe behandeln, führt notwendig zum Deckmalen, zum Dickmalen; es ift bequem, fortwährend durch Zudecken am Bilde ändern zu können; und vorher einen Plan des Bildes feftzuftellen, wird fchier unnötig das Bild entwidelt fi) aus Farbenfleden heraus und wenn ber Maler überhaupt etwas gewollt hat, fo wird das Bild doch meift anders, ald er gewollt hat. Die Klarheit des Materiales geht in dem Mifchbrei verloren und da in der Kunſt alles fo innig zufammenhängt, auch die Klarheit des Fünftlerifchen Gedanken oder des aufbauenden Empfinbens.

Senfitive Maler haben auch von jeher bei der Dedfarbenbehandlung inſtinktiv den Reiz ber Lafur berzuftellen gewußt während der Primaarbeit, an der fie bei der Dedölfarbe mit aller Kraft fefthielten und welches alla prima dies ftüchveife Sneinandermalen auch das einzig richtige ift bei der Delfarbenmalerei fo malte 3. B. Viktor Müller immer in die did- aufgetragene Delfarbe, wenn fie anfing zu trodinen, mit weichen, breiten Haarpinfeln mit Hilfe von barzigen Bindemitteln hinein, wobei Farblagen übereinander gezogen, und doch als Maſſe gerade noch vor dem völligen Trodnen verbunden, zu geheimnisvoll fehöner Wirkung gelangten. Eine gewiffe Tiefe der Farbe, die fi) aus dem Schwarzen heraus entwidelte, half mit fo fam durch die etwas komplizierte Behandlung ein feines Grau heraus von fchönfter Harmonie. Auch Leibl, der Primamaler, be handelte jeine Farben in ähnlicher Weile, fo daß ein lebendiges Vibrieren in allen Teilen feiner Malerei fich fundgibt. Wer diefe angeborene Fein fühligfeit der Natur gegenüber hat, wird wohl mit jeglichem Material, das er beberrjchen gelernt bat, Gutes hervorbringen. Daß ein geborener Maler mit jedem Material zum Ausdrud deffen fommen kann, was in ihm zum Ausdruck drängt, ift jedenfalls ficherer al8 die alte Frage, ob Rafael - zum Maler geworden wäre, wenn er ohne Hände geboren wäre. Das alles beruht auf dem geheimnisvollen Gefchehen, welches das Material eingehen muß in der Hand eine? Malers, der die Erfcheinung immer ald Weltganzes vor fich hat, kraft feines angeborenen Talentes.

Man fuchte vor nicht langer Zeit aus ber gewiſſen Delfarben- patjche, die eigentlich durch den Zwang des unrationell behandelten Ma- teriales entftand und faft immer die gleiche Erfcheinung, ein enger Bann: freis, den die Mittel bedingten, heraus zu fommen. Man gab nun dem Material die Schuld und mühte fich ab, ein leichteres Material in den Temperafarben zu finden, die Har bleiben follten und auch nach dem Fir- niffen große Durchfichtigfeit gewannen. Die fehon dadurch zu einer gewiſſen

Hans Thoma: Einiges Über Farbenmaterial und Maltechnit. 345

Einheitlichkeit zwangen, daß man fie nur in bünneren Schichten auftragen fonnte und der Untergrund immer noch ähnlich wie das Papier beim Aquarell mitfprechen mußte. Eine gewiffe Einheitlichkeit, die beim Del- deckmalen fo leicht in die Brüche geht die Harmonie der Bildfläche wurde wieder anerkannt. Faſt alle Maler waren eine zeitlang von ben Wirkungen irgend einer Temperafarbe entzückt, man verſchwor vielfach die Delmalerei, eine gewiffe Delfurcht fam über die Maler. Und doch, es gibt wenige, die ihre Temperamalerei rückſichtslos durchführten, fie nicht fchließlich wieder mit Delfarbe zudedten. Die Nachteile der Tempera, daß der Auftrag beim Firniffen ungleich wurde, zerftörte manche Sllufion. Gefirnißte Tempera ift eigentlich doch nichts anderes als es dünne, durchfichtige Del- farbe auch fein kann es verfchlägt ja wirklich nicht viel, ob man das Del gleich den Farben beimifcht oder ob man fie erft nach dem Tempera- auftrag mit Delfimis tränft das erftere ift ficherer und der Auftrag kann gleichmäßiger ftattfinden es findet feine Enttäufchung mehr ftatt, wenn ein Firnid die Gleichmäßigfeit der Oberfläche wieder berftellen fol.

Uber die Temperabehandlung war doch eine gute Erziehung nad) einer rationellen Maltechnit hin das rückfichtölofe Drauf und Drüber wie bei ber dicken Delfarbe fiel weg oder aber, es rächte fih auf der Stelle. Die Tempera erlaubte das rüdfichtslofe, dicke Ueberftreichen vorhandener Fehler nicht, es mußte Plan und Heberlegung, Vorficht im technifchen Auf- bau eines Bildes eintreten. Wenn fie nicht, wie es wohl auch bei manchen Draufgehern geſchah, geradezu die Roheit fanktionieren mußte, die Un— empfindlichfeit des Auges gegen alle Buntfchedigkeit und Zufallsflecken⸗ haftigfeit noch vermehren mußte.

Alle Stoffe, welche Heben, wurden fo nad) und nach ind Bereich der Malbindemittel gezogen, Eigelb und Eimweis, Käſe, Leim, Waflerglas, Kleifter, Gummi, Kirfhharz, Tragant, Mifchungen von all diefen mit Del- emulfion, mit Wachsfeife. Ein Maler probierte es mit Bafelin und fchrieb in ein maltechnifches Blatt, dab das das DVorzüglichfte fei, nur feien die Bilder nie troden geworden; er forderte die Chemiker auf, ein trocknendes Vaſelin für Malerei herzuftellen ich weiß nicht, ob fie das fünnen vielleicht gelingt e8 ihnen dann auch, ein rote8 Grün bervorzubringen.

E83 kam eine große Delfurcht über die Maler, fie nahmen Del auf: faugenden Kreidegrund und quälten fich unfäglich damit Del follte auf einmal an der Zerftörung der Bilder fchuldig fein. Die Farbenfabri- fanten kamen in große Not alle feien Fälfcher ihre Farben feien nicht haltbar. Einer erzählte in dem oben erwähnten maltechnifchen Blatt, was ihm paffiert fei; ald er nämlich Pariferblau mit rotem Zinnober gemifcht babe, fei eine ſchmutzige Maſſe daraus geworden, jedenfalls feien dies ge- fälfhte Farben vom gemiffenlofen Fabritanten hergeftellt gewejen. Der Mann bat freilich nicht gewußt, wie nahe er daran war, ein rote8 Grün zu erfinden. Die einfache Farbenlehre, daß fomplementäre Farben fich zu Grau neufralifieren, wenn man fie mifcht alfo in diefem Falle Grün- blau mit Scharlachrot Gelbrot das wußte er nicht, aber die Fabri- fanten anflagen, das machte fich gut, und fo ſchien es auch in den Rahmen bes Blattes zu paflen.

346 Hans Thoma: Einiges über Farbenmaterial und Maltechnit,

Sc felber habe auch recht viel probiert und erperimentiert, denn es ift eigenes Vergnügen dabei, folhe Mittel zu erfinden und berzuftellen als ich aber in den legten Jahren aufgefordert wurde, etwas von meinen Erfahrungen mitzuteilen, habe ich gefchrieben, daß ich nun fo weit ger kommen fei, daß ich mit allem malen künne, was Elebe, d. h. was geeignet fei, die Farben auf die Grundfläche zu befeftigen ich fage dies hier noch einmal, weil ich glaube, daß das betreffende Blatt dies nicht ab- gedrudt hat.

Was ich nun fagen will das getraue ich mir faum zu fagen; es be- trifft die Haltbarkeit der von den Fabrifanten bezogenen Farben; fie felber zu reiben ift ja faum mehr angängig. Ich kann mich bei diefen meinen Erfahrungen auf eine bald 40 jährige Tätigkeit berufen, auf Arbeiten die ſchon fo alt find; ich muß es fagen an dem Ruin der Bilder ber jo vielfach und in fo kurzer Zeit beflagt wird, find die Fabrikanten mit ihren Delen, mit ihren auf Wunſch mancher Maldilettanten gefhönten Farben, mit ihren Zufägen von Wachs u. dgl. nicht ſchuld, fondern die Maler felber. Jeder Anftreicher könnte es dem Maler fagen, daß Farbenauftrag, den man fo übereinander ftreicht und auf folche Gründe ftreicht, nicht lange halten kann, daß er fledig und fprüngig werben muß. Es iſt da nicht der Ueberſchuß an Del, der zerftörend wirkt, fondern fehr oft auch der Mangel an Del; fo ein dicker Quatfch und Brei wie er aufgeftrichen wird, muß ja bald fpröde werden und abblättern nun gar auf einem Kreidegrumd der zu wenig Leim enthält um der Sprödigfeit der Farbe Halt zu geben Farben, die reich in Del gebettet find, halten fich faft immer beffer das ift meine Erfahrung. Alle Bilder, die ich mit dünnflüffiger Delfarbe ge malt habe, haben fich vorzüglich gehalten, ja bei vielen derfelben hat das ftattgefunden, was man das Ineinanderwachfen nennt ein von der Zeit beforgtes DVerfchmelzen. Ich habe Farben aus allen möglichen Fabriten gebraucht und fie haben fich alle aufs Befte gehalten freilich habe ih die einfachen Oder und Erdfarben bevorzugt und neuere Farben haben wir von einer Dauerhaftigkeit wie fie die Alten faum hatten, 3. ®. das feuerige Chromorydgrün. Mit höchftens zehn Farben, Schwarz und Weiß mitgerechnet, kann ein wirklicher Maler alles darftellen, was er nur will. Allerdings muß er die Farben behandeln lernen und nicht malträ- tieren, fonft rächen fie ſich; fie haben gar fehr ihre Tücken und Laffen ſich eher etwas abſchmeicheln ald abtrogen.

Ein fehr gutes Buch für Maler, die fich ernftlih um ihr Material fümmern, hat T. F. Linke gefchrieben, auf das ich gerne hinmweife. Im der Einleitung fagt er unter anderem:

„Was wird dem Material nicht alles zugemutet, was es nicht leiften kann, wenn nicht mehr mit dem Pinfel gemalt, fondern Bilder zur Er- höhung plaftifcher Wirkung buchftäblich modelliert werben follen, wenn Delfarben, die in dicken Lagen naturgemäß die Mängel die den Stoffen anhaften, in fo verftärktem Maße aufweifen müffen, daß ein baldiger Ruin unvermeidlich ift, wenn folche Delfarben in dien Würften aufge fest, mit der Spachtel aufgefchmiert, wie Mörtel mit der Kelle aufge worfen, mit Griffel und Schaber modelliert werden, fo find das technifche

Sans Thoma: Einiges über Farbenmaterial und Maltechnit. 347

Undinge, die, mag ihr momentaner optifcher Effekt noch fo hoch ftehen, doch nur als Malerfcherze gelten dürfen.“

Das pfundweife Verbrauchen des Kremſerweißes und anderer Farben bat freilich auch feine Vorteile, nämlich für die Fabrikanten. Ein guter Maler wird nicht fparfam mit feinem Material umgehen eine gewiſſe Fülle, ja Ueppigfeit ift notwendig und das mit einem magern Pinfel auf dem LUntergrunde berumrutfchen, führt auch zu nichts.

Mit Lafuren macht man auch nicht ein fehlecht fundiertes Bild beffer und ob man nun dic oder dünn, d. h. dedend oder Durchfcheinend malt, das Primamalen ift das richtigfte Stüd für Stüd durcharbeiten d. h. vielleicht, immer mit voller Kraft an jeder Einzelheit fein. Lafuren müſſen nicht mager aufgetragen werden, und wenn der Dickmaler in Hyperbeln fagt: täglich ein Pfund Kremferweiß, fo dürfte der Lafurmaler ebenfo fagen: täglich ein Liter Malmittel mögen fie fehen wie fie den Streit aus- fechten.

Aus all den Bewegungen, die in der Maltechnif vorgegangen find aus dem Suchen nach beftem Material bat fich doch die jegt geltende Normalfarbenftala feſtſtellen laſſen.

Man kann mit derſelben alles malen was nur malensmöglich iſt. Kann man ja doch ſchon mit Weiß und Schwarz vollen Ausdruck für in- timfte8 Runftempfinden zu ftande bringen.

Wie Schwarz und Weiß durh Abftufung dünnern und didern Materialauftrages eine unabfehbare Reihe von Abftufungen ergeben, fo fann auch wieder jede der Hauptfarben in dünnerer und dickerer Legung eine weit hinreichende Reihe werden; das Gelb und Drange fteigert fich bis ins Braun und Rotbraun, das Blau vom Himmelblau bis zum Blau das mit dem Schwarz an Tiefe wetteifert, das Lila bis zum Samtviolett ; ebenfo find die Steigerungen von Rot und Grün, und all die Mifchtöne die aus den drei Farben, Gelb, Rot, Blau entftehen. Wahrlich eine unabfeh- bare Reihe im Reichtum von Möglichkeiten, in denen ein wenig Orbner oder Herrfcher zu fein, etwas zu bedeuten bat.

Man kann durch das Lebereinanderlegen durchfichtiger Farben Wir- fungen erzielen, die ganz anders find ald die durch Mifchung erzielten, eine viel größere Mannigfaltigkeit und Lichteinheit, ald wenn man die Farben als Dedfarben mit Weiß aufhellt oder mit Schwarz und Grau verdunfelt. Das Delfarbenmaterial kann durch ſolche Behandlung geradezu den Cha- rafter eines edlen Materialed annehmen, was ja freilich nicht bei allen Delbildern der Fall ift, denn der nicht gut behandelten Delfarbe haftet gar leicht etwas Schmugiges an.

Man mache die Probe und ftreihe auf eine fchwarze Tafel in dünnfter bis dickſter Schicht eine Lage Weiß wie ganz anders wirft dies als ein aus Schwarz und Weiß in Dedfarbe gemifchtes Grau. Doc wer hierüber mehr erfahren will, dem empfehle ich das Buch über Maler: technif, welches W. Ludwig gefchrieben hat. Aus allem Rezeptartigen, was manche abfchreden könnte im Anfange, ift aus dem Ganzen fehr viel Klares über die Wirkung unferer Malmaterialien und ihrer Anwendung daraus zu holen.

348 Hand Thoma: Einiges über Farbenmaterial und Maltechnit.

Das Material muß durch den Künſtler belebt, befeelt werben, und je mehr er nach bdiefer Seite hin fein toted Material geftalten kann, deſto beffer werden feine Werke fein er muß fich eine Technik, alfo eine Material- beherrſchung fuchen, die den Regungen feines Künftlergeiftes, feinen Ab: fichten leicht folgt.

In der Malerei, wie in jeder Runft, liegt alle Genialität, die fich von der Fauft, von der Mache, von dem Virtuofentum berleitet, gar bald auf der Nafe, denn die Malerei ift ein ſubtiles Handwerk fie beruht auf großer Feinfühligkeit, und wenn fie Großes leiften will, fo müffen Kopf und Herz die Dberbehörden fein die Leiter und Erzieher der Hand.

Wenn ich fehe, wie fo oft jest Studien von jungen Künftlern ge macht werden, mit welcher Pietätlofigkeit vor der Natur ftatt liebendes Eingehen und treues Sehen im Auge, ein Malrezept von der legten Aus: ftellung ber im KRopfe, fo kann ich nur die Allzuvielen, die dem Maler elend verfallen, tief bedauern ich muß damit auch bie DVergröberung unferer Sinne bedauern und unfere Rultur brauchte doch fo fehr der PBerfeinerung, der Vergeiftigung fogar um die Farbenhaufen, die ver- flert werben, tut es mir leid. Ich weiß es ja, daß die Natur einem folchen Studienmaler gar nichts fagen, gar nichts von ihren Wundern offen- baren kann. Was hat denn die noch zu fagen, wenn einer mit feinem Modemalrezept vor fie Hintritt und etwas zuſammenkitſcht, was er gar nicht fieht aber er hat irgendwo vernommen, daß man noch nie fo die Farben gefehen hat wie in unferer allermodernften Periode, und daß die Malerei ſich eigentlich erft von X. X. herdatiert. Nun bat ihm die Natur nicht mehr zu fagen, er ift eine Gewaltsnatur und fehmiert drauf los. Dabei fährt er freilich am beften, denn er merkt es gar nicht, daß er fein Talent hat.

Wenn nur bei all der Materialverrohung nicht auch naturgemäß die Verrohung der Sinne fich einftellen müßte, aber gerade in der Kunft ift unlöslicher Zufammenhang. Bisher war e8 in der Malerei eine gerühmte Sache, wenn es gelang, die Vielheit der Elemente zu einer geordneten Ein: beit zufammenzufaffen, zu einer Harmonie; auf einmal kam es, daß man fein Heil darin fuchte, die Farben zu fpalten und zu zerhaden, das was jedes gefunde Auge als Einheit erkennen will auseinanderzureißen, damit das liebe Publitum einen geiftigen Purzelbaum fchlägt darüber, wie herr- lich weit die Maler e8 jegt im Farbenfehen gebracht haben.

Im Bädecker fteht übrigens ſchon, daß der Potterfche Stier im Haag überfhägt worden ift, ich aber hoffe, daß er noch einmal hilft, alle Maler- mäschen der modernen Außftellungen über den Haufen zu ftoßen. Diele gefunde Malerei, diefe Technik, die fo ganz aus dem Naturgefühl heraus gewachſen ift, kann gar nicht hoch genug gefchägt werden. ber für monumentale Größe und Einheit fcheint fein Sinn mehr vorhanden zu fein außer, wenn fie breitfpurig fagt: Hier bin ich! auf taufend Schritt ſchon zu erkennen! Lleberlebensgroß an die Architekturen hingeklebt aus architeftonifchen Mufterbüchern hervorgeholt. Mit diefem Leberlebend groß in Figuren und Ornamenten verderben fich die Architekten übrigend felbft die Raumwirkung Blumenornamente mit metergroßen Vergiß · meinnichten und 10 Meter langen Blumenſtielen, vergrößerte Reujahrswunſch⸗

Hans Thoma: Einiges Über Farbenmaterial und Maltechnif, 349

farten find nun ſchon an vielen Orten zu fehen dazwiſchen guden oft die Fenſter Maasliebchen befcheiden hervor, al8 ob fie gar nicht Dahingehörten.

Ein wildes Malergefchlecht wächſt jegt aus den Runftgewerbefchulen bervor; wir leben ja überhaupt im Seitalter der Dekorationen ber Ausftellungen das Plakat foll hochbedeutend Fünftlerifch fein. Ernft- bafte Männer bewundern e8 machen wieder Ausftellungen von ihm und erhoffen aus diefer „Rinnfteinkunft” eine Regeneration der Kunſt. Gute Architekten erliegen diefem Farbenunfinn, der alle Stimmungseinheit tot- fchlägt, der gegen alle Gefege des guten Gefchmades fündigt alle Bor- nehmbeit aufgibt. Wenn fie alte Bauten reftaurieren, fo muß der Ge- fchäftsbelorationsmaler die Sache beforgen ber allein kommt nicht in KRonflitt mit dem Willen des Architeften und ein folcher Gewaltsmenſch duldet nun einmal feinen Widerfpruch ein gutes Gefchäft und noch den Widerſpruch! nur ein Künſtler könnte fo dumm fein, durch anderswollen fih das Gefchäft zu verderben.

Ich behaupte, daß auch ein nicht fehr hochbebeutender Maler, der aber mit einer gewiffen Hingabe und Treue einige Farbenharmonien vor ber Natur ftudiert hat, dem vor der Natur die reiche Schönheit der Farben einigermaßen fund geworben iſt, der nur in ber Vorhalle der Malerei fteht, nicht folche barbarifche Reftaurationsmalereien würde leiften fünnen, wie man fie jegt in Kirchen und anderen Gebäuden von gefchäftd- und ftil- fundigen Meiftern und Gefellen fehen kann.

Sch meine ein Maler der nur ein paarmal fi von der Natur hat belehren laffen, indem er vorurteilslos die fehönen Farben, die fie fo har- monifch in jedem Baumftamm, in jedem Felsftüd, in jedem Vogelgefieder, im Schmetterlingsflügel, in den reichen Tönungen einer Luft hervorbringt, nachzubilden verfucht hat, müßte vor folcher Dekorationsroheit gefeit fein. Vor all diefen Brutalitäten bleibt eigentlich einer eblern Malerei nichtd anders übrig, ald daß fie ſich von der Deffentlichleit, von dem Lärm der Aus- ftellungen ſtill zurückzieht in trauliche Räume, wo freundliche Augen das Sehen noch nicht verlernt haben, die fich die ftille Ruhe, welche dieſe eble Kunſt hervorbringen kann, nicht verderben laffen. Eine vornehme Runft- liebhaberei muß doch noch vorhanden fein und die wird dann die Uus- ftellungen denen für die fie gemacht find, dem Schaupöbel überlaffen.

Diefe Ausftellungswut! Schon ift fein Bild mehr in den öffent- lichen Galerien feiner Stätte ficher obgleich es dadurch ja permanent aus- geftellt ift jedermann leicht zugänglich ift. Auch dies Herumzerren wohlbefannten Runftgutes wird damit entfchuldigt, daß es der Runfthiftorie zur DVergleichung geboten werben müſſe denn nur aus dem bireften Nebeneinander laſſe fi ein Urteil fällen, ald ob es fo notwendig wäre, daß immer wieder Urteile gefällt, immer wieder Richterled gefpielt werden müffe. Wer nicht die Fähigkeit hat, den Eindrud eines Kunſtwerkes fo lang in ſich aufrechtzubalten, während er von einer Stadt zur andern reift, bat überhaupt nicht zu richten. Der wahre Runftfreund wird die Werte lieben und nicht befritteln wollen. Es fchließt faum etwas in allen Dingen fich gegenfeitig fo aus ald Liebe und Kritik,

Man fagt, man wolle mit diefem Nebeneinanderftellen dem Publitum

350 Hans Thoma: Einiges über Farbenmaterial und Maltechnit.

entgegenfommen ich aber fage, daß das Publikum, d. h. die, welche Augen haben, ein Werk dort am beften genießen werden, wo nun einmal fein beftimmter Plag ift.

Ich hörte, daß es in gewiſſen Kreifen fehr bedauert wird, daß man ben Straßburger und Freiburger Münfter noch nicht zum direften Vergleich nach Köln transportieren kann. Aber ich glaube nicht, daß etwas Wahres an diefem Gerüchte ift.

Ich habe mich von meinem Vorhaben, über Farben und Malmittel zu berichten, vielfach abbringen lafjen und möchte zum Schluffe noch auf einiges in trodenen Worten zurückkommen.

Mit dem reichlichen Gebrauche von Del habe ich nie die geringfte fhlimme Erfahrung gemacht, ja die mit viel Del als Lafur bergeftellten Bilder haben fich am beften erhalten das fo verrufene Sikatif de Coustrai babe ich als Beifag, um rafcheres Trodnen zu erzielen, vor 30 Jahren ſchon ziemlich reichlich benüst, es ift nichts paffiert. Sehr oft babe ich, um dem Malmittel, d. h. dem Dele, eine gewiſſe Konſiſtenz zu geben, bie das Herunterlaufen verhindert und es ermöglicht, mit den burchfcheinenden Farben prima zu arbeiten, mir eine Malbutter bereitet, indem ich Maftir- förner in Del auflochte mit ganz wenig Wachszufag auch damit habe ich in Bezug auf Haltbarkeit nie eine fchlimme Erfahrung gemacht. Mandı mal habe ich ein Bild, auf dem ich gleichmäßige Lafur anbringen wollte, mit einer Mifchung von Petroleum und ganz wenig Leinöl eingerieben, ſo daß fehr wenig von diefem Mittel, das ich mit Watte faft ganz abrieb, übrig blieb dies ermöglicht den gleichmäßigen Auftrag einer Lafur auf daß beite.

Temperamalerei habe ich faft immer nachträglich gefirnißt deshalb babe ich diefelbe nie auf einen Grund angebracht, der ölauffaugend war und babe ftarfe Bindemittel, wie 3. B. eine Mifchung von Eigelb mit etwas Wachsfeife und Delzufag am liebften genommen. Manchmal habe ich die Untermalung auch mit Terpentinzufag mit Delfarben gemacht und darauf erft Lafuren mit Tempera manchmal auch mit aufhellender Tem- peradedfarbe gemacht, auf die ich fehließlich doch wieder mit Dellafuren arbeitete und fo das Bild mit einer Art Harzölfarbe fertig machte dies abmwechfelnd mit Tempera und Delfarben am gleichen Bilde malen hat mie ſchlimme Folgen gezeigt, da ja die jest gebräuchlichen Temperafarben aus einer Emulfion oder auch feifenartiger Flüffigkeit bereitet find und nie allzudict aufgetragen werben fünnen.

Die Haltbaren Normalfarben find jegt durch Chemiker feſtgeſetzt da habe ich nichts mehr weiter zu fagen. Es find viel mehr als em Maler nötig hat. Meine Bilder find mit ziemlich viel Harzfirniszufas zum Dele gemalt. Bernftein-, Ropal- oder englifcher Rutfchenlad find alles gute Mittel, ebenfo der in Leinöl aufgelöfte Maftir, den man big zur bufter- artigen Ronfiftenz mit ein wenig Wachszufag berftellen kann.

Es ift Sache des ausübenden Malers, fich fein Material fo herzu⸗ ftellen, daß es leicht feine Abfichten erfüllt und da ift es ja ſchön, daß die Wege biezu gar vielfache find aber die Findigfeit des Malers feinem Handwerk gegenüber gehört ja doch auch mit zu feinem Talente. Es

Henry Thode: Ueber deutfche Weltanfhauung und Kunſt. 351

gibt ja viele Profefloren an einer Akademie wenn ich aber die hand⸗ werfliche Ungefchicktheit mancher Alabemiefchüler anfehe, fo möchte ich faft den Mut faflen, dafür zu fprechen, daß man einen Kurſus für einfachen Anſtrich indem man ja Leinwand- und Maltafeln berftellen könnte einführte einen Profeffor des Anftriches noch dazu nehmen würde. Der müßte auch zugleich Rat geben, welche Mittel fich bei verfchiedenen Farbenlagen als haltbar zeigen und welche nicht.

Die Sorge um die Haltbarkeit der Bilder macht fich freilich bei den Malern oft lächerlich fo hat Lenbach einmal zu jemand gefagt, der ihm fagte, wenn er die und die Mittel anwende, müfje ja das Bild Riffe be- fommen: „Alle guten Bilder haben Rifje!“

Ueber deutſche Weltanjchauung und Runff.)

Bon Henry Thode in Heidelberg.

In meinem erften Vortrage habe ich verfucht, die allgemeinen Grund- lagen für äfthetifche Betrachtung zu gewinnen, um in großen Zügen, foweit fie, wohl unanfechtbar, den Ausgangspunkt zu einer näheren Prüfung der Erfcheinungen der Kunſt des 19. Jahrhundert? und dann insbefondere Böcklins und Thomas bilden künnen und müffen. Die Frage, die ung heute befchäftigen fol, lautet: Was ift deutfh? Wenn ich die Kühnheit babe, im Hinblid auf die bildende Runft einen Verſuch ihrer Beantwortung zu wagen, fo erkenne ich die Berechtigung hierzu vornehmlich darin, daß mir ung in allem Folgenden ald Deutfche in der freien Anerkennung und Wert- Thägung bedeutender Leiftungen anderer Völker erweifen wollen. Denn deufch fein heißt in diefer Hinficht: ein offenes, fuchendes und bewunderndes Auge haben für das, was andere Nationen hervorbringen. Dies ift von jeher etwas Großes bei und gewefen. Chauvinismus bleibe für uns ein fremdes Wort und ein fremder Begriff. Fern aber bleibe von uns auf der anderen Geite jene Schwäche des Deutfchen, unter der fein befferes Wefen nur allzufehr und allzuoft gelitten, die blinde Verehrung alles Fremden, bloß weil e8 ein Fremdes, und die Geringfchägung des eigenen Großen und Bedeutenden. Ich hoffe, e8 wird fich, wenn wir den Leber-

ı) Wir veröffentlihen im Folgenden den zweiten der von Thode in dieſem Sommer an der Heidelberger Univerfität gehaltenen Vorträge. Diefe werden in ihrer Befamtheit demnähft in Carl Winters Verlag (Heidelberg) unter dem Titel: Arnold Bödlin und Hans Thoma, acht Vorträge über die deutſche Malerei des 19. Zahr- hunderts erfcheinen.

352 Henry Thode: Ueber deutſche Weltanfhauung und Kunft.

blie® über die Kunſt des 19. Jahrhunderts gewinnen werden, herausftellen, daß wir ung in diefer unferer würdigen Art deutſch verhalten.

Was ift deutfh? Wohl muß es gewagt erfcheinen, in einer kurzen Betrachtung eines fo fehwerwiegenden Problemes die Gedanken hierüber jufammenfaffen zu wollen, und doch ift es erforderlich und wird es ftündlich erforderlicher, daß wir und deſſen, was unfer eigen ift und wodurch wir fulturfchaffend geworden find, bewußt werden, auf daß wir es, wenn wir es erkannt, mit der ganzen Leidenfchaftlichkeit, deren gerade die deutſche Seele fähig fein kann, und fo, wie es die tieffte Notwendigkeit erheijcht, pflegen mögen.

Eine Definition des „Deutfchen“ ift oft verfucht worden, ja, id möchte fagen, im täglichen Sprechen haben fich gewiſſe Schlagworte auf gebildet, in denen ein Wefentliches kurz gefennzeichnet wird. Gemiß weiſen fie auf etwas Richtiges hin, doch find fie unbeftimmt und daher nit genügend für unfere Imede. So vor allem das auch im Hinblid auf bie Kunſt gerne angewandte: „Gemüt“. Ich geftehe, daß ich eine gewifle Scheu davor habe, diefes Wort fo ohne weiteres, als fpezififch charakteriftifch für den Deutfchen, in den Mund zu nehmen; denn ich meine in dem Augen blide, da wir dies tun, treten wir doch anderen Völkern zu nahe, als fei Gemüt ein infonderheit eben ung verliehenes Privileg, das jenen fehle. Gott bewahre ung vor folcher Behauptung! Das unzweifelhaft Richtige an ihr will forgfältiger und genauer beftimmt fein.

Der einzig hierbei zum Ziele führende Weg wäre diefer, daß mir aus eigener innerer Erfahrung und aus den Tatfachen der Gefchichte, ſowohl der politifchen als der der geiftigen Tätigkeit, einen Schluß auf das Der- bältnis, in welchem die verfchiedenen geiftigen Vermögen im Deutjchen zu einander ftehen, zögen. Hierbei würde es fich wohl mit Beftimmtheit er geben, daß beim Deutfchen in befonders hohem Grade Gefühl, und mas damit zufammenhängt, Phantafie erregbar find, daß er in allen Augen bliden, da er vom Zwang der täglichen Dafeinsanforderungen, von der Berechnung der Lebensnotwendigkeiten fich frei macht, in das Gebiet der Gefühls- und Phantafieauffaffung der Welt getrieben wird. Go viel bürfen wir wohl, die Erfcheinungen der Gefchichte, Kultur und Kunft anderer neuerer Völker vergleichend, von dem Deutfchen ausfagen. Wie aber ift dieſes Gefühlsleben befchaffen? Wie äußert es fih? Wie arbeitet und wirkt die Phantafie im befonderen? Wie bedingen fich Gefühl und Phantafie?

Hier gilt es zunächft als die hauptfächlichfte Aufgabe, fich über Die Weltanfhauung des Deutfchen Har zu werden und zu verfuchen, das ihr Eigentümliche zu erfaffen. Und zwar find es Religion und Philofophie, die in erfter Linie ind Auge genommen fein wollen, fuchen wir Auffchluß über das Weſen eines Volles. Es zeigt fih, daß Religion und Ppilofophie in Deutfchland ganz das Gleiche ausfagen. Zum erften Male befennt ber Deutfche in aller Deutlichkeit und Fülle feine Welt- und Gottesanfhauung durch den Mund der Myſtiker des 14. Jahrhunderts, durch jene mund tiefen Denker, die dem Geheimnis des Dafeins und allem feelifchen Erleben fo weit nachgegangen find, wie vor ihnen vielleicht nur die Weifen am

Henry Thode: Ueber deutfche Weltanfchauung und Kunft. 353

Ganges, deren erhabene Einfichten und in den Upanishads erhalten find. Was diefe Myftit zu überzeugendem Ausdrud bringt, betrifft das DVer- hältnis des Menfchen zur Welt und zu Gott in einer philofophifchen Be- gründung und Deutung des tiefgefaßten hriftlichen Belenntniffes. Es ift die Beftimmung des Verhältniffes der einzelnen Geele einerfeitd zu dem Füpl- und Wahrnehmbaren rings um und in diefer Welt und in diefem Leben, und andererfeit3 zu dem Unfichtbaren, Geglaubten, Geahnten und Erhofften alfo des Verhältniffes zum Natürlichen und zum Göttlichen. Das Bedeutungsvolle ift num eben dies: daß der Deutjche in myſtiſchem Erleben dies Verhältnis zur Natur und zu Gott als ein fo ganz innerliches, von dem Reichtum der Gefühle und PVorftellungen fo wunderbar durch- drungenes erfaßt, daß dem fchwerlich etwas anderes, in gleichem Grabe unmittelbar Gewiſſes in der Gefchichte der mittelalterlichen Religion, ja felbft der fpäteren, an bie Seite gefegt werden kann. Das Belenntnig lautet: Gott in mir! Gott zu ergründen und zu finden nur in den Ub- gründen eigenen feelifhen Erfahrens! Alſo fein Außenfein der Gottheit, fondern ein Innenwirken derfelben. Und auf der anderen Geite das Ver— bältnis zur Natur, beftimmt von dem überfchwenglich erhabenen Gefühle der Einheit des eigenen Weſens mit dem Wefen, das hinter allen Erfchei- nungen der Welt verborgen ift, die Einbeziehung des menfchlichen Einzel- weſens in das ganze große Reich der ungezählt unfren Blicken fi dar- bietenden Erfceheinungen. Erfcheinungen, denn die Dinge find nur die Offen- barungen eben eines Ilnfichtbaren, eine Innerlihen, eines Wefenhaften. Indem nun diefe Erkenntnis des eigenen Wefend, der eigenen Seele in allem, was ung die Natur vor Augen führt, erreicht wird, fiehe! da voll- zieht fich die große Gleichung. Ward in gewiſſen tiefften Erfahrungen der Seele Gott erfaßt und erkannt, wird zugleich der einzelne Menfch in tiefften Einklang gefegt mit allem, was da lebt und webt, blüht und vergeht in diefer Welt fo ermweift fich die Gottheit ald das zugleich in und und in allem anderen Wirkende, ald das Allverbindende, das in den Erfcheinungen fi) offenbart, das große Eine, Gemeinfame, Ganze, das, was wir als Abgrund alles Lebens in uns felber erfahren!

Sie fehen, wie eine folche Anfchauung alles das, was in dem Schaffen eines derart das Aeußere auf das Innere beziehenden Volkes künftlerifch bedeutungsvoll fein muß, in ſich fchließt. Und nun kommt es weiter dahin, daß, nachdem die Myſtik diefes Ineinanderwirken von Seele, Gott und Natur feftgeftellt hat, ihre Erkenntnis in der großen Neformationsbewegung des 16. Jahrhunderts zu einem Bekenntnis wird. Denn, wenn wir ung fragen, was ift denn das Wefentliche diefes Reformationsgedankens und diefer Reformationstat, fo kann die Antwort nicht kürzer und treffender formuliert werden, als wie fie durch Luther felbft formuliert ward und wie wir fie immer wieder formulieren müffen: es ift die Rechtfertigung durch den Glauben, im Gegenfag zu der Wertichägung der Werke ald Beför- derer der Rechtfertigung. Gehen wir genau hin, was das Wort: Glaube ausfagt. Indem wir deffen Bedeutung über das Dogmatifche hinaus er- meitern, finden wir denfelben Kern, den wir in der Myftif gefunden. Denn unter Glauben haben wir eben das innerliche Leben und Erfahren in der

Südbdeutfhe Monatshefte. II, 10. 23

354 Henry Thode: Leber deutſche Weltanfhauung und Kunſt.

Hingebung an bas Unmahrnehmbare zu verfteben, das Erreichen, ich

fagen, das Ergreifen Gottes in fol) Erfahrung, nur er philofophifche Faſſung des Gottinnewerdend in der Reformation im An⸗ ſchluß an die Paulinifchen Briefe und in Rüdficht auf die große Streitfrage, welche die Kirche bewegte, der bogmatifchen Faflung eben „ber Rechtferti- gung“ durch den Glauben wich.

Die dritte große Tatfache diefes deutfchen Selbſtbelenntniſſes ift Die Philoſophie Kants. Nun handelt es fich nicht mehr um eine Verquickung myſtiſch religiöfen Gefühles mit fpefulativem Denken, fondern um die Ronfe- quenzen ber Gelbfterfenntnis der Vernunft. Mit unbegreiflicher Schärfe wirb dargetan, was feit ben Zeiten ber Upanishabs fo unbedingt nicht mehr ausgefprochen worden war, und zwar nun, bank einem höchft entwidelten kritiſchen Vermögen, in einer fehr viel ftärferen und beftimmteren Form: die Welt der Erfcheinungen ift unfere Vorftellung, alfo gleichfam unfere Schöpfung. Raum und Zeit find Formen unferer Anfhauung. Ungeheure Kühnheit des menfchlichen Geiftes tut den Schritt, deffen Folgen für alle Zeiten in der Gefchichte der Menfchen wirkfam bleiben werden. Die Be- siehung des einzelnen Weſens zu dem Allgemeinen, die früher aus dem Gefühl heraus geftaltet worden war, gewinnt ihre Beftätigung durch bie Logik, denn die Welt der Erfcheinungen in Raum und Zeit wird gleichjam zu unferem eigenen Gebilde, fie wird in unferem Geiſte. Mit Notwendigkeit aber ergab fich bei der Feititellung diefes weltüberwindenden Gedankens die Frage: wenn bie Erfcheinungen unfere Vorftellungen find, was ift dann das, was nicht Erfcheinung ift? Was ift das Wefen der Dinge? Kant nannte e8: „das Ding an fich“, das ewig unerfennbar bleibt. Seine Nach folger fchlugen verfchiedene Wege zur näheren Ergründung ein, Schopen- bauer, wie Sie wiflen und das war eine aus fraftvoller deutfcher Ge- fühlsintuition hervorgegangene Beftimmung faßt es in dem Willen, als dem allen Erfcheinungen innewohnenden gemeinfamen Kern. Hier ftehen wir wieder in dem Bereich der Myſtiker. In ung felbft haben wir ben einzigen Zugang zu dem Wejen der Dinge, indeß die Erfcheinungen nur unfere Vorftellungen find. Indem alles Wahrnehmbare zurückbezogen wurde auf das innere Erleben, ergab fich, nur in neuer Sprache, die große Einswerdung von Seele, Gott und Natur, die von ben wie im Traum bell- fihtig gewordenen myſtiſchen Geiftern erlebt worden war.

Dies aljo ift ed, was wir, mit kurzen Worten angedeutet, als fpezi- fifch deutfch in der Weltanfchauung bezeichnen fünnen. Sie fehen, wie von verjchiedenften Denkern und zu verfchiedenjten Zeiten die ganze Welt auf ung zurüd oder beſſer gefagt, in uns bineinbezogen wird und Wert und Bedeutung nur bat, was als fchaffend und wirkend in und lebendig empfunden wird. Das heißt aber nichts anderes, als daß felbft bis in die Philofophie, bis in das fchärffte Denken hinein eine Gefühlsauffaffung fih wirkſam und als berechtigt erwiefen hat, und daß diefe niemals zu einer folchen Bedeutung hätte gelangen können, hätte nicht zu gleicher Zeit die Phantafie ihre kühnfte Tätigkeit entwidelt entwidelt trog aller Macht der Logik, bis zu dem AUugenblid, da fie die Wirklichkeit nun zu einem erhabenften ernſten Spiel ber Geele mit ihren eigenen Kräften gemacht!

Henry Thode: Leber deutfche Weltanfchauung und Runft. 355

Prüfen wir num auf folhe von Religion und Philofophie empfangene Lehren hin ben Ausdrud, welchen diefe Weltanfchauung in der Kunſt ge- funden bat, und befchränfen wir und hierbei obgleich alle unfere Be- trachtungen auch für die anderen Künſte gelten auf die bildende Runft, faffen wir jene Zeit [höpferifchen Geftaltens ind Auge, in welcher das deutſche Wefen ſich ganz befonders ſtark geäußert hat, nämlich das Mittelalter und die Renaiffance des 16. Zahrhunderts, jene ideengemwaltige Periode, die von der Schöpfung des romanifchen Kirchenbaues bis zu Albrecht Dürers Welt- fhilderung führt, fo können wir wohl mit annähernder Beftimmtheit die charakteriftifchen Züge des bildenden deutſchen Genius feftitellen. Es find, vergleicht man die gleichzeitige italienifche Kunſt und ruft fich hierbei auch die Antike ind Gedächtnis, folgende vier Erfcheinungen, die ald bezeichnend für das Deutfche namhaft gemacht werden können,

Erftens der ftarfe Gefühlsausdrud, der von den Künſtlern ihren Schöpfungen verliehen wird. Was immer fie darzuftellen haben, wird von innen heraus befeelt und belebt. Es ift der Gefühlsgehalt, um den es ihnen bei der Anfchauung der Dinge und bei dem Blick in ihr eigened Innere mwefentlich zu tun if. Die Erfcheinung ift ihnen Wefensoffenbarung.

Das zweite ift der Univerfalismugd. Für Gefühl und Phantafie des Deutfchen ift alles in diefer Welt, das Hleine wie das große, von Wichtigkeit, alles dünkt ihm der Wiedergabe und der Berherrlichung wert. Die weife Befchränktung, welche die Antike, welche die italienifche Nenaiffance bei der Wahl der Stoffe und bei deren Behandlung fich auferlegte, kennt er nicht. In der religiöfen Runft des Südens ift es jchließlich immer der Menfch, welcher, zum Typifchen, Bolllommenen und damit zum Göttlichen gefteigert, dargeftellt wird, und zwar mit einer gewiſſen Ausfchließlichkeit, denn das Landfchaftliche und Alzefforifche erfcheint untergeordnet. Gewiß gewinnt das Landfchaftliche auch in der italienifchen Renaiffance eine beachtens- werte Entwidlung, ja gelangt in der venezianifchen Malerei zu hoher Be— deutung, aber die Fülle und die liebevoll detaillierende Naturfchilderung bei den Deutfchen ift etwas ganz andered. In ganz anderer Weile erobert fih ſchon in jener religiöfen Kunſt die Landfchaft und das Beiweſen feine Stellung neben dem Menfchlichen, wovon fpäter noch ausführlicher die Rede fein wird. Weiter zeigt ſich die Befchränktung in der füdlichen Kunſt au darin, daß man die Darftellung auf möglichft wenige Er- feheinungen zurüdführt. Man läßt alles Ueberflüffige beifeite, konzentriert fi) auf Hauptmomente. Der Deutiche geht einen anderen Weg. Indem er, Einzelheiten berücdfichtigend und jchägend, das Natürliche höher wertet, gibt er zu gleicher Zeit auch das Menfchliche in möglichjt großer Mannig- faltigteit und in möglichft zahlreichen Variationen. Unſchwer erfennt man, wie folcher Univerfalismus, in gleicher Weife wie der Gefühlsausdrud, in jenem deutſchen Verhältnis des Einzelnen zur Natur begründet ijt, über welches ung Religion und Philofophie Aufjchluß gaben.

Nun kommt ein Drittes, gleichfalls fo zu erklärendes, hinzu, nämlich die unvergleichlihe Naturtreue, Durch welche fich die deutfche Kunſt jener Zeit auszeichnet, eine bis ins einzelnfte gehende gewiflenhafte Beobachtung und Nachbildung der Natur! Wie könnte es anders fein? Wohnt doc)

356 Henry Thode: Ueber deutfche Weltanfhauung und Kunſt.

jeglihem Dinge eine tiefe Bedeutung inne, ift doch nichts in der Natur nebenfächlich, ift doch jegliches Wahrnehmbare nur ein Ausdrud des immer gefuchten Weſens der Dinge und daher von nie zu erfchöpfendem Gehalte! Und was anderes ift diefe Verſenkung des Betrachtenden als die Aeußerung jenes unergründlichen Gefühlswaltens, welches Gott zugleich in der Geele und in der Natur findet, ald das große göttliche Liebesverlangen in ung. Alles, was da erfcheint, ift mir nicht fremd, e8 ift mein Eigenes, und es ift das befte in mir felbft, defien ich mir bewußt werde, wenn ich mich liebend in diefe Erfcheinungen hinein verliere. Dieſes wunderkräftige, leidvenfchaft- liche Werben der deutfchen Seele und der deutfchen Schauenskraft um das Geheimnis des Weltenwefens ift eines der herrlichiten Schaufpiele, das jemals auf dem Gebiete der Runft erlebt worden ift. Wem, der felbft die Kraft folcher Verſenkung befist, ift nicht die Betrachtung irgend einer Heinen Miniatur, irgend einer unfcheinbaren Zeichnung, irgend eines Hinter- grundes auf einem Gemälde zu einem Ereignis geworden, wer ift bei ihr nicht von einer inneren Rührung überwältigt worden! So fchlicht, jo an- ſpruchslos und doch fo mächtig? ES ift nicht ſchwer zu fagen warum. In folder Naturnahbildung vollzieht ſich eine GSelbftbefreiung, GSelbftent- äußerung, welche ung mit Entzücen die erhebenden Herrfchermöglichkeiten unferer Seele entdeden läßt. Aber nur weil diefe Naturtreue ihren ganz eigenen Charakter hat, weil fie nicht ein rein wiffenfchaftliches Firieren der äußeren Erfjcheinungen ift, fondern ich brauche darüber faum mehr zu fprechen und muß es Doch immer wieder betonen weil in der Erfcheinung das Wefen, die große Einheit zwifchen Seele, Gott und Natur mit erfaßt wird. Nur diefem Zwecke dient im tiefften Sinne die naive, durch feine Refleftion voreingenommene, gefühldurchdrungene liebevolle Wiedergabe der Natur.

Und endlich das vierte: die große Erfindungsfraft der Phan- tafie, deren lebhaftes Spiel mit eben denfelben Erfcheinungen, die von dem deutfchen Künftlerauge gar nicht treu, gar nicht genau genug nachgeahmt werden fonnten. Ich halte inne ift das nicht ein Widerfpruh? Es fcheint, aber es jcheint auch nur fo. Gefühl und Phantafie find zwei Mächte, die beftändig durch und miteinander wirken. Wenn der deutfche Künftler durch fein tiefes Liebesverlangen und durch die Kraft diefer Liebe zu jener gefchilderten Herrfchaft über die Natur gelangt, fo ift e8, ich möchte fagen, das ſolchem trauten Gefühlsverhältnis verdankte reine Gewiſſen, welches nun der Phantafie erlaubt, mit diefem wundervollen Befig frei zu fhalten und zu walten. Die Beweglichkeit feiner Einbildungstraft, die, als eine urfprüngliche Anlage, nicht weiter zu erklären ift, vermag durch alle Kenntnis der Natur nicht gefefjelt zu werden. Vielmehr wird durch Die liebende Beziehung der Natur auf die Seele die fchöpferifche Kraft in dem Künftler felbft entfeſſelt. Machtvoll erfreut fich die Phantafie ihres Rechtes und ihrer Freiheit, im Sinne hoher, leidenfchaftlicher oder auch launig heiterer Stimmung zu geftalten.

In welcher Weife? Einmal wirkt, fo darf man behaupten, im deut- fchen Bol bis in jene Zeit immer noch mächtig nach, was fich in feiner vor- chriſtlichen Periode nicht hat ausleben können, weil e3 nicht zu künftlerifcher

Henry Thode: Ueber deutfche Weltanfhauung und Kunft. 357

Formung gelangte. Die Entwidlung urfprünglicher, mythiſch geftalten- der Vorftellungen von der Welt wir werden fpäter darauf zurüd- fommen war zu feinem Abfchluffe gelangt. Das Chriftentum trat ein und unterband die Wirkſamkeit diefer Vorftellungen, die nun ein verborgenes Leben in der Phantafie des Volkes fortführten, ein verborgenes, aber ftarfeg, das fi bi8 zu dem Furchtbarften, Bizarrften, Erfchredendften fteigert, wann immer eine gewaltfame tiefe Berwegung, übermältigende Eindrüde von der Natur oder von eigenen feelifchen Erfahrungen fich des Deutfchen be- mächtigen. Da wird der Geift zu den ungeheueren Vifionen entflammt, die ung allen ja fo wohl befannt find, zu den Stürmen des jüngften Ge- richtes, des Totentanzes, der apofalyptifchen Ereigniffe, welche die Welt der einfach natürlichen Vorgänge vernichten zu Gunften einer anderen über- mäßigen verjtanden von dem ganzen Volke, weil in jeder einzelnen Geele, wie in der des Künftlerd, die gleichen Erregungen der Phantafie möglich und nothwendig find. Und neben diefer gewaltigen, alle Elemente ent- feffelnden Betätigung der Einbildungskraft, fie durchdringend, das andere freudige Spiel der Phantafie, der herrliche, der göttliche Humor, auf den fi) im befonderen bezieht, was ich früher von dem reinen Gewiſſen fagte. Weiß fich der Deutfche dem Wefen nach im tiefften Einklang mit der Natur, fo gibt ihm eben dies Bemwußtfein in den Augenbliden, da fich fein Geift von dem Erhabenen herab zur Wirklichkeit wendet, da er fich befreit fühlt von den Laften und Leiden tragifcher Erkenntnis, die Möglichkeit und Auf⸗ forderung zu leichtem überlegenen Spiel mit den Abfonderlichfeiten und Widerfprüchen des Lebens, die er nun in buntem, tollen Tanz verfchlungen an fich vorüberziehen läßt. Kein Widerfpruch alfo zwifchen der Natur- freue und ber frei frhaffenden Erfindungsfraft, auch feine Anomalie darin, daß Phantafie und Wirklichkeitswiedergabe fich häufig durchdringen und verbinden beide Erfcheinungen mwurzeln in einem gemeinfamen tiefen Grunde, nämlich in der Gefühlsauffaffung der Natur!

In diefen vier Hauptmomenten alfo ließe fich der fünftlerifche Aus- drud jener früher gefchilderten Weltanfchauung der Deutfchen zufammen- faſſen: ftarfer Gefühlsausdrud, Univerfalismug des Schauens, größte Natur: treue, oder fagen wir befjer Naturliebe, und reichite Erfindungstraft.

Bleiben wir noch einen Augenblick bei der Betrachtung jener großen Deriode deutfcher Runft! Aus unferen Erwägungen ergibt fich die voll- ftändige Erklärung ihrer formal ftiliftifchen Eigentümlichkeiten. Unwillkür⸗ lih, wenn wir die deutfchen Skulpturen und Gemälde mit den gleichzeitigen italienifchen vergleichen, äußert fich unfer äfthetifches Gefühl zu Gunften der letzteren. In diefen gewahren wir die große, einfache Gefegmäßigfeit der Form, die große einfache Harmonie der Farben, die deutliche Beftimmt- beit, kurz alle das, was wir ald Schönheit und als Stil bezeichnen. In Deutfchland, in diefen mit ftarfbewegten, individualifirten Figuren und fonftigen Einzelheiten überfüllten, buntfarbigen Bildern und Schnitzwerken des 15. und 16. Jahrhunderts fcheint ein Wirrfal zu berrfchen, und immer wieder drängt ſich dem Betrachter die Frage auf: ja, warum find denn Chriſtus, Maria, diefer Apoſtel, jener Heilige denn es handelt fich in jenen Zeiten um religiöfe Kunſt warum find fie denn nicht „fchön“ dar-

358 Henry Thode: Ueber deutfhe Weltanfhauung und Kunſt.

geftellt, d. h. von gefegmäßig harmonifcher, typifcher Erfcheinung? Nun, dies erklärt fich eben aus den angegebenen Eigentümlichfeiten deutſchen Wefend. In einem folchen Grade der Form allerhöchite Bedeutung zu- zuerfennen, wie bie Antike, wie der Italiener, hat ſich der Deutſche nicht entfcheiden können. Wenn er ein Runftwerf fchafft, jo will er vor allem ftart auf das Gefühl und die Phantafie der anderen wirken, wie in ihm felbft das Werk ja aus ſtarker Betätigung beider Mächte hervorgegangen ift. Indem er alles mitteilen möchte, was an Gefühlsgehalt in dem religiöfen Stoffe liegt, fieht er fi auch von dieſer Seite gedrängt, um möglichft aus- drucdsvoll zu fein, möglichft naturtreu zu fein. Wie, meint er, kann ich für die entfeglichen Ereigniffe der Paffion das Mitleiden, wie für die heilig zarten Muttergefühle Marias die innige Teilnahme Anderer erweden, wenn ich fie nicht mit der größten Intimität des Ausdruds, mit ganz über- zeugender Wahrhaftigkeit fchildere. Geelenfprache in ſtarken Bewegungen, ſcharfe Individualifirung erfcheinen unabweislich notwendig.

Und hiemit hängt ein anderes zufammen. Es ift charakteriftifch, daß die italienifche Kunſt in ihrem Streben nach Schönheit und Gejegmäßigkeit im Verlaufe des 15. Jahrhunderts faft gänzlich alle jene Stoffe zu beban- dein aufgegeben hat, welche eine große leidenfchaftliche Seelenäußerung be- dingen. Aehnlich wie die antike Runft befchräntte fie fich weſentlich darauf, in großen, topifchen, dauernden Erfcheinungen das chriftlich Göttliche zu ver- . deutlichen. Nicht in erfter Linie die Paffion Chrifti, alfo nicht den Kern riftlichen Glaubens, nicht das Menfchliche, zu dem das Göttliche fich herab- ließ, fondern den Sieg des Göttlichen über das Menfchliche, fein leidenlos Ewiges bildet den Vorwurf ihres Schaffend. Und fo, durch ein folches Abfinden mit dem chriftlichen Stoffe, entftanden die erhabenen Schönheits- typen des Erlöfers, der Madonna, ber Heiligen. Go entfteht etwas der griechifchen mythologifhen Kunſt Analoges. Der Deutfche drängt auf das Wefentliche des Chriftentums und wird dadurch an der Erreichung eines Schönheitsibeales verhindert. Er fucht in evangelifchem Geifte das Göttliche nicht in äußerer Herrlichkeit, fondern in der inneren jo kommt es, daß fein Ausdrudsbebürfnis die ftiliftifhe Schönheitsgeftaltung beeinträchtigt. Es wäre ganz falfch ich kann diefe wichtigen Probleme leider nur flüchtig berühren feine Runft, wie vielfach gejchieht, eine realiftifche zu nennen. Sie ift idealiftifch fo gut ald die italienifche, ja ift es vielleicht in höherem Grade, wenn man die Gewalt ihres Ringens um Wahrhaftigkeit feelifchen Ausdrudes beachtet. Uber fo groß, fo überwältigend ihre Genialität, an Vollkommenheit des Stiles läßt fie fich mit der italienifchen nicht vergleichen; bie Erfcheinungen der Leberfülle, der zu ftarfen Individualifirung, des allzu Leidenfchaftlichen und Unruhigen der Bewegungen und endlich der phan- taftifchen Elemente vereiteln die Geftaltung eines ruhigen, gefchloffenen, ein- fachen Eindrudes.

Heißt das nun aber fo viel, ald daß dem Deutfchen vollkommener Stil in der bildenden Kunſt zu erreichen verfagt wäre? Keineswegs. Unſere Kenntnis feiner Weltanfchauung gibt uns den Schlüffel zur Löfung des Problems. In jener Periode handelte es ſich um religiöfe Runft, welche den Menfchen vergdttlicht ganz in ben Vorbergrund treten läßt. Für ben

Henry Thode: Ueber deutfche Weltanfhauung und Kunft. 359

Germanen aber, und fpeziell den Deutfchen, deflen Ausdrudsbedürfnis und Univerſalismus, wir fahen es, das Menfchliche in die gefamte Natur ein- bezog, und der das Göttliche in diefer Einheit fand, konnte der Menfch nicht der ausfchließliche Gegenftand der Darftellung fein. Sein ideales Streben richtete fi auf die Veranfchaulihung eines Naturganzen; in ihr fuchte er die ffimmungsvolle Schönheitswirkung. Dies offenbart fich ſchon im Mittelalter. Schon damals fchlägt die deutfche Malerei die Richtung ein nach diefem weiter ausgefpannten Bereich künftlerifher Anfchauung, in dem fich das PVerlangen nah Mitteilung innerfter Stimmungsvorgänge ganz genügen fonnte, ohne in einen Widerfpruch zu den Gchönbeite- anforderungen religiöfer Menfchendarftellung zu gelangen. Mehr und mehr wird im Verlaufe des 15. und 16. Jahrhunderts bis hin zu den Schöpfungen Dürer und Grünewalds das menfchliche Weſen in die gefamte große Natur einbezogen, verliert es feine abfolute Bedeutung. So wenig bie plaftifch beftimmte Formengeftaltung in der Zeichnung außer acht gelaffen wird wir wiſſen, in wie hohem Grade Dürer die Vorzüge der italienifchen Malerei erfannte und fich durch theoretifche Studien deren Gefegmäßigfeit zu eigen zu machen fuchte fo werden doch höhere Einheitsfaktoren, welche die DVielheit der Erfcheinungen von Menfchlidem und Landfchaftlichem binden, Beides in innigen Zufammenhang fegen, zur Geltung gebracht: große Farbenzufammenklänge, vor allem aber die das Gefühl unmittelbar ftarf beftimmenden Lichterfeheinungen. Und damit findet die germanifche Kunſt den ficheren Weg zu ihrem großen eigentümlichen Stil einen Weg, der freilich dann nicht von den Deutfchen, deren bildende Tätigkeit durch den dreißigjährigen Krieg gelähmt, ja vernichtet ward, fondern von den Nieder- ländern in ihrer befonderen Weife verfolgt werden follte bi8 zu den Wunbder- regionen der Rembrandtfchen Kunſt.

Und diefer Stil, der gleichberechtigt neben den italienifchen treten konnte, welcher alle Möglichkeiten der Malerei erfchöpfte, indem er der im Süden verherrlichten Schönheit des Menfchen die Schönheit eines die Seele twieder- fpiegelnden Naturganzen binzufügte aus welch’ anderen Bedingungen fönnte er hervorgegangen fein, ald aus der Entdeckung der göttlichen Ge- meinfamleit zwifchen Menfchlihem und Natürlihem? Als der vollent- fprechende fünftlerifche Ausdrucd für das, was ung Religion und Philofophie über das deutfche Wefen fagten, für das, was und zur Antwort ward auf die Frage: Was ift deutich?

Faſſen wir e8 Fury zufammen. Das künftlerifche Bekenntnis des Deutfchen lautet: alle Erfheinung ift Wefensoffenbarung, alle Form hat Sinn und Wert nur als Wefendausdrud, und nur in der Derdeutlihung der allumfaffenden Einheit von Menjch und Natur findet das Bedürfnis der Seele, ihr inneres Leben äußerlich zu fhauen, fein volles Genüge.

Bühnentradition. Bon Hans Pfitz ner in Berlin.

Sieht man vom Markt in die Kirche hinein Da ift alles dunfel und büfter

Kommt aber nur einmal herein! (Goethe.)

Einleitung.

Tradition angewendet auf KRunftübung, und fpeziell, um gleich unfer Thema anzufchlagen, auf die Wiedergabe von dramatischen Werten, ein fürchterliches Wort für den, der ein direktes Verhältnis zum Kunſtwerk bat. Nichts beleuchtet fo fehr die Leerheit und Totheit des Runfttreibeng, die Derlaffenheit des lebendigen Kunſtwerkes in diefer toten Welt, als Die häufige Anwendung der Tradition, mit oder ohne Eingeftändnis.

Nur noch eins ift gerade fo fchlimm: das ift der „Narr auf eig’ne Hand“, eine willtürliche Auffaffung, die, womöglich wider beſſere Einficht und Erkenntnis des vom Autor gefchaffenen Gebildes, das eigene Subjekt überwuchern läßt, und fo eigentlich gar nicht mehr den Autor interpretiert, fondern die ftummen Zeichen feiner Aufzeichnung ald Anregung benugt, etwas Eigenes zu produzieren.

Kommt der der Tradition folgende nie in das innere Heiligtum des Kunſtwerkes hinein, gehindert durch den luftleeren Raum der eigenen Geift- lofigkeit und die kompakte Mafle der im Behälter der Zeit aufgeftapelten Gewohnheit, gibt er fo in gewiffem Sinne immer ein zu wenig, fo gibt die andere Art im fehlimmen Sinne ein zu viel, und der „Narr auf eig’ne Hand“ ift der gefährlichfte von allen Narren, die „mehr fagen, als in ihrer Rolle fteht“.

Diefe beiden Pole fegen allerdings ftillfchweigend einen Mittelpunkt voraus, den einer abfoluten Richtigkeit; fegen voraus, daß das Gegebene, das wiederzugebende Runftobjeft einen unverrüdbaren Maßftab bilde, in fih, an fih „richtig“ fei, fi wenn ein Vergleich geftattet ift zur Natur felbft, der Wahrheit im großen Sinne verhalte, wie der Interpret fih zu ihm verhalten fol.

„Richtig“ und „Falſch“ in Runft? Handelt es fich nicht in der Runft um andere Sachen? Befchränten diefe Begriffe nicht die Phantafie, die Freiheit, die Individualität? Drücken diefe Worte fehon nicht alle Runft auf ein niedrigeres Niveau? Befonders beim Nachfchaffen, welches ja unfer Thema ift, beim Verhältnis vom Darfteller zur Geftalt?

Dans Pfigner: Bühnentradition. 361

Nun, ich will verfuchen darzutun, daß gegen das, was ich nicht anders als „Richtigkeit“ benennen kann, alles drum herum verblaffen muß, weil jeneg das Höchfte ift, was zu denfen.

Wenn es überhaupt etwas gibt, was eine Wahrheit im höchften Sinne darftellt, fo ift e8 die im Ropfe des Genies entjtandene direkte An- fhauung, der geniale Gedanke, die Infpiration. Nehmen wir diefe beim dramatifchen Dichter eingetreten an: fo lautet die ideale Aufgabe der repro- dugzierenden Kunſt: die im PDichterhirne entftandene Idee in voller Reinheit noch einmal in die Welt zu fegen.

Aber geniale Werke find fehr felten; und in dieſen ift nicht alles, fann nicht alles genial fein; bier alfo fchon fehen wir, wie fich das DVer- hältnis des Darftellers zum Werk verwirrt, die Aufgabe fehwantend wird. Iſt das Dichtergebilde vor dem Thron des Geiftes der Wahrheit „richtig“, fo kann die höchſte Leiftung eben nur fongruent fein, denn genialer als genial fann nichts fein; ift e8 „Falfch” in dem analogen Sinne, fo fehlt der Mapftab, unterfteht die Wiedergabe einem anderen Gerichtshof der Beur- teilung, einem andersartigen Kriterium.

In dem Maße alſo, ald vom fehaffenden Künftler etwas deutlich er- fhaut und feftgelegt ift, ift die Auffaffungsmöglichkeit begrenzt, wogegen fie bis zur Unendlichkeit erweitert ift, wenn das dichterifche Gebilde jelbft vor einer höchſten Wahrheit nicht beftehen kann.

Hier ſchon leuchtet ein, daß der erfehnte Mittelpunkt immer Ideal bleibt, nur ganz ausnahmsweife, vorübergehend, bligartig erreicht werben fann; daß fich das ganze Runfttreiben auf dem unendlichen Felde abfpielt, das wie die Erde um den ihrigen, um jenen Mittelpunft herumlagert. Un- begrenzt ift das Feld, und fo groß, daß fo Verfchiedened, von dem eben gewonnenen Standpunkte aus aber doch nur graduell Anterſchiedenes, wie Künftler und Stümper, Meifterwerf und Machwerk auf ihm Platz haben. Uber im bewußten oder unbewußten Suchen nach jenem Punkt, deſſen Wefen nie benannt, deffen Eriftenz nie bewiefen werden fann, liegt das Geheimnisvolle, Reizvolle aller Runftübung. Und wie das größte Dichterwerk nicht durchweg und in allen Teilen genial fein kann, fo wird die vollendetfte Darftellung immer ein gutes Teil Tradition oder Narrentum auf eigne Hand enthalten.

Es liegt diefe Einſchränkung im Wefen der Erfcheinungsmwelt über- haupt.

Denn nicht nur das Verftändnig, das von Kopf zu Kopf geht, ift eine große Seltenheit, fehon im Individuum felbft, auf dem Weg vom Hirn zur Hand, zum Papier, verfälfcht, verändert, vermindert, verundeutlicht fich die urfprünglich reine Idee.

Die Gedankenwelt in die Wirklichkeitswelt zu bringen ift ein beſchwer⸗ licher Transport, bei dem immer viel verloren geht.

Jeder, der einmal einen Gedanken objektivierender Natur gehabt bat, fann diefen Prozeß an fich ſelbſt beobachten, das Problem von der fubjel- tiven Seite aus verfolgen.

Es ftellt fih unvermutet, in einem unbewachten Augenblid ein Gedanke ein; Gedanke ift ſchon nicht ganz richtig. „Gefühl“ auch nicht; ein Beiden

362 Hans Pfigner: Bühnentradition.

ähnliches, ein Etwas, von dem man fühlt, daß es in irgend einem Sinne wahr ift, überhaupt „ift,“ und einem doch fo ganz allein zugehört.

Man hat das Bedürfnis, es feftzuhalten, und verfucht, es gleich noch einmal zu benten, fcharf zu faflen.

Aber mit dieſem Augenblick entweicht es, läßt fich nicht fangen; es fcheint etwas fo Hohes, fo Subtiles, daß es felbft vor der Berührung mit dem bewußten Denken, als etwas zu Plumpem, zurüdfchredt. Aber man gibt die Abficht nicht auf, und mit Gewalt verwandelt man ben ge heimnisvollen Befuch in einen Gedanken, den Gedanken in Worte, und merft faum, daß währenddeſſen immer mehr das DBefte verloren geht; es ift, ald ob, wenn man grade recht feft zuzugreifen glaubt, und die Hand fchließt, nichts als traurige Ueberrefte in ber Hand bleiben, Schaum, ber vor den Augen zerrinnt, ftatt Perlen; und es fteht etwas auf dem Papier, was einem felbft wohl dienen fann, durch eine Erinnerungstette fi) den Zu- ftand des Empfängnisaugenblices zurüdzurufen, aber zu nicht viel mehr; man braucht nur nach längerer Zeit, in anderer Stimmung es ſich durdh- zulefen, und fann erleben, daß man feine eigenen Worte nicht verjteht.

Und nun foll man fi) wundern, wenn Andere Worte Anderer nicht verftehen? Wenn fie nicht das fehen, was der, der's gefchrieben hat, ge fehen hat? Wenn grade fo viele verfihiedene Bilder, „Auffaffungen“ aus dem Papier auffteigen, wie es Röpfe gibt, die die Worte lefen? Daß es un- zählige Grade von Deutlichkeit gibt, in der es dem Schöpfer gelungen ift, feine Vifionen aufs Papier zu bannen, unzählige Abftufungen von Fähig- feit, durch die Worte hindurch die Geftalten zu fehen? Daß felbft die draftifcheiten Gradunterfchiede nicht beweisbar find, und z. B. Dramen, die von lebendigen Geftalten wimmeln nicht unterfchieden werden von folchen, die überhaupt feine Geftalten enthalten fondern beftenfall® Gedanten.

Worte hier und Worte dort; fo fieht’3 aus; von einem Wort läßt ſich fein Iota rauben, wohl aber ein ganzes Stüd von Geftalten entvölfern, wenn es in ben unridhtigen Kopf kommt.

Wir fehen: Worte, Individuen und andre Runftmedien find zugleich vermittelnd und hindernd für die Idee, und wie man fich die Seligkeit erft nach dem Aufhören des Leibes denkt, jo tritt man in den fiebenten Runft- himmel erft ein, wenn das Begriffliche und Sinnliche feine Rolle mehr fpielt; wenn die Idee, im Schöpfer als fubjeftiver Zuftand befindlich, dem Genießer aus den Tönen, Worten, oder was es fei, in urfprünglicher Reinheit wieder aufſteigt. Durch fein finnliches Mittel läßt fich diefe Erkenntnis auf Andre übertragen; ift fie in einem Dritten, fo fann eine Andeutung, ein Blid, fozufagen eine Parole, diefe hohe Llebereinftimmung erweifen. Hundert Andere mögen „Auffaſſungen“ haben, fo viel fie wollen; der eine fühlt mit entzüctender Deutlichkeit die Idee, Die Stimmung, die in einem Anderen ob lebend oder lange tot, gleichviel lebendig war. Das ift keine Auf- faffung mehr, das ift Richtigkeit.

In dem Wirklichkeits- und Erfahrungsgebiet, in das wir ung jegt be geben wollen, kann nım von biefer Art „Richtigkeit“ nicht mehr die Rede fein; bier, wo alles Feinere ver „berben“ muß, können wir auch diefe Be-

Sans Pfisner: Bühnentradition. 363

griffe nur im berberen Sinne anmwenden. Laffen wir alfo den Mittel punft und begeben wir uns zunächft nach Dresden.

Hier war ed, wo der alte Cellift zu Wagner, als diefer die Freifchüs- Duvertüre dirigierte, beim Adagio fagte: „Ia, fo hat es Weber auch ge- nommen; ich höre es jegt zum erften Male wieder richtig.“

Nachdem wir nun alfo nicht mehr nötig haben darauf binzumweifen, inwiefern jede Tradition an fich falfch ift, können wir fagen, daß in dieſem Moment mit einer falfhen Tradition gebrochen wurde und eine neue, richtige anfing. Die erfte mwurftelte munter ohne jeden nachweisbaren Urfprung, als den der allgemeinen Dumpfheit, weiter. Die zweite wurzelte in dem Vorgang einer Autorität, doppelt autorifiert durch die mündliche Beftätigung eined Zeitgenoffen des Autors.

Diefe beiden Sorten laffen fich überhaupt bei Traditionen unterfcheiden.

In jenem Falle nun war die zweite ein Segen; fie war leicht zu be folgen; und durch das einfache Langfamer-Dirigieren war fchon viel erreicht; fein Taltfchläger würde fich heute noch unterftehen, die Einleitung der Frei- fhüg-Duvertüre als Ländler zu fervieren. Nicht immer aber ift bie Be folgung einer Lehre fo leicht für Leute, die aufd Nachmachen angewieſen ſind; ſo iſt ſie im Laufe der Zeit unzähligen Veränderungen, am häufigſten Uebertreibungen unterworfen, und wird durch die vielen Hände, durch die ſie geht und herumgereicht wird, bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen.

Doch uns ſoll hier mehr intereſſieren wie eine Tradition entſteht, als was aus ihr wird.

Wie war es möglich, daß, um bei unſerem ſehr lehrreichen Beiſpiel zu bleiben ſelbſt die unfähigſten Dirigenten vorausgeſetzt, jene „Wurftel*- Tradition, jene Gewohnheit einreißen konnte, den Anfang der Freiſchütz Duvertüre fo zu verfehlen, da „Adagio“ Darüber fteht? Die Annahme ift doch wohl ausgefchloffen, daß die braven Mufitphilifter und Meifter vom Taktftod etwa nach langem inneren Ringen um den richtigen Ausdrud jenes Tonſtückes endlich alle, jeder für fich, zu der Ueberzeugung gelommen wären, daß die Bezeichnung „Adagio“ vom Meifter falfch gewählt fei und der Charakter diefer Mufil verlangte, daß es fchneller genommen werben folle, alfo etwa andantino ?

Rein, dies war eben einfach Schlamperei; e8 war Nichtbeachtung der Borfchrift des Autors; der gedbrudten, für die folgenden Zeiten beftimmten Vorſchrift des Schöpferg, der fein anderes Mittel zur Verfügung bat, feinen Willen auszudrüden als das Wort. Nichtbeachtung, die aus der ungeheuren Oberflächlichkeit ent- fpringt, mit der gar zu oft die Aufgabe in die Hand genommen wird, über das Leben eines Geifteswerkes zu wachen. Senen Taktfchlägern fuggerierte eben beim erften Hinſchauen der Anblid von Noten wie etwa

u:

das Borhandenfein ihrer Sphäre, nämlich die „des ‚Alphorns‘ oder ähnlicher gemütlicher Rompofitionen“ umd fie ftugten nicht bei dem Worte „Adagio“;

364 Hans Pfisner: Bühnentrabition.

was fie hätten tun follen und auch können, bei befferer moralifcher Be- fchaffenheit.

Gelbftverftändlich ift e8 auch fehr häufig, daß Bezeichnungen des Autors irreführend find, deutlicher fein könnten; nicht immer mag es ihm gelingen, den präzifen Ausdrud einer Vorfchrift zu finden; auch fchreibt der eine im ganzen beffere, der andere weniger gute Bemerkungen; es gehört Renntnis des betreffenden Dichters oder Romponiften dazu, um feine Sprache zu verftehen, fowohl was diefe Bemerkungen, ald was den eigentlichen Tert der Dichtung anbelangt; beide unterliegen natürlich der Verarbeitung des Nachſchöpfers, ja zumeilen der berechtigten Verbeflerung; aber zuerft bat man bei Fällen des Zweifels, den Fehler in fich zu vermuten, ehe man ihn dem Schöpfer zufchiebt. Auf jeden Fall gehört eines genau fo zum Werk wie das andere, und beides hat den Anfpruch, voll beachtet zu werden. Sene Anweifungen find gewiffermaßen das Mittelding zwifchen der Sprache des Werkes und der des Autors, perfönlichen Auskünften, von denen fpäter- bin die Rebe fein fol. Alles das trägt dazu bei, das Gefamtbild zu ver- deutlichen, zu beleuchten.

Leider aber wird in unferer Zeit, in der wir ed doch „bis an die Sterne weit” gebracht haben, diefer fo wichtige Teil eines dramatifchen Werkes, werden diefe Anmerkungen genau fo wenig beachtet und ernft ge nommen, als feinerzeit das Wort „Adagio“ über der Freifchüg-Duvertüre. Namentlich feitens der Sänger; Regiffeure fallen leicht in Willtürlichkeit ; am erften findet man noch KRapellmeifter, die die VBorfchriften wirklich beachten.

Da fich die fpäter folgenden Ausführungen vorzugsmweife mit mufit- dramatifcher Kunſt, fpeziell mit Wagner befchäftigen follen, fo fei gleich bier unfer Thema diefer Befchräntung unterworfen.

Die Art, wie unfere Dpernfänger an ihre Aufgabe gehen, ift folgende:

Dem eigentlihen Studium ift in der Regel ein gelegentliches, mehr- faches Anhören von Aufführungen des betreffenden Werkes vorangegangen, wobei unfer Künftler das Theater mit dem Gefühl verläßt: wie das erjt werden wird, wenn er die Rolle fingt! Das nächfte iſt, daß er mit dem KRorrepetitor die Noten lernt, zugleich natürlich die Worte, aber nur mit den Noten.

Zegt ift es natürlich zu früh, an das „Spiel“ zu denken, und folche* Sachen; erft mal die Noten!

Dann kommen die Proben, wie fie am Theater üblich find. Auf den Bühnenproben befolgt man die Anmeifungen des Regiffeurs, oder auch nicht; Unterweifungen, die über Stellungen und dergleichen hinausgehen, werden vergejlen, oder, bei Sängern mit hoher Gage, gleich beftritten. Jetzt ift es natürlich zu fpät, an das „Spiel“ zu denken und folche Sachen; die Dper muß heraus und der Sänger ift nervös und muß nur fehen, daß er bei Stimme ift! Das „Spiel“ kommt dann fchon abends, mit Koſtüm und Maste!

Das gibt es überhaupt nicht, daß ein Gänger, wenn er vor einer neuen Aufgabe fteht, ſich mal die Dichtung hernimmt, fie, ohne zunächft an feine Rolle zu denken, lieft, in Ruhe, mit Genuß und Intereffe an ber

Hans Pfisner: Bühnentradition. 365

Sade; dann feine Aufgabe in Gedanken mit herumträgt, feine Phantafie damit befchäftigt,; nur fo wenn überhaupt könnte ihm feine Geftalt richtig aufgehen, im Zufammenhang mit dem Ganzen.

Alles, was nicht aus den Worten hervorgeht, etwa Ausdrud im einzelnen, fagt dann die Muſik aufs deutlichfte, was diefe nicht fagen kann, fagen endlich die Vortrags: und fonftigen Bemerkungen. Daß dieſe den Sängern unbefannt find, ift derjenige Lebelftand, auf den ich mit dem Finger deuten möchte, ald den, der am evibenteften aufdeckt, wie wenig es unferen ausübenden Künftlern darum zu fun ift, oder doch mindeſtens, welch falfhe Wege fie einfchlagen, nachzuforfchen, wie der Schöpfer feine Ge- ftalten ſah, und dargeftellt wiffen wollte. Noten und Worte muß man fennen, fonft fann man nicht auftreten, aber diefe Anweiſungen

Welche Lichter werfen die fparfamen Bemerkungen Wagners auf die Situation, die Geftalt, das ganze Werk; welche Welt von Ausdrud liegt in ihnen! Ein Beifpiel ftatt hundert:

„Siegfried fährt aus einer träumerifchen Entrüdtheit auf”.

Ich frage, wer fchon jemals einen Siegfried nach der Nheintöchter- faene in entrüdtem Zuftande gefehen bat.

Aber das willen die Sänger befler ald Wagner. Giegfried ift froh und fräftig; der dicke Pinfel zum Anftreichen des Bildes wird in den Topf mit der hellen Delfarbe getaucht. Siegfried ift Naturburfche und ftrah- lender, luſtiger Held; folglich darf er nicht entrüct fein; entrüdt ja, das ift Parfifal; entrückt ift man überhaupt nur bei heiligen Sachen, nicht nach Rheintöchterfzenen. Und fo, um die ftumme Szene mit „Spiel“ „aus- zufüllen“, geilt unfer Held den verfchwundenen Niren mit den Augen nach, am fer hin- und berfchleichend.

Für einen aber, der nicht hundertmal mit den Augen über jene An— weifung binlieft, ohne fie ein einziges Mal mit dem Sinn zu erfaffen, der nicht, um dies nicht zugeben zu müſſen, plöglich zum Beſſerwiſſen feine Zuflucht nimmt: für einen folchen wird diefe Bemerkung eine Fülle von Belehrung, Genuß und Anregung zur Ausgeftaltung feiner Rolle enthalten. Wie tief geheimnisooll berührt diefes kurze Sih—felbft— verlieren zwifchen Todesprophezeihung und Tod! Wo weilt Siegfrieds Geift in dieſen Augen- blicken?

Bei den Rheintöchtern gewiß nicht, wenn es auch zuerſt beißt: „er blickt ihnen unverwandt nad”. Er fieht ihnen lächelnd nach und feine Ge- danken verlieren fih. Wohin? Wir wiffen es nicht, Wagner auch wahrfcheinlich nicht; aber er wußte, daß in diefem Moment diefer Zuftand fich Siegfried bemächtigen muß; das wußte er ald Künftler; und dem hat man zu glauben.

Welcher Augiasftall von Schlendrian wäre, angefichts aller unbefolgten Anmerfungen, auszuräumen!

Alſo Noten, Worte, gedrucdte Anweiſungen, fehen wir, reichen in der Praris nicht hin, um die Abfichten eines fchöpferifchen Künſtlers ficher zu ftellen; der Streit hierüber hat zuweilen ein allgemein beliebtes Ende; es ift das Donnerwort: „Das hat der Meifter felber gejagt; ich felber hab's gehört.“

366 Hans Pfigner: Bühnmentrabition.

Aus derartigen mündlichen Leberlieferungen erwächſt jehr oft eine Tradition; diefe würde alfo in der höchften Autorität, dem Schöpfer felbft, mwurzeln.

Nun, in unferem Freifhüs-Beifpiel ſtimmte die gedruckte Vorfchrift und die Lleberlieferung durch den Ohrenzeugen überein. Wie aber, wenn diefe Llebereinftimmung nicht ftattfindet? Wem follen wir glauben? Wem fol man glauben, wenn auch der lebendige Dirigent da oben mit beibem gegebenen nicht harmoniert? Ja, wenn der immer ein Wagner wäre! Wie leicht dann die Antwort: ihm.

Hier handelt e8 fih um eine prinzipielle Behandlung ber Frage; und es ift nur möglich, feften Boden zu gewinnen, wenn man ſich klar macht, daß das einzig Maßgebende diejenigen Leberlieferungen find, die im Drud vorliegen, nicht die von Mund zu Mund geben; es ift wohl faum nötig, zu fagen, daß von einer jchematifchen Durchführung auch bier nicht die Rede fein kann, und dat es Ausnahmsfälle Häufig genug geben mag; daß eine genügend beglaubigte mündliche Aeußerung ein legtes Licht wirft auf eine Auffaffungsfrage.

Was der Meifter dem Drud übergibt, beftimmt für kommende Zeiten aufbewahrt zu fein, das wird er nicht binfchreiben, ohne ſich vorher wohl überlegt zu haben, was er fagt, und ohne die muftergültigite Ausdrudsform dafür zu wählen, daran hat man alles Recht fich zu halten. Was er fo im Leben zu diefem und jenem jagt, ift unmaßgeblih und unverbindlich; nicht in jedem QUugenblide ift Einer, der Werke fchreibt, verantwortlich für feine fie betreffenden Aeußerungen.

Wenn fo in beftimmtem Sinne fhon dem Munde des Autors nicht zu glauben ift, fo ift dem Munde des Lleberliefererd aber vor allem nicht zu trauen; ich will jegt nur von Fällen reden, in denen ich den Erzähler als durchaus ehrlih und fogar von der Heinften wiſſentlichen Ueber⸗ treibung oder fonftigen Ausfhmüdung frei annehme. Gelbft dieſes voraus- gefegt, ift mündliche Ueberlieferung fo ſchwankend, da man vor gröblichften Entftellungen nie ficher ift. Der „Meifter” wirft einen flüchtigen Sag hin, irgend eine Sache betreffend; Herr U. hört es, natürlih mit feinen Ohren; beide denken fich gar nichts befonderes dabei. Nach einiger Zeit fommt an anderem Drt die Rede auf dasfelbe Thema; jest fällt dem X. ein, was der Meifter hierüber ſagte; unwillkürlich erfcheint jest der Satz viel wichtiger wie im Moment der Aufnahme; er gibt ihn fo wieder, wie er fich erinnert; er glaubt e8 genau zu wiflen, aber in 99 unter 100 Fällen wird bier fchon der „Ausſpruch“ des Meifters verfälfcht fein; ein kleines Wörthen im Wortlaut ändert den Sinn, die Stimmung ift eine andere, und bis zum Gegenteil ift’3 nicht mehr weit; fo vier bis fünf Münder. Im gewöhnlichen Leben jagt auch der ernftefte, tieffte Menſch, namentlich der lebhafte, Stimmungen unterworfene Künftler Sachen „nur fo“ hin; nie aber wird ein Künſtler, der es einigermaßen ernft mit feinem eigenen Werk nimmt, in diefem etwas „nur fo“ binfchreiben und druden laflen.

Der Meifter gibt eine mündliche Anweiſung, etwa Regie betreffend, aus beftimmten Umftänden heraus, vielleicht aus einer Ronzeffion ober fonft einem Zwange; der oder jener beteiligten Perfon, Befonderheiten der gangen

Hans Pfigner: Bühnentradition. 367

Lage, der Zeit wegen. Zu einer Zeit, wo man ihn nicht mehr fragen kann „warum“ meldet e8 ein Lleberlebender. Unausdenkbar fchredlich wäre es, wenn diefes dann für alle Zeiten feft ftünde und nicht die Angabe im ge: drudten Wert.

Ich muß bier darauf verzichten, auch nur anzubeuten, welch unzählige Möglichkeiten der Verfälſchung eriftieren bei der fchwanfenden mündlichen Tradition. Es brauchen gar feine großen und tiefen Worte zu fein, die fich in einem Kopfe anders ausnehmen, ald im anderen. Jeder, der diefes lieft, wird an fich ſchon erfahren haben, daß man fehr leicht falſch zitiert wird, und wenn ihm feine angeblich eigenen Worte vorgehalten worden waren, in die Lage gefommen fein, auch dem ebrlichiten Freunde gegenüber auszu- rufen: „was, dieſes foll ich gefagt haben?“

Ganz vertrauensvoll fann man ftreng genommen nur folde Er- zählungen aufnehmen wie 3. B. die dem Weißheimerfchen Buch entnommene, dab Wagner den Kopfſalat fehr gerne af.

Nur mit der Erwähnung, nicht der näheren Betrachtung bes traurigften und tupifcheften Falles, der bei dem Urfprung einer „Wurzel.“ Tradition immer vorliegt, foll diefe Einleitung befchloffen werden. Es ift der, daß ein Genie bei Lebzeiten niemals fo viel Autorität gewinnt, daß feine ernftgemeinteften Ausfprüche und Wünfche mit der Ehrfurcht, dem fich unterordnenden Ernfte von Verftändnis ganz abgefehen aufgenommen werden, den fie beanfpruchen können; wogegen nach dem Tode über jede bingemorfene Aeußerung Bücher gefchrieben werden. Erft achtet man nicht, dag der Menfch, den man da von AUngeficht zu AUngeficht fieht, ein Genie ift; dann vergißt man, daß das Genie nur ein Menfch war.

Einige Geftalten unferer Bühne, zunächft aus Wagnerfchen Werten, an denen man das Feſtſetzen einer Tradition, die noch im Blühen ift, ſchon beobachten fann, follen in den folgenden Heften vorgeführt werden.

Wandlungen im Wefen des Staates.

Bon Friedrih Naumann in Schöneberg.

Es ift ein geringes Vergnügen, Bücher zu lefen, in denen das Wefen des Staates erörtert wird. Nicht ald ob diefe Bücher dumm wären, nein, fie find zu gefcheit! Sie wollen nämlich eine Begriffsbeftimmung fuchen, die für alle Staaten aller Zeiten und Völker paßt. Das aber gelingt nicht, denn der Staat ift ein Chamäleon, ein Proteus, ein verwandelbares Tier. Er fieht in den verfchiedenen gefchichtlichen Lagen fo verfchieden aus, daß man faum noch weiß, ob er es felber ift. Er vergleicht fich einem Gefchäft, das in Galanteriewaren anfing, zu Spezereimaren überging und fchließlich als Spezialgefchäft für Südfrüchte endigte und das dabei gelegentlich feine Räume, Perfonal und Inhaber vollftändig wechfelte. Was ift das Welen diefes Gefchäftes? Schlechterdings nichts anderes als die Kontinuität bes Hauptbuches und der Umſtand, daß jede folgende Geftaltung fi langſam und auf natürlichem Wege aus der vorhergehenden herausgefchält hat. Alles kann fich ändern, alles, und das „Wefen“ bleibt doch dasfelbel E3 bleibt, wenn man fo fagen darf, das unfichtbare Ich, das ſtets feine alten Erfah: rungen und Kräfte benugt, um anders zu werden. Diefes Staatd-Ich mit Logik und Dialektik verfolgen zu wollen, ift eine Jagd nach einem Eber, der die Kraft hat, gelegentlich ein Hirfch zu fein.

Vielleicht aber hilft uns doch das Wort etwas weiter, das wir eben vergleichsweife brauchten, das Wort „Geihäft“? Wir wollen verfuchen, den Erwerbötrieb ald das Weſen des Staates zu betrachten. Das ift ficher feine allfeitige Betrachtung, aber fie ermöglicht einigermaßen, die Wand- lungen in GSubjeft, Objekt, Umfang und Qualität der Staatstätigkeit zu harakterifieren. Und zwar verzichten wir darauf, Die Staatsgebilde ferner Vorzeit und anderer Zonen unter diefem Gefichtswintel anzufehen, obwohl auch diefes nicht ganz unmöglich fein würde, und fegen dort ein, mo ber „moderne Staat“ in Deutfchland fich bildet, beim Territorialftaat des 16., 17. und 18. Jahrhunderts.

Der Vorgang ift diefer: Unter der Hülle des abfterbenden alten Staates des heiligen römischen Reiches deutfcher Nation, entftehen von unten ber zahlreiche neue Staaten, die Landesherrfchaften. Der Trieb zur Staatsbildung ift fehr lebendig, die jungen Staaten find aber noch nicht feſt, teilen fich, verbinden fich, gehen mwechfelnde Rombinationen ein, big die fehr gemifchte Gefellfchaft von Souveränitäten entfteht, die auf Napoleons Befen wartet. Süddeutſchland war der eigentliche Herd diefer Art von Staaten bildung, die größeren Vorbilder aber lagen draußen: Frankreich, Preußen und in gewiflem Sinne Dejterreih. Diefe Art von Staaten ift es, die in

Sriedrih Naumann: Wandlungen im Wefen des Staates, 369

fcharfer Weife als Ermwerbsgefchäfte bezeichnet werden künnen, denn fie find fürftlihe Privatunternehmen zur Mehrung der Einkünfte. Die Grundlage diefer Art von Staat ift die alte Organifation der Arbeit, daß nämlich die Arbeit in den meiften Fällen ein abgabepflichtiger Herrſchaftsdienſt ift. Snsbefondere die bäuerliche Arbeit trug diefen Charakter. Sie war rechts und linf3 mit Abgabepflichten behangen. Diefe ungeordneten Abgaben in beftimmte Ranäle zu leiten, fie zu zenfralifieren und zu vermehren war der Zwed der Territorialberrfchaft. Deshalb wollte man Untertanen haben, um Einnahmen zu haben. Man macht fich heute faum mehr eine Borftellung, wie Llntertanen verhandelt wurden. Die Fürftenzufammenkünfte waren Börfen von Steuermöglichkeiten. Nicht das frug man, ob die Untertanen zufammenpaßten, ob fie in Ronfeffion, Sitte, Produftionsweife fich glichen, nicht ob fie deutfch, polnifch, italienifch, Franzöfifch ſprachen, nicht, ob fie in der Ebene wohnten oder in den Bergen, fondern nur: was fie leiften konnten, das will fagen: welchen Mehrwert der Fürft vom Ertrage ihrer Arbeit abheben konnte. Diefe Art Staatöverwaltung ift das oberfte Fapitaliftifche Großgefhäft im alten Deutfchland.

Der Robftoff, das Objekt der Tätigkeit, war alfo der Untertan. Das Mittel zur Bearbeitung des Stoffes waren Beamtenfchaft und Heer. Die ganz Heinen Unternehmer des Monarchengefchäftes konnten fich meift von diefen Arbeitsmitteln nur das erfte leiften und mußten fich fonft auf den Schutz Kaiferliher Majeftät und die moralifhe Macht des Reichögerichtes verlafien. Das waren fozufagen die mafchinenlofen Betriebe. Von ihnen brauchen wir nicht zu fprechen; denn fie find im Laufe der Zeit und zulegt 1803 alle verſchluckt worden. Die weitere Entwicklung fegt nicht bei diefen bilflofen Zmwergbetrieben ein, fondern bei den Staaten mit Soldaten, bei den Staaten, welche imftande waren, Erbfolgefriege zu führen, denn ber Erbfolgekrieg ift der charakteriftifche Krieg diefer Epoche. Er ift der reine Erwerbskrieg an fih. Das Subjekt des Krieges ift nicht die Summe ber Untertanen, denn für diefe machte es gar nichts aus, ob ihr gnädiger Herr noch im Lothringifchen oder ſonſtwo einige Aemter mehr befaß, das Subjekt des Krieges ift der Fürft oder, noch präzifer gefagt, die fürftliche Rammer. Diefe Kammer kaufte fich mit dem Ertrag des bisherigen Beftandes von Untertanen eine militärifche Mafchine zur Herbeifchaffung neuer Untertanen, das heißt: fie Fapitalifierte den Gewinn im eigenen Gefchäft. Soldaten und Untertanen haben in diefem erften Stadium des modernen Staates nicht8 miteinander zu tun. Der Fürft nimmt abfichtlich nicht feine Landes- finder zu Soldaten, da ja die Landestinder die Herde find, von deren Wolle er leben will. Nur wenn er in den fremden Gebieten nicht genug Soldaten auftreiben konnte, mußte er die Söhne feiner eigenen Bauern in die Xlni- form ſtecken. Das aber ift für die ganze Gefchichte des Staates ein fehr wichtiger Vorgang, denn aus der Identität von Untertan und Soldat ent- ſteht der Staatsbürger.

Im allgemeinen liegt diefer Vorgang im 18. Jahrhundert und vollendet fi im 19. Jahrhundert. Die Deränderung ift folgende: Während vorher der Soldatendienft eine bezahlte Lohnarbeit war, man fann fagen die erfte Lohnarbeit großen GStiles, jo verwandelte er fich in eine Abgabenpflicht

Siüddeutfhe Monatshefte. 11, 10. 24

370 Zriedrih Naumann: Wandlungen im Wefen bed Staates.

oder vielmehr Leiftungspflicht der Untertanen. Damit wurde das Heer relativ billiger, konnte deshalb entfprechend vergrößert werben, aber bie Belaftung des Untertanen ftieg, feine Weltabgefchloffenheit verminderte fi und vor allem der Fürft wurde nun von der Tapferkeit und Hingabe derer abhängig, deren Ausbeutung fein bisheriges Gefchäft war und nach Lage der Dinge bleiben mußte. Aus diefer neuen Kombination von Untertan und Soldat erwachfen oder durch fie vermehren fich folgende Tendenzen:

Der Fürft fucht den Drud feiner Untertanen zu vermindern und wird ein wohlmwollender Monarch. Da er aber nach wie vor viel Geld braudt, fo muß er das Geld faufmännifch zu erwerben fuchen. Damit entfteht die für das Volk forgende merkantiliftifhe Monarchie, die durch Grenzzölle, Ausfuhrverbote, Gewerbefubventionen, Rolonifationen, Entwäfferungen, Lohn- regulierungen, Berufszwang, Staatsfabriten und ähnliches den Gefamt- ertrag der Gebietswirtfchaft zu heben fucht. In diefem Stadium wird der Gefhäftscharakter des Monarchismus am deutlichten, aber gleichzeitig ver- fchiebt fih das Unternehmerverhältnis, denn von nun an fagt der Fürjt nicht mehr: ich arbeite für mich! fondern: ich arbeite für euch, ich bin der erfte Diener meines Staates! Zugegeben, daß diefes Wort „ich arbeite für euch“ zunächft Phrafe war, fo kommt es doch öfters vor, daß Phrafen bei längerem Gebraud zu Wahrheiten werben, einfach weil fie geglaubt werden. In diefem Fall wird die Phrafe zuerft vom Fürften geglaubt, bei dem fich ein landesväterliches Pflichtgefühl entwidelt, das je nah Temperament und Geelenumfang der Fürften fehr verfchieden mar, das aber doch das alte, felbitfichere Unternehmertum innerlich untergrub. Erit nachdem die Fürften diefes „für euch“ zu glauben angefangen hatten, ging ed langfam auch dem Lntertanen auf „für uns!” Das aber war ein viel tieferer Vorgang als der Fürft ihn gewollt und erwartet hatte. Er wollte den „dankbaren“ Untertanen, der aus Dankbarkeit ein guter Steuerzahler und Soldat ift, gerade wie heute die wohlmollenden Großinduftriellen den danfbaren Arbeiter wollen. Der Untertan aber nahm mehr als diefen kleinen Finger, er nahm die ganze Hand: wenn die Staatsarbeit für mich geleiftet werden muß, dann bin ich ja das Subjekt des ganzen Gefchäftes, der Auf- traggeber, und der erfte Diener des Staates ift dann mein Beauftragter! Kurz, es wurde ftrittig, wer Subjekt des Unternehmens fei, und die Streite in England und Frankreich erleichterten es den deutfchen Untertanen, den fhwierigen Umdenkungsprozeß zu vollziehen.

Der Staat wird aljo zunächit theoretifch als etwas gedacht, was allen Mitwirkenden gehört. Erſt jest entfteht der Staatsgedanke als folcher. Da es aber Zwed der Phraſe vom wohlwollenden Fürften gewefen war, den Gefchäftscharafter des Staatsbetriebes abfichtlich zu verhüllen und ihn als MWohlfahrtsd- und Nechtsveranftaltung binzuftellen, fo fängt der neue Staatsgedanke bei diefen nicht unwahren aber nebenfächlichen Zmeckbeitim- mungen an und man verliert die Kategorie aus den Händen, in die man den Staat einordnen foll, man fonftruiert den Staat nicht al praftifches Unter: nehmen fondern als eine moralifche AUnftalt oder fonft etwas ähnliches. Diefe Art von KRonftruiererei gibt der ganzen Theorie vom Staat etwas fo ungreifbares, phantaftifches, daß man fich niemals troftlofer und ver-

Friedrich Naumann: Wandlungen im Wefen des Staates. 371

faffener vorfommt, ald wenn man die Wirklichkeit des Staates aus diefen Begriffen heraus fich verdeutlihen fol. Nüchterner, hausbadener aber wahrer ift es, die alte Linie der Rameraliften, der Theoretifer des monardhi- ſchen Gefchäftes, korrekt weiter zu denken und nicht einen Sprung in die Wollen zu machen, als fei wirklich durch Zauberei zwifchen 1780 und 1850 aus einem Eber ein Hirfch geworben.

Wenn es im gewerblichen Leben des Jahres 1800 die Form des genoffenfchaftlichen Betriebes häufiger gegeben hätte, jo würde es der damaligen Zeit leichter gewefen fein, die Subjeftsveränderung im Staatögefchäft zu erfaffen. Der Staat hört auf, ein privates Ermwerbögefchäft des Fürften zu fein, da aber der Fürft in Deutfchland nicht einfach befeitigt wird, fondern bei der Umwandlung als Inhaber des bisherigen Unternehmens eine hervorragende Rolle fpielt, fo entfteht ein fomplizierted Gebilde, bei dem erftend die bisherigen privatwirtfchaftlichen Intereflen des Fürften durch reale Abfindungen (Domänen, Schlöffer u. dgl.) und durch unkfünd- bare Obligationen (Zivillifte, Apanagen u. dgl.) gewahrt, aber vom Staats: betriebe gefondert werden, bei dem zweitens ber bisherige Leiter des alten Gefchäftes fi) und feinen Rechtsnachfolgern die fünftige Leitung bes genoffenfchaftlichen Betriebes für ewige Zeiten ftatutarifch fichert, fo daß befonders das Hauptmittel der Betriebsficherung, das Heer, in den Händen diefer ftatutarifch feitgelegten Leitung bleibt, bei dem drittens neben der unfündbaren Leitung die beftändige oder wenigſtens regelmäßig wieder- fehrende Generalverfammlung der Genofjenfchaftler (Parlament) in Kraft tritt. Der fchwierigfte Punkt in diefem ganzen vermwidelten Syftem, das man „Lonftitutionelle Verfaſſung“ nennt, ift das gegenfeitige Verhältnis der unfündbaren Leitung zur Generalverfammlung. Für diefes gegenfeitige Verhältnis gibt es keine reinliche Formel und wird es nie geben. Der Staatsbetrieb diefer Art hat und behält ein gemifchtes Subjekt, ein Zuftand, der fich übrigens bei allen Genoffenfchaftsbetrieben und Aktiengefellichaften irgendwie wiederfindet, da überall Direktorium und Aufſichtsrat um die Grenzen ihrer Befugniffe ringen.

Die Subjeftöveränderung im Staatsunternehmen zog aber eine völlige Verſchiebung aller übrigen Elemente nach fih. War nämlich nun der bisherige Untertan zum Mitunternehmer geworden, fo war es klar, daß die Aus- beutung feiner Steuerfraft nicht mehr ald Zweck der ftaatlichen Tätigkeit erfcheinen konnte. Man beachte wohl: der ganze Betrieb geht einfach weiter, die Steuern werden weiter erhoben, das Heer wird weiter erhalten, die Polizei und Juſtiz wird weiter bezahlt, die Straßen werben weiter gebaut, nur ändert fich zunächft die logifche Konftruktion, indem das, was bisher Zweck war, die fürftliche Kaffe, nicht mehr im Zentrum fteht, fon- dern ald Separatfonto geführt wird, und indem das, was bisher Betriebs- untoften waren, nun Ausgaben für Staatszwede werden! Der Staats- zweck felbft war fachlich gegeben, er war die Fortfegung der bisherigen Tätig- keiten zu Gunften der Gefamtheit, es war nur logifch ſchwer, diefen Staats- zweck als Einheit zu begreifen. Warum, fo frug man, betreibt der Staat gerade dieſes und dieſes aber jenes nicht? In allen ſchönen Staats befinitionen von allgemeiner Wohlfahrt, Organifation der Gefamtheit oder

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wie die neuen Firmen heißen follten, war eine flare Abgrenzung nicht enthalten.

Das ift die Situation, in der die Theorie des bürgerlichen Liberalismus Klarheit zu bringen verfuchte. Der Liberalismus wollte den Staatsbetrieb feiner Zufälligfeiten entfleiden, indem er alle Mebenbetriebe der alten monarchiſchen Wirtfchaft abfchnitt: der Staat foll nichts beforgen, was Privatgefchäfte ebenfo gut oder beffer beforgen können, er foll feine Berg: werfe betreiben, feine Porzellanfabrifen gründen, überhaupt feine Gefchäfte machen, bei denen Geld verdient wird, fonbern foll nur diejenigen not wendigen Arbeiten in feiner Sand behalten, die fonft von niemandem oder nur fohlecht betrieben werben würden, er foll das Heer, die Juſtiz, Die Polizei, den Elementarunterricht, den Hochfchulunterricht, den Straßenbau verwalten, aber alles, auch jede Schule und jede Eifenbahn, an der etwas verdient werben fönnte, denen überlaffen, die allein das Recht haben, etwas zu verdienen, den einzelnen. Mit anderen Worten: der Staatöbetrieb foll ein Hilfsbetrieb der Privatwirtfchaften werden, aber nicht mehr felbft ein probuf- tives Unternehmen fein. Man kann fich dieſen Zuftand am einfachiten Har machen, wenn man an das Eifenbahnmwefen in Frankreich denkt, mo diejenigen Linien, die einen Reinertrag haben, den Bahngefellichaften gehören, aber die. jenigen, die mit Defizit den Verkehr des SHinterlandes erfchließen follen, Staatsbahnen find. Diefe liberale Beftimmung der Grenzen der Staats- tätigfeit ift das eigentliche Ende des alten Motives der Staatdgründung. Der Staat aber lebt weiter troß diefer vollftändigen Imformung feiner Zwecke.

Soweit etwa geht die Gefchichte des deutfchen ifolierten Territorial- ſtaates. Nicht überall ift die liberale Tätigfeitsbefchränfung glatt durd- geführt. Es blieben Refte der alten Erwerbstätigkeit übrig: Staatsdomänen, Wälder, Bergwerke, Staatsbanfen, Staatsfparkaffen u. ſ.w. Und der Libera- lismus ließ ſich diefe Reftbeftände gefallen, da fie den Betrag der Steuern ermäßigten. Es genügte ihm, das große Zentralgefhäft im ganzen neutralifiert zu haben. Die neuen Genoffenfchafter waren in das Gefchäft eingetreten, um es aus der Konkurrenz mit den Kleingefchäften herauszudrängen. Das ift im allgemeinen gelungen; mehr ſchien nicht nötig. Inzwiſchen aber vollzog ſich die Syndifatsbildung der Territorialgefchäfte, Die wir Deutfches Reich nennen. Sie vollzog fich genau fo wie jegt etwa die Syndifatsbildung im KRohlen- gefhäft. Einige größere Gefchäfte wurden fufioniert (Annektierung), einige Heine Zechen wurden ftillgelegt, im übrigen entfteht ein Doppelſyſtem von Dbergefhäft und Untergefchäft, durch das die Gelbftändigkeit der Unter gefchäfte verkürzt, dafür aber ihre Eriftenz garantiert wird und es entiteht ein Wechfelverkehr der Oberkaffe und der Unterkaſſen und eine Gefchäfte verteilung, bei der das Obergefchäft die Rompetenzen regelt. Damit ift das, was wir Staat nennen noch viel verwidelter geworden, ala es vorher war, denn nun gibt ed zwei Gubjefte der Staatstätigkeit, die beide wieder in fich felbft monarchifch-genofjfenfchaftliche Subjekte find, und nun gibt es einen Staatszweck des Oberfubjeltes: die nationale Hilfswirefchaft für Privatproduftion und einen Staatszweck des Unterfubjeltes: die territoriale Hilfswirtfchaft für Privatproduftion. Diefen vermwidelten Doppelzuftand wird man nie aus einem Staatsbegriff an fich ableiten können.

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Da nun aber die Geldbedürfniffe diefes verwickelten Staatsgefchäftes beftändig wachjen und da die Hilfswirtfchaft mit der Ausdehnung der natio- nalen Produktion zur internationalen Austaufchwirtfchaft immer neue Auf: gaben erhält (Weltpolitit), fo bleibt die allerältefte Staatsfrage, die Gelb- befhaffung für den Betrieb, heute fo brennend wie fie jemald war. Als die Genofjenfchaftler in das Gefchäft eintraten und den fürftlichen Erwerb auf Separatlonto festen, glaubten fie den Betrieb überhaupt verbilligen zu fönnen, aber e8 zeigte fich bier wie fonft, daß der Lebergang vom Privat: betrieb zur genofjenfhaftlichen Form zwar oft eine Verbefferung aber felten eine DBerbilligung bedeutet. Der Eonftitutionelle Staat ift nicht billiger als der monardhiftifche Staat und die Aufnahme der Nationalitätsidee unter die Staatszwecke (Reichdgründung) bedeutet zwar auch eine ungeahnte Ver- beflerung der Hilfsveranftaltungen für die Produktion der Volksgenoſſen, aber ebenjo eine unausgefegte Erhöhung der Belaftung. Das ift der Punkt, an dem das reine liberale Prinzip von dem Staat, ber felber nichts ver- dient, in die Brüche gerät. Und diefes foll der legte Punkt fein, über den wir heute fprechen.

Der Liberalismus bat nur die Wahl, entweder mehr Steuern zu be- willigen oder neue Quellen des Staatserwerbes zu öffnen. Tut er feine von beidem, fo verliert er den Einfluß auf das Staatsgefchäft. Beides ift für ihn gleich ſchwierig und er fucht fih um die peinliche Aufgabe der finanziellen Ausftattung des Staatsgefchäftes herumzudrüden, indem er an den Ausgaben fparen will, befonders am Heer. Das wird ihm aber durch die unfündbare monarchifche Leitung unmöglich gemacht, ganz abgefehen da- von, daß es fachlich falfch fein würde. Alles Reden von der Berbilligung des Staates bleibt Deklamation, der Staat wird teurer. Das war es, was in der zweiten Hälfte der fiebziger Jahre im Reich und in Preußen den Bruch zwifchen Bismarck, dem Vertreter des Monarchen, und den Liberalen unvermeidlich machte, und es ift zwar unangenehm, aber doch wahr, daß die Liberalen (bürgerliche und fozialdemokratifche Liberale) erft dann wieder in die Gefchäftsleitung werden eingreifen können, wenn fie ein finanzielles Programm mitbringen. Inzwifchen hat Bismard für Preußen das große Erwerbsgefhäft der Eifenbahn eröffnet und für das Reich das merkan— tiliftifche Gefchäft der Einfuhrzölle, und die übrigen Territorialftaaten find von diefem legteren Geſchäft abhängig geworden und haben das erftere, fo gut fie konnten, nachgeahmt (teilweis vorher betrieben). Der alte Ermwerbs- charafter des Staates bat eine Auferftehung erlebt, einfach weil er nicht fot zu machen war. Es wird Aufgabe des Liberalismus fein, mit diefer Tat- fache zu rechnen und dem Weiche zu fagen, woher das Geld genommen werben foll, wenn die Zölle fallen. Solange der Liberalismus darüber fchweigt, hat er Wartezeit, denn folange arbeitet das Direktorium mit den- jenigen Teilen des Auffichtsrates, die für Zölle find, fo fehädlich, fo ver- hängnisvoll diefe auch für alle vorwärtsdrängende Privatwirtichaft fein mögen.

van Fa ba an be Fe a ER a I FR ER LER FR FE I FERR

Rundihan.

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Die Entwicklung der zeichneriſchen Begabung.

Es mögen jetzt etwa ſieben Jahre verfloſſen ſein, als ich mich angeſichts der zahlloſen Reformvorſchläge für den Zeichenunterricht, die wie Horniſſen⸗ ſchwärme den Schulverwaltungsbeamten überfielen, entſchloß, eine Reihe von Fragen experimentell zu unterſuchen, deren Löſung ein annäherndes Bild von der natürlichen Entwicklung der zeichneriſchen Begabung des Kindes geben konnte. Die früheren Unterſuchungen anderer Forſcher über die Art, die Entwicklung und die mögliche Höhe der kindlichen zeichneriſchen Ausdrucksfähigkeit waren damals und find es auch noch bis heute auf dem Punkte ftehen geblieben, wo fie anfangen würden, praftifche Bedeutung für unfere Unterrichtsmaßnahmen zu gewinnen, wo fie neben dem Pfychologen auch den Pädagogen intereffieren. Eine leicht zugängliche Zufammenfaffung deffen, was bier geleiftet worden ift, findet man zunächſt am beften bei James Gully, studies of childhood, 18% (Deutfche Ueberfegung von Dr. Stimpfle, Unterfuchungen über die Kindheit, Leipzig, Wunderlich 1897, Geite 287 bis 370). Allein Gully behandelt ebenio wie Ricci (l’arte dei bambini), Perez (l’art et la po6sie chez l’enfant, 1888) und £ufens (a study on childrens drawing in the early years, 1896) im wefentlichen nur jene Stufe der kindlichen Ausdrucdsfähigkeit, auf welcher fie weit mehr vom Wiffen der Gegenftandsmertmale als von Haren Formvorftellungen beherrſcht if. Auch befchränten fie fich in der Sauptfache auf die kindlichen Darftellungen von konkreten Einzeldingen, alſo von Menfchen, Tieren, Pflanzen, Häufern, oder auf die kindlichen Darftellungen von Erzählungen.

Ueber das Verhältnis des Kindes zur dekorativen KRunft, insbefondere zum Ornament, ift bis jest überhaupt keine Unterfuchung vorhanden; über die Fähigkeit des Kindes, den dreidimenfionalen Raum im zweidimenfionalen Bilde wiederzugeben, alfo über das Verhältnis des Kindes zur bildlichen Raumkunft, baben wir zwar einige Feftjtellungen, aber fie find von fehr zweifelhaften Werte. Die meiften Fragen über Dinge, die jenfeit® des bisher fo fleißig unterjuchten Gebietes der jchematifchen Kinderzeichnungen liegen, waren gar nicht geftellt. Wie entwidelt fih im Kinde ohne fpftematifche Beeinfluffung der graphiſche Ausdruck vom gewöhnlichen Kinderfchema bis zur fünftlerifhen PDarftellung? uf welche Lrfachen ift diefe Entwicklung zurüctzuführen? Welche durchfchnittliche Höhe läßt fich bei den verfchiedenen Altersftufen und den verfchiedenen Gtoff- gebieten erwarten? In welchem Alter ftellt fich die nötige Reife für gewiffe Aufgaben ein? Iſt eine nennenswerte Produktivität vorhanden? Dder ruht die graphifche Aus- drucsfähigteit des Kindes in erfter Linie auf reiner Gedächtnisbegabung? Wie ftellt fich das Kind zur dekorativen, wie zur abfoluten Raumkunft? Hat Gedäht- nis · oder Naturzeichnen eine größere Bedeutung für ein gewiſſes Alter?

Solche und ähnliche Fragen batte ich im Laufe der legten fieben Jahre geftellt und mit dem GSchülermaterial der Münchener Volksſchulen unterſucht. Dabei hatte ich den feltenen Vorteil, daß diefes Schülermaterial, von der oberſten (achten) Klaſſe abgejehen, nach Lehrplänen und Methoden im Zeichnen arbeitete, welche den natürlichen graphifchen Ausdrucdsbegabungen völlig ungefährlich waren. Sie verfrochen fich höchſtens während der Unterrichtsftunden angefichts der mebr oder weniger langweiligen geometrifchen Ornamente, um außerhalb der Schule um fo fröhlicher auf eigene Fauft fih berumgutummeln. So batte ich eine fihere Gewähr dafür, daß die Ergebniffe meiner Unterfuchungen die natürliche Ent widlung des graphiſchen Ausdruds werden erkennen laffen.

In der langen Zeit meiner Verfuche, die ſich auf alle Schulkinder der Volksſchulen Münchens erftredtten (1904 waren es 58000), fammelte ich etwa

Rundfchau. 375

eine halbe Million Kinderzeichnungen an, von denen ich ungefähr 300000 für die Unterfuchungen felbft verarbeitet habe. Die Ergebniffe lohnten reichlich die aufgewendeten Mühen. Nicht nur viele neue Fragen fanden ihre Löfung, fondern auch ganz unerwartete Ergebniffe ftellten fich ein, fo die höchſt merkwürdige Differenzierung der Gefchlechter in den zeichnerifchen Begabungen, das verfchiedene Verhalten von Stadt: und Landfindern, der Zufammenhang von Intelleft und graphifcher Ausdrudsfähigkeit, die auffallende Erfcheinung zufammenbangslofer Darftellungen bei Schwachbegabten und anderes mehr.

Die ganze Urt der Unterfuchung und ihre Ergebniffe habe ich in einem Werte niedergelegt, das demnächit bei Karl Gerber in München erfcheinen wird und das den Titel trägt: „Die Entwidlung der zeihnerifhen Begabung. Neue Ergebniffe auf Grund neuer erperimenteller Unterfuchungen.“ Dem Werte, das 500 Geiten umfaßt, find 800 Figuren in Schwarzdrud und 47 Figuren in Farbendrud auf 143 Foliotafeln beigegeben. Unter den Figuren befindet fich auch eine Zeichnung Hans Thomas, die er im Alter von 15 Jahren, da er noch von feiner Zeichen: oder Runftjchule pädagogisch behandelt war, von feiner Mutter gefertigt hatte. Ich verdanke feiner großen Liebenswürdigkeit die Erlaubnis der Reproduktion des bisher unbelannten Bildes. Es wird ebenfo wie das Selbſtbildnis Albrecht Dürers, das er im Alter von 13 Jahren von fich ent- worfen bat, gute Vergleichsmaßftäbe geben für die höchſten kindlichen Leiftungen, die hochbegabte Münchener Rinder vor meinen Augen ausgeführt haben.

Inter den Ergebniffen ift wohl das merkwürdigſte und von mir auch nicht erivartete, die deutliche Differenzierung der zeichnerifchen Begabung beider Ge- fchlechter. Durch alle Verfuche, die fich auf die Leiftung der freien Raumtunft beziehen, beftätigten fich die Säge: 1. Die Begabung für den graphifchen Aus- drud der Gefichtsvorftellungen ift bei den Knaben wefentlich größer als bei den Mädchen. 2. Die Urfache liegt nicht darin, daß die Knaben eine größere Fähigkeit der Beobachtung von Einzelheiten einer Erfcheinung befigen, fondern daß fie die Gefamterfcheinung rafcher und vollftändiger auffaffen.

Dagegen laffen die auf die dekorative Runft bezüglichen Verfuche erkennen: 1. Das Mädchen ift für rhythmiſch dekorative Flächenktunft früher und ftärker begabt als der Knabe. 2. Die Urfache liegt fowohl in dem ftärker ausgeprägten Sinn der Mädchen für Ordnung als auch in den befonderen Verhältniſſen der Mädchenerziehung, die fchon frühzeitig die weibliche Handarbeit pflegt.

Bezüglih einer ganzen Reihe anderer intereffanter Ergebniife möchte ich auf das Buch felbft verweifen.

Eine allgemeinere Anteilnahme wird auch die relative Höhe des rein fünft- lerifhen Ausdrudes vieler Beifpiele aus den verfchiedenften Lebensaltern der Kinder zu erregen imftande fein. Db eine folche frühzeitig vorhandene künſt⸗ lerifche Ausdrudsfähigkeit einft die entfprechende Entwidlung zur böchften Kunft nehmen wird, läßt fich freilich vorerft noch nicht feſtſtellen. Wir haben bis jett noch fein objektives, untrügliches Maß für wahre Begabung, weder für grapbifche, noch für mufitalifche, noch für fprachliche, wie wir auch noch kein ſicheres Maß haben für große Abftrattionsfähigkeit, wiffenfchaftliche oder künftlerifche Phantafie, ftarfe fombinatorifche Veranlagung, Beobachtungs- und technifche Begabung. Wir erkennen diefe Qualitäten gewöhnlich erft, wenn fie in voller Blüte find, nicht aber im Knofpenzuftande.

Es wird einft eine ungemein wichtige aber auch fehr fchiwierige Aufgabe der erperimentellen Pädagogik werden, die Schlüffel zur Beurteilung diefer ver: fchiedenen Begabungen zu finden. Bon keiner Sachkenntnis getrübt, geben wir zwar heute in unferen Schul» und Reifezeugniffen Begabungszenfuren der ver- fchiedenften Art. Uber die Erkenntnis der völligen Unzulänglichkeit unferes Willens

376 Rundfchau.

in diefen Fragen bricht fich doch langfam Bahn. Die Unterfuchungen in meinem Buche werden auch zur Begabungsbeurteilung einen Beitrag liefern. München. Georg Kerſchenſteiner.

Zu Böcklins Selbftbildnis mit dem fiedelnden Tod.

Bödlin pflegte, folange er in guten Beziehungen zu dem Berliner Runft- händler Gurlitt ftand, diefem feine Bilder einzufchiden. Gurlitt, Fontane und die anderen Männer diejes Kreifes gaben den Gemälden jene unnötig poetifchen Titel, unter denen fie heute noch bei uns fo berühmt find und durch die der Be fehauer oft gründlich über Bödlins Ubfichten getäufcht wird. Außerdem wurde dort aber auch der künftlerifche Wert der Bilder in einer Form beurteilt, die vielleicht für Böcklin felbit maßgebend gewefen fein mag.

Ein Freund, der mit dem Kreife Gurlitt Verbindungen bat, teilte mir nun über die Entitehung von Bödlins Gelbtbildnis mit dem fiedelnden Tod folgendes mit. Als es zuerft in Berlin eintraf, enthielt es nichts ala das Porträt des Malers ohne jede Zutat, Wie fo oft bei Gelbftporträts hatten die Züge des Künſtlers etwas von gefpannter Beobachtung, als ob er auf irgendwelche Klänge oder Worte laufche. Die Berliner tonnten fich die doch fehr naheliegende Erklärung diefer Tatfache nicht felbft geben und fragten bei Bödlin an, auf was er denn horche. Statt aller Antwort erbat der Maler fich das Bild für kurze Zeit zurüd und ale feine Freunde es dann wieder erhielten, war der fiedelnde Tod binzugemalt.

Diefe Gefchichte ändert nicht? an den Bemerkungen, die der DBerfaffer kürzlich bier über das Verhältnis von diefem Gelbitbildniffe Bödlins zu. dem Porträt des Bryan Tuke von Holbein gemacht hat. Es tut bier wenig oder nichts zur Sache, ob der Tod fchon von Anbeginn auf die Tafel gebracht war, wenn er nur eben in derfelben Periode gemalt wurde, wie das Bildnis felbft. Uber der Fall darf vielleicht doch noch weiter geprüft werden. Der Gewährs- mann des DBerfaffers ift ein Maler und für ihn find, wie für fo viel Künftler, die Runftbiftoriter das, was den Kindern die Märchenerzähler find: wadere, manchmal fogar amüfante Leute, deren Erzählungen aber doch nicht jtrengen Glauben verdienen. Darum fügte er feinem Berichte die Bemerkung bei: wenn nun einmal in hundert Jahren ein Runftbiftorifer entdedt, daß der Tod erft nad» träglich auf das Bild gefommen ift, dann weiß der liebe Gott, was für Schlüffe Daraus gezogen werden mögen.

Diefe Frage ift nicht fo beunruhigend, wie fie zunächit ausfieht. In hundert Jahren wird jeder, der gelernt bat Bilder unbefangen anzufeben, ohne weiteres erfennen, daß der Tod fpäter gemalt ift als das Porträt felbjt; denn da bie Zutaten nicht auf demfelben Malgrund figen wie das Porträt, fondern auf dem ehemals als Hintergrund gemalten Teil, fo werden fie fich im Lauf ber Jeit anders entwideln als die zuerft gemalten Teile des Bildes. Aber man wird auch erkennen, daf diefelbe Hand mit derfelben Farbe ſowohl das Porträt wie den Tod gemalt hat. Die Zutat wird als das erfcheinen, was fie auch wirklich ift, als eine Korrektur von des Künftlers eigener Hand. Man wird fogar ganz deutlich fehen, daf der Tod ziemlich bald nach der Fertigftellung des Hauptteils, alfo kunfthiftorifch gefprochen, gleichzeitig mit dieſem entftanden ift. Das kann, obwohl wir über die Haltbarkeit der in der Gegenwart gebrauchten Farben natürlich jest noch nichts Genaues willen, doch ohne Bedenken angenommen werden, weil wir ja auch bei den alten Bildern mit Sicherheit die Korrekturen, die der Meifter felbit auf ein Bild gefest bat, von den Retouchen der Reftauratoren unterfcheiden können.

München. Rarl Boll.

Rundſchau. 377

Der Bayeriſche Verein der Kunſtfreunde. Muſeumsverein.

Als Antwort auf mehrere, den neugegründeten Bayeriſchen Muſeumsverein betreffende Anfragen!) teilen wir folgendes mit:

Nah 8 2 der Satzungen ift der Zweck des Vereins die Förderung des tunftgefchichtlichen und damit künftlerifchen Verftändniffes im Volke und die Unter⸗ ftügung der öffentlihen Sammlungen in Bayern bei Erwerbung von Meifter- werten der älteren Kunſt von der Antike bis zum Beginn des 19, Jahrhunderts. Diefen Zweck fucht der Verein zu erreichen durch Vorträge und Demonftrationen.... ., Peranftaltungen von Sonderausftellungen .... und durch Zuwendung von Runftgegenftänden an die öffentlichen Mufeen.... Nah 8 4 beträgt der Jahresbeitrag eines Mitgliedes mindeftens 20 Mk. Die Leiftung einer ein- maligen größeren Summe von mindeftens 300 ME. befreit von der Entrichtung von Tahresbeiträgen. Bei Vereinen und KRorporationen beträgt diefer einmalige Beitrag mindeſtens 50 Mt, Ehrenmitglieder werden ($ 5) folche Perfonen, die einen jährlichen Beitrag von mindeftens 300 ME. Teiften, Donatoren folche Per- fonen, die einen einmaligen Beitrag von mindeftens 10000 ME. ftiften, oder dem PBereine ein Kunſtwerk im gleichen Werte fchentungsweife überlafjen.

8 6. Gefuhe um Aufnahme als Mitglied und Austrittserklä— tungen müffen dem Vorſtande oder feinen GStellvertretern gegenüber mündlich oder jchriftlich erfolgen.

$ 10. Alle vom Berein erworbenen oder diefem gefchenkten Runftgegen- ftände werden den öffentlichen Sammlungen zur Austellung überlaffen. Die Gegenftände find dort durch eine entfprechende Bezeichnung als Eigentum des Vereins oder als Geſchenk eines Vereinsmitgliedes an den Verein kenntlich zu machen.

Borftand des Vereines ift 3. 3. Freiherr Th. v. Cramer-Klett, München, Dttoftraße 9; 1. Vorftand-Stellvertreter H. Freiherr v. Tucher, Wien I; 2. Vor: ftand-Stellvertreter Dr. Gabriel v. Seidl; 1. Schriftführer Dr. E. Baffermann- Jordan, München, Habsburgerplat 3; 2. Schriftführer H. Freiberr v. Soden; Schagmeifter Joſ. Freiherr v. Arco-Zinneberg, alle in München.

Vorſtand und Ausschuß des Vereines fegen fich 3. 3. zufammen aus zwölf DPrivatperfonen, die ald Freunde und Förderer der Runftfammlungen des Staates oder felbjt als Runftfammler befannt find, ferner aus ſechs ausübenden Künftlern und zwei Kunftgelehrten. Nah 8 19 der Satzungen find die Vorftände der Öffentlichen Sammlungen zu den Ausfchußfigungen einzuladen, in denen über den Ankauf von Gegenftänden behufs Zuwendung an die Sammlungen beraten wird. Diefe Sammlungsvorftände haben beratende Stimme.

Der gedrudte Aufruf, fowie die Sasungen des Vereines werden Inter- effenten jederzeit gerne von der Vorſtandſchaft oder der Schriftleitung zugefandt. Die Vorträge und Führungen des Vereins beginnen diefen Herbft. Die befanntejten Münchener Runftgelehrten haben hierfür ihre Mitwirkung bereit3 zugefichert.

Spztalpolitifche Briefe aus Bayern. 2.

Der gewerbliche Grundcharalter Bayerns iſt noch immer ein bandiwerf- licher. Der Großbetrieb bleibt in allen Gewerben mit Ausnahme des Beber:

) Mir können nur folhe Zufchriften berüdfichtigen, deren Berfaffer ihren Namen nennen; natürlich fichern wir allen Einfendern die Geheimhaltung des Namens wünfchen, ftrengfte Diskretion zu.

378 Rundfchau.

bergungs- und Erquidungsgewerbes hinter dem Reichsdurchfchnitt zurüd. Diefe Tatfache in Verbindung mit der noch immer ſtark agrarifchen Struktur de Landes erflärt das vergleichsweife geringe Maß der Bevöllerungsver: mehrung in Bayern. Während nämlich in ganz Deutfchland die Be völferung im verfloffenen Jahrhundert im Verhältnis von 45 : 104 gewachlen ift, ftieg ihre Zahl im rechtörheinifchen Bayern nur im Verhältnis von 46:75. Sachſen, das am Reichsgebiet nur mit 2,77 Y beteiligt ift, ift an ber ge werbetätigen Bevölterung des Reichs mit 11,210/, beteiligt und hat feinen Be völferungsanteil im verfloffenen Jahrhundert von 4,81 0/, auf 7,450/, gefteigert. Bayern, das einen viel größeren Gebietsanteil ald Sachſen (12,93 0/5) bat, bleibt mit 8,350/, hinter dem Gewerbetätigenanteil Sachſens bedeutend zurüd und hat feinen Bevölkerungsanteil im verfloffenen Jahrhundert von 12,790/, auf 9,48%, finten feben. Gobald man freilich die Entwidlung der bayerifchen Induſtrie nicht in Beziehung fest zu der Preußens und Sachſens, fondern zu ihren eigenen Anfängen, und dabei die natürlichen und künftlihen Schwierigkeiten, die fie zu überwinden hatte, berücfichtigt, wird der Eindrud ein günftigerer. Wenn fih noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Gemeindebevollmächtigter einer bayerifchen Stadt als einer befonders ftaatsmännifchen Handlung rühmen fonnte, von 1100 um Geftattung der Niederlaffung Nachfuchenden 900 abgewieſen zu baben, fo darf man fich nicht wundern, daß auch heute noch die Rommunal: politit in Bayern mehr darauf gerichtet zu fein fcheint, wie Handel, Imduftrie und Verkehr am beften fernzuhalten find, als auf ihre pofitive Förderung. Noch beute ift Bayern der empfänglichfte Boden für jede Art von Mittelftändlerei Der Geift der Münchener Bäderzunft, welche bis in die Mitte des 19. Jahr: bunderts hinein mit den Melbern der benachbarten Au einen erbitterten Rampf führte, weil diefe die Ungeheuerlichkeit begingen, Schwarzbrot nah München zu ver: kaufen, das anerfanntermaßen beffer war, als das der Münchener Bäder, iſt immer noch überaus lebendig.

Es ift daher fein geringer Ruhm für das bayerifche Unternehmertum und für die bayerifche AUrbeiterfchaft, dab das Land trog feiner Armut an den wid: tigften Roh: und Hilfsftoffen der Induftrie, trog der Ungunft feiner Verkehts lage und der Verkehrsfeindlichkeit einflußreicher Rreife der Bevölkerung überhaupt eine Großinduftrie zur Entwicklung gebracht bat. Noch 1861 gab es, von ver- einzelten Betrieben in der Spinnerei und Weberei abgefehen, in Bayern feine Fabrik, die mehr als 100 Arbeiter befchäftigte. Seitdem find ingbefondere die Kreife Mittelfranken (mit Nürnberg), Schwaben (mit Augsburg) , Oberfranten (mit Hof) und Oberbayern (mit München) Standorte bedeutender Induftrien ge worden. An der Auffchwungsperiode von 1895—1900 bat auch die bayeriſche Induftrie ihren Anteil gehabt. Gelbft in den Jahren der Krifis hat fie Ab nicht fchlecht behauptet. Nach der Reichsitatiftit haben „Bergbau, Hütten: weſen, Induftrie und Bauweſen“ in Bayern von 1882—1895 eine Zunahme um 30,20/, erfahren bei gleichzeitiger Vermehrung der Bevölkerung um 10,19, und nach der GStatiftit der bayerifchen Gewerbeinfpeftoren ftieg die Zahl der gewerb lich und induftriell tätigen Arbeiter, foweit fie der Fabrikinſpektion unterftellt find, von 1894—1904 um 256000 Perfonen oder 76%/,.

In der Mafchineninduftrie fteht Bayern heute unter dem deutſchen Bundesftaaten an zweiter Stelle. Hier ftieg die Zahl der Fabrikbetriebe von 1894—1904 von 327 auf 558, die Zahl der Arbeiter von 22335 in 1894 auf 44216 in 1904. Nur das Baugewerbe Münchens zeigte noch big in Die jüngfte Zeit hinein krijenmäßige Störungen, was bekanntlich mit der maßloſen Steigerung der Bodenpreiſe zuſammenhängt, welche eine toll gewordene Terrain⸗ fpetulation bier verfchuldet hat, zum Teil auch auf die unausbleibliche Säuberung

Rundfchau. 379

dieſes Gewerbes von unfoliden Elementen zurüdzuführen if. Bayern befist, insbefondere in denjenigen Städten, welche bereit? im 14., 15. und 16. Zahr- hundert Standorte eines reichen gewerblichen Lebens gewefen find, Nürnberg und Augsburg, einen Urbeiterftamm mit vorzüglicher technifcher Tradition und hätte daher begründete Hoffnung, durch Hebung des Rulturniveaus feiner Be— völferung, durch Verbeſſerung und PVerbilligung der Verkehrsmittel und durch foziale Reformen feinen Stand unter den deutfchen Induftriegebieten zu halten, wenn die Robftoff-Rartelle und die Bülow’fchen Handelsverträge nicht wären.

So ift damit zu rechnen, daß die bayerifche Induftrie auch in Zukunft vorwiegend Heingewerblichen Charakter tragen wird, vielleicht fogar noch in ftärferem Grade als heute, wo faft die Hälfte der gewerblichen Betriebe Sandwerksbetriebe find. Diefe Entwidlung wäre auch im Intereffe des fozialen Fortfchritts fehr zu bedauern. Im Handwerk äußert fich die berühmte füd- deutfche Gemütlichkeit nämlich fehr häufig nur in dem Leichtfinn, mit welchem die zum Schuge von Leben und Gefundheit der Arbeiter getroffenen gefeglichen Beftimmungen nicht beachtet oder umgangen werden. Genoß doch 3. B. Ober: bayern, insbefondere München, bis vor wenigen Jahren den traurigen Ruf, die ungünftigfte Unfallftatiftit im Baugewerbe zu befigen, bis eine Häufung durch fträfliche Fahrläffigkeit von Bauunternehmern berbeigeführter Unglüdsfälle vor einigen Jahren die Regierung zur Durchführung einigermaßen zureichenden Bau- arbeiterfchuges zwang. Auch in Bezug auf die perfönliche Behandlung des Arbeiters, insbefondere des jugendlichen, erweiſt fi) das Handwerk bekanntlich fehr häufig auch fozialpolitifch als die rüdjtändigere Betriebsform; wobei allerdings die privaten und fisfalifchen Riefenbetriebe außer Betracht bleiben, die durch ein raffiniertes Syſtem fogenannter Wohlfahrtseinrichtungen einen Teil ihrer Arbeiter in ein förmliches SHörigkeitsverhältnis herabgedrüdt haben. Gegenüber diefen legteren bat auch das Handwerk mindeftens den Vorzug, daß es die individuelle Freiheit und die menfchlihe Würde des Arbeiters weniger rüdfichtslos antaftet. Dies verhindern fchon die Gewertfchaften.

Einem Riefenbetrieb wie Krupp gegenüber, der in fich felbft eine auch der kräftigften Arbeiterkoalition überlegene Macht darftellt, vermögen die Roalitions- beftrebungen der QUrbeiter bisher wenig auszurichten. Dagegen find Handwerker und felbft Großinduftrielle, legtere, folange fie fih das Syſtem der Wohlfahrts- einrichtungen nicht zu eigen gemacht haben, erftere, folange fie nicht gleich ftraff organifiert find, wie die Arbeiter, den erfolgreichen Angriffen der Arbeiterkoalitionen weit mehr ausgefegt. Kein Wunder daher, daß bei dem verhältnismäßig ftarken Ueberwiegen der Heingewerblihen DBetriebsformen in Bayern die Xrbeiter- gewerkichaften fich bier feit dem Wall des Gozialiftengefeges gut entwideln und insbefondere in den Jahren des induftriellen Aufſchwunges verhältnis: mäßig zahlreiche Erfolge erzielen konnten.

Wie fehr viel fchlechter aber die Chancen der Gewerkſchaften gegenüber den mit „Woblfahrtseinrichtungen“ arbeitenden großinduftriellen Betrieben als gegen- über dem SKleingewerbe und der übrigen Induftrie find, dafür liefert ein Ver— gleich der gewerkichaftlihen Bewegung in München mit der in Augsburg ein lehrreiches Beispiel. _ In Augsburg, dem älteften SHauptfig der bayerifchen Großinduftrie, ift die Entwidlung der auf dem Boden des Klaffentampfes ftehbenden Gewerkichaften eine bedeutend langjamere gewejen, wie bier, trogdem gleichzeitig die QUrbeitsbedingungen in der vorzugsweife mit Frauen arbeitenden TSertilinduftrie viel zu wünfchen übrig ließen, und auch in der politifchen Arbeiterbewegung Augsburgs fommt der Einfluß des dort feit Alters ber einge- führten Syitems der „Wohlfahrtseinrichtungen“ deutlich zum Vorſchein. München dagegen iſt wenigftens für die wirtfchaftliche Arbeiterbewegung offenfichtlich kein

380 Rundſchau.

Capua geweſen. Die Geſamtzahl der in den ſozialdemokratiſchen Gewerkſchaften organiſierten Arbeiter betrug in München: 1895: 7981, 1900: 17275, 1904: 26535. Nach der Schätzung des Münchener Gewerkſchaftsvereins kamen am 1. Oktober 1899 auf 1000 Arbeiter in ganz Deutſchland durchſchnittlich 99 Orga⸗ nifierte, in München dagegen 281.

Was nun die Lohntämpfe in Bayern anlangt, fo trugen auch diefe in ver- gangenen Fahren einen ausgefprochenen Mittelftandscharatter. Erft am Schluſſe der letzten Auffchwungsperiode erlebte auch Bayern feine Lohnkämpfe großen Stils. Erinnert jei insbefondere an den Münchener Schreinerftreit (vom 21. März bis 22. Juni 1898), der zur Bildung des Münchener Arbeitgeberverbande für das Baugewerbe Anftoß gab, an den Generalftreit der Münchener Schneidergehilfen vom Frühjahr 1898, der die Mitglieder der Münchener Schneiderinnung ebenfalls zur Bildung eines AUrbeitgeberverbandes veranlaßte, und an die vierwöchige Schub: macherausfperrung in Pirmafens im Frühjahr 1903, an welcher 7589 Schuhmacher beteiligt waren. Durch diefe Arbeitskämpfe neuen Stils erhielten nun auch bie Drganifationsbeftrebungen der Urbeitgeber in Bayern ftärfere Anregung. Diefe QUrbeitgeberverbände trugen troß dem häufigen Vorwiegen des Einfluffes der mittel- ftändlerifchen Innungsmeifter durchaus feinen partikulariftifchen Charatter. Go debnte fich 3. B. der Urbeitgeberverband für das Gchneidergewerbe, dem auch) die Ronfeltionäre angehören, bald über ganz Deutjchland aus. Auch die auf den Zufammenfchluß aller deutfchen Arbeitgeberverbände gerichteten Beftrebungen fanden in Bayern volles Verſtändnis. Rühmt fich Doch der Generalfetretär des „Bayerifchen Snduftriellen- Verbands”, Dr. Kuhlo, derjenige geweſen zu fein, der noch vor Grimmitfhau am Anfang des Jahres 1903 im Auftrag der „deutichen Arbeit: geberzeitung“ als Erſter ein Programm für die Tätigkeit eines allgemeinen deutfchen AUrbeitgeberverbands entwidelt bat.

Geitdem fih nun auch in Bayern die QUrbeitgeber organifiert und an bie unter der Kontrolle des Zentralverbands deutfcher Induftriellen ſtehende „Haupt: ftelle" Anſchluß gefunden oder Fühlung mit ihr genommen haben, ift wenigſtens auf dem Gebiet der Lohnktämpfe der Großbetrieb auch in Bayern zum vollen Durchbruch gelommen. Dafür liefern die in den legten Monaten ausgefochtenen Arbeitskämpfe vollen Beweis.

Zuerft gingen die GSchneidermeifter vor. Eine Provotation feitens ber bayerischen, insbefondere der Münchener Gebilfenfchaft war eigentlich nicht erfolgt. Vielmehr war eben erjt eine geringfügige Differenz wegen der feit 1899 und bezw. 1902 im Münchener Schneidergewerbe beftehenden Tarifverträge durch einen neuen Tarifvertrag befeitigt worden, welcher am 20. Februar 1905 durch Ber- mittlung des Münchener Gewerbegerichts zu ftande fam. In $ 6 diefes Ver— trags werden die beiderfeitigen Drganifationen gegenfeitig ausdrüdlich anerkannt. In Würzburg und Nürnberg ftreitten die Schneidergehilfen, aber nur, weil ihnen die Anfertigung von Gtreifarbeit für Gießener und Leipziger Schneidermeifter zu: gemutet worden war, deren Arbeiter in eine Lohnbewegung eingetreten waren.

Sie verlangten, daß die Arbeitgeber fich unterjchriftlid und ehrenmwörtlich verpflichten follten, in Zukunft das Anſinnen der Herftellung von Gtreifarbeit, das ift von moralwidriger Arbeit, nicht mehr an fie zu ftellen. Diefem Vorgehen fchloffen fih in der Folge die Schneidergehilfen in einer Reihe von deutfchen Städten an, indem fie ebenfalld die Anfertigung von Gtreilarbeit verweigerten und fich lieber ausfperren ließen. Der nach Leipzig einberufene große Ausſchuß des allgemeinen deutfchen QUrbeitgeberverbands für das GSchneidergewerbe fahte darauf am 14. Mai den Beſchluß, von den Gehilfen die Unterzeichnung eines Reverſes zu verlangen, in welchem fie ſich zur Herſtellung jeder gewünſchten Arbeit, alfo auch von Gtreifarbeit, verpflichten follten. Eine folche Verpflichtung

Rundfchau. 381

fäme natürlic” einem vertragsmäßigen Verzicht auf das KRoalitionsrecht völlig gleich und wäre darum, ebenfo wie ein folcher, null und nichtig. Die Schneider- gefellen lehnten denn auch allentbalben die Llnterzeichnung des Reverſes mit geringen Ausnahmen rundiweg ab; worauf ed in einer Reihe von Städten, ba- runter auch in München, zu Ausſperrungen fam. Schließlich waren 58 Städte mit 6590 Ausftändigen an der Bewegung beteiligt. Nachdem die Gehilfen in- deffen zur Abwehr den Generalitreit für ganz Deutfchland proflamiert hatten, fahen die meiften Arbeitgeber doch ein, daß fowohl der Zeitpunkt, wie der äußere Anlaß zu einem Kampf, welcher ſich auf das GSchneidergewerbe ganz Deutfch- lands erftreckte, zu fchlecht gewählt war. So wurde die Gießener Angelegenheit die Leipziger war fchon vorher durch Nachgiebigkeit der Gebilfen befeitigt worden auf Anregung der Mitglieder der Hamburger Tariflommiffion nicht etwa des Münchener Hauptoorjtande des WUrbeitgeberverbandes! am 6. Juni durch einige Heine Zugeftändniffe an die Gießener Gehilfen beigelegt und die Aus- fperrung aufgehoben. Die Reverfe wurden beiderfeitig zurückgezogen.

Am 21. Zuni fperrten dann die bayerifchen Metallinduftriellen wegen partieller Streits in München und Nürnberg, in welchen es fich neben ber Forderung des Abichluffes von Tarifverträgen um geringfügige AUnfprüche in Bezug auf Lohnerhöhung bezw. Verkürzung der WUrbeitszeit handelte, fämtliche Metallarbeiter in ganz Bayern 16000 an der Zahl aus. Auch die Augs- burger Arbeiter, die in eine Lohnbewegung überhaupt nicht eingetreten waren, wurden mit ausgefperrt.

Swei Tage fpäter abmten die Urbeitgeber des Münchener Baugewerbes diefes Beifpiel nach und fperrten 773 Maurer, 310 Zimmerer und 900 Bau⸗ bilfsarbeiter aus. Den Anlaß bildeten auch bier durchaus nicht unerbörte For- derungen der Arbeiter. Vielmehr waren diefe fowohl angefichts des Standes der Münchener Wohnungs- und Lebensmittelpreife, wie der in anderen deutſchen Städten bereit® erreichten Lohnbedingungen, fehr mäßig. Trogdem blieb die QAusfperrung nicht einmal auf die der eigentlihen Baubranche, ja nicht einmal auf die dem Urbeitgeberverband angehörigen Firmen bejchräntt. Vielmehr wurden die Hilfsgewerbe des Bauhandwerkes gezwungen, die Ausfperrung mitzumachen, was bei den Spänglern und Inftallateuren nur unter Verlegung eines noch lau- fenden Tarifvertrages möglich war. Gleichzeitig wurde auf die Lieferanten von Rohbaumaterialien (Steine, Eifen, Kalt, Zement) ein Druck ausgeübt, die Liefe- rung nah München, foweit nicht ganz feite Verträge entgegenftanden, einzu- ftelen, jo daß bald auch Bauten folcher Bauherren zum Gtillftand gebracht wurden, die bisher nicht Mitglieder des WUrbeitgeberverbandes gewefen waren. Endlih wurden PVerufserklärungen in der Preffe publiziert, durch welche den- jenigen Firmen, welche der Arbeitgeberkoalition in den Rüden fallen würden, dreijähriger Boykott, und den Verbandsmitgliedern, welche die Ausführung diefer Maßregelungen verweigern würden, dauernder Boykott angedroht wurde (DVer- gehen gegen 8 153 der Gew.-D.). Auf diefe Weife wurden ſchließlich ca. 5000

arbeiter Münchens zum eiern gezwungen.

Die Metallinduftriellen fowohl, als auch die Arbeitgeber des Baugewerbes batten vor der Ausſperrung den WUrbeitern fogenannte Reverfe zur Unterfchrift vorgelegt. Natürlich vergeblich! Der Revers der Baugewerbetreibenden lautete ſchlicht und einfach:

„Revers,

Der Unterzeichnete erklärt hiedurch, daß er keiner Organifation angehört und auch feine Organifation unterftüßt.“

382 Rundfchau.

Der Revers der Metallinduftriellen lautete ausführlicher:

„Ich Unterzeichneter erkläre hiemit, daß ich nicht Mitglied einer Arbeiter: organifation bin und das PVorgeben der fogenannten WUrbeiterführer aufs fchärfite verurteile, weil beide nur Unfrieden zwifchen Urbeitgebern und Arbeit: nehmern fäen und gleich fchädliche Folgen für Induftrie und Arbeiterſchaft her- vorrufen. Ich erkläre, daß ich weder ftreitende noch ausgefperrte Arbeiter mit Beiträgen unterftügen werde und genehmige ausdrüdlich die Veröffentlichung diefer meiner Erklärung und Unterfchrift.”

Während nun die Urbeitgeber des Baugewerbes fih nach anfänglier Weigerung wenigftens zu Verhandlungen vor dem Geiverbegerichte berbeiließen, lehnten die Metallinduftriellen folchde Verhandlungen aufs Entjchiedenfte ab.

Auf die, von dem Münchener und bezw. Nürnberger Gewerberichter pflicht gemäß an fie gerichtete Aufforderung, fich, ebenfo wie die Arbeiter, zur Anrufung des Gewerbegerichts bereit finden zu laffen, erwiderte die Münchener Firma Landes, daß fie „mit ihren Arbeitern nur innerhalb ihrer Fabrik verhandeln könne und werde, eine Verhandlung vor oder mit dritten Perfonen aber zu ihrem Bedauern ablehnen müffe“ ; die Firma Maffei, die im Oktober 1904 vor dem Münchener Gewerbegeriht einen Tarifvertrag abgefchloffen hatte, lehnte Einigungsverhandlungen ab, „weil nach den bisherigen Erfahrungen bei Differenzen zwiſchen Arbeitgebern und Ur beitern die Verhandlungen vor Gewerbegerichten als Einigungsämtern größten teils auf Roften der Induftriellen zu einer Verftändigung geführt“ hätten, und der Leiter der Mafchinenbauaftiengefellfehaft Nürnberg verband feine Abſage mit der Einladung an den Gewerberichter, fich zu einer noch zu vereinbarenden Zeit im Bureau eines Direktors der Gefellichaft einzufinden, für den Fall, daß er noch weitere Auffchlüffe wünfchen follte.

Nicht viel beſſer als der Gewerberichter wurde anfänglich von den XUrbeit- gebern der Metallinduftrie die bayerifche Regierung behandelt, welche in ver- fchiedenen Stadien der Bewegung Verſuche machte, zu vermitteln. Ja, fie ließen diefer Regierung, welche die Berwegenheit gehabt hatte, ganz gegen ihre fonitigen Gemwohnbeiten, ein Wort zugunften von Tarifverträgen zu fagen, in einer ſozu— fagen „wiffenfchaftlichen“ Abhandlung beweifen, daß fie damit den Spuren des Rodbertus folge und den „ausgeprägteften Sozialismus“ fördere. Schließlich, nach dreimöchiger Dauer der Ausfperrung und nachdem eine Ausſprache mit WUrbeitervertretern, die ohne Vermittlung eines Dritten ftattfand, erfolglos geblieben war, traten die Metallinduftriellen aber doch auf Anregung eines Minifterial: beamten in Unterhandlungen ein, die zu einer Einigung führten. Die Urbeiter erreichten dabei neben einigen Ronzeflionen in Bezug auf Lohnhöhe und Arbeits zeit insbefondere die ausdrüdliche Zurücdnahme der Reverſe.

Hartnädiger geftaltete fih der Rampf im Baugewerbe. Den Organifationen der Arbeiter war es bier bei der günftigen Baukonjunktur möglich, eine große Anzahl von Arbeitern nach andern Orten abzufchieben, und eine Reihe von Bau meiftern, die organifierte Arbeiter befchäftigten, mit Baumaterial zu verforgen. Erft nach achtwöchiger Dauer der Ausfperrung und nach einer fünfzehnjtündigen Verhandlung vor dem Gewerbegericht endete auch diefer Rampf am 19. Auguft mit dem Abſchluß eines Tarifvertrages mit zweijäbriger Geltung.

In allen drei Fällen erwies ſich die Vorlage des Reverfes als eine völlig nuglofe Provofation der Arbeiter, die nur den einen Erfolg hatte, den Geiwert- fchaften fcharenweife neue Mitglieder zuzuführen. Ebenſo verpuffte der Angriff der Metallinduftriellen auf das Prinzip der Tarifverträge völlig wirkungslos an gefichts der Tatfache, daß nahezu alle großen Lohnkämpfe der letten Zeit in Tarifverträge ausmündeten. Gegenüber den Verfuchen, diefe Angriffe mit einem wiflenfchaftlichen Nimbus zu umgeben, und politifche Gefichtspuntte in die Erörterung

Rundfchau. 383

der Frage einzufchieben, fann man es nur mit dem württembergifchen Fabrif- infpeftor Hardegg als übel angebracht bezeichnen, wenn die Gegnerfchaft gegen den Tarif mit der Bekämpfung politifcher Beftrebungen der Arbeiter begründet wird, während doch nur die damit für fie verfnüpften Leiftungen, insbefondere die nicht zu umgebende Anerkennung der Arbeiterorganifationen, den wahren Grund der Abneigung vieler Arbeitgeber gegen Tarifverträge bildet.

Die geringe Achtung vor dem wichtigften Freiheitsrechte des deutfchen Ar⸗ beiter®, welche auch die bayeriſchen Unternehmer bei diefen Kämpfen an den Tag gelegt haben, fordert um fo lebhafteren Proteft heraus, als es ſich im Schneider- und Baugewerbe überwiegend um folche Arbeitgeber handelt, denen der Staat felbft durch Schaffung von Iwangsinnungen bei der Bildung ihrer Roalitionen behilflich geweſen if. Nicht minder muß das ungleihe Maß peinlich berühren, womit der Schutz gegen Organiſationszwang, den $ 153 der Gew.O. ftatuiert, auch in Bayern jugemeffen wird, je nachdem es fih um „Terrorismus“ der QUrbeiter oder der Ar⸗ beitgeber handelt. Dabei kann es für jeden billig Denkenden feinem Zweifel unter: liegen, daß der Zwang zum Beitritt zu einem Rampfverein von der Art des „QUrbeit- geberverbandes für das Münchener Baugewerbe”, ausgeübt gegenüber einem fozial gefinnten Unternehmer, fittlich weit vertwerflicher ift, als der Zwang zum Beitritt zu einer Arbeiterorganifation, ausgeübt gegenüber einem fogen. „Arbeitswilligen“, das beißt einem unfozial dentenden Menfchen, der blindlings nur feinem eigenen, nächftliegenden Vorteil folgt.

Schließlich muß noch ein Wort gefagt werden über die Haltung, welche die bürgerliche Preffe, die Behörden und die öffentliche Meinung in Bayern zu diefen Kämpfen eingenommen haben. Die Sentrumspreffe befolgte die Taktik, über die Vorgänge ihren Lefern fo wenig wie möglich mitzuteilen, was ja auch einer weiteren Erklärung nicht bedarf. Die maßgebende „liberale” Prefje aber, welche die tendenziöfeften Darftellungen des Sachverhalts von feiten der Unter⸗ nehmer obne ein Wort der Berichtigung zum Abdruck brachte, hatte angefichts der unfittlichen Verſuche, von den organifierten Arbeitern durch Maffenausfperrung, das beißt doch durch Aushungerung einen Verzicht auf ihr Roalitionsrecht zu erpreſſen, böchitens ein fchiwächliches Bedauern für folche „zweideutigen und dem Arbeiter verdächtige Mafregeln“ übrig! Unter dem Schein der Wahrung voll: fommener „Neutralität“ unterftügte fie in Wirklichkeit die illoyale Taktik der einen Partei, die Haltung der anderen bald als das Werk „aufgeregter und unflarer Führer“ erfcheinen zu laffen, bald wieder, wenn fich diefe Führer zu offenkundig als befonnene Männer eriwiefen, fie dafür verantwortlich zu machen, daß die durch die Provokationen der Unternehmer und der ihnen dienftbaren Preffe auf- geregte Maffe der Ausgefperrten nicht diefelbe Gemütsrube bewahrte. Namentlich aber erwies ſich der Mangel an Gerechtigfeitsfinn der maßgebenden liberalen Preſſe darin, daß fie nicht nur kein Wort des Proteftes fand gegen die Llngleich- beit der Anwendung des geltenden Roalitionsrechtes auf die GStreilvergehen des einen und des anderen Teiles, fondern ſich fogar der LUnterftügung dieſer Un— gerechtigkeit fchuldig machte, indem fie zwar jeden Fall wirklicher oder vorgeblicher Beläftigung von Streikbrechern fofort der Deffentlichkeit befanntgab, über die nicht feltenen und erheblichen Ausfchreitungen aber, welche von feiten einzelner Arbeit⸗ geber oder fogenannter „Urbeitswilligen” gegen die Ausgefperrten und namentlich gegen die GStreifpoften begangen wurden, fei es überhaupt nicht, fei es fehr ober- flächlich berichtete. Diefelbe Preffe, die feinerzeit bei den Innsbruder Krawallen die Sache der deutjchen Studenten energifch verfocht, fand kein Wort des Pro- teftes, als von Münchener Baumeiftern Arbeiter in Budapeft angeworben und Staliener nah München gelockt wurden, wo gleichzeitig ca. 5000 deutfche Arbeiter gezwungen feierten. Sie hatte auch nicht den leifeften Tadel dafür, daß ein Teil der

384 Rundſchau.

Münchener Arbeitgeber die Ausfperrung unter offenbarer Verlegung eines be- ftebenden Tarifvertrages vornahm, während fie andererfeit3 die organifierte Arbeiterſchaft dei Baugewerbes als „noch nicht reif” für den Abfchluß von Tarif: verträgen erklärte. Und während fie jelbit die Taktik der organifierten Arbeitgeber, auf „das weiche (goldene) Herz der mit fozialen Kämpfen Nichtvertrauten zu fpefulieren“, kräftig unterftügte, indem fie Phrafen von dem „Leineswegs eigen- nüsigen, fondern der Ullgemeinheit dienenden Streben“ der Unternehmer und rührfamen Darftellungen der Klagen „alter und im Dienfte der Fabrik ergrauter Arbeiter“ über den „ungenügenden Schus, welcher ihnen durch die Gicherheits- organe gewährt würde”, in ihren Spalten bereitwillige Aufnahme gewährte, warnte fie die organifierten QUrbeiter, „es nicht bis zur Ausſperrung zu treiben“, ftellte ihnen im vorbinein in Ausſicht, dab „jene Kreife und Stände, welche es mit den WUrbeitnehmern aufrichtig wohl meinen, in einem ausbrechenden Rampfe, bei einer Gefamtausfperrung nicht auf feiten der Ausgeſperrten ftehen werden“ und drohte damit, daß „an eine Notſtandsaltion (für die Arbeitsloſen) wie im legten Winter nicht zu denken“ ſei.

Allein nicht nur die bürgerliche Preffe ließ bei diefen Anläffen —— von Sozialpolitikern im Norden den Süddeutſchen nachgerühmte, ſozialpolitiſche Emp- finden vermiſſen. Auch die Behörden zeigten nur wenig Spuren davon. ſtramme Vorgehen der preußiſchen Behörden gegen den Import ruſſiſcher und galiziſcher Polen durch die kontraktbrüchigen Bauunternehmer in Rheinland- Weſtfalen und das Verhalten des Oberbürgermeifters der Stadt Effen ftehen in fehr vorteilhaftem Gegenfat zu dem Verhalten der entfprechenden Organe der ftaatlichen und ftädtifchen Verwaltung in Bayern.

Die Bevöllerung, joweit fie nicht wirtſchaftlich oder politifch engagiert war, brachte den Vorgängen nur geringes Intereffe entgegen. Epifoden, wie die Huldi- gung ftreitender Metallarbeiter vor dem Schillerdentmal oder der malerifche An- blick abreifender Bauarbeiter, die, Keine Koffer über Schaufel und Spitzhacke gehängt, in Trupps zum Bahnhof wanderten, erregten das Interefje des Publi- fums faft mehr, ald der Umſtand, daß bier hart um die Erhaltung eines Rechtes gerungen wurde, von dem nicht mehr und nicht weniger abhängt, als Leben und Gefundheit, Sittlichkeit und Vaterlandsliebe vieler Millionen Deutfcher. Nur der Beredfamkeit Naumanns gelang es, einer großen, von Männern und Frauen der gebildeten Stände befuchten Berfammlung im Münchener Rindl-Reller eine kräftige Aeußerung des Proteftes gegen den Revers der Metallinduftriellen zu entloden.

Inzwiſchen tagten in München die Maler, die Bäder, die Hausbefiger, die Landwirte, der Verband fatholifcher kaufmännifcher DVereinigungen und die Mittelftandsparti. Man fprach viel über Meifter- und Obermeiftertitel- fragen, und die Handwerkskammer von Oberbayern richtete eine Aufforderung an die Kgl. Kreisregierung, einen Drud auf den Münchener Stadtmagiftrat aus- zuüben, daß bei Vergebung ftädtifcher Submiffionsarbeiten die zur Führung des Meijtertiteld befugten Handwerker befonders berücfichtigt werden follten. Man proteftierte gegen den zwölfitündigen Marimalarbeitstag im Bädergewerbe und gegen den Llebereifer der Alkoholgegner, und man entrüftete fich beträchtlich über Warenhäufer und KRonfumvereine, Bejteuerung des unverdienten Wertzu- wachjes und gemeinnüsige Bautätigkeit. Auch das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeiter wurde erörtert, und es ftellte fich heraus, daß es im böchiten Norden Deutfchlands vereinzelte Männer gibt, deren fozialpolitifche® Berjtändnis turmboch über demjenigen dee Münchener Innungsmeifter fteht.

München. Mar Prager.

Berantwortlich für den fo hatpollciisen Zeil: Friedrich Naumann in Schöneber den übrigen Inhalt nu i I Rito ads 33* in 34 a

Nahbrud ber einzelnen nur auszugswelſe und mit genauer Quellenangabe geſtattet.

Die Inſel der Seligen.

Eine Romdödie in vier Alten.

Bon Mar Halbe in Münden.

Dritter Aufzug.

Der gleihe Schauplag wie zuvor.

Im Hintergrunde rechts am Geeufer zwifchen Turm und Bühnenzelt tft ein Holzftoß auf- geihichtet. Vorne vor der Fontäne ift ein großes mit Blumen und Weinlaub umfränztes Wein- faß auf einem niebrigen Geftell hergerichtet. Nechts davon am Fuß ber Anhöhe fteht ein Kredenz tiſch mit Bechern, Krügen, Gläfern, fowie verfchledenen kalten Speifen. Schemel und Gartenftühle find rings verftreut.

Es ift zwei Stunden fpäter. Die Sonne ift am Untergehen. Rotes und violettes Licht liegt über See und Bergen. Danach tritt Dämmerung ein. Der Mond erjcheint groß und rund am Horizont.

Hinter dem Kredenztiſch fteben Dorothee, Hedwig und Frau Römerſchmidt in eifrigfter Arbeit des Anrichtens und Austeilens von belegtem Brot, kaltem Braten, Wurft, Kuchen, Käfe, Eis. Dorothee ift in Duftig hellem Sommerfleid, Hedwig trägt ein ftrenges Reformgewand. Frau Römerfchmidt, üppige, hochblonde DVierzigerin, ift fchneeweiß ä l’enfant angezogen. Vor dem Tiſch und auf dem Pla drängen fich in buntfoftümiertem Durcheinander Lanzinger als Pierrot, Rafu- moff im ruffifhen Nationaltoftüm, Dräger in Robespierre-Tracdht, Kaſper als Holzknecht mit bunten Hofenträgern, Spielhahnfeder und nadten Stnien, Rehbein, ſchmächtige Kanbidatenerfchei- nung mit Brille, langem lberbängenden Haar, Zägerrod und Zägerwäfche, Marquardt im fhwarzen Sonntagsrod, Finfterlin wieder im weißen Talar mit Prieftertiara, Grau Lindenblatt im Rokokokoſtum.

Außer den Genannten flieht man noch eine Anzahl von flavifchen und ſtandinaviſchen Studenten, Studentinnen, Malern und Malerinnen in charakteriftifhen Koſtümen.

Altes ſchiebt und ftößt Durcheinander, drängt gegen den Kredenztiſch oder verteilt fih in bunten Gruppen lachend, fchwagend, effend und trintend rings um die Fontäne.

Am Weinfaß niet Zürgen im hellen Sportsanzug, zapft Wein in Die bereit gehaltenen Becher, Krüge und Gläſer. Afra und Bärbeli, beide in Schwelzertracht, geben bedienend durch die Menge.

Dor dem Weinfaß ift ein großer Teppich ausgebreitet. Auf dem Teppich figt mit unter- gefhlagenen Beinen Shäsli-Stüßlt, ein graubärtiger Sechziger von riefenhaften Umfange in per- ftiher Nationaltracht, Krummfäbel an der Seite, Turban auf dem Kopf. Er überwacht mit ge- zogenem Säbel die Hantierungen Zürgens und der andern am Faß.

Bor Aufgehen des Borhanges hört man Gefchrei, Gelächter und Gefang.

Rufe cam Kredenzdiih reis): Mir, Frau Dorothee! Mir! Mir! Hierher! Hierher! ... Ich Habe noch gar nichts! ... Mir! Mir! (gwanzig Hände

ftreden fih über den Tifch und greifen nach den Schüffeln.) Dorothee (gleichzeitig abwehrend und austeilend): Rube, Rinder! Ralt Blut! Zeder befommt fein Teil! Keiner verhungert! Wollt ihr nicht gleich die Schüſſeln miteſſen? (Zu Raſſumoff, der ſich vordrängt): Du, laß das, ja! (Sie fchlägt ihn derb auf die Finger: Man faßt nicht mit den fchmugigen Pfoten in die Sardinenbüchfe! Dazu ift die Gabel da!

Süoddeutfche Monatshefte. III, 25

386 Mar Halbe: Die Infel der GSeligen.

Senne. ad ich gleich ganze Dofe! (Er greift wieder nach der Sarbinen- büchfe, nimmt fie an fi

erg * ihm in den Arm): Hollal Hand weg! Andere Leute wollen auch Gardinen haben!

Rafumoff Giebt ſich ſchleunigſt mit der Büchfe zurüd): Teil’ ich mit Brüder meinige! (Er Hält die Dofe in die Luft, präfentiert eine Sardine zwiſchen Daumen und Seigfinger): Brüder und Schweftern! Jedem ein Fifh! Raſumoff teilt brüderlich!

Komm her, Schwefter Xenia Wladimiromna! (er wintt einer jungen rufftfehen Studentin, wird fogleich von einer Gruppe von Landsleuten umgeben.)

Dräger (mit Bit zur Gruppe): Ferkelbande!

Marquardt ceifeig tauend): Alles eins, Genoffen! Es kommt ja doch in denſelben Magen!

Lanzinger: Ataviftifche Urinſtinkte aus der aftatifchen Steppe! Was weiter!

Dorothee causrufend): Wer will Roaftbeef, kaltes Huhn, Gervelat- mwur!f .

Stimmen (aus der Menge): Hier! Hierl ... Ich! Ich! Dorothee: Kommt, Kinder, kommt! Nachfragen fann ich’8 euch

nicht! Holen und Eſſen müßt ihr's felber! (Neues Bebränge um den Kredenztiſch.)

Stimmen: Hoch, Frau Dorothee! Hoch die Mutter vom Ganzen! Hoch! Hoch!

Dorothee: Ja, laßt mich leben, Kinder! Es iſt das einzige, was man hat! Ich bin ja ſo verliebt ins Leben! Ich möchte euch alle nehmen und mit euch tanzen! (Zu einem, der fie von hinten umfahth: Hollal Wer iſt ber Srechling! «Sie reißt ſich los, drept ſich um, drop): Du, nimm dich in acht! Ich mache kurzen Prozeß. Ausrufenn: Kalter Braten! Wurft! Schinten! Be- legte Brötchen!

Frau Römerfchmidt (evenfaus ausrufend): Käſe! Butter! Käſe!

Diele Stimmen: Hoch Frau Dorothee! Hoch unfere Infelfee!

Dorothee (m den Umftependen: Warum fingt ihr nicht, Kinder? Singt und tanzt Doch! Mufif! Mufit!

Stimmen: Mufit! Mufit!

Kaſper cerite zu Dorothee Iſt das Gerede über Bruno wahr, Frau Dorothee?

Dorothee au Kae: Komm’, Freund! Wir tanzen!

KRafper: Was auch gefchieht, Frau Dorothee, mich habt ihr ficher!

Dorothee (mir kräftigen Sandigtag): Dank, guter Kerl! Dank! (3m Sinter- grundbe ertönt Beigen- und Lautenfpiel.)

KRafper: Holtriaho! (er umfaßt Dorothee, tanzt mit ihr durch die Menge. Andere Paare folgen. Lärm, Tanz und Fiedeltlang.)

Finfterlin cm Gefpräh mit Frau Lindenblatt vorliderwandelnd, deutet Topfichlittelnd auf die tangende Menge): O Schleier der Maja, der du ung das wahre Geficht der Dinge verbirgft! .... Ja, ja, befte Lindenblatt! Wir jubeln und tanzen und ſehen nicht, daß fchon das Alter und der Tod und über bie Schulter gucken!

Frau Lindenblatt: Deine mafodhiftifchen Sachen von heute nadh- mittag twollen mir garnicht aus dem Kopf, Meifter! Wundervoll die Rüdenftellung der Inienden Sklavin ...

Mar Halbe: Die Infel der GSeligen. 387

Finfterlin: Ja, Michel Angelo und ich werden wohl die einzigen fein, die da8 Problem zeichnerifch gelöft haben.

Frau Lindenblatt: Du weißt, Meifter, ich bin feruell eine Zwifchen- ftufe .... Dielleicht habe ich darum ein befonders feines Gefühl, wie tief du da wieder gefchürft haft. (Ste verſchwinden in der Menge.)

Frau Römerfhmidt (at vom Kredenztiſch ber die beiden beobachtet, ftößt Hedwig an: Gieh nur! Gieh nur die beiden! Müffen fich die aber Neuig- keiten zu erzählen haben !

Hedwig (finfter: Sie haben fich eben gefunden .... am Sohannis- tag. Andere verlieren fi am Sohannistag.

Frau Römerfohmidt: Du bift verftimmt .... Armes Ding!

Hedmig (pettig): Ach, was weißt du!

Frau Römerfhmidt: Es ift ja fchon ganz bekannt, daß er fort geht. Er hat mir’s ſelbſt verraten.

Hedwig (auffaprend): Dir hat er's verraten? Wiegand follte dir fo was anvertrauen... .

Frau Römerfhmidt: Wiegand? Ich meine doch Lanzinger.

Hedwig: Lanzinger? Pabh!

Frau Römerfhmidt: Schau! Schaul «ste dämpft ipre Stimme): Ja, was fagft du zu der tollen Gefchichte? Wenn Wiegand wirklich Minifter wird, fliegt doch die ganze Infel auf!

Dräger cerite zu Sedwig mit Sandfehwenten): Melde mich zu einem Walzer.

Hedwig: Dante! Ich tanze heut’ nicht.

Dräger: Schade! DVielleicht ift ed das legte Tänzchen, das wir durch die Gnade unferes erhabenen Proteftors hier abhalten. (er geht weiter.)

Marquardt (erbeugt fih mit lintiſcher Grazie vor Frau Rbmerſchmidth: Darf ich untertänigft um einen Tanz bitten, huldreiche Göttin?

Frau Römerſchmidt (oteth: Ei, wie galant unfer Revolutionär! Und der fefche Bratenrod!

Marquardt: Man kann doch nicht immer ſo'n Stoffel und Ruppſack bleiben! Innerlich braucht man darum noch lang’ nicht anders zu denten! Noch lang' nicht! «er macht einen Kragfuß) Ma, wollen wir ein bifjchen?

Frau Römerfhmidt: Ich fürchte nur, man tranfpiriert zu fehr bei der Hitze?

Marquardt: 3, das trocknet fchon wieder. Auf'm Bau wird man bundertmal am Tag naß und wieder troden. (Mit neuem Krasfuß): Gnädigfte Huldin? «Er zählt die Schritte.) Eins, zweil .... Eins, zweil (sie tanzen fort.)

Rebbein (teitt zu Hedwig mit fchüchterner Haltung): Ach, Fräulein Hedwig Wenn ih noch .... Sch meine .... wenn ich noch ein wenig . . . .? Sch effe nämlich fo furchtbar gern Eis... .

Hedwig (nimmt feinen Teller, legt reihlih auf, gibt ihm den Teller zurüd).

Rehbein orernd): Ich danke .... Ich meine .... Ich wollte.... Sch meine, daß die andern . . . (Erfteht mit dem Teller in der Sand, fleht fie Hllflos an.)

Hedwig warn): Auf der Infel der GSeligen kümmert man fich nicht um die andern! Auf der Infel der Seligen nimmt jeder, was er kriegen kann!

Rehbein rermutign: Das ift ja auch mein Standpunkt .... Theoretifch

388 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

meine ih... . . Praftifch natürlich... . Wir find ja Raubtiere, wir Menfhen .... Raubtiere .... gewiß! Uber dennoh .... Sehn Sie, Fräulein Hedwig . . - -

Hedwig (ipn unterbregend): Was foll denn das ewige Fräulein und Sie? Ich denke, man duzt fich bier! Das gehört mit zu unferm freien und herrlichen Raubtiertum . ... .

Rehbein (wieder jepr verwirtth: Man ift es .... Ich bin es noch gar nicht fo... . Ich meine, es ift doch erft ein paar Wochen ber... .. Früher auf dem Seminar und dann fpäter .... ald Idiotenlehrer ..... . (Er ftodt, flieht Hedwig an, dann zaghafı): Ich bin nämlich... . Ich bin eine zeit- lang Spdiotenlehrer ... . .

Hedwig: Ich weiß. Es ift ja auch feine Schande.

Rehbein müfgen): Eine Schande... .. D nein, ganz gewiß nicht! Aber wenn man dann fo bier cer zeigt in die Runde) das alled..... Das ift ja wie eine neue... . . wunderfchöne Welt! AU die bedeutenden ... . die... . die merfwürdigen Menfchen! Die berrlihe Natur! Und bier fo fteben .... mit Ih .... und zufeben, wie getanzt wird .... Und das prachtvolle Eis effen .... wie ein Traum! Ein mwunderfchöner Traum!

Hedwig: Und vergänglich wie alle Erdenträume!

Rebbein: Aber die Hauptfache........ Daß man ihn geträumt hat... .. Wollt ich fagen, das... . das ift die Hauptfache! «er ſieht ſie von an, wieder-

Holt aus tieffter Bruft): Daß man ihn geträumt hat, Fräulein Hedwig! «er wirft ihr einen fhüchtern bittenden Blick zu, wendet ſich bann fort.)

Hedwig (Men ipm erftaunt nah): Daß man ihn geträumt hat, den Traum . ... Das ift die Hauptfahe! Gar nicht fo dumm, der Ipiotenlehrer! Bar nicht jo dumm!

Dorothee (bat zuerft mit Kaſper, dann mit andern getanzt, reißt fih von ihrem Tänzer los). Dante, e8 ift genug! (Ste drängt ſich durch die Menge zu Jürgen) Wo ftedft denn mein Sohn Jürgen, mein hoffnungsvoller Sprößling ?

Jürgen wer am Faß fist und eingapft, ruft ihr zu: Hier, Mutter! Hier! Komm hierher!

Dorothee: Gib mir zu trinken, du Schwarm meiner Tage, Traum meiner Nächte!

Zürgen (chtagt auf den Bauch des Faffes): Wein die Maffe, Mutter! Da hör nur, wie ed gluckſt! (Er reicht ihr einen Becher.)

Shägli-Stüßli (erhebt fih, kreuzt die Arme in tiefer Berbeugung): Allah mit dir, ſchöne Gultanin! Tritt ein in das Zelt deines gefreueften Rechts, Shägli-Stüßli, genannt Scheit Ibrahim von Teheran!

Dorothee (dat getrunten, atmet tief auf): Ah, tut das wohl! «sie fabrt auf Zürgen 109): Wie fiehft du aus, du Raubritter du? Gefteh’, du haft Wein getrunfen!

Jürgen empor: Nicht einen Tropfen !

Dorothee: Aber einen ganzen Humpen voll! Ich kenn’ dich doch, mein Früchtchen! Was lacht du? Weil du deine Mutter angelogen haft?

Fürgen (verbeißt fig mühſam das Lahen: Wenn mir fo was vorgeworfen wird, muß ich immer lachen! Das ift ja mein Unglüf! Nachher glaubt einem feiner, daß man wer weiß wie unfchuldig ift!

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 389

Dorothee: Ufo lach, lach dich aus, du Opferlamm weiß wie Schnee! Ich glaub’, ich geh’ auch noch mal mit Lachen in die Emigfeit! Lieber Herrgott, fag’ ich, du weißt, ich bin die Dorothee und hab’ fchon als Heines Mädchen lachen müfjen, wenn ich die Rute befommen follte, weil ich den Finger in den Honigtopf geftect hatte! Und fo ein dummes Luder bin ich mein Lebtag lang geblieben! Hab ein Einfehen mit mir, großer Gott! |

Shägli-Stüßli (nt vor ipr auf die Ante): Beim Barte des Propheten! Die Pforten des Paradiefes follen dir offen ftehen! Ich breite meinen teuerften Choraffan unter deine Füße, boldefte der Frauen!

Dorothee: Machft du immer noch Liebeserklärungen, alter Schwere⸗ nöter, wie dazumal zwifchen Täbris und Ispahan, als du uns Unterfchlupf vor den Kurden gegeben hattet?

li-Stüßli Gchend): Seitdem iſt viel Waſſer durch den Euphrat gefloſſen.

Dorothee: Denk' mal an die gewiſſe Nacht im Zelt! Ich lieg' auf meinen Teppichen und ſchlafel Auf einmal ſteht ein Ungeheuer mit ſolchem Bauch im Mondlicht vor mir und murmelt was von ewiger Liebe! Herr- . gott, hab’ ich lachen müſſen!

Shäsgli-Stüßli: Der Gerechte muß viel leiden... . Ich wollte dir ein Polfter anbieten kommen.

Dorothee: Sei froh, daß Bruno in der anderen Ecke wie ein Befen- binder fehnarchte, fonft hätte er Dich gepofftert! Uber gründlich!

Shägli-Stüßli (gu den Umftehenden): Kinder, ich fag’ euch, was ich in meinem Leben ausgefreffen hab’, ganz Taufend und eine Nacht ift eine Lumperei dagegen! Wollt ihr mir glauben, daß fie mich den Herzenbrecher von Teheran genannt haben? So wahr ich ein ehrlicher Mufelmann bin! Den Herzenbrecher von Teheran! Wie findet ihr dag?

Stimmen: Hoch der Herzenbrecher von Teheran! Der größte Lügenbeutel. des Dftens hoch!

Shäsli-Stüßli: Gaderndes Federvieh ihr! Seid ihr mal fieben- unddreißig Jahre auf dem Kamel durch die Wüfte geritten wie ich! Habt ihr mal die koftbarften Dhageftand und Ferahans gegen lumpige Kattun- fittel eingehandelt! Geid ihr mal in allen Kurdenzelten, in allen Bazars und in allen Harems vom Amubarja bis zum Tigris zu Haufe geweſen! (In diefem Augenblid ertönen dumpfe Pofaunenflänge. Aus dem Zelt links binten treten paarweife Lothario und die Imhof · Adolphy, Roderi und Nelly von Schiipburg, Marcipansty und Lamormain. Shnen voran ſchreiten zwei Pofaunenbläfer in ſchwarzen Talaren und mit ſchwarzen Baretten. Die Schaufpieler tragen die KRoftüme des GStüdsd der Moritura. Lotbario als fahrender Gaukler, bie Imhof · Adolphy als Kupplerin, Roderi als Gralsritter, Nely von Schildburg Frau Minne, Marci-

pansty Hanswurft, Lamormain im ſchwarzem Trikot mit Stundenglas und Hippe als Tod. Ste fommen in feterlihem Zuge langfam durch bie ſich teilende Menge nach vorne. Die Muſit fegt ab.)

Rufe: Die Komödianten! Die Romöbdianten! Seht mal den Tod! Den Tod mit der Senfe! Bravo! GSochrufe und Bravotlatſchen.)

£othario (nah rechts und links winkend und ſich verbeugend): Dank! Dant, ihr Bürger und Bürgerinnen kommender Jahrhunderte! Dank!

Mareipansty: Quatfch mit Sauce! Gibt es nichts zu futtern?

Lothario au den imftehenden): Nichts für ungut, edle Zufunftsapoftel,

390 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

es ift ein etwas rauher und borftiger Kujon und verfteht fich nicht auf die Manieren der feinen Gefellfchaft.

KRafper (kritt zu ihm, deutet nach rehes): Da drüben gibt’8 zu futtern genug! Immer angetreten!

Lotbario: Heißen Dank, mächtiger Gönner! Wir treten zur Tafel Die Muſik bläft einen Tufch. (Er wintt den Pofaunenbläfern, geht mit der Gruppe nah rechts zum Effen.)

(Es ertönen neue Pofaunentöne. Das Zurmfenfter oben wird aufgeftoßen.)

Medardus Neumann (Medi feinen Kopf binaus, ruft hinunter): Blaft! Blaft! Blaft, ihr Sendboten des Auferftehungstages! DBlaft, ihr Drom- metenträger der ewigen Wiederkunft! DBlaft! «er ſchlagt das Fenfter wieder zu.)

Biele Stimmen: Herunterflommen, Bruder Medardus! SHerunter- fommen!

Medardus Neumann (öffnet von neuem das Fenfter): In den Staub mit euch, dumpfe Erdentlöße! Da! Da! Geht ihr die (Feuergarben, die Wal- halle Zinnen umlohn? Seht ihr das Flammenfhiff in Dunft und Rauch über die heilige Meerflut dahinziehn? Auf die Kniee mit euch, fchlotternde Unterweltslemuren! Zurüd in die Nacht, qualmende Grubenlämpcen! Armfelige Fünfminutenbrenner!

Mich aber laßt hier oben beten im Licht Zur uralten Mutter mit brennendem Angefiht! {Er Hat die Verſe in gefteigerter Ertafe gefprochen, fteht in entrüdter Haltung hoch aufgerichtet am Zurmfenfter. Es berrfcht augenblickliches Schweigen.)

Dräger: Wenn er fo einen Brand hat, gebt ihm doch zu faufen! Schickt ihm Wein hinauf!

Diele Stimmen: Sa, ja, ſchickt ipm Wein hinauf! Schicht Wein binauf! (Becherſchwenken zum Turm binauf.)

Shägli-Stüßli au Jürgen: Page, zapf ihm ein.

Jürgen (ſchwingt einen mächtigen Krug, ruft zum Turm hinauf): Sit der dba groß genug?

Medardug Neumann bGeust ſich Herunter): Wein wollt ihr mir herauf: ſchicken, wimmelnde Pygmäenbrut? Leibhaftigen Saft der Neben, in euren Niederungen da unten ausgeglüht? ... Wohl denn, mein Ganymed! Dein Zeus erwartet Dich! (Er zieht fih zuruck)

Jürgen (at eingezapft, hebt den Krug auf die Shutter): Hurra hopp! Zegt geht? auf die Reife nach dem Mond! (&r geht in der Richtung auf den Turm nach rechts zum Fuß ber Anhöhe.)

Do roth CE ie in äÄngftlicher Spannung zur Anhöhe rechts hinauf geſchaut hat, bemerkt Jürgen, vertritt ihm den Weg): Wo willſt du hin?

Jürgen: Den Mann im Mond mit Wein verſorgen! Laß mic durch, Mutter!

Dorothee: Der Mann im Mond bift du wohl felbft, du Zech⸗ bruder, du?

Jürgen: Uber nein, fo ein Unfinn! Sie fehreien doch alle, ich fol Medardus Neumann was zu trinken bringen ... . Sch möcht’ wiffen, wo du heut’ wieder die Gedanken haft!

Dorothee (eärgern: Dumme Frage! Soll ich dir vielleicht um ben

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 391

Hals fallen? Alles hat man allein auf feinem Kopf! Auf feinen kann man fich verlaffen! Man fist in der Ungft und Aufregung!

Zürgen gögernd): Mutter, ift das wahr, was Onkel Dubsty erzählt...

Dorothee (mie vorder): Laß dir nur von Dubsky den Kopf verbrehen! Ein netter Umgang ift mir das!

Zürgen: Schön! Alfo wenn du gnietjch fein willft ... «er win fort.)

Dorothee: Heraus mit der Sprache! Was hat dir Dubsty erzählt?

Zürgen: Daß wir fort follen, und daß Vater irgend fo ein großes Tier werden fol... . Iſt das wahr? Ehrenwort, Mutter!

Dorothee: Was weiß ich! Frag’ den Vater! Unfereing hat ja bloß zu kufchen! Gegen euch Herren der Schöpfung ift man ja nur fo eine ganz untergeordnete Gattung.

Zürgen: Uber nicht für mich! Ich bin doch nicht jo zu Dir, wenn man auch mal ein Wort zu viel jagt!

Dorothee: I, du bift gerade fo ein Taugenichts, wie alle andern Mannsbilder!

Zürgen (maydenttis:: Mutter, glaubft du denn, daß es für den Vater gut S wenn er bier raus kommt und wir beide mit?

Dorothee: Dummer Kerl! Die einzige Rettung wär's für deinen Vater und für mich! Für und alle! Sonft nimmt es fein gutes Ende!

Jürgen: Warum geht dann der Vater nicht?

Dorothee: Weil man euh Mannsbildern immer umfonft Vernunft predigt!

Zürgen: Ale Männer find doch nicht gleich! Ich zum Beifpiel...

Dorothee: Du bift fhon ein Held! Wenn man dran wadelt!

Zürgen: Man muß Vater bloß mal ein gutes Beifpiel geben!

Dorothee domifh entesy: Ein Beifpiel geben? Grundgütiger Hei- land! Jetzt will der auch fchon Beifpiele geben! Als ob man feinen Vater predigen hörte!

Zürgen: Haft du nicht oft genug gedroht, du wirft mich nehmen und mit mir zufammen fortgehen? Dann wird der Vater fchon nachkommen!

Dorothee: Du fiehft ja, ich bin immer noch da.

Zürgen: Dann muß eben mal ernft gemacht werden, Mutter. Ich an deiner Stelle tät's.

Dorothee: Du wirft den Kohl fchon fett machen, du Heren- meifter, du!

Zürgen (nad einem Augensrie): Adieu, Mutter! Test geht die Reife los!

Dorothee (topfipürteind: Welche Reife?

Zürgen: Na ja, zum Mann im Mond!

Dorothee: Dann beftell ihm einen fehönen Gruß! And ob er fich gewafchen hat?

Jürgen: Ich werd's ausrichten, Mutter! (er geht nach Hinten zu.)

Dorothee (ur ſich: Ideen bat der Junge! (Sie wit ipm nad, ruf): Du, Zürgen!

Jürgen (chon im Htntergrunde, dreht fih um): Was, Mutter?

Dorothee: Was war das eigentlich für ein merkwürdiges Gefrage?

Jürgen: Ich bin nicht fo ein Taugenichts, wie du denfft! Du wirft

392 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

ſchon fehn, daß du dich auf mich verlaffen fannft, und ber Vater auch! Adieu, Mutter! (Er winte ihr ſchneu zu, verſchwindet rechts hinten.)

Lothario Wer mit der Schaufpielertruppe am Kredenztiſch ſteht und eifrig einhaun: Dies ift das göttlichfte Noaftbeef, das je gebraten worden ift! Alfo noch eine Scheibe davon.

Marcipanskty: Halt! Halt! ... Natürlich! Den ganzen Reft ge nommen!

Lothario: Irgend ein jus primae noctis muß doch dem Direktor übrig bleiben, nicht wahr, füße Nelly?

Nelly von Schildburg cefend zu Roderis): Der Direktor hat gewiß wieder etwas recht Unanſtändiges gefagt, Liebling, nicht?

Roderich wornesm): E8 war griehifch! Ich habe nicht acht gegeben.

Lamormain: Ob man noch ein belegtes Brötchen riskiert?

Die Imhof-Adolphy nd umfepend, vaftid: Nimm! Nimm und if! Und was du nicht aufkriegft, ſteck ein! So 'ne gute Gelegenheit fommt nicht wieder! Ich hab’ fchon den ganzen Beutel voll.

Lamormain: Ich fürchte nur, man füllt fi den Magen zu fehr an und kann nachher feine Rolle nicht fpielen. Ein Tod mit Bauch würde die Illuſion ftören.

Lothario Mas Buffer vifitierend): Ah, Schinken in Brotteig! Der Traum meiner Jugend! (Er nimmt reichlich davon.)

Die Imbof-Adolphy: Bei der Bauernhochzeit damals in Kalten- gundelfingen gab’8 auch mal fo guten Schinken, errinnerft du dich, Frig?

Lothario: Ah Adolphine, wenn wir beide uns an alles erinnern wollten .

Die Imhof-Adolphy cnöpe ihn in die Seite): Schwein du! (Im Hinter grunde bat wieder gedämpftes Fiedel- und Lautenfpiel eingefegt. Das Tanzen beginnt » n neuem.)

Rafumoff arite zu Neuy, umfaßt fie: Komm’ Schwefterchen, wir tanzen!

Nelly (ciatſcht in die sände): Ach ja! Tanzen! Tanzen!

Roderich (miütend dagwifhen): Die Dame fteht unter meinem perfön- lihen Schuß, mein Herr!

Rafumoff: Unfinn, Brüderhen! Nir perfönliher Schusg! Nir Privateigentum bier auf der Infel der Seligen! Meine Frau deine Frau! Dein Mädchen mein Mädchen! Komm, Schwefterhen! Raſumoff beite

Tänzer von ganz Kleinrußland! Wie im Himmel wirft du fein! (er sie: fie fort.)

Nelly (zu Roderich: Halt’ fo lange meinen Fächer, Herz! (Ste wirft ihm den Fächer zu, tanzt mit Rafumoff ab.)

Lothario (räuen:

Es war einmal ein ftolzger Mops,

Trari, trara, hau, hau!

Stahl fi vom Tiſch den fehönften Klops, Trari, trara, wau, wau!

Da kam ein böfer Schäferhund,

Trari, trara, hau, hau!

Holt’ ihm den Klopfen aus dem Schlund, Trari, trara, wau, wau !

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 393

Und fraß ihn auf in guter Ruh Trari, trara, hau, hau! Der Mops, der fah von weiten zu, Trari, trara, wau, wau! 88 haben in das Lieb zuerft Marcipansty unb Lamormain, dann fortfchreitend der ganze Chorus eingeftimmt.) O ub 8 ty (tft auf der Höhe bes Waldweges links oben erfchlenen, wird nach einigen Augen- biiden bemerft. Es ertönen) Rufe: Qubaty! Dubsky! Seht Dubsty! Drä GET (drängt ſich durch die ſingende und tanzende Menge, ſchreit aus Leibeskräften): Heil Dubsky! Heil! Einige Stimmen: Heil! Heil! Heil! Dubsty (winte den Rufenden von oben zu): Ich bitte, das zu laflen, meine

Herren! Es könnte an gewifjer Stelle übel genommen werden. «es ift wäp-

renddes ftill —n m Muſik fhweigt. Bei den legten Worten Dubstys KRöpfezufammenfteden und gebämpftes Murmeln.)

Dräger = fi dis zur halben Höhe des Waldweges Iints vorgebrängt, fepreit): Unfer Freund Dubsky fürchtet, es könnte von gewiſſen Leuten übel genommen werden, wenn wir ein Hoch auf ihn ausbringen! Wollen wir das auf ung figen lafjen, Genofjen?

Rufe: Nein! Nein! Dubsty foll leben!

Dräger: Ich fordere euch daher auf, Genoſſen ....

R afper (ift mit ein paar Sägen auf die Anhöhe rechts neben Dorothee geftürmt, fo daß er der Gruppe Dubsty gerade gegenliber ftebt, ruft mit alles übertönender Stimme): Ich fordere euch auf, Freunde, wir laſſen zuerſt mal die beiden Menſchen leben, die ung dies Feſt und dieſe Inſel und fo vieles andere gegeben haben. An— gefichts der finfenden Sonne da, die heut vor drei Jahren um die gleiche Stunde unfern Bund hier werden ſah, rufe ih: Hoch Bruno Wiegand! Hoch feine fehöne, liebe Frau Dorothee! Hoch! Hoch! Hoch! (Ee ſchwentt

feinen Hut.) Braufende Rufe: Frau Dorothee fol leben! Bruno Wiegand hoch! Hoch Frau Dorothee!

Dorothee Gait ſich die Opren zu: Kinder... . .! Kinder... . .| Gie tritt zu’Rafper, fchüttelt ihm die Hand.)

Dräger (ruft von der Höhe Herüber): Wo ift denn Wiegand? Warum zeigt fi denn Wiegand nicht?

Dorothee (ruft von der rechten Höpe zuruch: Warte doch ab, er wird ſchon feinen Mann ſtehen! (Ste wendet ſich zu Kamen: Wo er nur ſtecken mag! Un- begreiflich der Mann!

Rafper: Soll ich ihn fuchen gehn?

Dorothee: Nein! Nein! Bleib! Wir dürfen jegt nicht fort! «ste

fpricht letfe mit Kafper weiter.)

Dubskhy cauf der Anhöhe Links zu Dräger, indem er hinunterfiepe): Haft du den Leuten auch ordentlih an den Puls gegriffen?

Dräger: Verlaß dich drauf! Die Gärung ift allgemein! Befonders bei der ruffifhen Bagage!

Dubsky: Warum haben fie denn eben wie befeflen bravo gefchrieen, al8 der Viehtreiber die Nede auf Wiegand hielt?

Dräger: Mumpig! Du weißt ja, wenn fie nicht ſchreien Fünnen,

394 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

ift ihnen nicht wohl! Im Herzen find fie für dich! Gütergemeinſchaft ift ihre ſchwache Seite! Noch lieber Weibergemeinfchaft! Das freſſen fie, wie die Rasen Baldrian! Übrigens galt ihr Hoch mehr ihr als ihm.

Dubsky: Das ſchien mir au fo. Die Mine ift alfo präpariert?

Dräger: Fehlt nur noch das omindfe Zündhölzchen!

Dubsky: Das überlaß, bitte, mir!

Dräger: Wo warft du denn?

Dubsky: Ich fah drüben im Wald und fehrieb meinen Brandartifel

Dräger: Ich kenne manchen, der fich an die Nafe faffen wird, wenn der Rrempel bier auffliegt, und das Schlaraffenleben ein Ende bat.

Dubsky: Sind wir vielleicht die Hereingefallenen dabei? Ich dächte, wer fo vorfichtig in der Wahl feiner Eltern gewesen ift wie du, kann aud wo anders ald auf der Injel der Seligen leben!

Dräger: Ich weiß nicht, weshalb du dich aufregft.

Dubsky: Weil ich nichts für überflüffiger halte, als die Intereflen von Dummköpfen zu wahren. Für Dummköpfe wird ſchon von Gtaatd und Gefellfhaftswegen geforgt! Für mich handelt es fich darum, einen Mann, den ich im übrigen hochfchäge, von feinem Größenwahn zu heilen und die Infel der GSeligen nach meinen Ideen umzubilden! Wenn ich da- mit zugleich die Gefchäfte des Gefindeld da unten beforge, fo ift das eine immanente Ironie des Schickſals, für die ich nichts kann!

Dräger: Kann man den Artikel gegen Wiegand nicht ſehen?

Dubsky: Hier lies ihn ordentlich durch, du follft ihn öffentlich vor- tragen! (Er zieht eine Rolle aus der Brufttafche, reicht fie Dräger): Du haft eine Stimme wie eine Blechtrompete. Damit wirft du zum Angriff blafen.

Dräger (ieſt die Aufſchrifth; Dffener Brief an Bruno Wiegand... .

Dubsty wiegt nah rege): Da kommt ja auch Marenholde! .... Saft ment noch eins! Das ift das Zündhölzchen.

Dräger riefen: Samos! .... Famos! .... Ein Treffer beim andern! . . . . Pyramidal!

Dubsky: Mach', daß du fertig wirft! Mich juckt's nach Feuerwerk!

Dräger ept nad unten): Da fangen fie ſchon damit an.

(Im der Lichtung unten werden die Lampions langſam angezündet. Fadeln werben hin- und hergefchwentt.)

Rufe im Hintergrund: Das Sonnwendfeuer! Das Sonnwendfeuer!

Andere Stimmen: Den Holzftoß anzünden! Wir wollen durchs Feuer fpringen! (Die Menge drängt nach Hinten, wo während des folgenden der Holzſtoß am Seeufer in Brand gefegt wird und hoch aufflammt.)

Dubsky (au Dräger): Ich werde alfo einen Streit mit Marenholdt pro: vozieren! Wenn ich winke, läßt du dir eine Fackel geben, damit du fehen fannft, und legft log!

Dräger (dat den Artitet überflogen): Glänzend! Du haft dich felbft über: troffen! Das ift Wiegands Todesurteil!

Dubsky: Ich gehe jegt, die Stimmung unten fondieren. (Er fteigt Im

die Lichtung hinab, läßt ſich Wein einfchenten, mifcht fih dann unter die Menge. Auf der Anhöhe rechts hat fich inzwiſchen)

Marenholdt, wer einen leichten Strandanzug trägt, zu Rafper und Dorothee gefellt und

deutet nach gegenüber): Der KRriegsrat fcheint beendigt. (Er laßt ſich auf die Ausfiht* bant nieder.)

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 395

KRafper (ibt ſcharf Hinüven): Es fieht aus, ald wenn Dräger etwas aud- wendig lernt.

Marenholdt: Vielleicht ift e8 Herrn Dubskys Aufruf an fein Bolt.

Dorothee: Ja, er hat fchon mehrmals gedroht, er wird was gegen Bruno fchreiben. Er kommt fi wie Satan in eigener Perfon vor! Man muß gleich in den Abgrund finfen, denkt er, wenn er bloß die Feder fpigt!

Rafper: Wenn das wirklich fo ein Wifch ift.. . . Ich fage weiter nicht8! Uber lang wird das nicht vorgelefen!

Dorothee (ieht ſich unruhis um): Das macht mich ganz fribbelig, daß Bruno noch immer nicht da ift!

KRafper: Er wird ſich mal ordentlich ausgelaufen haben.

Dorothee: Der Junge ift auch wie weggeblafen! Der müßte doch längft vom Turm herunter fein.

Rafper: Da kennft du ihn fchlecht! Den fiehft du nicht eher, als bis der Weinkrug oben leer ift. «er unterbricht na): Verdammtes Pad! Nicht mal die Lampions können fie richtig anzünden! Wartet, ich bring’ euch! (Er ſtuͤrmt hinunter. Im Hintergrande flammt jest der Holaftoß. Ein Reigen bat fi) darum gebildet

und umtanzt ibn mit wilden Zubel.)

Eine Männerftimme (fimmt an):

Beim lodernden Feuer am Sonnmwendtag Wir grüßen der Freiheit fern jauchzende Auen Und follen wir fallen vom Wetterfchlag, Die Ungeborenen werden fie ſchauen! (Während Paar um Paar jauchzend durch die Flammen fpringt, Öffnet fih oben das Turmfenfter.)

Medardus Neumann iftredt feinen grauen wirren Kopf heraus, umfaßt mit der £inten den neben ihm ftebenden Zürgen, fchaut laufchend Hinunter. Al der Gefang zu Ende iſt, ruft er):

Haft du’8 gehört, mein Knabe? Gie fingen meine Verſe aus jungen Tagen dort unten! So hat Medardus Neumann doch nicht umfonft gelebt! Eine Stimme: Silentium! Medardus Neumann zu Ehren wieder- holt der Chorus die Verſe noch einmal. Rundgefang, (in den alle einftimmen):

Beim lodernden Feuer am Sonnmwendtag

Wir grüßen der Freiheit fern jauchzende Auen Und follen wir fallen vom Wetterfchlag,

Die Ungeborenen werden fie fohauen!

Medardbus Neumann cam Turmfenfter zu Jürgen): Gie fingen nicht übel, die Sterblichen dort unten! .... Uber jegt fomm’, mein lociger David! Spiel’ deinem alten grauhaarigen Saul noch ein weniges auf der Harfevor! (Er zieht Ihn fort, fchließt bas Fenfter.)

Dorothee (täßt ſich in plöglicher Erfchütterung auf die Ausfichtsbant oben rechts neben Marenholdt niederfinten, drückt in ftillem aber heftigem Schluchzen das Geſicht in die Hände.)

Marenholdt cerinroden: Was haft du, Dorothee? Berubige dich doch, was ift denn gefchehen ?

Dorothee iebt auf, fucht ſich zu faftem): Es kam fo über mich! Ich weiß felbft nicht .... Ich hatte das Gefühl, dem Jungen müßte was zugeftoßen fein! Auf einmal fteht er oben am Turmfenfter und lacht! Da mußt’ ich losheulen, fo dumm es ift!

396 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Marenholdt: Wohl dem, der’3 noch fann! In den Haidefand fommt man noch früh genug!

Dorothee: Mit dem Bengel ift nämlich nicht zu fpaßen! Der macht mir nochmal irgend eine Dummheit! Vorhin hat er erft wieder fo groß- fpurige Reden geführt! Ueberhaupt ... . Eine gefegnete Speifefarte fteht einem noch bevor! Früher rappelte es dem Mann allein! Test dem Mann und dem Sungen! Gnab’ mir Gott!

Marenholdt: Es ift eben für euch alle drei die höchfte Zeit, daß ihr in rubigere . . . in mehr reguläre Verhältniffe fommt.

Dorothee: Ja, du weißt ja noch gar nicht! Die Gefchichte mit Dubsky hat fi) auch höchſt erbaulich entwickelt! Ich habe deswegen eine fhredliche Szene mit Bruno gehabt! Er hat mich in meiner ganzen Gemein- beit erkannt, will fich von mir trennen! Go eine Idee! Was mach’ ich dann ohne das Ungeheuer?

Marenholdt (rtopfe tpr lachelnd auf die Säutter): Liebe Dorothee! Das alte Gefelichaftsfpiel unter Eheleuten! Wie bei der Polfa-Mazurfa! Man trennt fich, um fich defto ftürmifcher zu vereinigen!

Dorothee: Der foll ſich unterftehn! Dann bin ich bodbeinig!

Marenholdt: Ueberhaupt immer das gleiche Geficht! Die Paare da unten finden fich, fpringen durchs Feuer und treten ab. Dann fommen neue und machen’s ihnen nad).

Dorothee: Es gibt doch auch Einfchichtige, die zufehen.

Marenholdt: Ja, e8 gibt auch Einfchichtige, die zufehen. (er deutet nad) dem See hinüber, wo gerade der Vollmond erſcheint, Wie der alte Grand-Geigneur da drüben, der gerade durch die Bäume guckt! (er fröftett, ſteht auf) Über es wird einem kühl dabei. Mein altes Reifen meldet fih. Wie wär's, wenn man hinunter ffiege, und du mir ein Brötchen zurechtmachteft? (Er greift nach Dorothees Arm.) Willft du mir deinen Arm geben, Dorothea? Es ift etwas dunkel und unficher hier.

Dorothee cäsen: Ja, ja, die Einfchichtigen! «Ste führt ihn langſam dem Weg in die Lichtung hinunter.)

Rebhbein cerise ſchüchtern auf Hedwig zu, die heiß vom Tanzen nah vorne in die Nähe des Faffes gefommen ife): Ach, wenn ich vielleicht .... Ich meine... Ich wollte...

Hedwig: Wieder Eis von mir haben? .... Unmöglich, mein Freund! Der ganze Gletfcher ift radikal aufgetaut! Das Eis ift hin, aber vielleicht, wenn bu morgen wieber nachfrägft, geftrenger Spiotenlehrer!

Rehbein: Sh ... Ich wollte nämlich... Ich meine... Ich wollte... . nicht von Eis fprechen ... .

Hedwig: Wollteft du mich vielleicht um einen Tanz bitten?

Rebhbein (eventun): Tanzen ... Tanzen? ... Das möchte... Das dürfte feine Bedenken haben! Uber vielleicht ..... wenn es erlaubt iſt . . . zufammen durchs (Feuer fpringen!

Hedwig (ausgetafien: Bravo, mein Freund! Springen wir miteinander durch Feuer!

Lanzinger (Hat fi den beiden von hinten genähert, tritt zu Hedwig): Dürfte ich dich um ein paar Worte unter vier Augen bitten?

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 397

H edwi g (muftert ihn talk): Du mich? Rein! (Sie wendet fi zu Rehbein): Schnell, mein Freund! Sonſt brennt ung der Holzftoß herunter!

Rehbein au Lanzingen: Ent... Entfchuldige . . . bitte!

Hedwig Hm fortziependy: Wie war das doch mit dem Traum, den man einmal geträumt haben muß, Herr Fpiotenlehrer? (Sie gehen nach hinten zum Feuer.)

9 u b 8 fy (der fih in ber Menge binten umgefeben bat, näbert fi dem Vordergrunde).

Frau Römerfhmidt cam Arm von Marquardt, hält ihn an): Wie amüfierft du dich, infernalifcher Luzifer, und warum fo gar nicht im Koſtüm

Dubsky: Luzifer ift fich felbit Roftüm und Maske genug, liebe Römerfchmibdt.

Frau Römerfhmidt: Deine Logik ift fchlagend wie immer!

Dubsky: Wir wollen einmal die Probe aufs Erempel machen! (&r gebt auf

Marenholdt (gu, der jegt mit Dorothee am Buffet rechts fteht und ein Brötchen

).

QDubsty (steht den Hut, fpricht das folgende mit ſtarker, lauter Betonung): Guten Abend, Herr Baron von Marenholdt!

Marenholdt wien ebenfalls den Sud: Ah, guten Abend, Herr Dubsty!

Dubsky: Man wundert fi) ein wenig, Herr Baron von Maren- holdt ee (Er Hält inne, fieht ihn mit herausfordernder Verfniffenheit an.)

Marenholdt Gat fi fofore gefaßt, fpricht mit Fühler, ironiſcher Referve): GO? Wundert man ſich? ... Na ja, warum denn nicht, Herr Dubskyl

Dubsky: Es fcheint, ih muß deutlicher werden!

Marenholdt: Bitte gern! Deutlichkeit ift die Tugend der An— fpruchslofen.

Dubsky (mit zunehmender Schärfe): Man wundert ih, Herr Baron von Marenholdt, Sie hier in diefem Kreife zu ſehen!

Marenholdt: Ich wundere mich vielleicht auch, den oder jenen hier zu fehen, Herr Dubsty! Das Erftaunen fcheint gegenfeitig!

Dubsky: Nur mit dem Lnterfchiede, daß unfer Hierfein durch die Zugehörigkeit zu unferer Gemeinfchaft legitimiert ift, Sie dagegen, Herr Baron von Marenholdt, ſich in diefe Gefellfhaft eingefchlichen haben! (Die Menge bat ih bei dem Wortwechfel langfam nach vorne gedrängt, umgibt bie beiden Beteiligten

in dichtem reife.)

Dräger (ringe auf die Anhöhe lints, ruft fhmetternd): Bravo, Dubskfy! Bravo!

Zahlreihe Stimmen (in der Menge): Bravo! Bravo! Hört! Hört!

Rafp Er chat fich Durch den Kreis hindurch gedrängt, wendet fich zurüd): Ruhe! In Teufels Mamen! Oder . . .! ıMurren im Hintergrund.)

Dubsky: Haben Sie feine Antwort auf meine Frage, Herr Baron?

Marenboldt (greihmärs): Was fragten Sie mich eigentlich, Herr Dubsty? Es ift mir wirklich ſchon wieder entfallen.

Dubsky: Sie feheinen fehr fchwach von Gedächtnis, Herr Baron!

Marenholdt: Mein Gott, fo unintereffante Dinge . . .! Lebrigeng eine Schwäche, für die ich wohl niemandem Rechenfchaft fchuldig bin ?

Dubsky: Ich wiederhole alfo, daß Sie fich hier eingefchlichen haben, Herr Baron von Marenholdt! (Es ift mäuschenftiu geworben.)

Marenholdt: Ueber diefe Frage, Herr Dubsky, nehme ich Beleh—

398 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

rungen nur von dem an, deffen Gaft ich hier bin. Mich mit Ihnen da- rüber zu unterhalten verbietet mir meine Erziehung.

Dubsky (mit ünerfhnappender Stimme): Haben die Herren gehört? Der Baron von Marenholdt fpielt feine Erziehung gegen unfere aus! Der Baron von Marenholdt fest fi uns Infelgenoffen gegenüber aufs hohe arifto: fratifche Roß!

Rufe: Ho! Ho! Unverfehämt!

KRafper die andrängende Menge zurüchattend): Zurück! Wer ihm zu nahe tritt, den mach’ ich zu Brei!

Reh bein (einen Schritt aus der lärmenden Menge vor, zu Dubstyp): Sch meine ... Sch wollte ſagen ...

Dubsty: Du mollteft fagen, daß du mir recht gibft, lieber Rehbein Ich danke dir!

Rehbein mir Anftrengungi: Ich . . . Ich wollte das Gegenteil fagen. (Er teitt wieder zurüd. Lachen in der Menge.)

Eine Stimme: Bravo, Rehbein! Forcht dich net.

Marquardt (aus der Menge heraus zu Dubsty): Es tät’ fchon gut, wenn alles mehr in Ruhe gefchehen tät’! Immer nad) Recht und Gerechtigkeit!

Schägli-Stüfli (er an dem Faß geblieben ift, ſchwentt den Sumpen): Profit, Kinder! DBertragt euch! Und trinkt! Trinkt! Unſer Leben dauert zwei Gefunden, fagt Hafis der Weife, eine zum Lieben, und eine zum Trinten! Denn in der dritten find wir tot!

Biele Stimmen: Scheit Ibrahim hat recht! Profit! Profit! (Die Menge beginnt zurüdgufluten.)

Dubsky: Afo gut! Wenn fi) die Herren die Unverfchämtheiten diefes Einfchleichers länger gefallen laflen wollen ... . (Er deutet auf Marenpoßt)

Dorothee dit bisher von Marenholdt und Kafper mühfam zurückgehalten worden, reift fich 108, ſtürzt auf Dubsty zu): Wie kommſt du dazu, unfern Gaft zu beleidigen! Qu, ber feit Jahren in unferm Haufe herumlungert. (Bet diefen Worten beit wilder Lärm aus. Ziſchen, Pfeifen, fhüchternes Händellatfchen.)

Braufende Rufe: Unerhört! Zurüdnehmen!

Dubsky ciretenyy: Der Geldfadftandpunft, meine Herren! Go ent- widelt man fi zum Minifter! Und diefer Spigel da...

Wildes Lärmen: Ein Spigell Ein Spigel!

Dorothee (außer fih vor Dubsty): Du . . .! Du... .!

Marenholdt wapiigentretenn): So geht das nicht, liebe Dorothee! Dies ift meine Sache! er tritt dicht vor Dubsty, mit ſchneidender Kätte,) ch würde Ihnen die gebührende Antwort erteilen, wenn ich Handfchuhe angezogen hätte ....

Dubsky (uce ſich wie ein geprügelter Sund, ſchreity: Er will mich ſchlagen! Nehmt mich in Schutz! Schlagen will er mich!

(Er wird von der Menge umringt.)

Dubsky: Ich danke euch, ihr Freunde! Ich danke euch! Ihr wißt, was hinter den Auliffen vorgeht! Man will fich alfo wieder einmal häuten! Man will fih wieder einmal entwideln! Und diesmal gleich gründlich! Aus dem alten Revolutionär foll ein veritabler Minifter werden!

Rufe: Pfuil Nieder mit Wiegand! Pfui!

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 399

Dubsky: PVorläufig hoffe ich noch, daß es fih nur um eine akute Geiftesverblendung meines alten Freundes Bruno Wiegand handelt .... Rafper qu Doropee): Es gefchieht noch was! (er just müpfem an fi zu Halten.)

Rufe: Ausreden laffen! Wir ftehn für Dubsty!

Dubskhy (dar Dräger mehrmals vergeblich zugewinkt, ſchreit ihn jegt gang laut an): In Satans Namen! So fang doch an!

Dräger (auf der Anhöhe links, ſchwenkt Dubstys Manuftript in der Luft, ruft mit ſchmet ternder Stimme): Gilentium, Genoffen! GSilentium! Gilentium für einen wid tigen Brief!

Viele Stimmen: GSilentium! Ein Brief! Ein Brief! Still! Still! Ruhe!

Dräger «wie vorge: Ein Brief von einem unfer prominenteften Genofjen!

Stimmen: Bon Dubsty! Er ift von Dubsky! Hört! Hört! Ruhe!

(Murmeln in der Menge). Dubsty: Gebt ihm doch eine Tadel, damit er lefen kann, Ihr Herren! Stimmen: Eine Fadel! Eine Fadel! «Eine Facel wird Dräger hinaufgereicht.) Dräger («cwingt die Faden: Die Fadel der Freiheit, Genoffen! Braufende Rufe: Die Fadel der Freiheit! Bravo! Bravo! Dräg er (entfalter die Rolle, fchmettert mit erhobener Fackel): Dffener Brief an Bruno Wiegand oder wie man Minifter in Tellenburg wird ...

(In biefem Augenblick wirb ihm die Fackel aus der Hand geriffen.)

Ra ſp er Uſt mit ein paar gewaltigen Sägen durch die Menge hindurch auf die Anhöhe lints geftürmt, ruft mit dröhmender Stimme): Hinter dem Rüden von Bruno Wiegand werben bier feine offenen Briefe an ihn vorgelefen! «er ftößt die entriffene Fadel auf den Boden, daß ſie erlifcht.)

Dubsky (fchreiend, aber in ficherer Entfernung): Er bat die Fadel der Frei⸗ heit ausgelöfcht!

Wilde Stimmen: Die Fadel der Freiheit ausgelöfcht! «Die Menge

ftürmt gegen Kaſper an. Ein kurzes wildes Handgemenge entipinnt fi. Stöde werben gefchwungen, Fackeln gefhwentt. Schreien und Lärm.)

Die Moritura (iM während des Vorgehenden auf der Anhöhe rechts erſchienen und mit wilden, befchiwörenden Geften den Waldweg hinunter zur Schaufpielergruppe geftürmt, die eng aufammengebrängt fich ganz rechts hält. Man flebt, wie von der andern Seite Marenbolbt und Doro thee auf Lothario einiprechen, und wie diefer den beiden Pofaunenbläfern zuminft. Gleich darauf er- tönen in Das Sandgemenge hinein dumpfe Pofaunenklänge.)

Rufe: Die Pofaunen! Die Pofaunen! (Das Sandgemenge läßt nad, der Lärm beginnt fich zu legen.)

Loth ario (mie Stentorftimme): Meine Damen und Herren! Edle Zufunfts- apoftel! Die Vorftellung beginnt! Stöde, Schlagringe und Revolver, bitte, in der Garderobe abzugeben! (Augemeines Gelächter. Cs wird ruhiger.)

Die Moritura dammend): Mein Wert! Mein armes Werk! Jetzt in der Stimmung foll gefpielt werden!

Dubsky (mürend): Laß das Geflenn! Wir haben jest feine Zeit für KRindereien!

Die Moritura qab auffaprend): Kindereien?! «Sie ſturzt auf Dubsty 108, otde ihm zwei räftige Maulſchelen; Da! Und da! (es if ganz ftilt geworden.)

Dubsky (mir ſich die Baden ad, fletſcht die Zäpne): Ich danke dir für deine Aufmerkjamfeit! Sie hat mir frifche Kraft gegeben! (Angemeines Gelächter.)

Rufe: Bravo, Dubsky! Bravo, Moritural Vertragt euch!

400 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Lothario (mapnend): Die Vorftellung, meine Herren, die Vorftellung !

Eine Stimme: Erft den Brief an Wiegand vorlefen! Wir wollen den Brief an Wiegand hören!

Diele Stimmen: Ja, ja! Den Brief an Wiegand! Den Brief! Erft den Brief!

KRafper (ropend aufgerihten: Wer den Brief vorlieft, ehe Bruno Wie-

gand da ift, fol feine Knochen vorher zählen! «er ſchüttelt die Fäufte gegen die Menge. Neuer Lärm und Gefchrei.)

iegand (it fhon während der Iehten Reden auf der Anhöhe rechts oben erfchienen,

ohne bemerkt yu werden, da alle® nad Unks drängt, ruft Über die Köpfe der Menge Kafper zu): Der Adreflat des DBriefes ift zur Stelle!

Dräger (chreit von lints her): Jetzt wird man ja fehen, ob es bier bloß noch das Recht zum Maulhalten gibt!

Wiegand rauf Halter Höhe des Warnweges): Genoffen! Was geht euch vor? Ein papierner Brief oder ein Menſch von Fleifh und Blut? Hier ftehe ih und bitte euch: Hört erft mich! Und dann den Brief! Ich habe die legten Tage hart gekämpft! Könnt’ ich mit einer Haren Entfcheidung vor Euch Hintreten, fo würde es mir wohl leichter ums Herz fein. Uber noch feh’ ich nicht Weg und nicht Ziel! Ich habe manches gegen euch auf dem Herzen wie ihr gegen mich! Deshalb müſſen wir zuerft ung ausfprechen! Müffen Abrechnung halten! Müffen reinen Tiſch miteinander machen!

Stimmen: Ja, Wiegand fol fprehen! Wiegand foll fprechen!

Dräger (cqhreiendd: Zur Gefchäftsordnung! Mein Brief geht vor! Ich habe mich eher zum Wort gemeldet! Ich proteftiere!

Andere Stimmen: Jawohl! Erft den Brief! Erft den Brief!

Wiegand: Ich bitt' euch, Freunde, laßt mich fprehen! Mein Herz ift übervoll! Wenn ich mich diesmal in euch täuſche....

Dubsky: Ich meinerfeitd bitte um Abſtimmung! Oder ſoll wieder einmal die Mehrheit vor dem Willen eines Einzelnen fapitulieren ?

Diele Stimmen: Bravo, Dubsky! Abftimmen ! Abftimmen!

Medardus Neumann (ift Hinten am Fuß des Turmes erfehienen, kommt mit dem Weinfrug in ber Hand nad vorne.)

Rufe: Medardus Neumann! Bruder Medardus ! Eine Stimme: Medardus Neumann foll entfcheiden ! (Eachen und Hänbeflatfchen.) Medardus Neumann (mir Gradesftimme): Welch Waffenklirren bier unten in der Tiefe! Welch rauhe Worte! Widriges Getümmel! O ewige

Klarheit meiner Höhen! Wäre nicht der Opferkrug zur Neige gegangen... (Er deutet auf feinen Weinkrug.)

Doro th ce (bat Medardus Neumann wie eine Erfcheinung angeftarrt, ftürzt jest auf ihn au): Und Fürgen? Wo iſt denn Jürgen? Wo haft du denn meinen Jungen gelaffen?

Medardbus Neumann: Nach deinem entfchwundenen Rnaben fragft du, ahnungsvolle Raffandra?

Dorothee tar ihn an): Verſchwunden ift er, fagft du? Menſch, bift du von Sinnen? Verſchwunden, fagft du? |

Medardbus Neumann: Entſchwunden fagt’ ich, geftrenge Hüterin! Entſchwunden deinem leiblichen Geficht! Doch nicht verfchwunden! Denn was verjchwände wohl im ewigen Haushalt der Natur!

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 401

Dorothee wor isn): Willft du mich rafend machen, Menſch? Ent— fhwunden oder verfchiwunden! Ich frage dich, wo er ift? Lebt er über- haupt noch? Ia oder nein, du Sammerbild! Eie ſchuttelt ihn heftig.)

Medardus Neumann: Gnade, Löwenmutter! Gnade! Er lebt! Er lebt!

Dorothee: Er lebt! Das fprach dein guter Geift für dich! Er lebt, aber wo lebt er? Wo haft du ihn gelaffen? Antwort, Unglüdswurm!

(Sie ftebt drohend vor ibm.)

Medardbus Neumann: Antwort heifcheft du? Weißt du denn, ob nicht ein fiebenfacher Schwur mir den Mund verfiegelt? Soll ich die Rache der Unterirdifchen auf mein graues Haupt rufen?

Wi egan d (Hat big jegt fchweigenb, ohne recht zu verſtehen, zugebört, tritt auf Die Gruppe zu): Es handelt fi) um Jürgen! Was ift gefchehen? Verſchwunden fol er fein?

Dorothee: Du hörſt 28 ja, entfchwunden! Frag’ ihn doch felbft, den alten Unglüdsraben! Vor einer PViertelftunde haben fie fih oben am Fenfter noch in den Armen gelegen! Ich hab’ gleich nicht? gutes gedacht! (Zu Medardus Neumann): Vorwärts, gebeichtet! Oder gnad’ dir Gott!

Wiegand: Ja, ohne Umſchweife, lieber Neumann! Was ift dir befannt? Wo ging er von dir aus hin?

Medardus Neumann: Medardus Neumann hat gefchworen, und fein Schwur ift heilig! Uber fragt die Wogen, die des Weltumfeglers Kahn tragen! Fragt die Möwen, die feinen Maft umkreifchen! Fragt den Mondftrahl, der in feinem Segel blinkt!

Wiegand (nad einem Augendtit): Das heißt alfo auf gut deutfch: Der Zunge hat Reißaus genommen!

Dorothee: Ja, in fein Boot hat er fich gefegt und ift auf den See und fort! est ift mir alles Kar! Die Ahnung hab’ ich gehabt!

Medardug Neumann dest die Sand auf ihre Schulter): Trockne deine Tränen, fchmerzenvolle Niobe! Dein Rolumbus wird einft ruhmgekrönt ins Vaterhaus zurückkehren! Er hat es mir in der heiligen Stunde des Abſchieds gelobt!

Dorothee (ohne auf ihn zu hören, zu Wiegand): Die Nacht iſt klar, Gott ſei Dank! Und der See ſpiegelblank! Wir müſſen ihm nach! Was ſtehſt du da und ſprichſt kein Wort? Siehſt du! Das iſt deine geliebte Seglerei und Kahnfahrerei!

Wiegand mer, wie von einem Gedanken überfallen und mit ihm ringend, grübleriſch vor ſich dinfiepn: Der Junge hat Reißaus genommen. Der erfte, der von der Infel der Seligen Reißaus genommen hat! Der erfte, der den Mut dazu gehabt hat!

Dorothee: Ja, ich weiß, weshalb er’s getan hat! Test weiß ich's!

Wiegand (au Medardus Neumann): Was gab er denn als Grund für feine Flucht an?

Medardug Neumann: Dunkle Rätfelworte! Forfcht nicht weiter! Treue halt’ ich dem Freund!

Dorothee (ahrt auf ihn 18): Dir hat er's anvertraut! Und du haft ihn ziehen laffen! Haft ihn momöglich noch binausdeflamiert! D, was feid ihr für eine Menfchheit!

Süddeutſche Monatshefte. II, 11. 26

402 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Medardus Neumann (sgefräntg: Wandern warb uns als Eos auf Erden geworfen! Bin ich ein Gott, daß ich es wenden kann?

Wiegand (dar fi währenddes mit Nafper und Marenboldt beſprochen).

Rafper ceitt nad Hinten zum Bootshaus, verſchwindet dort).

Dorothee: Wir müfjen ihm nah! Wir müfjen ihn einholen!

Marenholdt: Ja, man muß den See abfuchen!

Dubsky: Es könnte ja auch eine bloße Spazierfahrt * und der ganze Lärm wäre unnütz.

Dorothee Werde: Ach dul Sei du doch ſtill!

Dubsky: Ich waſche meine Hände in Anſchuld.

Dorothee: Schwöre doch beim Grabe deiner Mutter! Ich warte ſchon darauf!

Dubsky Wendet ſich achſelzuckend ab).

Wiegand: Wenn er wirklich über den See gegangen iſt, muß ein Boot im Bootshaus fehlen. Drei lagen da! (Zu Kaſper, der eilends von hinten zurüctommn: Nun, wie fteht'8?

Rafper: Möwe und Eisoogel find dal Die Utopia fehlt.

Dorothee: Die Utopia! Das ift fein Kahn! Damit ift er hinaus!

Wiegand: Ja, alfo hinterher und alle Segel aufgefegt! (zu une): Du nimmft den Eisvogel, ich die Möwe! (er win fort.)

Dorothee (auft ihm nad).

Wiegand: Weib, was willft du?

Dorothee: Ich bin feine Mutter! Ich fahre mit!

Wiegand: Es kann eine lange Fahrt werden, Dorotheel

Dorothee: Iſt es die erfte Fahrt, die wir zufammen machen, Bruno?

Wiegand: Und wird auch nicht die legte Fahrt fein! Alfo auf!

Berfhiedene Stimmen: Wir fahren auch mit! Wir helfen!

Kaſper: Niemand von euch kommt mit! Wir brauchen niemand weiter!

Marenholdt (ritt zu ihm: Uber mit mir bitte ich eine Ausnahme zu machen. Ich bin nämlich eine alte Waflerratte, und fo eine Mondjchein: partie in der Johannisnacht ....

Rafper: Sie find mein Mann! Vorwärts! (eitends mit Marenhomt nad hinten zu ab.)

Wiegand (chn Hinten, wendet ſich noch einmal, ruft zuruch: Wenn mir und wiederfehen, wird abgerechnet! (mit Dorothee ab.)

Die Moritura qu Eotbario): Und mein Wert? Was wird aus meinem Wert?

Lothario: Wenn die Wirklichkeit auf die Scene tritt, geehrte Dichterin, dann fchweigen alle Flöten! Die Vorftellung wird abgefagt!

Die Moritura (fintt achzend auf die Banf).

Rufe und Lärm um Sintergrund): Hoiho! Hollaho! Abſtoßen! Ab⸗ ftoßen .... Sie fahren! Gie fahren! Holtriaho!

Borhang.

Bierter Aufzug.

Bartenfaal in Wiegands Landhaus wie im erften Aufzug.

Es tft einige Stunden nach dem dritten Aufzug, fpät in der Nacht. Der Saal iſt heil erleuchtet. Die Schiebetüren im Hintergrunde find geöffnet. Der Vollmond liegt Über Garten und See. Gegen Schluß des Aufzugs graut der Morgen. Grüblicht breitet fih über die Welt.

Bet Beginn des Aufzugs hört man aus weiter Ferne Muſik, Gefang und gebämpften Lärm.

Dubsty fteht an der Rüdjelte des Diplomatentifches. Vor ihm nad) ber Veranda zu an der Epige einer Deputation Dräger, Marquardt und Rafumoff. Alle noch in ihren Koftümen, fiber- näcdtig und zum Teil angebeitert.

Margardt: Wenn es wahr ift, mas der Genofje Dubsky erzählt, daß ihm ein lumpiger Minifterpoften mehr wert ift als wie feine heilige eberzeugung, dann fag’ ich auch pfui!

Dubsky: Sehr gut gefprochen, mein lieber Marquardt! ben des- halb ift es nötig, daß ich Wiegand in eurem Namen das Gewiſſen fchärfe.

Marquardt: Ja, wir haben dir dag Mandat übertragen. Es ift mancher dagegen gemwefen. Ich auch! Damit du's wiffen tuft! Uber die Mehrheit hat’s gewollt! Schön! Alſo, nu mad) du deine Sache fo gut wie du fannft und bedenf” immer, daß es ein alter bewährter Genofle ift.

Dubky: Ich danfe dir, mein guter Marquardt! Ihr alle feid ja vorher bei der DVorlefung meines offenen Briefe an Bruno Wiegand zugegen geweſen.

Stimmen: Ja, jal Sehr gut! Gehr gut!

Marquardt: Das hat mir auch nicht gefallen, daß da nicht ift ge- wartet worden, bis Wiegand zurüd ift.

Dubsky: Es mußte fein. Die Menge wünfchte e8. «Er Hort nad draußen.) Sft das der Lärm vom Feftplag?

Dräger: Natürlih! Sie haben ja wieder angefangen, zu ſchwofen. Der eigentlihe Rummel geht jest erft los!

Dubsky: Es ift zwifchen zwei und drei Uhr morgens.

Rafumoff: Die Zeit, wo gemütlich wird, Brüderchen!

H edwig (tommt ſchnell die Treppe heraufgelaufen).

Dubsky: Nun, wie ſteht es, liebe Hedwig? Du bringſt gute Nachricht?

Hedwig: Ja, fie find da! Gie find da!

Dräger: Mit oder ohne?

Hedwig: Mit! Mitl Sie haben ihn gefunden!

Marquardt: Dann ift e8 man gut! Nu können wir ja gehn!

Dubsky (fe Hinaustompfimentierend): Jal Die Herrfchaften fönnen ſich durchaus und durchum auf mich verlaſſen. Wer mich kennt, weiß, daß ich offizielle Mandate ſtets ſehr ernſt zu nehmen pflege.

Dräger, Marquardt und Rafumoff (mie der Deputation gehen die Treppe Hinunter und links hinten ab).

Hedwig am Dusery: Na und du? Gebft du nicht?

404 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Dubsky: Ich werde dir Gefellichaft leiften, bi8 Bruno kommt.

Hedwig (muftert ipn ſchweigend).

Dubsky äpnefteripend): Der Junge ift alfo wieder eingefangen! Be dauerft du das nicht auch, liebe Hedwig?

Hedwig: Ich? Wiefo?

Dubsky: Die Erziehung durch das Leben märe doch taufendmal günffiger für ihn geweſen, als die im Elternhaus! Sieh mich an!

Hedwig: Das Beifpiel feheint mir nicht gerade überzeugend.

Dubsky: Meine Lebensfchicfale haben vor allem jede Spur von Sentimentalität bei mir ausgetilgt. Ich betrachte das als einen Vorzug. (Da Hedwig ihn immer ſchweigend muftere.) Du mufterft mich ?

Hedwig: Bruno und Dorothee fünnen jeden Augenblick da fein. Willft du fie etwa bier erwarten?

Dubsky: Allerdings! Meine Miffion verträgt keinen Aufjchub! Diefem Heren Baron muß fchleunigft das Handwerk gelegt werden.

Hedwig: Laß Bruno wenigftens erft zu ſich fommen! Geh fo lange in die Bibliothek nebenan!

Dubsky cargwögniig): Es ſteckt doch keine Falle dahinter?

Hedwig: Alfo dann bleib’ hier!

Dubsky: Schon gut! Es fcheint mir auch beffer, ich geh’ vorläufig.

Hedwig: Ich werde Bruno fagen, daß du nebenan warteft.

Dubsky: Ich danke dir. (Rechts in die Bücherei ad.)

Hedwig (geht auf die Veranda Hinaus, ruft mit halblauter Stimme nach rechts): Pſt, Dorothee! Pt! Ihr fünnt fommen, die Luft ift rein!

Dorothee (cerſcheint rechts an der Treppe): Iſt Dubsky drinnen?

Hedwig: Ich babe ihn in die Bibliothek abgefchoben.

Dorothee (kommt die Treppe perauf: Ich kann den Menfchen nicht mehr fehen! Mir wird übel, wenn ich bloß am ihn denke! «Ste tritt im den Saat.)

Hedwig: Wo iff denn Jürgen?

Dorothee: Mit Bruno! Sie machen noch das Boot feſt. Wir haben ja gleich bier unten angelegt. «Ste borcht nach draußen, wo wieder aus weiter Ferne Muflt und Gefang ertönen): Einen netten Speftafel fcheinen die noch zu machen!

Hedwig: Der richtige Herenfabbath, ja! So eine Art von Götter: dämmerung! Weltuntergangsftimmung! Die Infel der GSeligen wird zu Grabe geläutet!

Wiegand und Gürg en (find fchnell durch den Garten gefommen, fteigen bie De ranbatreppe berauf).

Hedwig däuft innen entgegen, ruft Zürgen zu): Alſo, du großartiger Welt: umfegler! Du KRolumbus, wie Medardus Neumann dich nannte!

Jürgen (ärgertih): Dem werd’ ich auch noch mal was erzählen! Wenn der mich nicht verraten hätte!

Dorothee: Dann fünnten wir jegt noch auf dem See herumlfariolen! Ein reizender Gedanfe!

Wi eg and (gebt nachdentlih auf und ab, bleibt vor Dorothee ftehen): Siehft du, Weib, dein viel verläfterter Medardus Neumann!

Dorothee: Ia, dafür Könnt’ ich ihm einen Ruß geben! Das heiht, wenn er fich ordentlich abgefeift hat!

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 405

Hedwig wor Jürgen): Alſo, jegt laß dich mal betrachten, du Abenteurer!

Jürgen (tät ſich zögernd Hereinziehen): Ihr guckt mich alle fo an! Wie fo 'n gefangener GSeeräuber fommt man ſich vor! Oder wie ein Feuerfrefler auf dem Sahrmarkt!

Dorothee: Fehlt bloß noch der Ring durch die Nafe! Den kriegft du nächſtens angelegt!

Hedwig dipn weiter Hereinziehend): So komm doch näher!

Fürgen (deventih): Ich weiß nicht .... Vater macht fo ein Geficht

. Er hat auch noch fein Wort mit mir gefprochen ....

Hedwig: Junge, du wirft doch nicht Angſt haben!

Zürgen: Alfo gut! Da bin ich! (Er fommt entihloffen in die Mitte bes Saales.)

Wiegand: Jeder muß für feine Taten einftehen!

Dorothee citeue ſich vor Jürgen): Uber nicht um drei Uhr früh! Der Zunge ift fünf Stunden auf dem See gemwefen und hat Hunger!

Zürgen: Und Durft auch!

Dorothee: Trink Wafler! Hätteft du heut abend nicht fo lang am Faß gelegen, wäreft du gar nicht auf folche Tollheiten gelommen!

Wiegand riet vor Jürgen Hin): Jürgen, weshalb haft du ung das an- getan?

Fürgen (tocend: Weil ich’8 nicht mehr hier ausgehalten hab’! Weil's mich mit Gewalt geriffen bat!

Wiegand (forisenny: Iſt das der ganze Grund? Prüf dich mal felbft?

Zürgen: Haft du nicht neulich auch gefagt, fo ing Unbekannte fegeln, das ift fein? Na ja, da hab’ ich's probiert!

Dorothee (ropt Wiegand mit dem Finger): Hörft du’s, Mann?

Wiegand (weiter forſchend. Und das ift der ganze Grund?

Dorothee inet einfattend): Ich weiß beffer, was der Grund ift!

Jürgen wert): Ich fprech’ doch jegt mit dem Vater!

Dorothee igeärgern: Meinetwegen! Sperrt euch in die Gummizelle ein, wenn ihr folche Geheimniffe habt! Nächſtens bitt’ ich dich um einen Erlaubnisfchein, ob ich diefelbe Luft mit euch atmen darf.

Wiegand qu Zürgem: Alſo romantifcher Dufel! Planlofe Phantafterei! Und deshalb läufft du fort und machft deinen Eltern Sorge und Ärger! Als ob man nicht fchon genug auf feinem Kopf hätte! (Er wendet fi ad.)

Jürgen (unwintürtb): Eben darum!

Wiegand irebt fi intereifiert um): Was foll das heißen?

Jürgen weristofren): Ach nichts!

Dorothee: Na, fo ſag's doch, dummer Junge! Mac dich doch nicht fchlechter, als du bift.

Jürgen (derauswürgend):: Ich hab's nicht mehr mit anfehen können, wie du dich bier aufregft und doch nichts davon haft! Die Mutter hat auch) gefhimpft, daß das fein Ende nimmt!

Wiegand (droht Dorothee mit dem Finger): Hörft du, Weib?

Jürgen: Da hab ich mir gedadht ....

Wiegand: Na?

Jürgen: Aber du mußt mich nicht auslachen!

Wiegand: Nein! Nein! Nur heraus mit der Sprache!

406 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Jürgen: Ihr fprecht bier doch immer fo viel von der Macht des Beifpield. Da hab’ ich mir gedacht, ich will dir auch mal ein Beifpiel geben „0.0. (Er ftodt, fieht unrubig vom einen zum andern.)

Wiegand (mwieverpots ſeht nachdentlich: Du haft dir gedacht, du willft mir ein Beifpiel geben .... Alſo doch! (Er macht ein paar Schritte.)

Dorothee (riumppierend): Hörft du’s, Mann?

Hedwig (tospiagend): Gottvoll bift du, Jungel!

Wiegand (immer in feinen Gedanten): Alſo wirklich und wahrhaftig mir ein Beifpiel geben?

Jürgen: Ja, weil du dann vielleicht leichter von hier forttommft! est ift e8 ja zu Wafler geworden! Der verdammte Medardus Neumann! Ich glaub’ ficher, ich hätte dich hinausgebracht!

Wiegand: Junge! Junge! Auf was für einem Miftbeet mag ber Gedanke wohl gewachfen fein!

Fürgen (mutigen: Na, das bejte wär's doch für ung alle, Vater! Frage nur Mutter!

Wiegand (ayend): Ja, ja, was das wohl für ein Miftbeet fein mag!

Dorothee: 3, wer will all’ die Beete mitten in der Nacht fo unter- fheiden! (Zu Jürgen): Vorwärts, marfch ins Bett mit dir! Volksreden kannt du morgen halten! Eie ſchiebt ihn zur Türe links.)

Jürgen (ion an der Tür): Das ift noch gnädig abgegangen !

Dorothee: Laß dir von Bärbeli was geben! Ich komm’ gleich nad! (Sie fehtebt ibn hinaus, fchließt die Tür hinter ihm, wendet fi mit komiſcher Gebärbe zu Wiegand)!

D Sohn feines Vaters!

Wiegand (ift nachdenklich auf- und abgegangen, fieht Lächelnd auf): Ich dente, man kann die Beete mitten in der: Nacht nicht fo unterfcheiden ?

Dorothee <eragitomiis): Das Beet kenn' ich ganz genau! Wie hieß es doch, was der Zunge an den Kopf befam? Romantifcher Dufel! Phan- tafterei! Ich hab’ im ftillen wirklich lachen müflen! Was haben denn Herr Bruno Wiegand eigentlich Ihr ganzes Leben lang betrieben? (Ste trict dicht an ihn heran, tippt ihm auf die Stirn): D Phantaft! D Don Auifchote!

Wi ega nd (bat im inneren Ringen Dageftanden, ohne viel auf Dorothee zu hören, wieber- Hofe wie mie zunehmender Befreiung): Ein Beifpiel hat er mir geben wollen! ...- Alſo hab’ ich’8 doch richtig ausgelegt!

Dorothee: Ja, Kinder und Narren fprechen die Wahrheit! Daran dent! Die Närrin nehm’ ich fchlimmftenfalls auf mic).

Wiegand (macht langſam ein paar Schritte, bleibt dann vor Dorothee und Hedmig fteben, ſeht ernft und naprüdtih): Meiner von ung allen bat es noch gewagt! Per vierzehnjährige Junge hat den Anfang machen müffen!

Jür gen (ftredt feinen Kopf durch die Tür links): Mutter P ich babe einen Mordshunger, und Bärbeli und Afra find beide zum Tanzen ausgefligt! (Er zieht fih aurüd.)

Dorothee: Na warte! Die fligen mir nicht mehr langel «ste täuft zur Tür linke.)

Wiegand (rachſend mit voller Erleuchtung): Die Jugend fehrt fich von der Infel der Seligen ab! Die Jugend fucht den Weg zur Tat zurüd! Gollte das der Sinn fein?

Mar Halbe: Die Infel der Geligen. 407

Dorothee (ion in der Tür): Alſo dann geh hin und mach's der Jugend nad ! (Schnell ab.)

Wiegand (in ftarter Bewegung): Und wenn er 's nun wirklich wäre, der neue Weg? Der langgefuchte? Wenn der Zunge in feherifcher Blindheit ihn vorangegangen wäre? Wenn das Schicjal mir durch den Unmündigen hätte zurufen wollen: dort, dort, dort liegt deine Zukunft! Dort winkt das Land, wo deine Kinder Hütten bauen follen! (Er gept mit großen Schritten auf und ab).

Hedwi g (im Begriff, Dorothee zu folgen, bleibt an einem Sefſel vorn links ſtehen): Weißt du, daß ich dir fehr böfe gewefen bin, Bruno?

Wiegand (erftaung: Du mir? Wiefo?

Hedwig mit gefenttem wopp: Weil du den... . neuen Weg einfchlagen willft! Es erfchien mir wie ein Treubruch!

Wiegand: Ich kenne nur den Treubruch gegen mich felbft, und den würde ich nie begeben!

Hedwig (immer mie gefenttem Kopp: Alſo andern braucht man die Treue nicht zu halten?

Wiegand: Die Treue, die andere von ung verlangen, ift gewöhnlich nur der Widerfchein ihrer eigenen Wünfche und Ideen. Man macht fich ein Idol und wundert fich dann, wenn es an der Wirklichkeit zu Scherben geht!

Hedwig: Man macht fih ein Idol .... (Sie feufze tief auf.) Ja, jal

Wiegand: Entfchieden ift übrigens noch nichts!

Hedwig: Es ift entfchieden! Ich kenne dich beſſer ald du dich felbft! @eife): Trog des zertrümmerten Idols!

Wiegand: Und.du zürnft mir nicht mehr?

Hedwig: Nein! Ich habe einen guten Lehrer gefunden! Der hat mir die Augen geöffnet! Er ftottert zwar ein bißchen....

Wiegand: Ab, ich weiß!

Hedwig: Ja, feine Zunge ift ſchwer! Uber fein Geift ift leicht und freil

Wiegand (reihe ipr die Sand): ch freue mich, daß du den Lehrer ge- funden haft, den du brauchft, Hedwig.

Hedwig (m feine Sand einfhlagend): Und ich danke dir, Bruno, für den Traum, den du mich haft träumen laffen!

Wiegand Gebt fie verwundert an): Den Traum?

Hedwig: Ja, er ift zu Ende, aber ich hab’ ihn doch geträumt .... Und das ift die Hauptfache, fagt mein Lehrer. (Sie geht zur Tür Links.)

Marenholdt und Kaſper (find von rechts Her aus dem Garten die Treppe herauf- gelommen und über die Veranda in den Gaal eingetreten).

Wiegand (gebt freudig auf fie zw: Alſo, liebe Freunde! Wir haben ung vorher nur von ferne, fozufagen auf Seeweite zurufen und verftändigen können.

Marenholdt (acheind): Das geht doch meiftens im Leben fo! Die PBerftändigung auf Sehweite oder Nufweite! Näher kommt man fich wohl felten!

Wiegand Gerzlich: Mein, jegt ganz nahe! (Er reiht beiden die Hände.) Dank, Dant, ihr Lieben! Ihr habt mir einen Dienft erwieſen ....!

Marenholdt: Was willft du? Es war die fchönfte Mondfchein- fahrt meines Lebens! Wie wir das Wild fo im Mondlicht angingen und

408 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

langfam einfreiften .... Ganz nach guter Weidmannsart! Da wurde das alte Fägerblut wieder wach!

KRafper: Hätte es wenigftend einen ordentlichen Sturm abgefegt! So muß man fi ja um jedes Wort des Danks fchämen!

Hedwi G (ie noch an der Tür links fteht, wendet fi zu Wiegand): Ich wollte bir noch jagen, Dubskys offener Brief an dich ift vorgelefen worden .....

Wiegand (erregt einen Schritt zurüctretend): Iſt vorgelefen worden? Iſt wirklich und wahrhaftig vorgelefen worden, während ich auf dem See war und nach meinem Jungen ſuchte? . . . Alſo angeklagt, verurteilt, ohne über: haupt gehört zu werden? All mein Bitten und Befchwören in den Wind gefchlagen? Wieder einmal das papierne Wort über die lebendige Tat gefegt?... Dazu bin ich mit ihnen in die Einſamkeit gezogen? Dazu hab’ ich meine jtärkften Jahre, meine reiffte Kraft geopfert?! Immer und immer wieder Gehirne? Gehirne? Nichts als Gehirme?! Von Men- fchentum noch immer feine Spur! (&r wendet fich zu Marenpowe: Du haft recht gehabt, du großer Lebenstenner! Die Natur ſelbſt ift ohnmächtig gegen dies Gefchlecht von Schreiberfeelen! Was will da ich? Ich armfeliges Rind des Todes?! (Er macht ein paar Schritte, bleibt vor Hedwig fteben): Die Natur felbft ift ohnmäcdtig, Hedwig! Darum bat fie ihren Fluch auf uns alle geworfen! Darum hat fie ung mit Unfruchtbarkeit gefchlagen! (Er preit er- fchüttert den Kopf in die Hände.)

Hedwig (eye ihm die Hand auf die Shutten: Faflung, Bruno! Faffung! Dubsky wartet nebenan in der Bibliothek!

Wiegand cauffaprenv): Dubsky wartet nebenan? Worauf wartet Dubsky denn? Was hab’ ich noch mit den Dubskys zu fchaffen?!

Hedwig: Er will mit dir im Auftrage der Gemeinde verhandeln.

Wiegand: Und dazu haben fie ſich Dubsky ausgefucht? Immer wieder Qubsty? (Er richtet fich nach einem Augenblid auf): Selbſt Dubsky iſt ein Menſch! Sei 's drum! Er ſpricht leiſe mit Kaſper.)

Marenholdt gu sermig): Wollen Sie mich vielleicht mitnehmen, Fräu- lein Hedwig? Mir fcheint, hier find wir jegt durchaus überflüffig.

Hedwi 9 (ion an der Tür links, wendet fich zu Marenboldt): Ihnen bab’ ich auch noch was abzubitten, Herr Miniftermacher! (Sie gest hinaus.)

KRafper (dat leiſe mit Wiegand geſprochen, ruft jest laut): Fa das bringt die Löfung! So oder ſo! (Er gebt eilends die Treppe hinunter, nach links hinten ab.)

Wiegand ruft ihm nach: Sie follen alle fommen! (gu Marenpome: IC will einen allerlegten Berfuch machen! Es fol die Probe auf 's Erempel fein!

Marenholdt: Ich könnte dir das Refultat vorausfagen.

Wiegand: Laß ed mich auf meine Art finden, alter Freund!

Marenh oldt {ebenfalls links ab). [aurüdgeichlagen).

Wiegand (nähert fich der Tür der Bibliothek, in dem Augenblid wird bie Portiere

Dubsky (ftredt feinen Kopf hervor): Du bijt allein?

Wiegand: Ah, guten Abend, Dubsky!

Dubsky «rt fi von der Portiere Los, kommt nähern: Du haft mich warten laflen ....

Wiegand: Entfchuldige! Ich erfuhr in dem Moment, daß du hier bift. (Er deutet auf einen Seſſel vorn links.) Willſt du nicht Platz nehmen?

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 409

Dubsky: Ich danke dir! (Er jene ſich, ſieht auf feine Finger, fährt dann fort) Ich bemerfe zunächft, daß ich kraft Vollmacht unferer Genofjenfchaft hier fie. (Er verbeugt fih formell.)

Wiegand: Alſo ganz offiziell?

Dubskhy werbeuge ſich wieder: Durchaus offiziell!

Wiegand ceinpringtig): Und nur offiziell? Nichts weiter, Dubsty?

Dubsky (anfetsudend): Du haft jegt Gelegenheit zu der verfprochenen Abrechnung mit mir!

Wiegand: Abrechnungen brauchen ja nicht die Auflöfung der Ver— bindung zu bedeuten.

Dubsty: Warum haft du dann nicht längft eine Aussprache mit mir gefucht?

Wiegand: Wir hatten ja erft heute nachmittag eine. Du mollteft fogar eine große Kundgebung für mich veranftalten.

Dubsky deisenn): Hat die Kundgebung nicht ftattgefunden?

Wiegand md veperrisend.) Uber wohl nicht ganz fo, wie es urfprüng- lih gedacht war?

Dubsky: Die Umftände hatten fich eben geändert.

Wieg and (fiebt ihn an, nimmt von jest ab den Ton ironiſcher): Man hört ja Wunderdinge über die koloffale Wirkung, die dein offener Brief an mich bei unferer Gefellfchaft gehabt hat.

Dubsky (eſchmeicheit: So? Hört man das? Ja, er jcheint einigen Effekt gemacht zu haben.

Wiegand: Dann mwillft du den Artikel wohl auch drucden laſſen? Du meinteft zwar heute nachmittag, du würdeſt jo etwas nie gegen mich unternehmen?

Dubsky: Auch darin haben fich die Umſtände leider geändert. Wenn wir ung nicht auf dem (Fleck bier einigen follten, fo geht der Artikel morgen früh an die Druderei ab. Der Pfeil ift dann nicht mehr aufzuhalten. Die Folgen wirft du dir felber zuzufchreiben haben!

Wiegand (mie teifer ironiſcher Färbung): Fa, ich habe inzwifchen viel darüber nachgedacht und muß geftehen, ich habe die Sache wohl zu leicht genommen, ich habe die Ronfequenzen nicht genügend überfehen.

Dubsky (mit ftartem Parpos): Du bift ein ruinierter Mann, Bruno, wenn die Gefchichte ruchbar wird! Kein Hund nimmt mehr einen Biſſen Brot von dir an!

Wiegand unmintirti tägernd): Bewahr' mich Gott, das ift ja fürchterlich!

Dubsky (im Eifer): Beftenfalld wirft du nur Minifter, um auf Grund des gegen dich vorliegenden Materials jofort wieder geftürzt zu werden! Wenn du den Fall in meiner Beleuchtung und Darftellung gehört hätteft, mwürdeft du nicht einen Moment daran zweifeln! Ich bin gern bereit, bir den Artikel vorzulejen, damit du Dich felber überzeugen fannft! «er zieht eine Rolle aus der Tafche.)

Wiegand: Danke! Danke! Ich kenne ja die Schärfe deines Wiges!

Dubsky: Du wirft dich alfo zu entfchließen haben. Meine Leute warten.

Wiegand: Man kann fie ja herfommen laffen.

Dubsky vnen einfanend): Bitte, ich bin ihr Bevollmächtigter! Du haft nur mit mir zu verhandeln!

410 Mar Halbe: Die Infel der Geligen.

Wiegand: Was ftellft du denn alfo für Bedingungen, damit ber Artikel nicht erfcheint ?

Dubsty: Ich würde ftatt Bedingungen VBorausfegungen fagen. Es würde ſich nur darum handeln, eins durch das andere zu fompenfieren.

Wiegand (mit ftarter Ironte): Und wie fompenfieren wir?

Dubsky men ihn am: Biſt du auch mit dem nötigen Ernft bei der Sache, mein lieber Bruno?

Wiegand ns veperrigend): Uber, lieber Dubsky, wo es fich um bie ganze Zukunft handelt.

Dubskty: Du entläßt alfo zuerft und vor allem dieſen Baron von Marenholbt !

Wiegand: Sa, das ift leicht gejagt! Er ift ein alter Fremd! Meinft du denn, daß er überhaupt gehen wird?

Dubsky: Ich dächte, du bift doch Herr in deinem Haufe?

Wiegand (wieder unwilltürtich täheind): So? Bin ich das wirklich?

* Dubsty (Heft): Wenn du Scherz mit mir treiben willft... E auf.

Wiegand /tegt die Hand auf feinen Arm): Mein, nein, bleib! Es war ja nur ein dummer Wis!

Dubsky: Lieber Bruno, wer fo in der Falle figt, wie du...

Wiegand: Durch deinen Artikel! Ta!

Dubsky: Mein Artikel wäre machtlog, wenn du dir mit deiner ver fteften und unwahren Handlungsweife nicht felbft die Grube gegraben hätteft!

Wiegand: Gut! Was verlangft du alfo weiter?

Dubsky: Ich verlange zunächft ein angemeſſenes Benehmen mir gegenüber !

Wiegand: Und weiter?

Dubskhy (Hat ſich wieder geſetzt und fletſcht die Zähne): Vergiß nicht, mein lieber Bruno, daß ich bei der Sache in feinem Fall etwas zu verlieren habe!

Wiegand: Du gewiß nicht! WUber vielleicht deine Auftraggeber?

Dubsky: Die Intereffen meiner Auftraggeber find mir heilig! Deshalb verlange ich von dir, daß du diefem fogenannten Baron fofort den Laufpaß gibft und überhaupt deinen fkurrilen Rarriereplänen gründlich abfchwörft!

Wiegand: Die würden fich ja von felbft erledigen, wenn ich Maren- holdt wegſchicke!

Dubsky (örmis): Du wirft ferner unter irgend einem Vorwande, fagen wir Leberarbeitung, Ruhebedürfnis, Nervenzerrüttung, den Vorſih der Genoffenfhaft niederlegen . . . .

Wiegand: Ich denke, es gibt in unferer Vereinigung feinen regulären PBorfigenden ?

Dubsky: Das find Worte! De facto bift du's doch! Dein * folger müßte natürlich von der Geſellſchaft ausdrücklich gewählt werden .

Wiegand: Auf wen die Wahl zu fallen hätte...

Dubsky (toren: Darüber bin ich nicht informiert! Jedenfalls hätte niemand das Recht, fich einem folchen Ehrenpoften zu entziehen.

Wiegand: Es wäre ja auch Feine Sinefure! Ich nehme an, daß du eine Neuordnung der Verhältniffe . .. .

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 411

Dubsky: Die wäre allerdings unvermeidlich. (Man Hört von draußen Lärm unb Stimmengewirr fi nähern.)

Wiegand cerpes: ng): Ja, wir brauchen eine radifale Kur!

Dubskhy (Cedhebt ſich evenfans): Was darf ich alfo meinen Auftraggebern mitteilen ?

Wiegand: Sind denn das alled Forderungen deiner Auftraggeber?

Dubsty: Punkt für Punkte! Was ich verlange, verlange ich im Namen meiner Leute... . (Er horcht wieder nach draußen, wo inzwiſchen ber Lärm ange- ſchwotlen ii.) Was ift denn das für ein Gefchrei da draußen?

Wiegand cacheind): Das find deine Auftraggeber, mein lieber Dubsky! Ich habe fie ein bißchen herrufen laſſen!

(Bon lints Hinten ber ftrömt jest lärınend, fchreiend, fingend, die Menge in den Garten, ber fich ſchnell füllt. Der Vortrab bat bereits Die Derandatreppe erreicht.)

Dubsky (Hat den Kopf zwiſchen die Schultern gezogen, ſteht mit vorgeſtreckten Fäuften wie in Abwehrftellung da): Was find das für Späße?

Wie g and (tritt hart an ihn heran, mit verändertem, ſchwerem Ton): Dubsky! Zum letzten Mal hab' ich bei deiner unſterblichen Seele anklopfen wollen! Es war umſonſt! Du trägſt ein Tintenfaß in der Bruſt! «er wirft den Seſſel, neben dem er fpricht, um, jpringt mit einem Sat auf das nahe KHateder, ruft dröhnend): Herein!

Herein! Wer bören will, herein! (Er winft der tim Garten und auf der Veranda flutenden Menge, die fofort in ben Saal drängt.)

Stimmen (in der Menge: Wiegand will fprechen! Hört! Hört! Ruhe! Rubel

Rafper (in der Meng): Kommt alle in den Saal!

Biele Stimmen: In den Saal! In den Saal!

Dubsky (einige Schritte vorwärts gegen die Menge, doch ſo, daß er durch den langen Tiſch wor ihr gedect id: Was habt ihr hier zu ſuchen! Sch habe mit Wiegand zu verhandeln! Keiner fonjt! Im Satans Namen, fchert euch!

Stimmen (aus dem vordern Teil der Menge): Wir wollen Wiegand ſelbſt hören!

Kaſper: Ja, man hat euch angelogen! Ihr ſollt die Wahrheit hören!

Viele Stimmen: Die Wahrheit! Wir wollen die Wahrheit!

Dräger (hat fib aus ber Menge heraus um den Tiſch herum zu Dubsky gejchlichen, Halb- laut und eitig): Mimm Dich in acht, die Stimmung bat fich gedreht! Gie fürchten, Wiegand läßt die Infel auffliegen und fest fie alle an die Luft! Rafper hat ihnen das eingetrichtert! Wenn du nicht Hug bift, können wir dich nicht halten! (Er zieht fich eilends um den Tiſch herum in bie Menge zurüd.)

Dubsfy (fauhend gegen die Menge): Schweinepad ! Ihr verdient euren Schweinetreiber!

Wilde Rufe: Was bat er gefagt? Pad? Pad? Oho!

Diele Stimmen: Wiegand foll reden! Wiegand foll reden!

Dorothee und Marenholdt ind von Lints Her in den Saal geeilt).

Dorothee au Wiegand): Was gibt's denn bier wieder für eine Volts- beluftigung? Wollen fie ung das Haus über 'm Kopf anzlinden? Immer zul Dann find wir den Krempel log!

Wiegand au vorotbeey; Reine Sorge, Weib! Jetzt wird fürs ganze Leben abgerechnet! (er ruft in die Menge): Freunde und Genoſſen! Euer VBer- treter Dubsky hat mich in eurem Namen zwingen wollen, meinen alten Freund und Gaft Marenholdt vor die Tür zu fegen! Euer Vertreter

412 Mar Halbe: Die Infel der GSeligen.

Dubsky hat mich ebenfalls in eurem Namen zwingen wollen, die Leitung diefer Infel der Geligen niederzulegen und einem andern, jedenfall ihm felbft, den Vorfig und eine Neuordnung der Dinge zu übertragen! Euer Wunsch fei erfüllt, Genofjen! Ich trete von der Leitung zurüd und erkläre

damit die Infel der Geligen für aufgehoben. (Einen Augenblick herrſcht tiefe Eride, dann ruft)

Dräger (in der Menge: Das darf er nicht! Wir haben das gleiche Recht wie er hier! Das dulden wir nicht!

Wiegand: Das darf ich wohl, mein lieber Dräger, und das werde ich dir beweifen!

Dubsky (der geduckt auf feinen Augenblick gewartet bat): Der Geldfaftandpunft! Glaubt ihr's jet? Der Geldſackſtandpunkt!

Wiegand: Jawohl, der Geldfaditandpuntt! Wißt ihr denn nicht, ih habe mir die Tafchen von eurer Arbeit vollgeftopft! Die Inſel der Geligen ift nur ein Ausbeutungsobjeft für mich gewefen! Jetzt zieh’ ich mich als gemachter Mann vom Gefchäft zurüd! Das ift nun mal der Lauf der Welt! Wundert euch das vielleicht?

(Erregtes Murmeln und Köpfezufanmenfteden in der Menge.)

Marquardt ‚einen Schritt vortretend, zu Wiegand): Iſt das wahr, daß der Genoffe Dubsty das alles in unferem Namen von dir verlangt hat? Im unferm Namen! Da drauf kommt es an!

Wiegand: In eurem Namen! Kraft Vollmacht der Genofjenfchaft!

Dubsky eeifhend): Er lügt! Er lügt!

Marquardt au Wiegand): Ich Hab’ dich auf Ehre und Gemifjen gefragt!

Wiegand: Und ich hab’ dir ebenfo geantwortet!

Dubsky amie vorder): Gelogen! Gelogen! Gelogen!

Wiegand iur menge): Wem glaubt ihr, mir oder ihm?

Biele Stimmen: ir! Dir! Dubsty ab! Nieder mit Dubsky!

Marquardt: Dann fag’ ich, daß der Genoffe Dubsky feine Voll macht überfchritten bat!

Rehbein (ebenfalls vortretend): Das . . . wollt ich auch) fagen!

Marquardt cfortfaprenn): Und daß der Genofle Dubsky ung alle zu- fammen angelogen hat! Und wenn ich auch in feinem Punkt mehr mit Wiegand zufammenftimmen tu’, und wenn's auch vielleicht am beften fo ift, daß die Infel der GSeligen zum Deubel geht, ganz egal! Der Genoffe Dubsky bat wie ein ganz ordinärer ... Mitteleuropäer an ung gehandelt! Das wollt ich bloß gefagt haben!

Braufende Rufe: Bravo Marquardt! Bravo! Bravo! (wWatendes Hänbdeflatichen. Fäuſte werben gegen Dubsfy auggejftredt.)

Dräger (ruft Dubsty über den Tiſch au): Mac, daß du fortfommft! Mad, daß du fortkommſt!

Dubsky (fpringt auf den zunächſt ſtehenden Etubl, ruft in die Menge, indem er auf Dräger zeigt): Der Schwachlopf da bildet fich ein, er fann fih ein Alibi fchaffen, wenn er mich bier rausgrault! Das foll ihm verfalzen fein! (Er ruft Wiegand zu): Der da hat die Gefchichte angezettelt! Der hat die Fäden in der Hand gehalten! Den nimm bei den Obren! Ich bin fein Opfer fo gut wie du!

Dräger (außer fi, auf Dubsry an: Ah, du! Kommſt du fo! «Er wender

Mar Halbe: Die Infel der Seligen. 413

fih gegen die Menge.) Gefindel hat er euch genannt! Dummköpfe hat er euch genannt!

Wilde Rufe: Alle beide rausmwerfen!

Dubskhy (won feinem Stuhl herunterjgreiend): Und Dummköpfe nenn’ ich euch noch jegt! Dummköpfe nenn’ ich euch in Ewigkeit! Habt ihr euch etwa eingebildet, euretwegen fei ich auf die Welt gelommen? Curetwegen hätt’ ich mich in die Unkoften meines Dafeind geftürzt? Guretwegen hätt’ ich die Abrechnung mit dem Gefinnungsprogen da auf dem Präfidentenfig vor- genommen? Herdenvieh, das ihr jeid! Zmwifchen mir und dem da geht der Kampf, fo lange die Welt fteht! So wie jegt haben wir uns fchon vor - Jahrtaufenden gegenüber geftanden! So wie jegt werden wir und nach Sahrtaufenden gegenüber ftehen! Ihr aber, ihr feid weiter nichts als die Heinen lächerlichen Statiften bei dem Schaufpiel! Dem Flauſenmacher da oben lauft ihr nach und einen Mann wie mich, der in Zeitaltern nicht feines- gleichen haben wird, fchmeißt ihr zum Tempel raus! Ihr könnt mir alle

den Buckel herunterrutfchen! Er ſpuct aus, ſpringt vom Stuhl herunter, läuft geduct zur Bihltotheftür rechts.) (Es berrfcht einen Augenblid Schweigen. Dann bricht ein tofender Lärm aus.)

Die Menge (ftürzt wütend auf Dubsty zu). Wilde Stimmen: Haut ihn! Haut ihn!

Dubsty (ftredit die Zunge lang gegen die Menge heraus, verſchwindet dann rechts in bem Bibliothefzimmer. Beim Anblid der Zunge iſt ein allgemeines Gelächter losgebrochen.)

Wieg and (nach einem Augenblid, da fich das Lachen gelegt bat): Da reißt er aus, der Sälulargeift mit dem Tintenfaß in der Bruft und der Nechenmafchine im KRopfl Drapiert ſich mit den armfeligen Flicken feines Lebermenfchen- tums und reißt aus! .... Inſelgenoſſen! Mitbrüder! Wir find alle mit- fammen Rinder des Staubes und brauchen Liebe und Verzeihung notwendiger als Rache und Gericht! So nehmt denn diefe Infel mit allem was drauf und dran ift, für eure Gemeinfchaft hin! Es foll nicht heißen, daß ich mit gefüllten Tafchen von euch gegangen feil Es foll auch nichf beißen, daß der Mann, der die Infel der Seligen in's Leben gerufen hat, ihr Toten- gräber geweſen fei! Liebt euch! Haßt euch! Tut wie ihr wollt! Euer Schickſal liegt bei euch ſelbſt! .. . . Mir aber gebt Urlaub für diefe Lebens: frift! (Er gene zu Marenholdt, reiche ihm die Sand.) Hier haft du mich! Ich bin bereit!

Marenholdt aäsem): Schlimmftenfalld führen ja ebenfoviele Wege aus Tecklenburg hinaus wie hinein. Uber eins bedenf: Nach den feligen Infeln gibt e8 fein Zurüc für dich! Der Verräter bift du und bleibft dul Ich höre fchon den Zeitungswald widerhallen, wie man Minifter in Tecklenburg wird!

Wiegand: Sei's drum! Im Innerften bleib’ ich was ich war!

Dorothee: Der unverbeilerlihe Weltverbeiferer!

Wiegand euter hinaus): Da! Geht! Die Infel der Seligen glänzt im Früblicht! Wer einen Schein davon mitnehmen könnte!

Marenholdt: D, in Tedlenburg wirft du früh genug aufzu- ftehen haben.

Dorothee: Nimm lieber deine komifche Alte mit! Oder willjt du mich als Pfand bierlafjen ?

Wiegand: Komm ber! Wir find beide feine Engel! (Er wi fie an fi) stehen.)

414 Mar Halbe: Die Infel der Seligen.

Dorothee (mir Sräuden: Pfuil Schäm dich! Zwei fo alte Leute! (Ste Hält ihm den Mund Hin: Dal

Medardbus Neumann (rängt ſich dur die Menge, tritt mit feierlich erhobenen Händen vor Wiegand): Was klingt von Mund zu Munde, großmäcdhtiger Staats: begründer? Du willft den Schnabel deines Schiffes feewärts lenken und das Werk deines Lebens in fremde Hände legen?

Wiegand: Soll ich's in deine Hände legen, du König der Zigeuner?

Medardus Neumann: Das fprah ein Gott aus dir, ffurm: verfchlagener Erdenpilger? we richtet fi in großer Dentmalspofe au): Medardud ber Erfte befteigt den Thron der Mebigäer und als erfte Spende feiner Herrfchergnade führt er auf diefer meerentfliegenen Atlantis den ewigen Sonntag ein!

Braufender Jubel in ver Menge): Hoch Medardus der Eritel ..... Der ewige Sonntag hoch!

Vorhang.

Die Mutter.

(Nach einer buddhiſtiſchen Parabel.) Bon Zlfe von Stab in Wilhelmshagen.

Wo einfam im indifchen Walde die Hütte des Weifen ftebt, da wo dur Schlinggewächfe der graue Morgen weht,

Wo unter Salabäumen der Weife figt und finnt, da ſteht vor ihm eine Mutter und wiegt ihr totes Kind.

„D Herr, du haft alle Weisheit, und Gnade und Güte vollauf, ſieh hier mein Kind ift geftorben. Wede mein Kind mir auf.“

Ilſe von Stab: Die Mutter. 415

Der Weife hat langen Blickes dem Weib in das Herz gefehn, und die Not ihrer Geele begriffen. Und gütig hieß er fie gehn,

Und hieß fie Kräuter erbitten in eines Freundes Haus: aus dem man noch feinen Toten getragen hinaus.

Und fröhlich fchritt fie von dannen und Hopft an des nächften Tür, da gab man ihr Blumen und Kräuter, und lächelnd dankt fie dafür,

Und fpricht, zum Gehen gewendet: „es ift doch nicht Tochter, noch Sohn in dem Haus meines Freundes geftorben?“ „Zwei Söhne verließen mich ſchon.“

Und fie geht. Und von Haus zu Haufe muß die junge Mutter gehn, bi8 ihre angftvollen Augen ganz in Tränen ftehn.

Und zum zehnten, zum legten Male ftürzt fie entfegt hinaus, und fchreit in der Angſt ihres Herzens: „Wo gibt ed, wo gibt ed ein Haus,

In dem nicht Vater noch Mutter, nicht Bruder, nicht Schwefter, noch Freund, in dem feiner, feiner geftorben!“ Und fie fteht und weint.

Da fpricht eine ferne Stimme: „laß ab von deinem Kind, dieweil der Toten fo viele, fo wen’ge der Lebenden find.“

Da ward ihre Seele voll Klarheit, erfchüttert neigte fie fich, und gab das Kind der Erde und weinte bitterlich.

CERFERFTER LER FER ER FER ER

Neue Urkunden zur Gejchichte des Münchener Wagner: Theaters,

Aus dem Nahlaf Gottfried Sempers und Friedrih Pechts mitgeteilt von Heinrih Steinbach in Münden.

As Wagner 1864 nah München fam, fand er bier zu feiner Leberrafchung, wie Glafenapp erzählt, feinen alten Parifer Bekannten Friedrich Pecht, nach mehr als fünfzehn Jahren der Unterbrechung ihres Verkehrs, als ortsanfäffigen Münchener vor. Hier war es Pecht, wie diefer in feinen Memoiren berichtet, welcher, als das Feſtſpielhausprojekt auf den Plan trat, Wagnern auf feinen alten Unglüde- gefährten Gottfried Semper, mit welchem Pecht fchon feit den Tagen feines erften Dresdener Aufenthaltes während der Jahre 1836—37 bekannt war, als den hiezu geeignetjten deutfchen Architekten aufmerffam machte oder ihn „empfahl“, wie fich Pecht ausdrückt. Diefe Empfehlung Pechts ift dem Biographen Wagners ein Dorn im Auge. Glafenapp bezweifelt fie nicht nur, fondern er will fie als Tatſache überhaupt nicht gelten laffen. Wenn Pecht in feinen Memoiren bei der Schilderung jener Zeit erzählt, daß er noch ein anderes Mal „fehr lebhaft an den Wagnerfchen Angelegenheiten habe teilnehmen müffen,“ fo wird dem Biographen Wagners nicht Elar, worin diefe lebhafte Teilnahme Pechts bejtanden haben folle. „Es wäre denn, daß man feine gleich daran gefnüpfte, doch gar zu barmlofe Be— bauptung dafür nehmen follte, er fei e8 eigentlich gewefen, welcher dem Meiiter für den Bau des projeftierten großen Feſttheaters ‚feinen alten Unglücksgenoſſen Gottfried Semper empfohlen babe‘. Nein, der ausgezeichnete Züricher Freund, der die direfte Fühlung zu Wagner feit den Dresdener Tagen nicht verloren, brauchte ihm, als zu diefer Aufgabe Nächftbefähigter, nicht erft durch Fr. Pecht ‚empfohlen‘ zu werden.“ Die „lebhafte Teilnahme” Pechts wird fodann von dem Biographen einzig und allein in dem Umſtande gefunden, da er jenen Artikel im „Botfchafter” gefchrieben, den die „Münchener Neueften Nachrichten“ ab- drucken und auf welchen hin in den Zeitungen jene erfte Erplofion erfolgte, welde Wagnern und feine Freunde mitfamt dem föniglichen Bauprojekt fchon damals in die Luft fprengen follte. Diefer Aufſatz fei feines Willens Pechts „einzige Heldentat“ auf diefem Gebiete, wobei der Biograph Wagners gleichzeitig glaubt annehmen zu müffen, daß Pecht, als er feine Erinnerungen fchrieb, feine Xlutor- ſchaft diefes Auffages in den wunderlichiten Wendungen zu verfchleiern ſuche.

Nachdem wir nun durch die folgenden Briefe, indem die legtgenannte An— nahme Glafenapps bier unerörtert bleiben foll, fehr gründlich belehrt werden, daß die damalige lebhafte Anteilnahme Pechts an den Wagnerfchen Angelegenheiten

Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner- Theaters. 417

denn doch noch in etwas mehr beftand ald Glafenapp vermutet, werden wir auch allen Grund haben, den Worten Pechts über feine Empfehlung volltommenen Glauben zu fehenten, ein Umftand, deſſen bier nicht Erwähnung getan worden wäre, wenn Ölafenapp diefes Umftandes nur nicht gar fo fehr ironifch gedacht hätte. Wenden wir ung nun nach diefer aus Gründen der Gerechtigkeit not: wendigen Vorausfchidung der QUngelegenheit felbft zu, fo wird fie durch den von Manfred Gemper ') auszugsweife mitgeteilten Brief Wagners an Semper vom 13. Dezember 1864 eröffnet. Es folgt der Beſuch GSempers in München am 27. Dezember, feine Befprehungen mit Wagner und am 29. die Audienz Sempers beim König. Semper reift Anfang Ianuar wieder nach Zürich zurüd und nun folgt der erfte Brief Pecht an Semper, der zunächſt für fich felbft fprechen möge:

Münden d. 10. San. 65. Hochgeehrter Mann!

Nach gepflogener Berathbung mit Freund Wagner haben mein Freund Dr. Julius Meyer und ich befchloffen, gleichzeitig in der Preſſe für das Königliche Bau: Project und Ihre Berufung zu demfelben Öffentlich vorzugehen. Es wird dieß von Meyer’3 Geite in den Grenz- boten, von der meinigen in den Rezenfionen gefchehen, und zwar beyber- feit8 in dem Sinne, den König möglichft zu ermuthigen, auf dem einmal fo glücklich eingefchlagenen Wege fortzugehen und fich durch Intriguen und bornirten Widerfpruch, wie fie fich bereitd von allen Geiten fühlbar machen, nicht hemmen zu laffen, am allerwenigften durch elenden Nati- vismus, wie er fich mit cynifcher Offenheit gerade jegt in ber Allg. Itg. breit macht.

Iſt Ihre Skizze erft weiter vorgerückt, d. h. wird fie bald abgefendet, fo möchte e3 fehr paffend feyn, wenn Sie durch Lübke in der Allg. Ztg. diefelbe befprechen laſſen, doch nicht ehe nicht wenigftend mein Artikel in den Rezenfionen erfchienen ift, damit er in den Stand gefegt ſey, das Thema fo meiterzufpinnen, wie ic) es nach genauefter Renntniß der biefigen Berhältniffe anzufchlagen für gut finde. Es wird daher gut feyn, wenn Gie ihm dann das Vorftehende mittheilen wollten, feine feine und fchonende Art paßt ganz für die Allg. Ztg., ber man die Umkehr fehr erleichtern muß.

Für die Skizze felber wäre es meines Erachtens am zweckmäßigſten, wenn Gie den malerifchen Gefichtspunft durchaus vormwalten ließen, und die Darftellung der Facade fo lodend, jo reich und großartig hielten, wie nur möglich, befonders mit Sculptur und Malerey fo verſchwenderiſch als möglich umgiengen. Das erweckt Hoffnungen bey einer Menge von einflußreichen Leuten, macht fie alſo auch dem Project überhaupt geneigter. Daß man die Mittel befchaffen könne, wenn man überhaupt will, das unterliegt nicht dem mindeften Zweifel, befonderd da Sie vorausfichtlic) nicht den Fehler begeben werden, der faft bey allen hiefigen Gebäuden begangen wurde, den der unfinnigften Raumverfchwendung, der es dann unmöglich machte, die Gebäude auch wirklich Fünftlerifch zu decoriren, fondern zu elendefter Fabrifarbeit in diefer Richtung nöthigte, weil die

') Bühne und Welt, Jahrgang 1903/4, Heft 21. Sübdeutihe Monatöhefte. II, 11. 27

418 Neue Urkunden zur Gefchichte ded Münchener Wagner- Theaters.

bloßen Mauermaffen ſchon alle Mittel verfchlangen. Weil unfere Archi- teften nicht wirklich große Formen zu bilden verftanden, fo fuchten fie die Größe darin, daß fie ihre Gebäude breiter und höher machten ald irgend nöthig war, wo denn die Armuth der Erfindung freylich nur um fo greller hervortritt.

Sie koloriren Ihre Skizze doch? Meines Erachtens wäre das un- erläßlich, um zu beftechen. Aebrigens haben wir hier noch eine proteftantifche Kirche und ein Ständehaus höchſt nothivendig; es wären alfo Aufgaben genug für Sie aufzutreiben, wenn nur erft die Sache im Gange ift.

Entfchuldigen Sie es mit meinem fo lebhaften Interefje für die Sache, wenn ich mich unterfange, hier einem folchen Meifter Natbichläge zur Berüdfihtigung zu empfehlen, in Dingen, die eine unermeßliche Erfahrung ihn fo unendlich beſſer verftehen läßt, ich habe hier blos die Entichuldigung, daß ich wenigftens das Terrain, auf dem operirt werden foll, ziemlich gut fenne. Die Nothiwendigfeit und Nüslichkeit eines folhen Baues werden wir den Münchnern niemals beweifen können, fo wenig als die der Wal- balla, der Befreyungshalle oder Ruhmeshalle, mit denen fie fich längſt verföhnt haben, es gilt alfo die Schönheit defjelben darzuthun, und daß das Schöne fich felbft rechtfertigt, und nüglicher ift als eben alles im gemeinen Sinne wirklich nügliche. Wenn die Rofe felbft fi ſchmückt, ſchmückt fie auch den Garten, und fo ftumpf find felbft die Münchner nicht, daß fie nicht lieber Rofen ald Kohl in ihrem Garten fähen, nur darf man fie ja nicht vorher fragen.

Mit hoher Verehrung Ihr gr. Pecht.

Alſo bereits jest, am 10. Sanuar, muß in dem erften dieſer Briefe Wagners Freund, und zwar auf Grund „genauefter Kenntnis der biefigen Ver: bältniffe*, Intriguen und bornierten Widerſpruch fonftatieren, alfo bereits jest macht fich dem LUnterrichteten das geheime Wühlen und Hetzen gegen das Projekt bemerkbar, vierzehn Tage nach der Audienz GSempers beim König!

Was meint hiezu Karl Dürd?') „Zu einer Oppofition des Publitums fonnte es ſchon aus dem einfachen Grunde nicht fommen, weil außer ben erwähnten kurzen Nachrichten nichts darüber bekannt wurde,“

Elender Nativismus? deſſen Pecht gedentt... D natürlich alles dies eine zu beflagende „Legende,“ die einer dem andern nachrebdet.

Nun man muß es uns fchon geftatten, daß man auch an diefer Stelle ſich von neuem auf den Boden diefer „beklagten Legende" ftellt, daß wir den Seit genoffen, vor allem einem fo kühlen und nüchternen Beobachter wie Pecht, mehr Glauben ſchenken als allen Deduktionen nah 40 Jahren. Ia diefer Zeitgenoffe und Freund Wagners redet freilich, genau wie Bülow in jenem von Dürck fo ironifch kritifierten Briefe vom 12. Februar, eine ganz andere Sprache über all diefe Dinge, über diefen „elenden Nativismus, wie er fich gerade jegt mit cyniſcher Dffenheit in der Allg. Itg. breit macht.“ Dieſe KRonftatierung Pechts bezieht fih auf die damals befchloffene Errichtung des Denkmals für den im Jahre vor- ber verftorbenen König Mar. Man hatte in München die AUbficht, dab zu

) Rihard Wagner und die Münchener 1865. Verlag der Allg. Stg., 1905.

Neue Urkunden zur Gefchichte Ded Münchener Wagner- Theaters. 419

KRonkurrenzentwürfen für diefes Denkmal fünf der erften deutfchen Bildhauer in München, Dresden und Berlin eingeladen werden follten, wogegen ſich in der Allg. Stg., namentlich gegen die Beteiligung Berlins, feharfer Widerfpruch erhob mit dem generellen Hinweis auf die in München fchon felbft vorhandenen künft- ferifchen Kräfte. Man leſe bierüber das Nähere in den Nummern 6, 9, 17, 23 u. a. der Allg. Ztg. vom Jahre 1865.

Eine Oppofition des allgemeinen hauptftädtifchen Publikums beftand freilich nicht, noch viel weniger ftanden all die fchönen Dinge, um deren Kern es ſich eigentlich handelt, in den Zeitungen. Lachen muß man über eine Beweisführung, die fich auf dasjenige ftügt, was in den Zeitungen fteht, in Tageszeitungen, welche befanntlich fo vielfache Rüdfichten zu nehmen gezwungen find.

nd doch ftand bald darauf auch in der Zeitung genügend von all den geheimen Dingen! Bft denn der Pechtfche Auffag im Wiener Botfchafter lediglich ein Lobgefang auf Ludwig II und feine Berufungen? Iſt denn nicht gerade diefer Auffag nichts anderes als ein einziger Beweis für jene Intriguen, die unter der Dberfläche bereits vorhanden find? Iſt denn er einesteils nichts anderes als ein flammender Proteft gegen die geheimen Machinationen? Diefer Auffag wäre ja in diefer Geftalt gar nicht möglich, nicht notivendig geweſen, wenn hinter den Kuliſſen alles fo prächtig, jo harmlos, fo wünfchenswert für das Projekt ausgefehen hätte!

Der Pechtſche Auffas ift wohl überhaupt fein anderer als der, welchen der Verfaffer nach feinem Briefe in den Wiener Rezenfionen erjcheinen laffen will. Brief und Auffag müffen in ihrer Niederfchrift zeitlich unmittelbar zu- fammenfallen, da fich in beiden einige auf die Münchener fich beziehende Rede- wendungen fat in derfelben Form wiederfinden. Im übrigen erfährt der fchon von Glafenapp fo vortrefflich charakterifierte für Intriguen nur allzu fruchtbare Nährboden der damaligen Refidenz eine neue Beleuchtung durch den Fingerzeig Pechts auf die ind Auge zu faffende reiche Ausgeſtaltung durch Skulptur und Malerei: „Das erwedt Hoffnungen bei einer Menge von einflußreichen Leuten, macht fie alfo dem Projekt geneigter". Wir ftoßen bier alfo unmittelbar auf die gegen das GSemperfche Projekt gährende Künitlereiferfucht, deren Pecht mit befonderer Beziehung auf die WUrchitelten zwei Jahre fpäter gedentt, als er in Lützows Zeitfchrift für bildende Kunft aufs neue für das GSemperfche Projekt eintrat. Gemper jedoch läßt fich mit einer Beantwortung des Pechtichen Briefes Seit. Der Februar kommt und mit ihm der erfte wütende Anſturm gegen den KRomponiften. Mitten in diefe Kämpfe greift der folgende Brief Wagners an Pecht. Man vergleiche dazu die entiprechenden Artikel der Ullg. tg. in ihren Nummern 40, 45, 46, 47, 50, 52, 53 und 56 vom Feoruar 1865.

Wagner fchreibt:

Lieber Freund!

Leber die Aufnahme meiner Widerlegung in der Allg. 3. habe ich in diefem Augenblick noch feinen Bericht.

Dagegen erfreute mich heute früh um 8 Uhr ein Brief des Königs, der mich über alle Maaßen gerührt und beglüdt hat. Glaub’ mir, es ift bier alles fo groß und tief, daß ich mir befchämt als Kleinlich erfcheine, wenn ich an die Widerlegung des niebrigften Klatfches nur denke. Es wird fich ja wohl in größter Bälde zeigen, wie alles fteht.

Da der König auf das dringendfte feine Aufträge an Gemper wiederholt, muß ich diefem heute fchreiben. Wegen der Nachweife, welche

München, 15. Febr. 1865.

420 Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner-Theaters.

S. wünfcht, will ich ihn an deine freundfchaftliche Intervention und Mit hülfe verweifen. Beten Gruß von Deinem Rich. Wagner.

Diefer Brief Wagners korrefpondiert mit dem des Rönigs an ihn vom 14. Februar, welchen Glafenapp mitteilt, ferner mit demjenigen Wagners vom 15. Februar an Semper, den Manfred Semper a.a.D. notiert, und berührt in feinem erften Abfas die von Wagner an die Ullg. Itg. eingefchiekte, in der Beilage ihrer Nr. 46 ab: gedrudte Reklamation, betreffend die von den Zeitungen gebrachte Mitteilung über die angebliche Ungnade des Könige. Gleich darauf am 19. Februar erfcheint in der Ullg. tg. der große Artikel „Richard Wagner und die öffentliche Meinung”. In diefem wird auch Friedrih Pecht mit in die Angelegenheit verwidelt und zwar einerfeit? wegen feines ſchon berührten Aufſatzes aus dem Botfchafter, anderer: feit aber wegen des Porträts, das er von MWagnern gemalt und diefer dem König als Gefchent überfendet. Sofort entitand damals in der Stadt das Gerüdt, Pecht habe bei der Rabinettslaffe eine Rechnung im Betrage von 1000 Gulden eingereicht. Pecht proteftierte fchon damals in den Seitungen gegen diefe Der leumdung und verficherte fpäter nochmals in feinen Memoiren, daß jenes Gerücht völlig aus der Luft gegriffen worden fei, daß er nie ein anderes als das mit Wagnern ausgemachte Honorar erhalten babe. Der folgende Brief Wagners gibt den urkundlichen Beweis fowohl für die Wahrheit der Verficherung Pechts, als für die Erfüllung jener Verpflichtung durh Wagner, in feiner Herzlichteit übrigens ein den legteren fehr ehrendes Zeugnis. Wagner fchreibt:

Lieber Freund! Verzeih' die Verzögerung in der Bezahlung meiner Schuld an Dich! Sei fo gut und laß’ Dir den beiliegenden Wechfel mit fl. 500 auszahlen, und fei herzlichft bedankt für dein ſchönes Bild wie für die manchen Mühſale, die Du um dieſer Beftellung wegen mit Geduld trugeft.

Herzlichften Gruß von Deinem München 1865. Richard Wagner.

Wie oben bereit8 angegeben, erfolgte nun am 15. Februar, veranlaft durch den dringenden königlihen Wunfch, der von Manfred Gemper a. a. D. notierte Brief Wagners an Gottfried Semper und dieſer antwortete an Pet

folgendermaßen: Zürich d. 26. Febr. 1865.

Hochgeehrter Herr und Freund |

Ich verfuche es nicht erft für mein langes Schweigen nach Ent: fhuldigungen zu greifen! Wenn Sie wühten, was mir alles obliegt, und wie wenig ich mir helfen laffen fann, wie dann am Abend ein leidiger Kneipentrieb mich heimfucht, dem ſchwer zu widerftehen iſt, Sie würden es erflärlich finden, daß ich fchwer zum Schreiben komme.

Ic habe Ihren Brief mit vielem Intereffe gelefen und mir Manches daraus wohl gemerkt. Jedoch halte ich das planmäßige Agitiren in unferer

Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner-Theaters. 421

fo wichtigen, aber auch fchmwierigen Angelegenheit für bedenklich, weßhalb ich auch noch nicht mit Lübken darüber gefprochen habe, wie Sie mir auftrugen es zu thun. Jedenfalls ift dazu noch Zeit genug bis zur Voll- endung meiner Arbeit.

Was legtere betrifft, fo ift fie zwar in der Idee fertig, aber es fehlt noch das lokale und individuelle Bild! Dazu brauche ich Unterlagen, die mir zwar zu meinen bisherigen Vorarbeiten noch nicht jo nothiwendig waren, über die ich aber von Rechts wegen ſchon lange hätte Auskunft einholen müffen. Dieſe große Unterlaffungsfünde drücdt mich fohwer da ſchon feit dem 15" diefes in Bezug auf diefe Auskünfte ich durch Wagner an Sie und Herrn Baurath Neureuther gewiefen worden bin. Nun geht ed an ein Treiben ...... ) Alfo mich ftügend auf Wagner’s Weifung bitte ich Sie dringend, fo eilig wie möglich mic) in den Befig der detaillirten GSituationspläne und Profile des Terraind rechts vom Marimilianeum an der Uferwiefe, mit Angabe aller diefen Plag betreffenden Verhältniſſe, die zu berüdkfichtigen und beim Projectiren noth- wendig zu wiſſen find.

Zweitens bitte ich eben fo dringend um die Pläne, Aufriffe und Durchſchnitte des Glaspalaftes, um für den proviforifchen Bau innerhalb besfelben meine Ideen lofalifiren zu können.

Indem ich diefe Bitten an Gie richte, fehe ich mich gleichzeitig ver- bunden, dafür Herrn Baurath Neureuther Abbitte zu thun, daß ich ihm fo Läftige8 aufbürde, ohne mich an ihn direft mit meinen Bitten zu menden. Sagen Sie ihm, daß ich nur hoffen darf, mit Vereinigung eines namhaften einheimifchen Architekten, wie er, dem großartigen Unter- nehmen gewachfen zu fein, das in Ausficht fteht. Leber unfer künftiges Perhältniß zu einander müffen wir ung fo bald wie möglich verftändigen er darf im Voraus verfichert fein, daß ich ein lojaler Rollege bin. Sehr bedaure ich bei meinem neulichen Befuche in München nicht fchon feine Belanntfchaft gemacht oder vielmehr erneuert zu haben, denn per- fünlih ganz unbefannt find wir einander nicht abgefehen von unferem gegenfeitigen geiftigen Rapporte in der Kunſt.

Zu Dftern denfe ih mit dem Entwurfe (d. h. mit dem Vorent- wurfe) fertig zu fein, aber nicht eher. Sie müffen immer berüdfichtigen, daß ich mir bei dieſer Arbeit nicht helfen laſſen kann, fondern allein- ſtehe auch daß ein fehr verantwortliches Werk vorliegt. Leider bin ih auch nicht immer freier Herr über meine Zeit.

Leber den QAugsburgifchen Korrefpondenten und feine DBerun- glimpfungen verliere ich fein Wort weder öffentlich noch hier, obfchon er auch mich perfönlich angeifert, diefer Bocbiercenfor! Seine größte noch nicht öffentlich gerügte Gemeinheit befteht darin, daß er hämifch an unfere Derwidlungen in der Dresdner Affaire erinnert, nachdem doch genug von ihm.

Grüßen Sie Wagner und theilen Sie ihm den Inhalt diefes mit.

Ih bitte ihn um Verzeihung noch nicht geantwortet zu haben. Der

!) Unleferlihes Wort.

422 Neue Urkunden zur Gefchichte ded Münchener Wagner- Theaters.

Artikel aus Zürich ift von Lübke, aber mit Zufägen von der Augs-

burgifchen Redaktion begleitet. Geben Sie bald Nachricht über mein

Anliegen. Soll ih Neureuthern zuerft fchreiben? Ihr ganz ergebener G. Semper.

Während alfo in diefer Weife auf des Könige Wunſch die Bearbeitung des großen Projektes und die des Proviforiums für den Glaspalaft energiſch in die Hand genommen wurde, war jedoch, wie wir geſehen haben, der geheime und offene Rampf gegen das Unternehmen ſchon in vollen Flammen ausgebrocden. Die Aeußerung Sempers über die Berunglimpfungen des Augsburgifchen Korre: fpondenten beziehen fi auf den ſchon genannten Auffag „Richard Wagner und die Öffentliche Meinung” in Nr. 50 der Allg. Stg. Die Korrefpondenz Lübtes, deren Semper gedenkt, datiert aus Zürich, 17. Februar, ift enthalten in der Bei- lage der Nr. 50, worin mitgeteilt wird, daß Semper allerhöchſten Orts den Auf- trag erhalten babe, Pläne für ein Feſttheater auszuarbeiten und daß gegenüber den Gerüchten, welche in den jüngften Tagen fih an Wagners Gtellung in München gelnüpft, bemerkt fein möge, daß an Gemper in diefem Augenblid erneute Anfragen ergangen jeien, die ihn zur Befchleunigung feiner Arbeiten auf fordern. Gemper fchrieb fodann nochmals dringend an Pecht um fernere Material- befchaffungen für feine Arbeiten, ein Brief, welcher der Bollftändigkeit wegen eben- falls mitgeteilt fei:-

Verehrter Freund!

Ich behellige Sie nochmals mit einem Briefe, um Ste zunächſt zu bitten, die von mir gemwünfchten Situationgpläne zc. recht bald anfertigen zu laffen, da ich eigentlich ohne fie nichts machen kann. Sodann erfuche ich Sie, fi) von Wagner die Skizzen zu dem proviforifchen antififirenden Theater für Sydenham geben zu laffen und fie baldmöglichft zu ver- abfolgen, da ich etwas daraus zu meinen Plänen brauchen kann und fein zweites Eremplar, noch felbft Brouillons davon befige. Oder kürzer: tragen Sie Wagnern auf, daß er fie mir direft zufchidle aber fo bald wie möglich. Grüßen Sie unfere Freunde, bef. Wagner, Bülow's, Cor nelius. Auch Herrn Baurath Neureuther bitte ich mich zu empfehlen. Ich hoffe bald mit ihm in direkten Verkehr zu treten.

Der Ihrige . Semper. In Eile.

Hottingen b. Zürich d. 6. März 65. Auf diefe beiden Schreiben Gempers erfolgt num nachftehende Antwort

Pechts: München d. 9. März 1865. QAmalienftr. 91/0.

Geehrtefter Herr und Freund! Beykommend erhalten Sie endlich wenigftens die Pläne des Glad- palaftes, die Sydenham Zeichnungen hat Wagner ſchon geftern an Gie abgeſchickt, und die Zeichnung des Terraing twerden wir wohl auch in den

Neue Urkunden zur Gefchichte de Münchener Wagner- Theaters. 423

nächften Tagen in Angriff nehmen laffen können. Die Zögerung liegt nicht an mir, noch weniger an der wirklich nicht genug zu rühmenden Gollegialität Neureuthers, fondern ganz allein an der DVergeßlichkeit Dfiftermeifters, der eine Ermächtigung an Neureuther auszuftellen hatte, auf dem Terrain, das königlich if, Aufnahmen für Sie machen zu laffen. Doc hoffen wir, diefelbe in den nächften Tagen zu befommen, da er heute daran erinnert wird.

Ausführliches fchreibe ich Ihnen mit den Plänen, einftweilen fchiene es mir pafjend, wenn Gie fi) bey Baurath Neureuther, Louifenftr. 12., der in unferer Angelegenheit fo zuvorfommend fich benimmt, als ſchwerlich irgend ein Anderer feiner hiefigen Collegen e8 thun würde, perfönlich mit ein paar Worten bedankten. Er hat mir auch das beyfolgende Heft auf- getrieben, das fonft nicht allein zu haben ift.

Mit herzl. Empfehlungen in Eile Ihr Sr. Pedt.

Alſo die zu gemeinfamer großer Urbeit verbundenen Freunde in München boffen, auch die Zeichnung des Terrains in den nächften Tagen in Angriff nehmen lafjen zu fönnen, fo fchreibt Pecht. Die Zögerung liege nicht an ihm, noch viel weniger an der nicht genug zu rübmenden Kollegialität Neureuthers, fondern ganz allein an der Vergeßlichkeit Pfiftermeifters ufm. Nun, wir werden fogleich fehben, was es mit diefer „Vergeßlichkeit“ Pfiftermeifters für eine fonderbare Bewandtnis bat. Schon am 17. März erfolgt an Gemper der nachftehende

Brief Pechts: München d. 17. März 1865. Sehr geehrter Herr und Freund!

Geftern habe ich bey Wagner endlich erfahren, weßhalb es fo un- endliche Schwierigkeit machte, die Erlaubniß zur Aufnahme einer Profil- zeichnung des Gafteigberges für Sie vom k. Gabinet zu erlangen. Es ift nämlich den vereinten Anftrengungen des Cabinets, der k. Berwandtfchaft, d. Königin Mutter u. fchließlich auch noch d. Königs Ludwig glücklich gelungen, den jungen König vorläufig auf den Bau des eigentlichen Feſttheaters verzichten zu machen, und fich mit dem im Glaspalaft zu errichtenden, proviforifchen einftweilen zu begnügen. Sie find daher auch Ihrer Verpflichtung, einen Plan für das erftere auszuarbeiten, ent- bunden, wenn ich das Rauderwelfch, in welchem Wagner feine Erzählung bervorfprudelte, richtig verftanden habe. Er wird Ihnen in den nächften Tagen felber fehreiben, und ich habe bier einftweilen nur meiner Wuth Luft machen wollen. Dieſe war nun geftern bey Empfang der Neuigfeit ſehr groß, heute fehe ich die Sachen etwas Fühler an. Der Plan lediglich für die Wagner’fchen Opern ein großes Theater zu bauen, denn fo fahte man die Sache hier auf, war denn Doch etwas zu abentheuerlich. Haben Sie nun aber Zeit, die Sache im Glaspalaft durchzuführen und zu zeigen, daß in einem folchen Haus auch die Opern anderer Leute fich fchöner ausnehmen werden, daß man auch Gonzerte, vielleicht auch Bälle und

424 Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner-Theaters.

fonftige Feftlichfeiten darin geben könnte, daß es überhaupt etwas ganz Neues und befjeres jey, fo wird fi) das allgemeine Urtheil mit der Sache allmälig befreunden. Der Kern der DOppofition befteht nun freilich in der Hofparthey, die nicht will, daß die Givillifte überhaupt baue oder für Runft u. Wiffenfchaft Geld ausgebe, fondern daß der König den Ueberfluß feiner Einkünfte ihr zumende in Geftalt von Hofämtern, Denfionen u. Gratificationen. An fie fchließt fich die k. Familie jelber an, die fich überhaupt nicht mehr ficher fühle und daher verlangt, der König folle anftatt zu bauen, lieber für ſchlechte Zeiten fparen, da diefe in nächfter Ausficht ftünden.

Da nun aber der Gedanke des Baues ganz u. gar nicht von Wagner, der ja blos die Bretterbube wollte, fondern direft vom König felbft ausgegangen ift, fo hoffe ich, daß er mit der feinem Gefchlechte eigenen Zähigfeit auch wieder darauf zurüdtommt, fobald er nur erft fefter figt, u. fich ficherer fühlt. Daß man ihm fortwährend in's Gedächtniß zurüdrufen wird, daß ein Rönig von Bayern bauen foll und muß, und zwar auf die edelfte Weiſe, wenn er nicht große Interefjen ſchwer fchä- digen will, dafür wollen ſchon wir, d. h. meine Freunde und ich in ber Preffe forgen.

Einftweilen diefe wenigen Worte, für mehr mangelt mir in dieſem Augenblide die Zeit, da Ihr Herr Sohn fo freundlich feyn will, den Brief mitzunehmen.

Herzlich

Ihr Ft. Pecht.

Die ganzen Dementis i. d. Allg. 3tg., wo ja, wie Sie fich erinnern werden, feinerzeit fchon geläugnet wurde, daß Gie eine Audienz beym König, dann dat Sie einen Auftrag erhalten hätten, giengen alle offen- bar von der Hofparthey, wohl direft von der Famile autorifirt, aus.

Es mögen nun zur Vervolltommnung fowohl des biographifchen Materials über Wagner, gewiffermaßen als Abſchluß diefes Abfchnittes, dann aber auch zur ferneren Berichtigung einer AUnficht Glafenapps über das Verhältnis Wagnerd zu Pecht zunächft zwei weitere kurze Schreiben des Erftgenannten an den Zweiten folgen. Auf Seite 50 feines dritten Bandes zitiert Glafenapp die Erzählung Pechts über das gegenfeitige Verhältnis des Königs zu Wagner und umgekehrt. Die von Pecht berührte Wahrnehmung von der Wagnerfchen väterlichiten Zärt- lichleit für den König, welche er zur Schau trug, glaubt Glafenapp mit Aus- rufungszeichen, die fernere, daß Wagner in Gedanken gleich das ganze Königreich Bayern mitregierte, mit Fragezeichen verfehen zu müffen. Dann aber gibt ihm die Bemerkung Pechts, daß es „ung anderen“ damals fajt komiſch vorkam, daß er eigentlich den jungen König protegierte, ftatt fich von ihm protegieren zu laffen, Veranlaſſung zu folgender Anmerkung: „Wer diefe „wir“ eigentlich find, wird nicht Har; auch übertreibt der Memorift in diefen Sägen den Grad von Ber traulichkeit, in welcher er zu dem Meifter geftanden bat.“ Nun werden ja wohl bie foeben voraufgegangenen Beröffentlichungen den Biographen ſowohl über die Anteil- nahme, als auch tiber dag vertraute Verhältnis des Romponiften zum Kunſtſchrift⸗ fteller zu einer anderen Anſicht befebrt und auch über die „wir“ Aufllärung ge bracht haben, und nun werden dies wohl die folgenden Briefe noch mehr tun.

Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner: Theaters. 425

Freilih wird manchem Lefer die Berührung folder Dinge ſehr unwichtig er- fcheinen. Nichtsdeftoweniger ift fie notwendig infolge der befonderen und bekannten Auffaffung Glafenapps von faft allen denjenigen, welche Richard Wagner nabe ftanden, die nicht ohne Widerfpruch bleiben darf. Die Zeilen Wagners lauten:

15. Juni.

Schönften Dank, lieber Freund! Profeffor Huber ift mir fehr will. fommen: ich bin fo weit müde, fein Für oder Wider mehr zu beachten; nur Eines begrüße ich innigft „wahren Geift!“

Für Dich und Frau, fowie für Pr. Huber beforge ich 4 Garten zur dritten Vorftellung.

In Eile! .

Dein R. W.

Ein zweiter undatierter lediglich „Mittwoch“ bezeichneter, jedoch in den Monat September zu fegender Brief, lautet folgendermaßen:

Lieber Freund!

Don Fröbel find mir feinerlei Mittheilungen zugegangen. Doch babe ich dem König ausführlich berichtet, und vorigen Montag von ihm den Auftrag erhalten, mit Fröbel mich zu befprechen. Er mwünfcht, das Unternehmen bereit3 mit Anfang d. nächften Jahres in das Leben treten zu fehen. Sch werde vermuthlich in einigen Tagen nah Wien gehen und dann mit Fr. Rüdfprache nehmen. Haft Du mir etwas mitzutheilen, fo triffft Du mid um 3 Uhr, oder ich treffe Dich gegen 4 Uhr.

Bon Herzen on

ein

Mittwoch. Rich. Wagner.

*

Inzwiſchen nahmen die Dinge in München den bekannten Fortgang bis zu den Tagen voll Sturm und Drang im November und Dezember. Als Doku— mente zu dieſen Ereigniſſen werden nunmehr drei Briefe einer bedeutenden poli- tifchen Perfönlichkeit fehr aktuell, drei aus Erlangen vom 20. Oktober, 4. und 24. Dezember datierte Schreiben des, wie ihn Pecht nennt, „unvergeßlichen Karl Brater“, jenes liberalen Ubgeordneten und Ausfchußmitglieds des bdeut- fhen Nationalvereins, jenes unermüdlichen Vorkämpfers für die deutfche Einheit, deffen die „Allgemeine deutſche Biographie“ mit fo hoher Auszeichnung gedenkt. Die Ultramontanen haben damals in ihrem Wüten gegen Wagner diefen mit Brater in eine gewiffe Beziehung gebracht, natürlich unter den tolliten Phan- tasmagorien über die Wagnerfchen Abſichten. Die folgenden Briefe belehren ung, daß diefe Witterung damals nicht ganz auf unrichtiger Fährte war: unter Vermittlung Pechts führten geheime Fäden von Wagner auch zu Brater. Was wir aber kennen lernen, ift freilih ganz und gar nicht ein embryonales liberale Minifterium Brater-Bölf ufw., fondern ganz etwas anderes, nämlich das Beftehen ganz entfchiedener politifcher Gegenfäge zwifchen Brater und Wagner. Leider können die entfprechenden Briefe Pechts an Brater nicht mit vorgelegt werden. Cine Anfrage bei den noch lebenden Anverwandten Braters nach diefen

426 Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner- Theaters.

möglicherweife noch vorhandenen Briefen ergab, daß die Briefe an Brater teilweife an ihre Urheber zurüdgegeben, teils, nachdem fich in langer, langer Zeit den An— verwandten keinerlei Aufmerkjamteit für diefe Schriftftüde tundgegeben hatte, ver- nichtet wurden. Durch die nächftfolgenden Briefe Brater8 aber werden wir ber lehrt, daß mit den Briefen Pechts an Brater böchftwahrfcheinlich ganz unerjet- liche Dokumente zur Gefchichte jener Tage verloren gegangen find. Die Bekannt: fchaft Pechts mit Brater datierte fchon feit den Tagen der „Südbdeutfchen Zeitung“. Auch gegenwärtig fchrieb Pecht für die Braterfche „Wochenfchrift der Fortichritte partei in Bayern“. Ein Auffag Pechts, den er an DBrater geſchickt, betitelt „Die liberale Partei und die Kunſt“, ift zunächft Gegenftand der Antwort Braters vom 10, Dftober. Dann aber fchreibt er:

Auch Ihre vertraulichen Mittheilungen verpflichten mich zu befonderem Danf, indem fie mir ald Fingerzeig zum richtigeren Verſtändnis der Dor- gänge dienen. Daß ich bei Befprechung der Miniftertrifis auf die königl. Schillerftudien angefpielt habe, werden Sie mir nicht als Indiskretion auslegen, da diefe Neigung früher fchon in Zeitungskorrefpondenzen, breiter ald nothwendig, befprochen mwurbe.

Die Pechtfchen vertraulichen Mitteilungen fcheinen zum erftenmal Verwertung in einer Notiz der genannten Wochenfchrift Nr. 41 vom 14. Dtober, ©. 340, ge funden zu haben, wofelbft es heißt: „Eine aus München ung zugelommene Mit teilung beftätigt, daß dort eine Minifterkrifis ausgebrochen ift, zweitens, daß es fih bei dem mutmaßlich bevorftehenden Minifterwechfel um eine reaftionäre Schwenkung handelt, drittens, da vorzugsweife Baron v. d. Pfordten in bieler Richtung tätig if. Man feheint jedoch der Zuftimmung des Königs noch nicht ficher zu fein....“ Im der folgenden Nummer 42 findet ſich fodann eine Be trachtung Braters über die Minifterkrifis, eben der Artitel mit der AUnfpielung auf die königlichen Schillerftudien, deren von Brater in der vorftehenden Briefftelle gedacht wird. Wenden wir ung nunmehr fogleich zum zweiten der Briefe Braters:

Erlangen, 4. De. 69. Berehrtefter Herr!

Sie find vielleicht mit der Art, wie ich Ihre legten Mittheilungen in unferer Wochenfchrift und autogr. Rorrefpondenz bis jegt benügt habe, nicht vollftändig einverftanden. Die Urfache der Differenz wird in drei Punkten liegen.

Zunächſt ſcheint mir die VBorausfegung W'ſagner)s, daß es fich bei Pfordten um ein Spftem der fchroffen Reaction handle, fehr wenig glaub- baft. Einmal wäre diefe Politik bei der jegigen Sachlage nahezu blöd- finnig, zweitens würde der Verfuch ihrer Durchführung eine Energie er fordern, die aller Wahrfcheinlichkeit nach Pf. felbft fich nicht mehr zufrauf. Sc glaube daher, daß man in dem Kampfe gegen das angebliche Neac- tionsproject fehr behutfam verfahren muß, um fich nicht zu compromittiren.

Diefelbe Behutfamkeit wird erforderlich fein, infoweit es fih darum handelt, für W. einzuftehen. W. wird durch feine Maßloſigkeit über kurz oder lang zu Fall gebracht werden. Ich erfenne demungeachtet an, daß wir vorerft ein Intereffe haben, ihn gegen Pfifterm.[eifter] ſoweit möglich zu unterftügen, was durch concentrirte Angriffe auf den legteren

Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner-Theaters. 427

gefchehen kann. Uber Ihre eigene Mittheilung läßt durchfchimmern, daß W. in einem wichtigen Punkt unfer politifcher Gegner ift und ung mög- licherweife fehr bald in die Nothwendigkeit verfegt, ihn direct zu be- fämpfen. Die deutfche Frage, wenn auch gegenwärtig an ihre Löfung nicht zu denken ift, eriftirt ja doch fort und es ift unberechenbar, wie früh oder fpät fie wieder in den Vordergrund fpringt. Aber ſchon jegt kann ed uns feinenfalld angenehm fein, daß der König unter dem Einfluß eines Mannes fteht, der die angeftammten partikulariftifchen Tendenzen in feinem Kopf fteigert und ausbildet. Wenn es vollends wahr ift, daß W. Leute wie Fröbel nah München zu ziehen fucht, fo werden Sie zugeben, daß für ung feine Urfache zur Förderung folcher Bemühungen eriftirt.

Es wird alfo fowohl in Bezug auf den Reactionsplan als auf die Perfönlichkeit W's mit einer Zurüdhaltung verfahren werden müſſen, deren Gründe Ihnen anzudeuten ich mich für verpflichtet hielt.

Uebrigens muß ich geftehen, daß mich die liberalen Anwandlungen des Königs mehr beunruhigen ald erbauen. Er wird, wenn W’3 Einfluß den Gieg davon trägt, feinen Minifter finden, der diefes Syſtem mit Energie, Fähigkeit und Klugheit durchführt, wird auf halbem Weg ftehen bleiben und umkehren und dann vielleicht auf Lebenszeit durch den erften unreifen und mißlungenen Jugendverfuch abgefchredt fein. Indeß folche Betrachtungen, die Ihnen fo nahe liegen wie mir, dürfen natürlich unfere praftifche Thätigkeit nicht beftimmen, fondern wo fich ein Keim zeigt, müffen wir ihn pflegen, auch auf die Gefahr hin, daß er Über Nacht abftirbt.

Fürchten Sie vorläufig noch feine Verlegung des Briefgeheimniffes, das bei und auch in den Fünfziger Jahren refpectirt worden ift. Sollte Pf. die Dinge dennoch fo weit treiben, wie man ihm zufraut, fo müßte freilich manche Vorfichtsmaßregel ergriffen werden.

Mit freundfchaftlicher Empfehlung Ihr ergebeniter Brater.

Diefer Brief ift in feinem Reichtum an unfchäsgbaren Mitteilungen ein prächtiges Gegenftüd zu dem Pechtfchen vom 17. März. Jedenfalls gebt aus ihm hervor, al ein wie bedeutender politifcher Faktor Wagner von den Parteien damals betrachtet wurde, daß er unzweifelhaft ein folcher zu fein verfuchte, daß die Llltramontanen von ihrem Standpunkte aus recht hatten, wenn fie ihn fürch- teten und befämpften, endlich, dad Wagner damals, wofür man bisher einen bündigen Beweis nicht bejaß, den König politifch und zwar partifulariftifch zu beeinfluffen fuchte, daß alfo die Mitteilung Pechts über die bei Wagner in Gedanken ftattfindende Mitregierung Bayerns, ein Umſtand, der Glafenapp fo fraglich erfcheint, dennoh auf fehr realer Grundlage beruht. Der dritte Brief Braters vervollftändigt noch diefe Gemwißheit und lautet:

Erlangen, 24. 12. 65. VBerehrtefter Herr! Ihre Beforgniß, ich möchte die mir vertraulich mitgeteilten Daten in der Preffe benügen, war ungegründet, und es hat mir leid gethan zu fehen, daß Ihr Glaube an meine Enthaltfamkeit noch auf ſchwachen Füßen fteht.

428 Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner- Theaters.

Inzwiſchen hat alfo die Wagner’fche Epifode ein rafches Ende ge- nommen. Sch begreife, daß Sie fich perfönlich erleichtert fühlen, denn ih weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, im intimen Verkehr mit folchen ercentrifchen Perfönlichkeiten zu ftehen, bei welchen das philifter- bafte Gefindel die Ercentricität, nicht aber das Genie fieht.

Politifch genommen ift die Entfernung W's vermuthlich ein Ge- winn. Die allgemeinen Anfchauungen, die er dem König eingeprägt hat, fönnen heilfam nachwirken, während W. durch feine Einmifchung in das praftifche Detail nur Verwirrung und vielleicht Unheil geftiftet hätte. Wenn es freilich wahr ift, was man ihm jest nachfagt, er habe dem König die Lehre vom erleuchteten Despotismus gepredigt, jo ift das im Jahre 1865 eine gefahroolle Doctrin für den jungen Schüler geweſen.

Meine frühere Aeußerung über Fröbel haben Sie vielleicht miß- verftanden. Ich ſprach ausschließlich von den politifchen Tendenzen, bie F. während feiner Thätigfeit in Wien verfolgt hat. Wir waren in diefem Punkt Antipoden und fo fonnte ich unmöglich feine Verpflanzung nach München als einen wünfchenswerthen Vorgang betrachten.

Mit freundfchaftlicher Empfehlung Ihr ergebenfter Brater.

* * *

Wir übergehen nunmehr das Kriegsjahr 1866 und wenden uns ſogleich zum Beginn des folgenden Jahres, zu welcher Zeit, wie wir aus dem folgenden Briefe Sempers an Pecht erſehen, die ganze Angelegenheit von den un— mittelbar beteiligten Perſonen noch ſehr hoffnungsvoll betrachtet wurde. Eine andere Betrachtungsweiſe war ja auch im Hinblick auf die von Dürck a. a. O. beigebrachte Antwort des Hofſekretärs v. Düfflipp an Semper nicht möglich, welcher verſicherte, „was den Theaterbau ſelbſt betreffe, ſo ſtehe bei Seiner Maje- ſtät der Entſchluß noch immer feſt, damit fo bald wie möglich beginnen zu laſſen“. Ob diefe Antwort den tatfächlihen Verhältniſſen auch wirklich entiprach, iſt natürlich eine andere Frage, deren Erledigung wir dahingeftellt fein laffen. Semper felbft fchreibt den folgenden Brief an Pecht:

Hottingen b. Zürich d. 2. Febr. 1867.

Verehrter Herr und Freund!

Sch fühle feit dem legten Abend, den ich das Vergnügen hatte, in Ihrer Gefellfchaft zugubringen, Ihnen gegenüber mein Gewiſſen mit einem Vorwurfe belaftet, wofür ich Sie um Abfolution bitten muß.

Es paffirt mir nämlich infolge einer mir angeborenen unfeligen Ge- fühlsnaivität, die der Wein fteigert, daß jemehr ich die Wahrheit einer Kritik, die mich oder meine Sache trifft, einfehe und fühle, defto ſchwerer ed mir wird, fie ohne Widerfpruch hinzunehmen und die erjte Wirkung derfelben auf meine Empfindlichkeit zu verbergen. Doch fteigert dann die darüber empfundene Reue die Nachhaltigkeit des heilfamen Einflußeg, den ber gerechte Tadel auf mich übt. Gie hatten volllommen Recht mit

Neue Urkunden zur Gefchichte Des Münchener Wagner- Theaters. 429

dem Bedenten, welches Sie über die disharmonifche Wirkung der Licht: Öffnungen unter dem Hauptdache des Bühnenhaufes am Feftbaue aus- fprachen, und ich das größte Unrecht mich darüber zu vertheidigen ſogar Ihr Mißfallen an diefem Motiv auf Rechnung Ihrer individuellen kunft- biftorifchen Anſchauungsweiſe zu fegen. Indem ich diefes hier offen be- fenne, bitte ich Sie diefes mein Unrecht meiner unverbefferlichen Natur zu Gute zu halten und mir deshalb nicht zu grollen. Ich finne darauf dem von Ihnen hervorgehobenen Lebelftande abzuhelfen, habe aber dazu das rechte Mittel noch nicht finden fünnen. Dielleicht geben Sie mir einen Wink, wie ich es anzufangen habe, in anderer Weife die todte Maſſe des überragenden Bühnenbaues zu beleben.

Doch preffirt diefe Frage durchaus nicht, wogegen es vielleicht fchon jest höchfte Zeit wäre, gemwiffe andre Fragen, die das Unternehmen, um das es fich handelt, betreffen, ind Auge zu faflen.

Der alte Schuhu aus München hat neulicht wieder feine heifere, unbeilverfündende Stimme in der Augsburger U. Zeitung gegen Wagner’s Rückkehr und gegen mein Project erhoben. Er hat fogar gedroht! Diefer Kauz niftet offenbar unter oder nahe dem Dache der Refidenz! Es wäre gut, wenn feinem böswilligen Gefchrei eine andere wohlmollende Stimme antwortete; ed wäre vor allem gut, wenn Etwas zu Gunften des Pro— jectes im Allgemeinen, nämlich zu Gunften der Anlage einer neuen Straßen- linie, in der Verlängerung der DBriennerftraße durch die St. Annavor ftabt, ind Publitum käme.

Die Zukunft derartiger Unternehmungen entzieht fich freilich einer fiheren Vorausberechnung, aber wenn mich meine innere Leberzeugung dießmal nicht gänzlich trügt, wird fich dort in dem wüften Labyrinth der St. Annavorftadt, in unmittelbarfter Nähe der Refidenz, am Rande der berrlichften Parkanlagen Deutfchlands, an den wilden, aber malerifchen Ufern der Iſar, dereinft der Mittelpunkt des Verkehrs der Hauptftadt feftfegen, wenn dieſes jest fo fehr vernachläffigte Terrain durch an- gemefjene Straßentracdes entwirrt und zugänglich gemacht fein wird. Die Marimiliansftraße erhält durch eine Parallelftraße und durch Querftraßen zwiſchen beiden erft einen Zweck. Eine Brüde in der Mitte zwifchen der (ohnedieß unzulänglichen) Bogenhaufer Holzbrüde und der Marbrüde ift feineswegs Lurus, fondern nothwendig, fo wie man beabfichtigt, die Refi- benz nach der Richtung hin zu erweitern und zu verfchönern, die allein ſich rechtfertigt. Die Beweiſe defjen liegen nahe. Ihr Scharffinn wird fie in das nöthige Licht fegen.

Die faft werthlofen, bedeutenden Ländereien diefes Viertels, ihre unbenügten Waflerfräfte werden fehr bald um das zehnfache an Werth gewinnen. Ein Kapitalift oder eine Gefellfchaft würde durch Aquifitionen daſelbſt ficher jegt ein lufratives Gefchäft machen, wenn das Unternehmen gefichert wäre. Dazu fommt die Ausficht auf Freizügigkeit und Gewerbe- freiheit, durch welche gerade diefer Stadttheil gewinnen muß. Diefe und andere Dinge würden der öffentlichen Befprechung werth genug fein und zwar der fofortigen, wenn nicht ein Umſtand große Vorſicht nöthig machte. Ich meine die nöthige Nücficht und Discretion gegenüber der

430 Neue Urkunden zur Gefhichte ded Münchener Wagner-Theaters.

Königlichen Majeftät und Ihren Allerhöchſten AUbfichten, die, wenn fie dahin gehen, das Project des Feftbaued und der Straße auszuführen, zu der Aquiſition bedeutender Ländereien und Befigthümer führen müßten, deren Befiger ihre Forderungen fteigern würden, fo wie fie durch öffent- liche Befprechung diefer Intentionen mit der Nafe auf ihren Vortheil direfte geftoßen würden. Daher möglichft allgemein fich faflen, wenn überhaupt aus befagtem Grunde gerathen ift jegt ſchon zu fprechen.

Indem ich fchließe, verehrter Freund, bitte ich Sie um gefällige Antwort. Theilen Sie mir mit, was nur halbiweg auf die Angel. Bezug bat und mich unter... . .') kann. Auch grüßen Sie unfere werthen Freunde Neureuther, Fries, v. Meyer, Fueßli etc.

Ihr ganz ergebener G. Semper.

Es ift nicht notwendig, den Worten Sempers noch befondere Erklärungen folgen zu laffen, denn fie fprechen genügend für ſich felbf. Man erinnere fich nur, mit welcher Bewunderung Friedrih Pecht in feinem „Gottfried Semper“ über die Pläne und Modelle des ausgezeichneten Künftlers, welche er geſehen, fein Urteil abgibt man erinnere fich deffen und vergleiche ferner in Gedanten die kühnen Pläne des Architekten mit Beziehung auf die Umgeſtaltung der Gt. Annavorftadt mit demjenigen, was heute an Stelle der Pläne Sempers dort fich entwidelt bat ein Labyrinth wie ehedem, nur daß die Straßen breiter und die Häufer höher find: In der That! Der Semperfche Bau, gedacht auf der Höhe des Bafteiges, und des Architekten Straßenpläne einerfeit®, die heutige Geftalt des genannten Stadtteile andererſeits unfchwer läßt ſich aus Ddiefer Gegenüberftellung erkennen, welcher in Wahrheit durchaus barbarifche Streich damals der Runftftadt München verfegt wurde. „Der alte Schuhu aus München,“ deffen Semper gedentt, ift in einer Rorrefpondenz der Allgemeinen Zeitung (Nr. 25 vom Sabre 1867, Beilage, datiert vom 24. Januar) zu fuchen, deren Inhalt fich aus den GSemperfchen Bemerkungen ergibt. Auf feinen Brief erhielt er folgende

Antwort: München d. 6. Febr. 1867, QAmalienftr. 7/2. Hochverehrter Meifter!

Sie haben wirklich zu viel Nachficht mit mir, daß Sie fih aud noch Gedanken über Ihre Zurüchweifung meiner Einwendungen gemacht haben, die ja gar nicht fo fehr ernfthaft gemeint und überhaupt weit eher eine Frage, eine Erläuterung als ein Tadel waren, den ich mir überhaupt einer fo unendlich überlegenen genialen Kraft gegenüber gewiß nicht leicht erlauben würde. Am wenigften wenn diefelbe eine Aufgabe jo glän- zend gelöst hat, als die in dem vorliegenden Falle gefchehen, für den ich feinen anderen Wunfch habe, als möglichft zum Inslebentreten des herrlichen Projecte8 beytragen zu können, foviel in meinen geringen Kräften fteht. Aber offenbar muß dieß mit großer Vorficht gefchehen. Sowohl die Freunde als ich waren der Meinung, daß es fchiwerlich ge- rathen wäre, gleich jegt eine Polemik gegen den an fich fo nichtsfagenden

!) Unleferliched Wort.

Neue Urkunden zur Geſchichte des Münchener Wagner- Theaters. 431

Artikel in der Allg. Ztg. anzufangen, der im Grunde nichts bezeugt als das Lebelmollen des Verfaſſers.

Ihre Anficht über das Straßenproject in ber Annenvorftabt würde, wenn vorgebracht, zu vielen Ungläubigen jest begegnen, weil die Meiften weit eher an eine Verkleinerung als an eine Vergröfferung der Refidenz in der Zufunft zu glauben geneigt find und die Mebdiatifirung Bayerns nur als eine Frage der Zeit betrachten.

Diefer weit verbreiteten Stimmung gegenüber, die fich übrigens in einem Sahre vielleicht auch wieder ganz geändert hat, hätte ich es für meinen Theil viel lieber gefehen, wenn Gie vorläufig nur das Theater- project felbft zur Ausführung zu bringen getrachtet und das Gtraßen- project vertagt hätten. Ihr Gebäude wird, auf dem Gafteigberg ausge führt, unter allen Umftänden die fchönfte Zierde der Stadt feyn, mit oder ohne Straße, die Münchner würden fich alfo fehr bald damit verfühnen trog alles Widerwillend gegen Wagner. Außerdem hätten Gie bey alleiniger Ausführung defjelben beynahe gar feine vorläufigen Schwierig- feiten zu überwinden, da das Terrain dem König gehört, und es wäre rafch vorwärts zu bringen. Die Erpropriationen für Die Straße wären jest, wo alle Welt das Project ja kennt, gerade fo theuer als fpäter, wenigftend der Unterfchied ſchwerlich fehr erheblich, die Verzögerung aber unermeßlich, bey dem fchlechten Willen, der bey den ausführenden Organen mit Sicherheit vorausgefegt werden kann.

Eben jest fteht wieder in einer Zeitung, das Gtraßenproject jey aufgegeben und der Bau komme an Stelle der Hofgartentaferne zur Aus- führung. Iſt Ihnen etwas davon befannt?

Mir wäre ed auch fo noch lieb, obwohl ich den Bafteig bey weiten vorzöge, weil da das Gebäude als ein bloßer Zierbau, ald Schmud der Stadt fi) am meiften rechtfertigt.

Wollen wir alfo mit der ausführlichen Befprechung noch einige Zeit warten, fo werde ich das Project doch fehon vorläufig in diefen Tagen in meinem regelmäßigen Runftbericht im Aprilheft der Lügom’fchen Zeitfchrift f. b. Runft, ungefähr aus den von Ihnen angedeuteten Gefichts- punften aus, befprechen, und natürlich alles nicht als gewiß, fondern als in der Schwebe befindlich darftellen. Aus der Zeitjchrift, die Mitte März mit diefer Befprechung erfcheint, kann man dann nach belieben diefelbe in andere Blätter übertragen laffen, wenn ed zwedmäßig erfcheint.

Dieb für den Augenblid unfere Project. Meinerfeitd wäre es mir, wie gefagt, am liebften, wenn der Bau felber fo bald als möglich angefangen würde. Das Leben ift kurz, und ich möchte Ihnen auch die Freude gönnen, denfelben noch fertig ald Krone Ihrer künftlerifchen Wirt- famfeit ftolz prangend zu ſehen!

Mit unmandelbarer Verehrung Ihr Gr. Pecht.

Don den Aeußerungen Pechts in diefem Schreiben wird man ohne Zweifel jene böchft intereffant finden, welche fih mit der gerüchtweife verlautenden Plazie-

432 Neue Urkunden zur Gefhichte ded Münchener Wagner- Theaters.

rung des Theaters an Stelle der Hofgartentaferne beichäftigt. Nachdem an diefer Stelle in unferen Tagen die prachtvolle Anlage mit dem neuen Armeemufeum entftanden ift und auf diefe Weife ein Bild gefchaffen wurde, welchem, fo viel man auch fonft gegen das Gebäude felbft als Runftwerf einzuwenden haben möge, der Charakter großartiger Monumentalität nicht abzufprechen ift, wird man fich den Worten Pechts anfchließen und fagen müffen, daß der Bau auch auf diefem Plage zu prächtiger Wirkung gelangt, wenn er nur überhaupt zuftande gefommen wäre, Im übrigen können wir und wohl mit Beziehung auf diefen und die folgenden Briefe, welche fich gegenseitig felbft erläutern, fehr kurz faffen; umfo- mehr, da das Ende der Dinge, auf welches wir jest, unter Berührung einiger Momente welche mit der Bauangelegenheit entweder in gar feinem oder nur in lofem Zufammenhang ftehen, zufteuern, fattfam bekannt ift.

München d. 17. Febr. 67.

QAmalienftr. 7/2. Geehrtefter Herr und Meifter !

Architeft Hügel hat im hiefigen Architekten und Ingenieur Verein eine Borlefung über Ihren Theaterbau, wie ich höre, mit Vorzeigung ber photographifchen Pläne u. Aufriffe angefündigt, die in ca. 16 Tagen gehalten werden fol. Da ich nun nicht weiß, ob dieß mit Ihrer Er- mächtigung gefchieht und ob es Ihnen nicht möglicherweife fogar unan- genehm ift, jo will ich Sie doch lieber davon in Kenntniß fegen, damit Sie fich dieß noch rechtzeitig verbitten fünnen, wenn ed Ihnen nothwendig ſcheint ... .

Meine eigene Befprechung Ihres Projects in der Lügomw’fchen Zeit- fchrift werden Sie wohl gelefen haben.

Wagner ift bier, hat fich aber noch nicht bey mir fehen Laffen, fo daß ich gar nicht weiß, wie Ihre QUngelegenheit fteht.

Nächſte Woche gehe ich nach Paris, um über die dortige Kunſt ausftellung ein Buch zu fehreiben, vielleicht ſehe ich Sie dort?

Hochachtungsvollſt Ihr

Fr. Pecht.

Die erwähnte Beſprechung Pechts in der Zeitſchrift für bildende Kunſt beginnt mit einem Hinweis auf die Eiferſucht der Künſtler. Wir vernehmen von dem genauen Kenner der Münchener Verhältniſſe „ſpeziell, daß die Schöpfungen der Architekten keine gefährlicheren Feinde beſitzen, als die Architekten ſelber, welche die anderen zu vernichten trachten.

Ich weiß nicht, ob es vielleicht letzterer Eigentümlichkeit zuzuſchreiben iſt, wenn gegen die Ausführung des herrlichen Modells, welches Semper zu dem vom König beabſichtigten Bau eines großen Feſttheaters kürzlich hierher gebracht, bereit® auch fchon Stimmen laut geworden find... .“

Diefer Hinweis, der befonders in feinem erjten Teile ſehr vielfagend ift, deutet uns abermals an, woher überall die Dpponenten gegen das Projekt ſich zufammenfanden. Daß eine Oppofition, wenn fie vorhanden fei, fich notwendiger: weife in den Zeitungen breit machen müßte, zumal eine Oppofition diefer Art, ift doch wirklich eine merkwürdige Annahme. Pecht verbreitet fich noch weiter über diefe Oppofition, über dieſes unbeftreitbare Vorbandenfein gewiffer Anti— pathien jtatt begeifterten Dantes an den König, „München würde einen Reiz

Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner-Theaters,. 433

erhalten,” fo konzentriert fich bei diefer Gelegenheit fein begeiftertes Lob des Pro- jeftes, „wie ihn in diefer Urt von organifcher Verbindung grandiofer Pracht: bauten mit den reizendften Ausſichtspunkten geſchmückten, längs eines höchſt male: riſchen Fluffes, auf fonniger Höhe fich hinziehenden Parkanlagen feine einzige deutiche Stadt in höherem Maße aufzumeifen hätte, felbft Dresden mit feiner weltberühmten Brüblichen Terraffe nicht ausgenommen.“

Semper jelbft antwortet auf den Pechtfchen Brief nach etiva vier Wochen

und fchreibt. Verehrtefter Herr und Freund!

Ich Habe Ihre geehrte Zufchrift erft heute hier in Florenz erhalten und indem ich Ihnen für die darin enthaltenen fehr befremdlichen Mit- theilungen herzlichen Dank weiß, beeile ich mich fofort darauf zu ant- worten, hoffend, daß mein Brief noch vor Ihrer Abreife eintreffen wird.

Architeft Hügel ift ein zudringlicher Menfch, der mich mit Befuchen, Zufendungen und Gefuchen bombardirt hat und folcherweife ein Eremplar der Photographien meines Theaters fo zu fagen mit Gewalt fich eroberte. Niemals habe ih Ihm die geringften Ausfichten gejtellt, noch weniger ihn berechtigt über meine Pläne und Abfichten, die er nur halb kennt, Vorleſungen zu halten. Am wenigften gefällt es mir, daß er dieſes vor einer Gefellfchaft von Architeften und Ingenieuren zu thun beabfichtigt, vor einer Gefellfchaft, deren Gefinnung mir und meinen Plänen gegen- über voraugfichtlich nicht ſehr günftig fein bürfte.

So viel daher in Ihrer Gewalt fteht, bitte ich Sie dringend, Herrn Hügel von feinem Vorhaben abzubringen, ihm unter anderem bemerflich zu machen, daß der König fehr leicht hierin eine durch mich verurfachte Indie: eretion fehen könnte, was mir und meinen Abfichten nur Schaden brächte.

Sch zweifle, ob diefer Brief Sie noch treffen wird, fonft hätte ich demfelben ein directed Schreiben an Hügel beigelegt. Go ziehe ich ed vor befagten Brief an feine eigene Adreſſe, die ich freilich nur unvoll- ftändig fenne, abzufchiden.

Ich bin hier in eine fehr langweilige Affaire verwidelt, wobei ich offenbar nur pro forma fungiren foll, aber Herr Ernſt Förfter dürfte ſich in mir getäufcht haben, wenn er glaubte, mich am Narrenfeil führen zu können. Doch darüber päter. Glückliche Reife und befte Grüße an Neureuther, Fries, Meyer und alle guten Freunde.

Der Ihrige

Florenz, Penfion Suiffe 22. März 67. G. Semper.

Was die in diefem Schreiben berührte „langweilige Affäre” anbetrifft, fo befand ſich Semper damals ala Gutachter in einer Konkurrenz zu (Florenz, be- treffend eine Faffade am dortigen Dom, worüber Näheres in G. Gempers „Kleinen Schriften“ (Berlin und Stuttgart 1884, ©. 496) zu finden if. Im übrigen geben wir fogleich zum folgenden Briefe Pechts über:

München d. 19. Juni 67. Sehr geehrter Herr und Freund!

Ihr mwertes Schreiben vom 22, März traf mich nicht mehr hier, fo daß ich auch das darin gewünfchte nicht mehr beforgen konnte, indeß Süuddeutſche Monatshefte. II,11. 28

434 Neue Urkunden zur Gefhichte des Münchener Wagner- Theaters.

bat Hügel feine angekündigte Vorlefung, wie ich Ver nicht gehalten, wahrfcheinlih auf Ihren Brief hin.

Dagegen möchte ich ein wenig mit Ihnen yanten, daß Sie auf der Pariſer Ausstellung Ihr Fefttheater nur in einer fo Heinen Zeichnung ausftellten und demfelben nicht? beygaben, was ausgeführt ift, denn auf Projecte, die nicht ausgeführt find, wurde von der Jury grundfäglich fein fo großer Werth gelegt als auf ausgeführte Bauten. Ohne dieß hätten Sie unbedingt die große goldene Medaille befommen müffen, da außer Hanſens Plänen, der denfelben Fehler beging wie Gie, nichts da war, was Ihnen irgend den erften Plas hätte im entfernteften ftreitig machen können, die Franzofen hatten unendlich viele und ganz prachtvoll ausgeführte Zeichnungen, von Violet-le-Duc allein waren vielleicht 60 da —, aber nichts, was ſich an innerem ächten Gehalt irgendwie mit Ihnen meſſen fönnte, ebenjo die Engländer, obwohl diefe in der Architeftur den Delion auf der Oſſa zu thürmen lieben.

Ich werde Ihnen meine Relation über die Architektur auf der Aus- ftellung in einigen Tagen, fobald ich fie gedruckt habe, zufenden, da es Sie wahrfcheinlich intereffirt, überhaupt nur etwas darüber zu hören. Leider habe ich fie, da ich ein Buch über die ganze Ausftellung zu fchreiben hatte, nicht fo ausführlich halten können, als ich gewünſcht hätte. Iedenfalld hat mich aber die ziemlich genaue Unterfuchung fämmt- lichen vorliegenden Materials, der ich mit Hanfen gemeinfam einen ganzen Tag widmete, auf's Neue in der hoben Verehrung von der genialen Schöpferkraft beftärkt, über die Sie, geehrter Meifter, gebieten, und die Ihnen unter den jeßt lebenden Architekten meines Erachtens den erjten Pla fihert.

Mit diefem Eredo, und der Verficherung meiner unermüdeten Der- ebrung ſchließt ghr

Fr. Pecht.

Sempers Antwort beſchäftigt ſich ſodann wiederum unmittelbar mit der Bauangelegenheit und nun werden die Dinge höchſt ernſthaft. Semper ſchreibt:

Verehrter Freund!

Der Inhalt Ihres freundlichen Schreibens vom 19er dieſes bat mich nicht überrafcht, denn ich wußte vorher, daß meine Arbeiten dort nicht am Plage waren. Weil ich auf Befehl meines Schulrathspräfi- denten Etwas fchiefen mußte, aber zugleich auf einen beftimmten Quadrat- flächeninhalt für mein Theil angewieſen war, fügte ich mich darein, mich an der Ausftellung zu betheiligen in einer Weife, die mir am wenigſten Arbeit und Mühe machte. Ich rechnete auf feinen Erfolg und gönne meinen jüngeren fampfluftigen Collegen gerne die ihrigen. Sa ich bin des Kampfes müde und zwar erft vollftändig, feitdem ich immer deut- licher febe, daß auch meine legte große Unternehmung auf nichts hinaus- läuft oder höchftend Anderen zu Statten fommt. Go lefe ich heute in einem Schweizer DBlatte (Handelskourier), daß der König Ludwig den Glaspalaft einrichten läßt, um den neu einftudirten Lohengrin darin auf-

Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner-Theaters. 435

zuführen. Sie wifjen, daß ich viele Zeit und Mühe verlor mit Plänen, dem Modell nebft Koftenanfchlägen für eine folche proviforifche Bühne im Glaspalafte. Jetzt läßt man mich gänzlich unberüdfichtigt. Noch beforgter macht mich das Myſterium, das den mir unter fo beftimmten Ausdrücken zugeficherten Bau des definitiven Fefttheaterd umgibt. Keine Nachricht darüber weder von Wagner, noch von dem Cabinet, oder fonft woher. Das Modell verfchtwunden oder doch unfichtbar. Ich hege darüber meine eigenen, ziemlich düfteren Gedanken und bin in einer Stimmung, die, wenn fie fich feftfegt, den längft mebditirten Entfchluß, mich) von der baulihen Praris und überhaupt von der Baukunft gänzlich loszufagen und nur noch höchſtens des lieben Lebensunterhaltes wegen fortzufahren zu paufen und zu dociren, zur Reife bringen wird, Ich bin entfchloffen einen entfprechenden Schritt zu thun, wünfche aber vorher Näheres zu erfahren, was Gie vielleicht im Stande und Willens find mir mitzutheilen, Zunächſt wie verhält e8 fich mit der plöglichen Abreife Wagner’3 im Zufammenhange mit deffen offenen Briefe an Tichatſcheck? Wer find die verkommenen edlen Kräfte, von denen W. in dem Briefe fpricht? Was ift an dem Gerede über eine proviforifche Bühne im Glaspalafte? Wer ift mit diefer Einrichtung beauftragt? Was ift aus meinen Plänen zc., denfelben Gegenftand betreffend, geworden? Was verlautet fonft noch bei Ihnen über diefe und die wichtigere Ange- legenheit des definitiven Baues? Jeder Umftand ift mir wichtig zu willen. Sie fehen ich beute Ihre Erlaubniß, Sie in meinen Angelegenheiten be- belligen zu dürfen, in ziemlich indiscreter Weife aus; halten Gie mir es aus alter Freundfchaft zu Gute, die ich um feinen Preis verfcherzen möchte. Schelten Sie mich lieber nach VBerdienft, aber verfagen Gie mir nicht Ihre Antwort, die ich in Bälde erwarte. Viele Grüße an Neu- reutber, Fries, v. Meyer und die übrigen Freunde!

Ihr ganz ergebener Freund Hottingen b. Zürich, d. 30. Juny 1867. G. Semper.

Mit diefem Briefe vom 30. Juni ftehen wir nunmehr fogleich vor der ver- nichtenden Eröffnung, welche Gottfried Semper über das Scheitern feiner großen Pläne bald darauf zu teil werden follte. Niemand ficherlich wird ſich dem Ein- druck diefes von höchſter Erregung diktierten Schreibens, diefer zum teil fehr fhmerzlihen Worte entziehen können. Die duntelften Gedanten erfüllen das Herz des Künftlers, welche der folgende Brief Pechts nur auf kurze Zeit zu zerftreuen beftimmt war. Pecht antwortet fofort nach Empfang des Schreibens:

München d. 1. Juli 1867. QAmalienftr. 72,

Hochverehrter Meifter und Freund! Ihre Fragen kann ich nach beſtem Wiffen, wie folgt, beantworten, nachdem ich vorher noch zu Frau von Bülow gegangen bin, um ihr die- felben gefprächsweife und ale von mir fommend nach und nad

vorzutragen. Die Gefchichte mit dem Bau im Induftriepalaft ift eine reine Fabel,

436 Neue Urkunden zur Gefchichte des Münchener Wagner- Theaters.

was ich auch ohnehin fehon vermuthete. Dagegen meint Frau von B. durchaus nicht, daß der große Bau aufgegeben fey, hält im Gegentheil dafür, daß das Project fofort wieder aufgenommen werden dürfte, fo- bald die DVerhältniffe nur irgendwie etwas mehr Gonfolidität haben, als jegt der Fall ift. Freilich ift das auch nur die Vermuthung einer für Sie fehr eingenommenen geiftreihen Frau, aber da fie volllommen gut unterrichtet feheint, fo ift ed doch immerhin etwas. Sie läugnet auch durchaus, daß Wagner irgendwie in Ungnade fey. Der Brief des Leg- teren an Tichatſchek, der übrigens ftark verändert in die Zeitung ger fommen fey, wäre nichts als eine Freundlichkeit, eine Art Schmerzeng- geld des Erftern für den alten Sänger. Die verfommenen edlen Kräfte find Niemand anders als die deutfchen Schaufpieler u. Sänger, was aber T. nicht abzudruden wagte.

Damit wären Ihre Fragen erledigt, fo weit ich dies im Stande bin, denn Fr. v. B. fagt mir natürlich auch nur, was ihr gut dünkt, ich habe aber keinen Grund an der Richtigkeit deffelben zu zweifeln; den Bau jegt anzufangen, angefichts der fo drohenden Gonftellationen, die eines fchönen Tages die Eriftenz des Königreichs Bayern felber in Frage ftellen könnten, das wird der König nicht wagen, dazu müßte er vor allen Dingen ein viel befjerer Haushälter feyn. Daß er aber die Leidenjchaft für Wagner’fhe Mufit in keiner Weife verloren bat, und alfo wahr- fcheinlich die für ihren Autor auch nicht, das lehrt der Augenfchein täglich.

Ich kann Ihnen daher nicht rathen, die Sache zu foreiren, was vorausfichtlich doch zu nichts führen könnte, Dagegen würde ich mich für das fchon Geleiftete jedenfalls bezahlen laflen, wenn Sie das nicht ſchon gethan haben.

Ich begreife Ihre Ungeduld um fo beffer, als ich fie theile, aber wenn der erſte Architeft, der jegt lebt, auf den abentheuerlichen Gedanken fömınt, gar nicht mehr bauen zu wollen, fo ift das doch mehr, als er hoffentlich jemals ausführen wird. Machen Sie einftweilen Ihr un- fterbliche8 Werk über den Styl fertig, wenn Sie gerade nichts befferes zu thun haben, was fich übrigens bei genauerer Unterfuchung doch wohl finden dürfte. ebenfalls ift die Situation, wenn auch nicht gut, doch keinesfalls hoffnungslos, und Sie übertrieben fich diefelbe offenbar. Meiner Discretion können Sie übrigens fo ficher feyn als meiner ver- ehrungsvollen Freundfchaft, und der aller Ihrer hiefigen Bekannten.

In diefer verbleibe ich denn, auch zu ferneren Mittheilungen jeder-

zeit erbötig, Ihr Fr. Pecht.

Mit vorſtehendem Briefe ſind wir am Schluſſe deſſen, was an neuen Dokumenten über die Bauangelegenheit, die beteiligten Perſonen und die be— gleitenden Umftände vorgelegt werden konnte. Ohne Zweifel werden diefe Briefe den Biographen der verfchiedenen Perfönlichkeiten eine fehr wertvolle Bereicherung ihrer Materialien bieten und dazu beitragen, daß die Aufklärung über die, da- mals jene unerhörten Vorgänge bewirfenden, dunkelen Mächte noch größer werde als fie es bis heute ſchon iſt. WVielleicht werden diefe Briefe aber auch im bejonderen jenem GSchriftjteller, der den Sat aufitellte, daß Wagner es felbit

Thaddäus Zielinsfi: Die fieben Todfünden. 437

geivefen, der den Aſt abfägte, auf dem er faß, zeigen, woher der Wind wehte, der Wagnern binwegfegte und den herrlichen Gemperfchen Entwurf über den Haufen ftürzte. Es fei noch darauf hingewieſen, daß die verfchiedentlich genannte Arbeit Manfred Sempers in „Bühne und Welt“ zu den bier veröffentlichten Briefen des Jahres 1867 eine fehr gute nähere Orientierung bietet und darauf aufmerkſam gemacht, daß wir von demfelben Autor in nächfter Zeit eine größere Arbeit zu erwarten haben, welche, unter VBorlegung eines großen Teils ungedrudten Materials, die gefamte Feftfpielbausangelegenheit in ausführlicher Weife von neuem behandelt.

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Die fieben Todfünden. Bon Thaddäus Zielinsti in Gt. Petersburg.

Es ift mit das populärfte Stüc der chriftlichen Moraltheologie, von dem bier die Rede fein fol. Bildende Kunſt und Poefie haben geiwett- eifert, um feine Bedeutung auch denjenigen zum Bewußtſein zu bringen, die von dem firchlichen Dogma nicht direkt berührt wurden; um von diefer allein zu reden, fo genügt der Name Dantes, der feiner Schilderung des Fegefeuerberges eben unfere Einteilung zu Grunde gelegt hat. Durch die Röhre des Höllentrichters find die beiden Wanderer, Dante und PVirgil, wieder an die Oberwelt gelangt, auf der unferem Weltteil abgefehrten Seite der Erde. Sie fehen einen hohen Bergkegel vor fich, der in fieben fich all- mäblich verjüngenden Terraffen oder Bändern zum Himmel bier in der Tat zum Himmel emporfteigt. Drei Stufen die weiße der Auf- richtigfeit, die Dunkle und gebrochene der Neue und die rotglühende der Liebe führen zum Tore, wo ber Engel des Herrn mit der Spige des Schwertes auf der Stirn des Schauers fieben P (peccati oder piaghe) zeichnet: auf jedem der fieben Bänder foll er fich von je einem läutern. Das erfte Band dient denen zum Bußort, deren Hauptfünde der Stolz war: fie fchleichen langfam daher, unter Steinlaften gebeugt, und haben Muße genug, die an der Bergwand angebrachten Darftellungen zu betrachten, die ber Berherrlihung der Demut geweiht find. Eine Treppe führt zum zweiten Band empor, wo der Neid feinen Straffig hat: weil feine Schar bei Leb- zeiten allzufcharf auf die Vorzüge des Nächften geblickt, find ihr bier die QAugenlider mit eifernen Fäden zugenäht. Auf dem dritten Band büßen diejenigen, die dem Zorn unterworfen waren: ein dichter Qualm umgibt fie, jo wird die Wirkung ihrer Leidenfchaft auf Sehkraft und Erkenntnis verfinnbildlicht. Das vierte Band ift für die Trägen beftimmt: durch rafches Laufen und lautes Schreien büßen fie die Läſſigkeit ihres Erden- lebens ab. Dem Geiz und den Geinen ift das fünfte Band bejtimmt: fie weinen, dahingeftredtt und das Antlig der Erde zugefehrt, deren Schägen fie bei Lebzeiten übermäßig nachgehangen haben. Das folgende fechfte Band

438 Thaddäus Zielinski: Die fieben Todfünden.

trägt diejenigen, die der Böllerei gehuldigt haben: ihre Buße ift beftän- diger Hunger und Durft, deren Folgen ihre entjeglihe Magerfeit verrät. Auf dem fiebenten endlich wandeln die Wollüftigen einher, von ber ewigen Flamme umgeben, die ihre unreinen Begierden läuternd verzehrt; von diefem legten Ringe aus wird über die legte Treppe das irdifche Para- die erreicht, das der Baum der Erfenntnis überragt.

Das find die fieben Todfünden; ihre Reihenfolge pflegt übrigens in den QAufzählungen eine andere zu fein, und zwar eine ſolche, daß bie fieben lateinifhen Namen superbia, avaritia, luxuria, ira, gula, invidia und acedia in ihren Initialen das bequeme, wenn auch finn- loſe Merkwort saligia ergeben. Ihr Haffifches Anſehen verdanken fie den Sentenzen des Petrus Lombardus, des berühmteften und einflußreichften Theologen des 12. Jahrhunderts; doch läßt fich ihr Vorkommen weit in die Frühzeit der chriftlihen Kirche zurüd verfolgen. Ihr Vorkommen ob auch ihr Urfprung? Das war eben das Rätfel.

An fi) würde der Vermutung nichts im Wege ftehben, daß bie chriſtliche Kirche die Lehre von den fieben Todfünden der antifen Ethik entnommen babe; in der Tat fteht die chriftliche Moral in einem offenbaren und nie geleugneten Abhängigkeitsverhältnig zur antiken, fpeziell zur ftoifchen. Sie hat fie wohl chriftlich durchgeiſtigt, Hauptfächlich durch Einführung des fpezififich chriftlichen Gnadenbegriffs; fie hat im einzelnen manche Lehre anders geftaltet im Einklang mit gewiffen neuen, dem Chriftentum eigen: tümlichen Anfchauungen, in ihrem Verhältnis aber zum Gefamtbau der antiken Ethik ift fie dem Grundfag treu geblieben, den die erften Apologeten ſchön und offen alfo gefaßt haben: Was gut ift, das ift auch chriftlid. So gehen, um nur an das allerbefanntefte zu erinnern, die vier chriftlichen Rardinaltugenden Gerechtigkeit, Weisheit, Enthaltfamfeit und? Mut durch den heiligen Ambroſius auf Cicero, durch diefen auf die ftoifche Sitten- lehre und in legter Linie auf die platonifche Pfychologie zurüd. Es wäre demnach nicht wunderbar, wenn gleich dem Hauptftüd von den Kardinal: tugenden auch das Hauptftüd von den Todfünden auf die Antike zurüd- ginge; es wäre dies ein Adelsbrief, deffen es fich wahrlich nicht zu fchämen haben würde.

Uber freilich Sankt Ambrofius und Cicero verfagen bier; wir müffen andere Wege fuchen. Doch ift das Refultat darum nicht minder überrafchend. Ich erinnere daran, daß die fieben Sünden in der geläufigen Reihenfolge alfo benannt werden: Stolz (oder Hoffart), Habfucht, Wolluft, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit. Nun bitte ich folgende Stelle aus der eriten Epiftel des Horaz aufmerffam zu betrachten, wo der Dichter den Gedanken ausführt, daß der Zufpruch der ethifchen Philofophie manche fitt- fihe Schäden wenn nicht heben, fo doch lindern fünne; das wird im ein- zelnen alſo ausgeführt (Ep. I. 1.33):

Kocht dir im Buſen der Habſucht Gift und die elende Geldgier? Wohl, ich weiß dir ein Sprüchlein, das folche Gebrechen zu lindern Taugt, und der Krankheit Wucht um ein tüchtiges Maß zu erleichtern. Ehrgeiz fchwellt dir die Bruft? Gühnmittel gibt es auch dafür:

Thaddäus Zielinski: Die fieben Todfünden. 439

Mußt nur dreimal mit reinem Gemüt durchlefen ein Büchlein.

Plagt dich der Neid? Dder Zorn? Biſt verliebt, trunffüchtig und träge? Alſo verwildert ift feiner, daß er der Veredelung troße,

Wenn er des Wortes beilfchaffender Kraft ein geduldiges Ohr leiht.

Es find genau fieben Lafter genannt und dabei genau unfere fieben denn daß ftatt der Hoffart der Ehrgeiz erfcheint (laudis amor) und ftatt der DVöllerei die Trunkfucht (vinosus) verfchlägt nicht viel ein Dichter ift nicht gleich einem Juriften peinlich an die Terminologie gebunden. Es iſt demnach fein Zweifel: Die fieben Todfünden find antiten Urfprungs. Aber mit diefem Nachweis ift unfere Neugier erft recht rege geworden. Wie ift das Verzeichnis entjtanden? fragen wir weiter, und dann aud: Wo ift hier die Brücke zwifchen der Antike und dem Chriftentum? Nun muß man fich freilich vergegenmwärtigen, daß die Gefchichte noch weniger als andere Wifjenfchaften die Verpflichtung bat, alle an fie geftellten Fragen zu beantworten, zumal die Ideengefchichte; es liegt oft nur an einem glücklichen Zufall, wenn fie es kann. Aber hier haben wir ed gerade mit folh einem glüdlichen Zufall zu tun.

Um ihn indeffen voll zu würdigen, müfjen wir ung mit einer halb philoſophiſchen, halb religiöfen Bewegung befannt machen, die wir nach dem Namen ihres mythifchen Propheten, Hermes des Dreimalgrößten, die Hermetif nennen dürfen. Ihre Wiege ift, wie ich beweifen zu können glaube, Arkadien, wo der Kult des Gottes Hermes heimifh war. Don bier verbreitete fie fih, etwa im dritten vorchriſtlichen Jahrhundert, über Kyrene nach Egypten; ihre philofophifchen, vor allem platonifchen und aftro- logifchen Elemente hatte fie von Haufe mitbelommen; auf eguptifchem Boden traf fie mit der egpptifchen Religion zufammen und, was vor allem wichtig tft, mit der des Volkes Sfrael, deffen heilige Urkunde gerade damals, im dritten vorchriftlichen Sahrhundert, dank der griechifchen Ueberſetzung der fogenannten Septuaginta, der ganzen zivilifierten Welt zugänglich gemacht worden war. So war als eine wunderliche Verbindung altgriechifcher und altteftamentlicher Ideen, die hbermetifhe Kosmogonie entjtanden, deren Grundzüge folgendermaßen ausfehen.

Im Auftrage des höchften Gottes urfprünglich Zeus, fpäter „die oberite Vernunft“ genannt vollbringt fein Sohn urfprünglich Hermes, fodann der Demiurg die Schöpfung, genauer die Ordnung der Welt, ihre Ueberführung aus dem chaotifchen Zuftand in den geregelten und gefeg- mäßigen; dabei iſt ihm das dritte göttliche Wefen behilflich, der von Hermes (fpäter von dem oberften Gott) gefchaffene Gott Logos. Die Ordnung be- fteht vor allem in der Scheidung der Elemente; den oberften Rang nimmt das Feuer ein, das der Ordner auf fieben Sphären verteilt, jede von einem befonderen Dämon ald Planetengott beherrfcht, die übrigen brei Elemente bleiben unten und bilden von nun an die lebendige Natur. Nach diefer Weltfchöpfung fchafft der oberfte Gott nach feinem Ebenbild den erſten göttlichen Menſchen; den gewinnt er über die Maßen lieb und weift ibm den Raum über den fieben Sphären ald Wohnfig an. Der Menfch Iohnt aber mit Undank des Schöpfers Güte; dem Geſetz ungehor- fam, durchbricht er die fieben Sphären und fteigt zur Natur nieder. Bei

440 Thaddäus Zielinsfi: Die fieben Todfünden.

diefem Niedergang teilt ihm jeder der fieben Planetengeifter eine Gabe mit; fo nähert er fi der Natur. Diefe erblidt in ibm das Ebenbild des Schöpfers; von dem Anblic ergriffen, lächelt fie ihm in Liebe zu; um ihn vollends in ihre Arme zu ziehen, gaufelt fie ihm in ihrem feuchten Element ein Spiegelbild feiner Schönheit vor. Der Trug gelingt: fo wird die Natur ‚zur Mutter und gebiert den fieben Planetengaben entjprechend fieben doppelgefchlechtliche menfchlihe Wefen. Und aber nach einer beftimmten Frift wird das gefchlechtliche Band zerriffen, es entftehen fieben Menfchen- paare. Ihnen ruft der oberfte Gott zu: Wachfet im Wachstum und ver- mehret euch in der Mehrheit! und es erfenne der vernunftbegabte Menſch fich felbft, daß er unfterblich fei, und die Urfache des Todes die Liebe.

Das ift die hermetifche Rosmogonie; die Entlehnungen aus dem alten Teftament find, auch abgefehen von den legtangeführten Schöpferworten, ganz offenkundig nur ift der Fall der Engel mit dem Fall des erften Menfchenpaares verbunden. Nicht ganz klar ift, worin die fieben “Planeten- gaben an den erften Menfchen beftehen. Daß es Unheilsgaben find, kann man daraus entnehmen, daß fie feinen Fall zur unmittelbaren Folge haben. Doc wird ſich das Rätfel im weiteren Verlaufe löfen.

Auf der hermetifchen Rosmogonie ift nämlich die hermetifche Heils— lehre begründet. Aus der doppelten Abftammung des Menfchengefchlechtes von dem göttlichen Menfchen und der Natur erklärt fich feine Doppel- art: Im Gegenfag zu den übrigen Tieren hat er neben dem vergänglichen Leib noch die unvergängliche Seele. Diefe ift freilich fündhaft; doch fteht ihr der Weg zu ihrem Schöpfer offen, der über den fieben Sphären in der heiligen Acht, der Ogdoas, thront. Bedingung dazu ift, daß fie fich bei Lebzeiten alles fündigen Tuns enthalte und die Sünde, mit der fie einmal behaftet ift, nicht in die Erjcheinung, in die „Energie” übergehen laffe. Dann fteht es ihr frei, den Weg durch die fieben Sphären, den dereinft der Urmenſch befchritten, in umgefehrter Richtung zurücdzulegen; dabei gibt fie jedem Planetengeift feine Gabe „unverwirflicht“ zurüd und tritt geläutert in die Dgdoas ein... Hier bligt die Hoffnung auf: Sollte nicht eben in diefen fieben Unheilsgaben der Planeten, von denen fich die Seele reinigen muß, der Ursprung der fieben Todfünden liegen? Sie fcheint zunächft zu trügen: Der Hermetifer kennt wohl die fieben Gaben, aber es find nicht unjere Todfünden. Ich will feine Worte anführen (Poimandres 25): „So ftrebt der Menfch durch die Harmonie-der Sphären aufwärts und gibt der erften Sphäre (Mond) die Kraft des Wachfend und Schwindens zurüd, der zweiten (Merkur) die böfe Lift, der dritten (Venus) den Trug der Begierde, der vierten (Sonne) den Herrfcherwahn, der fünften (Mars) den goftlofen Mut und die Tollfühnheit, der fechiten (Jupiter) das Streben nach Reich tum, der fiebten (Saturn) die Lüge und Hinterlift”. Wir fehen den Pro- pheten beftrebt, jede Unbeilsgabe mit der wirflichen oder vermeintlichen Natur des jeweiligen Planeten in Einklang zu bringen; aber e8 kommt fein vernünftiges Sündenſyſtem heraus. Daß dem Mond die Kraft des Wachſens und Schwindens entftammt, ift im Hinblid auf feine Phafen begreiflih; die Eigenfchaft felbft mag man als einen Mangel der fterblichen Natur bezeichnen im Gegenfag zur Unwandelbarkeit der Gottheit eine

Thaddäus Zielinsti: Die fieben Todfünden. 441

Sünde ift fie auf feinen Fall. Daß vom Eugen Täufcher Merkur die böfe Lift, vom tüdifchen Ränkefpinner Saturn die Lüge und Hinterlift herrühre, ift wieder begreiflich, aber die beiden Unheilsgaben find miteinander zu fehr verwandt, um in einem Syſtem gefchieden zu fein. Iſt ferner die Sonne die Königin der Planeten, jo wird man mit Fug und Necht den Herrfcher- wahn eben auf fie zurüdführen; aber damit ift Jupiter der ihm zuftehenden Gabe beraubt und wenn ihm ftatt ihrer das Streben nach Reichtum zu- gefchrieben wird, fo empfinden wir das als eine Gewaltfamfeit. Kurz, das Syſtem unſeres Hermetikers ift verbeflerungsbedürftig; und da wir wiſſen, daß die Hermetif eine ſehr weitverzweigte Literatur gezeitigt hat, die zum größten Teil untergegangen ift, fo liegt die Vermutung nahe, daß die eine oder die andere der untergegangenen Schriften auch die fieben Unheilsgaben der Planeten in derfelben Weife feftgelegt hat, wie wir fie in unferem Hauptftüd von den fieben Todfünden wiederfinden.

Die Vermutung liegt nahe, gewiß; immerhin ift es mißlich, fich mit einer bloßen Möglichkeit abfpeifen zu laffen, und befriedigen kann eine folche Antwort keineswegs. Aber hier ift es gerade, wo ung jener glüdliche Zu- fall zu Hilfe fommt, von dem ich vorhin redete. Jene Verbeſſerung des bermetifchen Sündenfyftens hat fi) ung tatfächlich erhalten als eine ver- fprengte Notiz, und zwar bei einem Autor, bei dem man fie ſchwerlich ge- fucht haben würde bei Servius, dem antiken Erflärer Virgils (Aen. VI 714), die Notiz felber lautet fo: „Es lehren aber die Philofophen, was die niederfteigende Seele in jeder Sphäre verliert. Darnach dichten auch die Aftrologen, daß unfer Körper und unfere Seele der Macht eines jeden Planetengotts untertan find, dergeftalt, daß die Seelen bei ihrem Nieder- ftiege mit fi führen die Trägheit des Saturn, den Zorn des Mars, die Wolluft der Denus, die Habfucht des Merkur und die Herrſch— ſucht des Jupiter. Dieſe Einflüffe vermwirren die Seelen und berauben fie der Fähigkeit, ihre eigene Kraft und Geſundheit zum Ausdrud zu bringen“.

Damit wären fünf von unferen Todfünden erflärt, die ungeziwungene Beziehung auf die entfprechenden fünf Planeten ift bei allen ohne weiteres deutlich, höchftens für den Saturn wäre die Erläuterung angebracht, daß ihm, als dem entfernteften der fieben, die längere Umbdrehungszeit, fomit die größte Langfamkeit oder Trägheit zukommt. Uber freilich, Servius redet nur von fünf Planeten, den eigentlich jo genannten; zwei Sonne und Mond läßt er unberückfichtigt. Entfprechend find auch zwei Todfünden unerflärt geblieben, die Völlerei und der Neid; dürfen wir die beiden Paare aufeinander beziehen und darnach die verfprengte Notiz bei Servius er- gänzen? Gewiß ift „DVöllerei“ ein häßliches Wort und das lateinifche gula nicht viel beffer, aber ich denke: Wenn einmal der lebenfpendenden Sonne eine Unheildgabe entitammen follte, fo konnte nur ihre allverzehrende Kraft in Frage fommen. Und da dem blaffen Mond der Neid zuge fchrieben wurde, ift erft recht natürlich.

Jetzt ift die Antwort vollftändig. Die fieben Todfünden entjtammen in legter Linie der Aftrologie und haben in der hermetifchen Heilslehre ihre Ausbildung erhalten wahrfcheinlich durch Vermittlung der ftoifchen Ppilofophie, deren Hauptvertreter im letzten vorchriftlichen Jahrhundert,

442 Thaddäus Sielinsfi: Die fieben Todfünden.

Pofidonius, zugleich als eifriger Förderer und Verteidiger der Aftrologie befannt if. Aus Pofidonius mag fie Horaz haben; die hermetifche Heils- lehre aber bat fie in tiefjinniger Weife mit dem Gündenfall des erften Menfchen verbunden. Als er, dem Gebote feined Schöpfers ungehorfam, die Harmonie der fieben Sphären durchbrach und zur materiellen Natur niederftieg, da haben ihn die Planetengeifter mit ihren Unheilsgaben an- geſteckt. Seitdem wirken fie ald Erbfünde in feiner Nachlommenfchaft weiter; es ift die Aufgabe jeder einzelnen Menfchenfeele, fie in fich niederzuhalten, um fie dereinft beim Wiederaufftieg in den Himmel „unverwirklicht“ ihrem böfen Spender zurüdtgeben zu können.

Daß die Seele das von fich aus fünne, war die ftolze Meinung ber Hermetif; anders urteilte die chriftliche Demut. Wir pflegen ung gegen- mwärtig feinen Begriff davon zu machen, wie ſchwer der Bann der Ujtro- logie mit ihrem Fatalismus auf den Menfchen laftete, der den Einflüffen der Planeten untertan, als ein „Sklave der Sphärenharmonie“ (Evapusrıos doölos) erſchien; auch das Chriftentum wagte es nicht, diefe Einflüffe der Sphären und ihrer Dämonen zu leugnen wohl aber behauptete es, daß Chriſtus die Seinen von ihnen erlöft. So konnte das Ehriftentum die ber- metifche Heilslehre übernehmen, aber freilich mit einer wefentlichen Korref- tur: nicht von fich aus, fondern durch Chrifti Vorbild und Gnade hat die Seele die Kraft, die Unheildgabe der Planeten, die fiebenfache Erbfünde, unmirffam zu machen; durch das heilige Wafler der Taufe werden die Einflüffe der Sphären abgewafchen. So 309, unter dem Drud der Ajtro- logie, das Hauptſtück von den fieben Todfünden in die chriftliche Ethik ein. Der Zufammenhang Iocerte fich mit der Zeit, der aftrologifche Hintergrund wurde vergeflen; nun war e8 die Tradition und die innere Trefflichfeit, die dem Syſtem fein weiteres Fortleben ficherte. Die chriftliche Kirche brauchte fich des fremden Reiſes nicht zu fchämen: Was gut ift, das ift auch chriftlich in alle Wege.

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Deutichland als Großmacht und Preußen als Vormacht.

Bon Hermann Loſch in Stuttgart.

1. Unter einem nationalen Transportſyſtem verfteht man die ein- heitliche, planmäßige, ineinandergreifende Anlage und Ausnügung, Ver- walftung und Finanzgebarung fämtlicher dem Verkehr im weiteften Sinn dienenden Einrichtungen, alfo der Eifenbahnen, Wafferftraßen, Poften, Telegraphen, Telefone, eventuell mit Einfchluß der Straßen, Brücken, Schleufen ufiv., Automobile, fomweit legtere an Eifenbahnen bezw. Poften

Hermann Lofch: Deutfchland als Großmacht und Preußen ald Vormacht. 443

angegliedert ober angliederbar find. Einen gefchloffenen, richtigen Sinn er- hält diefer Begriff erft Dadurch, daß diefes Syftem von Verkehrswegen und Verkehrsmitteln vorgeftellt wird innerhalb einer einheitlichen Zollgrenze nach außen; hierdurch erft tritt der Gedanke fohärfer hervor. Diefer legtere Umftand ift deshalb wefentlich, weil Zollfäge und Verkehrstaren (in dem vorliegenden Falle befonders die Gütertarife mit Einfchluß etwaiger Binnenabgaben bezw. Gebühren) in einem außerordentlich engen Zufammen- bange ftehen, fo wenig auch diefer Zufammenhang für die verfchiedenen Warengruppen noch genau blosgelegt ift. Schon die Darftellung des Radius ber Verbreitungsmöglichkeit auf der Grundlage der zurzeit vorhandenen ver- fhiedenen Beförderungsmweifen und »tarife ift für die wichtigeren Güter viel- fach noch nicht verfucht, wie dies jüngft van der Borght in einem fehr beherzigenswerten Aufſatz „Zur Frage des Einfluffes der Entfernung auf die Güterbewegung“ ') nachgewiefen hat. Es handelt fich dabei nicht nur um die 35 bezw. 37 Verkehrszonen der deutfchen Eifenbahn-Verkehrsftatiftit, fondern um alle Bewegungen innerhalb des Zollfyftems in ihren geographifchen Veräftelungen, vor allem auch um die Verfchiebungen diefer Zonen durch Waſſerwege. Einer der wichtigften Fälle hierbei ift dag Verhältnis von Getreidezoll zum Mehlzoll einerfeits, Getreidetarifierung und Mehltarifierung, Getreidewege und Mehlwege andererfeits.

Ein nationales Transportiyftem hat das deutfche Reich, die Zoll- einbeitsnationalität nicht; ein folches ift nicht nur feine Tatfache, es ift noch nicht einmal ein Programm. Es ift lediglich ein Gedanke, welcher bei feinem erften Auftauchen an der Schwelle der Zollvereindgrün- dung als Utopie gebrandmarft worden ift, deffen DVernünftigkeit jedoch heute mehr denn je dazu beitragen fann, von dem Genius feines erften Bertreters, Friedrich Lift, eine richtige Größenvorftellung zu erwecken.

Nun fcheint diefe Frage auf den erften Bli eine technifch-öfo- nomifch-faufmännifche zu fein, welche unter planmäßiger Befchaffung der notwendigen ftatijtifchen Unterlagen von rein fachlichen Erwägungen aus zu Hären wäre. Ullein das ift eben gerade nicht der Fall. Dadurch, daß die wichtigfte Gruppe der Verkehrswege und Verkehrsmittel in den Händen von Staaten ift, deren Grenzen gefchichtlichen Urfprungs find, daß fie demnach kräftig in die ganze öÖffentlihe Finanzgebarung der einzelnen Teile des Zollgebietes hineinwirkt, erhält die Sachlage ein ganz anderes Geſicht; es entfteht eine politifch-ölonomifche Frage, und zwar derart, daß gerade das Politifche in den Vordergrund und das Oekonomiſche in den Hintergrund gedrängt wird. Hieraus ergibt fich auch die ungeheure Schwierigkeit ſchon für eine unbefangene Würdigung aller einfchlägigen Berhältniffe; es ift nahezu ausgefchloffen, daß irgend ein Einzelner alle in Betracht kommenden Elemente gleichzeitig beherricht.

Die nachfolgenden Zeilen find von diefem Bemwußtfein getragen. Trog- dem dürfte es zeitgemäß fein, einige allgemeine Gefichtöpunfte hervorzuheben, um eine Klärung anzubahnen.

Hiezu dürften vor allem etliche gefchichtliche Andeutungen dienlich fein.

) Conrads Jahrbücher, IIL Folge, Band 26,

444 Hermann Lofh: Deutfchland ald Großmaht und Preußen ald Vormacht.

2. Die Gefchichte der Verkehrspolitik auf dem Gebiet, welches heute Deutfches Reich genannt wird, ift voll von faft unglaublichen Konfuſionen. Riefenhafte, Milliarden verfchlingende und verfchiebende Irrtümer find dabei vorgefommen. Im Mittelpunfte diefer Verkehrsgefchichte, fhon vor Grün- dung des Zollvereing, bis 1846, fteht der Schwabe Friedrich Lift, welcher befanntlich in feinem „Bundesgebiete“, in Preußen fo wenig wie in Defter- reich, die verdiente Würdigung gefunden hat. Un diefen Mann muß fich das deutfche Volk heute ganz befonders erinnern, wenn ed die Verfehrs- gefchichte feit Gründung des Reiches gerecht beurteilen, wenn es Licht und Schatten unbefangen verteilen will. Er hat nicht nur das „nationale Trans- portſyſtem“ verlangt, den Eifenbahnteil eines folchen felbft entworfen und feine Anfänge in der Hauptfache gefchaffen, er hat auch ſchon die notwen- dige Arbeitsteilung zwifchen Waflerweg und Schienenweg erfchöpfend Har- gelegt, die Schäbdlichkeit 3. B. von Ranaltorfos zu Nus und Frommen gerade der Gegenwart! nachgewiefen und überhaupt wirflih national: öfonomifche Betrachtungsweiſe auf dieſem gleichzeitig fchwierigften und folgenfchwerften Gebiete erft gefchaffen oder vielmehr zu erfämpfen gefucht.

Man weift fo gerne auf die Rurzfichtigkeit gewiſſer füddeutfcher Bun- desftaatenregierungen und »parlamente bin, welche im Jahre 1876 den Big- mardfchen Plan der LHeberführung aller Eifenbahnen von Belang an das Reich „zuvortommend” abgelehnt, und daher das große norddeutſche Ver— ftaatlihungswerf zugunften des Königreich Preußen geradezu erzwungen haben. Gewiß ift es leider wahr, uneingefchränft wahr: Groß, riefengroß war das, was damals dem „Augenblick“ abgefchlagen wurde, und manche halten die gegebene Sachlage für unveränderlih. Allein die damalige außer: preußifche Torheit wird viel begreiflicher, wenn man die ihr vorhergegangenen norddeutjchen Torheiten gegenüberftellt, und da8 muß man, wenn man ge recht fein will. Wieviel unfähiger war das Preußen Friedrih Wilhelms ILL und IV. gewefen, die Bedeutung der Schienenmwege zu verftehen, als die gleich zeitigen Könige von Württemberg und Bayern; der preußifche Generalpoft- meifter Nagler ift eine wahrhaft grotesfe Figur in der Gefchichte des Verfehrg- weſens. Auch das Zeitalter des Grafen Igenplig mit dem, was Drum und dran hängt, entſchuldigt zwar ſüddeutſche Verkehrspolitikunvernunft gewiß nicht, aber es ſtellt ihr volltommen ebenbürtige norddeutſche bezw. preußifche „Leiftungen“ zur Seite, und zwar unmittelbar vor dem Eingreifen Bismards in diefe Dinge. Der Mangel an Vertrauen auf die nordbeutfche, fpeziell auf die preußifche Verkehrsvernunft erfcheint angeficht3 der Privat: bahnenepoche in Preußen fehr viel verftändlicher und begründeter, als wenn man der Erinnerung blos bis zum Jahr 1876 zurückzugreifen verftattet. Und fo möge es ausgefprochen fein, was man freilich in der Gegenwart nicht gerne hört: Mur blinde Anbetungsfucht kann verfennen, nur an Byzan- tinismus erinnernde Engherzigkeit fann vertufchen wollen: Diele Reform- werfe und Schöpfungsverfuche, welche gefchichtlich an den Namen und an das Zeitalter Bismarcks gefnüpft werden, waren lediglich eine Wieder- aufnahme oder eine erftmalige Aufnahme von Beftrebungen, und zwar klaren und zielbewußten Beitrebungen eines Zeitalters, welches hinter den Jahren 1871 und 1866, ja hinter 1848 zurüdliege. Man erinnere fich doch

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endlich daran, daß Friedrich Lift nicht nur an die Pforten der Staats- fanzleien in Stuttgart, fondern auch an diejenigen von Dresden und KRarls- ruhe, von München und Hamburg, von Wien und Berlin geflopft, aber feinerlei Einlaß gefunden hat. Selbſt die Gefchichtsbetrachtung Heinrich v. Treitfchles, des planmäßigen und feineswegs immer unbefangenen Ver— berrlichers von Preußen, läßt die Rückſtändigkeit der damaligen Regierungs- mafchinerien auf volfswirtichaftlichem Gebiet deutlich genug hervortreten. Wozu an all das heute erinnern? Aus einem einfachen Grunde. Wir nachgeborene Deutjche müflen, wenn wir ehrlich fein mwollen, befennen: Süddeutjches und norddeutfches verfehrspolitifches Schildbürgertum und Kleinfrämertum halten fich zwei Generationen hindurch reichlich die Wage: fie haben einander entweder nichts, oder aber alles vorzumwerfen. Freuen wir uns aber, daß der Süden des Reiches einen Friedrich Lift, der Norden einen Dtto (von) Bismarck hervorgebracht hat und laffen wir ihre Vernunft auch auf unfer Zeitalter wirken.

Wird nun aber die Erkenntnis des für die nächfte Zukunft unerbittlich Notwendigen auch wirklich imftande fein, die Vorurteile aller Art, welche in progiger Wirklichkeit vor ung ftehen, zu überwinden?

3. Werfen wir einen Blid auf das Reich nach 1871. Nach Berlin werden mit Ausnahme des Reichsgerichts alle Neichgämter gelegt. Die Reichsbank faugt fait alle Notenkontingente auf, umfpannt in einem riefen- haften Inftitut mit Hunderten von Stellen das ganze Reich; die Reichs- ämter wachen zu großen Körpern aus, denen neue angegliedert werden. Was das Reich als folches angeht, konzentriert fich in Berlin. Die Reichs- hauptſtadt als Menfchen- und Verbrauchsmittelpunft fchwillt lawinenhaft an, desgleichen als Steuerfraft: alles das nicht zugunften des Reichs, fondern der preußifchen Vormacht, deren Landeshauptftadt fie gleichzeitig ift, wir haben nicht ein Wayhington, das im Diftrift of Columbia liegt.

Mit der Steigerung der militärifchen Oberchargen und »inftitute geht eine folche der Seemacht und des Seeverkehrs parallel. Faft alle Aus- dehnungen, der größte Teil de Nahrungsfpielraums, der dadurch neu ge wonnen wird, fallen mit Naturnotiwendigkeit nach dem Norden; keine Werft fann fi) am „Bodenſee“ bilden. Nicht nur die Induftrie im allgemeinen entfaltet fi) ganz wie Fr. Lift dies mit heißem Bemühen erftrebt und vorausgefagt bat fondern die ſchwere Induftrie im befonderen, Kohle, Eifen, Stahl und ihre Derivate. Alfred Krupp und Sohn erblühen auf der Nachfrage nach Kanonen, die großenteild, aber doch nur großenteilg mit preußifchem Gelde bezahlt werden. Die preußifchen Bahnen, welche auch die Kleinftaaten durchqueren, find 1878—1890 allmählich an den Staat gezogen, die Rente fteigt, wird höher und höher. Das preußifche Eifenbahnfyften wird zum immer fefteren Rüdgrat der tgl. preußifchen Finanzen, die ſüddeutſchen Bahnkörper werden größtenteils zum, fagen wir, Anti-rüdgrat ihrer Finanzen. Preußen wird ald Volk im ganzen reicher und als Staat noch reicher, viele füddeutfchen Gebiete folgen nicht entfernt in demfelben Verhältniffe. Das Reich aber, deffen ausfchlaggebende Vor- macht der reiche Staat Preußen ift, braucht im legten Jahrzehnt oder Fünfzehnt riefige Summen, häuft Schulden auf Schulden und zwar

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großenteils für Dinge, deren Befchaffung und Erledigung im Reichsauftrag Preußen große Vorzüge gibt, während die Rapitalien wie ihre Zinfen pro rata der Ropfzahl der Reichsbürger bereit geftellt werden müfjen. Preußen im Reich wird immer ftärfer, das Reich ohne Preußen immer jchwächer. Preußen etabliert eine Art von modernem Hausmeiertum im Reich, nicht vorzugsweife in der antiquierten Form einer Haus- und Fürftenfamilien- berrfchaft, wie in früheren Zeiten, fondern vor allem in Form einer mo | dernen Staatsfinanzmacht. Die Bundesgebiete werden mehr und mehr etwad, was man mit misera contribuens plebs vielleicht etwas zu hart, aber mit socii populi Borussici nach Analogie von Mommfen vielleicht nicht ganz unzutreffend bezeichnen fünnte. Ins Chriftliche überfegt, würde das lauten: „ich muß wachen, ihr aber müßt abnehmen,“ oder „wer da bat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe u. f. w.“

Es wäre verdienftlich, wenn einmal der „Schüler“ einer der bedeuten- deren Nationalötonomen, etwa in Berlin, die einfchlägigen Verhältniſſe an der Hand des Reichsetatd, anderer Rechnungsergebniffe u. f. w. darlegen würde.

Was den deutfchen Reichstag anlangt, fo laflen die verfchiedenartigen Darteiintereffen fo ftarfe Nebel um den Sachhorizont auffteigen, und das Redebedürfnis zweds Auffchneidung von Hädfelfutter für die Reichstag: wahlfreiswähler fchwillt von Tag zu Tag fo hoffnungslos an, daf es zum Erbarmen ift, wenn man auch nur an die GStenographen dabei denkt. Andererſeits iſt es begreiflih, daß die kgl. preußifchen Neichstagsabgeord- neten großenteils Fein Interefje daran zeigen, gutes preußifches Geld aus der preußifchen Kaffe in die Neichsfaffe zu legen, um davon nur pro rala als Reichsbürger zurücdzuempfangen. Viele von ihnen find, was praktiſche Politik anlangt, um mit Lift zu reden, politifche Intelligenzen weit größeren und unverfroreneren Kalibers als ihre nichtpreußifchen Kollegen. Mande von ihnen möchten vielleicht wohl fogar die Tatfache, daß der deutſche Kaifer fozufagen von Preußen aus honoriert wird, ald eine befondere Bevorzugung aller nichtpreußifchen Deutfchen bezeichnen, während fie doch in Wirklichkeit einer der Faktoren ift, welche das Schwergewicht noch mehr vom Neichätag weg in die preußifchen Parlamente verlegen, für deren Inhaber von Doppel mandaten die Diätenfrage unter ganz anderem Gefichtswinfel erfcheint, ald für alle übrigen NReichsdeutfchen.

4. Es ift anzunehmen, daß diefe lediglich andeutenden Darlegungen eines twürttembergifchen Reichsdeutſchen von manchen Geiten zu Aus lafjungen einer Art preußenfeindlichen Grimmeg geftempelt werden möchten. Nichts liegt dem Verfaſſer ferner, da er fehr wohl weiß, was Preußen im Reich und dem Reich ift und bleiben fol. Das fchließt jedoch gar nicht aus, eine veränderte und fich fort und fort verändernde wichtige Sachlage als folche zu fennzeichnen. Zum Ueberfluß fei darum auch fofort betont, daß diefem naturgemäß erfolgenden Entwiclungsverlauf gegenüber feitend der Gefamtheit der Nicht-VBormachtftaaten keinerlei Machtentfaltung ſich wird entwiceln können. Mit anderen Worten um e8 klar auszufpreden Preußen kann, wenn eg will, auf diefem Wege noch länger fortfchreiten und feine Macht innerhalb des Reichs wird im ftande fein, ihm Einhalt zu gebieten.

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5. Allein e8 gibt eine gewilfe Grenze für das unentwegte Fort- fchreiten auf diefer Bahn, welche vor allem durch außerdeutfche Ent- wicdlungen beftimmt wird. Preußen ift nicht nur Träger der Bormadht- ftellung im Reich, es ift zugleich auch der Leiter der Stellung des deut- {hen Reiches als einer Großmadt.

Diefe Großmachtſtellung zu erhalten und zu mehren, dazu ift Preußen allein gar nicht im ftande, dazu gehören alle Teilgebiete des Reiche. Diefes Ziel ift aber das wichtigere und aus feiner Verfolgung ergeben fich unter Umftänden Auseinanderfegungen zwifchen dem kgl. preußifchen Minifter- präfidenten und dem faiferlich deutfchen Reichskanzler. Diefe Auseinander- fegungen können fich in dem verfchiwiegenen Bufen von Einzelperfonen voll- sieben, fie können aber auch die Deffentlichkeit befchäftigen, jedenfalls find fie eine fachliche Notwendigkeit und zwar eine immerwährende und immer verantwortungsvoller werdende.

Es fragt ſich, ob es nicht, wie in der Völfer- und Staatengefchichte überhaupt, fo auch in der Gefchichte des deutfchen Volkes nova geben kann, für welche es in den Vorakten der Diplomatie wie der Staatsrechtslehre feinen fogenannten „DBorgang“ gibt, aus welchem man fich zuverläffig „inftruieren“ könnte.

Was hiebei in Frage fteht, ift die Tendenz zur wirtfchaftlichen Kon— zentration in unferem Zeitalter. Der Haupthebel diefer Tendenz ift aber gerade die Entwidlung und Geftaltung des Verkehrsweſens und der Verkehrsmittel, welche alle in und miteinander wirken. Die an- gefhwollenen und immer noch anfchwellenden Arbeitermafjen find in ihrer Eriftenzunterlage und »ficherheit nicht von einem DBundesgebiete, und wäre diefes auch das der großen Vormacht Preußen, abhängig, ſondern von der wirtjchaftlihen und kulturellen Gefamtlage der Nation im Sinne der Liſtſchen Zollnationalität, in welchem fich ein Teilftaat befinde. Das Problem fpigt fich derart zu, daß die wirtfchaftlihe Gefamtleiftungs- fähigkeit der Großmacht als folcher zu einem möglichen Marimum hin entwidelt werden muß, um einerfeitd dem Drängen der Volkszunahme und der Arbeitermaffen im Innern gerecht zu werden und andererfeit3 die Ent- widlung vor allem des Zollftompleres der nordamerifanifchen Freiftaaten ohne erhebliche Gefahren heranfommen zu laffen. Dort ift feine Bundes- ſtaatsvormacht von dem relativen Uebergewicht Preußens und die Bormacht, welche dort als oligarchifche Beherrſchung der Verkehrsmittel fich geltend macht, mag große Schattenfeiten haben, Züge von Kleinlichkeit trägt fie ficher nicht. Die Intenfivierung des nationalen Binnenmarkts er- fordert in erfter Linie für den inneren Verkehr als folchen ein Syſtem, welches mit der höchſten Leiftungsfähigkeit die geringften GSachloften verbindet. Mit anderen Worten, fie erfordert einen nationalen Eifen- bahn» und Waflerftraßentruft in des Worts allerverwegenfter Bedeutung. Aber nicht einen Truft, der lediglich einzelne Inhaber von preferred Shares bereichert, fondern einen folchen, der das ganze Volk bereichert, indem er ein Marimum von AUllgemeinvorteilen verbürgt. Das Deutjche Reich ift der Union nun bereits dadurch in gewiſſem Sinn überlegen, daß die eventuellen Teilhaber des Truftlapitals nicht private Erwerbsmilliardäre find,

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fondern Staaten, hinter denen ihre Bevölferungen ftehen, und zivar nicht nur in ihrer Eigenfchaft ald Bundesftaatenbürger, ſondern vor allem ald Reichsintereffenten. Der fgl. preußifche Staatseifenbahnbetrieb ift der größte moderne Niefenbetrieb, den es gibt; mit Angliederung feines Kohlen: bedarfs erweitert er fich vom horizontalen zum vertifalen Bundesjtaatstruft. Nun liegt e8 in der Natur der Sache, daß die horizontale Ausdehnung diefes Truft3 die Angliederung auch des Waflerwegefyftemes, und zwar der natürlichen, wie der ganz oder halbkünftlichen Waſſerwege erfordert, weil nur auf diefe Weife die naturgemäße Arbeitsteilung zwifchen Schienenmweg und Waflerweg ald Marimalleiftung wie als Minimalaufiwand durchführ: bar ift. Im der mehr oder minder Haren Erkenntnis diefer fachlichen Not: wendigfeit ift die große Bedeutung der aufgerollten Ranalfragen befchloffen. Die Gewährung von nach unten gebundenen Minimalzöllen an die haupt: fächlich norddeutjche Getreideüberfhußproduftion hätte ftreng genommen an die gleichzeitige Zuftfimmung zu einem Kanalſyſtem nicht Kanaltorſol geknüpft werden müffen, denn diefes Syftem erft, nicht aber irgend ein Torfo ift es, welches die wirkliche Fortfegung eines nationalen Schutzſyſtems zugunften des Binnenlandes im Sinne der Neutralifierung gewiſſer ſchäd licher Nebenwirkungen ermöglicht. Es hat den Anfchein, ald ob die preußiſche Regierung dabei weit nationaler ſowohl als weit fernblidender fei als der preußifche Parlamentspartikularismug. Die ganze Ranalfrage, welche im preußifchen Parlamente zwifchen preußifcher Regierung und preußiſchet Volksvertretung ausgefochten wird, feheint zunächft eine preußifche Frage zu fein, fie ift aber in Wirklichkeit eine nationale Angelegenheit erfter Ord: nung. Durch die Möglichkeit, Schiffahrtsabgaben uſw. in den einzelnen Waſſerwegen verfchieden zu normieren, ift die weitere gegeben, die natür- lichen Vorzüge des Zoll-Binnenlandes fozufagen erft recht in die Erſchei nung zu rufen. Dem oft-weftlihen Binnengetreide 3. B. können dadurd ganz andere Märkte eröffnet werden und das norbfüdlich gehende Außen getreide kann jederzeit differenziert werden. Warum wird der große Ge danke, den Dften mit dem Weften durch die Güterwafferftraße von Weichſel, Der, Elbe, Wefer, Rhein zu verbinden, aufgegeben, ein Gedanke, den der preuß. Bergrat Kleine mit Recht „eine wirtfchaftliche Großtat, die größte feit Berftaatlihung der Eifenbahnen“ nennt? Vielleicht liegt ein Teil der Erklärung dafür in der Tatfache, daß über die tatfächlihen Außenzoll- fäge demnächft wieder der Deutfche Reichstag mit zu entfcheiden haben wird, über die wichtigften Wafferzölle bezw. Wafferwege aber die preußifchen Stände, über die Eifenbahnbetriebgmittel- Gemeinfchaft aber, d. h. mittelbar über die wichtigften Landwegezölle die verhandelnden Regierungen. Faßt man diefe Trias, Außenzoll, Binnenwafferzoll, Binnenwegzoll, legtere beide im Sinn von Entfernungsüberwindung® foften, ins Auge, fo wird jedermann einfehen, daß ihr Gefamteffett für die Nation e8 ift, auf den es ankommt, daß diefer in der planmäßigen Hebung des Gefamtverfehrs gipfelt; niemals trat ſchärfer hervor, daß die Verlehrs fragen grundlegend wichtig find, daß heutzutage befonderd Verkehrsfott fchritte gewiffe Produktionsfortfchritte nicht etwa nur vorausfegen, ſondern weit mehr noch nach fich ziehen, ganz in Uebereinftimmung mi

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deutfch-amerifanifcher Theorie von Lift und leider vorzugsweife nur ameri- tanifcher Praris.

Diefe drei Dinge liegen alfo in ganz verfchiedenen Händen, werben von ganz verfchiedenen und teilweife fich kreuzenden Intereſſenkörpern beeinflußt und ftellen doch außerordentlich von einander abhängige Be- einfluffungen bes wirtfchaftlihen Wohles und Wehes der gefamten Sollnation dar. Das ift ein Zuſtand, welcher die Gchlagfertigfeit außerordentlich hemmt, das ift nicht Arbeitsteilung, fondern viel- mehr Mangel an rationeller Arbeitsvereinigung, Derwirrung ftiftende Unzeitgemäßheit. Daß dem fo ift, wird fichb nach Intraft- treten des neuen Zolltarifs bezw. der auf ihn gebauten Handelsverträge bald genug zeigen.

6. In diefen Zuſammenhang ift auch das Vorgehen in Sachen ber Eifenbahnbetriebsmittel-Gemeinfchaft zu ftellen: fie ift nur eine Teil- operation im Rahmen der allgemeinen deutfchen bezw. mitteleuropäifchen Verkehrsfrage. Angeſichts der amerifanifchen Truft- bezw. Goncernbildungen auf dem Verkehrsgebiet kann man der Meinung fein, daß ed außerordentlich lange gedauert hat, bis die beteiligten Regierungen fich entfchloffen haben, das, was Private im Intereffe ihres Geldbeuteld längſt praktiziert haben, im ntereffe ihrer Betriebsrente zu tun, mit anderen Worten, den Kartell. gedanken und die Rartellprarid auf die Verkehrsgroßbetriebe zu übertragen, wo er gewiflermaßen am allernächften lag und liegt. In der legten Zeit aber regt es ſich an verfchiedenen Drten; die Techniker fangen an volls- wirtfchaftlich zu denken und die Volfswirte wenden ber „Rartellenquöte“ und dem fatfächlichen Geltungsbereiche des fogenannten freien und gleichen Wettbewerbs ihre Aufmerkfamleit zu. Aber man verfuche einmal, fich dieſe Sache zu Ende zu benten.

Die Eifenbahn-Betriebsmittelgemeinfchaft, welche als Zangengeburt zurzeit vor fi zu gehen ſcheint, wird offenbar derart in Szene zu fegen gefucht, daß die Erfparniffe den Truftteilnehmern pro rata ihrer Beteiligung zufließen. Dadurch wird erzielt werden, daß der gewaltige Vorfprung des preußifchen Eifenbahnfyftems nicht nur bleibt, fondern relativ noch größer werden wird; 65— 70° der Einfparungen werden auf ihn allein entfallen müfjen. Die Rente, welche dort jest ſchon fehr groß ift, wird dort zur Ueberrente, während die übrigen Teilnehmer noch auf abfehbard Zeit durch die Einfparungen über Wafler gehalten werden. Auf welche Weife fpäter die Beſchaffung der Betriebsmittel erfolgt, d. h. wo und welche Fabriten u. ſ. w. ftille „gelegt“ werden, fei bier nicht berührt. Wohl aber ift zu beachten, daß die Regierungen der Staaten dabei ein Gefchäft machen, zu welchem man die Volksvertretungen nicht braucht, und die Beziehungen diefer verabrechnenden Regierungen werben derart verwidelt werden, daß kein Landtag in ber Lage fein wird, hier irgend etwas wirklich zu „kon trollieren“.

Vor allem wird keine einzelne Bundesregierung in der Lage und im ſtande ſein, die preußiſche zu gegenprüfen, und aus dieſem Grunde ſchon muß das Reichsintereſſe in dieſer Sache erweckt werden, das noch weit größer iſt hinſichtlich einer finanziellen Beteiligung an dem gemeinſamen

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Erfolg. Es erfcheint durchaus notwendig, einen gewiflen Teil der zu er- wartenden Gewinne in irgend einer Form dem deutfchen Reich bezw. Volt direkt zukommen zu laffen, wenn nicht der Reichsgedanke durch die ganze Art diefer Abmahungen zu kurz fommen foll.

Died kann auf zweierlei Weife gefchehen, durch PVerbilligung der Tarife oder durch Limitierung der Renten nach oben derart, wie bei ber Reichsbant, d. h. durch Abführung einer gewiſſen Ueberſchußdividende nicht an die beteiligten Staaten, fondern an das Reich. Jede rafche Verbilligung der Tarife würde die mutmaßlichen Vorteile der „Kleinen“ fofort wieder auffrefen, denn das berühmte „latente Verkehrsbedürfnis“ ift nicht = un- endlich; fie würde auch ganz anderen Volksſchichten zugut kommen als die Beteiligung des Reiches an dem erhofften Goldregen.

Die Berbilligungsfanatiter fcheinen vielfach feine zutreffende Einficht in die Tragweite des Gegenftandes zu haben, fonft könnten fie nicht bie wichtigen Vorfragen der Vereinfachung und Vereinbeitlichung fo ftarf unter- fhägen. Die Frage der Verbilligung bleibt ja gewiß, aber fie ift vorerft nicht die entfcheidende, da fie fich mit Steuerfragen berührt. Es verbleibt fomit die Beteiligung ded Reiche. Gie würde nicht nur den immer un- gleicher wirkenden Druck der nach den „Ropfmengen“ verteilten Reichslaft etwas ausgleichen, fie würde dem Reichsgedanten überhaupt etwas aufhelfen und damit ein fogenanntes Imponderabile fchaffen, welches fehr nötig ift. Die feit einiger Zeit eingeriffene finanzielle Roftgängerfchaft des armen Reiches bei den fehr verfchieden reich werdenden Bundesftaaten ift flanfiert von einem erheblichen wirtfchaftlichen Mehrmiteflen des Bundes- ftaatd Preußen wie der zwei weftlichen Hanfeftaaten aus der „Reiche- vor allem auch Zollſchüſſel“, wobei die eifenbahnlofen Kleinftaaten und «ftäätchen als arme und Hilflofe Schluder oder vielmehr Löffellofe Nicht- ſchlucker dazwifchen liegen. Spricht man bei der Invalidenverficherung von einer „Gemeinlaft“ und einer „Sonderlaft”, warum follte man bier nicht von einer „Gemeinrente“ und einer „Sonderrente” fprechen können?

Auch bier kann Deutfchland von Amerika lernen, wenn e3 die dortigen Erjcheinungen beobachtet und die Erfahrungen der ganz andersartigen Ver— hältniffe entfprechend anwendet. Es ift eine bemerkenswerte Erjcheinung, daß weiterblickende amerifanifche Truftmilliardäre mit einer gewiffen inneren Notwendigkeit dazu geführt werden, einen Teil ihrer eben durch die Truft- bildungen erworbenen Riefenvermögen bezw. Einfünfte in gemeinnügigen Formen an die Allgemeinheit zurüdfließen zu laffen. Andrew Carnegie, der beite „Typ“ diefer Art, hat über die Aufgaben diefes modernen Reichtumd- trägertumd fogar ein Buch gefchrieben und eine befondere „neue“ Theorie aufgeftellt. Wir in Deutfchland find, was den Eifenbahnconcern anlangt, in einer viel günftigeren Lage; die einzelnen Großbetriebe find hier bereits auf die Deffentlichkeit und Gemeinnüsigkeit gegründet. Mit der DVer- und Uebertruftung muß nur noch die Erweiterung der Gemeinnügigfeit nach unten bin derart Hand in Hand geben, daß ber Mehrnugen aus der Ge- famtvereinigung auch der Gefamtheit als folcher, d. h. ihrem berufenen Träger, dem Reich zufließt.

7. Wenn bei den Reichötagsabgeordneten etwas mehr Verſtändnis

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für Fragen von wirklich nationaler Tragweite national im Sinn von Wirtfchaftsnationalität vorhanden wäre und etwas weniger Kleben an gewiſſen veralteten, wenig zeitgemäßen Parteifchablonen, dann müßten gewiffe Erwägungen bei ihnen längft greifbare Geftalt ange- nommen haben.

Zu diefen Erwägungen gehört der immer enger werdende Zufammen- bang zwifhen Zollgefeggebung und Reichsfteuerfrage überhaupt, nicht etwa bloß wegen der finanziellen, fondern ganz befonderd auch wegen der wirtfchaftstraftverfchiebenden Wirkung auf die Reichsteile, und zwifchen diefen beiden und den Binnenverkehrskoſten im weiteften Sinn. Ein Reichsparlament, welches dieſen Zuſammenhang nicht zu beleuchten und mit Nachdruck zur Geltung zu bringen vermag, ift den fehwierigen Fragen einer zielbewußten Förderung der Reichsintereffen nicht gewachfen.

Mögen die berufenen Sprecher der öffentlichen Meinung es nicht der fozialdemokratifchen Partei überlaffen, aus der Tatfache der Freizügigkeit der Arbeitermaſſen, aus der wirtfchaftlich vollgogenen Sprengung der biftorifch gervordenen Bundesftaatsgrenzen u. ſ. w. allein gewiſſe naturnotiwendige Eolgerungen zu ziehen, möge man ihnen vor allem nicht überlaffen, das unter Appellation an die „Arbeiter Deutfchlands“ zu verlangen, deſſen Verwirklichung in irgend einer Form in Wahrheit nicht nur ihr Intereffe fondern ein Intereffe der ganzen Nation, und damit auch der wirt: ſchaftlichen Zukunft aller ihrer einzelnen Teile ift. Ein armes Reich und ein armer preußifcher Staat wären ein Nationalunglüd. Ein immer mehr verfchuldender Reichsetat aber, und Dicht Daneben ein immer reicher werdender DBormachtetat bedeuten eine innere Gefahr, die um fo größer wird, je höher die Aufgaben und eben damit die wirtfchaftlichen Anforderungen des Reiches werben.

Die große Aktion der Zolltarifreform muß gefolgt fein von einer voltswirtfchaftlihen Verkehrsreform großen Stiles, denn diefe legtere ift der wichtigfte, innere Erponent jener Aktion nach außen. Der Schwerpunkt diefer inneren Verkehrsreformen liegt aber zunächft feines- weg? in einer Verbilligung der Tarife, oder gar in einer rein mechaniſchen und planlofen Verbilligung, fondern in einer technifch-öfono- mifhen Zufammenfaffung der vorhandenen, politifch-zufällig, nicht wirt- fhaftlich-rationell gearteten Verkehrsgroßbetriebe und in einer Zuwendung der dadurch erreichten bezw. erreichbaren finanziellen Erfolge an die Ge- ſamtheit der Beteiligten durch entfprechende Entlaftung bei Aufbringung der Mittel für Beftand und Zukunft des Reichs. Nur ein großzügiges Zufammenarbeiten von weitblidenden Technikern einerfeits, von Finanz männern andererfeitd wird biefem Problem gemwachfen fein; der größte Widerftand wird dabei von dem Partilularismus in allen feinen Formen Heleiftet werben.

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Rundihau.

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Das Schaufpiel im Prinzregenten-Theater. (Offener Brief an Dr. Joſef Hofmiller.)

Werter Freund und Kollege!

Auf der Fahrt von Deffau nah Weimar ziveien guten Zukunftsſtationen für fortfchrittsfreudige Theaterfreunde auf dem Wege von der Mulde zur Ilm alfo las ich jüngft Ihren vortrefflichen, unlängft an diefer Stelle veröffent- lichten Auffag: „Die jegige Lage der Münchner Hofbühnen.“ In fcharfum- riffenen Zügen gaben Gie ein Bild der Situation, wie fie fih den Augen des kundigen, einfichtigen und vorurteilslofen Betrachters darftellt.

Sie willen, daß ich feit geraumer Zeit mich beftrebe, im Sinne der An- ſchauungen zu wirken, die Gie in jenem Aufſatz vertreten. Wir ſtehen alfo in ber gleichen Frontlinie.e Nun hatten Sie in Ihren Ausführungen ein Stüdkhen freien Raumes ausgefpart, mit dem Vorbehalt, bei einer fpäteren Gelegenheit etliches Ergänzende nachzutragen. Darf ich Ihnen die Heine Arbeit abnehmen?

Sie fohrieben: „Die wichtigften Haffifchen Stüde gehören ins Ubonnement.“ Sehr wohl. Nur möcht ich diefen Sat noch in der Urt ausrunden, daß ih fage: „Und das Abonnement gehört ins Prinzregenten-Theater.”

Was würden wir von Jemand denten, der über zweckmäßig eingerichtete Mufeumsfäle mit vortrefflichen Lichtverhältniffen verfügte, fie aber fozufagen leer ſtehen ließe und fich nicht überwinden könnte, in feinem Befig befindliche Meifter- werte von Dürer, Holbein, Bödlin aus öden, übel aufgepusten, halbfinfteren Pruntgemäcern zu entfernen nur weil die Bilder feit Urgroßvaterd Zeiten ebendort hingen! Sollen wir etwa aus Philifterträgheit, als energielofe Halbnaturen, die fich nicht dazu aufzuraffen vermögen, die von Staub ftarrende, Hebrige Baſe Gewohnheit mit einem kräftigen Tritt die Treppe hinunterzubefördern follen wir uns, fag ich, als kurzſichtige Kleinkrämer der Aeſthetik leichthin der außer ordentlichen künftlerifchen Vorteile begeben, die die Einbürgerung des Goetheichen, Kleiftfchen, Grillparzerfchen, Hebbelſchen Dramas in ein Haus mit amphitheatraliſch gehaltenem Zufchauerraum und volllommen für fich abgefchloffener Szene mit fih bringen muß? Bisher find ja von wenigen Einzelleiftungen Poffarts, Häußers, Monnards abgefehen Schiller und Shatefpeare im Prinzregenten-Theater in- folge ungenügender Vorbereitung nur ganz mittelmäßig oder geradezu ſchlecht gefpielt worden. Wollen wir nicht erſt einmal abwarten, bis fie auf diefer Szene nah Gebühr ordentlich ftudiert und gut oder doch wenigſtens leidlich dar- geftellt worden find, ehe wir unferen Zufunftsanträgen die endgültige Faflung geben? Setzte man nur die Hälfte, nur ein Drittel des Fleifes und der Intelli- genz, die auf diefen Brettern an die Einübung der „Meifterfinger” oder det „Rheingolds” gewendet wurden, bier an die Infzenierung des „Wallenftein“, det

Rundfchau. 453

„Coriolan“ die Schillerianer, die Shalefpearianer nicht nur Münchens fondern ganz Deutfchlands würden Wunder über Wunder erleben!

Denn troß folcher oft miferablen Enfembleleiftungen, wie wir fie im Prinz. regenten- Theater an den dem gefprochenen GSchaufpiel gewidmeten Gonntag- Nachmittagen zu erdulden hatten, erwies fi) der Raum an ſich den Klaffitern des gefprochenen Dramas gegenüber bereits ala unerhört kunſtſchöpferiſch. Ver— bütet e8 doch die nur in einer derartigen baulichen Anlage zu bewirtende abfolute Sfolierung der Bühne, daß bei geöffneter Gardine Zuſchauerhaus und Szene zu einem trüben Brei von heterogenen Geftalten, ungewollten närrifchen Licht- effeften und gegeneinander fchreienden Farben zufammenfließen, ineinanderfchwimmen. Erreichen wir doch hier vermöge des abfchließenden breiten Rahmens, ala welcher der dunfel bleibende Raum über dem verdedten Drchefter, zwiſchen der erften Zuhörer: bant nnd der Rampe, dient, eine Reinheit, Kraft und Harmonie der Bild- wirkung, die Schiller, Shatefpeare, Goethe in Bezug auf Schönheit und Ein- Dringlichkeit der Gebärde, Reiz des lofen wie des gefchloffenen Ineinanderfpiels, plaftifchen Charakter und Mannigfaltigkeit der Gruppenbildungen überhaupt erjt zu ihrem Rechte gelangen läßt. Gtellen wir die aus dem heiligen Hain vor den Altar hintretende Goethefche Iphigenie vergleichsweife nacheinander auf die Szene des wäljchen Dpern- und Logenbaufes und auf die des Prinzregenten-Theaters. Wenn wir nicht hier mit Staunen und Rührung fühlen, daß vor ung im Lebendig- werden einer bedeutenden Bifion Antike und herrliches Deutfchtum ſich vermählen, fih unfer dort aber nicht die widrige Empfindung bemächtigt, daß der große Weimaraner mit einem verfchnittenen Barodfegen drapiert wird: dann find wir feine künftlerifch empfindenden Menfchen, fondern Schufter.

Und einer folchen Möglichkeit, im großen Stile reformatorifch umgejftaltend au wirken, den geiftigen Eigenbefig einer Runftftadt wieder zu mehren, die nad Lage der Umſtände in der letzten Zeit fich ſchon vielfach gezwungen ſah, mit aus- gefchliffener Münze zu zahlen einer derartigen Möglichkeit follen wir uns kurzerhand entfchlagen? Sollen mit verfchräntten Armen zuſehen, wie in dem jest als Amphitheater aufwachfenden neuen Charlottenburger Schillerhaufe, wie dann, ein wenig fpäter, vielleicht in Deffau, Weimar, Stuttgart, Karlsruhe und wer weiß wo fonft noch rührige und frifch zugreifende Männer die neuen fzenifchen Gegeben- beiten auch für das Schaufpiel forgfam, eifrig ausnugen während wir in Münden dann zum bundertften Male als die Männer von der verfäumten Ge- legenheit, al die betrübten Lohgerber mit tränengefättigtem Sadtüchlein am Ifar- ufer ftehen und jammern, daß Andere uns wiederum überflügelt hätten? Eine Glüdskarte in der Hand haben, wie fie Einem alle Zubeljahr einmal bejchert wird, und fie nicht ausfpielen? Verdient das nicht Prügel? Bergeffen wir doch die alte bewährte Erfahrung nicht: wer als der Erfte etwas Neu-Eigenartiges von Wert bietet, der Eettet nicht nur den Ruhm und die den fachlichen Erfolg fortzeugende Tradition an fich, der bat auch für lange Zeit auf den größten Zu- fpruch all derer zu rechnen, die künftlerifchen Genuß, Belehrung, Unterhaltung fuchen möge dann anderenorts hinterher auch Volllommeneres gebracht werben. ind haben wir es in München etwa nicht bitter nötig, mit Anſpannung aller Energie die Kolonie der anfäffigen, begüterten Runftfreunde nah Möglichkeit zu verftärfen und die Durchreifenden wenigftens auf Tage zu feffeln? Unter denen, die jahraus, jahrein für kürzere oder längere Zeit ſüdwärts pilgern, gibt es genug wohlhabende, geiftig rege, aber unmufitalifche Leute. Auch für diefe fann das Pringregenten-Theater zu einem kräftig wirkenden Magnet werden, wenn wir bie durch feine baulich-fzenifche Unlage gebotene Gelegenheit fachgemäß ausnugen, während der „Fremdenfaifon” auch auf dem Gebiete des gefprochenen Schau- fpieles dort etwas Außerordentliches berauszuftellen.

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Eine unerläßliche Vorbedingung wäre dabei allerdings zu erfüllen: Es müßten für Schaufpielvorftelungen im Prinzregenten-Theater möglichft kurze Dekorationen gewählt werden. Bei fämtlichen Aufführungen des heuer an jener Stätte mit Ach und Krach abgebafpelten Schiller-Zyklus hatte ih Alt für Alt die gleihe Wahrnehmung zu verbuchen: war der Bühnenplan mit einer verhältnismäßig kurzen Dekoration befegt, jo verftand man auf den unteren wie auf den oberen Zubörerbänten auch die Darfteller fehr gut, die keineswegs über die meifter- und mufterhafte Sprechtechnif eines Poffart verfügen. Mehr als durch alle fragwürdigen Erperimente des Naturalismus find der deutfche Schau- fpieler und fein PBortragsftil von jeher dadurch gefchädigt worden, daß man Schiller, Goethe und Shakefpeare aller Vernunft, allem künftlerifchen Feingefühl zu wider in mitten der tiefen, auf das Feldgefchrei der Heldentendre und die Chor- entiwidlungen des mufitalifhen Dramas zugefchnittenen Operndekoration gewaltfam auseinanderzerrte. Diefe unfelige, wüfte Dpernfzene mit ihrer unendlichen Gud- faften-Perfpektive, und das riefenhohe italienifche Zufchauerhaus mit den drei, vier und fünf Rängen: das waren vornehmlich die hbemmenden Faktoren in der neueren Gefchichte der deutfchen Schaufpielftunft! Welche Gefichter, recte Fragen, muß nicht der Mime fchneiden, damit der Zuhörer, der auf der Bergeshöhe felbft nur eines dritten Ranges thront, überhaupt eine Veränderung der Züge gewahr wird! Wie unnatürlid muß jede Silbe gedehnt werden, damit die „Dlympier“ nur etwas verfteben!

Sind Ihnen, verehrter Herr Doktor, die Auffäge zu Geficht gekommen, die ich im Herbft 1904 auf Veranlaffung der Redaktion unferer „Meueften Nac- richten“ unter dem Titel: „Münchner Theaterbaufragen“ veröffentlichte? In Anſehung deffen, daß das „Refidenztheater“ ganz, das Hof- und Nationaltheater balb bis dreiviertel baufällig ift und im übrigen jedwedes Theater mit Rängen und Rangtreppen bei Feuersgefahr und dem Ausbrechen einer Panik zu einer Unbeilftätte werden muß, ſchlug ich vor: 1) Im Prinzregenten-Theater die An- zahl der Plätze derart zu vermehren, dab das „Abonnement“ dort bequem unter zubringen ift was Prof. Littmann, der Architekt des Haufes, für leicht aus- führbar erklärt. 2) Das Gärtnerplag- Theater, das doch feinen ihm urſprünglich zugewiefenen Beruf als erzieberifche Volksbühne rettungslos verfehlt hat, von der Hoftheater-Intendanz wieder in Benugung nehmen zu laffen. 3) Da jede zehn Mark, die man für QUusflidarbeiten im Hof- und Nationaltheater verwende, binausgerworfenes Geld feien, den häßlichen Kaften niederzureißen und auf dem gleichen Areal ein Heineres Amphitheater für intimeres Schaufpiel und beitere Dper zu errichten ein Haus, in dem durch die Anlage der Foyers und Aehn⸗ liches auch auf die Anfprüche des Hofes und des Hofzeremoniells die erforderliche Rüdficht genommen würde. 4) Vom „Refidenztheater“ lediglich den Zufchauer- raum feiner ganz einzig fchönen Rokoko - Ausfhmüdung halber als Mufeums- objeft zu erhalten.

Das Prinzregenten-Theater würde dann alfo nicht nur für eine fury bemefjene Feftfpielperiode und ein paar Sonn und Feiertage, fondern ftändig im regelmäßigen Bühnenbetriebe ebenfowohl das Haffifche (tie überhaupt das mit weitichichtigem Apparat arbeitende) gefprochene Schaufpiel als auch diefe und jene Dper Gluds, den „Fidelio“, die „Euryantbhe”, die Werte Wagners und die der bemerkenswerten ſich an ihn anfchließenden Begabungen beherbergen. Bon Recht wegen. Denn ein maffives, ein monumentale® Haus baut man nicht allein auf den Namen und Kredit eines Meifters hin, felbft wenn diefer Meifter Richard Wagner beißt. Poffart hatte dafür die richtige Empfindung, da er dem Ger dãude als unverrüctbares Dauerprogramm die Frontinfchrift gab: Der deutſchen kunſt. Die deutfche dramatifche Runft hat immerhin ſchon vor Wagner munder-

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würdige Schöpfungen hervorgebracht und fie ift auch nicht mit ihm ins Grab gefunfen. Darum werden fih auch die Nichte-als-Wagnerianer, die Wagner- philifter, die ihren äftbetifchen Horizont im Jahre 1883 mit Brettern zufchlugen, mit einer Neuordnung der Dinge im Prinzregenten- Theater fich zu verföhnen haben. (In München felbft find folche Wagnerphilifter glüdlicherweife nicht anzutreffen.) Dem Privatmanne ſteht es ja frei, fich ausfchließlich Orlando di Laffo, oder Friedrich Hebbel oder Rihard Wagner zu widmen. Wer aber in der Deffent- lichkeit mitreden will, der muß fich entwiclungsfähig zeigen, der muß mit allen geiftigen Bauptftrömungen der Zeit in Fühlung bleiben und für feine befondere Tätigkeit Nahrung aus ihnen ziehen. Gonft wird er juft jo zum Wagnerzöpfling, wie der als Kulturhiſtoriker unvergleichlich bedeutende W. 9. Riehl und feine Gefinnungsgenofjen ald Haydnzöpflinge erftarrten. Lebte Wagner noch, fo würde er wahrfcheinlich dem Prinzgregenten-Theater einen weiten Aufgaben- freis zumweifen! Er mußte, daß er dem deutfchen Volle in feinen Werken ein koſtbares Kapital hinterließ. Doch er wußte auch, daß man ein Kunſtkapital nicht in täglicher Inanfpruchnabme ausfchroten dürfe, wie die Erfindung eines beliebigen gewinnbringenden induftriellen Prozeſſes. „Schafft Neues, Kinder; Neues!" das war Wagners tägliche Rede,

Man braucht Sie und mich, lieber Herr Kollege, gewiß nicht darüber zu belehren, daß auch die Wagner-Alufführungen im Prinzregenten-Theater, felbjt in Anfehung der Höhe, zu der fie unfer berrlicher Felix Mottl jest hinauf: geführt bat, noch weiterer Vervolllommnung fähig wären. Noch ift da manches Primadonnentum in finnvoll edlen Gefang, noch ift da mancher virtuos gehandhabte dekorative Schnickſchnack in fhlichte, gehaltvolle fzenifche Kunſt um- zufegen. Aber wie ung aus der Vertiefung in die wagnerifchen Probleme neue Einfihten, neue Hilfsmittel für die Infzenierung der mozartifchen Meifterwerte zuwuchfen, fo wird im Prinzregenten-Theater eine intenfive Kultur Schillers, Shakeſpeares und derer, die mit Ehrerbietung, aber eigene Gedanken ausfpinnend, des Bayreuther Meiftere Spuren folgen, in einer Fülle verfchiedenartiger An- regungen auch wieder das an jener Stätte zu pflegende Wagnerftudium neu be- fruchten. „Beichäftigung, die nie ermattet,“ fchafft auch auf dem Felde der Kunft erft den rechten Ertrag, wenn fie würdigen Gegenftänden, die in innerer Beziehung ftehen, wechfelweife zugewendet wird.

Dielleicht geftatten Sie, daß ich diefem Briefe in Zeit und Weile einen weiteren folgen laſſe. Für beute drüct Ihnen, einem Nicht-Einfeitigen und Weitfichtigen, herzlich die Hand

Ihr Ihnen beftergebener

München, September 1905. Daul Marfop.

Felitgovom Rath zum Gedächtnis.

„De mortuis nil nisi vere!* Wird je ein Freund dem verftorbenen Freunde im Sinne diefer ftrengen Forderung gerecht werden fönnen, zumal fo lange er noch die vom Tode frifch gefchlagene Wunde im Herzen trägt? Wird das Bild, das er entwirft, die Züge der Wirklichkeit tragen und vor dem ftrengen Urteil nüchterner Beobachter beftehen können?

Us die Aufforderung an mich erging, dem am 24. Auguft d. 9. in München verfchiedenen Tonfeger Felir vom Rath in diefen Blättern einen Nady- ruf zu widmen, mußte ich, der ich in jahrelanger inniger Freundfchaft mit dem Entfchlafenen verbunden war, mir diefe Fragen vorbalten, ehe ich die folgenden

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Zeilen niederſchrieb. Mögen ſie im Geiſte klar blickender, nicht aber blind machender Liebe wahrhaftig wirken.

Felir vom Rath iſt nicht von der Wahlſtatt abberufen worden, auf welcher um die böchften Ziele der Tonkunft gerungen wird; von einem befcheidenen, ftillen WUrbeitsfelde, auf welches nur eine Minderzahl der Runftfreunde ihr Augenmerf lentt, bat er vorzeitig ſcheiden müſſen. Dieſes Arbeitsfeld hatte er fih in München gefchaffen; er galt als eines der begabteften, am meiften verfprechender Mitglieder jener Heinen Zahl Münchener Tonkünftler, welche man wohl unter dem Namen „Münchener Schule“ zufammenzufaffen verfucht bat. Don Geburt war er Rheinländer; in Köln kam er ale Sohn einer in der Großinduftrie Weft- deutſchlands wohlbetannten Familie 17. Juni 1866 zur Welt. Das zarte, un- gemein empfindfame Kind genoß forgfältige häusliche Erziehung; zum Züngling erwachfen, abfolwierte er noch im 17. Lebensjahre das Gymnafium feiner Bater- ftadt und wandte ſich dem juriftifchen Studium zu, welches ihn auf verfchiedene Univerfitäten Deutfchlands und des Auslands führte. In diefen Lehrjahren legte er den Grund zu einer vielfeitigen, ungewöhnlich reichen allgemeinen Bi welche insbefondere auch fremde Sprachgebiete umfaßte. Daneben förderte er aber auch fein Fachftudium derart, daß er zur üblichen Zeit das Referendar- eramen und nach der vorgefchriebenen praftifchen juriftifchen Tätigkeit, welcher er im Rheinland obgelegen, 1893 das AUffefforeramen ablegen konnte. Man hatte es in feiner VBaterftadt freudig begrüßt, daß ein Angehöriger großinduftrieller Familien fih in den Dienft der Gerichtspflege ftellen wollte, und glaubte ihm eine ungewöhnliche Laufbahn vorausfagen zu können.

Damals trat in feinem Leben der entjcheidende Wendepuntt ein. Bon früher Jugend an war fein Herz von mufitalifchen Neigungen und Eünftlerifchen Träumen erfüllt, an welche indeffen begreiflicherweife im Kreife feiner vor allem von kaufmännifchen Traditionen erfüllten Familie befondere Hoffnungen nicht gefnüpft worden waren. In dem berangereiften Manne, welcher feine freie Zeit dem Klavierfpiel unter Leitung verfchiedener Lehrer von hohem Rang und Ruf (Sgambati in Rom, Reinede in Leipzig, Mar Pauer in Köln) mit dem Erfolge widmete, daß er eine weit über das dilettantifche Höchſtmaß hinausgehende technifche Fertigkeit fich errungen hatte, in ihm verdichteten fich diefe Neigungen zu heißer Liebe und gebaren den tiefen, wahrbaften Drang, fein Leben ganz der Pflege der Mufit zu widmen. Die Tonwelt fchlug fein Empfindungsleben völlig in ihren Bann und fchon begannen die Anzeichen echter Begabung, fchöpferifche Regungen verheigungsvoll in ihm aufzublüben: er fchrieb fein erftes Lied.

Nach einer längeren Reife im Auslande ſchloß er nun im Einverftändnis mit feinem Vater die juriftifche Laufbahn ab und wandte fih nah München, um fich unter Ludwig Thuilles Leitung ganz dem Studium der Rompofition hin- zugeben. Auch nah Abſchluß diefer Studien behielt er feinen Wohnſitz in der liebgewonnenen bayrifchen Hauptftadt bei, wo er, allen äußeren Ambitionen ab» hold, ausjchließlich feinem ftillen Schaffen und der Pflege feiner vielfeitigen fünftlerifchen Neigungen und Ideale lebte.

Als eine koſtbare Folie ſeiner produktiven Begabung war ihm von der Natur die Fähigkeit gegeben, in anſchmiegendem Verſtändnis und leidenfchaftlicher Bewunderung jeder fremden fchöpferifchen Kraft die geiftigen Strömungen feiner Zeit mitzuverftehen und mitzuempfinden. In feinem Ropfe lebte das Bild einer künftlerifchen Gefamtkultur, welche das Leben felbft zum Kunſtwerk erheben und geftalten will. Go trat er zu einem Kreiſe gleichgefinnter Freunde der verfchiedenften Lebens- und Berufsarten in innige Wechfelbeziehung. Nicht vergeffen fei, dab Rihard Strauß während feines Münchner Wirkens den Mittelpunkt diefes Kreiſes bildete. Im Laufe der Jahre erweiterte er die Kraft feiner Anfchauungen durch

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ausgedehnte Reifen, die ihn in mehr ald landläufigem Sinne mit dem Stande ber Rultur in verfchiedenen Ländern vertraut machten. Geine Wege führten ihn von der Stätte des alten Karthago bis nad Island. Zu den Kunftfchägen der Renaiffance in Italien hatte er ein ebenfo perfönliches Verhältnis wie zu den Bildern des VBelasquez in Spanien und den modernen malerifchen und mufitalifchen Strömungen des heutigen Paris. Im der Wahl der Runftwerke, welchen er feine befondere Neigung fchentte, bekundete er häufig einen der Mehrheit feiner Lebens: genoffen vorauseilenden Gefhmad. Im Begriffe, ein eigenes Heim zu beziehen, welches ganz den Stempel feines feingefchulten, reifen künftlerifchen Urteiles ge- tragen bätte, und welches er zum Mittelpuntte eines ausgedehnten fchöngeiftigen Bertehres zu machen hoffte, verfchied er jäb am 24. Auguft d. I. Er hatte fich einer Rrampfaderoperation unterzogen, durch welche er ſich Befreiung von in den legten Jahren aufgetretenen Störungen feiner vitalen Kräfte erhoffte. ine Hemmung des Blutumlaufes führte nach glücklich überftandener Operation zu einer Derzlähmung.

Scheinen in einem folchen normalen, glüdlichen äußeren Lebenslauf nicht alle Borausfegungen gegeben zu einem harmonifchen, ungetrübten Innenleben? Wenn wir vom Raths KRompofitionen ihrem Stimmungsgehalte nach prüfen, er- feheint diefer mit geringen Ausnahmen tragifchpathetifch; die meiften feiner Werte geben Runde von heißen, ja erbitterten inneren Rämpfen, von vergeblichem Ringen um Klarheit und Ruhe. Woher diefe Discrepanz zwifchen Leben und Kunft? War die fchlichte Heiterkeit des Menfchen und Künftlerse nur Maste? Nein, im Spiegel feiner Kunſt erfcheinen die wahren Wefenszüge des Entjchlafenen. Er war im Grunde eine tragifhe Natur. Die Unzulänglichkeit alles Vergäng- lichen kam ihm troß glüdlicher äußerer Lebenslage mit peinigender Schärfe zum Bewußtfein. Im Gegenfat zu dem leichten, freudigen Temperament feiner rheinifchen Landsleute war ihm ein grüblerifcher Hang zu eigen, der hinter den Erfcheinungen den Grund der Dinge fuchte. „Wer erfreute fich des Lebens, der in feine Tiefen blickt Fragen, an denen andere achtlo8 vorüberftreifen, wurden feiner Geele zur Quelle der Rümmernis. Gein fcharfer Verftand entwidelte in ihm ein ftartes tritifches Vermögen, welches ihm einerfeit? einen ficheren Mafftab für das Gute und Echte in Leben und Kunſt bot, welches ſich aber andererfeit? mit Vorliebe gegen fein eigenes Ich wandte und ihm naive Lebens- und Schaffensfreude trübte. Die potenzielle Energie, die das Ziel ihrer Wirkfamkeit in der Erreichung praf- tifcher Lebensziele fucht, wurde ihm immer wejensfremder. Und doch fühlte er fih nicht ſtark genug, feiner eigenen idealiftifchen Lebensauffaffung im Rampfe mit diefen Kräften volle innere Freibeit zu erobern. Go bietet er das Bild eines Kindes unferer reizfamen Seit, bei welchem der Wille eigene Wege zu wandeln fich nicht die Wage hält mit dem Maße perfönlicher Kraft.

Vom Raths künftlerifches Wirken war zu kurz, als daß er zu voller Reife des Schaffens hätte gelangen können. Geiner felbftkritifchen Veranlagung gemäß bat er nur langfam, fat zögernd gefchaffen und fo find feiner reiferen Werte nicht viele. Es ift bier nicht der Drt, fie im einzelnen einer kritiſchen Würdi- gung zu unterzieben. Es genüge der Hinweis, daß er nur in einer PViolin- fonate (D Moll), einem Rlavierquartett (C Moll) und dem Klavierkonzerte (B Moll) ſich der großen mufitalifchen Formen bedient hat. Geine befondere Begabung verwies ihn auf die Pflege der intimeren Formen der Klaviermufit und des Liedes. Die erfteren geben am beften ein Bild feines fein differenzierten Em- pfindens und feines Gefchmades, der alles Alltägliche wie aus innerer Not- wendigfeit gemieden bat, ohne daß dabei Sucht nad Driginalität zu Tage träte. Die Wahl der Gedichte zu feinen Liedern kennzeichnet fein Verftändnis für die moderne Literatur und feine Fähigkeit, intime Iyrifche Stimmungen durch die

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Mufit auszudeuten. Als allgemeines Charakteriftitum feines Schaffens mag man fagen, daß er nicht eigentlich aus impulfivem Schöpferdrang, aus innerer Not und unmwiderftehlihem Müſſen gefchaffen hat. Gleichwohl ift feiner Produktion neben den Vorzügen Harer Tongebung und finngemäß angewandter moderner Harmonik eines zweifellos zuzuerfennen: er hatte „Einfälle“. Daß die Ver— arbeitung des an fich wertvollen thematifchen Materials nicht immer den Eindrud des Ungeziwungenen erwedt, mag auf die oben berührten Hemmungen feines geiftigen Lebens zurüdzuführen fein. Die Hoffnung, daß er diefe mit zumeb- mender Reife überwinden würde, ift mit ihm ins Grab gefunfen.

Mocte Felir vom Raths Gemütsleben durch innere Konflikte getrübt er- feheinen und durfte liebevolle Wahrhaftigkeit nicht überfehen, daß über feinem Weſen ein Schatten von Traurigkeit und Müdigkeit lag: fein Charakter zeigte fih auch fchärffter Prüfung in Eindlicher Reinheit. Wer feine feltenen Eigen- fchaften der unantaftbaren Lauterkeit, der edlen Herzensgüte, der rührenden Be- fcheidenheit und Treue in der Freundfchaft erproben durfte, bewahrt fein Bild ald wertvollen Befis im Herzen. Ob fich der großen Zahl der Freunde, die feinen Berluft betrauern, ein einziger entgegenftellen kann, der fagt: Ich war fein Feind?

München. Mar Schillings.

Die Lenbachausftellung.

Unter den Münchener Runftausftellungen diefes Zahres ift die Lenbad- ausftellung kulturbiftorifch die merkwürdigſte. Man darf beinahe fagen, daß bier in durchaus würdevollen Formen der Kampf zwifchen alter und neuer Runft- anfchauung zum YAustrag fommt. Die Freunde und Verehrer bes berühmten Porträtiften haben, die Zeichen der Zeit nicht verftehend, einige hundert Werte Lenbachs vereinigt, in der höchft anertennenswerten Ubficht, aus der Menge des bloß für den Gelderwerb Geſchaffenen jene Gemälde zu trennen, die jelbft einem fleptifchen Publikum zeigen könnten, daß der Ruhm des Mannes nicht unver- dient war.

Die Ausftellung ift kühl aufgenommen worden, vom Publitum fowohl, das fich im ihr nicht recht unterhält, wie auch von der Preſſe. Die Haltung der Preſſe in der Lenbachfrage ift num zu intereffant, als daß fie nicht kommentiert werden follte. Als der fo fehr gefeierte Mann geftorben war, waren alle Seitungen mit Nekrologen und Erinnerungen an den „Malerfürften“ gefüllt, und wer nicht genau Befcheid wußte, durfte glauben, daß die Stimme des Volkes noch immer zu Gunften Lenbachs fpräche. Uber wie Referent aus feinen perfönlichen Erfahrungen bezeugen kann, verhielt fi die Sache ganz anders als der Anſchein war. Die Preffe wenigſtens die gute wird faum jemals bei dem Tod eines berühmten Künftlers fo in Perlegenbeit gewefen fein, wie bei Lenbach. Nach ihrer Gewohnheit hatte fie bei den erften alarmierenden Nachrichten über die Gejundbeit des fcheinbar Unverwüſtlichen ſich bei den beften Fachleuten um Nekrologe bemüht. Aber die guten Kunſtſchriftſteller lehnten faft ausnahmslos ab. Die Redakteure waren in Verzweiflung. Das war nicht nur bei Tagesblättern fo, fondern auch in den KRunftrevuen, und das war ferner nicht nur in München fo, fondern in ganz PDeutfchland. Von denen, die einen guten Namen einzufegen batten, wollten die wenigften über Lenbach fchreiben; denn es wäre unmenfchlich getwefen, dem Mann, an deffen Bahre doch Viele in aufrichtiger Trauer ftanden, einen Nachruf zu widmen, der bloß die Wahrheit bringen wollte und es wäre für den betreffenden Verfaffer doch auch wieder

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unftatthaft geweſen, etwas anderes als die Wahrheit zu fagen. Go ftanden bei Lenbachs Tod unter den Nekrologen in der Regel nicht die Namen der wirf- lihen Kenner oder aber, wenn Männer wie Muther über ihn fchrieben, fo machten fie folche Einfchränftungen im Lob, daß faft alles, was fie zu Ehren des Künſtlers fagten, dadurch aufgehoben wurde. Das gleiche ift nun bei den Berichten über die Ausftellung der Fall. Nichtsfagende Lobartifel von mehr oder weniger unbelannten Schriftftelleen erfchienen in Menge. Trotzdem bat fich die Preffe für den toten Lenbach nicht halb fo engagiert, wie für den lebenden.

Wenn man nun prüft, warum die Haltung des Publikums und der Preffe fo referviert ift, gibt fich die Löfung aus dem Llmftande felbit, daß fie weder fchroff ablehnend, noch begeiftert einftimmend ift. Lenbach bat eben doch etwas bedeutet und ift ein künftlerifcher Geift gewefen.. Man fpürt freilich jest, wo die Untauglichkeit und Unbaltbarkeit der von ihm gebrauchten Malmittel an dem faum aufzubaltenden Untergang feiner von Jahr zu Zahr blinder werdenden Werte offenkundig wird, daß er feine Technik nicht beberricht hat. Man fpürt auch jett, wo uns die Werke der alten Meifter durch Reifen und photographifche Publikationen immer mehr bekannt werden, daß das Wirkungsvollfte feiner Kunft fremdes Eigentum war: aber man erfennt auch immer Hlarer, daß er von Haus aus zu etwas befferem beftimmt und daß er eben irregeführt war. Die Schuld jedoch, daß er auf Abwege geriet und daß, wie in einer Münchener Befprehung der Ausftellung ftand, der biftorifche Lenbach in die Jahre zwifchen 1850—1860 gehört und nicht mit dem berühmten Lenbach zufammenfällt, trägt der verbängnisvoll niedrige Stand der fünftlerifchen Kultur Deutfchlands um die Jahre 1860—1880. Es bat wohl unter den Männern, die damals alt waren, echte große Künftler gegeben wie Morig von Schwind, und unter den jungen waren fo ftarfe Talente wie Leibl: aber das Volk aller Schichten war in feinem Geſchmack auf ein beinahe unreduzierbares Minimum gejunten. Die Zeit, die ihre beiten Kräfte und Männer an die Einigung von Deutfchland feste, die den großen Krieg vorbereitete und feine Errungenfchaften dann auszunügen fuchte, batte fein inneres Verhältnis zur Kunſt. Man wollte vom Bild unterhalten, vielleicht auch belehrt fein und fchuf fo unter anderem den angeblich pſychologiſch analyfierenden Porträtftil, wie ihn Lenbach als befter vertreten bat. Auf Sad- lichkeit, die Grundlage jeder Bildniskunft, verzichtete ein Publitum gern, das nur nach dem fragte, was der Porträtift über dem Dargeftellten zu erzählen wußte. So darf man getroften Mutes Lenbach ale den Novelliften der Porträtmalerei bezeichnen, allerdings darf man nicht vergeffen, daß von ihm feine fachlichen Bild- niffe verlangt wurden. Wenn er in feiner erften Periode, die heute als feine befte bezeichnet wird, der Aehnlichkeit befondere Aufmerkſamkeit fchentte, jo konnte er wohl einiger Anerkennung, aber noch größerer Anfeindung ficher fein.

E83 erhebt fih nun die Frage, ob diefe ſtarke Betonung des Erzäblenden im Porträt berechtigt war oder nicht. Im Prinzip läßt fich nicht viel dagegen fagen. Ein Bildnis muß leben. Das geiftige Element darf nicht vernachläffigt werden. Es kommt nur darauf an, auf welche Weife es betont wird. Hierüber gibt die Ausstellung eine nur zu deutliche Antwort.

Unter den vielen Porträts fcheiden zunächit die weiblichen in diefer Hinficht faft fämtlihe aus. Wenn man das der Schriftitellerin Hedwig Dohm ausnimmt, darf man die übrigen alle, felbft die der würdevollen älteren Damen, als leblos bezeichnen. Die Feinheiten der Frauenfeele hat Lenbachs derber Organismus, wie das ſchon oft konftatiert wurde, nicht erfaßt. Es fcheiden aber auch die KRinderbildniffe aus. Man muß nur in Familien nachfragen, deren Mitglieder in jungen Jahren durch Lenbach porträtiert wurden, um immer twieder die gleiche Antwort zu erhalten, daß diefe Bildniffe gar nicht? von dem wirklichen Leben

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enthalten. So bleiben die Porträts der bedeutenden Männer übrig, die der berühmte Maler in unabſehbarer Reihe geliefert hat. Trotz der Verfchieden- beiten der Nationalitäten, Typen und Trachten find fie nun alle fo fehr nur Zeugen eines einzigen Geiftes, daß die Zuſammengehörigkeit durch den gleichen Urſprung unenblich viel ftärter in das Auge fpringt als ihre Trennung dur die Ver— fchiedenbeiten der Charaktere. Das ift bei der langen Seit, über die fie fich erftreden, tunftgefchichtlich infofern ein unerhörter Gall, ald es keinen Meifter erften Ranges gibt, bei dem das gleiche zu beobachten wäre. Wenn noch fo viele Porträts von Velasquez oder Franz Hals, felbft von Rembrandt zufammen- fommen, fo fiebt man wohl die durch die gleiche Autorfchaft bedingten Aebhnlich- keiten fofort, aber noch deutlicher die Verfchiedenheiten der Porträtierten.

Diefer Umftand, der fehr gegen die viel gerühmte Tiefe der Auffaffung des „Seelenlefers Lenbach“ fpricht, erflärt fi) aus einem anderen Moment, das bei der Maffenhaftigkeit, mit der die Porträts bier zufammengebracht wurden, faum zu überfehen if. Das Arrangement der Bilder ift nicht natürlich. Die Poſe in der Haltung des Körpers, in der oft mehr als willtürlichen Tracht, vor allem aber in dem Ausdrud des Gefichtes und der Augen, wirkt zu laut, als daß fich die Charaktere der einzelnen noch entwideln könnten. Es ift aber eben diefe Pofe, die von der älteren Generation fo fehr bewundert wurde und fo war diefes Urteil auf feinen guten Grund gebaut.

Wenn nun das theatralifche Arrangement die Glaubwürdigkeit von Lenbachs Werten fehr beeinträchtigt, fo ift fie es trogdem, die nicht nur zeigt, daß erſtens der fo viel gefeierte Maler tatfählih Blick für malerifche Wirkung gehabt bat und daß er aus dem auf Nachahmung der alten Meifter gerichteten Ge- fhmad feiner Zeit beffere Erfolge gezogen hat, als irgend ein anderer Porträt- maler, Er hatte Sinn für das Bedeutende und wenn er es felbft aus eigenen Kräften nicht zu fchaffen vermocht hat, fo wußte er doch wenigftens feine Bor- bilder gut zu wählen.

An ſich ift es ja eine widerfinnige Gefchmadlofigkeit, die Menfchen des 19. Jahrhunderts, in die Tracht der früheren Jahrhunderte zu fteden, zumal da unfere Seit eine fo ganz eigenartige Rultur hervorgebracht bat, die fih von allen früheren in vielen Dingen nicht nur fcharf, fondern häufig auch glüdlich unter- fcheidet. Uber die Kreife, denen Lenbach diente, hatten nun einmal Wohlgefallen an folcher Masterade. Go gut wie fie fich keine modernen Häufer bauten, fon- dern alte Paläfte imitieren ließen, fo gut wie fie die Geräte des Haufes nicht felbftändig und neu entwerfen ließen, fondern mit progigen, aber ftumpfen Nach: ahmungen alten Runftgewerbes zufrieden waren, fo gut wie fie Stud für Marmor und Talmi für Gold gebrauchten, ebenfo machten fie auch feinen Unterfchied zwiſchen einem echten Tizian und einem nachgeahmten.

Für viele lag fogar eine befondere Piquanterie darin, alte und neue Runft durcheinandergemifcht zu feben. Man fchmeichelte fich, die Vorzüge der einen mit denen der andern verbinden zu können und fchäßte fich glücklich, das auf billige Weife machen zu können. Gin echter Rembrandt wäre zu teuer gewefen; aber eine Rembrandtimitation von Lenbach war für ungleich weniger Geld zu haben und man redete fich ein, dab es etwas befonders intereffantes und wertvolles fei, einen berühmten Mann der Gegenwart in altmeifterlicher Drapierung gemalt zu befigen.

Diefen Trugfchluß kann die heutige Generation gar nicht mehr nachempfinden und viele der älteren können es gottlob auch nicht mehr. Aber er ift von einer ganzen Epoche gemacht worden und darum müffen wir vom biftorifchen Stand⸗ punkt aus nicht nur die Tatfache hinnehmen wie fie vorliegt, fondern auch als vollwichtige Erklärung für den verbängnisvollen Grundirrtum in Lenbachs An—

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ſchauungen gelten laſſen. Es läßt ſich aber ferner auch erklären, warum die Heutigen dieſe Richtung der ſiebziger Zahre fo völlig ablehnen. Es handelt fih da keineswegs bloß um den Wechſel des Gefchmads, wie oft gejagt wurde, noch weniger um eine Derderbnis der künftlerifchen Kultur, wie auch ſchon häufig und nicht felten in feindlicher AUbficht behauptet wurde, fondern um einen wirf- fichen und bocherfreulichen Fortſchritt. Diefer wird ja wohl in feinem innerften Grund darauf beruhen, daß wir eine felbftändige, den inneren Bedingungen unferer Seit durchaus entfprechende Kunſt befigen, was vor 30 Jahren nicht im gleichen Mae der Fall war. Bor allem aber kommt bier die Beſſerung ber tunfthiftorifchen Renntniffe des Publitums in Betracht. Die Photographie und die Erleichterung des Reifens haben das Volk in einem vorher niemals dagewefenen Grade mit den alten Meiftern vertraut gemacht. Man kennt jet allgemein die Borbilder, die Lenbach benugt bat und unterliegt ihrem Sauber nur noch im Originale; in der Nachahmung lebt er nur noch fehr abgefchwächt und wirkt da natürlich nicht mehr fo leicht. Früher kannten felbit feingebildete Leute nicht die Bilder, die jeweils den Lenbachfchen Porträts zu Grunde lagen; heute darf man fagen, daß fie in den Kreifen, die fih überhaupt um Kunſt intereffieren, jedermann kennt. Man kennt fogar die Driginale nicht nur aus Reproduftionen, fondern meiftens aus Autopſie und wird fich des Unterfchiedes umfo beffer bewußt.

Selbſt diefer Umftand aber, der doch wichtig genug ift, trifft noch nicht den Kern der Sache. Die alten Meifter find heute nicht nur gewiffermaßen ftatiftifch befannt, infofern als ihre einzelnen großen Werte zum AUllgemeingut der Menfchheit geworden find, fondern der Unterfchied zwifchen alter und neuer Kunſt, zwifchen Echt und Unecht wird heute ganz anders gefühlt als früher. Auch hierin liegt eine unendlich wertvolle Befferung vor. Es bedarf heute feiner befonderen Belehrung mehr, um zu erkennen, wie wenig glüdlich Lenbachs Imi- tationen im Nachfchaffen alter Technik und Kunſt find. Das liegt der jüngeren Generation ſchon im Blut, gerade wie ihr das Bedürfnis angeboren ift, bie Menfchen und Dinge der Gegenwart in künftlerifchen Formen dargeftellt zu ſehen, die aus der Gegenwart genommen find.

Es ließe ſich noch mancherlei darüber fagen, warum Lenbach in den legten Jahren immer mehr an Kredit verloren bat. Hier fam es dem Berfaffer nur darauf an, zu zeigen, daß diejenigen, die ihn nicht mehr gelten lafjen, eben der fünftlerifchen Entwidlung folgen, von der fie fich nicht ausſchließen können. Uber auf einen Einwand fei zunächft noch eingegangen, ehe wir Lenbachs Tätigkeit als Porträtift verlaffen. Denen, die den Künftler nicht fehr fehägen, wird gerne gejagt, daß feine Bildniffe ziemlich hohe Preife erreichen. Das ift bei den befferen der Fall, aber die Preife müffen nur mit denen verglichen werden, bie für Werke anderer Künftler, wie Menzel und Leibl, gezahlt werden, um gar nicht hoch zu erfcheinen. Für eine gute Skizze aus Menzels befter Zeit find beute 100000 Mark mit Sicherheit zu löfen, dagegen muß es ein ungewöhnlich weit ausgeführter Lenbach fein, wenn 20-30 000 Mark eingehen follen und da tommt es noch fehr darauf an, wer bargeftellt if. Derſelbe Kunſthandel, der beute noch immer gern für einen Bismard von Lenbahs Hand große Summen zahlt, ift gegen die von dem Künftler, zumal in den zwei lesten Zahrzehnten maſſenhaft bergeftellte Dusendiware, ſehr zurüdhaltend geworden.

Die Ausftellung macht uns noch mit einer Geite von Lenbachs Tätigkeit befannt, von der nur wenige etwas mußten. Er war in feiner Jugend auch Landfchaftsmaler und es ift als ein Hauptverdienſt der Ausftellungsleitung zu betrachten, daß fie eine Menge ſolcher Landfchaften und der mit ihnen zufammen- hängenden Bauernbilder zufammengebracht bat. Die Entwidelung des Künſtlers wird erjt aus diefen Anfängen Har. Man fieht deutlich genug, daß er felbit

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als frifcher Novize zwar ſchon auf den lauten Effeft ausgegangen ift, aber man ſieht auch, daß er die Wahrheit anftrebte. Geine Studienköpfe find ja fehr afa- demifch, aber fie geben des Künftlere Beobachtungen fcharf wieder, fogar etwas zu fcharf. Desgleichen find diejenigen feiner Landfchaften, die nicht alten Meiftern, wie Hobbema oder Cornelis Deder, nachgebildet find, für jene Zeit überrafchend wahre Studien. Mitunter haben fie auch eine gewiffe Leichtigkeit des Tones, die uns beutigentags noch anfpricht, obwohl wir doch in Freilichtbildern fehr verwöhnt find. Ob allerdings gerade die belleren unter den frühen Landfchafte- bildern von Lenbach herrühren und ob die Datierung überall echt ift, das müßte erjt noch unterfucht werden. Bei Arbeiten, die vor langer Zeit entitanden find, fchleicht fich oft ein Irrtum ein, und es ift leicht möglich, daß Lenbach dieſe Bilder in gutem Glauben für fih in Anſpruch nahm, und da fie trogdem nicht von ihm berrühren. Un fich verlohnt es fich nicht, Worte über fie zu verlieren, wenn fie auch einen etwas befferen Eindrud, als feine übrigen Landfchaften machen, die meiftens fehr trüb in der Farbe und auffallend verftändnislos in der Raum- behandlung find. Uber da fie jest dem Künftler zugefchrieben werden und da man den PBerfuch macht, ihn als einen binzuftellen, der fo gut wie andere auch bell und licht malen fonnte, wenn er wollte, fo muß der Fall doc erörtert werden.

Wenn es wahr ift, daß die helleren der Landfchaften von Lenbach berrübren, fo würden fie in Rüdficht auf ihre frühe Entftehungszeit beweifen, daß die fpätere Wirkfamteit des Mannes, die doch die eigentlich berühmte ift, eine fchlimme PBerirrung bedeutet. Geine Freunde wollen fie benügen, um zu zeigen, daß er alles gefonnt bat; in der Tat aber ift nur der eine Schluß berechtigt, daß er, als die Parvenutultur der Gründerzeit den Künftlern fo reiche Einnahmen ver: fchaffte, des Gelderwerbes und des leichten Erfolges wegen das Beſte feiner Begabung aufgegeben und im Keim erftidtt bat. In der lesten Zeit bat fi immer mehr die Erkenntnis verbreitet, daß unfere deutfche Kunft um das Fahr 1870 eine verhängnisvolle Ablenkung erfahren bat, in dem die alte heimifche Tradition durch Nachahmung des belgifchen Pfeudorealismus, der alten Meifter und durch die böfe, durch Wilhelm v. Kaulbach eingeführte Effekthafcherei unter: brochen wurde. Bis jest hat man Lenbach nicht zu denjenigen zählen dürfen, die aus befjeren Anfängen heraus zu diefer Faifeurfunft übergefchiventt find. Er galt in gewiffen Sinn doch für eine kraftvolle Driginalfigur; aber wenn feine Anfänge fo waren, wie fie in den erwähnten Landfchaften feftgelegt werden follen, dann war er unter den Lleberläufern der fchlimmfte und zwar deswegen, weil er das reichſte Talent bejeffen bat.

Sehr unnatürlich ift allerdings diefer Yebergang infofern nicht, ald man fhon in der frübeften Zeit bei ihm ein Schwanten zwifchen felbftändigem Forfchen und bequemem Anfchluß an die alten holländifchen Landfchafter beobachten kann. Er bat fich, wie es fcheint, felbjt gefagt, daß er nicht die Kraft befaß, um auf eigenem Weg fortzufchreiten und nach einigem Taften dann die Bahnen gewählt, die zu leichtem, aber großem Erfolg führen konnten. Die Erklärung gibt bier vielleicht das jeßt berühmt gewordene Bild des Titusbogens. Zu diefem bat er die Studien in Rom gemacht; das große Bild felbft aber führte er nach feiner Rückkehr nach Deutfchland aus und zwar, wie man deutlich fieht, weniger mit Benüsung der Driginalftudien als nach einer Photographie. Diefer Umſtand mag ausfchlaggebend fein für die Beurteilung feines Schaffens. Er, der in fpäterer Zeit fo offentundig mit Photographie arbeitete, weil er fich die Fähigkeit nicht zutraute, jcharfe Aehnlichkeit mit altmeifterliher Pofe zu verbinden, hat fhon als junger Mann mit diefem nur zu bilfsbereiten, aber jo jhädlihen Mittel gearbeitet und zwar gerade da, wo die deutjche Landichafterei in Spitzweg, Lier

Rundfchau. 463

und Schleich eine glänzende Epoche gefchaffen hatte. Un die Tätigkeit diefer Männer, die ſchon um 1850, ehe Lenbach die erften Studien zum Titusbogen machte, bereits eine ftarte, zukunftsreiche Runft hervorgebracht hatten, muß man denken, um zu erkennen, wie retardierend Lenbachs Syſtem wirkte.

Das ift aber das eigentliche Charakteriftitum für Lenbachs Kunft vom biftorifchen Standpunkt aus. Er hat vielleicht am meiften dazu beigetragen, die Entwidelung der Münchener Malerei zu hemmen. Jedoch kann diefes berbe Urteil nicht gefällt werden, ohne einen mildernden, faft verfühnenden Zuſatz. So gleichgültig die Ausftellung wohl die Mehrzahl der Befucher läßt, fo offen- bart fie doch einen höchſt regen künftlerifchen Geift. Man muß fich nur einen Saal mit den Werken von Lenbahs Nachahmern hinzudenken, um zu ertennen, wie viel höher er über ihnen ftand. Mag fein Prinzip auch falfch gemwefen fein, fo bat er es doch kraftvoll vertreten und mag er auch viel dazu beigetragen haben, daß die felbftändige deutfche Kunſt um zwei Jahrzehnte in ihrer Ent- widelung zurüdgehalten wurde, fo bat er als Menfh und Agitator doch beffer ald ein anderer das gekonnt bätte, dafür geforgt, daß in München ein reges Künftlerifches Leben berrfchen durfte. Die meiften feiner Bilder werden wohl ver- geben, aber vergeffen darf es ihm doch nicht werden, daß er der Lethargie zu der der gefamte Münchener Runftbetrieb, ſoweit die Kreiſe der Nichtfünftler in Betracht kommen, neigt, immer entgegengetreten iſt. Er bat Zug in unfer Runftleben ge- bracht und das erkennt der Verfaſſer gern an, umfomehr, als auch die Ausftellung in vielen Einzelheiten Hares Zeugnis davon ablegt.

München. Karl Doll.

Neuer VBitalismus'),

„Nicht durch Krititen oder ‚Widerlegungen‘ ift der (ältere, Referent) Vita- lismus als berrfchende Meinung unterdrüdt worden: die Krititen trafen meift nur Auswüchſe von ihm, und die ‚Widerlegungen‘ berührten ihn gar nicht, fondern trafen angebliche Folgerungen, welche die ‚Widerlegungen‘ erſt fchufen: aus ſich felbft ift der Vitalismus geftorben.“

Zu diefem Ergebnis gelangt der rührigfte und geiftvollfte Vertreter der neuen vitaliftifchen Beftrebungen, Hans Driefch, den Lefern der Monatsbefte auch ale Mitarbeiter ?) bekannt, in einer biftorifhen Skizze des PVitalismus feit Ariftoteles, die er der Auseinanderfegung feiner eigenen vitaliftifchen AUn- ſchauung vorausſchickt. Der Autor hebt felbjt hervor, daß es ihm nicht eigentlich auf ftrenge biftorifche Darftellung, fondern auf das ihm „perfönlih Wertvolle“ ankam. So erklärt fich das eben zitierte einigermaßen überrafchende Refultat feiner geihichtlichen Studien fehr einfach daraus, daß er überall in erfter Linie den Be— ziehungen nachging, welche zwifchen den Begriffen, Vorftellungen, Syſtemen der QUelteren und denjenigen feines eigenen Vitalismus fich auffinden laffen; daß er in allem den „richtigen Kern“ fuchte und herausfchälte, demgegenüber alles etiwa von Lote oder Cl. Bernard?) und Späteren Widerlegte nur als „Auswuchs“ dafteht: jo daß es fchließlich in der Tat den Eindrud macht, als verhielten fich

) Hans Driefh, Der Vitalismus ald Gefchichte und als Lehre. Natur- und Zulturphilofophifche Bibliothel. Bd. III. Leipzig 1905. 254 ©. 5.— M. ) Zanuarheft 1904: Die GSelbftändigkeit der Biologie und ihre Probleme. Juniheft 1905: Das Syſtem der Biologie. ) Diefen faßt Driefh auf Grund gleichen Verfahrens, meines Erachtens gänz- lich mit Unrecht, fogar als verftecten oder Beinahe-BVitaliften auf (f. ©. 120 ff.).

464 Rundſchau.

alle jene Vorgänger wie Vorahner der neu gefundenen Wahrheit, als wären ihre Lehren ein langer, oft unterbrochener, immer wieder angefponnener Gaben der Tradition einer nie ganz verlorenen, ſtets neu aufgeftandenen Heberzeugung, eine Urt von altem Teftamente des neuen biologifchen Evangeliums.

Es befteht ſonach für uns kein Anlaß, uns mit diefer „Gefchichte” des Vitalismus und feiner Kritik weiter auseinanderzufegen. Wir empfehlen fie aber troß ihres unbiftorifchen Charakters fehr zur Lektüre, da fie eine Fülle von Material und interefianten Bemerkungen enthält; und da fie ſchon als erfter Berfuch einer zufammenbängenden Darftellung der Gefchichte des Vitalismus ſeht verdienftvoll ift.

Bedeutfam wird uns indes diefe fubjeltive Gefchichtsfchreibung, wenn wir fie ald Symptom nehmen. Gede neue „Lehre“, ob religiös, politifch oder wiſſen- fchaftlich, hat das Bedürfnis, ihre biftorifchen Grundlagen zu finden, nötigenfalls zu konftruieren, fobald fie zu herrſchen beginnt; jede folche Lehre behandelt die Gefchichte ale „Borgefchichte”, als „Einleitung“ zu fich felbft. Die hier vorliegende Gefchichte des älteren Bitalismus deutet darauf bin, daß der neue Vitalismus die Seit feiner Herrfchaft für gelommen, feinen Gieg für ficher hält. Nichts Geringeres befagt es wohl auch, wenn Driefh im letzten AUbfchnitt des Buches feinem Bitalismus den ihm zukommenden Pla im „Wiſſenſchaftsganzen“ an- weift, nacheinander feine Beziehungen feftftellt „zum kritiſchen Idealismus über- haupt, zum Begriffsiyftem der anorganifchen Willenfchaften, zur Energielehre, zum Gubftangbegriff.“

Was berechtigt den Neovitalismus zu fol anfpruchsvollem Auftreten ? Nach Driefch der Umftand, daß im Gegenfag zum früheren Vitalismus „feine Fundamente in breiter Weife bewiefen find.” Nach unferer und wohl faft aller Zoologen und Phyfiologen Meinung: nichts.

Ehe wir uns dieſe „Fundamente“ genauer befehben, ein paar prinzipielle Bemerkungen.

Wir alle find, fo gut wie nach Driefh Lose und CL. Bernard, in einem gewiffen Sinne „Bitaliften.” Wir wiffen, daß die befondern Körper: und die Lebensvorgänge zumeift in eminentem Maße „zwedmäßig“ find, daß bier „Eigen- gefeglichkeiten" vorliegen, welche die organifche und anorganifche Natur trennen. Das Woher? des Lebens und Lebendigen ift uns unbefannt, wird ung un- befannt bleiben, da wir die Ilranfänge weder zu beobachten noch aller Wabhr- fcheinlichfeit nach je nachzubilden vermögen. Aus den Eigenfchaften der zufammen- fegenden Gtoffe das Leben mit logifcher Notwendigkeit abzuleiten, if gleichfalls unmöglich: wir find und bleiben auf die Feftftellung befchräntt, daß beftimmte Stoffe in beftimmten Gruppierungen vorhanden fein müffen, wenn Leben da fein fol; da es bei beftimmten Veränderungen in diefen Stoffen unb Anordnungen ſich ändert oder verfehwindet. Wie follten wir auch dazu fommen, aus den Qualitäten des Kohlenſtoffs, Waflerftoffs, Sauerftoffs, Stickſtoffs ufw. eine Zelle, einen vielzelligen Organismus herleiten zu wollen? wie anders als von der fchon gegebenen Selle aus ung deren Verhalten, aus den vorbandenen Zufammenordnungen von Zellen und deren befondere Leiftungen zu erklären? Daß Zellen, daß Pflanzen und Tiere, daß ein Auge, ein Arm entftand, wie fie entjtanden und für ihre Funktionen fich geftalteten, das find für uns unlös- bare Rätfel und werden es bleiben.

Die Ignoramus drückt ung ſchwer und unerbittlich, wenn wir nach dem Urgrund der Dinge forſchen, wenn wir „über uns hinaus“, metaphyſiſch, Klarheit fuchen. Es berührt ung faum, oder doch nicht mehr wie bie Erinnerung an Kinderträume und jugendlichen Frage- und Hoffnungsmut, wenn wir als Natur: forjcher an das Lebensproblem herantreten. Mag, wer deſſen bedarf, eine Hypo⸗

Rundfchau. 465

thefe bauen oder glauben: unfere Fragen gehen an dasjenige heran, was wirklich greifbar, erforjchbar vor uns liegt.

Was wir in Hinfiht der Lebensvorgänge als endliches Refultat der Forfhung erwarten zu dürfen glauben, ift nun ein Doppeltes. Wir hoffen, auch in allen Lebensäußerungen auf gewiffe Typen und Gefege zu ftoßen, fie aus der verwirrenden Mannigfaltigteit der Einzelerfcheinungen herausfinden zu tönnen. Wir glauben an feite Gefege im Lebenden wie im Leblofen. Diefer Glaube, durch unzählige Erfahrungen gefichert, ift und heute Borausfegung alles Suchens, aller Naturwiffenfchaft. Er ift es für den PVitaliften wie für uns.

Wir erwarten aber auch zweitens zu finden, und dies fcheidet unfere Anſchauung vom Pitalismus daß es für das Verſtändnis irgendeiner Lebens- äußerung jene unlösbaren Grundfragen ein- für allemale beifeite geftellt niemals nötig werden wird, auf etwas anderes zurüdzugreifen als auf die pri« mären Gigenfchaften der den Körper zufammenfegenden Stoffe, auf die durch ihre Zufammenfügung gebildeten Verbindungen und auf die bejondere Anordnung, in der fie auf einander und auf die Umgebung wirten. Alle bisherigen Ergebniffe der Phyſiologie berechtigen ung zu dem Schluffe, daß wir bei Herftellung gleicher oder ähnlicher Bedingungen hierin liegt natürlich die faft nirgends noch voll« fommen überwundene Schwierigteit! gleiche oder ähnliche Refultate erhalten werden, wie fie der lebende Körper zeitigt. Unbegrenzt erfcheint fchon die Zahl der chemiſchen Möglichkeiten, wenn wir uns die mit der fteigenden Rompli- ziertheit der Zufammenfegung wachfende Mehrung der Eigenfchaften vorftellen: und nun gar, wenn wir an die fo unendlich fomplizierten phyſikaliſchen Zu- fammenordnungen, Bindungen und Trennungen der unzähligen winzigen chemifchen Fabriken denten, die der Körper daritellt!')

So glauben wir, ein Recht zu haben auch zu der Annahme, daß, wenn wir nur eine Zelle aus ihren Elementen genau fo aufzubauen vermöchten wie ihr Driginal in der Natur, fie alles ebenfo leiften und leben würde wie dieſes; ja daß fogar der Mikrotatotosmos, die befruchtete Eizelle, folcherart bergeftellt und in entfprechenden Bedingungen gehalten, den ganzen Lauf der Entwidlung nehmen müßte bis zum fertigen Tiere, zur fertigen Pflanze.

Hier lächelt der Vitaliſt und zitiert Fauft II:

„And welch verliebtes Paar habt ihr ins Rauchloch eingefchloffen ?“

Der er erwidert ung mit Driefch ?):

Lebensvorgänge find „kraft einer unauflösbaren Cigengejeglichkeit zwecd- mäßig.“ (G. 5.)

„Die „dynamische Teleologie“ d. h. eine Zweckmäßigkeit, die nicht bloß aus einer gegebenen Struktur fich ergibt („Itatifche Teleologie“), jondern mit:els diefer nicht mehr auflösbaren Eigengefetlichkeit fchafft „führt zu dem, was meift „Bitaligmus“ genannt wird; fie führt zur Einficht in die „Autonomie der Lebensvorgänge” (©. 6.)

Der befondere, diefe Autonomie, Selbftgefeglichkeit des Lebendigen bedingende Gaktor heißt, mit Neudeutung des ariftotelifchen Ausdruds, Entelechie. Gie iſt „ein Naturfaltor sui zeneris. fie tritt neben das aus Phyſik und Chemie Be- fannte ald neue elementare Sonderheit“. (S. 208.)

) Natürlich „veritehen” wir bei folder „Zurüdführung” auf Eigenfchaften und Anordnung der Stoffe den Vorgang nur ſoweit aber auch nicht weniger! wie etwa die Eigenichaften des Zuders oder Chlorkalks aus ihrer elementaren Zufammenfegung und der (bypothetifchen oder erwiefenen) Anordnung feiner Baufteine. Über diefe Fundamentalfrage fiehe Albrecht, VBorfragen der Biologie, 1899.

*) Vergleiche dazu die zitierten ausführlichen Auseinanderfegungen von Driefch in diefen Heften.

Süpdeutfche Monatshefte. IT, 11. 30

466 Rundſchau.

„Entelechie benutzt, nach Art von (phyſikaliſchen, Ref.) Kompenſationen, die Faktoren des Anorganiſchen, um das ihrer jeweiligen Eigenart Entſprechende herzuſtellen und regulatoriſch zu erhalten.

„Die weſentlichſten Kennzeichen der Entelechie dürfen wohl mit den Worten „primäres Wiſſen und Wollen“ bezeichnet werden, wobei aber dieſe Ausdrücke in durchaus analogienhaft übertragenem Sinne, rein beſchreibend-verdeutlichend gebraucht ſind. Das Wort „primär“ iſt beigefügt, um das von uns Gemeinte von dem „ſekundären“ Wiſſen und Wollen, das auf einer „hiſtoriſchen Realtions⸗ baſis“, auf „Erfahrung“ beruht, zu fcheiden.

„Es erleichtert die Kennzeichnung der organischen Phänomene, verfchiedene Arten der Entelechie an den Organismen zu unterfcheiden: die eine derſelben leiftet die Formenbildung, den Bewegungsreaftionen ftehen „Pfychoide” '), ftufen- = geordnet, vor. Die Formentelechie enthält potentia die Pfychoide (sic!

ef.).

„Da Entelechie fompenfationsmäßig (d. h. anordnend, ausgleichend x. Ref.) zu den Faktoren des AUnorganifchen in Beziehung tritt, fo kann fie auch durd diefe Faktoren in ihrer Betätigung befchräntt und geftört werden: jede Be— fchränfung des Regulationsvermögens, alles Krankſein, endlih das Sterben ?), gehören hierher.” (S. 242.)

Der Lefer, dem diefe Säge etiwa dunkel Hangen, mag rubig anftelle des Wortes „Entelechie“ überall das Wort „unbelannte, befondere Kraft (Energie) im Lebendigen, nisus forınativus, Lebenskraft” einfegen. Wie man fiebt, ift aber alddann im Syſtem wirklich alles ausgezeichnet geordnet: von der erften Formbildung bis zum Tode beforgt die Entelechie alles MWefentliche; fie teilt ſich auch bei Sellteilungen oder der Eibildung, bleibt aber dabei „ganz“ (S. 242). Ya fogar, woher fie fommen mag, wird und vermutungsweife mitgeteilt: „kommt etwa Entelechie als * ihm Fremdes, von ihm Trennbares, zum Körper neu hinzu?“ (S. 242

m.) *)

Die Entelechie verrichtet alfo alles dasjenige, was das Beſon— dere, Unverftändliche der Lebewefen ausmacht. Begriffe, die in folcher Art alles vollbringen, find ftets verdächtig; in der Regel verfprechen fie zwar alles, feiften aber in Wirklichkeit nichts. Im vorliegenden Falle liegt die Sache fo, daß an all den Stellen, wo wir Nichtvitaliften fagen würden: „unverftandener, in feinem gefchichtlihen Werden nicht aufllärbarer, in feinem übrigen Weſen wohl künftig noch deutbarer Vorgang“ daß überall da Driefh jagen würde: „unauflösbare Eigengefeslichkeit”, „Autonomie des Lebenden”, „Entelechie”.

Daß dem wirklich fo ift, wird eine kurze Betrachtung ber „Fundamente“, der „Beweiſe“ des neuen Vitalismus, fogleich zeigen. Die Beweife wenigitens jene, welche Driefch als ftrenge Beweife anfiebt beſtehen in einigen vorläufig nur zum Teile unterfuchten und aufgeflärten, unfer bisheriges Willen über die

es ift eine Art der „Entelechie“; wir wollen bier von „Pfychoid“ reden, um das Wort Pſyche der reinen Pfychologie zu refervieren.“

*) Vergl. dazu den etwas gefchwindfertigen Sat S. 237: „Za, bei folder Wendung der Sachlage (wenn man etwa Entelechie ald „verborgene“ „ausfüllende“, „imaginäre” Energie nimmt oder fie ald Potentialdifferenzen benügend auffaßt Ref.) würde man für Das „Krankſein“ und „Sterben“der Organismen wohl gar ſogleich einen zureichenden Grund gewonnen haben, nämlich den, daß, etwa bei Sauerftoffentziehung, die benötigten Potentialdifferenzen nicht vorhanden find.“

°) Lefer, welche über die „Pfychologie ohne Seele“ traurig find, feien auf dieſe Stelle befonders aufmertjam gemacht: es wird ein Leichtes fein, von hier aus die Geele als Entelechie neu zu entdeden.

Rundfchau. 467

Regenerationd, Wiederherftellungsmöglichkeiten von wirbellofen Tieren erweitern- den Berfuchsergebniffen.

Der Refrain und Grundgedanke aller diefer (und der übrigen) Beweife beißt: „eine Mafchine, die das Gefcilderte leiftet, fann ich mir nicht erfinnen“ (SG. 214); oder: die Annahme einer Mafchinerie, welche dies leiften follte, ift „unfinnig“ (S. 207, 209).

Der Lefer wird ein paar vorläufige Bedenken fchon bier nicht unterdrüden tönnen. Kennt Driefh alle Mafchinen, die e8 gibt und geben fann? Wir wiffen ferner, daß Zellen fich zweiteilen und 2 fertige, ganze Individuen liefern: von einer Dampfmafchine, einem Phonographen hat man nie Ähnliches gehört, Im gebräuchlichen Sinn des Wortes können alfo doch fchon bier auch die Nichtoitaliften den Ausdrud Mafchine kaum gebraucht haben? Oder verfteht Driefch unter Mafchine vielleicht etwas anderes als wir? Doch nicht; fo fagt er ©. 219:

„Eben das (die Möglichkeit, „Erfahrungen“, eine „hiftorifche Reaktions: bafis” zu gewinnen Ref.) unterfcheidet den Organismus vom Phonographen und von ähnlichen Mafchinen, die nur gegebene Rombinationen in der Spezifität ihres Gegebenfeins reproduzieren können” (ließ: die immer und nur das Gleiche feiften Ref.) und weiter:

„Die Mafchine ift geradezu definiert als eine Einrichtung für Feſtes, für Beftimmtes, fei diefes auch, in ebenfalls feftem Rahmen, einer Regulation fähig: das „Reaktionsbeftimmende” bei Handlungen dagegen ift durchaus das Gegen- teil eines Feſten, Beftimmten“. ')

Wir würden vorziehen, von dem Begriff der Mafchine ganz abzufeben; der Vergleich des Drganifchen mit Mafchinen bat für ung keinerlei Wert; und wenn Driefch dagegen kämpft, fo kämpft er entweder gegen Schatten oder, was wahrjcheinlicher ift, gegen feinen eigenen nunmehr glüdlich überwundenen mehbanifh-mafchiniftifhen Standpunkt, der mit dem unfrigen durchaus nicht identisch ift.

Wenn aber wirklich das Drganifche mit Mafchinellem verglichen werden foll, fo müßten wir im vorbinein verlangen, daß von derartig groben Vergleichen wie oben völlig abgefehen werde: denn wie viel unferen „Mafchinen“ Ähnliches fehen wir denn im Drganifchen überhaupt?! und müßten verlangen, daß eben der vorhandene Aufbau des Organismus oder die ſem analog Erbautes als „Mafchinerie” zum Ausgangspunkt genommen werde. Dann aber fpringt fofort, 3 3. bei Betrachtung der Ei- und Furchungszellen, ein fundamental wichtiger Unterfchied diefer „organischen Mafchinerie” ins Auge, der fie von faft allem fünftlih Konſtruierten unterfcheidet: bier liegt ein aus flüffigen, gefchichteten und durch feinfte gleichfalls flüffige Wände gefonderter Inhalt in einer feften Hülle vor: eine flüffige, umfchüttelbare „Mafchine”, in der fürs nächfte vielleicht bauptfächlih Differenzen der fpezififhen Gewichte der Teile und Oberflächen: fpannungen wirffam find! Und merkwürdig: gleich für einen der erjten und immer wieder ins Feld geführten „Beweiſe des DVitalismus” genügt die An— nahme einer folchen der Umordnung fähigen „Mafchinerie”, um alles Wejent- lihe daran verftändlich zu machen. Gfizzieren wir ihn in Kürze:

Die erften 2 oder 4 Furchungszellen des Geeigeleies liefern, wenn man fie von einander ifoliert und fo fich entwideln läßt, 2 bezw. 4 entjprechend Kleinere, aber vollftändige Larven. Wie unerhört! Alſo konnte jede diefer 2 Sellen, von denen jede an ihrem Orte im ganzen fich teilenden Ei etwas Beftimmtes bätte liefern müfjen, auch anderes: ja, fie fonnte das Ganze liefern. Ihre Ent-

') Der Nachweis, daß auch die menschlichen Handlungen nur „in feftem Rahmen“ einer Regulation zugänglich find, ift leicht zu erbringen; er befchäftigt und hier aber nicht.

468 * Rundfchau.

widlungsfähigteiten („proſpektive Potenz” nennt es Drieſch) wären alfo weit größer als ihre Bedeutung im normalen Entwidlungsverlauf')!

Was heißt das für Drieſch?

„Wenn es nur firierte Entwidlung gäbe, d. h. wenn jedes Elementar organs, jedes „Syſtems“ profpeltive Potenz (Entwidlungsfähigkeit Ref.) auf feine Elemente fo verteilt wäre, daß jedes Element feine feite unvariierbare profpektive Bedeutung befäße, dann möchte fi) wohl eine Mafchinerie, von allerdings bei- nahe unendlicher Komplikation, erfinnen laffen, welche durdy das Getriebe ihrer Teile den fertigen Organismus fchaffen könnte.

„Uber was lehrt die erperimentelle Formungsphyſiologie, infonderheit die Analyſe der barmonifchen Syſteme (zu denen das Geeigelei gehört Ref.)? Jeder nicht gar zu Heine Teil folchen Syftems verhält fi) wie das Ganze; was er leiftet, ift nur kleiner als die Leiftung des Ganzen, aber ift ganz.

„Es müßte alfo jeder beliebig gedachte Teil des Ganzen jene unendlich komplizierte Mafchine ganz enthalten; ja, da jeder „abjolute‘ Teil des Ganzen im fünftlich bergeftellten Teil jede „relative Rolle fpielen fann —, „fo müßte jedes Syſtemelement jeden Teil der unendlich komplizierten Mafchinerie, aber jeweild® von einer anderen Mafchine enthalten.” (S. 206.)

Was haben wir gegen diefe fo raffiniert feine Analyfe einzu

wenden? Unfere „Ausgangsmafchine” ift das ungefähr runde Ei mit feinem leicht verfchieblichen Inhalt. In den 2, 4 Furchungszellen lag diefer, ſchon nicht mehr ganz, aber fehr ähnlich wie im Ei. Bei der Löfung aus dem Verbande runden fih die Zellen aus phyſikaliſchen Urfachen wieder ab, der Inhalt ordnet fich wieder wie urfprüngli: 2, 4 kleine Eimaſchinerien find da und entwideln ſich „natürlich“ möchte man fagen zu 2, 4 Heinen Larven. Pie „unendliche KRomplitation” kommt bier was wir eben daraus erfchließen noch gar nicht in Frage: fie ift noch rubend, latent, im Gefamtei wie in den Teilbildungen. Wenn fpäter die verfchiedenen Subftanzen des Eis auf beftimmte Zellen verteilt find, dann leiftet der Teil durchaus nit mehr „das Ganze“, fondern beftimmte und ev. fonderartige Bruchteile). Wenn man alsdann auch das in viele Zellen geteilte Ei, die Blaſtula, beliebig zerfchneiden kann und doch ver: Heinerte Ganzlarven erbält, fo fchließen wir daraus wieder: Die Differenzen der einzelnen Teile werden noch nicht fo große geweſen fein, daß nicht das Ganz mehr hätte gebildet werben können. Und ald Beweis fehen wir, daß z. B. nad der Trennung in äußere und inneres Keimblatt keins von beiden mehr „das Ganze”, fondern jedes nur feine Organe mehr bilden kann.

So wunderbar alfo diefe Erfcheinungen find, fo liegt dennoch die Erklärung bier nicht fehr ferne und zeigt, daß wir, wenn wir es verfuchen wollen, recht gut auch bier eine fich teilende und umordnende Mafchine „erfinnen“ können.

Die weiteren Beweiſe, welche auf einigen befonders feltfamen Arten der Regeneration ſich aufbauen, können bier nicht im Cinzelnen befprochen werden. Sie find vorläufig nur zum geringen Teil unterfucht und analyfierbar. Uber wo fämen wir bin, wenn wir bei jedem nicht mit den befannten Gefegmäßig keiten ertlärbaren Phänomen gleich die Hände in den Schoß legen und nah Lebenskraft, Entelechie, Seele rufen wollten? Überall fehen wir eines und

) „Profpelttive Bedeutung” Driefch.

) Beim Frofchei, welches fehr ausgeprägte Dotterſchichtung zeigt, bildet id, wenn man eine der 2 erften Zellen tötet (Roug), eine Halblarve; läßt man die erhal tene Hälfte fih fo drehen, daß die richtige Lage der Eifubftangen wieder entfteht (Morgan), fo bildet fich eine verkleinerte Einzellarve, Alfo ift ed die Ordnung ber „Mafchinenteile”, auf die ed ankommt.

Rundſchau. 469

darauf kommt es an auch bei den genannten Regenerationsvorgängen: daß ſie, wo wir ihre Bedingungen genauer erkennen, geſetzmäßig ſtrenge Reaktion auch in dem Neuen zeigen; und wir ziehen daraus die Hoffnung, auch ſie ſoweit verſtehen zu lernen wie andere Lebensvorgänge.

Es bleibt ſonach wieder einmal in der Biologie beim Alten. So ſchön die vielen entwicklungsmechaniſchen Verſuche von Drieſch, ſo verdienſtvoll ſeine Bemühungen um ſcharfe Firierung der Probleme find, fo wenig annehmbar iſt fein „Syſtem des Vitalismus“ trotz der hiftorifchen und philofophifchen Bafierung. Wir verharren, trog feiner Bankerotterklärung mechaniftifchen Beſtrebens und in Fefthaltung jener Refignation, die wir oben als unfern Pitalismus be- zeichneten in der Hoffnung, daß unfere Unkenntnis in den von Driefch beran- gezogenen Fragen eine proviforifche, keine prinzipielle ift.

Bisher ift nur wenig gegen den neuen Bitalismus gefchrieben worden. Es wird am beiten fein, wenn es bei diefem Verfahren verbleibt. Laffen wir dem neuen Bitalismus nur etwas Zeit; er wird, wenn er nur fo ausgezeichnet wie es bisher von Driefh u. U. gejchah, zu erperimentieren fortfährt, vor- ausfichtlich noch fchneller ala der alte „ganz eigentlich aus fich ſelbſt geftorben‘ (Driefh ©. 113) fein.

Frankfurt a. M. Eugen AUlbredt.

Bibliothek der Gejundheitspflege. (Stuttgart. Ernft Heinrich Morig.)

Band 13: Hogienie des Gefchlechtslebens, dargeftellt für Männer von Profeffor Dr. med. Mar Gruber. 4.6. Taufend. 87 Geiten. Gebunden 1.50 Marf.

Band 14: Entjtehung und Verhütung der körperlichen Mißgeftalt von Profeffor Dr. 5. Lange und Dr. 3. Trumpp. 119 Geiten. Mit 3 Tafeln und 120 Zertabbildungen. Gebunden 2 Mark.

Band 15a: Gefundheitspflege im Kindesalter. II. Teil. Körper: und Geiftes- pflege im fchulpflichtigen Alter von Dr. med. Iofeph Trumpp. 140 Geiten. Gebunden 1 Mark.

Lange Zeit hindurch beftand ein entjchiedener Mangel an guten populär- mediziniichen Büchern. Die Aerzte waren ficherlich mit fchuld an der Intereſſe⸗ und PVerftändnislofigkeit des Publitums in medizinifch-bygienifchen ragen, die Naturbeiltundigen hatten leichtes Spiel und fäten mit vollen Händen Korn und Unkraut in den empfänglichen Boden. In den legten Iahren haben Aerzte und Berleger angefangen das Verfäumte nachzuholen und fuchen in den Boden, der noch nicht vom Unkraut bewuchert ift, reines Saatgut zu ftreuen. Ein ſehr empfeblensiwertes Unternehmen ift die von dem unvergehlihen Hans Buchner ins Leben gerufene „Bibliothek der Gefundheitspflege“. Der Moris’fsche Verlag bringt die einzelnen Abfchnitte der Gefundbeitspflege in Heinen, netten Bändchen, jedes von tüchtigen Rennern des Faches, zum Teil von erften QUutoritäten bear- beitet. Die drei obengenannten Bändchen find alle inhaltlich vorzüglich, präzis und klar abgefaßt. DBefonders betont fei das Geſchick, mit dem Gruber fein beifles Thema behandelt hat. Er hat die Klippe langweiliger Trodenheit ebenfo gefchickt vermieden, wie die noch gefährlichere, allzu „intereffant“ zu werben. Seine Auffaffung ift eine hohe, von jederlei Standpunkt moralifch einwandfreie.

Nur eines wäre auszufegen. Ein Rezenfent des Unternehmens fpricht von „lächerlich billigem Preis." Es ift tatfächlich anzuerkennen, daß der Verleger

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die Bändchen zu einem in der mediziniſchen Literatur nicht gewöhnlichen billigen Preis verkauſt, das Bändchen von 100 Seiten ca. 1 Mark. Uber das ganze Werk koftet immerhin 38 Markt. Soviel gibt weder das Volk noch der „Gebildete* aus, kaum für ein Fachwerk oder für „jchöne Literatur“ gefchweige denn für weder abjolut notwendige noch unterhaltlichde Gefundheitsbücher. Freilich not- wendig wäre die Verbreitung diefer oder ähnlicher Bändchen dringend, wenn es auch den mwenigften fo erfcheint. Was die jungen Leute heutzutage von Ge fundbeitspflege wiffen beſchränkt fich oft darauf: daß man vom Trinken in bie Hitze Schwindfucht befommt, daß man nicht nach dem Effen baden foll und daß man wegen der „Erkältung“ den „Zug“ meiden fol. Dielleicht kennt auch der eine oder andere Einbeere, Tolllirfhe und Kreuzotter. Wenn einer recht Glüd bat, hat ihm vielleicht auch einmal ein intelligenter Lehrer etwas von der Schäd- lichteit des Alkohols gefagt. Bon den fürchterlichen Schädlichkeiten des Gefchlechts- lebens, wie fie bei ung gang und gäbe find, erfährt aber keiner was, ehe es zu fpät if. Man hält es immer noch für wichtiger, den Mädchen Klavierflimpern zu lehren als fie für ihren Beruf als Mutter vorzubereiten. Man fieht ruhig zu, da die junge Frau den größten Unfinn mit ihrem Kind macht. Die natur- widrige Unſitte des Nichtftillens der Kinder wird geduldet oder fogar unterftügt. Welches junge Mädchen hat eine Ahnung von den Gefahren, die ihr in ber Ehe drohen und wird davon unterrichtet, daß nicht Geld und Stand das Glüd der Ehe verbürgt, ja nicht einmal die Liebe, wenn eines fehlt: die Gefundheit! Sehr praftifch fchlägt Gruber vor, alle Brautleute follten ſich, und fei es um eine noch fo geringe Summe, in eine Lebensverficherung aufnehmen laffen und ſich gegenfeitig die AUbfchriften der ärztlichen Unterfuchungsattefte vorlegen. Welches Unglüd auf diefem Wege verhütet werden würde, wiffen vor allem die Frauen- ärzte. Gie würden einen guten Teil ihrer Praris verlieren, wenn alle Patientinnen wegfielen, die ohne eine Ahnung davon zu haben, an den Folgen der Jugend- fünden ihres Mannes leiden. Wer denkt im Publitum daran, daß von den unglüdlichen Blinden, die e8 zum DBlindeninftitut in langen Reihen wandeln fieht, ungefähr der dritte Teil durch ich will nicht fagen die Sünde aber die Unwiſſenheit der Eltern das Augenlicht verloren bat. Manche Einderlofe Frau quält fih mit Vorwürfen über ihre Unfruchtbarkeit, während, wie in der Hälfte der Fälle, fo vielleicht auch bei ihr, gar nicht fie fondern ihr Mann der fhuldige Teil if. Nur der großen Unwiffenheit des Publitums in feruellen Dingen ift es zuzufchreiben, daß eines der „nichtswürdigften Verbrechen“, tie Gruber fagt, die Ausübung des Gefchlechtsvertehrs durch Leute, die wiffen, daß fie gefchlechtstrant find, ftraflos ift, ja daß fogar, was vor kurzem vorkam, ein Arzt, der eine Mutter davor warnte ihre Kinder bei einem fpphilitifchen Mädchen fhlafen zu laffen, wegen Verlegung des ärztlichen Gebeimniffes beftraft werden kann.

Das muß anders werden. Wenn man fich fchon ſcheut die Mädchen auf- zuklären, fo follte man doch die jungen Männer und die Mütter aufllären. Es wäre fchön, wenn 3. B. der Staat oder ein leiftungsfähiger Verein Grubers Büchlein bei der Militärmufterung jedem aushändigen würde, Wenn man wenigftens das fürchterliche Wort nicht mehr hören müßte „Ach der Tripper ift eine Kinderkrankheit!“ Die Bändchen von Trumpp und von Trumpp und Lange follte man am Standesamt oder bei der Impfung austeilen. Das find vielleicht Utopien. Wäre es aber nicht wenigftens möglich die Bändchen zum Preife der Rellambüchlein oder der Wiesbadener Voltsbücher in den Handel zu bringen?

München. Hermann Kerfcenfteiner.

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Spzialpolitifche Briefe aus Bayern. 3.

Die Ausfperrung in der bayerifchen Mafchineninduftrie mußte den mit der Geſchichte der fozialen Kämpfe Vertrauten aus mehr ald einem Grunde an die QAusfperrung in der englifhen Mafchineninduftrie vom 10. Januar bie Mitte April 1852 gemahnen. In wie hohem Grad fowohl der GStreitgegenftand, die Taktik und die inneren Betveggründe der Streitenden, als auch die unmittelbaren Folgen des Rampfes zu einem Vergleich diefer durch mehr als ein halbes Zahrhundert von einander getrennten Bewegungen herausfordern, wird an der Sand der Haffifchen Schilderung, welche Brentano in feinen „AUrbeitergilden der Gegenwart“ von dem Kampfe in der englifhen Mafchineninduftrie gegeben hat, ganz beſonders deutlih. Dabei ift daran zu erinnern, daß die „WUrbeitergilden der Gegenwart“ im Sabre 1871 erfchienen find. Jeder Verdacht, die Darftellung Brentanos könnte etwa im Hinblick auf die bayerifhe Mafchineninduftrie entworfen fein, ift daher ausgefchloffen. Diefe befand ſich damals noch in ihren Anfängen. Auch forderte der Mann, der neben Johann Friedrich Klett ihr eigentlicher Begründer ift, der ehemalige Iournalift Theodor Cramer in Nürnberg, die fozialpolitifche Kritit viel weniger heraus, als diejenigen, welche heute fein Wert fortführen. Er bewilligte feinen Arbeitern aus freien Gtüden den Zehnftundentag, der anderen Firmen erft durch Kinftellung der Arbeit ab- gerungen werden mußte. Die englifhen Mafchinenbauer aber hatten bereits im Sabre 1851 dankt dem moralifchen Einfluß der Zehnftundenbill von 1847 und dank vor allem ihrer vorzüglichen gewerkſchaftlichen Organifation die Ver— kürzung der Arbeitswoche auf 58". Stunden in London und auf 572 Stunden in der Provinz durchgeſetzt. Das Durchfchnittseintommen eines gelernten Mafchinenbauers belief fich gleichzeitig auf 28 sh 6 d 29 Mt. 17 Pfg. pro Woche. Dabei ift im Vorbeigehen zu erwähnen, daß im Gegenſatz biezu die meiften bayerifhen Mafchineninduftriellen heute noch die 58ſtündige Arbeits- woche als das WUeußerfte bezeichnen, was fie glauben ohne Gefährdung ihrer KRonkurrenzfähigkeit zugeftehen zu können, während die englifhen Mafchinen- bauer inzwifchen die Verkürzung der Arbeitswoche bis auf 48 bis 54 Stunden erkämpft haben; daß beifpielsweife in dem Nürnberger Schudertwerf der für männliche Arbeiter am bäufigften vortommende Stundenlohn heuer noch 31 bie 35 Pfg. betrug; daß dort von 1000 im Alkordlohn befchäftigten Arbeitern 715 nur mittlere (d. 5. zwifchen 30 und 50 Pfg. betragende), dagegen nur 282 „höchſte“ (d. h. zwifchen 51 und 65 Pfg. pro Stunde betragende) Löhne verdienten, während der Mindeftlohn an den Hauptfigen der englifchen Mafchinen- induftrie bei achtftündiger QUrbeitszeit heute 9’ d 83 Pfg. beträgt und der Alkordarbeiter durchichnittlid 11 d 9% Pfg. pro Arbeitsſtunde verdient; endlich, daß die englifche Mafchineninduftrie dabei keineswegs zu grund gegangen ift, fondern fich immer noch recht gut fowohl neben der bayerifchen mit ihren vergleichsweife miferablen Arbeitsbedingungen, wie auch neben der amerifanifchen fehen laffen kann, welch legterer 5. B. im Lokomotiv-Keſſelbau des Baldwinwerts in Philadelphia Taglöhne von 3’ Dollars 14 ME. 70 Pfg. durchaus nichts Xnerbörtes find.

Die englifhen Mafchinenbauer von 1852 waren alſo befjer daran wie die bayerifchen von 1905. Jenen hatte Sir Robert Peel mit Hilfe des liberalen Unternehmertums im Jahre 1846 die Befreiung von den Kornzöllen gebracht und fein Name wird daher heute noch „in den Heimftätten jener, die im Schweiße ihres Angeſichts ihr tägliches Brot erarbeiten, gerne genannt, wenn fie ihre er-

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fchöpften Kräfte mit unbefteuertem Brot wiederherftellen können, obne das bittere Gefühl aufgeziwvungener Ungerechtigkeit Dabei zu begen”. Den bayerifhen Maſchinen⸗ bauern von 1905 bat Fürft Bülow mit Hilfe des Zentrums, der Ronfervativen und der Nationalliberalen die Ausficht auf neue Lebensmittelzölle und auf Handels- verträge befchert, welche allen Monopoliften, die aus Cigennug nah Schutz fchreien, zum größten Vorteil, der bayerifchen Mafchineninduftrie aber zum größten Unſegen gereichen werden. Indeſſen gab es auch im England des Jahres 1852 eine Reihe erniter Befchwerden der Mafchinenbauer, welche ihren damaligen Kampf mit den Arbeitgebern ihrer Induftrie mit der heurigen Ausſperrung in der bayerifchen Mafchineninduftrie vergleichbar machen. Die englifchen Maſchinen bauer hatten ſich insbefondere zu beſchweren über fpftematifche Heberzeit und ungeregelte Stüdldöhnung. Belanntlich bildet namentlich der legtere Befchwerdepuntt den Hauptanlaß für das Verlangen der deutſchen Metall- arbeiter von 1905 nach Tarifverträgen; fo auch der englifchen von 1852. Die englifhen Mafchinenbauer haben im September 1850 auf ihrem Pelegiertentag zu Birmingham die völlige Abfchaffung der Stücklöhnung und der ſyſtematjiſchen eberzeit verlangt, und dieſes Verlangen im Dftober 1851 durch Urabftimmung beinahe einftimmig wiederholt, im Juni 1852 jedoch den von der Abſchaffung der Stüdlöhnung handelnden Paragraphen ihres Statut geftrihen. Genau fo bat der deutſche Metallarbeiterverband urfprünglich entiprechend den Beſchlüſſen des internationalen Arbeiterkongreſſes, der 1891 zu Brüſſel tagte, die völlige Befeitigung der Aktordarbeit in feinem Statut als oberften Verbandszweck be zeichnet. Inzwiſchen bat auch er den betreffenden Paſſus aus feinem Statut geftrichen. Auf der Generalverfammlung in Nürnberg wurden 1901 die Worte nBefeitigung der WUktordarbeit“ in „möglichite Beſchränkung der Aklordarbeit“ abgemildert und 1903 wurden auf dem Verbandstage zu Berlin dafür die Worte eingefegt: „Regelung der Arbeitszeit und der Entlohnung durch kollektive Ver— tragsſchließung“. In Deutfchland wie in England galt die Feindfeligfeit der Arbeiter und zwar wohlgemerkt: der unorganifierten ebenfo wie der organi- fierten durchaus nicht der Stüdlöhnung als folcher, wie dies für Die deutjchen Arbeiter der Sekretär des bayerifchen Kanalvereins, Herr Gteller, in feiner Schrift über „die Bedeutung der Tarifverträge” glauben machen will, und wie dies bereits ein halbes Jahrhundert vor ihm die Soldfchreiber der engliichen Mafchineninduftriellen glauben zu machen verſuchten. Vielmehr ift und war der wirkliche Grund der Feindfeligteit der WUrbeiter gegen die Aftordform der, daß die Urbeitgeber die Neueinführung der Stücklöhnung von jeher zum Anlaß von Lohnherabjegungen genommen haben; daß fie oft dem WUrbeiter nicht einmal dem Akkordpreis bei Beginn der Arbeit mitteilen, die durcchfehnittliche Leiftungsfähig- keit bei Feſtſeung der Akkordpreiſe nicht berüdfichtigen und nah Fertigftellung der Arbeit nicht felten willfürliche Lohnabzüge machen. „Die engliihen Ma- fchinenbauer” fchrieb Brentano 1871 „erklärten ſich zur Stüdarbeit bereit, wenn der Preis... gemeinfam vereinbart würde.“ Gie verlangten „Die gemein- fame Vereinbarung einer Preislifte durch WUrbeitgeber und Arbeiter“ ... „Bei folcher gemeinfamer Vereinbarung waren auch die Mafchinenbauer, die Arbeiter der Eifeninduftrie, fowie die Baugewerbe zum Lebergang zur Stüdlöbnung bereit. In den Gewerben, in denen Stüdlöhnung nach einer Preislifte befteht, wie bei den Londoner Setzern, find die WUrbeiter fogar gegen den Zeitlohn“ ....

Ganz im Geifte diefer Säge fchrieb im Sommer 1904 der deutfche Metall: arbeiterverband in überaus böflihem Tone an „die Seren Arbeitgeber der Eifen, Stahl und Metall verarbeitenden Betriebe:" „Die Alkordarbeit gilt allgemein als eine höhere Form der Arbeit, einesteils, weil fie die Produktivität derjelben erhöht, andernteils, weil fie es in die Hand des Arbeiters legt, eine, feiner

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Leiſtungsfähigkeit entſprechende Bezahlung feiner Arbeitskraft zu erreichen. Letzteres trifft aber nur dann zu, wenn die Akkordarbeit das iſt, was fie eigentlich fein fol. Zum Wefen der Akkordarbeit gehört: 1. Vereinbarung des AUktordpreifes vor Beginn der Arbeit nach der durchfchnittlichen Leiftungsfähigkeit. 2. Aus— zahlung des ausbedungenen Akkordpreiſes für ordnungsmäßig bergeftellte Arbeit. Diefe Grundfäge werden heute faft nirgends beachtet.“ Dem berechtigten Streben ber Arbeiter nah Regelung der Attordarbeit wurde früher in England und wird heute bei uns mit dem Einwand begegnet, dasfelbe laufe auf „die Nivellierung der Leiftungen auf ein beftimmtes Mittelmaß und die Feitfegung eines gleichmäßigen Zeitlohnes" hinaus. Hier wie dort hat diefe Behauptung unbefangener Prüfung nicht ftand halten künnen.

„Eine ſolche Gefahr der Verfchlechterung der Arbeit“, fehrieb Brentano 1871, „Scheint mir... weder in der Mafchinen- noch in der Eifeninduftrie zu beftehen. Bielmehr haben die... vernommenen Arbeitgeber gezeigt, daß in diefen Gewerben in der Zurücweifung mangelhafter Arbeit ein binreichender Schuß gegen fie liege.“ In der Tat wird der durch Krankheit, Ulter, Körper: oder Geiftes- ſchwäche minder leiftungsfähige Arbeiter in feiner Induftrie rückſichtsloſer aus- geichaltet, ale in der Mafchineninduftrie, die in ihren größten Betrieben Arbeiter über 40 Jahre in der Regel überhaupt nicht einftellt. Niemand erfährt ferner diefe Rückſichtsloſigkeit häufiger und unfanfter, als der minder tüchtige und daher meift unorganifierte Arbeiter, der Gtreilbrechexdienfte verrichtet hat. Auf der anderen Geite wird der über Durchfchnitt leiſtungsfähige Arbeiter durch die Regelung der Altordarbeit an der vollen Entfaltung feier Leiftungsfähigkeit in feiner Weife gehindert; vielmehr wird durch diefe erft ein Anreiz für die volle Entfaltung der Leiftungsfähigfeit des Arbeiter gejchaffen, indem diefer die Ge- wißbeit erhält, die Früchte feines Fleißes auch wirklich felber zu ernten. Noch unbegründeter ift die Furcht vor der „Feitiesung eines gleichmäßigen Zeitlohns.“ Weber auf Zeitlohn noch auf deffen Gleichmäßigkeit ift das Streben des deutfchen Mafchinenbauers gerichtet. Herr Steller Hammert fi, da ihm andere Tatjachen für feine kühne Behauptung in diefer Richtung nicht zu Gebote ftehen, an eine Bemerkung „im Reichsarbeitsblatt“, wo mit Bezug auf 1000 dort beiprochene Deutfche Tarifverträge gejagt wird, „daß fih unverkennbar in allen Gewerben das Beftreben, die Akkordarbeit zu befeitigen, geltend mache.” Um diefe Bemerkung voll würdigen zu können, muß man eine zweite Tendenzfchrift, welche die baye- riſchen Mafchineninduftriellen vor kurzem duch den technifchen Gefretär ihres DWUrbeitgeberverbandes, Dr. Martin Offenbacher, veröffentlichen ließen, zum Ber- gleich beranziehen. Hier wird zur Unterftügung der ganz haltlofen Behauptung, Tarifverträge eigneten fih nur für Induftrien, die nicht für den Weltmarkt arbeiten (man denke an die englifche Tertilinduftriel) fondern nur für Ge- werbe mit mehr oder weniger lofalem Kundenkreis, darauf hingewiejen, daß in Deutfchland „tatfächlich die Hälfte aller Tarifverträge im Baugewerbe zu finden ift“ und „eine weitere beträchtliche Anzahl auf die Handwerke mit rein lofalem Kundenkreis“ entfällt. Nun ift das Baugewerbe eines der wenigen Gewerbe, in welchem der Stüdlöhnung namentlich auch im Hinblid auf die Gefahr der Steigerung der bier ohnehin bedeutenden Unfallgefahr durch Antreiberei in der Tat häufig Bedenken entgegenfteben. „Im Baugewerbe“ fchrieb Brentano 1871 „haben die Arbeiter ihre Angabe, daß die Stüdlöhnung zur Benutzung ſchlechteren Materials, fowie zu fchlechterer Arbeit führe, wahrſcheinlich gemacht ... Auch gibt der Sekretär der Gefellfchaft der Bauunternehmer zu, daß Stücklohn au fchlechterer Arbeit führe" .... Nun beachte man wohl: Während Die bayerischen Mafchineninduftriellen auf der einen Geite durch Herrn Dffenbacher „wiſſenſchaftlich“ beweifen laffen, daß fich die zurzeit in Deutjchland geltenden

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Tarifverträge nur auf einen Kleinen Kreis von Gewerben beziehen, bringen fie es gleichzeitig fertig, durch Herrn Gteller ebenjo „wiffenfchaftlih” auf Grund desfelben Materials beweifen zu laffen, „daß ſich unverkennbar in allen Gewerben das Beitreben, die Aktordlöhne zu befeitigen, geltend mache“. Dabei ift es diefen beiden Herren genau fo gut bekannt, wie ihren QUrbeitgebern, daß der am meiften enttwidelte Tarif, den wir in Deutjchland befigen, der Buchdrudertarif, neben dem Zeitlohn, dem „gewiffen Gelde“, ein aufs Feinfte ausgearbeitetes Stüdlohn- foftem kennt. Gie wiffen, daß in Großinduftrien, welche Hunderttaufende von Arbeitern befchäftigen, wie 3. B. im Bergbau, ebenfo wie in der Hausinduftrie, gänzlich ungeregelte und mit den größten Mißbräuchen verbundene Aktordfpfteme in Hebung find, welche den Sat: „Attordarbeit ift Mordarbeit” begreiflicd machen. Endlih müßte ihnen wenn fie nicht gehalten wären, fortgefest das Märchen zu verbreiten, daß die Gewerkichaftsführer fich mit nichts befchäftigen als mit Hesen und Wühlen ebenfo wohl befannt fein, daß nach einer vom deutfchen Metallarbeiterverband veranftalteten Statiftit in der Berliner Metallinduftrie von 994 unterfuchten Betrieben nur 34,5 %/o Zeitlohbn, dagegen 56,24 Yo Stücklohn und 9,26 °/o beide Lohnformen eingeführt hatten, und daß nach der KRonftatierung Bernhards in feinem Buche über die „Akkordarbeit in Deutfchland“ in den 20 Iahrgängen der vom Metallarbeiterverband herausgegebenen. „Metallarbeiter: zeitung“ unter den vielen Hunderten von Lohnbewegungen, über welche dort berichtet wird, nur ein einziger Fall vorkommt, in welchem die Arbeiter tatfäd- lih die Abſchaffung der Akkordarbeit verlangten! Nicht beffer verhält es fi mit der angeblicy von ben Arbeitern erftrebten Gleichmäßigkeit des Lohne. Diele Behauptung wurde vor einem halben Jahrhundert den engliſchen Mafchinen- bauern ebenfo entgegengehalten, wie in unferen Tagen ben bayerifchen. „Nie mals gab es eine größere Abgefchmadtheit, ala diefe Meinung,“ urteilte damals ein englifcher Urbeiterführer, und Brentano beftätigt diefes Urteil, indem er aus: führt: „Was immer die Folgen des früheren Verhaltens der englifchen Gewerl- vereine geweſen fein mögen, fo enthalten doch die Ausfagen vor der Kgl. Rom: miffion über Gewerkvereine nicht den geringften Beleg dafür, daß fie Gleichheit der Löhne erftrebten, oder gar einen Marimallohn für den Einzelnen feit- ftellten..... Ein ganz eigentümliches Licht wirft es auf diefe Klagen der Arbeit: geber über die von den Gewerkvereinen herbeigeführte Gleichheit der Löhne, wenn Mault, der Sekretär der Gefellfchaft der Bauunternehmer, einer der beftigften Gegner der Gewerkvereine, der Stücklöhnung nachrühmt, daß, ‚mo man die Arbeiter entweder offen oder praftifch im GStüdlohn arbeiten laffe, man bis zu einem gewiffen Grade Gleichheit der Löhne erhalte“. In Wahrheit war damals in England und ift heute bei uns der Hauptgrund dafür, daß eine ftärtere Differenzierung der Löhne und zwar bei jeglichem Lohnſyſtem ausbleibt, neben dem Umſtande, daß die große Mehrzahl der Menfchen eben nur Durdy fchnittliches zu leiften vermag, die durch blindes Profitftreben verfchuldete Kurz⸗ fichtigfeit der Unternehmer, die den Urbeiter nicht den vollen Ertrag etwaiger Mebrleiftung ernten und ibn nicht über einen gemiffen Marimalverdienjt fommen laffen will... „In England“ fo urteilt der bekannte englifhe Philanthrop, Mr. Mofely, in feinem 1902 erfchienenen Berichte über die Studienreife englifcher Gewerkjchaftsführer nach den Vereinigten Staaten „in England ift es feit Generationen die Regel, daß, fobald eine gewiffe Verdienftgrenze überfchritten ift, der Stüdlohn befchnitten wird (the price for his work is cut down); der QUrbeiter aber, der die Erfahrung macht, daß größere Anfpannung feiner Kräfte oder Befchleunigung des Gangs feiner Ma- ſchine (die natürlich mit größerer AUnftrengung des Arbeiter verbunden ift), auf die Länge der Zeit doch feinen höheren Verdienft einbringt, läßt entiprechend in

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feinem Eifer nach.“ Und ganz übereinftimmend der deutfche Metallarbeiter Quiſt in feinem ausgezeichneten Referate über „Prämienlohnſyſtme“ auf dem legten Berbandstage der Metallarbeiter: „Erreicht .. der Verdienft eine Höhe, die dem Unternehmer für den Arbeiter zu groß erfcheint, fo fommt der Unternehmer in Berfuhung, den Akkordpreis zu ermiedrigen ... Es bleibt nicht lediglich bei der fortwährenden Herabfegung der Alkkordpreiſe, fondern es kommen die fehäbigften Betrügereien und Prellereien vor, um den QUnteil des AUrbeiterd an dem Ertrag feiner Arbeit zu verringern... Diefe gewaltfame Taktik geht aber nur bis zu einer gewiffen Grenze und über diefe hinaus fcheitert fie am Widerftande der Arbeiter.“ Die Unternehmer brauchten nur aufzubören, jeweils den durch äußerfte Anſtrengung desjenigen Arbeiters, der über die größte Muskelkraft verfügt oder durch Speztalifierung eine befondere Handfertigfeit erworben bat, erzielten Arbeits- effeft zum Normalmafß für die Berechnung der Aktordfäge zu machen und anzufangen, fich mit der Arbeiterorganifation ftatt mit dem einzelnen und in feiner Vereinzelung ohnmächtigen Urbeiter über dieſe Lohnfäge, fowie über die Be- zahlung von Leberzeit, Sonn: und Feiertagsarbeit u. dgl. m. zu verftändigen und jede Klage über das angebliche Streben der Arbeiter nach Zeitlohbn und nach Gleihmäßigkeit des Entgeltes würde bald verftummen.

Allein nicht nur die nahezu volllommene Identität des Streitgegenftandes felbft ift e8, was zu einem Vergleich der englifchen Mafchinenbauerausfperrung des Jahres 1852 mit der bayerifchen des Jahres 1905 herausfordert. Einen Vergleichspunkt bildet auch die charakteriftifche Taktik der Parteien. Die englifchen Arbeiter verfuchten ebenfo wie die deutjchen ihre, durch die „Qlmalgamation“ gewonnene Stärke aus- nügend, durch partielle Lohnbewegungen die Abftellung ihrer Befchwerden wegen foftematifcher Ueberzeit und die Regelung der Akkordarbeit allmählich zu erreichen. Die Arbeitgeber der englifhen Mafchineninduftrie aber beantworteten diefe Ber: fuche, ebenfo wie die bayerifchen, mit der Ausſperrung des ganzen Gewerbes. Und wie in Bayern beifpielsweife die Augsburger QUrbeiter, welche gar‘ keine Lobnforderung geftellt hatten, und zum größten Teil unorganifiert waren, rüd- ſichtslos mit ausgefperrt wurden, fo fperrten auch die englifhen Mafchinenbauer neben 3500 Mitgliedern der vereinigten Gejellfehaft 1500 unorganifierte gelernte und 10000 ungelernte Arbeiter aus und erftredten die Ausfperrung auch auf Glasgow, wo die organifierten Arbeiter ausdrüdlich erklärt batten, „fie hätten feine Einwendungen gegen die dort herrfchende Gewerbspraris und wollten nichts daran ändern.“ Und wie die bayerifchen QUrbeitgeber im Jahre 1905 jeden un- parteiiichen Schiedsſpruch von der Hand wiefen, fo auch im Jahre 1852 die englifhen. In diefer Hinficht befteht jedoch ein Kleiner Unterfchied, infoferne, als die englifhen Mafchineninduftriellen ihre Zurüdweifung freiwilliger Schiedsrichter in eine viel böflichere Form Hleideten, als fie die bayerifchen den beamteten GFriedensftiftern des Staates gegenüber für angemeifen hielten. Jene fchrieben nämlih: „Mit aller Achtung für edle und ausgezeichnete Schiedsrichter, deren Entfcheidung uns angeboten wurde und ohne jeglichen Grund, zu zweifeln, daß ihr Spruch ehrlich, einfichtsvoll und befriedigend ausfallen würde, müffen wir uns erlauben, zu erklären, daß wir allein die kompetenten Richter in unferen Angelegen⸗ beiten find.” Die bayerifchen Mafchineninduftriellen dagegen baben in nichts weniger als zarter Form den Minifterialbeamten, der ihre Verhandlungen mit den Arbeitern leiten wollte, aus feinen eigenen Räumen ausgefperrt und den Gewerbegerichten ihr Mißtrauen gegen die LInparteilichleit ihrer Verbandlungs- führung mit dürren Worten bekundet. Wie die bayerifchen, jo fuchten auch die englifchen Arbeitgeber durch Veröffentlichung tendenziöfer Darftellungen des Sach⸗ verbalts in der Preffe und durch eigens verfaßte Brofchüren die öffentliche Meinung gegen die Urbeiter einzunehmen. Das Hauptorgan, deſſen fie fich zu

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diefem Zwecke bedienten, war die Londoner „Times“, In der „Times“ vom 20. Dezember 1852 erfchien eine Anzeige, in der vierunddreißig Firmen in Lancashire ihren Befchluß mitteilten, ihre Fabriken zu fchließen und instünftig nur Arbeiter zu befchäftigen, die in keinerlei Beziehung zu einem Gewerfverein ftünden. In der Nummer vom 22. folgte ihr ein anonymer Brief an den Herausgeber der „Times“, unterzeichnet Amieus, der die Aufmerkſamkeit bes Publitums auf die Anzeige lenken follte. Lnter den ärgiten Schmähungen auf den „Exekutivausſchuß“ (sc. des Gewerkvereing der Mafchinenbauer) „als eine Keine, unbeilftiftende Bande von AUgitatoren und auf die Faulen und £in- gefchieten, welche die Fleißigen und Gefchicten tyrannifieren wollten, wirb darin dargeftellt, daß die Vereinigte Gefellihaft von allen Arbeitgebern außer der Ab- fhaffung von foftematifcher Lleberzeit und Stüdlöhnung noch die Entlaffung un- gelernter Arbeiter von gewiffen Mafchinen und ihre Erfegung dur Mitglieder ihrer Gefellichaft u „Eine hbeimtücifchere Verleumdung“ urteilt Brentano „war... nicht möglich.“

Nun vergleiche man damit folgende Säte, welche die bayerifchen Mafchinen- induftriellen unterm 4. Juni 1905 durch die liberale Preſſe verbreiten ließen: „Die Zuficherung von Mindeftverdienft fchließt nach den gemachten Erfahrungen jedes Streben nach Bervolllommnung des Arbeiter aus... Die Organifation bezweckt mit dem Tarifvertrag zunächft Abkürzung der Arbeitszeit unter Erhöhung der GStundenlöhne; der Stundenlohn fol dem Akkordſtundenverdienſt angepaßt werden. Diejer Stundenverdienft foll dann für die AUktordarbeit garantiert werden; ift aber dies erreicht, dann beginnt nach dem befannten Syſtem ca’ canny (geb langjam) der englifchen und amerikanifchen Urbeiterfchaft die Verminderung der Altordleiftung . Bon dem QAUugenblide an durchziehen Abgeordnete ber DOrganifation die Fabritraume, ſprechen ſtrenge Strafen gegen ben Arbeiter aus, der die vorgefchriebene WUrbeitsleiftung überfchreitet, drohen ihm mit dem Ausschluß aus der DOrganifation und vollziehen diefen, wenn der Arbeiter deren Verlangen und der Strafe ſich nicht unterwerfen follte, machen ihn auf diefe Weife, fügt er fich nicht, bedingungslos, ohne jede Rückſicht arbeits- und verdienftlos.“

Wir wollen, um nicht in den Verdacht zu fommen, ab irato zu urteilen, diefe Auslaffungen möglichit mild beurteilen und fagen: fie entfprechen nicht dem wirklichen Sachverhalt. Daß die Zuficherung von Mindeftverdienft jedes tmeitere Streben des Arbeiters nach Vervolllommnung ausfchliege fo ift das Kauder wälſch des eriten Satzes wohl ins Deutjche zu übertragen ift nichts als eine jeder tatjächlichen Grundlage entbehrende Verunglimpfung der ganzen Arbeiter- Haffe, die als eine Gefellfhaft von Tagdieben bingeftellt wird, die nur darauf ausgeht, den Lohn einzuftreichen und dann den Unternehmer um bie ver- fprochenen Dienfte zu prellen. Wo find die „Erfahrungen“ gemacht worden, welche diefem Lrteil zur Grundlage dienen? In England, wo das Syſtem ber Mindeftlöhne längft eingebürgert ift, ift es notorifch, daß fich die Löhne für den beiferen Mafchinenbauer ftets 2—3 0/, über dem Standardlohnfag bewegen, und wenn die Herren, welche den englifchen Mafchinenbauer dem deutjchen als ver abfcheuungswürdiges Erempel vor Augen halten, an Stelle der Tendenzfchriften über ca’ canny, die der deutfche Lleberfeger Herr von Reiswis, obwohl er Heraus- geber der „Deutfchen Arbeitgeberzeitung“ ift, felbft als übertrieben bezeichnen mußte, auch nur eine einzige Nummer der Fachzeitung der englifchen Mafchinen- bauer angefehen hätten, jo würden fie ſich ſchämen, fürderhin die Behauptung aufzuftellen, die Garantie eines zur QUufrechterhaltung der gewohnheitsmäßigen Lebenshaltung gerade binreichenden Mindeftlohnes ſchließe das Streben des Arbeiters nach Vervolllommnung aus. Denn ſie würden in jeder Nummer dieſer Zeitung ausgezeichnete WUrtikel techniſchen, geſchichtlichen oder vollswirtſchaftlichen

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Inhalts finden, die ein einziger Beweis dafür ſind, welch hohes Intereſſe der engliſche Maſchinenbauer an kulturellen Fragen nimmt. Dem zwar miſerabel gelöhnten, aber durchſchnittlich gebildeteren deutſchen Maſchinenbauer gegenüber iſt jene Behauptung aber vollends unangebracht. Die Herren mögen einmal nachforſchen, welche Beträge die organiſierten Maſchinenbauer einerſeits und die Aktionäre ihrer Geſellſchaften andrerſeits für Lektüre und für Kulturbedürfniſſe überhaupt verausgaben, und in welchem Prozentverhältnis diefe Beträge in beiden Fällen zum Gefamteintommen ftehen. Sie werden dann auf das kommen, was in Wahrheit durch die „Erfahrung“ beftätigt wird, Daß nämlich das Streben des Arbeiters nah Bervalltommnung nicht durch Mindeftlöhne oder Mimdeftverdienft, fondern durch überlange Arbeitszeit und färglichen Lohn gehemmt wird und daß Verkürzung der Arbeits- zeit und Steigerung des Lohnes ſich nach einiger Zeit überall in der qualitativen und quantitativen Steigerung der Arbeits leiftung bezahlt machten.

Die Behauptung vom ca’ catiny der englifchen und diene Arbeiter iſt nichts, als eine maßloſe Uebertreibung und Verallgemeinerung eines in einigen zünftleriſch verknoͤcherten Gewerkvereinen vorkommenden Mißbrauchs. Die Ver— einigte Geſellſchaſt der engliſchen Maſchinenbauer zählt ebenſowenig hieher, wie die meiſten amerikaniſchen Gewerkſchaften. Vielmehr iſt es ganz bekannt, daß in keinem Lande der Welt ſo intenſiv, ſo unter Hintanſetzung aller Rückſicht auf Leben und Geſundheit der Menſchen gearbeitet wird, als in den Vereinigten Staaten, woſelbſt das Prämienlohn- (fogen. Bonus) Syſtem die größte Ver breitung bat (bei allerdings kürzerer Arbeitszeit, wie bei uns). Allein felbft foweit der Mißbrauch des fogenannten ca’ canny in England und den Vereinigten Staaten tatfächlich befteht, ift dad Maß von Entrüftung, das dagegen aufge wendet wird, ein gänzlich unangebrachtes. Gittlich betrachtet fteht das ca’ canny etiva des englifchen Steinſetzers auch nicht auf fieferer Stufe, als etwa die Förderungseinjchräntungen des Kohlenſyndikats oder die Anfchauungen des Herrn von Podbielsti über Schtweinefleifchpreife. Zur Erklärung, wenn nicht zur Entichuldigung des ca’ canny des Lohnarbeiters kann wenigitens der Umftand dienen, daß die Arbeitskraft fein ganzes Vermögen bildet; daher es nichts fo Unerhörtes ift, wenn er bemübt ift, die Subftanz diefes Vermögens, nämlich fein Leben, möglichft lange zu erhalten. Im übrigen find die Klagen über „Aus: fehweißung unbezablter Arbeit“ in allen Rulturländern weit verbreiteter und auch a” begründeter, als die Klagen über ca’ canny. Pie Forderung eines garan-

ten Mindeftlohns bezw. Mindeftverdienftes ift auf diefe Klagen zurüdzuführen. Der Mindeftlohn hat die Funktion, zu verhüten, daß auch der organifierte Arbeiter unter die Linie der Armut, d. b. in Verhältniſſe herabſinke, die nicht einmal mehr die Aufrechterhaltung der einfachiten Lebenshaltung gejtatten, ein Zuftand, in welchem fich befanntlich in Deutfchland, England und den Vereinigten Staaten heute noch viele Millionen unorganifierter Arbeiter befinden.

Allein weder im England des Jahres 1852 noch im Bayern des Jahres 1905 begnügte man fich damit, die organifierten Arbeiter durch Entftellungen des von diefen tatfächlich Geforderten vor der Deffentlichleit zu diskreditieren, man verfäumte auch nicht, die Wortführer der Arbeiter, deren die Arbeiter zum Vortrag ihrer Forderungen aus natürlichen Gründen immer und überall bedürfen, in der Öffentlihen Meinung herabzumürdigen und verächtlih zu machen, daher man fich auch nicht wundern darf, wenn ed von der Gegenfeite mit Ausdrüden wie „progiger Unternehmerklüngel“, „Dergewaltigung“, „gemeines Anfinnen“, „freches Berlangen“ u. dgl. m. zurücichallt. Wie die englifchen Arbeitgeber der Mafchinen- induftrie mit Hilfe der ihnen dienftwilligen Preffe nicht nur die WUrbeiterorgani-

478 Rundfchau.

fationen und ihre Führer als unverfhämte Bande brandmarkten, fondern durch ihre bezahlten Agenten auch diejenigen mit Schmähungen überhäufen ließen, die, wie Lord Goderich, Thomas Hughes und U. Vanſittart, ohne felbjt beteiligt zu fein, das Intereffe der Arbeiter vertraten, fo erging man fih auch nun in Bayern in den unbegründetjten Angriffen fowohl auf die Urbeiterführer, welche man ale „gewiffenlofe Agitatoren“, ale „Heer und Gchreier“ befchimpfte, wie auf alle Diejenigen, welche ein Wort zu Gunften der gerechten Sache der Urbeiter zu jagen wagten. Die „Münchener Neuefte Nachrichten” bezeichneten in ihrer Mr. 294 oom 27. Zuni 1905 den Paffus in einem Verfammlungsaufruf des Gewert: fhaftsvereing Münden: „Es gilt Stellung zu nehmen gegen ein übermütiges Unternehmertum, das fich nicht fcheut, mehr ala 50000 Menfchen dem Hunger preisjugeben”, als eine „frivole Verdrehung des Sachverhalts”, und Herr Dr. Martin Offenbacher nimmt den, von dem Schreiber diefes gelegentlich gebrauchten Ausdrud vom „auf die Straße fegen von Taufenden WUrbeitswilliger, welche gerne gearbeitet hätten“, zum Anlaß, ihm die Hälfte normaler Urteilsfähigkeit abzuerfennen. Wie aber in aller Welt foll man die Sache anders bezeichnen? Brentano, wenn er in feinen „QUrbeitergilden” von den ausgefperrten Mafchinen: bauern in England fpricht, kann auch nicht umbin, fich jo auszudrüden: „Mechnet man zwei Drittel... . als verheiratet, und daß jeder PVerbeiratete eine Frau und zwei Kinder hatte, fo waren da 45000 Perfonen mit einem Schlage aufs Pflafter gefest, die Mehrzahl in. abfoluter Hilflofigkeit”. Und fprechen bie bayerifchen Mafchineninduftriellen nicht felbft in ihrem Sirkular vom 4. Zuni 1905 davon, daß ältere, im Dienfte der Fabrif ergraute QUrbeiter dur den Anſchluß an die Bewegung „Dem Elend preisgegeben“ würden, was auch feines: wegs als übertrieben erfcheint, wenn man bedenkt, welche Rolle, insbefondere in Augsburg und Nürnberg die fogenannten „Wohlfahrtseinrichtungen“ fpielen?

Wie endlich die bayerifhen Mafchineninduftriellen die Ausſperrung der QUrbeiter zu dem Verſuch benüsten, von ihnen einen Verzicht auf ihr Roalitiong- recht zu erprejlen, fo fchon im Jahre 1852 die englifchen, wobei nur der Unter⸗ fchied obwaltet, daß diefer Verfuch im „perfiden Albion“ offen und ehrlich gemacht und einbefannt wurde, während man fich bei ung mit allerhand Winfelzügen um den eigentlichen Kern der Sache herumzudrüden verfucht. Die engliſchen Ma- fhineninduftriellen vom Jahre 1852 verlangten von ihren organifierten Arbeitern, wie fchon bisher bei Lohnkämpfen in England üblich geweſen war, die Unter- zeichnung des „Dokuments“, d. h. einer bündigen Erklärung des Austritts aus dem Gewerfverein. Auch übten fie einen Drud auf andere Gewerbetreibende aus, ihre WUrbeiter auf kurze Zeit zu fegen und eventuell auszufperren, um eine Unterftügung der feiernden Mafchinenbauer durch andere Arbeiter zu verhindern. Denſelben Erfolg bewirkte in Bayern die gleichzeitige Ausjperrung der Bau- arbeiter in München.

Nicht nur Streitgegenftand und Taktik, auch die inneren Beweggründe der ftreitenden Parteien fordern in beiden Fällen geradezu zum Vergleich heraus. Die englifchen wie die deutfchen Mafchinenbauer wollten und wollen nichts anderes, als fich die Vorteile verfchaffen, welche jeder Warenverfäufer bei Beräuferung feiner Ware befist. Das Mittel hierzu bildet die Roalition, welche darum Harrifon mit Recht als das einzige Kapital des Arbeiter bezeichnet bat. Mit politifhen Dingen haben die DOrganifationsbeftrebungen der Arbeiter- ſchaft an fich nicht das mindefte zu tun. Und doch wurden bier wie dort den Arbeitern ausschließlich politiiche Zwecke untergefchoben. Hier wie dort konnte bezw. kann man fich dabei auf ein weit verbreitetes Klaffenvorurteil ftügen, wo- nach es der Zweck der Gewerkfchaften fein foll, „den Arbeitern die Diktatur zu

verfchaffen.“

Rundfchau. 479

„Dies find ihre offenen Forderungen“ fchrieb Amicus in der „Times" „allein es ift befannt, daß der Ausschuß bereit ift, die Gleichheit der Löhne zu befürworten, kurz, fich zu einer Agitation für die Durchführung der geiftreichen Theorien Louis Blanes herzugeben.“ Herr Steller, der Amieus der bayerifchen Mafchineninduftriellen, bezog fich zwar nicht auf Louis Blanc, den er wahrjchein- Lich nicht fo gut kennt, fondern auf Rodbertus; im übrigen ftellte er genau die— felbe Behauptung auf wie jener, mit genau demfelben Mangel jeder tatfächlichen Begründung. „Das Hereinziehen von Louis Blanc und feinen Theorien" urteilt Brentano „follte ... ein Schredjchuß fein für den durch die Parifer Borgänge geängfteten Bourgeois. Bon den Arbeitern fannte die Mehrzahl von Louis Blanc kaum den Namen.“

Die bayerifchen Mafchinenbauer waren ebenfo weit davon entfernt, wie feinerzeit die englifhen, den Kampf als einen folchen zur Entfcheidung „der Machtfrage” zu betrachten. Angeſichts des gefchloffenen Widerftands der WUrbeit- geber ließen fie fehon im erften Stadium der Bewegung die Forderung der Tarifverträge ganz fallen, wenn ihnen nur „in Bezug auf die Urbeitszeit und die Löhne” entjprechende Zugeftändniffe gemacht würden. Diefe Tatfache hindert indeffen den anderen Amicus der bayeriihen Mafchineninduftriellen, Herrn Dr. Martin Offenbacher, nicht im geringften, friſchweg zu behaupten: „Die Be- wegung war ... von Anfang an nicht fo fehr auf die Erzielung höherer Löhne gerichtet, ald wie darauf, dem nie beftrittenen Endziel der Sozialdemokratie einen Schritt näher zu kommen“. Dies angefichts der auch von dem württem⸗ bergifhen Fabrikinſpektor Hardegg in feinem lesten Jahresbericht bezeugten Tat- fache, daß „alle Lohnbewegungen der legten Jahre zum Ausgangspunkt die Steigerung der Miets- und Lebensmittelpreife hatten, weil die Löhne mit diefer Steigerung nicht Schritt gehalten haben,“ und der weiteren ebenfo notorifchen Tatfache, daß die bayerifchen Arbeiter ihre Forderungen ausdrüdlich mit der berrjchenden Teuerung, insbefondere des Fleifches, begründeten.

In Wahrheit waren es in England, ebenfo wie in Bayern die Arbeit geber felbjt, welche „die Machtfrage“ zum Austrag zu bringen d. h. die Arbeiter⸗ koalition gänzlich vernichten wollten. „Alles was wir verlangen,“ fchrieben die englifhen Mafchineninduftriellen, „it, daß man uns in Rube läßt. Mit Ge- ringerem werden wir nicht zufrieden fein. Bis wir dies erreicht haben, werden wir unfere Fabriken nicht wieder öffnen,“ und in fchönfter Geelenbarmonie die bayerifchen: „Diefe Maßnahme allein kann den ruhigen und freu zu feinem Arbeitgeber ftehenden Arbeiter aufklären, wohin ihn die Hetzerei gewiſſenloſer Agitatoren führt. Gie wird ihm den Weg weifen, daß er fih endlich Gehör verſchafft und nicht weiter fich mit feinen Mahnungen zum Frieden und zur Rube nieberfchreien läßt.“ Manchmal ift es gut, zu überlegen, was wohl das Schidjal der WUrbeiterflaffe in allen KRulturländern fein würde, wenn es niemals einen Gewerkverein und keine „Hetzer und Wühler“ gegeben hätte. Man erinnere fich, was im Bericht der englifchen Children Employment Commiffion von 1842 ſteht, daß man ſich in England nicht fcheute, Kinder im zarten Alter von 6 Jahren in die Bergwerke zu ſchicken, daß man aber diefe Tatfache durch die Arbeitgeber nie ans Licht hätte bringen können, weil diefe dag Alter der Kinder viel höher angaben, als der Wahrheit entipradh. Und war es etwa in Deutfchland anders? Als das preußifche Kultusminifterium im Sahre 1824 durch einen Zufall darauf aufmerffam geworden war, daß in den rbeinifchen Fabriken Rinder zur Tag- und Nachtzeit 11 bie 14 Stunden in übermäßiger Arbeit befchäftigt wurden, „was in furchtbarer Weife außer Verhältnis ftehe, zu den Kräften von Perfonen von 8 bis 13 Jahren,“ da berichteten die Arbeitgeber, diefe Kinder, welche nur zweimal in der Woche die Schule befuchten, unterfchieden filh „weder in Gefundheit noch

480 Rundfchau.

in GSittlichleit und Kenntniffen“ von anderen Rindern! In dem englifchen Sprich wort: „What labor has won, labor has fought for‘ liegt eine tiefe gefchichtliche Wahrheit. Faſt jede Verkürzung des Arbeitstage und faft jede Steigerung Des Lohne bat den Unternehmern durch Kampf abgerungen werden müfjfen. Stein QUrbeiterfchusgefeg der Welt wäre wirklich durchgeführt worden, wenn die Hetzer und Wühler“ nicht über feine Durchführung gewacht hätten. Der Ruin der englifchen Induftrie wurde prophezeit, als Gir Robert Peel zu Anfang des 19. Sahrhunderts die 1Bftündige Arbeitszeit achtjähriger Rinder in den englifchen Hammerwerten betämpfte; gegenüber dem englijchen Rinderfchug von 1842 wurde von den engliſchen Fabrikanten mit Kaſſandramiene auf die 17ftündige Arbeits zeit der Kinder in den deutſchen Fabriken verwieſen, nicht anders, wie noch im Jahre 1905 Herr Auguſt Thyſſen von der Durchführung des 8ſtündigen Arbeits tags den Ruin des rheinifch-weitphälifchen Kohlenbergbaus und Herr Baurat Rieppel von der Durchführung der 56ftündigen Arbeitswoche den Ruin der bayerifhen Mafchineninduftrie vorherſagen. Solange fih das Wefen des tapr taliftifchen Unternehmers nicht von Grund aus geändert hat, ift die Organifation der AUrbeiterfchaft notwendig fchon zu ihrem Schuß vor der Herabdrückung in die unwürdigften Arbeits» und Lebensverhältniffe. Daher die Leiden fchaft, mit welcher die geſamte Urbeiterfchaft, fogar die nichtorganifierte, gegen jeden Angriff auf das SKoalitionsrecht reagiert. Und doch wird man im den KRundgebungen der bayeriſchen Mafchinenbauer vergebens nach einer fo fcharfen Berurteilung der Taktit und der Beweggründe der Unternehmer fuchen, wie fie Brentano mit Bezug auf die englifhen Mafchineninduftriellen von 1852 im feinen „Arbeitergilden“ ausfpricht: „.. es war äußert Hug, auf diefe Weiſe den Sachverhalt zu entftellen und den Mafchinenbauern erft unverſchämte, tyranniſche und unentfchuldbare Forderungen anzudichten, um dann mitteljt des Lügenprodufts der eigenen Miederträchtigkeit die fremde zu beweiſen.“

Die englifhen Mafchinenbauer unterlagen vollftändig; fie unterzeichneten fchließlich, durch Hunger gezwungen, in Maffen die „Erklärung“ mit dem PBor- fat, fie nicht zu halten. Die bayerifhen Mafchinenbauer errangen wenigftens moralifh einen vollftändigen Gieg, indem, von wenigen Ausnahmen abgejehen, die Arbeiter die Llnterfchrift des Reverſes dauernd und erfolgreich verweigerten. Für die englifchen, wie für die bayerifhen Mafchinenbauer aber erwies fich bie Taktik der Unternehmer als das wertvollfte AUgitationsmittel. „In der Tat, fe gingen troß ihrer Niederlage in größerer dffentlicher Achtung aus dem Streit hervor, als fie zur Zeit feines Beginnes genoffen. Und weit entfernt, die Ge fellfchaft zu ſchwächen, war der Gtreit vielmehr die Urſache des Beitritts einer großen Anzahl von Arbeitern zur Gefellihaft, die fich jahrelang von ihr fern gehalten hatten.“

München. Mar Prager. Cr ER ERER ER FEN FR CR CIE PER ER PER CER De

Verantwortli den uti Teil: drich N f Öneberg; für ben eran ch für fogtalpo a ae . ch —— n es neberg; für übrigen Inhalt

Nachdruck der einzelnen Beiträge nur auszugsweiſe und mit genauer Quellenangabe geftattet.

Julzeit.

Bon Auguſte Supper in Stuttgart.

„Ein tolles Stück! Im ſchneeverwehten Forſt Am alten Wall beim großen Rabenhorſt Soll ich dem Kind, dem jungen Adalrich, Dem Sohn des Herrn noch heut' die Armbruſt ſpannen Und Zapfen ſchießen von verſchneiten Tannen? Beim Donar, Weib, das iſt kein Amt für mich! Wer brachte den Befehl, Gerlind? ſag an! —“ „Es war ein alter, fremder Wandersmann, Und dringend ſprach er, flehend klang ſein Wort Eh' ich nur fragte, wandte er ſich fort. —“ Der Zäger geht mit finfterem Geſicht. Nah Rnabenfpiel fteht heut der Sinn ihm nicht. Er kommt zur Stelle, zum verlaffnen Wall. Vom fcehneeverhangnen Himmel tanzen nieder Die weißen Floden jest in weichem Fall. Berchtold fpäht rechts und links nach dem Gebieter. Umfonft, der Schnee im weiten Kreife trägt Nicht Fuß- noch Roffesfpur, vom Herrn zu fagen, Nur eine Schar der Wodansvögel regt Sich in den Wipfeln, die die Horfte tragen. Der Abend finft. Kein Adalrich erfcheint. Der Sturm nur jagt die Floden toll im Reigen. Es ächzt im Holze, daß der Jäger meint, Das Heer der Lüfte werde fich ihm zeigen. Er fauert nieder, deckt die Augen zu. Kein Sterblicher, der Wodans Zug gejehen Fand jemals wieder Freudigfeit und Rub, Für immer ift e8 um fein Glück gefchehen. Wie Berchtold laufcht, in heimlich Graun verfentt, Da ift es ihm, als hör’ er nahes GStöhnen. Beim legten Lichte, das der Tag noch ſchenkt Forfcht er, von wo die Menfchenlaute tönen. ESlibdeutfihe Monatöbefte. 11,12, 31

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Augufte Supper: Julzeit.

Im Schnee gebettet an des Walles Rand

Liegt regungslos ein Mann in weißen Haaren. Sein Hut, fein Stab, fein härenes Gewand Verraten, daß er weit durchs Land gefahren. Der Jäger zaudert nicht. Die ftarre Laft

Trägt er zur Hütte in den ftarfen Armen. „GBerlind tu auf! Ich bring dir einen Gaft, An unfres Herdes Glut foll er erwarmen.“ Verwundert [haut das Weib den Frembdling an. „Berchtold er iſt's; es ift der Wandersmann, Der dich zum Walle rief. Ich kenn ihn wieder.“ Still legt der Jäger feine Bürde nieder.

In Berchtolds Hütte glimmt die Herdesglut Das Schifflein fliegt, die Spule flappert leife. Am Ehrenplage warm gebettet ruht

Der fremde Gaft nach böfer Winterreife.

Am frühen Abend, wenn der Kienfpan brennt Entquillt die feltfam unerhörte Runde

Bon einem Frieden, den die Welt nicht fennt Des alten Mannes warm berebtem Munde. Bon einem Kind fpricht er, im Krippenftrob, Das Schuld und Leid der Menfchenerde Löfe. Das klingt wie Lerchenlied fo lenzesfroh

Trog Winterfturm auf rauher Waldesblöße. Das bittre Zoch, das Menfchenrecht umdroht, Es fei zertrümmert, und ein neu Gebot,

So fagt der Greis, fei ung ind Herz gefchrieben: Menſch, du ſollſt Gott und deinen Bruder lieben!‘ Berchtold ſchaut auf. „Und das, was feither war, MWodan und Donar mit bewehrten Lenden,

Der lichte Balder mit dem Sonnenhaar

Und Freia mit den milden Segenshänden

Und all die andern, Fremdling fage an,

Sind fie nur Truggebilde, Fabelmwefen,

Nur öde Schatten, blöder Menfchenwahn,

Nicht hehre Götter, wie dein Gott, geweſen?“ „Bott ift nur Einer! fällt der Alte ein.

Doch, was ihr hattet, Sinnbild war's und Zeichen, War ferner Abglanz, war ein lichter Schein Dom wahren Wefen, das wir jegt erreichen.

Ein brünftig Suchen, hungrig Gottverlangen

Iſt durch die Welt feit Ewigkeit gegangen

Und diefes Suchen fchuf fi Bild um Bild Vom Strom der Wahrheit, der im Kinde quillt.

Auguſte Supper : Zulzeit. 483

Nicht darf ich Berchtold dir die Götter ſchmähen; Was wir von Götterlicht umfloffen fehen

Iſt immer hell; doch allen Lichtes Kern

Liegt nur in einem Gott, in meinem Herrn.“ Gerlinde fest ihr Schifflein jegt in Ruh.

„Don einem Kind im Krippenftrob fprachft du; War's diefes Rind vielleicht, um das du jüngft Berchtold zum Wall hinaus zu holen gingft ? Ich dacht’ an Adalrich, den Fürftenfohn, Dieweil mein Herr den Knaben früher fchon Zur lichten Sommerszeit im Armbruftfchießen Am alten Wall hat öfters unterwiefen.“ Betroffen ſchaut der fremde Mann empor. „Die ſah ich vordem diefer Hütte Tor;

Nie rief ich Berchtold. Als ich frank und ſchwach Im fturmdurdraften Forft zufammenbrach,

Da bat ich Gott, daß um des Kindleins willen Er meine bange Seele möge ftillen.

Dann fchlief ich ein. Erſt unter diefem Dach Ward ich, ihr wißt's, zu neuem Leben wach.“ Gerlinde fühlt des Herzens wildes Pochen. „So bat dein Gott für dich mit mir gefprochen. Sag mehr von ihm, auf daß ich laufchen mag, Bis durch die Wipfel bricht der junge Tag. Mir Hang von Anfang an fo licht und froh Die Mär vom Knaben in der Krippe Stroh.”

Der Winterfturm brauft weiter durch den Tann; In Berchtolds Hütte fpricht der fremde Mann Bom lichten Lenz, der fieghaft kommen werde, Ein Retter für die weite Menfchenerde.

ER FTER TER TER ER FR ER ER ER ET ER ER ER ER IR ER

Sojephus Stiefel. Eine Legende von Heinrich Steiniger in München.

Es ift fein richtiges Märchen, denn es kommt darin fein Königsfohn und feine Prinzeffin vor, fondern nur ein junger Student, der Sohn einer ziemlich armen Gemüfehändlerin, der Witwe Stiefel. Er hieß alfo auch Stiefel, und weil er der ältefte feiner acht Gefchwifter war, follte er ftudieren.

„Damit du ein Gelehrter wirft,” fagte feine Mutter, „deine Familie zu Ehren bringjt und deinen Brüdern und Schweitern einmal mit Rat nnd Tat an die Hand gehen kannſt.“

Und Iofephus Stiefel ftudierte, daß ihm der Kopf rauchte. Das war das einzig Märchenhafte an ihm, denn font war er ein ziemlich nüchterner und trodener Gefelle, dem ein alter Foliant wichtiger und wertvoller fchien, als die Gefchichte, die die Natur auf Schritt und Tritt jedem einfachen Menfchentind zu erzählen hat.

Wurde aber ein Semefter gefchloffen, fo mußte Joſephus nach Haufe, und da konnte er nicht ftudieren, weil er fein Geld hatte, ſich Bücher zu kaufen, und die Univerfitätsbibliothet über die Ferien weg prinzipiell keine auslieh.

Da nun Joſephus den Schaß feiner Weisheit nicht vermehren konnte, gab er fich wenigftens die größte Mühe, kein Quentchen davon zu verlieren. Er repetierte fleißig, was er gelernt hafte und nahm auch nicht die Eleinfte und unbedeutendfte Verrichtung vor, ohne ihre Zweckmäßigkeit im Geifte zu- erjt ordentlich begründet zu haben.

Bon diefer löblichen Gewohnheit war nur ein Schritt zu dem Wunfche, auch QUnderen von feinem Leberfluffe mitzuteilen; und wer lag da näher als die eigene Familie, zu deren Beftem er doch eigentlich das Studium ergriffen hatte.

War nun des frühen Morgens die Mutter Stiefel mit Fünfen ihrer Kinder, da die jüngften drei zu folch wichtiger Arbeit noch zu ungeſchickt waren, damit befchäftigt, die frifchen Gemüfe in die verfchiedenen Körbe recht appetitlich zu ordnen, damit die Käufer auf dem Markte ſchon von ferne herbeigezogen würden, fo beteiligte er fich zwar nicht an folchem Tun, aber er hielt erbauliche Neden etiwa über die vier Arten des Glückes und die dreizehn Wege, die zu ihnen führten oder die ziwiefache Erkenntnis, die als wirkliche und fcheinbare Erfenntnis nicht gar leicht zu unterfcheiden fei.

Die Mutter Stiefel hörte ihm andächtig zu, wenn fie wohl auch nur wenig verftand, feine Brüder und Schweftern aber zeigten fo recht die Wahrheit des Satzes, daß fein Prophet in feinem Vaterlande geehrt werde.

Heinrich Steiniger: Zofephus Stiefel. 485

Sie ftießen fih an, ficherten und huſteten, obwohl fie fo gefund waren, als nur arme Kinder fein können; ja, wenn Joſephus der Ernft des Gegen- ftandes und die eigene Begeifterung nötigten, die Stimme etwas zu erheben, plagten fie in lautem Gelächter heraus, was er jedoch nur durch einen ftrengen Blick rügte, ohne fih in feinen verwidelten Redewendungen unter: brechen zu laffen. Und die Rleinften, von denen natürlich ein Verſtändnis nicht zu erwarten war, hielten diefe Morgenpredigt für einen willfommenen Spaß und ſteckten ihrem dozierenden Bruder unbemerkt einen langgefchwänzten Rettig oder eine Mohrrübe unter den Rodkragen, welch feltfamer Schmud, wenn er fpäter zur Stadt ging, ihn zum Gegenftande des Gelächters und Spottes der Straßenjugend machte.

Diefe Nichtachtung im Schoße der eigenen Familie verdroß natürlich Joſephus gewaltig, und als er einft in einer fchönen Mede über die Not: wendigfeit durch die unziemliche Heiterkeit feiner Gefchwifter unterbrochen wurde, da erhob er fich fchweigend und verließ das Haus mit dem feften PVorfage, von nun an feine Weisheit für fich zu behalten und nicht denen von der föftlichen Gabe zu reichen, die de Genuffes unmürdig waren.

Die Durchführung diefes Entfchluffes verurfachte jedoch Joſephus viel Unbehagen, denn er war fo an's Reden und Belehren gewöhnt, daß ihm ein ſchweigend verbrachter Tag wie ein doppelt verlorener erfchien, erftmals, weil er felbft feine Ausdehnung feines Wiffens erfahren und zum andern Male, weil auch fonft niemand davon profitiert hatte. Und fo ftarl ward in ihm das Gefühl der Pflicht, die Quelle der Weisheit nicht ganz verfiegen zu laffen, daß er jeden Stolz beifeite feste und fich aufmachte, die Nach: barn aufzufuchen. Das waren Tifchler, Schufter, Töpfer, Kleine Händler und Gewerbetreibende, in deren Läden und Werkftätten er ald Kind oft ge- fpielt hatte, wenn er fie auch während der Zeit feines Studiums nicht mehr betreten hatte.

Kam er nun, fo erkannte er gleich mit Befriedigung an der Berlegen- beit, mit der die einfachen Leute ihn bewilllommneten, daß fie die Ehre, die ihnen widerfuhr, wohl zu fchägen wußten. Seine Befürchtung, daß fie in ihm den einftigen Stiefeld Seppl fehen könnten, war offenbar grundlog ge- weſen, denn fie nannten ihn Herr Iofephus oder auch Herr Magifter, gegen welchen Titel er nicht proteftierte, da er ihn ja bald als rechtmäßig zu führen hoffen durfte.

Zum Danke 309 er denn auch die Schleufen feines Willens voll auf und überſchwemmte die Zuhörer mit einer derartigen Flut von Hug ge- wählten Gleichniffen, Beifpielen, zierlih gebauten Perioden und ver- ſchlungenen Schlußfolgerungen, daß fie in andächtigem Staunen verftummten, was ihm ein deutliches Zeichen des Verftändniffes zu fein fchien.

Kam aber einmal die Nede auf etwas, von dem auch fie etwas zu willen glaubten, auf ihre eigenen Rümmerniffe und Heinen Nöte, fo ſah er fie mit leifer Verachtung an und fagte etwa nur: „das ift eben fo und fo” und dann fuhr er fort, fie mit fundiger Hand durch die Labyrinthe des Denkens zu geleiten.

Eine Weile fühlten fich die Heinen Leute mächtig gefchmeichelt, daß das Willen in einem der wortgewaltigften Vertreter zu ihnen herabftieg,

486 Heinrich Steiniger: Joſephus Stiefel.

allmählich jedoch merften fie, daf All das, was fie zu hören befamen, zwar fehr ſchwer zu verftehen, aber ihnen in feiner Weiſe irgend etwas nüße war. nd mit diefer wachfenden Einficht verminderte fich ihre Scheu und Ehr- furcht vor Iofephus, fo daß fie ihm offen zu mwiderfprechen wagten, ja wohl auch zu feinen langatmigen Reden in ihrer gutmütigen Art lächelten.

Leber diefen Undank und diefe Querföpfigkeit, wie er es nannte, er- grimmte Joſephus auf’s Höchſte. Er tat einen feierlihen Schwur, die Wiffenfchaft nun nicht mehr länger entwürdigen zu laffen, und allen geiftigen Verkehr mit den Menfchen feiner Umgebung abzubrehen. Stumm und mit finfterem Gefichte faß er zu Haufe, antwortete faum auf die beforgten Fragen feiner Mutter, oder er ging geſenkten Hauptes mit auf dem Rücken ge- falteten Händen durch die Straßen, nicht rechts noch links blidend, um nicht an den ftumpfen Gefichtern feiner Mitbürger Aergernis nehmen zu müſſen.

Da er aber das Reden einmal doch nicht laffen konnte, fo ging er vor die Stadt. Am Tore wifchte er den Staub von den Gtiefeln, was ihm in Hinficht auf feinen Namen eine Handlung von außerordentlicher fymbolifcher Bedeutung dünkte. Dann folgte er ein Stücd der Landftraße, verließ fie jedoch bald wieder und fchritt auf einem ſchmalen Fußwege in ven Wald. Bier endlich war er ungeftört und unbelaufcht, denn der Wald galt für nicht recht geheuer, ein Aberglaube, den Sofephus natürlich verlachte. So recht in der Mitte des Gehölzes war eine Lichtung, die mit einer mächtigen Fels- wand abſchloß; und diefen Plaß liebte Iofephus befonders. Nicht der Schön- beit wegen, die achtete er gering, fondern weil die Felswand die Stimme verftärkte und zurückgab, fo daß man faft der Meinung fein Eonnte, e8 würben zwei Reden gehalten ftatt einer.

Joſephus ftellte fi) auf einen moosbewachfenen Stein, der wie eine Kanzel inmitten der Lichtung lag und ſprach. Hier brauchte er feine Nüd- fiht auf die Begriffsftügigkeit feiner Zuhörer zu nehmen und konnte fo recht aus dem Vollen feiner Gedanken und Ideen fchöpfen. Die Wahl des Stoffes überließ er der Eingebung des Augenblids. Einen Tag nahm er die Liebe vor, zerlegte fie in ihre Beftandteile und befchrieb dann jeden genau nach feinen Wirkungen und Urfachen, was um fo beiwunderungsmwürdiger war, als er felbft noch niemals etwas wie Liebe für irgend jemand empfunden hatte ein anderes Mal ftellte er fich die Aufgabe, die Unmirklichkeit der Wirklichkeit zu begründen und brachte dies fo erfolgreich zuftande, daß er äußerst erftaunt war, am GSchluffe feiner Nede alles ebenfo zu fehen, wie am Anfange, als er noch nicht bewiefen hatte, daß es in Wahrheit gar nichts gäbe am häufigften aber befchäftigte er fich mit der menfchlichen Ver— nunft, die ihm das Höchfte und Erhabenfte zu fein fchien, was gefchaffen worden, ja fo recht eigentlich die Grundlage, der Mittelpunkt und der Enbd- zweck der Schöpfung, und zu deren Lobe ihm die fchönften und pomphafteften Worte der Sprache arm und unzureichend dünften.

Täglih gewann er diefem Thema neue Seiten ab, fo daß ed nad einer Woche etwa nichts Gutes, Tugendhaftes oder Glückliches gab, deffen Urfprung er nicht der Dernunft zugefchrieben hatte. Und da er nichts mehr Neues zu ihrer Verherrlichung auffinden konnte, begann er, träftig dasjenige zu ſchmähen, was der Vernunft in feinen Augen Abbruch tat, fie beeinträchtigte

Heinrich Steiniger: Zofephus Stiefel. 487

und ihre fruchtbaren und wundervollen Wirkungen nicht zur Geltung fom- men ließ.

„Bor Allem,“ rief er einmal in beftigem Unmute, „ift es das unglüd- felige Gefühl, welches den föftlichften Befig des Menfchen, feine Vernunft, lodert, ja vergewaltigt, ihn feines Kigentumes entäußert und fo recht von einem Reichen zu einem Bettler macht. Denn wenn man wohl fagen darf, daß die Vernunft das MWirklichite im Weltall ift, und ihre Schlüffe das Sicherfte und Gemiffefte wie foll man dann das Gefühl bezeichnen, das ewig wechfelt, nicht voraus zu berechnen ift, die wohltätigften VBorfäge um- ftößt, den Menfchen zum feelenlofen Tiere erniedrigt, indem es ihn diefem gleichmachht?! Denn auch die Tiere haben Gefühl, was fich Härlich darin zeigt, daß fie miteinander fämpfen und fich in blindem Haſſe verfolgen, wohingegen auch die fanfteren Gefühle der Liebe und insbejondere der Mutter- liebe ihnen nicht fremd fein follen, während noch fein Renner der Natur ihnen die göttliche Gabe der Vernunft zugefprochen hat. Und fo weiche ich nicht von dem ftrengen, mefferfcharfen Pfade der Logif ab, wenn ich be- haupte, daß das Gefühl eigentlich und ordentlich den tierifchen Teil in ung darftellt, der durch die Vernunft ausgerottet und überwunden werden muß, wenn das Wort zur Wahrheit werden fol —“

Hier hielt Joſephus inne, denn plöglich bemerkte er, daß er einen Zu- hörer hatte, deffen Kommen ihm im Eifer der Rede wohl entgangen war.

Es war ein ſchon älterer Herr im grünen Jägerrode, der mit ver- ſchränkten Armen an der Felswand lehnte und Joſephus aufmerkfam zuhörte.

„Fahren Sie nur fort, geehrter Herr Profeſſor,“ fagte er, als Diefer ſchwieg. „Ich folge Ihren gelehrten Erklärungen fchon längere Zeit mit wirklicher Freude und wäre fehmerzlichft berührt, falls ich in mir eine Llr- fache der Störung und Unterbrechung ſehen müßte.“

Die Anrede „Herr Profeffor“ und die wohlgefegten Worte des Fremden erfüllten Iofephus mit äußerfter Genugtuung. Aber nun empfand er auch die Verpflichtung, das Beſte zu leiften, deffen er fähig war, um . die gute Meinung feines Zuhörers fih zu erhalten und womöglich noch zu fteigern. Es fiel ihm jedoch durchaus nichts mehr ein. Er fühlte deutlich, daß er einem gewaltigen Gedanken auf der Spur ſei; fo oft er ihn aber zu halten vermeinte, entwifchte er ihm wieder, verfroch fich und löſte fich gleihfam in einen geftaltlofen Nebel auf, den er in feine beftimmten Worte zu preffen vermochte.

Der Fremde bemerkte Iofephus’ Verlegenheit und trat mit einer ver- bindlichen Handbewegung, die Entfchuldigung zu heifchen fehien, auf ihn zu.

„Ich kann mir nun nicht mehr verbehlen,” fagte er, „daß ich allein die Schuld an dem allzu frübzeitigen Ende Ihres fehönen Vortrages babe. Glüdlicherweife waren Sie aber in der Entwidelung Ihrer Ideen fchon fo weit gelangt, daß ich imftande bin, Ihren Gedankengang vollftändig zu be- greifen. Geftatten Sie mir, Sie aufrichtigft zu beglüdtwünfchen. Sie haben ſich fchon in jungen Jahren einen Schag von Weisheit errungen, der jelten, höchft felten angetroffen wird. Befonders, was Gie über Vernunft und Gefühl fagten, zeugt von einer berartigen lichtvollen Durchdringung diefes fhwierigen Themas, dag

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„So hab ich wirklich einmal jemanden gefunden,” fiel Iofephus rot vor Freude ein, „der mich verfteht?“

„Verſteht und beivundert!” antiwortete der Fremde liebenswürdig, jedoch ohne feine ftarren Gefichtszüge im Geringften zu verändern.

„And Gie find auch meiner Meinung . . .“ begann Joſephus. Uber jener unterbrach ihn.

„Meinung,“ fagte er „ift nicht das richtige Wort. Ich meine nicht, ich weiß.“

„Nehmen Sie mir diefe Sprache,” fuhr er fort, „die Ihnen wohl ein- gebildet Klingt, nicht übel. Ihnen, der Sie fo tief in die Geheimniffe der Bernunft eingedrungen find, brauche ich faum zu erflären, daß fich die Ver- nunft im Denken äußert, dieſes aber hinmwiederum in Worten, und wenn ich Ihnen noch fage, daß ich der Oberauffeher des Landes der Worte bin, werden Sie zugeben, daß ich vom „Wiſſen“ reden kann, wo Sie auf die be- fheidenere „Meinung“ angewiefen find.”

„Sp gibt es,“ ftammelte Joſephus faft zitternd vor Erregung, „ein Land der Worte ?*

„Natürlich, Irgendwoher müfjen die Worte doch kommen.“

„And dort find alle wirklich alle, alle Worte?“

„Alle,“ beftätigte der Fremde „Die vergangenen, welche die Menfchen längft vergeffen haben, die gegenwärtigen und fogar die, welche erft noch erfunden werden müſſen.“

Joſephus feufzte tief auf.

„Wie wundervoll,“ fagte er und fügte leife hinzu, „und gibt e8 irgend eine Möglichkeit, in diefes herrliche Land zu gelangen?”

„Warum nicht,“ entgegnete der Fremde. „Für Leute wie Sie, hat e8 feine befonderen Schwierigkeiten.”

„Sp führen Sie mich bin.” Joſephus ftieß es mit flehender Stimme hervor und wäre auf dem Waldboden niedergefniet, wenn der Andere ihn nicht durch eine Handbewegung aufgehalten hätte.

„Mit dem größten Vergnügen,“ fagte er. „Nur müßten Sie vorher eine fleine Bedingung erfüllen —“

„Welche, welche? Ich will alles tun, was Sie von mir verlangen.“

„Sie müſſen Ihr Herz bier laflen, in meiner Obhut.“

„Mein Herz,“ fagte zögernd Joſephus. „Uber dann kann ich ja nicht mehr leben.”

„Hier nicht. Im Lande der Worte würde e8 Ihnen nur ein Hindernis fein. Denn das Herz ift der Sig der Gefühle, und Sie haben ja eben felbft bewieſen, daß das Gefühl der ärgfte Feind der Vernunft ift.“

„Alſo?“ fragte er nach einer kleinen Paufe und ſah Sofephus fonderbar an. „Wollen Sie?“

„Sa, ich will,“ fagte diefer entfchloffen. „Gehen mir.“

Der Fremde nahm Joſephus bei der Hand und führte ihn an die Felswand. Auf fein Klopfen fchoben fich die Steine auseinander und ließen eine fchmale dunkle Deffnung frei.

„Dur keine Angſt,“ fagte er, „gleich wird es heller werden.“

Sie machten ein paar Schritte und plöglich fühlte Joſephus, twie der

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Andere ihm durch Kleider, Haut und Fleifch in die Bruft griff und etwas herausriß. Er empfand einen heftigen qualvollen Stich, aber im nächften QAugenblide war der Schmerz vorbei. Und da traten fie auch fchon aus den Felfen ins Freie.

„Dies ift das Land der Worte?” fragte Iofephus und fah auf den Fremden, der ein rotes menjchliche8 Herz in der Hand hielt.

Diefer nickte. „Ich kann Sie jest verlaffen,” fagte er. „Sie haben mich ja nicht nötig. Ein Gelehrter wie Sie wird fich bier allein am beften zurecht: finden. Doc auf zwei Dinge möchte ich Sie aufmerffam machen. Sie dürfen bier tun, was Sie wollen. Für Sie gibt es feine Geheimniffe. Nur warne ich Sie, die Fleine Infel zu betreten, die Sie inmitten des Begriffsfees fehen werden und dann weinen Gie nicht: das könnte fchlimme Folgen für Sie haben.“

Nach diefen Worten trat er in den Felſen zurüd und war verfchwunden.

„Weinen!“ dachte Iofephus verwundert. „Weinen?!“

Weiter kam er nicht in feinen Gedanfen, denn er ſah, daß er nicht allein war. Vor ihm ftand plöglich ein zierliches Figüirchen, dem die Kleider eng am Leibe Elebten, ald ob es eben aus dem Wafler füme. Und ohne weiteres wußte Joſephus, daß dies das Wort fei, das er cben gedacht hatte.

Ein gewöhnlicher Menfch wäre unter ſolch außerordentlichen Umſtänden wohl in Verlegenheit geraten nicht fo Iofephus. Er überlegte bei fich, in welcher Weife im Lande der Worte fich die Bedingungen des Lebens verändern müßten, und während er überlegte, hufchte ein Strom von Ge- ftalten an ihm vorüber, in denen er fogleich die Worte erfannte, die er felbft in feinem Gehirne erzeugte.

Da gab es Kleine und große, dünne und die Worte; Worte, die fi) immer an andere hängten und von ihnen nachziehen ließen, Worte, die ſtolz voranfchritten, Worte, die wie Könige allein gingen oder höchſtens von einigen Trabanten begleitet und Worte, die in gedrängten Haufen vorüberftürmten.

Sie alle ſah Iofephus zu feiner innigen Freude vor ſich in ununter- brochenen Reihen vorbeiziehen, als er jest, feiner Gewohnheit gemäß, eine Rede hielt.

Nun konnte er fo recht die geheimnisvollen Eigenfchaften der Worte erfennen. Wie Har zeigte fich die fchöne Friedferfigkeit und Derföhnlichkeit des dien, freundlichen „und“, dag die widerftrebendften, unähnlichften Worte, ja felbft ganze Säge einträchfig verband, wie luftig war es, durch ein „entweder oder“ die Wortgruppen in zwei feindliche Haufen zu fpalten und dann durch ein einfaches „weil“ oder flüchtig hingeworfenes „deshalb“ wieder in Ordnung zu bringen.

Da fah man doch, was man dachte oder redete, und niemandem konnte es unklar bleiben, daß die höchſte Wahrheit des Dafeins in den Worten ruhte,

Sofephus, der ja in allen Künften der Sprache wohl erfahren war, machte es eine unfagbare Freude, ein Wort gleichfam vorzubereiten, durch die feinften Nedewendungen ahnen zu laffen, ohne es auszufprechen, es immer tiefer zu begründen und durch andere Worte zu umfchreiben, bis er, wenn die Spannung unerträglich geworben war, und alles auf das erlöfende

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Wort wartete und fich nach ihm fehnte, die Krönung des funftvollen Ge— bäudes ausführte und endlich dag Wort in Pracht und Glanz vor ihm ftand.

Uber nun begann erft die höchfte Luft. Jetzt brachte er den jelbit- gefchaffenen Bau durch Gegengründe ins Schwanfen, zog dem Prachtworte alle Stüßen, eine nach der andern fort, legte ihm Schlingen, zerftüdelte e8 lang- fam, big es fhwächer und ſchwächer wurde, nur noch ein Schatten feiner früheren Größe war und fchließlih wie ein Wölkchen fich auflöfte und verfchwand.

Joſephus kam ſich wie ein Gott vor, der nach feinem Willen fchafft und zerftört.

Ein befonderer Genuß war es ihm auch, Worte mit Gewalt zufammen- zufügen, die nicht zu einander paßten und fich nicht leiden konnten oder alte, feft mit einander verwachfene Worte zu trennen, daß jedes nun allein fort- wandern mußte. Wie gut war ed, daß die Worte nicht zu widerfprechen vermochten und ſich fügen mußten, was er auch mit ihnen vornahm.

Wirklich, hier konnte man einmal froh werden, ohne an Nüdfichten auf Andere denken zu müflen, ohne durch Unverftand und Böswilligleit Der Menfchen geärgert zu werben.

Freilich, mit dem Alleinfein war es nun zu Ende. Gelbft wenn fich Sofephus noch fo anftrengte, konnte er ſich das Denken nicht ganz abge- wöhnen, und fo fand er fich immer in Gefellfchaft einiger Worte. Er lernte fie bald alle unterfcheiden und von Anfehen kennen, fo daß er allmählich die Kunſt beberrfchte, zu reden ohne zu denken, die Worte fo zu gruppieren, daß fie zierliche, regelmäßige Figuren darftellten, ohne daß er fih um den Sinn befümmerte.

Uber diefe kindlichen Spiele befchäftigten ihn nur kurze Zeit. Dann tauchte ein glorreicher Gedanke in ihm empor. War er doch der Einzige, der an den Quellen der Erkenntnis ſaß. Die Worte waren die Kinder der menjchlichen Vernunft, aus ihnen mußte man das legte, höchfte Willen zufammenfegen fünnen, ein Wifjen, unvergänglich wie die Welt felber, ja noch weit unvergänglicher, denn die Welt konnte einft wieder ins Nichts zurüdfinfen, die Vernunft aber und mit ihr Worte und Wiffen waren ewig, außer und über aller Zeit.

Und fo begann Iofephus den mächtigen Bau aufzuführen, der be- ftimmt war, alle® Dernünftige zu umfaffen.

Zum Grundftein nahm er natürlich die Mutter aller Dinge, die Vernunft. Auf ihr, der LUnzerftörbaren, baute er ftreng logifch weiter. Kein Pfeiler, feine Stüge, keine Mauer, die nicht ausreichend begründet war, um jedem Sturme Trog zu bieten. Das bing alles organifch zu- fammen, jedes Wort mit dem nächften, daß feine Fuge blieb, keine Lücke in den glatten Riefenwänden. Gewaltig wuchs der Bau empor, aber eines Tages hatte er fich auf der einen Geite gefenft.

Beftürzt fuchte Zoſephus die Lrfache diefes Vorganges, und bald hatte er einen großen Sprung entdedt, der breit von der Mauerhöhe bis zum Grunde klaffte. Und fogleich begriff Sofephus, daß es fo fein müßte, denn der Bau konnte nur vollendet werden, wenn alle vernünftigen Worte zu ihm verwendet würden, auch die des zufünftigen Wiſſens, die er noch nicht Fannte, die er weder zu denken, noch zu fprechen vermochte.

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Irgendwo im Lande der Worte mußten fie jedoch mweilen, und fo machte er fich auf den Weg, fie aufzufuchen.

Zuerft ging er nad) Norden. Da kam er in das Gebiet der Fremd- worte. Das waren feltfame Dinger. Manche waren fo lang, daß es einer halben Stunde bedurfte, um fie auszufprechen, und auch dann war Joſephus nicht ficher, daß er fie richtig ausgefprochen hatte. Andere festen fich aus Buchſtaben zufammen, die er noch nie gefehen hatte, und außerdem hatten die meiften eine Art Masken auf dem Kopfe, die Akzente, die ihren Aus— drud veränderten. Es war eine mühevolle Arbeit, diefe Worte zufammen- zutreiben. Allein Sofephus verlor die Geduld nicht, wo es fich doch um folch vernünftige Worte handelte, wie e8 die Fremdworte zweifellos find. Als er endlich alle beifammen hatte, da brachte er fie zu feinem Bau. ber feltfam, je mehr er von ihnen in den Riß bineinftopfte, je weiter wurde er und als das ganze Gebäude in’d Wanfen geriet, mußte er von der vergeblichen Arbeit abftehen.

Da wandte er ſich nach Dften. Und das war eine merfwürdige Reife. Für einen oberflächlichen Menfchen wäre es vielleicht fogar eine luftige ge- wefen, Sofephus aber beobachtete mit Unbehagen, ja faft ein bischen Ver— achtung die Frivolität und Skrupellofigfeit der Bewohner diefes Gebietes.

Die meiften von ihnen tanzten fagein tagaus, eine entjchieden unmürdige Befchäftigung für Worte, die nur ein bischen auf fich halten. Am häufigften führten fie ihre Tänze zu Zweien aus, manche gefielen fich aber auch in der rhythmifchen Darftellung verfchlungener fünftlicher Figuren. Dann gab e8 hier Worte mit einer geradezu unheimlichen Anzahl von Füßen, folhe, die von vorne fich glichen, fo daß fie faum auseinander zu fennen waren, aber gänzlich unähnliche Nückfeiten befaßen, furz Sofephus fah auf den erften Blick, daß aus diefem Lande der Reime und Verſe für feinen Bau nichts zu holen war. Deshalb machte er wieder Kehrt und 309 nach Weiten.

Und von diefer Reife wäre er wohl nie mehr zurückgefehrt, hätte er ein Herz befeflen, die Furchtbarkeit der hier mohnenden Worte zu empfinden, Da hauften in finfteren Löchern die Verbrechen und ftarrten mit düſter glühenden Augen aus dem Dunkel auf Joſephus. Gräßliche Zaubermworte frochen fchiwerfällig auf dem Boden und tafteten mit langen, fchleimigen Fühlern umher. Kein Sonnenftrahl drang durch die dicke, qualmerfüllte Luft, und niemand würde fie ertragen haben, der all die Tränen gefehen hätte, all die Flüche und Verwünfchungen, die ald giftige Geſchwüre die Worte bededten, und den endlofen Schmerz, der in blutiger Wolfe über allem lagerte. Es war eine Welt des Grauens und äußerften Entſetzens. Aber Joſephus ging hindurch, ohne etwas anderes zu bemerken, ald Worte, die er für feine Zwecke nicht brauchen konnte.

„Wie viele überflüffige Worte gibt es doch!” dachte er unmutig „bie feinen vernünftigen Sinn haben. Man follte fie jchleunigft abfchaffen.“

Nachdem er aber doch einmal da war, brachte er Ordnung in das greuliche Chaos, wies den Todesarten einen befonderen Pla an, getrennt von den Verbrechen und verfchiedenen Qualen und ftellte dag ganze Heren- und Zaubermwefen überfichtlich zufammen.

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„Jetzt kann man fich wenigftens etwas dabei denfen,“ fagte er zu ſich, dann aber ſchwenkte er nah Süden ab.

Und diefes Mal war er glüclicher, denn er entdedte jenen Ort, der vor allen andern das Ziel feiner Sehnfucht gebildet hatte. Den Gee der Begriffe. Da war es fühl und friedlich. Die Begriffe ſchwammen mit rubigen, gefitteten Bewegungen umber, kamen fich nicht zu nahe, oder wichen fih in anmutiger Gefchidlichleit aus, daß Feiner den andern berübhrte.

Es war fo recht ein Plas nach dem Sinne Joſephus'.

Tagelang faß er am fer und ſah wunfchlos und befriedigt den Be griffen zu.

„Das find einmal Worte, wie fie fein follen,“ dachte er, „Die werden meinen Bau durch alle Zeiten dauern machen.“

Aber jest harrte feiner eine bittere Enttäufchung. Die Begriffe waren fo dünn, faft dDurchfichtig, daß es Torheit geweſen wäre, mit ihnen den Spalt im Riefenbau der Vernunft ausfüllen zu wollen. Joſephus mußte ſich damit begnügen, die Wände, Säulen und Gtrebepfeiler mit ihnen zu ver: Heiden. Die glänzten nun freilich im Sonnenfchein wie polierter Marmor und legten fich als fchimmerndes Prachtgewand um den Bau, aber der Riß blieb offen, und fo war das Ganze eben doch nur ein halbfertiget Wert, eine gewaltige Ruine.

Joſephus dachte und dachte, jedoch feine Hilfsmittel waren erfchörft. Ueberall war er gewefen, aber die Worte, die den Riß ſchließen mußten, hatte er nicht gefunden.

Und wie er wieder einmal traurig am Ufer des Begriffsfees faß und feinen Blick über die Waſſerfläche ſchweifen ließ, gewahrte er weit draußen einen ruhigen, dunklen Flec inmitten der glänzenden Wellen.

„Das ift die Infel,“ dachte er, „vor der der Fremde mich gewarnt bat. Er war neidifch auf meinen Bau und wollte mich verhindern ihn zu vollenden, denn dort werde ich gewiß finden was ich fuche.“

Und fogleich zimmerte er fi) aus einigen leichten Worten einen Heinen Kahn zurecht und ruderte nach der Infel hinüber.

Schon von ferne ſah er dort die herrlichften Worte liegen. Worte ftark und fejt wie Eifen und gewaltig wie Quaderblöde, als ob fie die ganze Erde zu tragen vermöchten. Und Joſephus jubelte laut auf, denn jest ſah er, daß er am Ziele feines Strebens war. Allein, als er die Infel felbit betrat, fand er die mächtigen Worte tot und ftarr, und er wußte ihren Namen nicht, um fie in’8 Leben zu rufen.

Da fragte er die Begriffe, die im See mit zierlichen Bewegungen umberfchtwammen.

Aber die lachten nur: „Was gehen uns deine Worte an,“ fagten fie. „Wir find uns felbft genug, mehr brauchen wir nicht zu wiffen.“

Und Joſephus ruderte wieder über den See zurüd. Er trat in feinen un vollendeten Bau und fragte die Vernunft, wie die wunderbaren Worte hiepen.

„Ich weiß e8 nicht,“ antwortete fie. „Nur eines weiß ich, fie find meine ärgften Feinde.”

„Wenn du es nicht weißt, weiß es niemand,“ fagte feufzend Joſephut, aber er machte fich auf den Weg und befragte die Fremdworte.

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Die gaben eine lange und gewundene Erklärung ab, aus der niemand fhug werden fonnte.

Joſephus geriet in heftigen Zorn.

„Wozu jeid ihr da,“ rief er „wenn ihr nichts wißt.“

Aber die Fremdworte zudten die Achſeln.

„Wir find Worte,“ fagten fie. „Worte find Worte, nicht mehr und nicht weniger. Wir kennen ung nur felbft. Dies allerdings gründlich. Mehr wiflen wir nicht und mehr brauchen wir nicht. Geh in's Land der Poefie zu den Verſen, vielleicht find die gelehrter, obwohl das unmöglich fein dürfte“.

Und Iofephus wanderte fort, bis er zu den Verſen kam, die er einft verachtet hatte. Ihnen legte er jet feine Frage vor.

Und die Verſe und Reime tanzten und fangen: „Wir fennen die Worte wohl, es find herrliche Worte, aber du kannſt fie nicht verftehen, auch wenn wir dir ihre Namen fagen, denn du haft kein Herz.“

Da rannte Joſephus weiter, bis er an das Land der Schreden Fam.

Und er rief: „Euch habe ich Wohltaten erwiefen, euch habe ich ge- ordnet und erft verftändlich gemacht, fagt mir nun auch, wer find die wunderbaren Worte auf jener kleinen Infel?“

Die furchtbaren Worte lachten, und es war ein fehauerliches Lachen, das wie das Heulen eines Gefolterten Hang.

„Du follft es wiſſen,“ ächzten fie tüdifch hervor, „aber es wird bir nicht8 nützen, denn du haft fein Herz. Die Worte, deren Namen bu fuchft, find ftärker, als wir alle. Es find die Gefühle.“

Und die Augen der furchtbaren Worte leuchteten wie Flammen durch den glutroten Nebel ihres Landes.

„Det weiß ich, wie fie heißen,“ fagte Sofephus. „Jetzt werde ich fie zum Leben erweden und den Bau vollenden.”

Und eilig kehrte er zur Infel zurüd.

„Wacht auf, Gefühle,“ rief er, „wacht auf und folgt mir.“

Uber die Gefühle regten fich nicht.

„Es ift umfonft,“ fagten die Begriffe, die neugierig zufahen. „Sie können dich nicht hören, denn du haft kein Herz.“

Und Sofephus feste fich auf den Rand der Infel, beugte das Haupt auf die Kniee und blickte über die weite Wafferfläche zu feinem Riefenbau hinüber, deſſen Wände wie farbige® Glas fchimmerten. Er fah den Riß, der von bier als fchmaler, ſchwarzer Streifen erfchien, und bittere Tränen der Ohnmacht und Verzweiflung ftiegen in feine Augen und tropften lang- fam zu Boden.

Da ftand plöglich der Grünrock neben ihm. Der hatte ein rotes Ding in den Händen, und Joſephus ſah, daß es fein Herz war.

„Bib mir mein Herz,” fagte er, „damit ich die Gefühle erwecken und mein Gebäude vollenden kann.“

„Ei, ei, Herr Joſephus,“ entgegnete der Fremde. „Was reden Gie für Unfinn. Was haben die Gefühle mit der Bernunft zu tun? Erinnern Sie fich nicht mehr, wie Sie das in fchöner Rede ſelbſt auseinander festen und bewieſen?“

Doch Joſephus hörte nicht, was jener fprach.

494 Heinrich Steiniger: Zofephus Stiefel.

„Gib mir mein Herz zurüd,“ wiederholte er flehend.

Der Grünrod fchüttelte den Kopf.

„Bedenken Sie, was Gie verlangen,” fagte er. „Im Lande der Worte fönnen Sie nur ohne Herz leben. Wenn Sie Ihr Herz wieder haben, müſſen Sie es fogleich verlaffen.“

„Sch will mein Herz,“ wiederholte Sofephus. „Sch will diefe wunder: vollen Worte zum Leben erweden. Alles andere ift mir gleih. Gib mir mein Herz zurüd.“

„Das kann ich mit dem beiten Willen nicht“, fagte der Fremde. „Wenn Sie das Ding hier wirflich wollen, fo muß ich e8 Ihnen wohl geben. Aber es ift nicht mehr das Herz, das Gie früher in Ihrer Bruft trugen. Wie e8 jest ift, möchte es Ihnen vielleicht mehr Rummer als Freude machen.“

„Gib mir mein Herz zurüd,” rief Sofephus und warf fi) vor dem Fremden auf die Kniee nieder.

„Gemach, gemach!“ meinte diefer und fah Joſephus eigentümlich an. „Sie befommen es noch früh genug. Ich muß doch auch etwas im Taufch erhalten. Umfonft ift nichts in diefer Welt. Was wollen Sie mir für Ihr Herz geben?“

„Ich habe nichts zu geben,“ jagte Iofephus traurig; „niemand ift ärmer als ich.“

„Oho, warum fo befcheiden,“ rief der Andere. „Sie haben Ihre Stimme, eine ausnehmend ſchöne Stimme fogar, mit der Gie die längften und verwideltiten Worte bervorzubringen vermögen. Solch eine Stimme könnte ich brauchen. Was fagen Sie zu dem Taufche?“

„Nimm alles, was du willft,“ fagte Iofephus, doch gib mir mein Herz zurüd.“

Und der Fremde riß Joſephus' Stimme aus der Kehle, daß er vor Schmerz zu fterben meinte und feste ihm fein Herz ein.

Im Augenblide aber, als diefes den erften Schlag fat, da war es Joſephus, ald ob er langfam mit der Infel verfänte. Er warf noch einen Blick über den See zu feinem Wunderwerf hinüber, und da ſah er, wie der Riß immer weiter wurde, wie die fehimmernden Wände fich neigten und der ganze Bau mit dumpfem Krachen zufammenftürzte. Doch der See löſte ſich in einen dichten Mebel, der emporftieg und alles verhüllte, und als er fich endlich verzog, da fand fich Joſephus auf der Lichtung im Walde vor der Felswand, von two er in's Land der Worte eingedrungen war.

„Sp war doch alles nur ein Traum,“ wollte er fagen, allein er brachte feinen Laut hervor und da erkannte er, daß es Wirklichkeit gewefen mar.

„Was liegt an meiner Stimme,“ dachte er, „ich habe ja mein Herz wieder, und jet werden die wunderbaren Worte fommen.“

Und er ſah um fich, aber er war mutterfeelenallein im tiefen Walde.

Da fiel fein Blick von ungefähr auf ein Spinnenneg, das zwiſchen den Zweigen eines Bufches hing. Plöglich fam eine Fliege durch die Luft, prallte an das Mes, verwickelte fich in den feinen Fäden, und während fie noch gewaltig arbeitete, ſich aus den engen Mafchen zu befreien, ftürzte unter einem DBlatte eine große gelbe Spinne hervor, widelte die bilflofe Fliege in ein Eebriges Gefpinft, riß ihr mit ihren ſcharfen Kiefern den Leib auf und faugte mit Behagen das Blut ein.

Heinrih Steiniger: Joſephus Stiefel. 495

Joſephus hatte das früher wohl taufendmal gefehen und faum be- achtet. Derartige Vorgänge waren fo natürlich und mit einigen Worten, wie etwa „Kampf ums Dafein“ zu erledigen.

Test aber erfchien ihm Alles anders. Er fah die Todesangft und die Qualen der Fliege, die wilde Graufamteit der Spinne, und es war ihm, als ftände er wieder dort bei den furchtbaren Worten. Nun waren es feine bloßen Worte mehr, fondern wirkliche Formen, die um die fich frümmenden Glieder der Fliege und den häßlichen Spinnenleib krochen, greuliche Geftalten mit eflen, fchleimigen Körpern. Die nickten Joſephus mit gräßlichem Lächeln zu und flüfterten mit ihren entfeglichen Stimmen: „Wir kennen uns fchon von früher, nicht wahr, Joſephus?“

Sofephus wandte fich voll Entjegen ab, aber wohin er blickte, überall fah er ähnliche Untiere, und über ihnen und der ganzen Welt lag ein dider, roter Qualm, in dem es wie von Blut und Qualen zuckte.

Er ſchloß die Augen, doch die fürchterlichen Bilder blieben. Da fprang er auf und rannte durch den Wald.

Erfchöpft brach er endlich zufammen. „Ulfo fo ift die Welt,” dachte er voll Verzweiflung. „Voll Leid und Qualen und Grauen. Und daraus gibt es feine Rettung, feine keine.“

Da ertönte eine Stimme, Die er noch nie in feinem Leben vernommen hatte, und er wußte, ed war die Stimme feines eigenen Herzens.

„Eine gibt es,“ fprach fie. „Suche die Hilfe jener wunderbaren Worte, die du auf der Infel gefehen haft.“

„Sage mir, wie fie beißen und ich will fie auf der ganzen Erde ſuchen,“ rief Iofephus zu feinem Herzen.

Und das Herz antwortete: „Ihre Namen kenne ich nicht. Uber fie find überall, du mußt nur lernen, fie zu ſehen.“

„Was fol ich tun?“ fragte Iofephus mit feinen Gedanken. „Was foll ih tun. Gage ed mir, denn ich ertrage die Qual nicht länger.“

Aber das Herz fchmwieg.

Und Joſephus erhob fich wieder und lief durch den dicken, blutigen Qualm, der die Erde bededte. Und die furchtbaren Geftalten liefen mit ihm, fie folgten ihm durch den Wald auf die Landftraße, durch die Gaffen der Stadt bis an fein armfeliges Häuschen.

Die Leute blieben ftehen, ſahen Joſephus erftaunt nach und meinten fopfjchüttelnd, der fonft fo ruhige und gefegte Herr Student fcheine fich in feltfamer Aufregung zu befinden.

Joſephus riß die Türe auf und ſtürzte mit mwildem Blicke in die Stube, two feine Mutter und feine acht Gefchwifter um den Tifch figend eben dabei waren, eine große Schüffel Milchbrei ald Abendmahlzeit zu verzehren. Sie fprangen auf, als fie ihn erblicten. Er fah auch zum Erfchreden aus. Die Müge hatte er verloren. Die fonft glatt gefcheitelten Haare hingen ihm unordentlich in die Stirme, feine Kleider waren zerriffen, und aus feiner Kehle kamen fchreckliche, heifere Laute, die ein maßlofes Entfegen, eine un- erträgliche Angſt verrieten.

Denn auch hier fah er fie neben fich, die grauenerregenden Geftalten, hörte ihr mißtönendes, fchauerliches Gelächter.

496 Heinrich Steiniger: Zofephus Stiefel.

Sofephus warf fich vor feiner Mutter zu Boden, vergrub den Kopf in ihrem Schoße und wimmerte und lallte in unverftändlichen Tönen.

Und die Witwe Stiefel tat, was jede Mutter in einem folchen Falle getan hätte, fie ftrich Iofephus über die ſchweißbedeckte Stirn und mur- melte leife: „Ia, Sofephus, was ift denn? Was haft du denn, Joſephus?“ Die Kinder aber ftanden ſchweigend um die beiden, blieften ſchüchtern auf die zitternde Geftalt ihres älteften Bruders und dachten, ed müſſe etwas fehr Merkwürdiges geweſen fein, das ihn fo verwandelt hatte.

Nah einer Weile bob Joſephus den Kopf und fah mit ängftlichen Blicken um ſich.

Seine ſchrecklichen Begleiter waren von ihm gewichen. Sie grinſten noch mit ihren ekligen Geſichtern aus den Winkeln, zwiſchen ihnen aber und Joſephus ftanden jene wunderbaren Worte. Zum Leben erwedt ſtreckten die ftrahlenden Geftalten fehügend ihre Hände über ihn aus, und vor ihren leuchtenden Blicken verſchwand der dicke blutige Dunft.

Joſephus aber hörte, wie fein Herz zu ihm ſprach. „Das find Die mächtigften Worte,” fagte es, „fie find ftärfer als alle anderen zufammen.“

Und Iofephus fragte nicht mehr nach ihren Namen.

Er ftand auf, feste fi auf die Bank und fah lange vor fih nieder, während die Tränen, ohne daß er es wußte, über fein Geficht ftrömten.

„Wir haben einen fehweren Weg vor ung,“ fagte er zu feinem Herzen, und das Herz antivortete: „Es ift der einzige Weg.“

As nun die Mutter Stiefel und ihre Rinder Iofephus in jolch tiefer Bekümmernis erblicten, da fingen fie auch zu weinen an, und es herrſchte allgemeine Trübfal und Wehllagen. Die Heinften Kinder aber benüsten die Gelegenheit, da alle befchäftigt waren, fich die Augen auszuwifchen und die Nafe zu ſchneuzen, um den anfehnlichen Reſt des Milchbreies rein auf- zueflen, welche Unmäßigfeit ihnen fpäter fchrecfliches Leibfchneiden verurfachte.

Auf Joſephus, der fich früher ftet3 verfannt und unverftanden vor: gekommen war, hatte der allgemeine Familienjammer eine tröftende Wirkung. Und da er doch nicht fprechen und die Lrfache feiner Leiden erklären konnte, fo ging er von einem zum andern und fuchte ihnen durch unbebolfene Ge- bärden feinen Dank und feine Freude über ihr Mitgefühl auszudrüden. Solche Weichheit waren die hinmwiederum fo wenig von Joſephus gewöhnt, daß fie immer aufs neue Tränen der Rührung vergoffen, und fo hätten fie wohl die ganze Nacht zufammengeweint, wenn die Mutter Stiefel nicht alle energifch in ihre Betten getrieben hätte.

Us dann nur fie felbft und Iofephus in der Stube waren, feßte fie fich zu ihm und fagte: „Best find wir allein, mein Joſephus, und deiner Mutter kannt du fchon fagen, was dir begegnet ift, daß du in folch traurigem Zuftande zu ung zurückkehrſt, nachdem du acht Tage lang zu unferer großen Angſt und Beforgnis von ung weg gemefen bift.“

Sofephus aber deutete betrübt auf feinen Hals und fchüttelte den Kopf. Und endlich verjtand feine Mutter, daß er die Stimme verloren babe.

Da begann fie laut zu Hagen und rief: „Was haben wir nur getan, um mit folchem Unglüd gefchlagen zu werden. Jetzt ift e8 aus mit dem Studieren und all das viele Geld, das es ſchon gefoftet hat, ift umfonft

Heinrich Steiniger: Joſephus Stiefel. | 497

binausgeworfen. Und mit deinen fchönen Reden ift e8 auch nichts mehr, mein armer Joſephus. Es ift ein rechtes Kreuz mit dir, denn fonft haft du ja nichts gelernt und leben mußt du doch.“

Als fie jedoch Joſephus anfah, der mit demütigen traurigen Augen zu Boden blickte, feufzte fie tief auf und fuhr fort: „Nun befümmere dich nicht zu fehr, e8 wird ſchon gehen, dich auch noch durchjubringen. Die Gemtife find, Gott fei Danf, gut geraten, beſonders die Gurken, weil ich das Beet legten Herbft gebüingt habe und der Winterfpinat doch davon,” unterbrach fie fich, „verftehft du ja doch nichts. Vielleicht fällt ung morgen etwas für dich ein und jest wollen wir zu Bette gehen.”

Aber die Mutter Stiefel war noch nicht lange unter mannigfachen Seufzern eingefchlafen, als fie durch ein jämmerliches Stöhnen und Aechzen wieder aufgewedt wurde, denn die allaugroße Portion von Milchbrei, die die beiden Rleinften gegeffen hatten, begann jegt ihre qualvolle Wirkung auszuüben.

„Ach Gott,“ dachte die arme Frau, „das ift ein Leben. Bei Tage darf man ſich abradern, daß man vor der Zeit alt und gebrechlich wird, und des Nachts hat man auch feine Ruhe. Was mag e8 nur jegt wieder geben?“

Mißmutig flieg fie aus dem Bett und tappte zu der Kammer, wo die Rinder fchliefen. Und als fie die Türe öffnete, da fah fie beim Schein einer Talgkerze Joſephus am Bett der Jüngften figen, der ihnen fchnell gewärmte Tücher auf den Leib legte und ihnen half, fich des genoffenen Uebermaßes wieder zu entledigen.

Beim Geräufche der Stubentüre fah er auf, nickte der Mutter Tächelnd zu und zeigte durch Gebärbe, daß es ſchon befler gehe und fie fich nur wieder zur Ruhe legen follte. Das tat fie denn auch einigermaßen ge tröfteten Herzens, wenn fchon fie das gänzlich veränderte Wefen des Joſephus nicht recht zu begreifen vermochte.

Wie verwunderte fie fich aber erft am nächſten Tage, als fie beim Morgengrauen ihr Tagewerk beginnen wollte. Da fand fie Sofephus fchon eifrig bei der Arbeit, und weil er von der Gemüfepflege nichts verftand, ſammelte er wenigſtens die Schneden und Raupen von den Blättern ab und fchüttete fie forglich auf die Gemeindemwiefe hinter dem Garten.

Und kaum hatte fie einen Haufen gelbe Rüben aus der Erde gezogen, fo band er, wie er es früher gefehen, je 12 Stüc fein fäuberlich mit Baft zufammen und trug fie ins Haus, damit die Morgenfonne fie auch nicht im mindeften ausbörre.

Keine Arbeit fehien ihm zu gering. Er fchaffte das Unkraut fort, das feine Gefchwifter aus den Beeten riffen, holte Wafler in der Gießfanne vom Fluße und hätte den Karren mit den ſchweren Gemüfetörben auf den Markt gezogen, wenn fich feine Mutter nicht ins Mittel gelegt hätte.

„Das ift nichts für dich, Joſephus,“ fagte fie. „Das laß nur die Brüder tun. Was follten die Leute denken, wenn ein Student mit dem Karren daher käme“.

Denn die Mutter Stiefel war fehr ftolz auf ihren Iofephus geweſen und fich feinetiwegen ftets als etwas Beſſeres ald die anderen Gemüfefrauen vorgefommen. Jetzt empfand fie die bittere Enttäufchung, daß es mit feinem Studium zu Ende fein follte.

Süddentfhe Monatshefte, 11,12, 32

498 Heinrich Steiniger: Zofephus Stiefel.

So mußte Sofephus darauf verzichten, der ganzen Stadt ein Beijpiel feiner Demut zu geben. Er war darüber fehr betrübt, denn mie er fich früher beffer und weifer als faft alle Menfchen gedünft hatte, fo fchien ihm jest nicht8 niedrig genug, dem Zuftande feines Herzens Ausdrud zu verleihen.

Aber im Haufe wenigftens brauchte er feinen Eifer nicht zu zügeln. Jede unangenehme, ſchwere und unappetitliche Arbeit nahm er auf feine Schultern, und wollte man ihm wehren, konnte er fo viel fehnfüchtige Bitte in feine Augen legen, daß jeder fah, welche Freude ihm die Aus— führung machte und ihn ruhig gewähren ließ. Langfam überwanden auch feine Gefchwifter die Scheu, die fie noch von früher her vor ihm empfanden. Sie famen nun zu ihm mit ihren Heinen Leiden und Sorgen, und er wußte auch meiftens Nat, fchnigte für die Züngften Holzfiguren und Pferdchen, wenn ihr armfeliges Spielzeug zerbrochen war, half den Aelteren, jo gut es ohne Stimme gehen wollte, bei ihren Schulaufgaben; und er zeigte ſtets fo viel Sanftmut und Geduld, daß fie bald alle ein herzliches Ver— trauen und eine innige Liebe zu ihm hegten. Dagegen Eoftete e8 Joſephus eine gar lange Zeit, das Mißtrauen feiner Mitbürger zu überwinden. Geit fie ihn in feinem feltfamen Aufzuge an dem Abend feiner Rückkehr hatten durch die Straßen laufen fehen, behaupteten fie, das viele Studieren habe feinen VBerftand verwirrt und nannten ihn „den verrüdten Sofephus“. Die Kinder riefen e8 ihm nach, wenn er fich auf den Straßen zeigte, und Die Ermwachfenen ſahen ihn mit jenem Mitleide an, das weher tut, als aus- gefprochene Verachtung. Wie er aber in immer gleicher Dienftfertigfeit und Geduld verharrte und hilfreich beifprang, wo er konnte, da wandelte fi) allmählich die Bedeutung jenes fchnöden Rufes, und wenn er fich auch mit der Zähigkeit folcher Worte erhielt, war doch bald „der verrückte Sofephus“ eher zu einem Ehrentitel, als zu einem Schimpfnamen geworden.

Sp vergingen viele Jahre. Die Mutter Stiefel war zur Ruhe ein- gegangen, die ihr das Leben verfagt hatte, und ihre älteften Kinder hatten fih als Handwerker niedergelaffen und ihrerfeit® Hausftände begründet. Die andern führten den Gemüfehandel weiter. Bei ihnen wohnte Joſephus, aber jeder Ort, wo es Leid zu lindern oder Freude zu teilen gab, war ihm zur Heimat geworden, und wohin er fam, bellten fich die düfteren Mienen auf und ein Strahl der Hoffnung fam in die befümmerten Seelen.

Und auch in das Herz „des verrückten Joſephus“ war langfam die Ruhe eingefehrt, bis eine unerwartete Begebenheit fie wieder zu gefährden fchien. Eines Abends nämlich, als er durch die fchlechtbeleuchteten Straßen nach Haufe ging, ftand plöglich der Grünrod vor ihm.

Er hatte fich in der langen Zeit nicht im Geringften verändert, und auch feine Anrede war diefelbe wie einft geblieben.

„Guten Abend, Herr Profeſſor,“ fagte er. „Ich habe Sie auf- gefucht, um Ihnen Ihre Stimme zurüdzugeben. Sie haben fich fo ver: ändert, daß ich faum noch das Recht habe, fie Ihnen länger vorzuenthalten.”

Er fuhr mit der Hand Iofephus über den Mund, der fogleich fühlte, wie die Stimme in feinen Hals hinunterkroch und fich im Kehlkopfe feitiegte.

„Haben Gie feine Luft,“ fuhr der Fremde fort, „mich wieder einmal in meinem Lande zu befuchen?“ und als Joſephus heftig mit dem Kopf

Heinrich Steiniger: Joſephus Stiefel. 499

fchüttelte, fagte er: „Sa, ja, ich weiß, Sie haben nicht die angenehmften Erinnerungen daran. Und doch, ich denfe noch mit Vergnügen an Ihr fhönes Bauwerk zurüd. Geit Sie fort find ift es fchon zehnmal wieder aufgebaut worden und immer wieder eingefallen. Die Fundamente find zu ſchwach, da kann man einmal nicht machen.“

„Jene wunderbaren Worte auf der Infel find ſtärker als alles,“ fagte Sofephus leife, „auf fie müßte man bauen.”

„Nicht wahr?“ meinte der Grünrod, „das finde ich auch. Uber das find eigentlich gar feine richtigen Worte, darum werden fie immer überfchen.“

„Sie find mehr ald alle Worte zufammen,” fagte Iofephus. Der Fremde lächelte, ohne die Gefichtszüge zu verziehen. „Seltſam,“ fagte er, „tie alle Menfchen früher oder fpäter zu diefer Einficht fommen. Wenn ih an Ihre fehöne Nede denke, im Walde damald —“

Er ſchwieg und ſah Joſephus mit feinen ftarren, unbeweglichen Bliden an.

„Nun, jegt haben Sie ja Ihre Stimme zurüd,” fuhr er dann fort. „Da können Sie von neuem zu bauen anfangen. Meine Worte und ich ftehen immer zu Ihren Dienften.” Er lachte troden auf und war ver- ſchwunden.

Joſephus jedoch begann nicht mehr von neuem, ja bis zu ſeinem Sterben wußte niemand, daß er wieder ſprechen könne.

Als aber der nahende Tod ſeine äußeren Sinne ſchon gebrochen hatte, da war es Joſephus, als ob er wieder im Lande der Worte ſtände. Nur war das jetzt viel ausgedehnter und erſtreckte ſich über die ganze Erde. Und dieſe ſelbſt war zu einem Grundſtein für einen Bau von unendlicher Größe und Pracht geworden. Aber Grundſtein, Mauer, Säulen, Pfeiler und Dach ſchienen alle aus demſelben Materiale zu beſtehen, und als Joſephus in ihm jene wunderbaren Worte zu erkennen glaubte, die eigent- lich feine Worte find, da fagte er laut und deutlich: „Endlich!“

Die Umftehenden fahen feine verflärten Gefichtszüge, hörten, wie er in der legten Minute des Lebens die Sprache wieder erhalten hafte und meinten, es fei ein Wunder gefchehen. Einer feiner Freunde, dem er in manchen ſchweren Stunden beigeftanden hatte, verfaßte eine Beſchreibung feines Lebens, worin er darlegte, daß an diefem Wunder wohl niemand zweifeln könne.

Dies Büchlein gelangte zu großer Verbreitung, und vielleicht wäre Sofephus noch heilig gefprochen worden. Aber einmal fiel es in die Hände eine® berühmten Profeflors, der in einer langen, ungemein gelehrten AUb- handlung bewies, eine folche Wiederkehr der Sprache fei eine ziemlich häufige, oft beobachtete Begleiterfcheinung des Todes; und er gab ihr einen fo langen und fchiwierigen Namen, daß ihm alle, die einigermaßen etwas von Worten verftanden, Recht geben mußten.

CR FER PER TERFER TER ER ER ER ER FR ER FR FR FEN ER

Der Gernegroß.

Bon Emil Prinz von Schoenaih-Earolath in Hafeldorf.

Am heißen Feldweg hebt fi ftill Aus Neffeln und Köonigskerzen Marias Bild, die fegnen will Mit fieben Schwertern im Herzen.

Ein Wanderburfche des Weges 309, Lehr beten mich, o Marie. Sein Bündel in das KRornfeld flog, Er felber ſank in die Knie.

Ich habe nicht Vater noch Mutter mehr, Nur Liebehen, die mein vergaßen,

Mir fteht der Säckel kupferleer

Und vor mir ftäuben. die Straßen.

Ich bin ein Bruder Tunichtgut,

Zum Schnapphahn wie geſchaffen;

Im römifchen Reiche vol Rauch und Blut Möcht eines Hauptmannd Federhut

Ich bittergern erraffen.

Der Galgen ift dein fichres Ziel, Meisfagten mir die Bafen.

Maria, gib, daß der Galgen viel Mir nachfehn mit langen Nafen.

Der Schlachtwind bläht die Fahnen auf,

Die Rottenfalven rollen,

Die Trommler fchlagen geh dran geh drauf, Manch Krönlein wankt auf Kipp und Knauf; Möcht eines mir fallen wollen.

Ich ritte heim zur DVaterftadt

Ich lobte, Maria, dein Wunder,

Ich ſchöre den Bafen die Scheitel glatt, Ich machte viel arme Hälfe fatt

Mit Hirfchfleifh und Burgunder,

Emil Prinz von Schönaich-Carolath: Der Gernegroß. 501

Ich bin ein armer Gernegroß, D Jungfrau, wirf gefchwinde Ein bligend Sternlein aus deinem Schoß, Daß ich groß Wegglücd finde.

Maria fpricht im Sonnenbrand: Bitt, daß am legten Wege

Der Heiland dermaleinft die Hand Aufs Haupt dir, tröftend, lege.

CRFERFTERFER ER FR FR ER ER TER FR ER ER ER ER ER FR

Emil Lug. Bon Zofef Auguft Beringer in Mannheim.

Zede Zeit prägt Worte, die den in ihr lebenden und wirkenden An- fhauungen erfehöpfenden Ausdrud geben follen. An folchen Schlagworten mißt man am beften die ſich wandelnden Anfchauungen und Auffaflungen von den Dingen in und um und. Zur Zeit Goethes wurde in den Ateliers der inhaltliche und künftlerifche Wert eines Gemäldes nach feiner Haltung beurteilt. Heute fprechen wir faft ausfchließlich von der Stimmung eines malerifchen Werkes und bezeichnen damit im allgemeinen feine Wirfungs- fähigkeit. Nichts iſt bezeichnender für die Auffaffung von der Runft als der Wandel und Begriff diefer zwei Worte. Die literarifhe Romantik bat die Umwandlung des klaſſiſchen Begriffes in unfere heutige Anfchauung eingeleitet und bewirkt. Das heutige malerifche Können hat den Stimmung$- gehalt eines Werkes vielfach zu höchfter Eindringlichkeit und zu einem wefent- lichen Kriterium feines Kunſt und Marktwertes erhoben. Wir ftehen vor fünftlerifchen Äußerungen, die twir faft mehr auf ihren Gemütgeindrud als auf ihre formal-fünftlerifchen und technifch einwandfreien Eigenfchaften hin werten.

Namentlich gilt dies von der Landfchaftsmalerei. Als Schwind an- fing, die Poefie der Natur, den deutfchen Wald, Felsfchluchten, Quellgründe, Baum und Bufch in feine malerifche Sprache umzudichten, war lange ed nur Wenigen vergönnt, feine leife, liedhafte Poefie zu verftehen. Das innig beutfche Element der Landfchaftspoefie, für das Goethe einft die tiefften Töne gefunden hatte, wurde von der gemalten Hiftorie und Anek dote, von der glänzenden füdländifchen ober erotifchen Vedute, von ftilifierten Linien- und Farbentompofitionen erftidt. Die ftille, feine Landſchaftskunſt führte einen zähen unerbittlihen Kampf gegen die Gewalt und den Erfolg der GStiliften und KRlaffiziften. Des trefflichen Landfchafters Schirmer ganzes Lebenswerk verfuchte für die befeelte Landfchaft Boden zu gewinnen. Er felbft allerdings hat das erfchöpfende Wort in der Landfchaft nicht gefunden,

502 Joſef Auguft Beringer: Emil Lugo.

aber er hat durch den Ernſt und die Strenge feiner Kunſtübung und durch die innerliche Gefchloffenheit feines Weſens doch den Sieg der Stimmungs$- landfchaft anbahnen und erringen helfen.

In feinen drei größten Schülern ift jede Seite feines Runftfchaffens zur Vollendung gediehen. In Böcklins und Thomas Kunft find, außer: halb jedes Streites um Rivalität, Gipfelpunfte erreicht. Jeder von ihnen drückt, weil er eine vollwichtige Perfönlichkeit ift, nicht bloß nur fein Innerftes, fondern auch eine Weltanfchauung in feiner Kunſt aus. Bei ihnen erhebt fi) der Stimmungsausdrud im Landfchaftlichen zu einem Hymnus auf die der Natur innewohnende Kraft und Herrlichkeit, zarte Innigfeit und er- greifende Schönheit. ©. E. Leffings Runftanfchauung hatte einft in der Land- fchaftsdarftellung eine feelenlofe Runft gefehen. Dur Böclins und Thomas Kunft geht der Zug feurigen pantheiftifchen Bekennens.

Neben diefem dionyfifchen Zweig aus der Schirmerfchen Zucht und Lehre entwidelte fi) aber auch ein apollinifcher Sproß. Er geht weniger darauf hinaus, die aus der Natur gewonnenen Gefühlseindrücke wieder- zugeben und zu erweden, ald vielmehr fie zu läutern, zu ffeigern, aus ben gedämpften Tönen der Gemütsakzente zu Harer Harmonie, aus dem Un— bewußten zum Bemußten zu fommen. Das Erhebende im Gegenfag zum Ergreifenden, das Erhabene im Gegenfag zum Innigen ift das Gebiet diefer Kunft. Je mehr in der gefamten zeitgenöffifchen Kunft das dionpfifche Element betont und bevorzugt wurde, umfomehr wurden die Schöpfer von Kunſtwerken apollinifchen Charakters auf einen engeren Kreis von Freunden und Liebhabern hingedrängt. Umſomehr aber auch wurden fie zu einer ftrengen Durchbildung ihres Ideals, einer vornehmen und großen Haltung ihrer Werke, getrieben. Von feinem gilt die mehr, ald von Emil Lugo. Als diefer Rünftler vor drei Jahren ftarb, fand fi über ihn faum eine Notiz in den KRunftzeitfchriften. Heute gelten feine Werte unter den mit feiner Runft Belannten für Roftbarkeiten. Ganz befonders find fie von den Künftlern felbft gefchägt.

Emil Lugo ift am 26. Juni 1840 in Stockach in der Bodenfeegegend als Sohn eines Juriften geboren. Seine Jugend hat er aber, wie Anſelm Feuerbah, in Freiburg i. B. verlebt, wo fein Vater als Hofgerichtsrat beamtet war. Die abwechslungsreiche Umgebung Freiburgs, der liebliche Breisgau, die ernfte Schönheit des Schwarzwaldes, die lachenden und die düfteren Talfchluchten, herrliche Wälder und romantifche Felspartien erregten in dem gewedten Knaben fchon frühe den Sinn für die Schönheit der Natur. Der enge Heinbürgerliche Geift in der Provinzftadt, die heftigen politifchen Erfchütterungen der vierziger, die leidenfchaftlichen Firchlichen Kämpfe der fünfziger Jahre, die alle mit ihrem Wellenfchlag bis in das Lugofche Haus drangen, beeinflußten feine Jugend und Geiftesentwiclung in bemerkbarer Weife. Nur die im Haufe ernfthaft gepflegte Haffifche Mufit und eine von früher Kindheit an forgfältig und eifrig geübte Ausbildung im Zeichnen und Malen bereicherten und erfüllten das bewegte Innenleben des fich faſt ſcheu zurüdthaltenden Rnaben, deflen zarte Gefundheit unter den autorita- tiven Anforderungen des Gymnafialunterricht3 ſchwankte. Dem Drang und

Joſef Auguft Beringer: Emil Lugo. 503

der Luft zur Malerei konnte in Freiburg nicht vollauf genügt werden. So kam Emil Lugo, nachdem der ftandesftolze väterliche Widerftand überwunden war, 1856 an die unter dem damaligen Prinz-Regenten Friedrich neuer: richtete Runftfchule in Karlsruhe zu 3. W. Schirmer.

Die nach den Revolutiongjahren in Baden allmächtige Bureaufratie brachte den wohlmwollenden Abfichten des auch der Kunſt hold gefinnten Landesfürften wenig Verftändnis und Mitwirkung entgegen. Gie hat durch polizeiliche Eingriffe in den Betrieb der Runftfchule das anfänglich freund- lihe Verhältnis zwifchen Lehrer und Lernenden getrübt und die faum auf: blühende Kunſtſchule entwölfert. Lugo, dem es von der erften Stunde an bitter ernft um die Kunft und die Erfaffung ihres Wefens zu tun war, hat an den zwifchen dem Bezirksamt und der Runftfchule ausgebrochenen Diffe- renzen feinen QUnteil genommen. Uber die Berhältniffe waren ihm fo un- erquidlich, daß er anfangs der fechziger Jahre wieder ganz nach Freiburg überfiedelte und bier nun feine GSelbfterziehung zur Runft mit allem Ernft und Eifer betrieb. Die Studienblätter aus diefer Zeit laffen erkennen, wie rafch ſich Lugo von dem Schirmerfchen Einfluß frei zu machen und zu eigener Ausdrudsweife zu kommen fuchte: Aus der Schirmerfchen Vielheit zu größter Einfachheit, aus ftimmungsvollen Wirkungen zu einfacher Größe. Die Naturfzene, die bei Schirmer ein Widerhall eines meift heiligen Ge- fchehniffes wird, ift bei Lugo durch Wahl und Behandlung des Motives das Echo eines feelifchen Zuftandes. Diefe Blätter find Zeugniffe eines Künftlercharafters, der mit den Elementen der Naturanfchauung einen neuen Naturtyp Schafft. Schon jest bleibt Lugo nicht an der Naturvorlage fHavifch Heben. Die ftrenge Zucht, mit der er fich müht, über die Zufalls- erfcheinung hinaus zu einer höhern organischen Natureinheit zu kommen, aus den einzelnen Tönen der Eindrüde einen feftgefügten Rhythmus und eine reine Harmonie zu geftalten, drängte Lugo auf Erweiterung des Gefichts- und Erfahrungsfeldes, zumal die Freiburger Runftverhältniffe von unerträg- licher Engigfeit waren.

Für einen fo ftrengen, allem Naturalismus abholden KRünftler, wie Lugo, gab es damals in Deutfchland nur einen Meifter, deffen lebendiges Wort von wirklihem Wert fein konnte: Fr. Preller, der Ueltere. Ueber München, wo ſich Lugo an der Haren und feierlichen Kunſt der altdeutfchen Meifter erquidte, ging er 1869 nach Dresden zu einem dreimonatlichen Studium. Er war ein oft und gerne gefehener Gaft im Haufe des jüngeren DPreller, fandte Zeichnungen und Studien an den älteren Preller nach Weimar, befuchte diefen auch felbft und fnüpfte wertvolle Beziehungen zur Familie des Mufiterd und Thomaskantors M. Hauptmann in Leipzig an. Wieviel der junge werdende und der alte gereifte Meifter einander zu fagen und zu geben hatten, davon zeugen die noch erhaltenen Briefe des älteren Preller an Lugo. Zu Preller, dem großen Gtilijten, 309 ed unferen Lugo bin, weil er wie Preller im KRunftwerf eine Erhebung über die gemeine ‚Wirklichkeit erreichen wollte. Preller liebte den jungen Süddeutfchen wegen feines ernften Strebens und der malerifchen Kraft feines Könnens. Lugo erfannte in den in jenen Jahren auftauchenden künſtleriſchen Richtungen nur mehr Erfcheinungen der „Mode“, die einen Niedergang in der Kunſt

504 Fofef Auguft Beringer: Emil Lugo.

einleiteten. Ihm war es ernftlichjt darum zu fun, da zum Kern veorzu- dringen, wo der Naturalismus und ähnliche Moderichtungen nur am ober- flächlichen Schein hängen blieben. In diefem Sinne fchreibt er einmal: „Wie der religiöfe Menjch von der Erde frei werden muß, um zum klaren Leben in Gott zu fommen, fo muß der Runftmenfch frei fich machen von der Natur, um die Kunft und ihr Wefen fehauen und faflen zu fünnen.“

Die Zeitumftände, die Runftverhältniffe, die nach dem großen Krieg für einen ftrengen Künftler und einen ausjchließlichen Landfchafter wenig erquiclich geworden waren, drängten von neuem auf eine Aenderung des Lebens hin. Künftlerifche Aufträge von feiten des rufjifchen Hofes und daraufhin erfolgte Begünftigungen von feiten der heimatlichen Negierung ermöglichten einen längern Aufenthalt in Italien. Das ewige Rom und feine Umgebungen, die Haffifchen Gefilde um Neapel ließen die Ideale Lugos zu voller Reife gedeihen. Im gleichen Sinne wie der ftrenge Figuralftilift Feuerbach, der fich damals auch in Rom aufhielt, empfand Lugo die römiſche Welt, die ſich vor ihm auftat, als ein großes „Entweder Ober“; aber auch als den Weg zu dem, was der Künftler fein fann und fol. „Alles jagt: Sei es!“

Mit der römifchen Zeit enden die Lehr- und Wanderjahre Lugos Er hat dort im Verkehr mit F. Dreber und H. Ludwig fich die legten Möglichkeiten feiner Kunſt erfchloffen. Mit meifterlicher Reife verfügt er von jest an über die fechnifchen und Fünftlerifchen VBorbedingungen einer großzügigen und vornehmen Landfchaftskunft. Die Heimat Freiburg fieht von 1874 bis 1887 ein emfiges Schaffen, das fich auf die Ausarbeitung römifcher und auf eine Fülle heimatlicher Motive erftredtt. Je mehr feine Kunft zum ganz perfönlichen Ausdrud feines Wefens, zu feinem Stil wird, umfo mehr vereinfamt er aber auch. Eine wahre Tragödie von Erfolg: Lofigkeit tritt in diefer Zeit des immer kühner fich vordrängenden Natura: lismus, des illuftrativen Gefchichtsbildes und der mehr oder minder wigigen Genremalerei ein. Diefelbe Zeit, die (Feuerbach in Venedig fterben, Böcklin in der Fremde feine Mythen dichten, Thoma in der Frankfurter Einfam- feit fein herrliches Werk fchaffen fieht, hat auch fein Verhältnis zu einer nach Inhalt und Darftellungsmittel gleich ernften und reinen Runft wie die Lugos es ift. Ein Heiner Kreis von Freunden und namentlich das gaftliche Haus des Dichters W. Jenſen umgibt ihn mit Wärme und Ermunterung. Brüder: liche Liebe hat ihm das Schaffen in einem eigenen Atelierhaus erleichtert. Eine legte und in künftlerifhem Sinne glüclichfte Zeit beginnt mit der LUeberfiedlung Lugos nah München 1886. Die kryſtallklare Kunſt der alten Meifter, „die fich (in der alten Pinakothek) fo feierlich miteinander unterhalten“, ihre farbige Kraft und feelifche Tiefe, ihr Tiebevolles Erfaflen und Darftellen Eeinfter Einzelheiten, ihre technifche Meifterfchaft, ihre Natürlichteit und ihre organifch geftalteten Kunftwerke: Diefe ung auch heute noch anfprechenden und vorbildlichen Qualitäten beftärfen Lugo in feinem fünftlerifehen Tun. Die „freie und weite Landſchaft“ des Chiem- gaus, wo die Alpenwelt mit der Ebene fich verfchwiftert, gibt neue An- regungen. Mit der Freiheit und Gicherheit wahrer Meifterfchaft bildet er jene formal und inhaltlich ausgereiften Schöpfungen, die in ihrer feier-

Zofef Auguft Beringer: Emil Lugo. 505

lichen Klarheit wie die beften alten Meifter zu ung fprechen und doch von feinftem Gefühl für Rhythmus in den Maffen und Linien und von zartefter Empfindung für Farbe und Stimmung find. Ein vollendetes, altmeifter- liches Können und eine modern fenfible Auffaffung des Organifchen einer Naturerfcheinung und des daraus entjtehenden Kunſtwerkes durchdringen fich zu jener glücklichen Harmonie, die wir nicht nur als dionyfifch gefühlt, fondern als apollinifch gefchaut und gelebt empfinden. Lugo ftarb am 4. Juni 1902,

Don dem Wefen der Runft Emil Lugos ift nicht leicht zu fprechen, zumal nicht in einer Zeit, der Begriff und PVorftellung eines künftlerifchen Organismus vielfach faft abhanden gekommen ift, der faft nur noch raffinierte Sinne und Handfertigkeit heilig find und die vom ordnenden und zeugenden Geift des Künftlers ala von etwas Verdächtigen, zur Kunft Ungattigem fpricht.

Nachdem der Nationalismus der Gefchichtd- und Anekdotenmalerei und der Materialismus geiftlofer Naturnachbildung fich bis zur Leere erfchöpft hatten, wandte fich der Runftenthufiasmus, dem Gefeg der ertremen Po— larität folgend, geheimnisvolleren Welten zu. Die Malerpoeten eröffneten mit ihren Naturumdichtungen Ausblide in neue mythologifche Vorftellungen und Empfindungen. Wo man früher zu fehr nur an äfthetifche Negeln und technifche Virtuofität appelliert hatte, wandte man fich jest faft ausfchließ- lih an das Gefühl. Die tieferen Zufammenhänge zwifchen Kunſtwerk und Runftwirtung, zwifchen GSinneneindruf und Gefühlserregung, zwifchen Phyſis und Pfyche wurden erörtert und gangbar zu machen verfucht. In der (Freude über die Entdedung neuer Welten befam jest das „Poetifche“ im Gegenfag zum Gegenftändlichen von ehedem den Vorrang. „Stimmung“ wurde das Lofungswort, nicht nur in der Malerei. Man vergaß darüber vielfach fo fehr alle formalen VBorbedingungen bildnerifcher Runft, daß man vom Poetifchen zum Symbolifchen, von Stimmung zu Stimulantien fchritt. In diefen Strömungen und Wandlungen konnte ein Künftler, der fich gleich- weit vom Naturalismus wie vom Symbolismus entfernt hielt und fich auf der fchmalen Linie ftreng fünftlerifcher Geftaltung bewegte, nur mit Ent- fagung auf äußeren Erfolg fich behaupten. Lugo hat feit feinen erjten Studien vor der Natur einen heiligen Refpekt gehabt. In der Verfenkung in die Natur fah er des Künftlers erfte, aber nicht die legte Aufgabe. KRunftwahrheit hielt er für die böchfte, Naturwirflichleit für die nieberfte Stufe der Runft. Er fpricht es in einem Briefe geradezu aus: „Natur ift nicht der Endzwed, fie ift die Dienerin der Kunſt.“ Die Wahrheit des Kunſtwerkes ſah er nicht in der Wahrheit der Natur, fondern in der ftrengen Durchbildung der künftlerifchen Idee. Imnerlich lebendig follte die Natur werden, dann konnte für ihre Idee die rechte Form und zu dieſer die vechte Farbe gefunden werden. Daher war für Lugo der Sehprozeß nicht nur ein Perzipieren, fondern ein Schauen, nicht nur der Einzelformen, fondern des individuellen Charakters jedes Naturdinges. Es war ein höchftes Genießen von mannigfaltigem Reichtum und ein Zufammendrängen besfelben auf große Einfachheiten. Hundertemal mochte er die Verzwei gung, die Blattwedel einer Buche zeichnen, bis ind Kleinfte hinein die

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Form und das Wachstum des Stammes nachbilden, bis er dann den all gemeingültigen Typus Buche als Gattung und Art Durchgefühlt und gelebt hatte, jo daß er im Bild ein nach Standort und Belichtung determiniertes, organisch Einleuchtendes, Selbftverftändliches und Notwendiges geben konnte. Man möge einmal an feinen föftlichen Lithographien und an feinen fpäteren Delbildern den Baumfchlag in diefem Sinne durchprüfen. Man möge einmal auf Form und Glanz der Wolfenbildungen je nach Sahres- und Tageszeit achten, um zu erfennen, wie typifch jedes diefer Elemente wirkt und für den verfetteten Gefamtorganismus des ganzen Werkes Zeugenjchaft gibt. Der Künftler Lugo wußte wohl alle Zeit, daß er die Runft aus de Natur herausreißen und daß er die Summe der Erfcheinungsformen in der Natur geben müfje, wenn er eine Vorftellung vom Wefen der Natur er zielen wolle. Kunſt war für ihn alfo nicht AUbftraftion von der Natur, fondern Verdichtung, formgewordener Geift der Natur.

Hätte Lugo zu wählen gehabt zwifchen Stimmungsbildern oder Form: darftellungen, er würde das leftere vorgezogen haben. Künftler fein bie für ihn Bilder fein. Mit der hohen Befriedigung, mit der man einen Organismus ald Notwendigkeit erkennt, genießt man Lugos Kunft. Aller Kampf und Streit des Lebens, alle Unraft und Qual des Schaffens und Geftaltens ift überwunden und ausgetilgt. Heitere, erhabene Ruhe, apoll- nifche Rlarheit des Fühlens und Willens, wie in Dürers und Beethovens Kunft, fpricht fich in diefen Werfen aus.

Die fünftlerifchen Darftellungsmittel waren für Lugo vom Anfang feiner Runftbemühungen an eine ernfte und heilige Sache. Bis in feine legten Jahre mühte er fi) um ihre Brauchbarkeit und Gunft. Im Bezug auf malerifche Technif wurde dem jungen Runftfchüler weder gediegenes Wiffen, noch ficheres Können mitgegeben. Die Farben feiner frühern Del bilder find entweder ſchwer oder naturaliftifch. Die Umſetzung der farbigen Eindrücde in eine lichtvolle Harmonie und belifat abgeftufte Skala beginnt aber nach feinem Dresdener und italienifchen Aufenthalt fich rafch zu voll ziehen. 9. Ludwigs Anregung und technifche Erfindungen, die ihm dad Tempo des Malvorgangs in die Hand gaben, ohne das Aufgeben der Formbildung zu verlangen, erleichterten ihm den Weg zu feiner perfönlichen Aussprache, zu feinem Stil. Mit den technifchen Vorteilen, die Ludwigs Farben und? Malmittel boten, konnte Lugo gleichermaßen feinem Former: drang und feinem (Farbenempfinden genügen. Wenn Lugo in feinen frühen Werken mit der fchwerfälligen „Delquatfcherei” mehr auf die Beherrichung der Mailen, auf Verteilung von Hell und Dunkel und auf die Führung der Linien fein Hauptgewicht gelegt hatte, fo freute er fich in den Werten feiner legten Periode an jedem Grashalm und jeder Kletten- oder Wol: blumenftaude, die er bis ind Einzelne genau durchbilden kann. Es ift be merfenswert, daß fich feit dem römifchen Aufenthalt Lugos Bildraum vertieft, daß feine Darftellungen umfaffender werden und daß mit ber räumlichen Durchbildung auch das „strenge verliebte Detail nach der Natur“ in den DVordergründen immer reicher und häufiger zur Anwendung fommt. Das farbige Können Lugos hatte einft Prellers rüdhaltlofes Lob hervor gerufen. Die an gewiffe feftjtehende Farbengebungen gewöhnte Kunſtkritil

Zofef Auguft Beringer: Emil Lugo. 507

hatte zu gleicher Zeit aber u. a. auch feinen grünen Zinnober zu giftig gefunden. Mit volllommener Ruhe ſchreibt Lugo an eine funftverftändige Freundin: „Ich verglich den jegt herrſchenden Ton der fogenannten „hifto- rifchen Landfchaft“ und fand ihn mit Ausnahme der beften Bilder unferer Beften ftereotyp violettblau und all meiner Natur und KRunftempfindung zumiderlaufend; ich fühlte auch, daß ich das, was mir fehle, nicht in der Natur, fondern in einem der Zeit unterworfenen, allgemein herrfchenden Runftanfchauen finden müſſe; kurz, ich fand am Berg. Ob die Farbe feuchtender oder matter ift, das Verhältnis bleibt das gleiche, es liegt nicht am Zinnober, den ich nicht brauche und liegt nicht an der Erdfarbe, .. es liegt an meinem Ginn, ob er fein und feiner empfinden lerne. Ich muß alfo tiefer, mächtiger, größer, ganzer empfinden lernen, ich muß einen feelifchen Fortfchritt machen, dann hoffe ich das mehr zur Befriedigung des vollen- deten Runftfinnes bervorzubringen, was ich bisher mit noch verfchloffenen Sinnen zu ertaften ſuche.“ Mit andern Worten: Im KRunftwerf ift alles relativ. Der große Künftler muß auch eine bedeutende Perfönlichkeit fein; die gefunden oder fcharfen Sinne allein tun es nicht. Lugos Trachten ging nach ruhiger milder Klangwirfung, um die Hoheit der Natur auszudrüden. In feinen reifften Werfen ift jene wundervolle Harmonie vollfommen er- reiht. Sei es, daß er eine Landfchaft zu einer beftimmten Jahreszeit wie 3. B. in „Sommertag“, „blühendes Gras“, „herbftliche Heide“, „Föhnklar“, ſei e8, daß er eine allgemeinere Idee, wie „Melancholie, „Weltfern“, „DBergänglichkeit”, fei es, daß er eine topograpbifch determinierte Dert- lichfeit wie „Loretto“, „Freiburg“, „Schluchtfee” oder „Römifche Billa” zum Ausdrucke bringen will: Man fieht diefe Bilder und vergißt fie nie wieder, jo eindringlich charafteriftifch ift ihre Haltung in Zeichnung und Farbe. Mit den einfachften Mitteln eine beftimmte und nachhaltige Wirkung zu erzielen, das ift die Kunſt Lugos.

Daher greift er noch in feinen legten Lebensjahren zur Lithographie. Die breite zeichnerifche Art ermöglicht ihm die fichere Darftellung und Qurhbildung der Formen und mittelft des Tondrudes erreicht er volle Bildwirkung. Blätter wie „am Gartentor”, „am Chiemfee”, „Rampagna- landichaft“ u. a. werden immer zu hervorragenden fünftlerifchen Leiftungen auf diefem Gebiete gehören.

Die Konzentration auf die Beftimmtheit in der Form, die harmonifche Farbengebung, die innere Wahrhaftigkeit, die weder ein Liebäugeln mit der Sentimentalität, noch mit der Virtuofität kennt; die Vermeidung aller tech- nifchen und inhaltlichen Raffinements, die befchauliche Einfachheit: fie geben Lugos Schöpfungen die feierliche Haltung, den lautern unbeftechlichen Charakter und eine weltbürgerliche Größe, wie fehr faft ausjchließlich diefer Künſtler auch nur aus dem Winkel feiner füddeutfchen Heimat dem Breisgau, dem Schwarzwald und dem Chiemgau heraus gefprochen haben mag. Sein Schaffen gründete fi auf große Gefinnungen. Daher fonnte er wieder große Empfindungen weden. Geine Kunft hat daher etwas Befreiendes.

Die vornehme Gefchloffenheit des Lugofchen Kunſtwerkes, die wie jede große und felbftändige Runft erobert fein will, bat fich mit der Zeit

508 Sofef Auguft Beringer: Emil Lugo.

einen treuen Kreis warmberziger Freunde und Bewunderer erworben. Nach Jahren der Vereinfamung konnte Lugo am Ende feines Lebens mit Genug- tuung auf den fich ſtetig erweiternden Kreis von Rennern feiner edlen Kunſt fhauen. Große öffentlihe Galerien Deutſchlands Berlin, Dresden, Wiesbaden, München, Darmftadt, Rarlsruhe zählen Werke feiner Hand zu den Schägen ihres Beſitzes. In Privatfammlungen find feine Werke über ganz Europa zerftreut. Einige der trefflichiten Stüde gingen nach Amerika. Nur die eigentliche Heimat feines Lebens und feiner Runft verfchloß ſich ihm: Freiburg i. B. feine Erbin. Laut teftamentarifcher Beſtimmung follte ein näher bezeichneter Teil des Lugofchen Nachlaffes der Stadt Frei- burg zufallen. Dem Künftler war noch zu Lebzeiten die Zuficherung ge geben worden, fein Legat werde vollftändig, würdig und „fuftematifch ge— ordnet“ ausgeftellt werden. Der Künftler ftarb im Bewußtſein, daß fein Vermächtnis ald Ganzes öffentlich und allgemein feinen ehemaligen Mit: bürgern und allen Runftfreunden zugänglich fein werde. Die Verſprechungen bei den warmen Dankfagungen der Stadt Freiburg find jest, zwei Sabre nach dem Antritt des Legates, noch nicht erfüllt. Wohl bat die Stadt Freiburg nach Antritt des aus freien Stüden namhaft erweiterten Legates es befteht jegt aus etwa 25 Olbildern, Skizzen, Kartons, Aquarellen, Federzeichnungen einen Teil diefer Zuwendung nebſt Bildern aus Privat: befig einige Zeit ausgeftellt, dann aber verfchwand das Legat in den Dad zimmern eines ehemaligen Klofters. Test iſt etwa die Hälfte des Legates in der Turnhalle einer Volksſchule unter andern Bildern zerftreut untergebracht. Die Turnhalle gilt als feucht. Der bedeutende wertvolle Reftteil ift „maga- zintert“ und unzugänglich. Alles die sub signo fommunale Runftpflege.

Mündliche Vorftellungen in diefer Sache waren erfolglos. Es fiel das freundliche und fröftliche Wort: „Das Legat ift jegt unfere Sache; wir haben darüber zu beftimmen“. Eine unterm 9, März d. 38. von Freunden Lugos und feiner Kunſt dem Stadtrat unterbreitete Eingabe um Erfüllung der ein: gegangenen Verpflichtungen und um Abhilfe in dieſer die ganze deutfche Runftwelt angehenden Sache, erfuhr nah Monaten endlich eine Antwort, die mit den Tatfachen in fchneidendem Widerfpruch fich befindet. Es ift fo: in Freiburg macht man mit dem Legat, nachdem man es hat, was man will.

Statt einer weiteren Erörterung diefes Verhaltens feien lediglich Die Worte Hans Thomas bergefegt, mit denen die erwähnte Eingabe an den Stadtrat u. a. auch unterftügt wurde. Gie lauten:

„Den bier an den verehrlichen Stadtrat der Stadt Freiburg i. B. gerichteten Wünfchen der Freunde Lugos fchließe ich mich gerne an, fehon deshalb, weil ich wohl einer der älteften Freunde und Gtubiengenoffen Lugos war, und weil ich der Meinung bin, daß der Verftorbene nicht nur einer der bebeutendften Künftler feiner engeren Heimat, fondern auch bes gefamten deutfchen Vaterlandes gewefen ift, und daß der Schag feiner nachgelafjenen Werke im beften Sinne erzieheriſch auch auf die beran- wacjende Runftjugend einwirken könnte. Woraus die Nachwelt die Ber: pflichtung hat, dies Lebenswerk des Künftlers der allgemeinen Deffentlichkeit fo viel wie möglich und fo bald wie möglich zugänglich zu machen.“

CR ER ER FH FR ER EEE ET ER FER FER ER ER

Briefe Zuftinus- Kerners über magiſche Gegenitände.

Mitgeteilt von Ludwig Geiger in Berlin.

Die Tübinger Univerfitätsbibliothef verwahrt feit einiger Zeit eine Samm- lung von Briefen und Gedichten Juftinus Kerner an den DOberamtmann Ernft Guftav Gottlob Rümelin (geboren am 20. März 1785) und deffen Gattin Hen- riette, geb. Dreiß, als ein Gefchent von deren Enkel, Profeffor Dr. Mar Rümelin. As ich in den Zeitungen davon las, wandte ich mich an die Verwaltung der Bibliothek und erhielt fofort die Aktenſtücke zur Benügung nach Berlin gefchict. Es find im ganzen 87 Nummern, 51 datierte Briefe an Herrn und Frau Riümelin vom 16. März 1834 bis 2. März 1862, 32 undatierte Briefe und Gedichte desfelben an diefelben, ferner 3 Briefe von Emma von Sudow an Kerner und ein Brief Theobalds an feinen Vater. Aus der Rerner-Literatur wußte man von Beziehungen Kerners zu Rümelin wenig. In der gedrudten Brieffammlung wird Rümelind Name nur einmal erwähnt. In dem „Lesten Blütenftrauß“ findet fih (S. 111 fg.) ein Gedicht „Zum Jubelfefte meines Freundes, des DOberjuftizrats Rümelin“ und (S. 113 fg.) Verſe auf den Tod des Genannten am 18. Ianuar 1850, Gedichte, in denen des Freundes Verdienſte gepriefen werden und Kerners Trauer um ihn zu innigem Ausdrude gelangt. Aus einem ungedrudten Briefe Kerners an Willibald Uleris (Weinsberg, 24. Sept. 1840), den ich vor einigen Jahren in den Sammlungen des fehwäbifchen Schillervereing einfehen durfte, bebe ich hervor, daß Kerner den jungen Rümelin, alfo den Sohn feines alten Freundes, dem jüngeren Genoffen empfiehlt.

Die Briefe find im allgemeinen Ausdrud eines freundfchaftlich nachbar- lihen Verhältniſſes. Sie enthalten Bitten um Beſuche, Ankündigungen von folchen, fprechen Dank für eine religiöfe Abhandlung der Frau Rümelin aus, geben Mitteilungen über gemeinfame Freunde, 3. B. den Grafen Ulerander von Württemberg, verfuchen einmal eine Verteidigung diefes Dichterfreundes, daß er etwa nicht bloß in der Truntenheit Rümelin feine Freundfchaft angeboten babe. Bon allgemeinem Intereffe ift aber nun, daß diefe Briefe fich auch mit den Dingen befchäftigen, denen Kerner in den legten Jahrzehnten feines Lebens eine fo außerordentlihe Aufmerkſamkeit zumendete, nämlih den Studien und Be— obachtungen aus dem Geifterreich.

Davon geben die beiden erften Briefe folgende merkwürdige Runde.

An Rümelin. Hergliebfter mein! Ich würde gewiß kommen, hätte ich nicht im Augenblicke ſowohl auswärts als felbft in meinem Haufe, fehr wichtige Kranke, von denen ich nicht fo lange kann.

510 Briefe Zuftinus Kerners über magifhe Gegenftände.

In meinem Haufe ift die dämonifche Frau von R.,') der ic alk Aufmerffamfeit wiedmen muß. Die Eslingerin, von der du fchreibft, ift nicht bier. Es ift wahr, daß fie, durch den Geift in magnetiſchen Zuftand verfegt, in den legten Tagen befragt mehrere Verordnungen machte, wovon wenigfteng eine von ganz ausgezeichneter Wirkung war. Die Leute mögen fie befchenft haben, aber gefordert hat fie nichts. Ih weiß es nicht, aber anonym kam ihr für eine gelungene Verordnung von Heilbronn ein Geſchenk von 6 großen Thalern zu, wenigſtens weih ich nicht von wem und auch fie fennt den Nahmen nicht, doch joll die Perſon bey ihr gewefen feyn. Ich hätte fehr gerne auch wegen Emmi gefragt, laſſe es aber jest bleiben. Im der nächften Woche gebt der Geift von ihr und dann habt ihr Nationaliften Ruhe.

Wer über dig Weib in eurem Heilbronn fo dumm fchimpft, ift ein Balbierersgefel Nahmens Kern (e8 ift mir nur leid, daß diefer Eſel die Hälfte meines Nahmens hat) von Ellshofen und warum weiß id wohl. Sein Vater, der Schultheiß, ein rechtliher Mann, ift über ibn fo empört, daß er ihn enterben will. Er fchrieb einen Brief a Sicherer?) deswegen. Allerdings aber ift die Eslingerin von eine Erziehung und Wefen von Haus aus, das fie nicht vor DVerführungen ſchüzt und gar leicht fünnte fie zu Betrug verführt werden. Die Heil bronner follten deswegen auch eine ſolche Perfon ruhen laffen, aber erft heute fam ein angefehener Herr von da und wollte von ihr willen, wo ein Schmuck hingekommen fei, den fein Großvater, ich weiß nicht in welchem Kriege, in Möckmühl verſteckt und nicht mehr gefunden babe. Auf diefe Art zieht man aus Menfchen von diefem Schlage Betrüger.

Was man in Blättern über mich fchreibt, war mir von jeher gleich gültig, man fehrieb immer nur Lügen über mich oder Dummheiten. In folhe Blätter fchreiben nur Efel und ich lefe fie nicht.

Kommt ficher!

Herzlich Dein treuer

Weinsb. 6. Febr. 36. Rerner.

An Rümelin. Befter!

Aus diefem Brieffragmente meines Bruders?) kannſt Du die neueftt Neuigkeit aus Weinsberg erfehen und fie ift ganz wahr: denn fie fommt ja von Heilbronn, wo man immer den Nagel auf den Kopf trifft.

Uber das ift leider wahr, daß der mahnfinnig gewefene Roller, zu dem immer eine Stimme fprach, er folle feine Frau umbringen und der,

') Zedenfalld eine der vornehmen Frauen, die längere Zeit im Kernerſchen Haufe zubrachten, um von wirklichen oder eingebildeten Leiden befreit zu werben.

2) Dh. Fr. Sicherer, der auch bei der Gefchichte der Eßlingerin eine Rolle fpielte, war Arzt in Heilbronn, der 1861 ftarb, wie aus einem der Rernerfchen Briefe an Rümelin hervorgeht. Er war mit Kerner gut befreundet und beſuchte z. B. mit ihm gemeinfhaftlich die Naturforfcher-Verfammlung in Nürnberg. ©. F. Strauß widmete dem mwaderen Mann nach feinem Tode anerfennende Gebächtniswortt (RI, Schriften Bd. 1).

’) Liegt nicht bei.

Briefe Zuftinus Kerner über magijche Gegenftände. 511

fo lange die Erfcheinung in feinem Haufe war, ganz erweft und umgefehrt war, wie er Dir ja felbit fagte, als die Erfcheinung gewichen war, auf einmal wieder die Narrheit in fich befam. Er kam vor ein paar Tagen nach Haufe und ſchrie: „nun hab’ ich den Teufel wieder hineingetrunfen.“ Holte dann (ohne alle Beranlafjung) den Wachtmeifter und verlangte von diefem, nicht nur die E8lingerin, fondern fein Weib und feine 83 Jahr alte Schwiegermutter, das die furchtbarfte Hure feye, aus dem Haufe zu treiben, fonft fchlage er fie alle zu tod. Nun ift er wieder ganz der alte Narr. Ich ließ ihm zu Ader und rieb ihm fcharfe Salbe ein, allein wenn man ihn nicht bewacht, fchlägt er noch alles zu todt.

So ift diefe Gefchichte in Wahrheit und ich fchreibe fie Dir, ehe Du fie, was übrigens bereits gefchehen feyn wird, entftellt erfährft, denn man wird nicht ermangeln, auch diefen Vorfall zu Ungunften der Eslingerin zu deuten, die ihn aber nicht im mindeften veranlaßte: denn auch jest weiß Roller in feinem Wahnfinn nichts über fie zu fagen, als daß fie eine Zauberhere wie all feine Weibsleute ſeye und dergleichen Wahnfinn.

Wegen des Bauern, der fich in Ellhofen beflagt haben foll, daß er nur einen Heinen Thaler habe, die E. aber von ihm einen großen gefordert, nahm ich eine genaue Nachforfchung vor, wobey fich ergab, daß an diefer Sache abermals nicht eine Sylbe Wahrheit ift, fie ift fo wahr wie Mayers andre Heilbronner Nachricht ... .

Weinsberg 18. Febr. 1836. Ewig Dein Antonius.

An Frau Rümelin. Verehrte Freundin!

Sie dürfen verfichert feyn, daß mich nichts abhält, in das mir fo liebe Rränzchen bey Ihnen zu kommen, als die vielen Kranken und meine immerwährende Kolik.

Wegen Emma kann ich nicht mehr fragen, da das Weib nicht hier iſt und würde auch nicht fragen: denn Sie haben keinen Glauben. Das Mittel wäre wohl nur ſympathetiſch, magiſch Sie aber glauben im Grunde an all diß doch nicht und dann nuzt es auch nichts und das Weib hat dann betrogen. Es wäre mir unbegreiflich, wie Sie von jenen Beobachtungen im Gefängniß und den Häuſern, als von einer an ſich ärmlichen Sache, die nur ich mit meiner Phantaſie (1) ausſchmückte, fprechen könnten, hätte ich nicht ſchon oft beobachtet, daß Sie von einer Sache, die ich ihnen noch fo lange auseinanderfezte, am Ende doch fprachen, als wäre Ihnen gar nicht davon gejagt worden kurz daß Sie nie darauf hören, was andre fprechen und alfo von jener ganzen Ge- ſchichte eigentlich nichts willen, ald was Ihre Phantafie fich felbit daraus willführlich zufammenfezte. Glauben Sie nur, daß meine Phantafie viel weniger thätig ift, ald die Ihrige.

Gene Eslingerin möge feyn, wer fie wolle und betrügen und lügen und von Zuchthaus zu Zuchthaus gefchleppt werden, meine Freundin wird fie nie werden wie Gie aber ein mir willkommenes Stüd, das zu fehr merfwürdigen Beobachtungen, für die 40 Zeugen fprechen, Veran-

512 Briefe Zuftinus Rerners über magijche Gegenſtände.

laffung gab, bleibt fie mir immer und auch andern. Erſt heute fchrieb mir Schelling') aus GStuttgarbdt:

„Alle meine vielen Gefchäfte haben mich noch nie verhindert, Shren Bemühungen im Felde des Magnetismus und der Theorie der Geifter- funde Schritt vor Schritt zu folgen, wobey ich mich immer mehr überzeugt babe, daß diefe Sache unter Ihrer Bearbeitung immer mehr wifjenfchaft- lichen Boden gewinnt und dadurch der Pfychologie ein neues Feld: fich eröfnet, welches in Zukunft nicht mehr brach liegen wird.“

Sie haben mich noch nie verftanden, aber auch noch nie angehört!

Herzl. Grüße dem Rümelin und der lieben Emma

Ihr Rerner. Un Frau Rümelin.

Herzliebe Freundin!

Dur Ihr liebes ſchönes Gedicht wurde ich aufs innigfte erfreut.

Wenn ung ſehr Liebes auf dieſer Welt wird genommen, ſo geſchieht es eben, daß wir in ihr nicht unſere Seligkeit ſuchen, ſondern mit Freuden aus ihr wiedergehen ſollen. Wir werden auch noch für eine Welt reif werden, wo kein Froſt und kein Wurm unſere Blüthen mehr verdirbt. Dieſe Welt werden Sie wohl bald finden, während ich circa 500 Sabre lang ald Hund figurirt in Regionen irren muß, die ftumm und farblos find? aber ich will geduldig feyn, nach diefen 500 Sahren meiner Läuterung werde ich noch in eine anfangende Geligfeit auftauchen: Denn auch der oberfte der Teufel wird einft wieder ein Engel werden.

Berlaffen Sie mich aber in jenen 500 Jahren nicht ganz und gar; in folchen wird Ihre Freundfchaft erft auf die Probe gejezt.

Es ift übrigens gewiß, daß der Norden fich in den Süden ver- wandelt und umgelehrt, denn die Frau Schoppe?) fchrieb mir geftern, daß in ihrem ſchönen Garten zu Hamburg nicht eine Monatrofe er- frobhren, auch die Rebſtöcke ganz unverfehrt geblieben. Bey uns ift eine furchtbare Zerftörung jegt auch im Häuschen mit Pugen, Weißeln uſw.

) Arzt, Obermedizinalrat, ift der Bruder des befannteren Philofophen (im Regifter des gedrudten Briefwechfeld werden beide Brüder durcheinander geworfen). Der unfrige war ein befonderer DVerehrer ded Magnetismus, und fchon durch diefe gemeinfame Neigung mit Kerner verbunden. Er war Mitarbeiter an deſſen magifchen Zeitſchriften. Er lebte lange Zeit in Stuttgart, wo er u. a. auch Lenaus Arzt war, über deſſen Befinden er dem Dichter Mitteilungen machte. Diefer hat auf das 50jährige Jubiläum des Freundes Verſe gedichtet, Die in den „Winterblüten“ abge- druckt find.

) Amalia Schoppe geb. Weife verdient eine furze Erläuterung. Sie war eine befannte Romanfchriftftellerin, auf die neuerdings in den Hebbel betreffenden Beröffent- lihungen nachdrücklich die Aufmerkſamkeit gelenft worden ift. Sie war eine intime Freundin Kerners, an die dieſer fich während feines kurzen Aufenthaltes in Samburg innig angefchloffen hatte. In feinem poetifchen Almanach waren ihre erften Dichtungen erfchienen. Der gedrudte Briefwechfel veröffentlicht eine ganze Anzahl ihrer Briefe (im ganzen 13). Sie war am 9. Dftober 1791 geboren und ftarb am 25. September 1858. Ihre Verheiratung hatte 1811 ftattgefunden. Die frifche Sängerin aus der Zeit der Romantik wurde fpäter eine vergrämte, Durch mannigfache Leiden geplagte Frau.

Briefe Zuftinus Kerners über magifche Gegenftände. 513

Das geht aber bald vorüber und ich hoffe Sie mit dem Allerbeften bald bey und zu ſehn.

Mit innigfter Liebe und Verehrung Weinsberg 2. M. 1837. Ihr Rerner.

Die Eplingerin, die in den beiden erften Briefen eine fo große Rolle fpielt, wird in Kerners Buch „Erfcheinungen aus dem Nachtgebiete der Natur durch eine Reihe von Zeugen gerichtlich betätigt, und den Naturforfcyern zum Bedenken mitgeteilt“, Stuttgart und Tübingen 1836 ausführlich behandelt.

Es ijt Elifabetba Ehlinger aus Baurenlautern, geboren etiva 1797, damals Witwe. Sie war im Weinsberger Gefängnis inhaftiert. Sie behauptete, feit Anfang September 1835 käme jede Nacht gegen 11 Uhr, manchmal auch mehr- mals in der Nacht, ein weißer Geift in einem faltigen Rod mit Gürtel zu ihr. Es fei ein katholifcher Geiftliher Unton, der 1414 in Wimmenthal gelebt, feine Brüder in einer Vermögensangelegenheit betrogen babe; er verlange von ihr, daß fie in Wimmenthal mit ihm bete, um ihn zu erlöfen. Er babe an ihrem Halfe geweint, fo daß fich dort Flecken gezeigt haben; manchmal fei er mit einem furchtbaren Hunde, feinem Vater, gelommen, der auch von anderen Gefangenen gefehen, gehört und gefühlt worden fei. Gie ift fonft volllommen gejund, be— bauptet aber nur, von früher Zeit an Geifter gefehen zu haben. Zumeijt bat fie mit dem Geift nur Gefpräche, die fein Geelenbeil betreffen, einmal jedoch ver- fündet er bei dem gleich zu nennenden Herrn Heyd Trauer und wirklich ftirbt deffen Kind unvermutet an einem der folgenden Tage. Kerner berichtet indeffen nicht nur die Ausſagen diefer Seherin, die fich fehr ausführlich über Erfcheinung, Geſpräche des Geiftes und die mannigfachen von ihm herrührenden Bewegungen äußert, fondern auch viele Mitteilungen Anderer. Bei Erwähnung der folgenden Bekräftigungen muß angemerkt werden, daß die ins Detail gehenden Befchreibungen, das Gehen der Perfon, das Hören feiner Worte, die Berührung durch feine Hände oder andere Teile feines Körpers von feinem Zeugen beftätigt werden. Trogdem find die folgenden Zeugniffe wunderbar genug. Ich gebe fie ohne jede Mebenbemertung und Kritik. Ich gehöre zu denen, die alle folche Erfcheinungen als Halluzinationen betrachten und die hartnädig jedes Herüberragen der foge- nannten Geifter in die körperliche Welt leugnen. Gbenfowenig aber bin ich imftande, den guten Glauben aller der gleich zu nennenden Perſonen volllommen zu bezweifeln und fie insgefamt ald Betrüger oder ald Betrogene binzuftellen. Denn es handelt fich nicht bloß um armfelige Menfchen, ungebildete Weiber und Männer; e8 handelt fich auch nicht bloß um Kerner, der feit der „Seherin von Prevorft” jo ziemlich alles glaubte, um feine Frau und auch feinen Sohn, die entiweder dem guten Alten zuliebe oder angeftedt durch feine Gläubigteit feine Gefinnungsgenoffen geworden waren, fondern es bandelt fih um eine große Anzahl unintereffierter, d. b. nicht im Banne Kerners ftehender Menfchen, ja auch folcher, welche bereit waren, feine Leichtgläubigteit zu befpötteln, oder einen Betrug, felbft einen Unfug aufzudeden.

Zunächſt werden die meift durch Pfarrer aufgenommenen Zeugniffe von 5 weiblihen Mitgefangenen mitgeteilt, die entweder geradezu bejtätigen, einen Geift gejehen oder zum mindeften bezeugen, eine Helligkeit erblidt, Klopfen, Knattern, Rnallen gehört, ja, fogar eine leichte Berührung empfunden zu haben. Eine der Mitgefangenen gejteht jogar, daß fie eine Empfindung von Anhauchen und Geufzern gefpürt habe. Die Gerichtsdienerin, die viele Nächte im Gefäng- nis zubrachte, fiebt wenigftens einen weißen Schatten und hört eine hohle Stimme,

Süddeutihe Monatshefte. 11, 12. 33

514 Briefe Juftinus Kerners über magifche Gegenftände.

Der Dberamtsrichter Heyd, der ſich mehrere Nächte einjchließen läßt, befennt „befondere Töne“ zu hören und „einen lichten Schatten“ zu ſehen. Auch ein: Anzahl männlicher Gefangener, die in einer entfernt liegenden, aber auf denfelben Gang einmündenden Zelle fchlafen, behaupten, auf dem Gange, auf den fie aus ihren Betten zu feben vermögen, ein Geräufch von Tritten, Krachen, Schüft, ja, eine hohle Stimme gehört zu haben. Theobald Kerner, der fich gleichfal: einfchließen läßt, hört das Zufchlagen von Türen, Trommeln, Schießen. Infolge aller diefer Zeugniffe machte Kerner eine Cingabe an das Oberamtsgericht (20. Februar 1836), die Sache gerichtlich zu unterfuchen. Uber fchon vorher, vermutlich durch Privatmitteilungen, aufmerffam gemacht, hatten einzelne feine Bekannten, der Kupferftecher Duttenbofer und der Profeffor der Phyſik Pref den Verſuch unternommen, fi Rechenſchaft über diefe rätjelhafte Angelegenbet zu verfchaffen. Auch fie fahen eine Helligkeit, hören einen Schall, fühlen etivai wie das Wehen eines falten Windes und bemerken „an der Tür eine leuchten Erjcheinung in beftimmten Umriſſen, ungefähr von der Höhe der Tür“. In ähnlicher Weife bezeugt Dr. Sicherer und Rechtstonfulent Fraas, daß fie einen widerwärtigen Geftant wahrgenommen, einen furchtbaren Lärm gehört, der wie das Werfen von Schrot, Erbfen, Sand geflungen hätte, daß fie aber am Morgen nichts von alledem gefunden hätten. Der fchon genannte Oberamtsrichter He, der ſich aufs neue, nun aber nicht mebr allein, fondern in Gefellichaft mt dem Baron von Hügel und dem Pfarrer Meguin einfchliefen läßt, bekundet in Gemeinschaft mit feinen Genofjen, ein großes Getöje wie das Werfen von fchweren Gegenftänden und ein unbeimliches jtartes Nütteln an den Fenſtem wahrgenommen zu haben. _

Uber nicht bloß im Gefängniffe, fondern auch anderswo wiederholen ſith Erfcheinungen und Töne. Teils gefchiebt dies in den Häufern, in die man, um das Erperiment zu erproben, Frau Ehlinger eine Nacht oder mehrere Nähte einquartiert bat. Go 3. B. im Haufe des Oberamtsgerichtsaktuars Eckardt, mo freilich bemerkt wird, nur die Frau hätte die Erjcheinung beobachtet, der Atuar jelbjt gefchlafen, ebenjo im Haus des Oberamtsgerichtsbeifigers Theurer, wo di richterliche Perjon jelbit Geruch und Töne bemerkt. Ja in diefem Haufe be ſchränkt fich die Wahrnehmung nicht auf das eine Stockwerk, fondern die in demjelben Haufe wohnenden Mieter, Lehrer Läufer und Referendar Bürge, bören gleichfalls Töne und Geräufh. Der Geift aber erfcheint auf Gebot der Frau Ehlinger auch dort, wo fie nicht weilt. So tritt er 3. B. bei dem Weint berger Bürger Kümmel, der die Erfcheinung auch zu fehen gewünfcht bat, auf In Kerners Haufe fei die Erfcheinung viele Nächte gewefen ; die Frau ſieht die Erfcheinung ebenjo wie Zuftinus. Einmal fogar bören fie einen Schuh, und beide fagen: „Das war zu grob“. Ja das Schauen und Fühlen befchräntt fo nicht auf die beiden, die, wie fchon erwähnt, für Derartiges große Empfänglitet befaßen, fondern auch Juſtinus' Schweiter, die verwitivete Pfarrerin GH. job und hörte ähnliches.

Am 11. Februar 1836 wich die Erfcheinung von der Eflingerin für immer, alfo ſchon 9 Tage vor der durch Kerner beantragten Unterſuchung. Der Grund des Aufhörens bat aber mit der drohenden gerichtlichen Unterfuchung nichts zu tun, fondern er liegt in der Befriedigung des Geiftes. An dem genannten Tas war nämlich die Eflingerin mit verfchiedenen Perfonen nad) Wimmenthal ge fahren und hatte an der dort bezeichneten Stelle gebetet. Eine lichte Erſcheinung batte fich ihr genähert und war dann, wie ihre Begleiter beftätigten, verſchwunden, fie felbft will fogar ihre mit einem Tuch ummidelte Hand dem Geilt gegeben baben. Da fei ein Flämmchen aufgefahren; infolge davon zeigten fich am Tuche verbrannte Stellen.

Briefe Zuftinus Kerners über magifche Gegenftände. 515

Kerner fchließt, nachdem er mit dem PVorftehenden mehr als 200 Geiten gefüllt hat, feine Mitteilungen mit folgenden Worten: „daß all diefen Gefchichten weder Betrug, noch Krankheit, noch fomnambule Anſteckung, noch geiftiges Heraustreten, fondern eine objektive Realität zugrunde liegt, möge man diefe objektive Realität nun für den noch an die Erde gebundenen Geift eines ver: ftorbenen Menfchen oder für fonft eine objektive, jest noch unbefannte, noch mit teinem Namen zu bezeichnende Realität halten“.

Die Sache der Frau Eßlinger machte natürlich großes Auffeben; es war „ein unfinniges Gefchrei der Menge, das noch in allen Markt: und Wirtshaus- blättern fortdauert“, fagt Kerner einmal. Er kam daher in feiner Zeitjchrift „Blätter aus Prevorft, Driginalien und Lefefrüchte für Freunde des inneren Lebens mitgeteilt von dem Herausgeber der Seherin aus Prevorft” mehrmals darauf zurüd. Im der neunten Sammlung 1837 gab er zumächft einzelne Be: richtigungen, fodann einen Brief des fchon vorher genannten Duttenhofer, der über eine neue Erfcheinung berichtete, die ihm ſelbſt begegnet fei. In einer anderen Stelle desjelben Blattes wandte ſich Kerner gegen den befannten Kirchenrat Paulus, den ftreitbaren Kämpfer für Aufklärung und Gegner jedes Myſtizismus und Okkultismus, der behauptet hatte, die ganze Geſchichte rühre von einem Licb- baber der Nichte des Gefangenauffehers ber. Auch fpäter, im „Magiton, Archiv für Beobachtungen aus dem Gebiete der Geifterkunde und des magnetifch- magifchen Lebens nebſt anderen Zugaben für (Freunde des Innern“ Stuttgart, Bd. IV, 1850, kam Kerner noch zweimal auf diefe Angelegenheit zurüd, ©. 125 ff., ©. 246 ff., ohne freilich neues Material beizubringen.

Die Angelegenheit Eflinger-Roller, die in den beiden erften Briefen be- handelt wird, fommt in den Briefen an Rümelin noch vielfach vor. Kerner berichtet von einem Beſuche bei Roller, um die gute Wirkung zu bezeugen, die diefer von der Ehlingerin gehabt hatte. Im anderen Briefen wehrt er fich gegen einen Barbier Kraufer von Weinsberg, der gleichfalls Lügen über die Ehlingerin berichtete. Mehrere andere Briefe Kerner an das Rümelinfhe Paar, die literarifche und perfönliche Angelegenheiten behandeln, follen an anderem Orte (Koch's Studien für vergl. Literaturgefchichte) mitgeteilt werden.

[ER USOLERCERFER ER FE TER FER FR FER FER FE FER FE ER DER

Das buddhiftifche Runftwerf.

Bon Karl Eugen Neumann in Wien.

3. Technif.')

Die Technik der gotamidifchen Anfprachen, Dialoge, Strophen ift rein ausgeglichen, in ihrer praftifchen Durchbildung als zentrale Projektion und Derfpettive. Der Meifter geht von einem beftimmten Falle, der allen vor Augen liegt, aus und ftellt ihn nach feinem Mittelpunfte dar. Go ent: widelt er aus freier Hand ein KRunftwerf, das Jeder zu begreifen imftande ift; freilich nach Maaßgabe der entjprechenden Kraft der Auffaffung, die den Einen weniger von dem dargebotenen Bilde verftehn lehrt als den Anderen. Faßt doch ein Krug, wie es im indifchen Gleichniffe heißt, auch auf dem Meere nur fein eigene® Maaß. Die Art nun, wie Gotamo im Zuhörer feine Gedanken allmälig entftehn und zur Vollendung kommen läßt, zeigt, wie wenig er bei dieſer angewandten Technif vorausfegt und wie viel er erreicht, wie rafch es ihm gelingt, dem Anderen das nämlide Bild anfchaulich vorzuführen, das er felber im Geifte erblickt. Ein Beiſpiel Der Mönch darf, wie man weiß, niemanden haffen. In fein weites, tiefes Herz fei die ganze Welt eingefchloffen, einbegriffen, will er Sünger dei Meifters fein. Er mag einem jeden Wefen, ob es grob oder fein fe, freundlich begegnen. Das wäre aber eine gar eilfertige, abftrafte, ja ver- trackte Vorfchrift, etwa zu fagen: Liebe deinen Nächten wie dich felbit. Ein folcher Befehl ift leicht gegeben: aber wo bleibt die Anfchauung dazu, die Grundlage, auf der man fußen, von der man ausgehn kann, um da? faft Unmögliche doch auszuführen? Jeder von ung hat oder hatte eine Mutter, oder Schwefter, Tochter, und er weiß, was mit der Liebe zu diefen gemeint iſt; der Mönch, der Jünger des Meifters, hat weder Mutter oder Schwefter noch Tochter mehr, allein fteht er da: aber „an mutterftatt“, deutet ihm der Meifter, „wird er ein Muttergemüth fich erwerben, an ſchweſter⸗ ftatt wird er ein Schweftergemüth fich erwerben, an tochterftatt wird er ein Tochtergemüth fich erwerben“. Das ift die Art, wie dem Mönche die Tugend der Liebe, da er fie als Staffel zum weiteren Emporfteigen braucht, mit ein paar Zügen lebhaft veranfchaulicht wird. Der Begriff diefer Theilnahme, einer Liebe ohne Del oder Lavendelduft, ift dann in einem Spruche, gleid- fam als Stämpel oder Infiegel, ausgeprägt:

„Die die Mutter ihres Leibes eigne Frucht, Mit dem Leben ſchützen mag ihr einzig Kind: Alſo mag man alles was geiworden ijt Unbegrängbar einbegreifen in der Bruſt.“

) Siehe Februar- und DOftoberbeft 1904.

Karl Eugen Neumann: Das buddhiſtiſche Kunftwerf. 517

Und der Spruch ift feine Hpperbel. Das Bild ift nicht fentimental beleuchtet, überfchwänglich empfunden. Es ift praftifche Technik, mit ge- ringem Aufwand an Mitteln eine große Wirkung erreicht. Zur Sache fei bier nebenher bemerkt, daß bei diefer ideellen Antheilnahme feine Rede von einer fozialen Bethätigung fein wird: der Asket ift Kämpfer, er fämpft gegen den Haß, der etwa noch in feinem Herzen irgendwo niften mag, und er übt fich felbft, unermüdlich, in der großen, allumfaffenden Caritas; fo- lange bis ihm dieſe, gleichtvie fpäter die Heiterkeit oder Gerenitas, fo eigen- tbümlich geworden ift, daß er der Hebung nicht mehr bedarf, um andere, höhere, erlefenere Dinge weiter werben fann. Die Liebe nimmt bei Gotamo denfelben Rang wie bei Meifter Eckhart ein, der fie nur als DVorftufe betrachtet. Es ift eine weibliche Tugend, die allerdings erworben, aber auch überftanden werden muß. Wenn diefes ewig Weibliche den zarten Geift binan- und hinübergezogen bat, dann erblickt der Kämpfer auf feiner Warte fernere Ziele.

Wir haben alfo bier die unterfte Staffel des asfetifchen Rampfes gefehn. Der Mönch übt ſich und gewöhnt fein Herz an Liebe und Mit- leid zu jedem lebenden Wefen, da er überall in allem fich wiedererfennt. Ein anderes Beifpiel fol zeigen, wie der Meifter den PVorgefchrittenen weiter zu lenken verfteht. Wiederum genügen einige wenige Handgriffe, und das Kunſtwerk fteht volllommen da. Der Jünger ald Feigenbaum ift das Gleichniß. Läßt er fich noch von den Dingen beeinfluffen, fo gleicht er dem jungen fchwachen Stamme, der, wo immer man ihn anfchneidet, Mich träufelt: während der erwachfene ftarke, wo immer angefchnitten, fein Naß mehr zeigt. Diefes Bild vom Feigenbaum ift fpäter zum Symbol und Wappen de Meifters erhoben worden. Nicht mit Unrecht, wenn es richtig verftanden und erklärt ift. Es ftellt eine Verherrlichung des trodenen Herzens dar. Denn ber ift doch nur ein gewöhnlicher Menfch, der immer wieder von (Freude und Leid, fei e8 auch in den feineren und feinften Formen, bethaut und benegt wird. Das menfchlihe Rühren, diefe fchöne weibliche Eigenfchaft, hat der Jünger auf folcher Stufe feinem Herzen ſchon entfremdet, bat es überftanden. Er ift troden und ftark wie der erwachſene Feigenbaum. Nicht unempfindlich, aber nicht empfindfam. Er gehört nun zu Ienen, von welchen ein Zeitgenoſſe des indifchen Meifters, der tief- leuchtende Heraklit gefagt bat: „Die trodene Geele ift die weiſeſte und edelſte“. Oder wie es bei und Goethe, zurüdblidend, auf eine Votivtafel gefchrieben:

Auf das empfindfame Volt hab’ ich nie was gehalten; e8 werden, Kommt die Gelegenheit nur, fchlechte Gefellen daraus.

Troden fei denn das Gemüt des Jüngers. Wohl und Wehe hat er ihm entglüht. Er ift ein Menfch, fagt Gotamo, „der weder ein Selbftquäler, nicht der Uebung der GSelbftquaal eifrig ergeben tft, noch ein Nächftenquäler, nicht der Uebung der Nächftenquaal eifrig ergeben tft: der ohne GSelbftqual, ohne Nächftenquaal ſchon bei Lebzeiten ausgeglüht, erlofchen, kühl geworden ift, fich wohl fühlt, heilig geworden im Herzen“. Gern wendet der Meifter bier ein Bild an, das er aus dem alltäglichen Gewerbe hernimmt, um dem Jünger den

518 Rarl Eugen Neumann: Das buddhiftifche Runftwert.

erworbenen Gleichmuth recht anfchaulich vorzuführen. „Es bleibt nunmehr noch der Gleichmuth übrig, der geläuterte, der geflärte, der gefchmeidige, biegfame, durchleuchtige. Gleichwie etwa wenn ein gefchidter Goldfchmidt oder Goldfchmidtgefelle ein Schmelzfeuer anmachte, und hat er das Schmelz feuer angemacht den Schmelztiegel zufegte, und hat er den Schmelztiegel zugefegt mit der Zange ein Stück Gold faßte und in den Schmelztiegel bineinlegte, und e8 nun von Seit zu Zeit auftriebe, von Zeit zu Zeit mit Wafler beträufelte, von Zeit zu Zeit in Augenfchein nähme: da wird diefes Stüd Gold dann bald getrieben fein, gut getrieben, fein getrieben, fein ge fäubert, gereinigt von Unrath, gefchmeidig, biegfam, durchleuchtig geworden; und zu was für Schmudfachen auch immer er e8 verarbeiten will, fei es zu einem QUrmreifen oder einem Ohrringe, zu einem Halsbande oder einer güldenen Kette, es wird feinem Zwecke entjprechen: ebenfo nun auch bleibt nunmehr noch der Gleichmuth übrig, der geläuterte, der geflärte, der ge ſchmeidige, biegfame, durchleuchtige.“

Sp leicht auch eine derartige Technik der Darftellung zu handhaben foheint: in Wirklichkeit gelingt fie nur einem großen Künftler, der immer in der Anſchauung lebt und dem daher die Ausdrucsmittel ungezwungen zu Gebote ftehen. Es ift Hier freilich nicht bloß die äußere Anfchauung gemeint, fondern in viel höherem Grade zugleich die innere Anſchauung und die Erfahrung eines tiefen Denkers. Nur auf folcher Grundlage konnte e8 Gotamo gelingen verwidelte Probleme, wie 3. B. das der Gefchlecht- lichkeit, de usus membrorum et facultatum sexualium alterius, nicht etwa fompotetifch ſondern anafritifch befriedigend zu löſen. Die Darftellung ift in diefem Falle eine etwas andere, es werden feine Gleichniffe gegeben, die Gedanken werben fontrapunftifch vorgetragen, gleichfam in der Form einer Fuge, mwohlüberlegt und genau wechfelfeitig durchgeführt. Diefe von Gotamo oft angewandte und ihm eigenthümliche Technik bei der Behandlung noch erfteigbarer fteiler Gedantenpfade macht ohne Zweifel zuerft den Eindrud alterthümlicher Bedächtigfeit, oder gar der Unbeholfenheit des Ausdrucks. Aber man verfuche nur ein folches Stück mit anderer Technik zu behandeln und uns näherzubringen, und man wird fehr bald gewahr werden, daß man zwar den Stoff dabei herüberretten fünnte, daß aber die Form, der lebendige Ausdrud, in Trümmer gehn müßte: Fuge kann eben nur als Fuge wirten und nicht in einem beliebigen Potpourri aufgelöft werden. Als Beifpiel folge nun Gotamos Darftellung der Gefchlechtlichkeit, oder der Wirklichkeit des wechjelfeitigen Gebrauchs der Gefchlechtseigenthümlichkeiten, wie Rant die Sache nennt, die Lehre von der Hingabe und Davonkunft.

„Das Weib, ihr Mönche, achtet nach innen auf den weiblichen Sinn, weiblichen Brauch, weiblichen Zweck, weiblichen Antheil, weiblichen Willen, weiblichen Ausdrud, weiblichen Werth. Es giebt fich dem bin, ergegt fih daran. Dem bingegeben, daran ergegt achtet es nach außen auf den männlichen Sinn, männlichen Brauch, männlichen Zweck, männ- lichen Antheil, männlichen Willen, männlichen Ausdruck, männlichen Werth. Es giebt fi) dem hin, ergegt fich daran. Dem bingegeben, daran ergegt erjehnt e8 nach außen Hingabe, und was ihm dur Hin: gabe an Wohl und Wonne aufgeht, auch das erfehnt ed. An der

Karl Eugen Neumann: Das buddhiftifche Kunſtwerk. 519

Weibheit, ihr Mönche, ergest, daran gehangen iff e8 den Männern bin- gegeben. So kann, ihr Mönche, das Weib die Weibheit nicht über: winden. Der Mann, ihr Mönche, achtet nad) innen auf den männ- lichen Sinn, männlichen Brauch, männlichen Zwed, männlichen Antheil, männlichen Willen, männlichen Ausdruck, männlichen Werth. Er giebt fih dem hin, ergeßt fich daran. Dem bingegeben, daran ergegt achtet er nach außen auf den weiblichen Sinn, weiblichen Brauch, weiblichen Zweck, weiblichen Antheil, weiblichen Willen, weiblichen Ausdruck, weiblichen Werth. Er giebt fich dem hin, ergegt fi daran. Dem hingegeben, daran ergegt erfehnt er nach außen Hingabe; und was ihm durch Hin- gabe an Wohl und MWonne aufgeht, auch das erjehnt er. Un der Mannheit, ihr Mönche, ergest, daran gehangen ift er den Weibern hin- gegeben. So kann, ihr Mönche, der Mann die Mannheit nicht über: winden: fo ift man, ihr Mönche, hingegeben. Wie aber ift man, ihr Mönche, davongefommen? Das Weib, ihr Mönche, achtet nach innen nicht auf den weiblichen Sinn, weiblichen Brauch, weiblichen Zweck, weib- lichen Anteil, weiblichen Willen, weiblichen Ausdruck, weiblichen Werth. Es giebt fich dem nicht hin, ergegt fich nicht daran. Dem nicht binge- geben, nicht daran ergegt achtet ed nach außen nicht auf den männlichen Sinn, männlichen Brauch, männlichen Zweck, männlichen Antheil, männ- lihen Willen, männlichen Ausdrud, männlichen Werth. Es giebt fich dem nicht bin, ergeßt fich nicht daran. Dem nicht hingegeben, nicht daran ergegt erfehnt es nicht nach außen Hingabe; und was ihm durch Hingabe an Wohl und Wonne aufgeht, auch das erfehnt es nicht. An der Weibheit, ihr Mönche, nicht ergeßt, nicht daran gehangen ift es den Männern davongelommen. Sp fann, ihr Mönche, das Weib die Weib- beit überwinden. Der Mann, ihr Mönche, achtet nach innen nicht auf den männlichen Sinn, männlichen Brauch, männlichen Antheil, männ- lichen Willen, männlichen Ausdrud, männlichen Werth. Er giebt fich dem nicht hin, ergegt fich nicht daran. Dem nicht hingegeben, nicht daran ergegt achtet er nach außen nicht auf den weiblichen Sinn, weiblichen Brauch, weiblichen Zweck, weiblichen Antheil, weiblichen Willen, mweib- lichen Ausdrud, weiblichen Werth. Er giebt fich dem nicht hin, ergegt fich nicht daran. Dem nicht hingegeben, nicht daran ergegt erjehnt er nicht nach außen Hingabe; und was ihm durch Hingabe an Wohl und Wonne aufgeht, auch das erfehnt er nicht. An der Mannbeit, ihr Mönche, nicht ergegt, nicht daran gehangen ift er den Weibern davon- gefommen. So kann, ihr Mönche, der Mann die Mannheit überwinden: fo ift man, ihr Mönche, davongelommen. Das ift, ihr Mönche, die Darlegung der Lehre von der Hingabe und Davonkunft.“

Eine ſolche Gedanfenfolge beginnt, wie man ſieht, mit der ganz all- gemein zugänglichen Erfahrung und bleibt immer innerhalb ihrer Gränzen: es ift nur die ungewöhnlich feine, forgfältige Beobachtung und Behandlung auch der mitklingenden Bei- und Mebentöne, die den Hörer allmälig zu einem großen Ergebniß gelangen läßt. Diefe Art der Darftellung, antik befonnen, und ohne Spur romantifcher Gewürze, darf mar mit Necht dem genialen Kniff Schopenhauers vergleichen, feinem Kunftgriff, der, wie er

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felbft ung erklärt, darin beftand, „das lebhaftefte Anfchauen oder dag tiefſte Empfinden, wann die gute Stunde es herbei geführt hat, plöglih und im felben Moment mit der kälteſten abitraften Reflerion zu übergießen und es dadurch erftarrt aufzubewahren.“ Man wird übrigens in dem gegebenen Stücke noch ein anderes, nicht unwichtiges Merkmal der Redeweife Gotamos beftätigt finden, welches diefelbe als eine durchaus künftlerifche kennzeichnet. Gotamo fpricht, bier wie fonft, nicht im Imperativ, gelegentlih wohl im Potential, zumeift aber im Indikativ: er zeigt die Dinge an.

Aus diefem Grunde nennt er feine Lehre eine Har fichtbare, zeitlofe, anregende, einladende, die Verftändigen von felbft verftändlich ift. Er gebt vom Hier und vom Heute aus, nicht vom Drüben und vom Morgen. Es find oft nur einige wenige Lehrjäge, die der Meifter einem Jünger gegen- über ausfpricht, aber fie genügen. Als ein tüchtiges Beifpiel hierfür mag der Bericht des ehemaligen jungen Edelmannes Ratthapälo folgen, den Diefer in einem Zwiegefpräche feinem früheren Herrn, dem König Koravyo, über feine Unterredung mit Gotamo darlegt. Man wird an diefen kurzen Mertfägen wieder auf andere Weife die technifche Meifterfchaft des gota- midifchen Ausdruds gewahren. „Was hat Herr Rattbapälo erfahren oder gefehn oder gehört, und ift aus dem Haufe in die Hauslofigkeit gezogen?” fragt der König feinen einftigen Vaſallen, und diefer giebt nun Beſcheid.

„Es find, großer König, von Ihm, dem Erhabenen, dem Kenner, dem Geber, dem Heiligen, volllommen Erwachten, vier Lehrfäge dargelegt worden; die hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus Dem Haufe in die Hauslofigkeit gezogen: welche vier? »QUufgerieben wird die Welt, verweslich«: fo lautet, großer König, der erfte Lehrfag, der von Ihm, dem Erhabenen, dem Kenner, dem Geber, dem Heiligen, volllommen Er- wachten, dargelegt wurde; den hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigfeit gezogen. »Hülflos ift Die Welt, ohnmächtige: fo lautet, großer König, der zweite Lehrſatz, der von Ihm, dem Erhabenen, dem Kenner, dem Geber, dem Heiligen, volltommen Erwachten, dargelegt wurde; den hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigleit gezogen. »Uneigen ift die Welt, Alles verlaffend muß man gehne: fo lautet, großer König, der dritte Lehrfag, der von Ihm, dem Erhabenen, dem Kenner, dem Geber, dem Heiligen, volllommen Erwachten, dargelegt wurde; den hab’ ich erfahren und gejehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigteit ge zogen. »Bedürftig ift die Welt, nimmerfatt, durftverbungen«: fo lautet, großer Rönig, der vierte Lehrfaß, der von Ihm, dem Erhabenen, dem Kenner, dem Geber, dem Heiligen, volltommen Ermwachten, dargelegt wurde; den hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigkeit gezogen. Das find, großer Rönig, die vier Lehrfäse, die von Ihm, dem Erhabenen, dem Kenner, dem Geber, dem Heiligen, vollfommen Erwachten, dargelegt wurden; die hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigkeit gezogen.“

„Aufgerieben wird die Welt, verweslich’, hat Herr Ratthapälo ge- jagt: wie aber foll man, o Ratthapälo, den Sinn diefer Worte verftehn?“

„Was meinft du wohl, großer König: bift du mit ziwanzig ober mit

Rarl Eugen Neumann: Das buddhiſtiſche Runftwert. 521

fünfundzwanzig Jahren imftande gewefen Elephanten zu bändigen, Roffe zu reiten, Wagen zu lenken, Bogen zu fpannen, Schwerdter zu fehwingen? Bift du ftarf in den Schenteln, ftark in den Armen gewefen, tauglich genug zum Rampfe?“

„Sch bin, o Natthapälo, mit zwanzig oder mit fünfundzwanzig Jahren imftande gewefen Elephanten zu bändigen, Roſſe zu reiten, Wagen zu lenken, Bogen zu fpannen, Schwerdter zu fchwingen, bin ftarf in den Schenteln, ftarf in den Armen gewefen, tauglich genug zum Rampfe. Zuweilen fühlt ich, o Ratthapälo, faft Ueberfraft in mir: nicht hab’ ich an Stärke meines Gleichen gelannt.“

„Was meinst du wohl, großer König: bift du auch jegt ebenfo ftarf in den Schenfeln und Armen, tauglich) genug zum Kampfe?“

„Das nicht, o Ratthapälo: jegt bin ich alt und greis geworden, hoch- betagt, dem Ende nahe, ausgelebt, ftehe im achtzigiten Jahre. Zumeilen will ich, o Ratthapälo, den Fuß dahinfegen, und fege ihn dorthin.“

„Daran aber, großer König, hat Er gedacht, der Erhabene, der Renner, _ der Geber, der Heilige, volllommen Erwachte, ald er gefagt hat: »Auf- gerieben wird die Welt, verweslich«; Das hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigfeit gezogen.“

„Wunderbar, o Ratthapälo, außerordentlich ift e8, o Ratthapälo, wie Er da fo richtig gefagt bat, der Erhabene, der Renner, der Geber, der Heilige, volllommen Erwachte, »QAlufgerieben wird die Welt, verweslich«: denn aufgerieben wird, o NRatthapälo, die Welt, verweslich. Verfehn ift, o Ratthapälo, meine Rönigsburg mit Kriegselepbanten, mit Reiterei, mit Streitwagen, mit Fußtruppen, die ung in Noth und Gefahr zu Schuß und Trug gereichen. ‘Hülflos ift die Welt, ohnmächtig’, hat Herr Ratthapälo gefagt: wie aber foll man, o Ratthapälo, den Sinn diefer Worte verftehn ?“

„Was meinft du wohl, großer König, Teideft du an irgend einem an- dauernden Lebel?“

„Ich leide, o Ratthapälo, an dem Lebel der andauernden Gicht. Zu: weilen, o Rattbapälo, ftehn meine Freunde und Genofjen, Verwandte und PBettern um mich herum und reden: » Diesmal wird König Roravyo fterben! Diesmal wird König Koravyo fterben!«“

„Was meinft du wohl, großer König: erlangft du Das bei deinen Freunden und Genofjen, Verwandten und Vettern: »Kommt heran, ihr lieben Freunde und Genofjen, Verwandte und Vettern! Alle, die ihr da feid, mögt diefen Schmerz unter euch theilen, damit ich den Schmerz minder empfinde!«, oder aber mußt du den Schmerz allein erdulden?“

„Nicht kann ich Das, o Ratthapälo, bei meinen Freunden und Ge- noffen, Berwandten und Bettern erlangen: » Rommt heran, ihr lieben Freunde und Genoffen, Verwandte und Bettern! Alle, die ihr da feid, mögt diefen Schmerz unter euch theilen, damit ich den Schmerz minder empfindele«, fondern ih muß den Schmerz allein erdbulden.”

„Daran aber, großer König, hat Er gedacht, der Erhabene, ber Kenner, der Seher, der Heilige, volllommen Erwachte, als er gefagt hat: ⸗Hülflos ift die Welt, ohnmächtig«; Das hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigkeit gezogen.“

522 Karl Eugen Neumann: Das buddhiftifche KRunftwert.

„Wunderbar, o Rattbapälo, außerordentlich ift eg, o Natthapälo, wie Er da fo richtig gefagt hat, der Erhabene, der Kenner, der Geber, der Heilige, volllommen Erwachte, »Hülflos ift die Welt, ohnmächtige: denn bülflos ift, o Ratthapälo, die Welt, ohnmächtig. Es findet fich, o Ratthı- pälo, in meiner KRönigsburg reichlich Gold und Gefchmeide vor, heimlich vergraben und offen aufgeftellt. ‘Uneigen ift die Welt, Alles verlaffend muf man gehn’, bat Herr Ratthapälo gefagt: wie aber foll man, o Ratthapäls, den Sinn diefer Worte verftehn?*

„Was meinft du wohl, großer König: wie du bienieden mit dem Beſitz und Genuß der fünf Begehrungsvermögen begabt bift, fannit du auch jenfeit erlangen: »Ebenſo will ich mit eben diefem Beſitz und Genf der fünf VBegehrungsvermögen begabt fein!«, oder aber wird diefer Reid: thum auf Andere übergehn, und wirft du je nach den Thaten wandeln?“

„Nicht kann ich, o Ratthapälo, wie da hienieden mit dem Beſiz und Genuß der fünf Begehrungsvermögen begabt, auch jenfeit erlangen: »Ebenſo will ich mit eben diefem DBefig und Genuß der fünf Begehrungsvermögen begabt jein!«, fondern auf Andere wird diefer Reichthum übergehn, und ich werde je nach den Thaten wandeln.“

„Daran aber, großer König, hat Er gedacht, der Erhabene, der Renner, der Geber, der Heilige, volltommen Erwachte, als er gefagt hat: >Lneigen ift die Welt, Alles verlaffend muß man gehn«; Das hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigkeit gezogen‘

„Wunderbar, o Ratthapälo, außerordentlich ift eg, o Ratthapälo, wie Er da fo richtig gefagt bat, der Erhabene, der Kenner, der Geber, der Heilige, volllommen Erwachte, »Uneigen ift die Welt, Alles verlaffend mu man gehn«: denn uneigen ift, o Ratthapälo, die Welt, Alles verlaffen) muß man gehn. Bedürftig ift die Welt, nimmerfatt, durftverdungen‘, bat Herr Ratthapälo gefagt: wie aber fol man, o Ratthapälo, den Sim diefer Worte verſtehn?“

„Was meinft du wohl, großer König: gedeiht dir herrlich in Leber fluß dein Kurũland?“

„Gewiß, o Ratthapälo, gedeiht mir herrlich in Leberfluß mei KRurüland.” .

„Was meinft du wohl, großer König: wenn da ein Mann zu dir berfäme, von den öftlihen Gränzen, glaubwürdig, vertrauenswürdig; und er träte zu dir und fpräche alfo: »O großer König, daß du es weißt: ich fomme von den öftlichen Gränzen her! Da hab’ ich ein mächtiges Reid gefehn, blühend, gedeihend, volfreich, von vielen Menfchen bewohnt: du giebt e8 viel Kriegselephanten und Neiterei, Streitwagen und Fußtruppen, viel Elphenbein und Felle, viel Gold und Gefchmeide, roh und bearbeitet, da giebt es viel Weibergefinde! Und man fann es mit einer gewiſſen Streitmacht erobern: erobere es, großer König!« Was würdeft du da tun?“

„Wir würden e8, o Ratthapälo, eben erobern und beherrjchen.”

„Was meinft du wohl, großer König: wenn da ein Mann zu dir berfäme, von den weftlichen Gränzen, und von den nördlichen Grängen, und von den füdlichen Gränzen, und von jenfeit des Ozeans, glaubwürdig, MT frauenswürdig; und er fräte zu dir und fpräche alfo: »O großer König,

Karl Eugen Neumann: Das bubdhiftifche Kunſtwerk. 523

Daß du es weißt: ich fomme von jenfeit des Ozeans her! Da hab’ ich ein mächtiges Reich gefehn, blühend, gedeihend, volkreich, von vielen Menfchen bewohnt: da giebt es viel Kriegselephanten und Reiterei, Streitwagen und Fußtruppen, viel Elphenbein und Felle, viel Gold und Gefchmeide, roh und bearbeitet, da giebt es viel Weibergefinde! Und man kann es mit einer gewiſſen Streitmacht erobern: erobere es, großer Rönig!« Was würdeft du da thun?“

„Wir würden es, o Ratthapälo, eben auch erobern und beherrſchen.“

„Daran aber, großer König, hat Er gedacht, der Erhabene, der Renner, der Seher, der Heilige, volllommen Erwachte, als er gefagt hat: » Bedürftig ift die Welt, nimmerfatt, durftverdungen«, Das hab’ ich erfahren und gefehn und gehört, und bin aus dem Haufe in die Hauslofigfeit gezogen.”

„Wunderbar, o Ratthapälo, außerordentlich ift es, o Ratthapälo, wie Er da fo richtig gefagt hat, der Erhabene, der Renner, der Geber, der Heilige, volllommen Erwachte, »Bedürftig ift die Welt, nimmerfatt, durſt verdungene: denn bebürftig ift, o Natthapälo, die Welt, nimmerfatt, durft- verdungen.“

Haben wir in diefem Bruchftüd einige der Lehrfäge Gotamos in kurzer Fafjung kennen gelernt, fo mögen nun noch ein paar Beifpiele von Erklärungen folgen, wie fie der Meifter in verdichteter Form zu geben pflegt. Diefe nach allen Seiten dann gehörig zu betrachten und zu entwideln kann dem Jünger nicht mehr zu fchwer fallen. Nüchtern und volllommen zu= reichend jtellt Gotamo drei Arten von Gefühlen auf: das wohlige Gefühl, das wehe Gefühl und das weder mwohlig noch wehe Gefühl. »Zu einer Zeit wo man ein wohliges Gefühl empfindet, zu diefer Zeit empfindet man fein wehes Gefühl und empfindet fein weder wohlig noch wehes Gefühl, eben ein wohliges Gefühl empfindet man zu diefer Zeit. Zu einer Zeit wo man ein wehes Gefühl empfindet, zu Ddiefer Zeit empfindet man fein wohliges Gefühl und empfindet fein weder wohlig noch wehes Gefühl, eben ein wehes Gefühl empfindet man zu diefer Zeit. Zu einer Zeit mo man ein weder wohlig noch wehes Gefühl empfindet, zu diefer Zeit empfindet man fein wohliges Gefühl und empfindet fein wehes Gefühl, eben ein weder wohlig noch wehes Gefühl empfindet man zu diefer Zeit. Wohlige Gefühle find aber wandelbar, zufammengefegt, aus Urfachen entjtanden, müſſen ver- fiegen und verfagen, müffen aufhören und untergehn. Und auch wehe Ge- fühle find wandelbar, zufammengefest, aus Urfachen entjtanden, müfjen ver- fiegen und verfagen, müſſen aufhören und untergehn. Und auch weder wohlig noch wehe Gefühle find wandelbar, zufammengefegt, aus Urfachen entftanden, müflen verfiegen und verfagen, müflen aufhören und untergehn. In folhem Anbli wird der erfahrene heilige Jünger des wohligen Gefühles überdrüffig und wird des wehen Gefühles überdrüffig und wird des weder wohlig noch wehen Gefühles überdrüffig. LUeberdrüffig wendet er fich ab. Abgewandt löft er fich los. „Im Erlöften ift die Erlöfung“, diefe Erkennt: niß geht auf. „Verſiegt ift das Leben, vollendet die Heiligkeit, gewirkt das Werk, nicht mehr ift diefe Welt“ verfteht er da.« Wenn auf diefe Weiſe dürr und trocken die Summe aller Fühlbarfeit gezogen wird, vermag Gotamo doch auch wieder anders dag Ienfeit von hüben und drüben anzugeben, jo etwa in dem ftämpelartigen Spruche, wo er den vollendeten Denker darftellt:

524 Karl Eugen Neumann: Das buddpiftifche KRunftwerf.

„Derglommen ift er unvergleichbar worden, Gedeutet irgend an, ibm gilt eg nimmer: Sind alle Dinge allgemach entwurzelt,

Zit alle Macht entwurzelt auch der Worte.“

Es ift eine Technik, die bei ung Meifter Eckhart neu entwideln, abe: freilich nicht zur Vollendung bringen konnte. Wir finden bei Gotamo immer wieder jene ftarfe Bejonnenheit, die dazu gehört, nie über die Dinge binauszufchweifen, innerhalb ihrer Gränzen das Mittheilbare auszusprechen, in ficheren Umriſſen, Haren Begriffen. Die Dinge erhalten bei ihm je den richtigen Namen und Ort, au wann er mehr oder minder gewöhnliche Begriffe, wie etwa den der Fröhlichkeit, darzuftellen unternimmt.

„Sechs mit dem Haufe verbundene Fröhlichfeiten giebt es, und fechs mit der Entfagung verbundene Fröhlichkeiten. Was find nun die jechs mit dem Haufe verbundenen Fröhlichkeiten? Wer bei den durch das Geſicht insg Bewußtfein tretenden Formen, den erfehnten, geliebten, angenehmen, berzerfreuenden, füchtigem Genuſſe entiprechenden, die Erlangung erreicht, oder erhofft, oder an einft Erlangtes, das vergangen, entſchwunden, ver- ändert ift, zurückdenkt, wird fröhlich bewegt: eine folche Fröhlichkeit, die heißt mit dem Haufe verbundene Fröhlichkeit. Wer bei den durch das Gehör ind Bewußtfein tretenden Tönen, durch den Geruch ind Bewußtfein tretenden Düften, durch den Gefchmad ind Bemwußtfein tretenden GSäften, durch das Getaft ins Bewußtfein tretenden Taftungen, durch das Gedenten ins Bemußtfein tretenden Dingen, den erjehnten, geliebten, angenehmen, herzerfreuenden, füchtigem Genufje entjprechenden, die Erlangung erreicht, oder erhofft, oder an einft Erlangtes, das vergangen, entſchwunden, ver: ändert ift, zurückdenkt, wird fröhlich bewegt: eine folche Fröhlichkeit, die heißt mit dem Haufe verbundene Fröhlichleit. Das find die ſechs mit dem Haufe verbundenen Fröhlichkeiten. Was find nun die fech8 mit de Entjagung verbundenen Fröhlichkeiten? Wer ebenda bei den Formen Ber: gänglichkeit gemerkt hat, Veränderung, Unrath, Untergang, „Formen von einft wie von heute, alle die Formen find vergänglich, leidig, wandelbar,“ alfo Dies, der Wahrheit gemäß, mit volllommener Weisheit betrachtet, wird fröhlich bewegt: eine folche Fröhlichkeit, die heißt mit der Entſagung verbundene Fröhlichteit. Wer ebenda bei den Tönen, den Düften, den Säften, den Taftungen, den Dingen Vergänglichfeit gemerft hat, Verän derung, Unrath, Untergang, „Dinge von einft wie von heute, alle die Dinge find vergänglich, leidig, wandelbar“, alfo Dies, der Wahrheit gemäß, mit volllommener Weisheit betrachtet, wird fröhlich bewegt: eine ſolche Fröh— lichfeit, die beißt mit der Entjagung verbundene Fröblichkeit. Das find die ſechs mit der Entfagung verbundenen Fröhlichkeiten.“

Als ein rechtes Mufterftüdt der gotamidifchen Technik folge nun noch eine Rede, in welcher der Meifter kunftool! beide Welten umfpannt, oder mit Rant zu reden, Erfeheinung und Ding an fich darftellt. Diefe kantifchen Begriffe und Worte fommen zwar bei Gotamo nicht vor, da er fie mit höherer Befonnenheit aufgelöft hat; aber die Anſchauung gebt vom gleichen Ufer aus und reicht bis zum Horizont, wo fich Himmel und Meer berühren.

Karl Eugen Neumann: Das bubbdhiftifche Runftwert. 525

Die ſchlichte Architektonif der Nede wird allerdings kaum fogleich die wirf- liche Größe der dargeftellten Verhältniſſe überfchauen laffen.

Es mag wohl Manchem dabei fo ergehn wie beim Tempel von Daeftum, der beim erften Befuch enttäufcht, fogar Goethe enttäufcht hat »der erfte Eindrud konnte nur Erftaunen erregen, ich befand mich in einer völlig fremden Welt«e —: erjt nach längerem, allmälig verfrauterem Ver⸗ weilen, wann man dahin und dorthin, bald ferner bald näher gekommen ift, wechfelnden Anblick und Einblid erworben hat und nad) Stunden und Tagen wieder zurückkehrt, erfchließen Säulenreihe, Giebel und Halle dem ftillen Beſchauer ihren Sinn.

Dies ift die Rede:

„Heilige, ihr Mönche, rechte Vertiefung will ich euch meifen, mit ihrem Gefolge, mit ihrer Begleitung. Was ift alfo, ihr Mönche, heilige rechte Vertiefung mit ihrem Gefolge, mit ihrer Begleitung? Es ift da rechte Erkenntnis, rechte Gefinnung, rechte Rebe, rechtes Handeln, rechtes Wandeln, rechtes Mühn, rechte Einficht: eine von diefen fieben Gliedern, ihr Mönche, begleitete Einheit des Herzens, die heißt man, ihr Mönche, heilige rechte Vertiefung, und zwar mit ihrem Gefolge, und zwar mit ihrer Begleitung.

„Da geht denn, ihr Mönche, rechte Erfenntnig voran. Wie aber geht, ihr Mönche, rechte Erfenntniß voran? Falfche Erkenntniß gewahrt man als falfche Erkenntniß, rechte Erfenntniß gewahrt man als rechte Er- kenntniß: das gilt Einem ald rechte Erkenntniß. Was ift nun, ihr Mönche, falſche Erfenntnig? »AUlmojengeben, Berzichtleiften, Spenden es ift alles eitel; es giebt feine Saat und Erndte guter und böfer Werke, Diesfeits und Jenſeits find leere Begriffe, Vater und Mutter und auch geiffige Geburt find bohle Worte; die Welt hat feine Asteten und Priefter, die volllommen und vollendet find, die fich das Wefen diefer und jener Welt begreiflich machen, anfchaulich vorftellen und erklären können«: das ift, ihr Mönche, falfche Erkenntniß. Was ift nun, ihr Mönche, rechte Erfenntniß? Rechte Erkenntniß, ſag' ich da, Mönche, ift doppelter Art. Es giebt, ihr Mönche, eine rechte Erkenntniß, die wahnhaft, hülfreich, zuträglich ift; es giebt, ihr Mönche, eine rechte Erfenntniß, die heilig, wahnlos, überweltlich, auf dem Wege zu finden if. Was ift das nun, ihr Mönche, für eine rechte Erkenntniß, die wahnhaft, hülfreich, zuträglich ift? »AUlmofengeben, Berzichtleiften, Spenden ift fein Unfinn; es giebt eine Saat und Erndte guter und böfer Werke, das Diesfeits ift vorhanden und das Jenſeits ift vorhanden; Eltern giebt es und geiftige Geburt giebt es; die Welt hat Asketen und Priefter, die volllommen und vollendet find, die fich das Wefen diefer und jener Welt begreiflih machen, anfchaulich vorftellen und erklären fönnene: das ift, ihr Mönche, eine rechte Erfenntniß, die wahnhaft, bülf- reich, zuträglich if. Was aber ift es, ihr Mönche, für eine rechte Erfennt- niß, die heilig, wahnlos, überweltlich, auf dem Wege zu finden ift? Was da, ihr Mönche, im heiligen Herzen, im mwahnlofen Herzen, das fich auf beiligem Wege befindet, heiligen Weg vollendet, Weisheit, fähige Weisheit, vermögende Weisheit ift, Ergründung der Wahrheit, die zur Ermachung führt, eine rechte Erfenntniß, die auf dem Wege zu finden ift: das ift, ihr

526 Karl Eugen Neumann: Das buddhiftiihe Kunftwert.

Mönche, eine rechte Erfenntniß, die heilig, wahnlos, überweltlih, auf dem Wege zu finden ift. Da ift man eifrig bemüht falfche Erfenntniß zu ver: lieren, rechte Erfenntniß zu gewinnen: das gilt Einem als rechtes Mühn Befonnen läßt man falfche Erfenntniß hinter fich, befonnen gewinnt und erreicht man rechte Erkenntniß: das gilt Einem als rechte Einfiht. So haben fih Einem diefe drei Dinge um die rechte Erfenntniß aneinandergereibt, aneinandergefchloffen, nämlich rechte Erfenntniß, rechtes Mübn, rechte Einficht.

„Da geht denn, ihr Mönche, rechte Erfenntnig voran. Wie aber geht, ihr Mönche, rechte Erkenntniß voran? Falſche Gefinnung gewahrt man als falfche Gefinnung, rechte Gefinnung gewahrt man als rechte Ge finnung: das gilt Einem als rechte Erkenntniß. Was ift num, ihr Mönche, falfche Gefinnung? Sinnende Luft, finnender Groll, finnende Wuth: das ift, ihr Mönche, falſche Gefinnung, Was iſt nun, ihr Mönche, rechte Gefinnung? Rechte Gefinnung, fag’ ich da, Mönche, ift doppelter Art. Es giebt, ihr Mönche, eine rechte Gefinnung, die wahnhaft, hülfreich, zu: träglich ift; e8 giebt, ihr Mönche, eine rechte Gefinnung, die heilig, wabhn- (08, überweltlih, auf dem Wege zu finden if. Was ift das nun, ibr Mönche, für eine rechte Gefinnung, die wahnhaft, hülfreich, zuträglich ift? Entfagung finnen, feinen Groll begen, feine Wuth begen: das ift, ibr Mönche, eine rechte Gefinnung, die wahnhaft, hülfreich, zuträglich if. Was aber ift e8, ihr Mönche, für eine rechte Gefinnung, die heilig, wahnlos, überweltlih, auf dem Wege zu finden ift? Was da, ihr Mönche, im heiligen Herzen, im wahnlofen Herzen, das fich auf heiligem Wege befindet, heiligen Weg vollendet, Denken und Bedenken, Nachfinnen, Greifen und Begreifen, geiftiges Ausgeftalten und Zwiegefpräch ift: das ift, ihr Mönche, eine rechte Gefinnung, die heilig, wahnlos, übermweltlich, auf dem Wege zu finden if. Da ift man eifrig bemüht falfche Gefinnung zu verlieren, rechte Gefinnung zu gewinnen: das gilt Einem als rechtes Mühn. Befonnen läßt man falfche Gefinnung hinter fich, befonnen gewinnt und erreicht man rechte Gefinnung: das gilt Einem als rechte Einfiht. So haben fich Einem diefe drei Dinge um die rechte Gefinnung aneinandergereiht, aneinander: gefchloffen, nämlich rechte Erkenntniß, rechtes Mühn, rechte Einficht.

„Da gebt denn, ihr Mönche, rechte Erkenntniß voran. Wie aber geht, ihr Mönche, rechte Erkenntnis voran? Falfche Rede gewahrt man als falfche Nede, rechte Rede gewahrt man als rechte Rede: das gilt Einem als rechte Erkenntniß. Was ift nun, ihr Mönche, falfche Nede? Lüge, DBerleumdung, barfche Worte, Gefchwäg: das ift, ihr Mönche, falfche Rede. Was ift nun, ihr Mönche, rechte Rede? Rechte Nede, fag’ ich da, Mönche, it doppelter Art. Es giebt, ihr Mönche, eine rechte Nede, die wahnhaft, bülfreich, zuträglich ift, e8 giebt, ihr Mönche, eine rechte Rede, die heilig, wahnlos, überweltlich, auf dem Wege zu finden if. Was ift das nım, ihr Mönche, für eine rechte Rede, die wahnhaft, hülfreich, zuträglich iſt? Lüge vermeiden, Verleumdung vermeiden, barfche Worte vermeiden, Ge: ſchwätz vermeiden: das ift, ihr Mönche, eine rechte Nede, die wahnbaft, hülfreich, zuträglich if. Was aber ift es, ihr Mönche, für eine rechte Rede, die heilig, wahnlos, überweltlih, auf dem Wege zu finden ift! Was da, ihr Mönche, im heiligen Herzen, im wahnlofen Herzen, das fich auf beiligem

Karl Eugen Neumann: Das buddpiftifche Annftwert. 527

Wege befindet, heiligen Weg vollendet, eben den vier Arten übler Rede gegenüber ſich abneigen, mwegneigen, hinmwegneigen, abwenden ift: das ift, ihr Mönche, eine rechte Rede, die heilig, wahnlos, überweltlich, auf dem Wege zu finden if. Da ift man eifrig bemüht falfhe Rede zu verlieren, rechte Rede zu gewinnen: das gilt Einem als rechtes Mühn. Befonnen läßt man falfche Rede Hinter fich, befonnen gewinnt und erreicht man rechte Rede: das gilt Einem als rechte Einfiht. So haben fich Einem diefe drei Dinge um die rechte Rede aneinandergereiht, aneinandergefchloffen, nämlich rechte Erfenntniß, rechtes Mühn, rechte Einficht.

„Da geht denn, ihr Mönche, rechte Erfenntniß voran. Wie aber geht, ihr Mönche, rechte Erfenntnig voran? Falfches Handeln gewahrt man als faljches Handeln, rechtes Handeln gewahrt man als rechtes Han- deln: das gilt Einem als rechte Erkenntniß. Was ift nun, ihr Mönche, falfches Handeln? Lebendiges umbringen, Nichtgegebened nehmen, Aus: fchweifung begehn: das ift, ihr Mönche, falfches Handeln. Was ift nun, ihr Mönche, rechtes Handeln? Rechtes Handeln, fag’ ich da, Mönche, ift doppelter Art. Es giebt, ihr Mönche, ein rechtes Handeln, das wahnhaft, hülfreich, zuträglich iſt; es giebt, ihr Mönche, ein rechtes Handeln, das heilig, wahnlos, überweltlich, auf dem Wege zu finden if. Was tft das nun, ihr Mönche, für ein rechtes Handeln, das wahnhaft, hülfreich, zu- träglich ift? Man kann, ihr Mönche, Lebendige umzubringen vermeiden, Nichtgegebenes zu nehmen vermeiden, Ausfchweifung zu begehn vermeiden: das ift, ihr Mönche, ein rechte® Handeln, das wahnhaft, hülfreich, zuträg: ch if. Was aber ift es, ihr Mönche, für ein rechtes Handeln, das heilig, wahnlos, überweltli, auf dem Wege zu finden ift? Was da, ihr Mönche, im heiligen Herzen, im wahnlofen Herzen, das fich auf heiligem Wege be- findet, heiligen Weg vollendet, eben den drei Arten üblen Handelns gegen- über fich abneigen, mwegneigen, hinmwegneigen, abwenden ift: das ift, ihr Mönche, ein rechtes Handeln, das heilig, wahnlos, überweltlich, auf dem Wege zu finden if. Da ift man eifrig bemüht falfches Handeln zu ver- lieren, rechte® Handeln zu gewinnen: das gilt Einem als rechtes Mühn. Befonnen läßt man falfches Handeln hinter fich, befonnen gewinnt und erreicht man rechtes Handeln: das gilt Einem als rechte Einficht. So haben fih Einem diefe drei Dinge um das rechte Handeln aneinandergereiht, an- einandergefchloffen, nämlich rechte Erkenntniß, rechtes Mühn, rechte Einficht.

„Da gebt denn, ihr Mönche, rechte Erfenntniß voran. Wie aber geht, ihr Mönche, rechte Erkenntniß voran? Falſches Wandeln gewahrt man als falſches Wandeln, rechtes Wandeln gewahrt man als rechtes Wandeln: das gilt Einem als rechte Erkenntniß. Was ift nun, ihr Mönche, falſches Wandeln? Hintergehn, verrathen, bezichtigen, austundfchaften, Vortheil um Vortheil ermuchern: das ift, ihr Mönche, falfches Wandeln. Was ift nun, ihr Mönche, rechtes Wandeln? Rechtes Wandeln, fag’ ich da, Mönche, ift doppelter Art. Es giebt, ihr Mönche, ein rechtes Wan: dein, das wahnhaft, hülfreich, zuträglich iſt; es giebt, ihr Mönche, ein rechtes Wandeln, das heilig, wahnlos, überweltlih, auf dem Wege zu finden if. Was ift das nun, ihr Mönche, für ein rechtes Wandeln, das wahnhaft, hülfreich, zuträglich iff? Da hat, ihr Mönche, der heilige Jünger

528 Karl Eugen Neumann: Das buddhiſtiſche Kunſtwerk.

falfchen Wandel verlaffen und friftet fein Leben auf rechte Weife: das ift, ihr Mönche, ein rechtes Wandeln, das wahnhaft, hülfreich, zuträglich ift. Was aber ift es, ihr Mönche, für ein rechtes Wandeln, das heilig, mahnles, übermweltlih, auf dem Wege zu finden ift? Was da, ihr Mönche, im heiligen Herzen, im wahnloſen Herzen, das fich auf heiligem Wege befindet, heiligen Weg vollendet, eben dem faljchen Wandeln gegenüber fich abneigen, wegneigen, binmwegneigen, abwenden ift: das ift, ihr Mönche, ein rechte: Wandeln, das beilig, wahnlos, übermweltlih, auf dem Wege zu finden ift. Da ift man eifrig bemüht falfches Wandeln zu verlieren, rechtes Wandeln zu gewinnen: das gilt Einem als rechtes Mühn. Befonnen läßt man falfhes Wandeln Hinter fich, befonnen gewinnt und erreicht man rechtes Mandeln: das gilt Einem als rechte Einficht. So haben ſich Einem dieſe drei Dinge um das rechte Wandeln aneinandergereiht, aneinandergefchloflen, nämlich rechte Erfenntniß, rechtes Mühn, rechte Einficht.

„Da geht denn, ihr Mönche, rechte Erfenntniß voran. Wie aber gebt, ihr Mönche, rechte Erfenntniß voran? Dem recht Erfennenden, ibr Mönche, fommt rechte Gefinnung zu, dem recht Gefinnten kommt redte Rede zu, dem recht Nedenden kommt rechtes Handeln zu, dem recht Han: delnden kommt rechtes Wandeln zu, dem recht Wandelnden kommt rechte: Mühn zu, dem recht Bemühten fommt rechte Einficht zu, dem recht Be fonnenen fommt rechte Vertiefung zu, dem recht Vertieften kommt rechtes Wiffen zu, dem recht Bewußten fommt rechte Erlöfung zu. So wird, ihr Mönche, der achtfach gerüftete Kämpfer zum zehnfach gerüfteten Heiligen.

„Da geht denn, ihr Mönche, rechte Erfenntniß voran. Wie aber geht, ihr Mönche, rechte Erkenntniß voran? Der recht Erfennende, ihr Mönche, hat falfche Erkenntniß überftanden: und was da aus falfcher Er- fenntniß mancherlei Uebles, Unheilfames bervorgehn kann, auch das bat er überftanden; und aus rechter Erkenntniß kann da mancherlei Heilfames zu vollflommener Reife ſich entwideln. Der recht Gefinnte, ihr Mönche, der recht Redende, recht Handelnde, recht Wandelnde, recht Bemühte, reht Befonnene, recht Vertiefte, recht Bewußte, recht Erlöfte, hat falſche Ge finnung, falfche Nede, falfches Handeln, falfches Wandeln, falfche Mühe, falfche Einficht, falfche Vertiefung, falfches Wiſſen, falfche Erlöfung über ftanden: und was da aus falfcher Gefinnung, falfcher Nede, falfchem Har- deln, falfhem Wandeln, falſchem Mühn, falfcher Einficht, falfcher Vertiefung, falfchem Willen, falfcher Erlöfung mancherlei Llebles, Unheilſames hervor gehn kann, auch das hat er überftanden; und aus rechter Gefinnung, rechter Rede, rechtem Handeln, rechtem Wandeln, rechtem Mühn, rechter Einficht, rechter Vertiefung, rechtem Wiffen, rechter Erlöfung kann da mancherlei Heilfames zu volllommener Reife fich entwideln.

„So ift, ihr Mönche, mit zwanzig Theilen heilfam, mit zwanzig Theilen unheilfam ein vierzigmächtiger Gedanfengang dargeftellt worden: und darwiderftellen kann fich fein Asket und fein Priefter, fein Gott, fein böfer und fein heiliger Geift, noch irgend wer in der Welt.” |

Auch der technifch rein ausgeglichenen Durchbildung folcher bloß prä (udirender Reden fommt wohl fchon ein Theil des Beifalls zu, womit der Zünger den Meifter kennzeichnet:

KRarl Eugen Neumann: Das buddhiſtiſche Runftwerf. 529

„Sch war da, ihr Brüder, zum Erbhabenen gegangen, feine Satzung zu hören. Und der Erhabene legte mir die Sagung dar, weit und weiter, inniger und inniger, mit ihren Theilen von Gut und Böſe. Wie mir nun da der Erhabene die Sagung darlegte, weit und weiter, innig und inniger, mit ihren Theilen von Gut und Böfe, ward fie mir Harer und klarer, und Sa um Sag erfchloß fich mir, und ich erkannte den Meifter: Volllommen erwacht ift der Erhabene, wohl fund gethban vom Erhabenen die Sagung, wohl vertraut die Züngerfchaft.”

Um da nun eine folche Kennzeichnung auch nach der künftlerifchen Seite hin allmälig einigermaßen verftehen zu lernen, werden die freilich nur fpärlich gegebenen Beifpiele zur gotamidifchen Technik einftweilen als ein- leitender Behelf dienen.

Wahlrechtsfragen. Bon Friedrih Naumann in Schöneberg.

Die alten Kämpfe ehren immer wieder! Während man vor etwa 20 Sahren zu fagen pflegte, das Zeitalter der Verfaffungsfragen fei vorliber und die Periode der fozialen Probleme fei angebrochen, erleben wir, daß heute ganz Europa, foweit es öftlich von Frankreich und Belgien liegt, von Wahlfragen durchzogen ift. Leberall fteht das Problem der Beteiligung der Volksmenge an der Staatsverwaltung im Vordergrund. In Elfaß und Lothringen faßt man Refolutionen über die Zufammenfegung des Landes- ausfchufles, in Baden wählt man nach neuem Wahlrecht, in Württem- berg hat man den unerledigten Streit um die Verfaflung, in Bayern er- freuen fich die Geifter am Wahlrechtsgetöfe, in Sachfen diskutiert man die Wahlrechtöverfchlechterung und ihre Folgen, in Lübeck enterbt man die Befiglofen ihrer angeftammten politifchen Rechte, in Hamburg foll die Zu- fammenfegung der Bürgerfchaft ariftofratifch reformiert werden, in Preußen wird überlegt, wie man das fchlechtefte aller Wahlfyfteme auch dort auf- recht erhalten kann, wo es praftifch undurchführbar geworden ift, im Deutfchen Reich hört die Idee, das Wahlrecht zu ändern, nicht auf .... was aber mehr bedeutet ald das alles: in Defterreich wird das allgemeine Wahlrecht zur großen Parole, zum Rettungsruf der Monarchie gegenüber den Natio- nalitäten, und in Rußland fteigt aus Blut und Druck der Ruf in die Höhe: „Wählen wollen wir, wählen!” Es ift, ald ob fich vom wild bewegten Oſten aus die europätfche Gefchichte rüfte, eine etwas verfpätete Zentenarfeier der franzöfifchen Revolution zu veranftalten, als wollte fie die Akten ordnen

Subdeutſche Monatshefte. II, 12. 34

530 Friedrich Naumann: Wahlrechtöfragen.

für eine neue Aufnahme des alten Rieſenprozeſſes Staatsbürger contra privilegierte Mächte. Es iſt ja freilich feine leichte Mühe, diefe Akten durchzuarbeiten. Ueberall find die geltenden Rechte verfchieden, überall aber find die Gründe für und gegen die demofratifchen Wahlen diefelben. Lleberall fagt man, daß der Staat zerbricht, wenn er in die Hände der Menge gerät. Diefe Behauptung ift ed, die auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden muß, wenn man fich felbjt ein Urteil bilden will.

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Der Staat zerbricht in den Händen der Maffel Was iſt es eigent- lich, das da zerbricht? Es kann verfchiedenes fein. E8 zerbricht der alte fürftlihe Wirtfchaftsftaat, es zerbricht die alte patriarchalifche Autorität, es zerbricht der Staat als Inftrument der herrfchenden Oberfchicht und es zer: bricht möglicherweife der Staat als politifch-militärifche Macht. Ueber den erften diefer vier Punfte haben wir ſchon früher an diefer Stelle gerebet, als wir die „Wandlungen im Wefen des Staates“ befprachen. Dort ver- fuchten wir zu befchreiben, wie der alte privatlapitaliftifche Fürftenftaat durch Einführung von liberalen Begriffen und Wahlrechten ſich zu einem Ver— waltungsorgan der Gefamtheit umgeftaltete, zum Träger und QAusführer derjenigen allgemeinen Tätigkeiten, die im Privatbetriebe nicht gut oder überhaupt nicht geleiftet werden fünnen. Solche Tätigkeiten, wie militärifcher Schutz, Yuftiz, Verkehrsweſen, Voltsfhule, Armenpflege werden immer bleiben und deshalb wird eine Art von Staat immer bleiben. Auch das demo- kratifchite Wahlrecht ändert an der Tatfache der Staatserifteny nichts. Gelbft aus Revolufionen taucht irgendwie der Staat wieder auf, mweil er unent- behrlich ift. Eine Gefahr der Staatsbefeitigung im ganzen liegt alfo ficher nicht vor, aber freilich ift e8 das Ziel der Wahlrechtstämpfe, die Urt und den Umfang der Staatstätigkeiten zu ändern. Nur um bdiefes Zieles willen werden ja folche Kämpfe geführt! Wenn demnach vom „Zerbrechen“ des Staates geredet wird, fo ift das ein etwas übertriebener Ausdrud für einen Vorgang, der wichtig und ſchwer genug bleibt, auch wenn er nur als „innere Aenderung der Staatskonftruftion“ bezeichnet wird, und wenn er, was möglich aber nicht ficher ift, fich ohne Brand und Schießgewehr voll. zieht. Wir fprechen abfichtlich nicht von den Formen, in denen fich die Aenderungen jegt in Rußland vollziehen. Das ift ein Thema für fich. Mag der Uebergang gelind oder hart fein, die Aenderung felber ift es, die wir und vor Augen ftellen, eben die Aenderung, daß die Menge mit Hilfe von MWahlrechten den Staat in ihre Hände befommt. Diefe Aenderung ift pſychologiſch, wirtfchaftlich und politifch zu beurteilen. Beginnen wir damit, fie pfychologifch zu erfaflen!

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Es iſt heute aller Welt klar geworden, daß auch bei durchgeführtefter Demofratie der Staat in Wirklichkeit von wenigen Menfchen geleitet wird. Daran ändert feine amerifanifche Fülle von Wahlrechten und fein ſchweize⸗ rifches Vollsreferendum etwas. Staatsleitung ift Berufsarbeit, gleichgültig, ob diefe Arbeit für Bezahlung verrichtet wird oder nicht. Die Erweiterung der Wahlrechte bringt keine Volksherrfchaft im Sinne der alten tapferen

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Friedrihd Naumann: Wahlrechtöfragen. 531

Schwärmer für das felbftregierende freie Volk. Alles Wählen ift nur eine KRontrollmaßregel gegenüber der tatfächlichen Arbeit der Staatsleitung, aber als folche ift fie von mweitgreifender Wichtigkeit, denn fie unterftellt die Ne- gierenden der wirkſamen Kritik der Menge und bricht damit ihre patri- archalifche Autorität. Das Wählen hat den Sinn, daß die Menge fich darüber ausfpricht, ob ihr die Urt, wie fie regiert wird, im allgemeinen zufagt. Alle Wahlverfammlungen haben den Inhalt: follen die Negierenden ein Vertrauensvotum oder ein Mißtrauensootum erhalten? Go oft die Wahlurne gerüttelt wird, wird das blinde Untertanenvertrauen zerjchüttelt. Das ift es, was die Gegner der Wahlrechte als erften Anklagepunkt gegen die demofratifche Staatdgeftaltung vorbringen. Gie fagen, daß Völker mit diefer Art der Autoritätszerbrödelung feine ftarten Völter fein können. Völker, die etwas großes leiften follen, müffen, fo belehrt man ung, glaubende, vertrauende, unkritifche Völker fein. Alle politifche Romantik, fei fie konfer- vativ oder klerikal, geht vom Ideal des unkritifchen Volkes aus. Die Größe des Mittelalters fol in feiner herrlichen Gebundenheit beftanden haben. Ob das für damals richtig ift, mag dabingeftellt bleiben, fann ung im Grunde gleichgültig fein, denn unfere Größe ift anderer Urt als die des Mittel: alters. In unferer Zeit find die gebundenen Völker die Llnterliegenden. Wir brauchen die Lockerung der Einzelfubjelte/und fpüren nur allzu deutlich, . daß der englifche und amerifanifche Unabhängigkeitsfinn der Einzelmenfchen eine gefchichtliche Kraft erften Grades ift, die durch feine Art von gläubiger Untertänigleit aufgewwogen werden kann. Schon allein um dieſes Gutes willen ftehen wir von vornherein und grundfäglich auf Seiten der Ver- größerung der Wahlrechte der Menge. Wir leugnen nicht, daß es viele krankhafte Kritik in der Wahlpolitit gibt. Es wird unendlich viel Torheit geredet, wenn die Mafle ihre Regierenden vor das Tribunal des Stimm- zetteld beranholt. Da wird eine Staatsregierung deshalb verurteilt, meil fie dem Hans keinen Bahnhof auf fein Rartoffelfeld gefegt hat und dem Heinrich feine Penfion für nichts angeboten hat. Aber folche Torheit wird geringer, je länger das Syſtem der Wahlen fich einlebt. Kein Wahlſyſtem fann nach feinen erften zehn Jahren beurteilt werden. Und man denfe doch nicht, daß ed nur bei den Regierten Kleinlichkeit und Torheit gibt und nicht ebenfo in der Mitte der Regierenden. Die Torheiten der un- fontrollierten Herrfchenden find nobler als die der Urmwähler, aber Menfch- lichkeit bier und Menfchlichkeit dort! Man erzähle alles Schlechte vom Unfinn der Maffe, fo wird man doch nicht imftande fein, damit die Throne des Abfolutismus blank zu polieren. Das allgemeine Wahlrecht ift fein Zaubermittel, aud armen Durchfchnittämenfchen plöglich Staatshelden und Geiſteskönige zu machen, aber es ift Doch das größte und befte unter den Erziehungsmitteln der Neuzeit, denn es trägt die Entfcheidung in fich, ob ein Bolt ein Volt von Einzelfubjelten fein kann und fein wird.

* * *

Wirtfchaftlich zerbricht das Wahlrecht der Menge den Staat als Inftrument der herrſchenden Oberfchicht. Auch das geht langfam und oft auf allerlei Ummegen vor fih. Iſt die Oberfchicht klug und ift die Mafle

532 Friedrih Naumann: Wahlrechtöfragen.

dumm, fo ändert das allgemeinfte Wahlrecht am wirklichen Zuftande der Dinge nur wenig. Us dumm ift die Maffe zu bezeichnen, wenn fi entweder fich auf Ziele ablenken läßt, die mit ihrem Wohl und Wehe nichts zu tun haben oder wenn fie fich durch blinden Radikalismus ifoliert. Das erftere tun jegt viele Heine Leute, die fich mit allerlei Ronfeffionsgefchichten ihre politifche Zeit nutzlos vertreiben, das legtere tun die Sozialdemokraten, die das allgemeine Wahlrecht in der Praris nicht zum Erringen von Er: folgen benugen, weil fie noch revolutionär denfen. Aber etwas Vorteil fpringt doch auch bei folcher Rüdftändigfeit aus dem Wahlrecht für die Maſſe heraus, denn im Konkurrenztampf der politifhen Wahlen müflen alle Parteien den Heinen Leuten Verfprechungen machen, von denen fie fpäter mwenigftens einige halten müſſen. Direkt oder indirekt verſchiebt je MWahlrechtsänderung den Umkreis derer, für die der Staat befondere Ge fege macht. Auch bei uns in Deutfchland wiffen es alle Beteiligten, da beifpielsweife die fächfifhe Wahlrechtsveränderung eine Verengung de wirtfchaftlichen Staatsfürforge bedeutet. Die unterfte Schicht von Wählen, die fich eine eigene Vertretung zu befchaffen in der Lage ift, ift der lest Mitkontrahent in der Wirtfchaftspolitit. Deshalb wird von denen, bie gern für ſich allein an der Staatskrippe effen, gefagt: das Wirtſchafts leben wird durch ausgedehnte Wahlrechte zerftört! Die Gefchichte abe lehrt, daß es blühendftes Wirtfchaftsleben bei radikalſten Wahlrechten geben kann. Man dente doch an unfere fehweizerifchen, belgifchen, holländiſchen und dänifchen Nachbarn! Gie alle haben freiere Verfaffungen als die größten Teile von Deutſchland, und fie alle haben ein Wirtfchaftäleben, das die Achtung und faft den Neid ihrer Nachbarn weckt. Es ift wahr, daf die demokratifchen Wahlrechte den abfoluten Herrengeift auch in Inbuftrit und Landtirtfchaft zerbrechen. Die freien Staatsbürger verlangen auch ali Arbeitskräfte eine höhere Achtung. Aber das ift kein Unglück für Induftnt und Landwirtfchaft. Die beften Erträgniffe des Landbaues find dort, wo die Rnechte am meiften freien Männern gleichen und die vorzügliciten Induftrien find da, wo die Arbeiter nach Schluß der Arbeitszeit fih in denfelben politifchen Verein begeben, in dem auch ihr Generaldirektor nur einfaches Mitglied if. Das können alle Arbeitszweige erleben, die durd fich felber ftark und lebensfähig find. Nur folhe Produktionen, die künft lich durch Staatsfhug über Wafler gehalten werden, müffen fich vor dem Wahlrecht der Menge fürchten. Der Rittergutsbetrieb, das Zollkartell find geborene Gegner der Politit der Maffe. Sie wiffen nie, an welchem Tage das allgemeine Wahlrecht ihre Sonderrechte umwirft. Wer gerade dielt Art von Betrieben für die beſte Blüte der Volkswirtſchaft hält, der wird Wahlrechtögegner fein, aber wer in den Betrieben, die ohne Staatsſchut eriftieren können, die Kraft der Nation fucht, den ſchreckt feine Demokrati fierung der politifchen Mächte.

* * *

Eins aber ſcheint doch gefährlich beim Wahlrecht der Maſſe. Es ſchwächt den Staat als politifche Macht! So wenigſtens ftellt ſich und heute in Deutfchland die Sache dar. Wir fehen, daß die Sozialdemokratie ſo

Friedrih Naumann: Wahlrechtöfragen. 533

unpolitifch ift, daß wir nicht wagen können, Deutjchlands äußere Politik, Heer und Flotte von ihrer Stimme abhängig zu machen. ®Diefer Grund ift der tieffte und berechtigtfte unter den Gründen gegen das Wahlrecht der Menge. Man fagt, es liege im Wefen der Maffe, unpolitifch zu fein und dem Staate die Machtmittel zu verweigern. Hier aber ift es Doppelt nötig, über Deutfchlands Grenzen hinauszubliden, wenn man Wahrheit haben will. Der Mangel an PVerftändnis für Machtpolitik ift feineswegs ein allge- meines Merkzeichen aller demokratifch wählenden Nationen. Amerika, Eng- land und Frankreich haben natürlich auch ihre Unterfchiede in der Stellung der Parteien zu den Machtfragen, aber es würde ganz faljch fein, den ab- hängigen Heinen Mann im ganzen ald unabänderlichen Gegner der Macht: entfaltung nad außen anzufehen. Oft ift er gerade befonders voll von einem ftürmifchen Nationalismus, beängftigend eifrig, den Ruhm und die Ehre zu wahren. Es darf in feiner Weife ald Lehrfag hingenommen werden, daß die Mafjen immer den mächtigen Staatsleitern ein Miftrauensvotum geben. Sie werden für Machtpolitit zu haben fein, fobald fie die Empfin- dung haben, daß die Machtpolitif ihnen nügt. Bei uns hat bisher dieſe Empfindung gefehlt. Der Nugen unferer Machtpolitit war und ift fachlich vorhanden, aber er wurde durch Sozialiftengefes, Umſturzvorlage, Zuchthaus- vorlage, Wahlrechtöbedrohungen, Roalitionshemmungen fo verfchleiert, daB unfere große Maffenpartei heute dem Staat und feiner Macht feindlich und ſcheinbar unverföhnlich gegenüberfteht. Was ift aus dieſer befonderen deutjchen Lage nun zu fchließen? Etwa daß wir unfere Wahlrechte wieder verkürzen follen? Gewiß nicht! Es ift zu fchließen, daß wir fie liberal handhaben und erweitern follen, bis fich auch bei ung der Nugen der Macht in politifches Empfinden der Menge umfest. Es mag das gewagt fein und nit ohne Gefahr für den nationalen Staat. Wir geben das zu, heben nur gleichzeitig hervor, daß das gegenteilige Verfahren noch viel größere Gefahren in fich birgt, denn es entfremdet die Maſſe endgültig dem Staats- gedanken und macht fie für alle abfehbaren Zeiten zu Gegnern des geord- neten gefchichtlichen Fortfchrittes. Eine Maſſe aber, die der Staatdregierung bewußt feindlich gegenüberfteht, kann zwar in Friedengzeiten mit aller ihrer Feindſchaft verhältnismäßig wenig ausrichten, wird aber zum entjeglichen Hemmnis des Sieges, wenn der Staat in Krieg verwidelt wird. Im Kriegs- falle rächt fich alles, was man im Frieden an den politifchen Gefühlen der Menge fündigt.

* *

Noch wogen die Wahlrechtsfämpfe in allen Staaten öftlich des Rheins durcheinander. In Süddeutfchland fiegt das Wahlrecht der Maffe, in Nord- deutjchland finkt es, in Defterreich und Rußland ift alles unberechenbar. Ein großer Sieg des Wahlrechtes, fei es in Defterreich, fei es in Rußland, würde auch Norbdeutfchland in neue Bewegung bringen. Wenn bdiefer Zeitpunkt kommt, müffen die Stddeutfchen mithelfen, die Preußen zu einer politifchen Achtung der Menge zu führen.

Rundihau.

Deutſche Ausländer.

„Wir Deutfchen und wir Engländer können keinen Streit belommen, dem zwiſchen uns befteben keine Intereffengegenfäge.“ Das war die ehrliche Leber: jeugung des penfionierten Kgl. Großbritannifhen Majors und Kgl. Preufifcen Rittmeifter a. D. Ker For in den Tagen ernfter Spannung kurz nad dem Krüger-Telegramm. „Und Südafrika?“ warf ich zweifelnd ein. „Südafrile bietet gar feine Schwierigkeit, denn das gehört ung Engländern; dort haben wir Deutfchen nichts zu fuchen.“ Bei diefem ritterlichen, abenteuerfroben und lieben: würdigen Kinde von einigen fünfzig Iahren löfte ſich der patriotifche Konflikt fehr einfah. Und follte e8 doch einmal zum Streit zwifchen den beiden gefün- deften Völkern unferer Zeit fommen, dann wird der Nachtomme der englijcen Parlamentsführer, wenn er noch irgendwo auf diefem Heinen Erdball im Sattel figt, vermutlih wie alle Rulturmenfchen dies als das denkbar ſchwerſte Lnglüd bedauern, aber ohne jeden innern Kampf unter die angeftammte Flagge treten.

Wie verhalten fih in folchen Fällen die Deutfchgeborenen mit einfacher oder doppelter Nationalität, die Pflichten gegen das Reich und gleichzeitig einen ausländifchen Staat zu erfüllen haben? Die Kaufleute und Arbeiter draußen in der Fremde, denen felbft diplomatifche Vertreter Deutfchlands geraten haben, ſich naturalifieren zu laffen, weil die bureaufratifche Pladerei der Friedensübungen ihre wirtfchaftliche Stellung gefährdete? Die deutfchen Referviften, die fchliehlih noch ihre 28 Tage bei ber frangöfifchen Landwehr geübt haben, weil fie an langt Griedensjahre glaubten?

In einem Wort gefagt: Das Deutfchtum wird in allen durch doppelte Nationalität oder leichten Verluſt der deutfchen Staatsangehörigkeit bervorar- rufenen KRonflitten den Schaden haben. Wir wollen uns bier nur mit dem erfteren Falle, der Konkurrenz deutfcher und ausländifcher Staatsangebörigteit, befchäftigen und gleich, als Ziel patriotifcher Agitation wie ald Gegenftand ſtaats rechtlicher Erwägung, die Grundfäge aufftellen, welche zur Befeitigung einiger befonders ſchweren Mißftände führen können. Unſere füddeutjchen Politiker follten erjtreben, daß in die Reichsverfaffung folgende Beftimmungen aufgenommen werden: „Deutfche Bundesfürften oder Regenten, Mitglieder deutſchet Volksvertretungen, Angehörige des deutfchen Heeres und der kaiſer lihben Marine fowie Beamte im unmittelbaren Reiche: oder Gtaat* dienfte dürfen keine ausländifhe Staatsangehörigkeit befigen. Per fonen diefer Art, welche beim Inkrafttreten diefer Beftimmung eint ausländifche Staatsangehörigkeit befigen, werden, falls fie nidt binnen Jahresfrift die Entlaffung aus dem ausländifchen Staats— verband erwirft haben, ihrer deutſchen Staatsangehörigkeit verluftig Der Bundesrat kann die Entlaffung aus dem ausländifchen Staats: verband nadlaffen, falls innerhalb der Frift der Verzicht auf die ausländifhe Staatsangebörigfeit erklärt wurde.“

Daß den Gefahren und Unzuträglichkeiten der doppelten Nationalität nur mit dem Raditalmittel de Verbots der Konkurrenz abgebolfen werden kann, bedarf feines Beweiſes; daß dieſes Verbot im Rahmen der Reichsverfaflung erlaffen werden darf und muß, ift ebenfo felbftverftändlih. Denn es handelt fih um Fragen der Sicherheit und Wohlfahrt des deutfchen Volkes, deren ander: weitiger Regelung Beftimmungen des partitularen Verfaffungsrechtes und dei Privatfürftenrechtes im Weg ftehen, die natürlich dem Neichsrecht zu weichen haben. Es erübrigt daher das vorgefchlagene Verfahren zur Durchführung des Gedankens leuchtet wohl dem politifchen Praftiter ohne nähere Begründung ein nur die Prüfung des zu treffenden Perfonentreifes, wobei einige wichtigere, heute im öffentlichen Intereffe ftehenden Fälle berührt werden können.

Bezüglich der Fürften und Regenten wird durch die Beſtimmung eine

Rundfchau. 535

DPerfonalunion zwifchen dem Deutfchen Reich oder einem deutichen Bunbdesftaat und einem ausländifchen Staate ausgefchloffen, was dringend nötig, wenngleich ein folcher Fall feit langem vermieden wurde und vielleicht auch künftig unwahr- fcheinlih if. Möglich und fchädlich ift er immerhin. In ziveiter Reihe wird von den Fürften, die in Deutfchland regieren follen, das Ausfcheiden aus der fremden Staatsangehörigkeit und damit eine engere Verbindung mit ihrem Lande verlangt. Auch dies ift nur nüslich, und es mag bier dahingeftellt bleiben, ob das deutfche Volk nicht beanfpruchen kann, daß ohne Rüdficht auf das Privat: fürftenvecht die Erbfolge von Ausländern überhaupt im Wege der Reichsver- fafjung abgefchafft wird. Darum kann man in Erwartung diefer Forderung einftweilen davon abfehen, daß die Vorfchrift auf die nicht regierenden Mitglieder deutfcher Fürftenhäufer ausgedehnt werde.

Bon befonderer Bedeutung ift da8 Verbot der doppelten Nationalität bei unferen Boltövertretern, worunter felbftverftändlich die Mitglieder des Reichstags und beider Rammern aller Landtage zu verftehen find. Iſt es fchon nicht aus- geſchloſſen, daß etwa Mr. Carnegie zum Profeffor an der Technifchen Hoch-⸗ fchule in Charlottenburg ernannt würde und eines Tages im Preußifchen Herrenhaufe erfchiene, fo wurde früher bereits auf die Gefahr aufmerffam ge- macht, daß der englifche Kapitalismus Vertretung im Reichstage finden könnte, was umfo leichter möglich ift, als die in England geborenen Söhne deutfcher Staatsangehöriger doppelte Nationalität befigen. Viel wichtiger find aber die beute ſchon in verfchiedenen Herrenhäufern praftifch gewordenen Fälle mehrfacher Staatsangehörigkeit von Mitgliedern des ftandesherrlichen Hochadels. LUnzweifel- baft bilden die QUngehörigen der mediatifierten Familien einen hervorragend wertvollen Beftandteil unferer politiihen Welt, im Gegenfag zu den öfterreichifch- ungarifchen Berhältniffen. Und gerade die Vielfeitigkeit ihrer in Deutſchland fundierten Intereffen fowie die Mitgliedfchaft in mehreren parlamentarifchen Rörper- fchaften find fchägbare Vorzüge, die verloren gingen, wenn man auf partitularem verfaffungsrechtlihem Wege eingreifen und etwa den Gig im Herrenhaufe von der ausschließlichen Staatsangehörigkeit in dem betreffenden Bundesftaat abhängig machen wollte. Gerade umgekehrt ift aber das Vorbandenfein im Ausland fun- dierter Intereffen, die Abhängigkeit von fremder Staatshoheit und die Zugehörigkeit zu außerdeutfchen Parlamenten bei den heutigen politifchen Berhältniffen für uns eine fo bedenkliche Seite an einem deutfchen GStandesherrn, daß man auf einer zweifelöfreien Stellungnahme beftehben muß. Dadurch würde auch Ddiefen alten Familien, die gegenüber unferem jungen Raifertum vielfach frondierten, der feſte Anſchluß erleichtert und manche bedeutende Kraft für Diplomatie, Verwaltung und Parlament gewonnen werden. Auf der anderen Geite würde aber all den Ganzöfterreichern und Halbfranzofen, den ſtark ruffifch beeinflußten und den belgifch-bolländifchen KRavalieren, kurz den unzuverläffigen Elementen der sit venia verbo bochadeligen Internationalen der recht bedeutende und oft ver- bängnisvolle Einfluß auf unfere Verhältniſſe entzogen.

Eine baldige Einführung der oben vorgefchlagenen Verfaffungsergänzung läßt vor allem ein Blid auf die heute in Süddeutſchland mit Spannung und Ingrimm verfolgten Kämpfe um die Neugeftaltung der württembergifchen Boltsvertretung erwünfcht erfcheinen. König und Volt, die Regierung und die große Mehrheit der zweiten Kammer find einig in einer Verfaffungsänderung, die jedenfallg einen Fortfchritt im Sinne moderner fonftitutionellee Regierungs- form bildet, wenn fie auch an Folgerichtigkeit und ausgleichender Gerechtigkeit binter der badifchen zurüdbleib. Die erfte Kammer mit Hilfe einer Eleinen Minderheit des AUbgeordnetenhaufes droht abermals das wichtige Werk zum Scheitern zu bringen. Und in diefem Herrenhaufe übt durch Zahl und Einfluß

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eine Reihe von Reichsausländern, die fich in der Stimmabgabe fogar vertreten laffen dürfen, eine bedeutende Wirkung aus, natürlich gegen das deutjche und württembergifche Volksintereſſe, mit dem die Herrn begreiflicherweife nur um- genügende Fühlung haben können. Das ift eine Tatfache, die nicht bloß in Württemberg als unerträglich, fondern von jedem Deutſchen als unwürdig empfunden werden muß und unfere Juriſten eigentlich mehr intereffieren follte, als die taufend Einzelheiten zivil- oder ftrafrechtliher Reform, denen fie Kraft und Zeit widmen. Es ift überhaupt ſchwer verftändlich, warum von der juriftifchen Theorie und den Praftifern aus Furcht und vornehmer Abneigung gegen alles Dolitifche die ftaatsrechtliche lex ferenda fo vernachläffigt wird, daß dies Gebiet faft nur noch ein Tummelplag ungenügend gefchulter Laien ift. Auf diefes Ein- greifen der Reichsgefeggebung in den mwürttembergifchen VBerfaffungstampf im allgemeinen deutichen Intereſſe möchte ich daher gerade hier aufmerkſam machen; denn eine Beſprechung in juriſtiſchen Fachzeitſchriften iſt heuzutage bei der Angſi der Redaktionen vor der böſen Politik nicht zu ermöglichen.

Das Verbot der doppelten Nationalität bei Angehörigen des Heeres und der Marine trifft auch den Beurlaubtenſtand und hat wohl bloß in kolonialen Verhältniſſen einige Bedeutung. Hier würde es vermutlich ebenſowenig Schwierig- keiten bereiten, wie bei den Beamten im unmittelbaren Reiche- oder Staatsdienft, wo die Anftellung von Ausländern im Bedarfsfall vertragsmäßig geſchehen kann. Dagegen fcheint die Ausdehnung des Verbots auf Beamte in mittelbarem Staate- dienft, auf Bebdienftete oder vertragsmäßig AUngeftellte nicht erforderlich, da bier nicht wie beim Militär und dem unmittelbaren Staatsdienft Fragen der Sicherheit und Wohlfahrt Deutfchlands in Betracht kommen.

Schließlich bin ich eine Erklärung fchuldig, warum ich das Verbot ber doppelten Nationalität auf einzelne Perfonentreife befchräntt zu feben wünfche und nicht einfach vorfchlage, die deutfche Staatsangehörigkeit müffe den Befis einer fremden ausfchließen. Eine folche Forderung wäre in hauviniftifchem Ginne folgerichtig, allein derartige Fragen bedürfen der fühlen Erwägung nach praftifchen Gefihtspunften. Und da zeigt fich gleich, daß diefe Verallgemeinerung unferen Intereffen jchädlih wäre. Nicht bloß würden wir in zahllofen Fällen unfern in der Fremde lebenden Landsleuten das Dafein erfchiveren und ihnen ben Wiederanichluß an das alte Vaterland benehmen, fondern wir würden fie geradezu veranlaffen, ihr Deutfchtum völlig aufzugeben, weil die zwangsweife Wahl zwiſchen zwei Nationalitäten faft immer zur Naturalifation im Auslande führt, befonders bei den im fremden Staatsdienft AUngeftellten. Erſchwert würde auch oft bie Naturalifation Fremder in Deutjchland, was fich 3. B. bei der jegigen Praris bezüglich der Aufnahme von Defterreichern und Ungarn in den badifchen Staats: verband fofort zeigen würde. Dann ift aber die doppelte Nationalität als foldhe durchaus nicht fchädlich, fondern fie befördert das Verftändnis und die Annäherung unter den Völkern, alfo Frieden und Kultur. Schädlich wird fie erft, wenn es fih um Perfonen mit unmittelbarer Einwirkung auf unfer ftaatliches und poli- tifches Leben handelt; diefer Kreis fceheint mir aber in meinem Vorſchlage richtig begrenzt. Daß bei feiner Durchführung eine doppelte Nationalität bei im Reiche wohnhaften Perfonen nur in feltenen Ausnahmefällen möglich fein wird, verfteht -fih von felbft, aber gänzlich bedeutungslos find diefe doch nicht, wie das Beifpiel der nicht regierenden, aber erbberechtigten Mitglieder deutfcher Fürftenhäufer beweiſt.

Vielleicht bietet fich fpäter eine Gelegenheit, in dieſen Blättern nachzu- weiſen, daß es noch mancherlei Fragen gibt, die der Löfung im Wege des Aus- baus unferer Reichöverfaffung harten, Fragen, an deren befriedigender Löfung wir Süddeutſchen ein ganz befonderes nationales, nicht partifulariftifches Intereffe haben.

Karlsruhe. Dtto Bielefeld.

Rundſchau. 537

Sozialpolitiſche Briefe aus Bayern. 4.

Während der bayeriihen Metallarbeiterausfperrung im beurigen Sommer ereignete fihb in München folgende charakteriftifche Gefchichte. Drei von der Firma Krauß u. Cie. ausgefperrte Arbeiter begaben fich von der Hackerbrücke durch die Hauptverkehreftraße Münchens geraden Weges zum Münchener KindI- Keller, wo ein Generalappell der Ausgeſperrten ftattfinden follte. Unterwegs ſchloß fib ihnen eine Anzahl anderer Ausgefperrter an, die fich ebenfalls auf dem Weg zum Münchener KRindl-Reller befanden. In diefer friedlichen Be— tätigung denn das Wandeln von WUrbeitern auf der Straße bildet nicht einmal nach dem bayerifchen Polizeiftrafgefegbuch eine Llebertretung in Bezug auf die öffentlihe Ruhe, Ordnung und Sicherheit mwurden fie plößlich durch das Dazwifchentreten eines Schugmannes geftört. Die Münchener Schugmann- fhaft war nämlich wahrfcheinlich aus Anlaß der Huldigung ftreitender Metall: arbeiter vor dem GSchillerdenftmal angewiefen worden, ftrengitens darüber zu wachen, daß feitens feiernder Arbeiter fein öffentlicher Aufzug veranjtaltet werde. Für öffentliche Aufzüge in bayerifchen Städten und Drtjchaften hat der Unter⸗ nehmer, Leiter oder Ordner nach dem Vereinsgeſetze von 1850 die Zuftimmung der betreffenden Gemeindeverwaltung zu erholen und fodann die Genehmigung der Diftriftspolizeibehörde nachzufuchen. Die Sache ift alfo mit Lmftändlich- feiten vertnüpft, weshalb im Bedarfsfalle, 3. B. wenn Zunftbegeifterte Jünglinge einen fcheidenden Mimen im Triumphzug nah Haufe zu bringen beabfichtigen, das Gefeh meiſtens umgangen wird. Diefe Verlegung des Geſetzes kann nun aber an dem, welcher den öffentlichen Aufzug veranlaßt, dazu eingeladen, ihn geordnet oder geleitet hat, mit Geldftrafe bis zu 100 Mark geahndet werben. Damit dies freilich gefchehen könne, muß mindeftens Ein Menfch vorhanden fein, welcher ale PBeranftalter der Sache gelten kann. Denn im andern Fall wäre niemand, der fich kurz vor oder nach Gefchäftsichluß in der Hauptverkehrsſtraße Münchens bewegt, davor ficher, wegen „öffentlichen Aufzugs“ beitraft zu werden. Im gegebenen Fall war nun nicht der geringfte Anhaltspunkt dafür vorhanden, daß irgend wer einen „Aufzug“ veranftaltet habe. Unglücklicherweiſe befand fich aber an der GSpise der harmlos Einherwandelnden ein Menſch von bejonders magerer und langer Geftalt, welcher dem Schusmann anfcheinend infolge dieſer feiner Körperbeſchaffenheit nebft feinen beiden Begleitern hinreichend verdächtig erichien, das Haupt einer Verfchwörung zu fein. Die Drei erhielten denn auch einen Strafbefehl zugeftell. Auf eingelegten Einſpruch bin hatten die Richter indeffen ein Nachſehen und fprachen die Verbrecher in beiden Inftanzen frei.

Nicht immer erfreuen fi WUrbeiter, welche bei einer Gtreifbeivegung verdächtig geworden find, mit den Strafgefegen in Konflitt gelommen zu fein, ſolcher Nachficht feitens der Behörden. Ia, auch ohne daß überhaupt ein Verdacht beftünde, kommt es vor, daß WUrbeiter in der erlaubten und zur Ausübung des Koalitionsrechtes unentbehrlihen Tätigkeit des Gtreikpoften- ftehens durch die Polizei gehindert, eventuell fogar verhaftet werden. Sowohl das gemeine Gtrafrecht wie die fpezielle Strafbeftimmung des 8 153 der Gew.d. findet gegen in Ausübung des Koalitionsrechts befindliche Arbeiter eine derartige Unwendung, daß für ftreitende oder ausgefperrte Arbeiter faft eine Kunſt dazu gehört, nicht mit dem Gefes in Konflikt zu geraten. Noch nie zuvor baben in Bayern wie übrigens in ganz Deutjchland die PVerurteilungen von GStreiffündern fo fehr die Kritit herausgefordert, wie in diefem Jahr der großen QAUusfperrungen. Während die bayerifchen Unternehmer ftraflos viele Taufende von Arbeitern durch Anwendung von Drohungen, durch Ehrverlegung

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oder Berrufserklärung beftimmten oder zu beftimmen verfuchten, an Berabredungen zur Grlangung günftiger Lohn: und WUrbeitsbedingungen nicht teilzunehmen, oder ihnen feine Folge zu leiften oder von ſolchen Verabredungen zurüdzutreten, ‘wurden Hunderte von bayerifchen Arbeitern geftraft, weil fie mit ganz den gleihen Mitteln den umgelehrten Zweck verfolgten. Und das von Rechtswegen. Denn $ 153 der Gew.O. bedroht nur denjenigen mit Strafe, welcher mit folhen Mitteln eine Koalition aufrecht zu erhalten, nicht aber auch denjenigen, welcher fie mit denfelben Mitteln zu vernichten fucht. Zu der Unbilligteit des Gefeges gefellt fich die Unbilligkeit feiner Anwendung. Denn bei dem berrfchen- den Klafjfenvorurteil wird der Zwang zur Drganifation, fofern er von QUrbeit- gebern gegen Qrbeitgeber geübt wird, auch das fommt häufig vor, wie ſich 3. ®. bei der Münchener Bauarbeiterausfperrung gezeigt bat faft nie ge abndet. Arbeitgeber müffen ſchon felbjt ftreiten, wie dies in diefem Jahre die Münchener Fuhrwerksbeſitzer tatfächlich getan haben, wenn auch ihre Roalitions- vergeben ruchbar werden und zur KRognition des Gtrafrichters gelangen jollen. Aber auch dann noch wird nicht immer mit gleihem Maße gemefjfen, wie fol gendes Vorkommnis beweift. Zwei Fuhrwerksbeſitzer in München, die einem Kollegen, weil er ſich nicht an dem im Mai ausgebrochenen Streik der Laft- fuhrwerksbeſitzer beteiligte, ins Geficht gefpuct und ihm unter Beihimpfungen die Pferde ausgejpannt hatten, wurden vom Schöffengericht beim Kgl. Amts- gericht München I je zu zwei Tagen Gefängnis verurteilt. Wenige Tage darauf wurde von dDemfelben Gericht ein Mafchinift, der während der Metallarbeiter: ausfperrungen einem QUrbeitswilligen ebenfalle ins Geficht geipudt und ibn gleichfalls befchimpft hatte, zu drei Wochen Gefängnis verurteilt. Die Gtreil- juftiz der deutfchen Gerichte wird um ihres Klaffencharatters willen von Sozial⸗ polititern aller Schattierungen man vergleiche 3. B. die Ausführungen Dr. Simmermanns auf dem legten evangelifch-fozialen Kongreß fortgefest aufs fchärffte getadel. Mit bitteren Empfindungen wird ihr auffallender Mangel an Einheitlichkeit und Lebereinftimmung mit der fonftigen Prari® der Gerichte feft- geftellt. Ein und derfelbe Ausdrud, wie 3. B. das Wort: „Streifbrecher,“ wird von dem einen Gericht mit mehrwöchiger Freibeitsftrafe geahndet, während ein anderes Gericht auf Freifprechung erkennt. Dabei ftehen die über GStreiffünder verhängten Strafen im fchreiendften Mißverhältniffe zu den Strafen, welche die Gerichte beifpielsweife bei Kindsmißhandlungen, bei Lebertretungen der Vor— fohriften der AUrbeiterfchuggefege und ähnlichen Reaten zu verhängen pflegen. Ein Bädermeifter, der feinen Lehrling barbarifh mißhandelt und feinen eigenen Bater, der fi aus Erbarmen ing Mittel legte, derart gegen einen Tifch ge fchleudert hatte, daß der alte Mann einige Rippen brach, wurde vom Gchöffen- gericht beim Amtsgerichte Bamberg kürzlich mit drei Wochen Gefängnis beftraft, während das Schöffengericht beim Amtsgericht München II gegen einen Organi- fationsführer, der einen QUrbeiter durch Drohung zum Beitritt zu feiner Gewerf- fchaft zu beftimmen fuchte, Gefängnisftrafe von einem Monat erkannte. Derartige Unſtimmigkeiten ereignen fich täglihd. Dft feheint es, als ob die Wahrung be- rechtigter Intereffen, welche bei dem Vergehen der Beleidigung im Ginne des gemeinen Strafrechts als Schuldausfchließungsgrund gilt, bei der nach gemeinem Recht ftraflofen „Ehrverlegung“ und „Verrufserklärung“ des 8 153 der Gew. O. von den Gerichten ale GStraferhöhungsgrund angefehen würde. Gelbft eine fo gänzlich veraltete Gefetesbeitimmung, wie es das baverifche. Verbot des „blauen Montags” ift, findet zuweilen eine Anwendung, welche die Kritik ge radezu herausfordert. Zu derfelben Zeit, in der die Direktion der Mafchinen- fabrit Augsburg ftraflos einige taufend Arbeiter zum Verfeiern ganzer Wochen zwang, beftrafte das Amtsgericht Dorfen zwei Rechte mit je 8 Tage Haft,

Rundfchau. 539

weil fie den blauen Montag gefeiert hatten. Hier ergab fih aus dem “Feiern der Rechte fchlimmften Falls eine vorübergehende Verlegenheit für einen oder zwei Bauern, dort wurden zahlreiche Familien der Gefahr der bitterften Not ausgejest. Dabei hatten die Augsburger Arbeiter kein anderes Verbrechen be— gangen, als daß fie zum Teil organifiert waren. Nur deshalb wurden fie aus- gefperrt; denn fie hatten feine Lohnforderung geftell. Diefelben Augsburger Arbeitgeber aber, welche die DOrganifierten auf dieſe Weife zum Austritt aus ihren Drganifationen zu zwingen verfuchten, organifierten im felben Augen- blid die Nichtorganifierten, alles, ohne durch das Geſetz im mindeften be- bindert zu fein!

Der unbefriedigende Zuftand des geltenden KRoalitionsrechte® und der darauf gegründeten Polizei» und Gerichtöpraris wird durch das veraltete Vereins- und Berfammlungsreht und die Art und Weife feiner Handhabung noch un- leidlicher gemacht. Nach der neueften Judikatur gibt es in Bayern fo gut wie gar nichts mehr, was die Polizei nicht als „Öffentliche Angelegenheit“ behandeln und zum Vorwand nehmen könnte, einen Verein zu einem politifchen zu ftempeln; zumal für einen Urbeiter wird es in Zukunft in Bayern kaum mehr möglich fein, eine öffentliche DVerfammlung ohne vorgängige polizeiliche Anmeldung ein- auberufen, ohne fich der Gefahr der Beftrafung auszufesen. Auch biefür ein paar Beifpiele. In Fürth war ohne vorherige polizeiliche Anmeldung eine Ein- ladung zu einer Verſammlung ergangen, in welcher eine Referentin über das Thema fprah: „Der WUrbeiterfrauen Kampf um Brot und Recht“. Diefes Thema fällt nach der Anficht des Fürther AUmtsanwalts unter den Begriff „öffent: liche QUngelegenbeit“, weil das Wort „Recht“ eine Beziehung zur Staats— gemwalt andeute, die das Recht mit Erzwingbarteit ausftatte. Das Gericht erkannte im Anfchluß an ein Llrteil des oberſten Gerichtshofs vom 5. Januar 1905, dab auch die foziale Lage des Urbeiterftandes als folche und die Beftrebungen besfelben in Ddiefer Richtung den, die Gefamtheit unmittelbar interejfierenden Angelegenheiten zugezählt und folgegemäß als „öffentliche Angelegenheiten“ be— handelt werden müfjen. Senes Urteil des oberften Gerichtshofs bezog fich auf eine Berfammlung ebenfalls in Fürth —, in der ein Redner über das Thema „Alkoholfrage und moderne Arbeiterbewegung“ ſprach. Nach der ausdrüdlichen Feſtſtellung des Gerichtd wurden hiebei die Bejtrebungen der Arbeiter in poli- tifcher Richtung gar nicht erwähnt, noch wurde die AUltoholfrage irgendwie in Beziehung zum Staat oder einem anderen öffentlichen Körper gebracht. Allein nah dem PBereinsgejeg kommt es nicht auf die Urt der Behandlung, jondern auf das Thema felber an. Daß dieſes in den beiden erwähnten Fällen mit _ Notwendigkeit eine unmittelbare Beziehung zum Staat und zu feiner Gefeh- gebung oder Verwaltung erkennen laffe, wie dies nach bayerifchen Recht zum Begriff der „öffentlichen Angelegenheiten“ gehört, leuchtet durchaus nicht ein, da beide Themata der wifjenjchaftlichen, insbefondere der gefchichtlichen Behandlung zugänglih find. Nun könnte man fich mit folcher ausdehnenden Interpretation eines veralteten Gefeges noch einigermaßen befreunden, wenn diefes Gejeg durch die Organe der Verwaltung wenigſtens gleihmäßig gehandhabt würde. Auf: fallen muß es aber, daß die Nachrichten über ftrenge Handhabung der vereing- gefeglichen Beftimmungen immer wieder aus Nürnberg, Fürth, Hof und Augs— burg kommen, den SHauptfigen der bayerifchen Induftrie, obwohl das Geſetz natürlich auch fonft in Bayern in zahlreichen Fällen übertreten oder umgangen wird. In München erregte es kürzlich felbft in der fozialdemokratifchen Preſſe Befremden, da der Minifter des Innern und zwar ganz in Llebereinjtimmung mit dem Geſetze ein Beamtentomitee, beftehbend aus den Vorſtänden ver: fchiedener Beamtenverbände, das die Wünfche der Beamten in bezug auf ein zu

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ſchaffendes Beamtengefe formulieren follte, für einen politifchen Verein erklärte. So fehr ift man gewöhnt, die Strenge des Vereinsgefeges font nur gegen At— beiter angewendet zu feben. War in diefem Fall das Vorgehen der Behörden formell ganz forrett, jo muß es die erbeblichften Bedenken auch vom rechflichen Standpunkte aus erregen, wenn in Augsburg eine VBerfammlung mit der Tages ordnung: „Laffallefeier“, die von dem Einberufer als öffentliche angezeigt worden war, als Verſammlung eines politiihen Vereins erflärt wurde, weil der Ein— berufer gleichzeitig Vorſitzender des fozialdemokratifchen Vereins Augsburg ift. Mit demfelben Rechte könnte jede Bismard-: oder Reichsgründungsfeier, zu welcher der Vorfigende eines politifchen Vereins im eigenen Namen einlädt, als Rereinsverfammlung behandelt werden. Daß dies in Wirklichkeit niemals ge fchiebt, braucht nicht befonders verfichert zu werden. Un jener Laflallefeier in Augsburg hatten u. a. auch ca. 15 WUrbeiterfrauen teilgenommen, und der Ein- berufer wurde beftraft, weil er der Aufforderung des überwachenden Polizei: tommiffars, diefe auszuweiſen, nicht nachgefommen war. Gelbjt nach dem „ver: befferten” bayerifchen Vereinsgeſetze dürfen nämlich volljährige Frauensperfonen Berfammlungen eines politifchen Vereins nicht anmwohnen, foferne es fih nicht um DBereine handelt, welche nur den befonderen Berufs: und GStandesinterefien beftimmter Perfonentreife oder nur den Sweden der Erziehung, des Unterrichts und der Armen und Krankenpflege dienen. In den fünf Augsburger Bororten, Böggingen, Haunftetten, Kriegshaber, Dberhaufen und Pferfee, in welchen das Groß der Urbeiterfamilien untergebracht ift und welche merfwürdigerweife noch nicht eingemeindet find, berrfchen die unglaublichften Wohnungszuftände.. Waffer: leitung und Kanalifation find nur vom Hörenfagen befannt. Eine Reihe von Häufern befist überhaupt feine Aborte, in der überwiegenden Zahl der Fälle befinden dieſe fich außerhalb der Gebäude. Lleberall finden fich Verfiggrube und PDumpbrunnen in unmittelbarer Nähe beieinander neben bäufig durchläffigen Abort: und Dunggruben. Bon 12000 vorhandenen Schlafräumen befigen nur 3422 den in bayerifchen Zuchthäufern als Minimum vorgefchriebenen Luft: raum, und "es bis *°/s der Schlafräume find nicht heizbar. Das GSchlafgänger: unweſen ift zwar weniger ausgedehnt, als in den Mietslafernen der Großftädte; aber foweit e8 vorhanden ift, führt e8 auch bier zu den gröbften Mißſtänden in fittlicher Beziehung. Angeſichts fanitärer Wohnungszuftände von diefer Art wird jeder billig Dentende den Augsburger Urbeiterfrauen wenigftens ein natürliches Recht nicht aberfennen, ſich auch in allgemein politifchen Vereinen zu betätigen, zumal in folchen, welche die Zwecke der Erziehung und des Anterrichts nicht gering ſchätzen und die Notwendigkeit der AUrmen- und Krankenpflege durch Ber: befferung der Urbeitsverhältniffe in den Tertilfabrifen und durch Befeitigung des Wohnungselends mit Hilfe des Staat? und der Gemeinde verringern wollen.

Die befcheiden genug zugemeffene Vereins: und Verfammlungsfreibeit der Arbeiter und Arbeiterinnen twurde neuerdings in Bayern noch weiter verkürzt, indem den GStaatödienern die Zugehörigkeit zur fozialdemofratifhen Partei und die Teilnahme an fozialdemotratifchen Berfammlungen verboten wurde. Eine in München veranftaltete Verfammlung von GSchugleuten, welche fih mit deren Berufs: und GStandesangelegenheiten beichäftigte, wurbe unter Hinweis auf den Aufrubr- Paragraphen aufgelöft und eine Wirtfchaft in Straubing wurde vom Kriegsminifter mit dem Militärboykott belegt, weil während des Wahltampfe eine fozialdemofratifche Verſammlung bdortfelbft ftattgefunden hatte. Vielleicht wird wenigſtens dieſe letztere Mafregel in Bälde wieder aufgehoben, nachdem das „bayerifche Vaterland“ diefelbe als eine Verlegung der Rechte des Mittel- ftands gebrandmarft hat.

Diefe Beifpiele würden binreichen, die augenblidliche fozialpolitifche Situation

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in Bayern zu charakterifieren. Das Bild zeigt keine Freude erwedende Farben. Einen Lichtpuntt bedeutet e8 immerhin, daß die bayerifche Regierung nun endlich die Arbeitszeit in den Staatswerfftätten verkürzt und den neunftündigen Marimal- arbeitstag eingeführt bat. Zwei Ereigniffe von einfchneidender Wichtigkeit aus jüngfter Zeit tragen aber dazu bei, den guten Eindrud diefer fozialpolitifchen Tat zu verwifchen. Es handelt fih um die Stellungnahme der bayerifchen Regierung zu den Tarifverträgen und zur Fleifchnot.

Den Männerftolz vor induftriellen Fürftenthronen, welcher aus ihrem be- rühmten Tariferlaß vom beurigen Frühjahr fprach, hat die bayerifche Regierung anſcheinend alsbald wieder bereut. Schon im Mai nahm fie VBeranlaffung, auf den Proteft hin, welcher auf der Berliner Tagung des Bundes der Induftriellen zum Ausdrud kam, ihrem Erlaß offiziös eine „allfeits befriedigende” Auslegung geben zu laffen. Kürzlich bat fih nun auch die oberbayerifche Handels- und Gewerbefammer mit der Angelegenheit befchäftigt und befchloffen, dem Anſuchen des Verbands bayerifcher Metallinduftrieller beizutreten, die bayerifche Regierung möge ihren Erlaß wieder zurüdnehmen. Dies ift nun tatfächlicy halb und halb gefchehen, indem die Regierung erklären ließ, die Fabrik- und Gewerbeinfpeftoren feien angewiefen, nicht in allen Fällen auf den Abjchluß von Tarifverträgen binzuarbeiten, fondern nur dann, wenn der Tarifvertrag ſowohl im Intereffe des Unternehmers wie des Arbeiters liege. Aus diefer Erklärung fpricht diefelbe Bertennung der Natur des Tarifvertrags, wie aus den Llrteilen des höchiten deutfchen Gerichtshofs, der den Tarifvertrag befanntlich als eine Verabredung zwifchen Arbeitgebern und Urbeitern zur Erlangung günftiger Lohn- und Urbeits- bedingungen behandelt. Diefe Auffaffung beruht auf einer völligen Verkennung des Wefens des Tarifvertrage. Diefer bat nicht in erfter Linie die Funktion, beide Kontrahenten zu befriedigen und das „jo wünfchenswerte gute Einvernehmen zwifchen Arbeitgebern und Arbeitern herbeizuführen“ wenn dies auch tatjäch- lich eine wichtige Nebenwirkung guter Tarifverträge ift —, fondern er hat die Funktion, die VBertragspofition der Parteien des jogenannten freien QArbeitsvertrags aus einer bloß formell zu einer tatfählich gleichen zu machen. Durch die kollektive Vertragsſchließung fol verhindert werden, daß die Bedingungen des individuellen Arbeitsvertrags dem vereinzelten und in feiner Vereinzelung ohnmächtigen Arbeiter jederzeit beliebig diktiert werden können. Denn es ift bekannt, daß, wo immer dies möglich war, die Herabdrüdung der AUrbeiterfchaft in die unmwürdigften Lebensverhältniffe die unausbleibliche Folge gewefen if. Der Tarifvertrag ift darum nirgends notwendiger, als gerade dort, wo die Interefjen des Llnternehmers und die Intereffen der Arbeiter fih am jchroffiten gegenüberftehen: im Bereich der Fapitaliftifchen Großbetriebe. Hier ift neben der Möglichkeit auch die Neigung zur Feftbaltung des fogenannten Haus: berrenftandpunfts auf der Arbeitgeberfeite am größten, während den Arbeitern zum Teil nicht nur die Kraft, fondern infolge Vertümmerung des Charafters häufig auch der Mut zur Geltendmachung ihrer entgegengefesten Intereffen fehlt. Indem die bayerifche Regierung ihre Förderung des Abſchluſſes von Tarifver- trägen auf jene Fälle bejchränten will, wo fie als im beiderfeitigen Interefje liegend anerkannt find, (— und infolgedeffen auch ohne das Dazutun der bayerijchen Regierung gefchloffen werden —), kapituliert fie gerade vor denjenigen Unter nehmern, die fie zur Anerkennung des Prinzips der Tarifverträge durch jedes erlaubte Preffionsmittel zwingen müßte, auch wenn diefe fich mit Händen und Füßen dagegen fträuben. AUbgefehen von ihrer moralifchen und fonftigen Autorität ftehen ihr ja als bedeutender Abnehmerin der großen Induftrie derartige Preffions- mittel in reicher Auswahl zu Gebote. Indeffen die Bureaukratie ift zwar in Bayern abfolut, aber doch nur infoweit, als fie es verfteht, den einflußreichen

542 Rundſchau.

Bevölkerungsklaſſen in wichtigen Dingen ihren Willen zu tun. Sie hält gegen— über dem Landtag die Fiktion aufrecht, nur der Krone verantwortlich zu ſein und ſich um das Mißtrauen von Kammermehrheiten nichts zu kümmern. Allein man hat es doch vor gar nicht langer Zeit erlebt, daß ein bayeriſcher Miniſter die Ablehnung eines Geſetzesvorſchlags, welcher gewiſſe großkapitaliſtiſche Intereſſen verletzte, durch die Kammer der Reichsräte zum Anlaß der Einreichung ſeines Abſchiedsgeſuchs nahm. Gebietet nun die Rückſichtnahme auf die Kammer der Reichsräte der bayeriſchen Regierung, ed mit großkapitaliſtiſchen Intereſſen nicht allzuſehr zu verſchütten, ſo zwingt ſie die Rückſicht auf die Mehrheit der Kammer der Abgeordneten noch viel mehr, es mit den agrariſchen Intereſſenten, die in Bayern bekanntlich überwiegend dem mittleren Bauerntum angehören, ja nicht zu ver⸗ derben. Lesteres erklärt zur Genüge ihre Haltung zu der Frage der „Fleiſchnot“. Nah dem Urteil fachverftändiger Leute war die Fleifchteuerung ſchon nach der Viehzählung vom 1. Dezember 1904 beftimmt vorauszufehen, zumal die deutjche Rartoffelernte und die Futterernte in ganz Mitteleuropa 1904 eine fchlechte ge wefen war. Da die Kenntnisnahme von derartigen Dingen nicht unbilligerieile zu den normalen Leiftungen einer guten Regierung gerechnet wird, vollends einer, die in landwirtfchaftlihen Fragen fo befchlagen ift, wie die bayerifche, jo bat man diefer mit Recht einen Vorwurf daraus gemacht, dab fie nicht recht⸗ zeitig die Initiative ergriffen hat, dem fommenden Notftand vorzubeugen. Pi Belehrung der Bauern über die zu erwartende Gteigerung der Rentabilität insbefondere der Schweinezucht, hätte zu diefem Behufe vollftändig genügt. Die bayerifche Regierung verteidigt fich daher gegen den fchiweren wider fie erhobenen Borwurf fchlecht, wenn fie fich darauf beruft, daß fie doch nicht nach Belieben regnen laffen könne. Auch bätte fie bei gutem Willen längft Schritte unter: nehmen können, um den berrfchenden Notitand wenigftens ein wenig zu lindern. Zur Zeit dürfen über die ruffifche Grenze monatlich 1360 Schweine in Ober: fchlefien eingeführt werden; vom I. März 1906 wird diefes Kontingent erhöht werden; vom gleichen Zeitpunfte an darf unter beftimmten Rautelen auch über die Öfterreichifche Grenze ein neues Kontingent in Bayern und Sachſen einge: führt werden. Wenn nun das ruffifhe Schwein No. 1361 vom 1. Mär nächſten Jahres ab nicht mehr als feuchengefährlich gilt, fo ift gar nicht einzu feben, warum man es nicht fehon jest herein läßt, wo die Schweinefleifchpreiie diesſeits der ruffifchen Grenze doppelt jo hoch find, wie drüben. Der bayerijche Minifter des Innern entjchuldigt fih damit, da der Erlaß von Ausführung: beftimmungen und die PVerftändigung mit Rußland und Defterreich-Ingarn zur Kompetenz des Bundesrats gehöre, und der Reichskanzler entfchuldigt die Saum: feligteit de8 Bundesrats damit, daß noch von feiner Regierung, auch nicht von der baverifchen, ein Antrag auf vorzeitige Invollzugſetzung der betreffenden Be ftimmungen der Sandelöverträge bei ihm oder beim Bundesrat eingelaufen fei. Gleichzeitig verfichern beide, der Reichsfanzler und der bayerifche Minifter des Innern —, daß forgfältigfte Erhebungen über das Borhandenfein umd die Gründe der leifchteuerung eingeleitet und dem Abſchluſſe nahe find. Die bayerifche Regierung wurde aber fchon unterm 2, Mai d. 38. durch eine Ein: gabe der ftädtifchen Rollegien von Nürnberg in nachdrüdlichiter Weife auf die Fleifchteuerung aufmerkſam gemacht. In diefer Eingabe hieß es unter anderem: „Aus der mitfolgenden, vom magiftratifchen Referenten gefertigten Tabelle ift erfichtlich, daß der Durchfchnittspreis für */s Kilogramm (1 Pfund) Ochſenfleiſch, mittlere Qualität, feit Monat April i. 38. 80 Pf. beträgt. Eine folche Höhe bat der Dchfenfleifchpreis in den legten 11 Iahren noch niemals erreicht. Glei- zeitig ift auch der Preis für das Fleifch anderer Viehgattungen auferordentli

in die Höhe gegangen und haben die biefigen Wirte fiehe die beiliegende

Rundfchau. 543

Bekanntmachung der vier Wirtevereinigungen Nürnberge vom 4. d. M. die Preife für Mittag: und WUbendtifh, dann für kalte Speifen um 15—25 Prozent erhöht.” In den Sommermonaten ftiegen die Preife in den bayerifchen Städten auf eine für den Arbeiter demnächit unerfchwingliche Höhe. In München und Augsburg foftet das Schweinefleifch feit Auguft 90—95 Pfennig das Pfund. Proteft über Proteft lief ein. Deffentliche Verfammlungen, Fleifcher- und Gaft- wirtsverbände, die GStadtverwaltungen und die Direktionen der Schlacht: und Viehhöfe lieferten ganze Mengen von Material zu der immer brennender wer- denden Frage. Fünfzig Mesgermeifter waren in München allein gezwungen, ihre Betriebe einzuftellen. Während die Abnahme des KRonfums von Rind: und Schweinefleifh immer offenktundiger wurde, berichteten die Zeitungen über Zunahme der Pferde: und Hundefchlachtungen und ein nationalliberales Blatt fam, twahrfcheinlih angeregt durch die berühmte wiffenfchaftliche Lehre von der Elaftizität des Haushaltungsbudgets, auf den rettenden Gedanken, den Arbeitern als Erſatz für Schweinefleifh den Genuß von Wildpret, Geflügel und Geefifchen zu empfehlen. Die bayerifche Regierung aber blieb untätig. Nichts als einige vage Vertröftungen, daß die Ralamität nur eine vorübergebende fein werde. Im gleichen Augenblid aber verficherte der preußifche Landwirtichaftsminifter fcherzen- den Mundes, daß im nächiten Jahr alles wohl noch ein bischen teurer werden würde. Und lesteres fcheint auch durchaus plaufibel. Vom 1. März 1906 an werden nämlich, foweit nicht die gefchloffenen Handelsverträge Ermäßigung bringen, die Zölle per Dz. für Rindvieh von I ME. auf 14,40 ME, für Schweine von 5 ME. auf 14,40 ME, für gefchlachtetes Fleifch von 15—17 ME. auf 27—30 Mt. fteigen, und wenn die amerifanifchen Handelsverträge keine bedeutende Ermäßigung der Zölle auf Futtermittel enthalten werden, fo befteht kein rationeller Grund für die Annahme, daß die Fleifchnot nur eine vorübergehende fein werde. Gelbit wenn mit einer fehr rafchen Vermehrung des inländifchen Schweinebeftands gerechnet werden dürfte, fo ift doch nach den bisherigen Erfahrungen mit einer entfprechenden Hebung der inländifchen Rindviehzucht aus mehreren Gründen nicht zu rechnen. Die Leiftungsfähigteit der bayerifchen Landwirtfchaft entfpricht in diefer Richtung in feiner Weife den Opfern, welche aus Mitteln der Gefamt- beit feit Jahr und Tag zu ihrer Hebung gebracht wurden, und dem Lob, welches ihre aus „offiziellem“ Munde bei jeder Gelegenheit gefpendet wird. In München ift e8 die ftändige Klage der Mesger, dab die bayerifche Landwirtfchaft nicht im ftande fei, den Markt mit auch nur einigermaßen zureihenden Mengen an Großvieh erfter Qualität zu verforgen. Im Jahre 1904 ging die Zufuhr von Großvieh aus Bayern zum Münchener Schlacht: und Viehhof um 13238 Stück zurüd. Bon einer Gefamtzufuhr von 106570 GStüd Großvieh lieferte die bayerifche Landwirtichaft nur 62247 Tiere. Nach Angabe des Schlachthof: direktors Magin kamen in München 1904 von 30000 gefchlachteten Ochſen 26000 aus Defterreih. Hieran find zweifellos weder die Schlachthausgebühren noch die Mesger noch die dreimal vermaledeiten Zwiſchenhändler fhuldig. Selbſt während der herrichenden Teuerung bleibt der Auftrieb bayerifchen Viehs zum Münchener Markt ganz ungenügend. In einer im Geptember veranftalteten PBerfammlung des bayerifchen Fleifcherverbands berichtete ein Mesgermeifter, er babe im Auftrage der Münchener Mesgerinnung mehrere Fahrten auf ländliche Biehmärkte unternommen, auf denen nach Angabe der Sentrumsblätter Schlacht: vieh zu billigem Preife zu finden war; er babe aber nur minderwertige® Vieh gefunden, für das geradezu unverfchämt hohe Preife gefordert worden feien. Ein anderer teilte mit, man babe verfucht, durch Inſerate in 19 Blättern Schweine von den Landiwirten direft zu kaufen. Hierauf feien 64 Zufchriften von Seitungserpeditionen eingelaufen, die fich um die Aufnahme des Inferates

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bewarben, aber nur 22 Anmeldungen von Schweinezüchtern, welche ihre Tiere zum Verkauf anboten. Und in einem Marktberichte der „Münchener Neueften Nachrichten“ von Anfang Oktober hieß es: „Die Markthallen im Schlacht: und Viehhof ftehen feit heute nachmittag leer. Der böchfte Preisrekord feit Beſtehen des Schlacht: und Viehhofes ift heute offiziell beftätigt. Das aus Defterreid- Ungarn zugeführte Vieh wurde troß der borrenden Preife bis auf das legte Stüd aufgelauft, felbft die minderwertigfte Ware mußte um ganz enorme Preife abgenommen werden. Der Beftand an bapyerifhem Vieh war heute für die Fleifchverforgung Münchens vollftändig irrelevant.”

Bei diefer Sachlage, und da mit einer Gufpenfion der Zölle einftweilen noch nicht zu rechnen ift, wird auch die von der Regierung in Ausficht genommene Einberufung der fogenannten „Fleifchverforgungstommiffion“ wenig helfen. Diele KRommiffion wurde aus Anlaß der legten leifchteuerung im Jahre 1902 ge bildet. Da ihre Mitglieder indeffen die Urſache der Fleifchteuerung in erfter Linie in den Verhältniffen des Zwiſchenhandels fuchten, fo blieben ihre Map nahmen ohne dauernde Wirkung auf die Preife.. Genau fo wird es vermutlid auch diefes Mal und wird es immer von neuem geben, fo lange, bis die Städte und die Induftrie in der bayerifchen Kammer unter einem gerechteren Wahl- ſyſtem zu der ihrer fteuerpolitifchen Bedeutung entfprechenden Vertretung gelangt fein werden. Dann wird es mit Hilfe des „Großteufels“ vielleicht gelingen, das Zentrum aus der Herrfchaft zu vertreiben und dem Gliquenivefen in den Stadtverwaltungen, in Bayern ein altes Krebsübell ein Ende zu machen. Dann wird auch die bayerifche Regierung davon Alt nehmen, daß es in der Welt außer Beamten und Offizieren, Bauern und Handwerkern, Fabrifanten und Hausbefigern noch eine bisher gänzlich vernachläffigte Klaffe von Menſchen gibt: Hausfrauen und Ronfumenten. Dann werden die heute verpönten Ronfumvereine neben den ländlihen Genoffenfchaften zu ungeahnten Ehren fommen und die Parteien werden aufhören, in gewerblichen Dingen, z. B. in der Warenhausfrage, miteinander um die Palme der Rüdftändigkeit zu raufen. Einftweilen jedoch, bis diefes goldene Zeitalter angebrochen ift, agitieren die Rabatt- und Sparvereinsfreunde des Zentrums mit Lnterftügung liberaler Innungsfanatiter auf Tod und Leben gegen die AUrbeiterfonfumvereine, und die k. b. Polizei ver- bietet Plakate, in denen zum Proteft gegen den „Fleifchwucher“ eingeladen Zwird.

München. Mar Prager.

Süddeutjche Erzähler.

Es Scheint, als verrüde fih der Schwerpunft deutfcher Literatur allgemab immer deutlicher von Nord nach Süd, wie ja für die mufifalifche Entwidlung [hen längft der Süden viel wichtiger geworden ift ala der Norden. Und war fchließlih nicht fogar das Gtürmlein gegen Boedlin ein Symptom für das Unbehagen gegenüber der trog alledem uneinnehmbaren Stellung Süddeutfchlands in künft- lerifchen Dingen?

Ein Heiner Stoß von füddeutjchen Erzählungen bat fih im Regale an gefammelt. Alles ift dabei vertreten: die leichte Schnurre, die nachdenklich ftimmende Skizze, der breitausgeführte Roman, die Erziehungsgefchichte, das pfochologifche Kunſtwerk. Aber auch alle Täler und Gaue haben fich einge: funden, Tyroler, Bayern, Schwaben, Schweizer. Es ift eine blühend bunte und reihe Welt, von der in diefen Bänden erzählt wird, und gerade jetzt, da die trüben Tage kommen mit den frühen Abenden und den langen Nächten, da bei der Lampe fromm Geleuchte der Inhalt von Büchern lebendig wird und zu

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träumerifchem Innehalten mitten im Lefen lodt, fcheint der Augenblid günftig, von der legten Ernte unferer füddeutfchen Erzähler zu fprechen.

Drei fröhliche ‚Schnurren bat Rudolf Greiny in dem Bande „Das goldene Regelfpiel“ (Leipzig, Staackmann) vereinigt; derbe und ſchlaue Gefchichten aus Tyrol, wie man fie wohl erzählt, wenn der Rote befonders gut fchmedt: vom genarrten Bettelftanzer von Burgeis, den die Pafcher in ein altes Weib verwandeln und den gefchwärzten Kaffee felbit an den Adreſſaten befördern laffen; vom alten Efel, der nochmal heiraten will und durch die in der Dreikönigsnacht mit der Gabe des Sprechens begabten Tiere feinen baldigen Tod erfährt eine Gefchichte von echt voltstümlichem graufigem Humor; vom Stiegel Bader, der ſich den wibderfpenftigen Schwiegervater buchftäblich weich fiedet, bis er das Jawort gibt. Greinz erzählt ausgezeichnet, mit jener leichten Urt, allerhand kecke Drücker und Lichter aufzufegen, wie unjre fabulierluftigen Gebirgler wirklich er- zählen. Schon etwas ernfter find manche der zehn Gefchichten von Karl Wolf, deren erfte, „Die alte Pofterin“, dem Bande den Namen gegeben hat (Inne- brud, U. Edlinger). Wolf, der Erfinder und Entdeder des urwüchfigen Paars Sirt und Hartl, wächft fichtlih als Künftler. Mehr und mehr weicht die Luft am Spaß und Spiel finnvollem Humor, und neben recht harmlofen aber hübfch erzählten Anekdoten finden fich fchlicht ergreifende Schidfale, wie die Gefchichte vom Leuchter, oder die rührende Begebenbeit von der AUllerfeelenhenne, oder von der Zenoburger Her, oder das Prachtſtück „AUbgebligt”, das grade fo gut von Anzengruber fein könnte. Künftlerifch auf einer ganz andern Höhe freilich ftehen „Die Braven und die Schlimmen“, Gefhichten aus Bayern und Tyrol von Helene Raff (Berlin, Paetel). Eine diefer Novellen tennen unfre Lefer ſchon wir haben fie im vorigen Jahre gebracht: „Sein Sieg“, die einfache und ſtarke Darftellung eines fchlichten Gefchehniffes. Einfach und ftarf und jonderbar zu Herzen gehend ift auch die erfte Novelle des Bandes, die von der bübhnen- haften Emerenz, die foviel Bitternis aushalten muß, bis fie zu ihrem befcheidenen Stüdlein Glück fommt. „Was der GSimele nicht weiß“ künnte in feiner fchalt- haften Weisheit auch von Rofegger fein. In den größeren Erzählungen des Bandes, wie „Streitende Mächte” zeigt fich Helene Raff ale Meifterfchülerin Paul Henfes, dem fie das Ganze gewidmet hat. Ein KRabinettsftüd, wie wir deren nicht allzuviele haben, ijt Franz Brugger, etwa in der Urt der beiten Sachen aus den Lettres de mon Moulin. Helene Raff ift ein ausgefprochenes Erzählertalent. Ihre Technik fteht auf der Höhe ihrer Probleme. Mit ficherer Hand zeichnet fie, kräftig und gerade, Strich um Strich; fie tüftelt nicht, läßt fih nicht geben, mit ruhiger Gelaffenbeit führt fie ihre Erzählungen zu einem richtigen, abfchließenden Ende. Ein ebenfo ftartes, noch in voller Entwidlung befindliches Talent ift U. Supper. Ihr Sammelband von Schwarzwald-Er- zäblungen nennt ſich „Da hinten bei ung“ (Heilbronn, Salzer). Die erfte Novelle beißt: „Wie der Adam ftarb“; die legte: „Johann Kufterer auf Abwegen“. Unſere Lefer fennen beide und werden beftätigen, daß Frau Gupper eine novel- liftifche Begabung von ganz auferordentlicher Originalität if. Ihre Fähigkeit, mit einem einzigen fnappen Wort und Strich zu charakterifieren ift eminent, und findet fich in diefer Stärke nur bei Ludwig Thoma, dem allerdings von der tiefen, innigen Herzensgüte diefer Erzählungen etwas zu wünfchen wäre. Es war ung eine wahrhafte Genugtuung, beide GStüde zu bringen, und wenn unfre Lefer etwa noch die ergreifende Studie „Mir Bfonders* oder gar „Auch Eine” auf fih wirken laffen oder den berzlihen Humor von des Vikars neuer Methode, werden fie einen ftarfen und bleibenden Eindrud erbalten. Wenn Frau Supper ihre Begabung jo ausbildet und zügelt, dab fie von der Skizze zur größern Novelle und zum Romane fortjchreitet, ohne an Driginalität einzubüßen, dann

Süddeutiche Monatshefte. UI, 12. 35

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haben wir eine neue Ebner-Efchenbah. Der menfchliche Gehalt in diefen Schwarz wälder VDorfgefchichten ift fo reich und ächt und rein, daß wir fie zum wertvollſten des legten Jahres zählen. Bon Ernft Zahns „Helden des Alltags“ (Stuttgart, Deutiche Verlagsanftalt) erinnern mande an die lauteren Helden der Supper. Nur dab Zahns Gebiet weiter, feine Begabung wuchtiger, fein Vortrag ge fchloffen if. Was ihn aber auszeichnet, ift eben diefe wahrhaft herzwärmende Güte, die aus feinen Gefchichten berüberleuchtet. Helden des Alltags! Verena Stadler fchreitet, ftarten Herzens und ruhigen AUntliges, dem Reigen voraus, die einfache Magd, die neben dem minderen Manne pflichtfreudig fchafft, eine der ſchönſten Geftalten der neueren ſchweizer Dichtung! Wen führt fie an ber feiten Hand? Das Leni, das tapfere, zwölfjährige Mägbdlein, das nach der Mutter Tod rejolut Haus und Wirtichaft führt, und in dem Augenblick, da e# dem Bruder fein Liebes: und Lebensglüd fchön troden unter Dach gebradt bat, fih zum Sterben hinlegt. Noch viele andre folgen dem Paar: der wilde Geiger, der Troger Iatob, der nur im Hochtal oben in einfamer Gennbütte noch geigt, wo ibn feines Menfchen Ohr hören kann; und der brave, tapfre Kaplan Longinus, der fo jung fterben muß auf öder Bergpfarre; und das reden- bafte Gefchwifterpaar, das foviel in zwei winterlichen Kriegsnächten durchmachen bat müſſen, daß Schmerz und Not fie für immer zufammengefchmiedet haben; und Vinzenz Püntiner, der im Rate alles gilt und der wehrbaftefte Mann der Landesgemeinde ift, und ftandhaft in den Tod gebt, feine finnlofe Leidenfchaft für des Bruders Weib zu erftiden: Helden des Alltags, alle, alle, ſtarke Schid- fale im trogigen Herzen verfchließend, und lieber an ihnen zugrunde gehend, als feige fich jelber untreu zu werden! Feſt und bart ftehen diefe Schickſale da, wie die Berge, zu deren Füßen fie fich abfpielen, und mit wilder, ungeftümer Kraft raufchen fie vorbei, den Bergbächen gleich, die aus großen Höhen kommen. Es ift bei aller Gemütstiefe eine mannbafte, beinahe redenhafte Art von Novelliftit, wie Ernft Zahn fie pflegt; ernft und marfig, ohne Gentimentalität, von feiter Manneshand entworfen und ftreng durchgeführt.

Auch der Hochgebirggroman hat fih gewandelt. Ganghofer, deifen „Hohen Schein“ ich im Aprilheft anzeigte, gebt feit geraumer Zeit immer ernfteren Problemen nah, und ein Roman wie „Der Kroaterfteig“ von Anton rei. beren von Perfall (Stuttgart, Bonz) zeigt fo recht, wie fehr auch diefe Gattung fih vertieft und zum Menfchlich-Bedeutfamen durchgerungen bat. Noch freut ſich auch in diefem neueften Buche Perfall feiner Kunſt, Schidfale und Aben teuer bunt und fpannend zu fmüpfen, aber durch all diefe Buntheit leuchtet Menfchenliebe, die uralten und ererbten Haß verföhnen hilft, und nicht mit dem Unglüde, ſondern mit tapferer Pflichterfüllung der Enkel die Schuld der Ahnen zu fühnen trachtet. Es ift kein billiger Optimismus, mit dem Perfall durch drei Generationen hindurch die Lebensläufe der Kroaterifchen zu endlichem Glüde führt, fondern mit Müh und Schweih, mit Entfagung und Arbeit muß Gtüd um Stüd und Zoll um Zoll dem Fluche abgerungen werden, der über dem Verräterhauſe laitet.

Der Lebenslauf eines Rnaben ift der Inhalt von Hermann Hefies Ge ichichte „Unterm Rad.“ ') (Berlin, ©. Fifcher). Eines normal begabten Jungen Leben und Leiden! Zu früh zwängt ihn die unfelige Begabung unters Rad der lateinifchen Schule, zu ſchwer drückt auf die ſchwachen Rnabenfchultern die Vorbereitung aufs Landeramen, und da fein Gefchiet ihm die ſchwere Ebrenlait des Zweiten in der Prüfung auflädt, gebt der arme Junge bald an den For derungen des Gymnaſiums zugrunde: nervenkrank in die Heine Heimatftadt zu—

) Adam Karillon befpricht fie eingehender auf Geite 568 ff. dieſes Heftes.

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rüdgefehrt, entgleitet er dem rauhen Leben jäh, und eines bleihen Morgens treibt ein fchmächtiger Körper auf dem Fluffe. Hatte er fich felbft getötet? Wars ein Unglüd? GSchwermütig und leife, wie ein altes Volkslied, Klingt dies Leiden eines Rnaben aus, und eine rührende Geftalt fteht Hans Giebenrath, der vom Rade der Schule Zermalmte, vor unfern Augen.

Emil Strauß läßt fich Zeit, aber was er jchreibt, iſt erften Ranges. Geine „Kreuzungen“ (ebenfalls bei S. Fifcher, Berlin) zeigen es aufs neue. Kreuzungen, das will jagen: alles das Neigen Herzen zu Herzen, das wunderliche Hin und Her von Liebe und Erkalten, das fanfte Abglühen großer Leidenfchaft, das fanftefte Aufglänzen neuer Lieb und neuen Lebens. Unter Umftänden, die gemeinere Naturen unlöslich aneinandergejchmiedet hätten, löfen Hermann und Elfriede fih: mochte der Frühlingsüberfchiwang der Leidenfchaft fie ſich nahe ge- bracht haben, jede Urt ehelichen Zufammenlebens kann nur ihr Gegenfägliches berausarbeiten, und ruhig und in tieffter, innigfter Dankbarkeit reichen fie fich die Hände zum WUbfchied für immer. Ein anderes Mädchen wird, unmerklich aber unaufhaltiam, in Elfriedens leergelaffenen Play bineinwachfen, die junge Klara, die in redlicher Qrbeit ums tägliche Brot aus einem oberflächlichen Badfifch ein tapferes Mädchen wird und ein begehrenswertes Weib.

Auf die fteilfte Höhe führt den Lefer Jakob Chriftof Heers „Wetter— wart” (Stuttgart, Cotta). Heer, der zuvor einige Skizzen veröffentlicht hatte, trat mit feinem Roman „Un heiligen Waffern“ plöglich als ein Ganzer und Fertiger vor das lefende Publitum, und ein Ganzer ift er geblieben, deſſen Namen man nennt, wenn man die Ullerbeften nennt. Ein wunderfames Tage- buch ift es, das der Wetterwart auf der meteorologifchen Station des Feuerfteing führt, fich die lange Winterzeit zu kürzen. Ein wunderfam Gemifch von Lebens: beichte und Tagebuch deffen, was er gegenwärtig fühlt und was der Telegraph des treuen Schulmeifterd von Gelmatt ihm binaufträgt. Grelle Gefchide aus großer Höhe gefehen vorbei, vorbeil Vorbei, liebe Jugenddämmerung im einfamen Hochtal von Selmatt! Vorbei, Bergfturz, der das Dorf begrub! Vorbei, trogige Lehrjahre in Hamburg, heiße Mannesjahre in Merito, Heimatfluh und Heimatfluht, Fahrten im Ballon in Sturm und Bläue! Vorbei die beiden feligften Geftalten: Duglörli, die holde, zärtliche Jugendgeliebte, und Abigail, das beraufchend fchöne Weib! Alles und Alle vorbei. Nur ein ftolger Mann figt träumend auf dem hohen Feuerftein und bevölkert fich die weißfchimmernde Gletfcher- pracht mit den glühendften Gefichten aus allen Weltteilen, mit Märchenformen und Zauberfarben, bis die Krankheit ihn ziwingt, in die Niederung des Tals herabzu— fteigen, damit ihm Gottlobe, die beißgeliebte Tochter, die Augen zudrüden könne.

Noch einmal überblide ich die Reihe diefer Erzählungen: Welches Leben! Melhe Welt! Wieviel Kraft und ftolzer Frohmut lebt darin, und welch edle Tapferkeit des Herzens! Alt fei fie geworden, unfere Literatur? Gebt ber, wie jung fie ift, wie reich und jchön, und das Lob der heimatlichen Erde fingt, bei- mifcher Scholle und heimifchen Himmels Lob und die Gefchide der Männer und Frauen der Heimat. Und all das die Ernte eines Jahres! Und alles Garben füddeutfcher Lande! Deß freuen wir ung von Herzen.

München. Joſef Hofmiller.

Zwei neue Schweizerromane.

Die Romane „Flut“ von Jakob Wiedmer!) und „Lebensdrang“ von Paul Ilg?) find nicht nur durch den Schauplag, auf dem fie fpielen und

') Am Verlag I. Huber u. Cie. in Frauenfeld 1905. ) Deutiche Verlagsanftalt, Stuttgart 1906.

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durch die Lebensverhältniffe, welche fie beleuchten wollen, fondern auch durch die Vaterlandszugebörigteit ihrer Verfaffer Schweizerromane. Jakob Wiedmer ift ein Berner, aus dem Emmental gebürtig, wo das Pfarrhaus Ieremias Gott: helfs liegt; Paul Ilgs Heimat ift in der Dftfchweiz zu fuchen, am Unterſee im Ranton Thurgau. Beide PVerfaffer find noch junge Männer und treten zum erftenmal mit größeren Werten vor die Deffentlichkeit. Und eins ift ihnen noch gemeinfam: daß fie, bevor fie zur fchriftftellerifchen Weder griffen, in durchaus unliterarifchen Lebenstreifen ihre Jugendjahre binbrachten, dafür aber die Wirt: - lichkeit und das Volk durchweg anders fennen lernten, als dies den Gtudier- ftubenliteraten möglich ij. Paul Ilg wurde mit dreizehn Jahren fhon in eine Gießerei geftedt, war ſpäter Raufmannslebrling in verfchiedenen Gefchäften der frangöfifhen und der deutfchen Schweiz, wurde im „struggle of life‘‘ einmal fogar dazu gebracht, es mit der Karriere des Hotelkochs zu verfuchen dies alles, bevor er fein neunzehntes Jahr erreicht hatte. Gpät erft gelang es ihm, fih die Mittel zum Befuch von IUniverfitätsvorlefungen (in Zürich) zu verfchaffen, doch im wefentlichen ift feine Bildung die des Autodidakten geblieben. Und ebenfo verhält es fich mit dem Berner Jakob Wieder, der als blutjunger Menſch in merlantilem Beruf nah Athen gelangte, wo er allerdings feinen handelsmännifchen Spekulationsgeift auch im Ankauf antiker KRunftwerte für das Berner Mufeum mit Glüd bewährte, für dasjelbe hiſtoriſche Mujeum, in das er neulich als BVizedirektor feinen Einzug gehalten hat. Vorher aber war er ein paar Sabre lang Gafthofbefiser und Wirt im Berner Oberland. Nun dergleichen Lebens- läufe find wir in der Schweiz an unfern Gchriftjtellern längft gewohnt und man weiß es ja auch in Deutfchland, daß der erfolgreichfte unferer fchweizerifchen Romandichter Ernft Zahn feit vielen Jahren Inhaber und ungemein praftifcher Leiter der großen Bahnbofreftauration in Göfchenen (an der Gott- bardbahn) ift, nebenbei bemerft übrigens auch Landrat und Kriminalrichter des Kantons Uri.

Es erweckt nun von vornherein ein günftiges Vorurteil, wenn wir feben, wie Männer, deren tägliche Arbeit in der Bewältigung materieller Aufgaben beftand, ſich troß dem Drud, den folche Arbeit auf das geiftige Leben ausüben fann, ber inneren Forderung poetifhen Schaffens auf die Dauer nicht zu ent- ziehen vermochten. Man ahnt, daß da wirkliche Berufung mit im Spiele ift und vor allem, daß folche Schreibende uns etwas zu fagen haben. Und welchen Wert die von ihnen unter harten Bedingungen erlangte Lebenstenntnis für die Realiftik ihrer Phantafiegebilde haben muß, das wurde bereits angedeutet. Fehlt es doch auch nicht an PBeifpielen des Gegenteils, wo die gar zu raffinierte lite- rarifche Bildung eines von Jugend auf fein gefchulten Geiftes einem ebenfalls bedeutenden Talent binderlic wird; ich dente an den bochbegabten Basler Schriftfteler Carl Albert Bernoulli, deffen Schweizerroman „Der Gonder: bündler“ ') in feiner geiftreihen Vielgefchwägigleit doch ein gar zu verfünfteltes Werk jener Sorte Romandichtung ift, die man als „Bildungsbelletriftit” be- zeichnen könnte.

Was nun die beiden neuen Schweizer Autoren Jakob MWiedmer und Paul Ilg betrifft, fo haben fie außer ihrer Landsmannschaft und ihrem autodidaltifchen Lebensgang nichts Gemeinfames, fo da es notwendig ift, von ihren Büchern getrennt zu handeln.

„Flut“ von Jakob Wiedmer ift infofern für deutfche Lefer der aftuellere Roman, als fie in dem Buche die MWechfelbeziebungen gefchildert finden, welche fih zwifchen dem allfjommerlih in die Schweiz fich ergießenden Fremdenftrom

) ©. Fifcher, Berlin 1904.

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und der dajelbjt einbeimifchen Bevölkerung ergeben. Der Touriftenftrom ift die Flut, nach welcher der Roman benannt wurde. „Diefe Flut“ fo lefen wir im erjten Rapitel „Ichwillt von Jahr zu Jahr, und mit ihr wächſt die Zahl derer, die von ihr das Glüc erhoffen und ihren Launen fich anvertrauen. Raum einer ift, der nicht fein Teilchen zu erbafchen fucht von dem, was fie bringt. Stille Buchten werden geräufchvolle Häfen und auf die höchiten Bergesgipfel erzivingt der Menjch mübelofen Zugang; unbekannte Dörflein werden berühmt, und wo ehedem faum einige genügjame Hirten ein fpärliches Fortkommen fanden, prangen heute jtolze Paläfte.“ Und nun kommt der Verfaffer auf den „Weiler Stägen“ zu jprechen, unter dem er das weltbelannte Wengen überm Lauter: brunnental meint, wo er felbjt als Gaftwirt die Erfahrungen gejammelt bat, die er in feinem Roman verwertet. Wie Wengen, das auf feinem Bergplateau liegende idylliihe Dörfchen durch den Bau zweier Eifenbahnen zuerſt der ing Tal hineinführenden Linie, dann der Wengernalpbahn, an die fich in jüngjter Zeit die Sungfraubahn angegliedert bat das Hotelftädtchen wurde, das wir alle fennen, und was diefe Wandlung für einen Einfluß auf die Bewohner, auf ihre wetbjelfeitigen Beziehungen batte, das bildet, fummarifch gefprochen, den Inhalt des Romans. Pas Buch Wiedmers bat daher, wenigftens für ung in der Schweiz, nicht nur die Bedeutung eines Beitrags zur Unterhaltungs: belletriftit, fondern ijt eine Schrift von volkswirtfchaftlihem Werte, ein Traftat über die große foziale QUngelegenbeit der Fremdeninduftrie. Und zwar will es eine Warnungsfchrift fein. Diefer materiell wichtigfte Faktor des jchweizerifchen Alpenlandes foll zwar gepflegt, aber nur jo gepflegt werden, daf das fchweizerifche Boltstum nach der idealen Geite keine Schädigung erleide. Die Fremdeninduftrie darf nicht wie das im „Weiler Stägen“ gefchehen zum krankhaften Fieber ausarten, fie darf den Sinn des Bauern für die Bodenkultur, für Familienleben, für. die guten Beziehungen vom Nachbar zum Nachbar nicht ruinieren.

Dabei ift aber Wiedmers „Flut“ doch ein echter LUnterhaltungsroman ; denn über alle diefe voltswirtfchaftlichen und fozialethifchen Angelegenheiten wird vom Verfaſſer nicht theoretifiert; auch feine Perfonen behandeln fie nicht diskutiv, fondern aus der Führung der Handlung und aus einigen ungemein lebendig erfaßten Charakteren ergibt fich die leitende Idee. Und das fei auch fogleich feftgeftellt, daß der Verfaſſer zu guter Menfchentenner ift, als daß er etwa auf eine fehönfärberifche Darftellung der Zuftände vor dem Einbrecyen der Flut des Touriftenftromes verfallen wäre; er ift weit entfernt davon, ung glauben zu machen, feine „Stägener” Bauern feien vor der Berührung mit den Fremden eine Urt arkadifcher Hirten gewefen, die von Neid und Dünkel und Klatfchjucht und Schnapsgenuß nichts gewußt hätten. Sein Roman bat aljo durchaus nichts DBoltsichmeichlerifches etwa in dem Sinne, als ob erft die (Fremden einen Ver— derb der Sitten in die Schweizer Alpen bineingetragen hätten. Nur zeigt er allerdings, wie nun die fieberhafte Sucht nach fcheinbar mühelos zu gewinnenden Reichtümern alles, was ohnehin an fchlimmen Eigenfchaften in den Leuten ver- borgen lag, zu verhängnisvoller. rafcher Entwidlung bringt. Der Roman mußte, um Dies alles zu veranfchaulichen, zu einer Art Familienchronit des ganzen Dörfchens werden; die Fülle der Gefchehniffe und der Gejtalten gibt ihm bei- nabe den imponierenden Charakter eines Epos. Und wirklich haben wir in diefer bäurifchen Aelpler-Ilias einen Achill, der, fern vom Lager der Achäer figend, mit den andern Griechen in Hader lebt. Der Holzfchniger Eicher, deſſen kleines Belistum, abfeits von den Wohnungen der andern Leute, am Waldrand liegt, fpielt diefe Rolle, indem er fo ziemlich der Cinzige ift, der fo lange als möglich den fchädlichen Einflüffen der Fremdeninduftrie und den damit verbundenen In- trigen der Gemeindematadoren zu trogen wagt. Am feifelnditen wird der Roman

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da, wo diefer ehrliche Kunſthandwerker zur Tochter feines Feindes, des Ulrich Aaregger, eines alten fchlauen Fuchſes und zugleich des mächtigſten Mannes in der Gemeinde, in intime Beziehungen tritt. Wir erleben da eine tragifch ver- laufende Liebesgefchichte, die in zarteften Tönen gehalten ift und einen tief rühren⸗ den Eindrud zurüdläßt.

I. Wiedmer hat fich durch diefen Roman als Volksſchriftſteller und zwar als einen nicht unberufenen Nachfolger feines großen Landsmannes Zeremias Gotthelf eingeführt. Mit Ieremias Gotthelf bat er den ethiſchen Ernſt gemein- fam, ferner die gründliche Kenntnis des Volkes, in dem er aufgewachſen ift, die Liebe zu den Kernnaturen, den Groll gegen alle nur oberflächliche Kultur, die das Wurzelechte im Volt ausrottet und durch nichts befjeres zu erjegen weiß. Auch wie er einer auf frommer Herzenseinfalt beruhenden Religiofität das Wort redet, aber dem Konventitelchriftentum der ſich in geiftlichem Hochmut gefallenden „Stündeler“ in der Perfon jenes Ulrich WUaregger zu Leibe gebt, jtimmt mit Gotthelfs religiöfen Anfchauungen wohl überein. Bor allem aber hat Wiebmer auch etwas von Gotthelfs plaftifcher Geftaltungstraft und von Gotthelfs Humor. Das foll nun nicht heißen, es fei ung in Wiedmer ein neuer Gottbelf erftanden. Ein fo überquellender Reichtum an Pbantafie und Gemüt wie der des einftigen Pfarrers von Lüselflüb in Verbindung mit einem fo fcharfen Weltverftand ift ein feltener Glüdsfall. Uber wenn wir bei dem Vergleich gerecht fein wollen, müffen wir 3. B. doch auch hervorheben, daß man in Wiedmers „Flut“ nirgends jenen in den Predigton verfallenden Betrachtungen begegnet, mit denen Ieremias Gotthelf fo oft den Fluß der Handlung unterbridt. Und wenn andererfeits der Roman „Flut“ ftellenweife etwas Ermübdendes hat, fo liegt die Schuld mehr am Stoff ald am Verfaffer, da es durch diefen Stoff gegeben war, daf die Gefchichte fih über einen Zeitraum von ungefähr zwanzig Jahren hinziehen und die einzelnen Etappen der mit jedem neuen Sommer immer weiter vordringenden Fremdenflut fchildern mußte, wobei es nahezu unmöglich wurde, jene Wiederholungen zu ver: meiden, welche ja fchon im Wechfel der Iahreszeiten und der den Menfchen hiedurch auferlegten Befchäftigungen liegen. Man muß fi) im Gegenteil wundern, wie der PVerfaffer bei folchem ihm durch ben Gegenftand auferlegten Cinerlei doch fo viel Abwechflung in fein großes AUlpengemälde zu bringen und eigentlich öde Stellen zu vermeiden gewußt hat. Man fpürt überall den mächtigen feelifchen Anteil, den er felbft an feinen Geftalten und ihren Schidfalen nimmt. Das nachdenkliche Buch ift daher gewiß wert, auch in Deutfchland gekannt zu werden; vielen Lefern wird es eine genußreiche Erinnerung gewähren an ihren Uufent- balt im Berner Oberlande und manden auch zum Bewußtfein bringen, daß zwiſchen dem Touriſtenwandervolk und der in befuchten Gegenden einbeimifchen Bevölkerung eine Wechfelwirkung befteht, die mit der Hotelrechnung und ben Trinkgeldern nicht erledigt ift.

Für den Roman „Lebensdrang“ von Paul Ilg kann, obfchon er ebenfalls in der Schweiz fpielt, von einer folchen aus den Örtlihen Beziehungen gewonnenen aftuellen Bedeutung nicht die Rebe fein. Dafür ift er in zeitgenöffifchem und univerfalerem Sinne aktuell als der überall feine lebendigen Modelle findende Roman des jungen Menfchen unferer Tage, der in heißem Lebensdurft und ohne große Gewiffensftrupel von der Welt Befig ergreifen will wie ein Eroberer. Das ift nicht mehr wie in Oktave Feuillets „Roman d’un jeune homme paavre“ der vor allem den Schild feiner Ehre blank haltende, etwas fentimentale junge Mann, der jeden andern Lebensfieg verfchmäht, wenn er nur an Edelmut unbefiegt bleibt. In diefem Roman gefpenftet vielmehr der rüdfichtslofe Geijt eines Gecile Rhodes, obwohl die Gefchichte, die uns Paul Ilg erzählt, in pbilifter- haften Kreifen der Stadt Zürich ſich zuträgt und ftofflich einen Ausfchnitt aus

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der Häuſerſpekulations und Gründerepoche vorftellt, welche wohl feiner auf- blühenden jungen Großftadt erfpart bleibt. Auch Nietzſches Lehre vom Willen zur Macht bligt im rafchen Verlauf der padenden Handlung auf wie die Flämmchen an den Drähten einer elektriihen Bahn. Und ihre Kraft beweift fie am Lefer darin, daß er nicht umhin kann, dem vielfach gegen die bürgerliche Moral fich verfündigenden jungen Menfchen, der der Held des Romans ift, den Lebensfieg zu wünfchen, den er dem Schidfal mit zum Teil verwerflihen Mitteln abzutrogen ſucht. Wir unterliegen der Bezauberung, die auch gewiffe Gewalt- menfchen der italienifchen Renaiffance durch ihre Willensftärfe auf uns ausüben, wenn wir ihre Gefchichte lefen. Und ich erinnere mich, indem ich dies nieder- fchreibe, wie Jakob Burdhardt, wenn er vor uns Schülern des Basler Päda- gogiumsd von dem „frevelhaften Ceſare Borgia* jprach, in diefes „frevelhaft“ einen Akzent unmilltürliher Bewunderung legte, den feine jungen Zuhörer fehr wohl berausfpürten.

Man muß indeffen nicht glauben, Paul Ilgs „Lebensdrang“ fei eine Art Verbrecherroman. Wenigftens ift er es nicht im gewöhnlichen Sinne des Wortes; was da an Verbrecherifchem gefchieht, „bleibt in der Familie“, fo daß das Buch biedurch zu einer unbheimlichen Beftätigung der Redensart vom überall vorhandenen „Skelett im Haufe“ wird. Auch ift die ganze geiftige KRonftruktion des Werkes eine zu feine, ald daß man es zu dem üblichen Kriminalroman in Beziehung fegen dürfte. Paul Ilg, der, wie wir bereits wiffen, nach drangvoll verlebten Rnaben- und Zünglingsjahren, in Zürich ftudierte, hat vor allem auch den Ein- fluß der Dichtungen des großen Züricher Meifters Gottfried Keller an fich er- fahren und aus ihnen wohl zu allem Urfprünglichen feiner eigenen Natur das Befte zugelernt. Sein „Lebensdrang” ift fogar ein Gegenftüd zu einer der Novellen Kellers, zum „Schmied feines Glüdes“. Nur hat Keller in feiner Novelle von dem liftigen John Kabys diefes Zurechtfchufternmwollen des eigenen Schickſals mit dem behaglichen Humor des alternden Mannes luftig ad absurdum geführt und den Helden zu einer lächerlichen Figur gemacht, während der felbft noch junge Verfaffer von „Lebensdrang“ im Glüdshunger der Jugend und in ihren hiedurch beroorgerufenen verzweifelten Lebenstämpfen die ernfte, tragifche Saite ſchwirren fühlte und deren Schwingungen feiner Dichtung mitzuteilen juchte, was fein gutes Recht war. Wie die Lichter des am Waldfaum im Schnee frierenden und bungernden Wolfes find die begehrlichen Blicke, die in Groß- ftädten die draußen ftehende, aber ihr leidenschaftlich pulfierendes junges Blut fpürende Armut in die fetlich geſchmückten Räume der Reichen fendet. In Ilgs Roman nun wird das Intereffe an dem Süngling noch dadurch gefteigert, daß Martin Lint fo bat der Verfaffer feinen Helden genannt keine roh materielle Natur ift, fondern nach dem Belis von Reichtum und Macht nur ftrebt, weil er ahnt, daß diefe Güter ihn ein durch Schönheit verfeinertes Leben ermöglichen werden. Auch wird? Martin Link, dem übrigens AUnfechtungen des Gewiſſens nicht vollftändig fremd bleiben, durch den Verlauf der Ereigniffe zulegt zu der Erkenntnis geführt, daß fein Verſuch, durch rein finnliche Gewalten von der Welt Beſitz zu ergreifen, ihn feinen dauernden Gewinn hätte erreichen laffen. Wenn fein abenteuerliher Beutezug dennoch einen verhältnismäßig glüdlichen Ausgang nimmt, jo bat er dies nur dem Umſtande zu danken, daß die Frau, die noch fchwerer gefehlt hatte als er felbit, von der nun fein ferneres Schidfal abhängt, ibm im Bewußtfein ihres größeren Freveld und auch in Erinnerung ihrer früherer gemeinfamen Liebesbeziehungen feine Verirrungen vergibt. Das mag auf den erften Blick frivol erfcheinen, wie man auch das Goetheſche Luftjpiel „Die Mit- fchuldigen“ als frivol bezeichnet bat. Nur liegt es doch auch wieder von der riftlichen Idee nicht allzuweit entfernt, wonach wir einander nicht richten, ſondern

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wechfelfeitig verzeihen follen im Bewußtſein eigener vielfaher Verſchuldung. Moraliften mag es allerdings verlegen, dab Martin Link fchließlih im Genuß feiner auf widerfittlihe Weiſe erlangten Eroberung bleibt und zwar als Gatte der Tochter der reichen Frau, mit der er wenige Monate vorber jelbft in einem fträflichen Liebesverbältniffe gelebt hatte. Hier dürfte aber mehr als die Reue Martin Linte in Betracht fallen, dab die beiden Schuldigen ihre fündige Vergangenheit um der unfchuldigen Tochter willen, deren Lebensglüd fie nicht zerftören durften, mit der ewigen Nacht der Verfchwiegenbeit bededen und als gleihfam ungefchehen betrachten mußten. Es tritt bier die fchöne Wahrheit zutage, daß es menfchlicher ift, das Lebensglüd eines ahnungslofen, guten und unfchuldigen Mitmenfchen zu hüten, als es durch ein dem Gittengebot darge: brachtes rückfichtslofes Sühnopfer für immer zu zerftören. Daß es freilich auch das Bequemere bleibt, das erniedrigt die beiden Schuldigen, die diefen, wenn man will, weichlicheren Weg einfchlagen müffen, vor ihrem eigenen Bewußtfein und wird für fie fomit doch auch eine Urt Buße. Wie fern übrigens der Ver: faffer davon war, die moralifchen Berirrungen feines Helden gering anzufchlagen, dafür fpricht am deutlichiten der einer Ballade GC. Spittelers entlehnte Vers: „Die ftärkften Geelen gehn am längften fehl“, den Ilg feinem Buche ald Motto vorangeftellt bat.

In einer gedrudten Ankündigung des Verlags wird gejagt, der Roman des jungen oftfchiveizerifchen Dichters erinnere in manchen Tönen an Gottfried Kellers berbes Alterswerk, den „Martin GSalander“. Dies ift bauptjächlich in ftofflicher Beziehung wahr. Indem der junge GStreber, von dem Ilgs Roman handelt, ald armer Schreiber in die Dienfte eines Züricher Häuferfpelulanten und Millionärs tritt, ergibt es fich von felbft, da wie im „Martin Salander“ fo auch in diefem Buche die moralifche PVerlotterung eines nur von materiellen Interefjen geleiteten Bürgertums fcharf aufs Korn genommen wird. Und bier mögen fich auch fprachliche Uehnlichkeiten zwifchen dem Meifter und dem Schüler ergeben. Nur ift in Ilgs Roman das Tempo ein viel rafcheres als im „Martin Salander”, ja, man kann es ein ftürmifches nennen, jo daß die Leidenfchaftlich- feit der Handlung auch ftiliftifch fich wiederfpiegelt, was in fünftlerifcher Beziebung natürlich einen fehr guten Eindruck macht. Dürfte man Schriftitellern nach ihrem Stil Wappentiere zuteilen, fo würde ich dem Perfaffer von „Lebensdrang“ den fpringenden Leoparden geben, dem Verfaſſer von „Flut“ den feit und breitbeinig daftebenden Alpenſtier.

Bern. I. 2. Widmann.

en un en

Theodor Gomperz, Eſſays und Erinnerungen.)

Es gibt ein koftbares Belenntnisbüchlein, in dem Anton Springer, der Geichichtsfchreiber und KRunfthiftoriter, berichtet, wie er, der im Schatten eines Klofters aufgewachlene Czeche, ein deutfcher Mann und „ehrlicher Proteftant“ geworden jei. Springer wendet fich, wie in vertraulichem Geſpräch, an feine Angehörigen und gewinnt fo den Mut zu rüchaltlofer Offenheit und die rechte Stimmung zu bebaglicher Kleinmalerei. An diefe Gelbftbiographie eines aus unfrer Nachbarmonarchie herftammenden Profeffors, der mehr war ala „Profeffor,“ mag man fich gemahnt fühlen, wenn man die Aufzeichnungen zur Hand nimmt, mit denen wir das Lebensfchifflein des Wiener Pbilologen und Pbilofophen Theodor Gomperz bie zum Einlaufen in den Hafen der akademiſchen PLebr-

') Deutfche Verlagsanftalt, Stuttgart und Leipzig.

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tätigteit begleiten dürfen. Freilich, Gomperz denkt ſich einen andern Hörer: freis, als der Verfaffer jenes biographifchen Teftaments, etwa die Freunde feiner „griechifchen Denker“ fo fpricht er zurüdhaltender, objeftiver, man möchte fagen alademifcher. Aber wer zwifchen den Zeilen zu lejen verfteht, der ſieht doch ein ganz Ähnliches Menfchenjchidfal vor feinen Augen ſich erfüllen . .

Gomperz gehört einer vornehmen jüdifchen Familie an, einem Kaufmanns: und Gelehrtengefchlecht, dem fchon der Große Kurfürft 1661 ein Privilegium verlieh; noch fein Vater bielt „an den Dbfervanzen feines Stammes mit Fanatis- mus feſt;“ ein Chorherr des Auguftinerftifts zu AUlt-Brünn, fein Lehrer Franz Bratranet wird fein geiftiger Befreier denn, fo befremdlich es Klingen mag, „das KRönigsklofter zu Brünn ift ein Herd der Aufllärung, ein Git des frei- geiftigen Jung Hegeltums geweſen.“ Wie mancher der Bejten feines Stammes bielt es Gomperz trogdem für Ehren und Gewiffensfache „der alten Religions: gemeinfchaft nicht zu entſagen.“ Und wenn er fich damit auch für lange Zeit „den Weg zu gedeiblicher Wirkfamkeit verfperrte“ nur diefe erlebnisreichen Lehr: und Wanderjahre, die ihn in den Leipziger Grenzbotentreis, nach Paris in die Nähe Littris, nach England zu John Stuart Mill und George Grote führten, fonnten den „ewigen Studenten“ zu jener freien und reichen Perfönlichkeit umbilden, die fich in den „griechifchen Denkern“ fpiegelt.

Gomperz bat das Glück gehabt, das immer auch ein DVerdienft in fich fchließt: in der Periode des Suchens und Heranreifens trefflihen Führern perfönlich nabe treten zu dürfen. Uber nicht feine Univerfitätslehrer oder die Grenzboten- freunde Guftav Freytag, Dito Jahn, Heinrich von Treitfchte find die Ge- jtirne gewefen, nach denen er Richtung und Ziel feiner Fahrt beftimmen konnte. Stärker als all jene Einflüffe ift die univerfelle und gefchloffene Perfönlichkeit John Stuart Mille. Nicht ale ob Gomperz ein willenlofer Gefolgsmann des Engländers wäre. Er macht jehr treffende Einwendungen gegen fundamentale Lehren feines Freundes und Meifters und verhüllt uns nicht die Grenzen und Schwächen des Frübreifen, dem die „Natürlichkeit im weiteften Wortverftande“ und damit die Inftinktficherheit und der einfache sensus recti in bedauerne- wertem Maße gebrochen und verkürzt war; zumal die Incredibilia Mills über die Frauen: und Mutterfchaftsfrage gefchrieben unter dem verhängnisvollen Einfluß feiner jtärfern Hälfte erfahren eine feharfe Zurüdweifung (©. 35 f.). Aber jener von Mill zuerjt konfequent durchgeführte Standpuntt des Phäno- menalismus, von dem auch die deutjche „wiſſenſchaftliche“ Philoſophie der Avenarius, Göring, Wundt ausgegangen ift, diefer Standpunkt war und blieb das Überzeugungszentrum Gomperzens; das zeigt die Vorrede zu Philodems Schrift über Induttionsfchlüffe, wie die Wertung der antiten Philofopbie in den „griechifchen Dentern.“ Neben Mil fteht George Grote, der an praftifcher Er- fahrung reiche Parlamentarier und ehemalige Bankherr, der von den Tatjachen der Gefchichte Griechenlands, „Die verdunfelnden Schleier perfönlicher Feindfeligkeit und moralifierender Rhetorik mehr als einmal weggezogen“ und in feinem Wert über Platon die erfte zutreffende Darlegung der Genefis des platonifchen Staats- und Gejellichaftsideald gegeben hat. Man wird fagen dürfen: die geiftige Ge: famtperfönlichkeit des Wiener Gelehrten wurzelt am tiefjten in Griechenland und in England (ähnlich wie bei feinem Stammgenofjen Jakob Bernays der Eng: länder Gibbon neben den Griechen fteht); ausgejprochen Deutfches wird man in dem Bande fehr wenig finden. Wer in der Lage ift, neben diefen Typus den eines Forſchers wie Erwin Rohde zu ftellen, der wird ſich des fundamentalen Unterſchieds bei engſter Verwandſchaft der wiffenfchaftlichen Intereffen fofort be— wußt. In Rohde bleibt immer ein ſtarkes Stüd deutfcher Romantik lebendig nicht zum Schaden der Sache, denn daß die Jugendpflegerin unferer Gefchichts-

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wiffenfchaft im Grunde ihre Verderberin und Feindin fei, diefen Wahn hat gerade Rohdes Lebenswert am beften widerlegt. Gomperz wird felbft nicht widerfprechen, wenn man in ihm vor Allem den „guten Europäer“ fieht, und in feiner Weltanfhauung und wiffenfchaftliden Betätigung bei der regiten KRombinationsgabe jenen „getviffen Zug zur geiftigen wie leiblichen Nüchternbeit“ erkennt, den er felbft als eine Nationaltugend der Juden bezeichnet bat (G. 197). Dazu gefellt fi auch bei ihm die „ungewöhnliche Biegſamkeit und Anpaffungs- fähigkeit“ feines Stammes; in der Schule gefchichtlich-philologifcher Arbeit hat fie fih in der Tat zu der Fähigkeit gefteigert, „Jich unter Menfchen aller Epochen wie unter Zeitgenoffen zu bewegen.“ Das zeigt die bunte Folge der Eſſays, die wohl Iedem Etwas bringen wird. Wie ſich Gomperz in feine griechifchen Poeten, Philoſophen und Staatsmänner mit intimften Verftändnis „einzufühlen“ weiß, fo durchdringt er, ein genialer Porträtmaler mit der Feder, Form und Wefen der ihm perfönlich oder wiffenfchaftlich nahe ftehenden Modernen, wie Satob Bernaps und? Mommfen, Eduard von Bauernfeld und WUdolf Erner, George Grote, Lord Lytton und John Stuart Mill. „Diefer felbft, der bochgewachfene, mustel ftarfe Mann mit Heinen grauen Augen unter nervös zudenden Lidern, mit der Hugen Diplomatennafe, den dünnen, unfinnlichen Lippen und dem beweglichiten Gefichtsausdrud, verriet höchſtens durch das fpärliche blonde Haar über der hohen und breiten Stirn, daß er bereits die Mittagshöhe des Lebens überfchritten hatte. Die ſchöne, zugleich voll und zart gebaute Frau (von zwei Kindern aus erfter Ehe umgeben) nahm an der Ronverfation den regften Anteil. Sie warf bisweilen mit einem unbefchreiblih anmutigen Lächeln ein blendendes Witzwort in diefelbe, und felbft ale das Gefpräch eine metaphufifche Wendung genommen hatte, fragte der faft andächtig laufchende Gemahl um ihre Meinung, die fie (mit leiſer Stimme) in Harer, wohlgejester Rede kundgab.“ Das ift John Stuart Mil Auch der kühle Phänomenalift und „Kämpfer gegen Willkür“ war in getiflen etbifchen Überzeugungen von den allerperjünlichiten Erlebniffen beftimmt . . .')

Das Zitat mag auch dem Fernerftehenden einen Begriff von Gomperzens fchriftftellerifcher Eigenart geben. Er fchreibt anfchaulih; mit einer gewiſſen ſchlichten Zierlichkeit, wo es fein muß, ſcharf in der Sache, aber ohne je durd die Form zu verlegen; kurz, mit jener nicht gerade modernen ‚Urbanität‘, die er an feinen Führern zu rühmen weiß. Auch wo er, mit innerlichfter Anteilnahme, auf die großen wiffenfchaftlichen und politiichen Zeitfragen zu fprechen kommt, läßt er fich nie zu lärmender Gebärde und demagogifchen Rraftausdrüden herab. Man lebte angenehmer in der Gelehrtenrepublit, wenn dieſer Debattier: und Umgangsjtil nicht Ausnahme wäre. Gerade bei der Darftellung und Beurteilung der Perfönlichkeiten tut dies gelinde, gleichmäßige Licht die beften Dienfte. In der Tat, fo viel fachlich Bedeutfames Gomperz zu jagen hat: das Schönfte, was er uns bietet, ift doch die glänzende Folge feiner mit feinem und fichern Griffel aufgenommenen Porträtblätter.

Wenn nur das beigegebene Bildnis des Verfaffers, das man auf der Münchener Lenbach » Ausstellung im Original ftudieren konnte, ähnliche Vorzüge hätte! Das mag wohl eine flott hingeftrichene, dekorativ wirtende Malerei fein: als Bild wird « Niemand für voll nehmen, der einmal in dies durchgearbeitete Huge und gütige Ant- lig hat hineinbliden dürfen. Es gibt eine Medaille von Scharff; fie ift vielleicht nicht ganz frei von handwerksmäßiger Tiftelei und Geledtheit, aber fie trifft doch das Charakteriftifche des feinen Ropfes viel beffer, als das lebensgroße Rnieftüd Franz von Lenbachs. Man möchte fie in dem Bande irgendivo ald PVignette fehn.

München. Dtto Erufius.

9 Den Fahphilofophen wird die Bemerkung über die angebliche petitio prin- cipil in Mills Ethit intereffieren, ©. 33.

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Sohn Henry Kardinal Newman.

Zu den anziehenditen und bedeutendften Perfönlichkeiten, die auf die geiftige Phyſiognomie des 19. Jahrhunderts einen beftimmenden Einfluß ausgeübt haben, gehört unftreitig der englifche Kardinal Newman. Weiteren Kreifen ift er als das Haupt der Konvertiten befannt, die in der erjten Hälfte des vorigen Jahr— bunderts in Ronfequenz der traftarianifchen Bewegung aus der englifchen Hoch- tirche zur fatholifchen Kirche übertraten. Seine Bedeutung ift indes damit nicht erfchöpfl. Wie jollten wir es ſonſt verſtehen, daß an ſeinem Grabe gemeinſam mit den Anhängern jener Kirche, in deren Schoße er geſtorben war, auch über- zeugte Anglikaner den Verluft diefes großen Mannes beklagten? Newman ftand im edeliten Sinne des Wortes über den Parteien. Er war gerade wegen feiner fejten Glaubensüberzeugung die rührendfte Verkörperung der Verföhnung, des Friedens und der Liebe. Wer ihm deshalb näher trat, ob Freund oder Gegner, konnte fih dem Zauber feiner Perfönlichkeit nicht entziehen. Gleich berühmt als Kanzelredner wie als glänzender GStilift, riß er, ohne zu blenden, alle fort durch die Wärme und Innigteit feines Gemütes, durch die tiefdringenden, ernfter und anhaltender Geiftesarbeit entftammenden Gedanken und nicht zum mindeften durch die kunftvolle, wahrhaft Haffifhe Form, in der er den koft- baren Inhalt fredenzte. Sein ganzes Denken, Sinnen und Trachten kriftalliert ſich um das Eine, das ibm vor allem als notwendig erfchien, um das religiöfe Problem. Uber in ftaunenswerter Vielfeitigkeit verfteht er diefes Problem in lebendigen Zufammenhang mit den Tatfachen und Fragen zu behandeln, die die Gemüter feiner Zeit befchäftigten: Er verwertet mit dem Geſchick, das nur dem Genie eignet, die damals zum Teil noch unausgefprocdhenen Tendenzen der modernen Weltanfchauung, um fie dem impofanten Gebäude feiner religiöfen Lleberzeugung einzugliedern. Einen eigenartigen Reiz und eine fchier unerfchöpf- liche Fülle etbifcher wie intellettueller Anregungen muß die Betrachtung des geiftigen Entwidlungsganges einer folchen wahrhaft großen Individualität bieten! Seder, auch der geringite Beitrag, der das Leben und den Charakter New- mans unferm VBerftändnis näher bringt, ift deshalb mit Freuden zu begrüßen. Su befonderem Dante natürlich werden wir dem verpflichtet fein, der uns nicht bloß einige Charalterzüge, fondern die ganze Geftalt des Kardinals, wie fie leibte und lebte, in meifterhafter Form vor Augen zu führen verfteht. Diefe große Aufgabe nun finden wir in der feffelnd und formvollendet gejchriebenen, inhalt lich abgerundeten Biographie gelöft, die wir der geiftvollen und gelehrten Lady DBlennerhaffet ') verdanken: Als gründliche Kennerin der geiftigen Strömungen des 19. Jahrhunderts, ſowie wegen ihrer perjönlichen, mittelbaren und unmittel- baren Beziehungen zu dem verftorbenen Kardinal ift fie, wie fein zweiter, zu diefem fchiwierigen LInternehmen berufen. Nur als Eſſay und nicht als aus- führlihe Studie will die gelehrte DVerfafferin ihre Arbeit gelten laffen. Wir wollen über diefe Beurteilung, die uns zu befcheiden dünkt, mit ihr nicht rechten. Iedenfalld hat fie es verftanden, die Zeitverhältniffe, in denen Newman lebte und wirkte, in ihren Grundlinien fo plaftifch darzuftellen und uns in die geheimnig- volle Werkitatt feiner bewundernswerten Geiftesarbeit mit einem fo intimen Ver: ftändnis einzuführen, daß damit zum iwenigften eine folide Bafis für weiter- gehende Anterſuchungen gefchaffen ift.

Schon frühzeitig fehen wir in Newmans Charakter jene Geiftesrichtung bervortreten, die fein ganzes fpäteres Leben beberrfchen ſollte. Kaum fünfzehn-

') Zohn Henry Kardinal Newman. Ein Beitrag zur religiöfen Entwidlungs- gefhichte der Gegenwart von Charlotte Lady DBlennerhaffet geb. Gräfin von Leyden. Berlin Verlag Gebr. Paetel. 1904. gr. 8%. ©. 271.

556 Rundfchau.

jährig durchlebte er, angeregt durch ein Werk des gemäßigten KRalviniften Romaine, eine tiefe innere Wandlung, die er felbjt als feine Belehrung bezeichnete: Es erfüllte ihn das myſtiſche Bewußtfein, feine Seele fei gerettet, und von nun an fand er, der fchon ale Kind „Mißtrauen in bezug auf die Realität materieller Phänomene“ begte, Ruhe „in dem Gedanten ziveier, ausjchließlich zweier abſo— luter, lichtvoll felbjt evidenter Weſen“ feiner jelbjt und feines Schöpfere. Diefe Wandlung war eine fo vollftändige, daß er noch 1885 jchrieb: „Der Knabe vor» und nachher fei nicht mehr ein und diefelbe Perſönlichkeit geweſen.“ In Orford, wohin fein Vater den fiebzehnjährigen Süngling brachte, zeichnete er fich durch hohe Begabung und ausdauernden Fleiß aus, ohne das Intereffe für die praftijchen Geiten des Lebens zu verlieren. Neben den Haffifchen Sprachen und dem Hebräifchen, denen er fich während feiner Studienzeit mit Eifer zuwandte, finden wir ihn bemertenswert genug mit den Naturwiffenfchaften und ganz befonderse mit Mathematik bejchäftig.. „Das mühſame, nervenftärkende, alle Pbhantafterei zurücddrängende Studium der exakten Wiſſenſchaften“ ftellte er über alle andren Befchäftigungen des menfchlichen Geiftes. Cine ebrenvolle Anerkennung fand fein ernftes wiffenfchaftliches Streben, als er mit 23 Jahren die hohe geachtete Stellung als Fellow in einem der fchönften und berübmteften Stifte von Drford, im Driel Kollege, errang und dort bald darauf zum afa- demifchen Lehrer und zum Craminator berufen wurde. Hier, im regen Verkehr mit Lehrern und Freunden, erhielt feine religiöfe Lleberzeugung eine in den Grund- zügen abgefchloffene Geftaltung: feine weitere religiöfe Entwidlung ift, wie im Keime, in den Prinzipien enthalten, zu denen er in diefen Jahren fich bekannte. Bor allem war es Keble, der mit feiner entjchiedenen Hingabe an die religiöfe Autorität den jedem religiöfen Liberalismus abholden Füngling auf das ent- fchiedenfte beeinflußt. In den WUnfchauungen diefes hervorragenden Mannes haben wir den Ausgangspunkt zu fuchen für Newmans fpätere Lehre von der religiöfen Gewißheit. Die Anregung zu einer zweiten originalen Anſchauung, zu feiner Theorie von der religiöfen Entwidlung, fchöpfte er aus dem Studium des chriftlichen WUltertums, dem er in diefen Jahren bebufs Abfaſſung einer Gefchichte des Konzils von Nicäa feine lebhaftefte Aufmerkſamkeit zumwandte.

Im Jahre 1833 endlich begann jene Bewegung, die feinen Namen weithin berühmt machte und endlich mit dem Austritt Newmans aus der Hochlirche endigte. Gie richtete ſich zunächit gegen die religidfe Weitherzigfeit des größten Teils der englifchen Gejellfchaft, die Newman geradezu „als nationale Apoſtaſie“ brandmarkte. Im Verein mit feinen Freunden Reble und H. Froude gab New: man eine Reihe „kurzer, nerviger, abfichtlih beunrubigender Abhandlungen“ (Tracts) heraus, um die Gleichgültigen aufzurütteln. Später griff auch Puſey in diefe Drforder Bewegung ein und gab ihr, nah Newmans Ausſage, Namen und Anſehen. Der Leitgedante diefer Bewegung fand einen zufammenfaffenden und grandiofen Ausdrud in Newmans Doktrin der Dia Media, nach der die anglitanifche Kirche die richtige Mittellinie ziwifchen dem allzu negativen Prote- ftantismus und dem Romanismus einhalten follte. Es galt alfo die 39 Artikel, die Grundlage der anglitanifchen Hochkirche, als der Fatholifchen Lehre entiprechend darzuftellen. In dem berühmten, im Jahre 1841 erfchienenen Trakt 90 verficht Newman tatfächlich diefe Leberzeugung. „Die Artikel befämpfen die fatholifche Lehre nicht. Sie find nur teilweife gegen römifche Dogmen gerichtet. Sie ver- werfen zum größten Teil römifche Irrtümer.“ Dieſem Höbepunft der trafta- rianifchen Bewegung folgte die Peripetie auf dem Fuße. Von allen Geiten angefeindet, fand Newman, wie feine Theorie durchaus nicht den Anſchauungen der leitenden Kreife innerhalb der Hochkirche entſprach. Entjcheidend indes wurde die von Newman felbft als „erfchütternd“ bezeichnete Erfahrung, daß die Ge-

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fchichte der alten Kirche, die für ihn ſtets der fefte Punkt blieb, feine Theorie der Dia Media als falfch erwies, Nun trat in ihm immer deutlicher der Gedante auf: „Die römische Kirche wird ſchließlich Recht behalten.“ Trogdem Dauerte es noch einige Fahre, bis der „feiner ungeheuren Verantwortung fich bewußte, langfam erwägende Newman“ den enticheidenden Schritt tat. Um 10. Dftober 1845 trat er endlich zur fatholifchen Kirche über.

Ein Abſchluß in dem geiftigen Entwidlungsgang „dieſes fubtilen, raftlos forfchenden, in die Tiefe dringenden” Mannes ift damit allerdings nicht eingetreten. Die 45 Jahre, die ihm noch befchieden waren, verlebte er im ernfteften Streben nach fittlicher Vervolllommnung und intelleftueller Vertiefung. Die Ruhe des Herzens hatte er num freilich für immer gefunden, wenn auch VBerleumdungen von gegnerifcher Seite und Heinlihe Mißgunſt einzelner Gefinnungsgenoffen ihm viel bittere Ent- täufchungen bereiteten. Zur Verteidigung gegen ungerechtfertigte und böswillige Angriffe veröffentlichte der fonft fo zurüchaltende Newman im Jahre 1864 feine berrlihe „Apologia pro Vita sua*, die von Kennern den Belenntniffen des bl. Auguftinus als gleichwertig zur Seite geftellt wird. „Newman erfchien von da an feinen Landsleuten, obne Lnterjchied der Gefinnung, ehrfurchtgebietend, liebenswert und verehrungswürdig.” 11 Jahre vor feinem Tode wurde er auch von höchfter kirchlicher Stelle feinen Verdienſten entfprechend ausgezeichnet. Der römifche Purpur, den er am 12. Mai 1879 empfing, „barg in feinen Falten die Anerkennung feiner Ortbodorie, die Rechtfertigung feiner Lehre und die Beglaubigung des geiftigen Teftamentes, das er der Kirche der Zukunft zur Voll- ziehung aushändigte.”

Wir gehen wohl kaum fehl, wenn wir als die koftbarfte Perle diefes geiftigen Teſtamentes die originalen, myſtiſche Innigkeit und realiftifchen Scharfblid befundenden Gedanken bezeichnen, die für das geheimnisvolle Gebiet der Religionsphilofophie überaus fruchtbringend zu fein verfprechen. Wir meinen zunächft feine Theorie der Entwidlung: Lange vor Darwin batte er den gefunden Kern des Evolutionsgedantens verwertet, um darzutun, daß „der moderne Katholizismus nichts anderes ift als das logifhe Wachstum und die Vollendung, mit andern Worten die natürliche und notwendige Entwidlung der Doktrin der alten Kirche.“ Wir, Kinder der modernen Zeit, denen der Entwidlungsgedante in feiner Anwendung auf gefchichtliche Tatfachen und Gebilde volltommen geläufig geworden ift, können faum ermeffen, welch’ bedeutender Fort- fehritt in der erftmaligen Konzeption diefes Gedantens enthalten war; die reiche Fülle von Anregungen indes, die in diefem Gedanken Newmans verborgen ift, tritt ung immer deutlicher im täglichen Fortfchritt der theologifchen Forfchung entgegen. Die erkenntnistheoretifche Bafis feiner religionsphilofophifchen Er- wägungen ift ebenfo bemertenswert. Newman ift einer rein intellektualiftifchen Beweisführung abhold. Nicht abftraktes Denken, die ganze Perfönlichkeit vielmehr ift ibm der Schlüffel zur objektiven Erkenntnis der Wahrheit. „Die Bedeutung der Gewißheit in der Moral, dem Religiöfen und dem Konkreten“ wird nach ihm „nicht durch ein Studium des Erkennens für fih, fondern nur durch ein Studium des pfychifchen Lebens als eines Ganzen und des Entwid- lungsganges diefes Lebens in der Gefchichte” gewonnen. Nicht Skeptizismus war es, der ihn dem abftraften Erkennen gegenüber mißtrauifch machte, fondern der den Engländer fennzeichnende nüchterne Empirismus, der feine Augen nicht. verfchließt vor der unabjehbaren, in Begriffe ſchwer faßbaren Mannigfaltigteit des Konkreten in der Welt und im eigenen Geelenleben. Feinftes pſychologiſches PBerftändnis bekundet deshalb auch feine „Grammar of Assent“, feine Lehre von der Zuftimmung, in der er befonder® auf die fubjeftive, mit der logifch voll: endeten Beweisführung noch nicht obne weiteres gegebene Bedingung der Zu-

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ftimmung binweift. „Der Logiker möchte fo gern feine Erlebniffe auf blanter Tafel verzeichnen und kann es nicht, denn die Zuftimmung muß von Innen kommen und feine ſchärfſten Argumente finden eine Welt von DVorausfegungen bereit, in der fie einverleibt werden.“ Wir ſehen, Newman gibt, obwohl kein Philoſoph von Fach, auch dem philofophifchen Denken die fräftigften Impulſe.

Die von uns verfuchte Skizze follte in den reichen Inhalt der neueften Biographie des englifchen Kardinals einführen. Konnte es auch unferen knappen Ausführungen nicht gelingen, eine erfchöpfende Darftellung der Gelehrſamkeit zu geben, die in diefem Werte in einer glänzenden Diktion ung geboten wird, fo baben fie doch ihren Zwed vollauf erfüllt, wenn fie viele zur Lektüre dieſes geiftvollen Buches anregen follten. Die Devife des Kardinal® „Cor ad cor loquitur* wird der Lefer diefes Werkes auch an fich beftätigt finden: Das reiche Herz Newmans fpricht aus der lebenswahren Schilderung der gelehrten Ver— fafferin zu unferen Herzen „von einer ewigen Welt des Friedens und der Liebe, der Rube in Gott”.

Braunsberg, Dftpr. Wladislaus Switalski.

en Cu lu

Krifchnas Weltengang.

Ein indifher Mythus, überfest von AU. Paul. (Berlag R. Piper u. Co, Münden.)

Schopenhauer, der Vater unferer ganzen heutigen indifhen Bewegung, erklärt in den Parerga, fo fehr er auch die religiöfen und philoſophiſchen Werke der Sanftritliteratur verehre, habe er dennoch an den poetifchen nur felten Wobl- gefallen finden können und rät darum den Lleberfegern, fi) weniger der Poeſie und mehr den pbilofophifchen Werten zuzuwenden.

Das vorliegende Heine Wert fteht ald Mytbendichtung mit einem Fuß in jedem diefer Gebiete. Es ift in feinen zwanzig „Undachten” eine Legendendichtung, wo gar häufig das epifche Element in lange lyriſche Gebets- und Anrufungs- ergüffe ausmündet, die alle einen ausgefprochenen pbilofopbifchen Geift atmen; und diefe Teile des Ganzen find diejenigen, die ung am meiften anziehen. Wenn fie uns auch gedanklich nichts neues lehren, wirten fie doch anregend durch die Energie und den Glanz, womit fie den myſtiſchen pbilofopbifch-religiöfen Gedanken zum Ausdruck bringen, und find topifch für die etwas verſchwommene Geite indifcher Myſtik, die am großartigiten fih in Bhagavat-Gita zeigt, Arjunas Belehrung durch Krifchna vor dem großen Kampf, die auch bier im Auszug den würdigen Abſchluß bildet. In lebrreicher Schärfe tritt an diefen Gtellen der Zwiefpalt im indifchen religiöfen Denken bervor (der aber einen Zwiefpalt im religiöjen Denten überhaupt bedeutet) zroifchen der immanenten und der trangzen- denten Gottheit, zwifchen einem Pantheismus, der konfequenterweife weltbejahend fein müßte, und einer MWeltverneinung, die fonfequenterweife antipantheiftifch, in einem gewiffen Sinne atheiftifch') fein müßte. An diefem inneren Widerfpruch laboriert noch Vedanta, und auch Cantaras umfichtiger Scharffinn vermag nicht

) Freilich erft recht tbeiftifch für den, Der ſich auf den ſchönen Ausſpruch Deufjfens berufen würde: „Wenn es geftattet ift, dem bedeutendften aller Gegen- ftände den bedeutfamften Namen beizulegen, wenn es fich geziemt, der dunkelſten Sache das duntelfte Wort zu laffen, fo möchten wir das Prinzip der Verneinung und nichts anderes mit dem Namen Gott bezeichnen.” Elemente der Metapbufit, 8 298.

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ung Darüber binwegzutäufchen. Erft von Buddha wird die Verneinung in un- getrübter Klarheit durchgeführt.

Diefer Dualismus kommt denn auch in dem Hauptthema diefer Legende zum DVBorfchein: das Menfchiverden Wifchnus in der Geftalt Krifchnas. „Das ungeborene, ewige Wefen, der Höchfte, der Urgeift, von dem das Ewige ftammt, der gegründet fteht jenfeits jeder Endlichkeit, von dem dieje ganze fichtbare Welt nur ein verfchiwindender Funken ift, den fein Gott und kein Brahma begreifen fann“ fteigt zur Erde nieder, läßt fi) von einem Weib gebären, als Menſch „zum Heil der Welt" —. Es ift dies die einzige Parallele zum Haupt: thema der chriftlihen Evangelien und fchon als folche von der höchiten Bedeu— tung. Wenn es heißt: „So bat Krifchna die Welt von Unholden und böfen Herrfchern oft und oft befreit zum Heil der Wefen, bat ihr leidiges Los ge- mildert durch die Bändigung zahllofer Feinde, die er allein, oder mit den Geinen, oder mit edlen Fürften vereint, in kühnem Kampfe befiegte” fo erinnert dies allerdings mehr an andere Sagen von Götterföhnen und Heroen zumal an die Herallesfage denn an das Erlöfungswert Chrifti, infofern als hier ledig- lich von dem äußeren, materiellen Wohlergehen der Wefen die Rede ift. Uber wir finden auch gelegentlich Ausfagen wie diefe: „Nicht umfonft bin ich geboren. Die Nacht meines Lebens beginnt zu dämmern, da ich das Angefiht Wiſchnus feben werde ... Geben werde ich ihn, der, wenn man nur feiner gedentt, alle Sünden binwegnimmt“ was ber chriftlichen Erlöfung durch den Glauben an den menfchgewordenen Gott fehr nahe fommt. Weshalb denn auch die chriftlichen Beftrebungen in Indien hauptſächlich an den Krifchnaglauben ihre Hoffnungen fnüpfen.')

Uber die AUehnlichkeit bleibt nicht bei diefer Hauptfache dem zum Heil der Welt menjchgetwordenen Gotte fteben; fie geht öfters bis in die einzelnen Züge. So macht Krifchna (in der zehnten Andacht) eine budelige Jungfrau gerade, indem er „mit zwei Fingern ihr Rinn ergriff und den Kopf nach rüd- wärts hob, während er zugleich mit feinem Fuß auf ihren Fuß trat.“ Gleich im eriten Kapitel lefen wir, wie König Ramfa durch die Geburt des göttlichen Kindes in Angft geriet und für feine Macht zitterte, weshalb „er feinen Kriegern befahl, jeden neugeborenen Sohn diefer Nacht, der mit befonderen Zeichen der Schönheit, Zeichen künftiger Größe an feinem Leibe begabt fei, ohne Bedenken umzubringen“; Kriſchna aber blieb heimlich geborgen am Leben und wuchs auf inmitten von Hirten auch diefer paftorale Zug iſt ja nicht ohne Geitenftüd in den Evangelien. In der vierten Andacht wird erzählt, wie Indra Krifchna auffucht und ihn auf der Wieſe erblickt, „wie er das Vieh hütet in der Geftalt

) Nicht etwa an die erhabene Lehre Des Vedanta, wie unfer Deuffen, feinem tiefen pbilofophifchen Blick gemäß, mit Recht fordert freilich mehr zur Vertiefung unferer chriftlichen Anſchauung als umgekehrt. So erllärtt Monier Williams („Beligious thought and life in India“ p. 96 f.) „Vaishnavism is the only real religion of the Hindu peoples and has more common ground with Christianity than any other form of non-Christian faith.“ Wenn man bebdenft, daß „mein Eng- länder“ wie Schopenhauer ihn wohl nennen würde unter „Chriftentum“ wefent- Ih einen braven jüdifchen Monotheismus verfteht, fo ift died Lob allerdings etwas bedenflicher Art. Denn eine Religion fann fi mein Engländer nicht vorftellen ohne einen recht handgreiflichen lieben Herrgott. „For there can be no true religion without personal devotion to a personal God... Who can doubt, that a God of such a character was needed for India? —“ In der Tat wer tut's? Mein Engländer gewiß nicht. Es mußte ein Deutjcher fein, der in englifcher Zunge den Indern zurief: „And so the Vedanta is the strongest support of pure morality, is the greatest consolation in the sufferings of life and death Indians keep to it.“ (P. Deuffen, Erinnerungen an Indien, Lipfius’ Verlag 1904, Schluß.)

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eines Birtenjünglings, inmitten der anderen Hirtenföhne und doch Erhalter der ganzen Welt. Zu feinen Häupten ſah er Garuda, den Greif, den Rönig der Vögel, den Menfchen unfichtbar, mit ausgebreiteten Schwingen ſchweben, den Scheitel des Herrn überfchattend.“ Indra gibt ihm (auf Grund einer vorber- gehenden Tat) den Namen Govinda: „und Indra nahm eine Schale, gefüllt mit beiligem Waffer, von feinem Elefanten herab und befprengte Krifchna.“

Wem fällt nicht bier die Taufe Chrifti durch Johannes ein auch hier des Höchften durch einen Niedrigeren und die über dem Haupte Chrifti ſchwebende Taube?!) In einem Hauptpuntte aber ift der Unterſchied zwijchen den Evangelien und der Rrifchnalegende, dem judäifchen und dem indifchen Bericht von der Menfch- werbung Gottes, in die Augen fpringend und faft abfolut. Kierkegaard, einer der tiefiten und gewiß der geiftreichfte chriftliche Denker, bat in feiner „Ein- übung in das Chriftentum“ mit Aufbietung feiner ganzen beijpiellofen dialektifchen PBirtuofität die entfcheidende Bedeutung des Erniedrigungsmomentes hervorgehoben. Bei allen Verheißungen Chrifti kommt es ebenfo ſehr auf den Sprecher als auf die Worte an; ebenfo wefentlich, ja noch wefentlicher ald die Einladung („Kommt zu mir und ich werde euch den Frieden geben“) ift der Einlader. Diejer aber ift nicht Jeſus in feiner Herrlichkeit, fondern Iefus im Stande der Erniedrigung, der arme, unfcheinbare Menfch, der als uneheliches Kind anfängt und als Hin- gerichteter endet. Hierin liegt die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit des Aerger⸗ niffes, damit aber auch die Bedingung des Glaubens.

Dies Moment, „das Intognito Gottes“ auf Erden, fehlt nun ganz und gar der Krifchnageftalt. Der Inder bat es nicht gewagt, feinen Gott zum Menfchen zu mahen. Auh als Krifhna nicht nur ift er der allmächtige Wifchnu, fondern erfcheint gewiffermaßen als folcher, gebt wenigftens einher als ein Fürft, deſſen Inkognito von allen durchfchaut ift, während Kierfegaard es mit Recht für ein bequemes Falfum der Chriftenheit erklärt, wenn man annimmt, Chriftus wäre direkt erfennbar gewesen. Hierdurh fommt nun in die Krifchna- legende nicht nur ein gewiſſer Mangel an Spannung und Teilnahme denn was einer tut, der eben alles tun kann, intereffiert uns fchiverlid fondern es entfteben auch die größten Llngereimtheiten. Wenn König Kamſa weiß, was alle wiffen, daß diefer Süngling mit einer Hand einen Berg eine ganze Woche lang emporgehalten hatte als einen Regenschirm gegen die Sintflut Indras tie konnte es ihm dann in den Sinn fommen, ibn durch einen öffentlichen Ringtampf umbringen zu laffen? AUnd die Zufchauer, die fich foeben feiner un- gebeuerlichen Taten erinnert haben und ausgerufen: „Er, den wir feben, ift der Ewige, der auf Erden erfchienen ift, um das leidige Los der Menfchen zu mildern“ fie fagen im nächften Augenblid: „Ach, gibt e8 denn da feine erfahrenen

ı) In feiner Sleberfegung der 123ten Rede von Majjhimanikayo („Die Neden Buddhos“, Verlag Wilhelm Friedrich, Leipzig, Band III p. 260) fuht Karl Eugen Neumann in dem weißen Königsfhirm, der über dem Haupte des joeben geborenen Buddhas fchwebt, das Urbild jener Taube und gibt eine philologifche Erklärung, nad welcher „weißer Schirm“ mit „weißem Fittich” verwechfelt worden wäre. Die Chriftus- legende bat nachweislich fehr viele Züge aus der Legende Buddhas geliehen; Dieje ſcheint Doch aber befonders wegen der Verknüpfung mit der Taufe der Krifchna- legende zu entftammen, wiewohl eine Verſchmelzung nicht ganz auszufchließen ift. Co paffend übrigens für den kriegerifchen Heros Krifchna der gewaltige Greif, Wilchnus Reittier und der Erbfeind aller Dämonen ift, ebenfo pafjend ift für den Friedensfürften Jeſus die Taube, die ja ſchon aus Genefis VIII als Friedensbote den Zuden eine geläufige Vorftellung war. Daß die entlehbnende Geite auch bei der Krifchnalegende die hriftliche ift, fteht fehon aus chronologifchen Gründen, befonders nach den Funden Führers bei Rummia-dei 1896, volltommen feft, wie Neumann in feiner kurzen Einleitung bemerft.

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Richter des Kampfes? Wie mag doch diefer zarte Jüngling als ein geeigneter Gegner gelten für den ungeheueren unmwiderjtehlichen Ringer!" Ja noch mehr: nachdem erzählt worden ift, wie Krifchna die feindlichen Heere vernichtet, und ausdrücdlich verfichert, daß dies ihm nur ein Spiel war, „da ein einziger Utem- zug von ihm die Welt vergehen und entjtehen läßt“, wird im nächiten Kapitel berichtet, wie eine folche LHebermacht fich verfammelt, daß Krifchna fürchtet, der von ihm unterftügte König würde den Feinden nicht widerftehen können und darum ganz befondere PVeranftaltungen trifft. Ein Spiel aber ein recht un- nüges und zu dem die Motive fehlen.

Indeffen auch mit folchen logifchen und pfychologifchen Unzulänglichkeiten, die übrigens durch prachtvolle Phantafieftüde und feine Bilder mehr als auf- gewogen werden, bleibt dieſe Legendendichtung eine höchſt wertvolle Urkunde altarifchen Denkens und Träumens. „Krifchnas Weltengang bat damals im fechften vorchriftlichen Sahrhundert wie auch heute noch vielen Millionen als Borbild reichen und reifen Menfchentums gegolten“ fagt Dr. Karl Eugen Neu: mann in feinem Öeleitworte. „Diefes Ideal ift dann fpäter, mit der allmähligen Ausbreitung der buddhiftifchen Lehre etwas verblaßt und hat im Volke oder bei den Beſten des Volles eine gewiffe Milderung und manche Anpaſſung an buddhiſtiſchen Begriff und Ausdrud erlebt.”

Bei diefen gewiß fehr treffenden Worten fiel mir eine äußerſt illuftrative Parallele ein. Unſere Legende berichtet, daß König Kamſa feinen wildeften Rriegselefanten auf Krifchna losläßt, als diefer ahnungslos, als eingeladener Gaft, fih zum KRampffpiel begibt. Krifchna aber tötet den Elefanten; mit Blut befprißt, den mächtigen, ausgebrochenen Sauer in der Sand, betritt er, unbeil- drohend, die Arena. Diefer Elefant, „der da ausſah wie eine ſchwarze, regen- fchwere Wettertvolte“, begegnet uns nun auch, wiedergeboren, in der Gefchichte Buddhas. Der böfe Devadatta befticht den Wärter, das Ungetüm loszulaffen, als Buddha gerade duch die Straße gebt. Aber der Blick des Erhabenen bezähmt den Elefanten und flößt ihm eine folche Liebe ein, daß er vor Gehn- fucht ftirbt, als er den DVollendeten nicht mehr zu feben vermag nicht zu feinem Berluft, denn wir dürfen überzeugt fein ich entfinne mich nicht, ob es ausdrüdlih erwähnt wird daß er fofort in menfchlicher Geftalt wiederkehrt und noch von des Meifters eigenen Lippen die erlöfende Lehre vernehmen wird.

Zwiſchen diefen beiden Geftaltungen derjelben Sage liegt eine Strom- änderung der Anſchauungen, wie die Welt fie nicht entjchiedener . erlebt hat.

Wie ſchon bemerkt, ift Pauls fchöne Leberfegung die übrigens auch äußerlich ſehr reizvoll ausgeftaltet ift durch eine Vorrede von dem trefflichen Paliforſcher Karl Eugen Neumann eingeleitet, die nur den Fehler bat, etwas kurz zu fein. Gern hätte man etwas mehr erfahren über das Verhältnis diefer Form der Krifchnalegende zu den anderen, zumal fie ausdrüdlich als ein kurzer Auszug bezeichnet wird. Schmerzlich vermißt man in diefer Faffung die reizende paftorale Liebesepifode mit Radha, deren Namen mit dem Krifchnas faft ebenfo verbunden ift wie Sitas mit Ramas umfomehr, als diefe Epifode den Vor: wurf einer der zarteften und farbenreichften Dichtungen Indiens, Jaidevas Gitagovinda bildet. Uber nicht nur folche Lücken fommen vor, fondern auch Ver- ſchiebungen der Verhältniſſe wie es fcheint, durch die Kürze herbeigeführt. So überrafcht gleich der erite Sat: „Hafoda, das Weib des Kuhhirten Nanda, war die Mutter Kriſchnas.“ Denn nach der gewöhnlichen Tradition war KRrifchna ein Sohn von Vaſudeva, einem Fürften aus dem Mondhaufe, und feiner Ge- mahlin Devali, deren Vetter jener König Ramfa war, der nun mit anderer Begründung als in der vorliegenden Redaktion und zwar mit einer, die den gewöhnlichen Rönigsjagen analog ift und wodurch die Aehnlichkeit mit dem

Suddeutſche Monatshefte. U, 12.

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lium verringert wird Kriſchna nach dem Leben trachtet. Vaſudeva entflicht mit dem Kinde, das er dem Hirten Nanda übergibt, der ſomit der Pflegevater Kriſchnas wird.

Wenn vielleicht der Ueberſetzer und der Einleiter meinen, daß die bier vor- liegende Faffung in diefem, gerade wegen der Herodesparallele nicht untwichtigen Punkte, die ältere und echte ift, jo wäre es bochintereffant, hierüber Auffchlüffe zu befommen.

Dresden. Rarl Gjellerup.

Populäre Ausgabe des Bruckmannſchen Menzelwertes.

Die Verlagsanftalt für Kunſt und Wiffenfchaft hat vor kurzem eine billige Ausgabe ihres großen Menzelwerkes veröffentlicht. Das ift gut. Ein Meifter von Menzels grundjolider Tüchtigkeit foll auch dem Volk vertraut werden, ſchon desiwegen, damit ed gegen die Faifeure und Blender ein gewiffes Rüdgrat be- fommt. In diefer Hinficht ift nun allerdings zu bedauern, daß die Verlagsanftalt das Werk unverbeffert nach dem Plan der großen Ausgabe wieder auflegte und dem Umſchwung der Anfchauungen, der fich in den legten Jahren vollzogen bat, nicht Rechnung trug. Geinerzeit war Bruckmanns Menzelwert eine Art Offen- barung und es entjprach jedenfall® der allgemeinen Anficht, die man in Deutjch- land über den großen Maler hegte. Es entfpricht jedoch nicht mehr der jegigen. Heute erfennt man in fehr vielen, wenn nicht in den meiften der bier reprobu- zierten Werke nicht den Künftler, fondern nur den Technifer und zwar den durch Bleichgültigkeit oft unintereffanten Techniker.

Vieles von dem, was noch vor wenigen Sahren allgemein anertannt wurde, wie die Kiffinger Bilder, der Tuileriengarten, der Marktplag von Verona, ſowie der weitaus größte Teil feiner Zeichnungen wird heute geringer eingefchäst, und es ift alle Wahrfcheinlichkeit, daß die jegige Anſicht über diefe ja trotzdem noch immer fehr gefchägten Arbeiten noch zu gelinde if. Wir lieben jegt den Menzel zwifchen 1840 und 1860. Diefe Seit war feine Blüteperiode, während Mar Jordan, der die Vorrede zum Menzelwert gefchrieben bat, die Höhezeit erft mit 1870 einfegen läßt.

In den legten Jahren ift man nun auf einige Heine Gemälde aufmerkſam geworden, die der Künftler in jener frühen Blütezeit gemalt bat: das feine aber doch fehr überfchägte Interieur, das wundervolle, noch vor ganz kurzer Frift von der jest jo aufgeklärt tuenden Berliner Runftkritit fehr gleichgültig behandelte theätre Gymnase, vor allem ein paar Fadelzüge. Das find lauter Arbeiten, in denen fich ein damals ganz überrafchendes malerifches Feingefühl ausfpricht und die durch eine beinahe moderne Wahl des Stoffes unfer höchftes Intereffe erregen. Auf einen der Fadelzüge, der leider nicht in der Berliner Austellung war, bat Referent ſchon vor nunmehr 5 Zahren, als das fchöne Stüd bei Heinemann ausgeftellt war, als einen der prächtigften Menzel bingemwiefen. Geine Notiz verfchwand unbeachtet in einem Feuilleton der Allgemeinen Zeitung. Es war eben vor kurzem noch eine Reterei jene alten Kleinen Farbenſtizzen über die fpäter berühmten Kabinettjtüde der Feinmalerei zu ſetzen.

Heute fohägt man diefe frühen Bilder überaus hoch. Es ift jedoch zu fürchten, daß das günftige Urteil über fie mehr der Mode zulieb gefällt wird, als daf es auf eine allgemeine Beſſerung des Verſtändniſſes fchließen ließe; denn es wird mit allerlei unrichtigen Anfchauungen verquidt. Man nimmt diefe Ar: beiten jest gern als Vorläufer der heutigen, im befonderen der impreffioniftifchen Malerei. Uber fie haben gar nichts mit diefer gemeinfam. Was fie jo bedeutend

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macht, ift nicht ein gewiffes abgekürztes Verfahren; denn diefes findet fich felbft bei Menzels fubtilften Urbeiten immer wieder und zwar bis zum Ende feiner Tätigkeit. Die Bedeutung des theätre Gymnase und der ganzen Gruppe liegt vielmehr darin, daß fie mit fünftlerifcher Wärme ausgeführt find. Gie könnten in jeder beliebigen Technik und in jeder beliebigen der Gtilarten des 19. Jahr- hunderts gemalt fein, fo wären fie doch immer Meifteriwerfe wegen des genialen Lebens, das aus ihnen fpricht und das bei Menzel fo oft fehlt.

Mar Iordan hat auch unrecht, wenn er fie den Modernen, die bei ihm nicht ſehr gut angefchrieben zu fein fcheinen, in einer biffigen Bemerkung als mahnendes Beifpiel vorhält. Sie ftehen zur heutigen Runft in gar feinem, weder in einem freundlichen, noch in einem feindlichen Verhältnis. Sie find der Technik nach veraltet, aber reine Kunſtwerke, gerade wie unfere guten QUrbeiten auch. Das ift der Kern der Sache.

Die große zu Menzel Ehren veranftaltete Ausftellung hat ihn als einen Meifter hoben Ranges erwiefen. Es werden fie viele befucht haben, die nicht obne WUengftlichteit erwogen haben, ob in der Maffe der Werke nicht fchließlich das untergebe, was uns an Menzel das Beſte zu fein fchien: fein Efprit und feine unvergleichlihde Wahrhaftigkeit. In der Tat fchnitt unendlich Vieles fehr unglüdlid ab und zwar nicht nur unter feinen Seichnungen, worauf man ja ohnehin vorbereitet war, fondern auch unter feinen berühmten und berühmteften Gemälden. Aber ein Heiner Teil hielt fich herrlich. Von diefen aber hat das Brudmannfhe Wert fehr wenig gebracht. Es wäre darum fehr zu wünfchen, da eine neue Ausgabe erfchiene, die das, was wirklich an Menzel intereffant und künſtleriſch gut ift, brächte und uns mit den vielen Wunderlichkeiten ver- fchonte, die nicht ſowohl Zeugnis feiner Runft, fondern nur feiner fehr fchrullen- haften Arbeitsweife find. Dem Volk tut die Kenntnis des wahren Menzels not.

München. Rarl Bolt,

Stieffinder.

1. Wie im verfloffenen Winter alle Welt plöglich wieder ihr Herz für Schiller entbedte, fo wirb es in biefer GSaifon für Mozart böber fchlagen. Möge es aber nicht bei der obligaten Begehung einer durch den Kalender gebotenen eier fein Bewenden haben, möge nicht nur rein äußerlicher Gößendienft verrichtet werden, fondern laffe man diefem Fefte die innerliche Bedeutung zulommen, daß wir uns des Verjüngungsprogeffes in erhöhteren Maße bewußt werden, in welchem das wahrhaft Große und Geniale fich immer wieder der Menfchheit als etwas Lebendiges, wie heute Ausgefprochenes offenbart. Die ganze unendlich reiche Perfönlichteit Mozarts foll vor unfern Augen erftehen, nicht wie fie ung durch eine mehr oder minder einfeitige Pflege bervorftechender Werke fich allmählich etwas verfnöchert darftellt, fondern ihrer vielfeitigen Beanlagung entfprechend. Mehr noch als die Theater können die Ronzertfäle fih darum verdient machen, in welchen Mozart meift ziemlich karg bedacht ift; denn oft wird bier in der Wahl der Werke etwas ftereotyp verfahren und dem fchlechten Beifpiele mancher Sänger gefolgt, die in ihren Programmen fich zu fehr in der Gewohnheit und des Erfolges trägem B’leife bewegen. So kommt es, daß das große Publitum fich unter dem Sympbonifer Mozart hauptfächlich den Komponiften der dret Sym- phonien in C, g und Es vorftellt (unzweifelhaft den weitaus überragenden Werten) und höchſtens noch weiß, daß außerdem eine ziemliche Anzahl von ftiefmütterlich bedbachten Gefchwiftern in ftaubigen Bibliotheken ſchlummern. Es fol nicht ab- geleugnet werden, daß viele der 41 Symphonien einander gleichen oder als

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ſchwächere, lediglich dem Zwecke der Unterhaltung dienende Werke zu gelten haben. Aber eine flüchtige Umfchau wird auch hier ſtets reiche Schäge entdeden. Man fchlage beifpielsweife den zweiten Band der Mozartausgabe von Breitfopf und Härtel auf; fchon beim erften Durchblättern fällt eine ungemein ernft gehaltene gmoll Symphonie (Köchel 183) auf. Mitten in all dem beiteren Ddur umd Gdur das leidenfchaftlihe gmoll! Wie ergreifend wirkt es, wenn das fonnige KRindesauge Mozarts fich verdüftert und, der Außenwelt entrüdt, in geheimnisvoll fhmerzlihe Tiefen des Lebens zu bliden fcheint. Verweilen wir deshalb bei diefem Werke, das die Betrachtung lohnt.

Faft gebietend jchreitet das erfte Motiv des Hauptthemas in den Dboen dahin, durch den ſynkopierenden Rhythmus der in Dftaven erflingenden Streicher mächtig unterftügt:

Allegro con brio. Ob.

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Ein an Beethoven gemahnendes, entichloffen aufwärtsftrebendes Motiv ſchließt ſich an, um im Halbfchluß jäh abzubrechen. Noch einmal ertönt Motiv 1, diesmal barmonifiert und durch kräftige Führung der Bäffe nachdrüdlicher ge: ftaltet. Da, zum dritten Male bringt es die Oboe mit gänzlich veränderten Ausdrude als rührende Klage, auf acht Takte erweitert:

Nach zartem Verweilen auf der Dominante frohes Aufraffen in glänzen: dem Bdur Gate, der zum Geitentbema überleitet. Auch diefes ift von faft berbem Charakter, der durch das eigenwillige Verharren der zweiten Geige auf der Synkope B noch verftärkt wird:

Nah kurzem Schlußfag und Wiederholung der Erpofition fest ein äußerſt erregter Durchführungsteil ein. Hart prallen die beiden Hauptftimmen aneinander.

Rundſchau. 565

Da plötzlich wieder jene ergreifende Klage der Oboe, zweimal von den Streichern trotzig beantwortet. Sehnſüchtig bewegte LUeberleitungstakte führen zur Repriſe. Das Seitenthema, nun auch in gmoll, betont noch mehr feinen eigenwilligen Charakter. Die Coda bringt nochmals in bedeutungsvolliter Weife Motiv 1 und fchließt den Sat in ungebrochener Kraft.

Wie ein Gedicht voll wehmütig füßer Erinnerung zieht der zweite Sat an uns vorbei. In weicher Bewegung löfen ſich Gtreicher con sord. und Fagott ab:

Einen kindlich hbeiteren Gedanken bringt der zweite Teil des Hauptfages, alle® aber auf denfelben leifen Grundton geftimmt. Nur die Reprife fpricht eine eindringlichere Sprache, um fich aber im Schluß wieder in die zarte Dämmer: ftimmung des Anfangs zu verlieren.

Auch das Menuett hält die ernfte Stimmung feft, erft im Trio verfucht Mozart, den gewohnten heiteren Ton anzufchlagen, doch auch da nur zagbaft und gleichjam zögernd.

Der legte Sat ift der Ausdrud kräftiger Refignation. In gleichförmig ftarrem Piano bringen die Streicher unisono den Hauptgedanten,

der im f wiederholt wird. Auch ein zweiter Gedanke in Bdur verharrt in dem ernften Tone. Erſt das Geitenthema birgt ein flüchtiges Lächeln.

566 Rundfchau.

Der Durhführungsteil ift von ftürmifcher Leidenfchaft erfüllt. Doch das erſehnte Ziel iſt unerreichbar; dies ſagt uns die Repriſe, die, nun auch im wehmütigen gmoll des Seitenthemas jedes Lächeln verſchwunden iſt, den Gedanken der Refig- —— klar ausſpricht. In faſt wilder Coda von acht Takten eilt das Wert zum Ende.

Keine Entdeckung ſoll der Hinweis auf diefe Symphonie des damals acht⸗ zehnjährigen Mozart bedeuten; „entdedt“ ward fie gewiß ſchon bes öfteren. Allein vielleicht ift e8 mir gelungen, manchen anzuregen, fich mit den weniger befannten Werten Mozarts zu befchäftigen.

2. Bei ber ftattlichen Anzahl der Mozart'ſchen Symphonien ift die unver: diente Vernachläſſigung von mancher derfelben entſchieden erflärlicher als bei Schubert, der nur act Werke diefer Gattung gefchrieben bat. WUllerdings verblaffen vor der großen Cdur und ber „Unvollendeten“ die andern. Allein man trete an diefe nicht mit fo bochgefpannten Anſprüchen heran; man verlange von ihnen nicht, daß fie, wie die Cdur mit den gewaltigen Schritten eines Beet: boven einberfchreiten, oder, wie die hmoll von jenem geradezu überftrömenden Reichtum einer romantifchen Seele erfüllt feien, fondern nehme fie wie fie find, und wird an mancher die berzlichite Freude haben. Ich möchte hier fpeziell die fünfte (Bdur) nambaft machen, die ja ab und zu aufgeführt wird, doch mir immer noch zu ftiefmütterlih behandelt erfcheint, befonders in QUnbetracht des Umftandes, daß den KRonzertdirigenten nicht allzuviele Rompofitionen Schuberts zur Derfügung ftehen.

Faft Mozartifh mutet ung diefe Fünfte an, und mag darum paflend im Anſchluß an ein Werk jenes Genius erwähnt werden. Und doch offenbart fih allüberall der echte Schubert, der oft dem Gefühlsüberfchwange feines Herzens faft zu erliegen fcheint.

Der erfte Sag verfegt uns in zauberifche Waldesftimmung. In das Dämmergrün fällt durch hohes Laubdach die Sonne mit heiterem Bligern ein:

Allegro. I”.

Eine zarte Stimme der Gehnfucht erklingt in der Flöte und vereint fi mit dem leife dahingleitenden Hauptthema. Bon Frobgefühl wird die Seele

Rundſchau. 567

in ſolch freier Gottesnatur erfüllt. Dies deutet uns der zweite Hauptſatz. Der Seitenſatz von Mozartiſcher Schlichtheit ſetzt ein:

IV. - 4 “> p fa £_ ir P\ ——— ——

Eine reizvolle Wendung nach Des dur aber läßt uns Schuberts Hand» fchrift erkennen. Anmutiges Wechfelfpiel zwifhen Kraft und Anmut fchließt die Erpofition ab. Faſt ſchalkhaft geheimnisvoll beginnt die Durchführung, um fih bald zu männlicher Entfchloffenheit aufzufchiwingen. Doch nicht nur beiteren Lebensmut, auch noch unausgefprochene Sehnſucht weckt in uns der Waldes- zauber: eine faft elegijche Ueberleitung führt zur Reprife zurüd; dieſe fest ftatt in B in Es ein. Erſt das Geitenthema verhilft der Haupttonart zu ihrem Recht. Der Schluß Hingt in eitel Jubel und Glüd aus.

Was in all dem Waldesduft und Sonnenglanz als mächtigfter Zauber die Geele erfüllt, kommt im zweiten Sat zu rüdhaltlofer Ausfprache: als Liebes- ſeene müffen wir ihn deuten, nicht leidenfchaftlich, fondern fchlicht und innig. Nach dem viertaktigen, in vollerer Inftrumentation wiederholten erſten Teile des Hauptfages

Andante con moto,

und nach reicher geftaltetem zweiten Zeile beginnt in dem die dreiteilige Lied- form des Hauptjages num abfchließenden erften Teil eine zart bewegte Zwieſprache, welche in anmutigfter Weife im Geitenfag fortgeführt wird. Plötzlich unter- brechen vier ernfte Akkorde die tweltvergeffende Stimmung; nur zögernd findet nach diefer Mahnung die Rüdleitung den Weg zur Wiederholung des Haupt- fages. Diefer geftaltet das Thema etwas belebter als zu Anfang. Nicht ein- drudslos ift jene mahnende Unterbrechung geblieben: der Abſchluß des Haupt- fages erfolgt in moll; daran fchließt fich der Geitenfag in Ges dur. Abermals erklingen die Akkorde, jett fogar in verdoppelter Anzahl; doch rafcher als zuvor ftellt fich das fonnige Hauptthema als milder Tröfter ein und bildet den, nad) zweimaliger Ausweichung verklärt auf dem Orgelpunkt der Tonika verklingenden Schluß. Das trogig gehaltene Menuett mit der Hagenden Wendung der Oboe in feinem zweiten Teil verrät, daß der Himmel jungen Glüdes ab und zu durch flüchtige Wollen getrübt wird, Iſt's gar Eiferfuht? Im Trio allerdings ift

568 Rundfehau.

von folchen Gedanken nicht die Rede. Nach der Weife eines öfterreichiichen Ländlers wiegt fih alles in wohligen Tanzrhythmen.

Uebermütigfter Humor beberrjcht das Finale. Der zierlihe Hauptſatz ge: bärdet fich etwas kapriziös:

Allegro vivace.

N » un, TI ER 1.704,

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Ein zweiter Hauptſatz tritt dagegen ſehr energiſch und imponierend auf. Ihm antwortet die tänzelnde Melodie des Seitenſatzes, die ganz unvermutet in ſchmerzbeklommene Seufzer übergeht. Daß dieſe nur ſchelmiſche Heuchelei waren, beweiſen ung die kichernden Triolen, die den erſten Hauptteil zum Abſchluß bringen. Ein Durchführungsteil beginnt mit einer faft etwas gelehrten, fehr leiſe geführten KRontroverfe zwifchen Bäffen und Oboe. Nicht lange geht's jo ge: mäßigt zu. Immer lebhafter wird die Debatte, nach fanfterer Unterbrechung fogar fat eigenſinnig. Rafch aber ift all der Ernft wieder verflogen. Haupt: fat und Geitenfas laffen nur mehr den fprühendften Lebermut zu Worte kommen. Mit den lachenden Triolen, in die mit den letzten Takten das ganze Orchefter fröhlich einftimmt, fchließt das Werk.

Sollte diefe Bdur Symphonie eine niedliche Symphonia domeftica, ein Gedicht von junger Liebe und häuslichem Glüde fein? „Das fehlte noch! Schubert ein Programmufiter" böre ich die ftrenge Stimme eines Wächter der tönend bewegten Form rufen, und balte in meinen PDeutungsverfuchen erſchreckt inne.

Frankfurt a. M. Siegmund von Hausegger.

„Unterm Rad“ von Hermann Hefie.

. Dies wundervolle Buch begleitete mich auf einer Reife nach dem fonnigen Sizilien. Der Dampfer trug mich vorbei an den fchroffen Abftürzen des Apeninn, binter denen in immergrünen Buchten aus Zaubergärten weiße Villen uns ent: gegenlachen. Ich fah den Marmorblumengarten Pifas, der fchneewweiß aus dem ſchwarzgrauen Rafen des Domplates in das woltenlofe Blau des italifchen Abendhimmels hineinwuchs, ſah die farbenprächtige Stadt der Partenope fih an die Geite des Fort St. Elmo legen, wie eine Braut ſich anlegt an die Schulter des Geliebten, ſah das ſchwere Maffiv des Monte Pelegrino, ſah taufend andere Dinge und träumfe doch, wenn ich die Augen ſchloß, von nichts anderem ale von den feuchtkühlen Hallen und den Kreuzgängen des Maulbronner Klofters, binterm Wald in der anfpruchslofen Talſenkung, von Schwarziwaldfchatten und einem Gtädtchen mit winkligen Gaffen und von Gärten an einem Eiſenbahn damm niederhängend. Ja mehr noch. Selbſt das wache Auge ſah mit befremdendem Erftaunen die füdliche Landfchaft, wenn es von den Lettern des Buches ſich erhob und es war mir, als ob irgend etwas falfch fein müfle, die Landfchaft um mich, oder die Stimmung in mir. Go ftark ift die Wirkung des eigenartigen gewaltigen Buches.

Rundſchau. 569

Und doch iſt das eigentliche Thema der Erzählung ein fo kleines, die Hand: lung fo gering, der Gefchehniffe find fo wenige, daß man fie auf zwei Finger: nägel fchreiben möchte. Das was der Erzählung Wert und hohe Bedeutung gibt, ift nur die Perfon des Verfaffers und fein Talent, eine Welt aus Nichte zu fchaffen. Wenn Peter Ramenzind uns ahnen ließ, daß wir in Hermann Heffe den erften Erzähler unferes Heimatlandes, einen deutfhen Maupaffant vor uns hätten, fo zeigt „Unterm Rad“ die vollendete Tatfache. Heffe ift über fich felbft hinausgewachſen. Was hat er aus der alltäglichften Gefchichte zu machen verftanden!

Hans Giebenrath wird zu feinem Verhängnis als Genie erfannt. Der Rektor hat ihn abgeftempelt, der Pfarrer auch und der Vater Giebenrath kann der Menfchheit den achten Weltweifen nicht gut vorenthalten. Er will es auch nicht, aber die Sache muß billig gemacht werden fünnen. Nun befist Württem- berg in Maulbronn fo etwas, was der Münchener den Genieftall nennt, eine Art Marimilianeum. Der Zutritt erfolgt durch die Pforte eines hochnotpein⸗ tihen Eramens mit der Devife: „Diele find berufen, wenig find auserlefen.“ Unfer Hans gehört zu den QAUuserlefenen feines Jahrganges und ftartet ale zweiter. Nun machen fih in der Mufteranftalt der Rektor, der Ephorus und noch einige andere über fein geiftiges Kapital ber und vertrödeln diefes mit famt den Zinfen an den Verba auf „mi“ und an der hebräifchen Grammatif. Ein gutes Pferd, dem man zuviel zugemutet wird ftumpf, ftolpert und finkt in die Knie, wo es ziehen fol. Man nimmt die Peitfche des Ehrgeizes, fchwippt es damit und das willige Tier geht in der Tat in die Stränge, aber nur für kurze Zeit. Es ift nichts Nachhaltiges mehr in feinem Schaffen. Citationen vor den Rektor und Briefe des enttäufchten Vaters beffern die verfahrene Gituation nicht mehr, verfchlechtern fie vielmehr, Hans Giebenrath kommt „untere Rad.“ Die Schule ſchickt ihn heim. Siellos, zwecklos läuft er unter den höhniſchen Bliden der Spießbürger umber, die fich wieder einmal freuen, daß ein Stern gefunten ift in den fhmusigen Moorgrund, in dem fie felber kohlen und ftinten.

est beginnt in dem Knaben jene Koketterie mit dem Tode, die ung auch Emil Strauß in feinem „Freund Hein“ fo ergreifend vor die Seele geführt hat. Schon ift der Aft ausgefucht, der den Lebensmüden tragen foll, bis ihn eine mitleidige Seele findet und ihn abfchneidet. - Hans Biebenrath bat das Billett in der Tafche zur Ewigkeit. Das Reifefieber ift vorüber, er weiß, daß er be- fördert wird, er will fih nur noch überlegen, mit welchem Zuge er geht. In diefe Zeit abgellärter Weltanfchauung fällt der Vorfchlag feines Vaters: Er folle ein Mechaniker werden. Hans greift die Idee gierig auf, freut fich über den rußigen Leinenfittel, der ihm jest wieder Charakter und Bedeutung gibt und fängt an, an feinem Rädchen zu feilen mit Fleiß und gutem Willen. Allein es verfagen die Körperkräfte. Die Hände, die feitber nur den Griffel geführt und die Feder, werden blafig und wund. Pas Stehen am Schraubftod durch ſechs lange Wochentage ermüdet die Beine über alle Maßen. Hang zweifelt aber- mals daran, ob feine Fittige ſtark genug fein würden, ihn in die Luftfchicht bürger- licher Behäbigkeit zu tragen, in ber fein Vater ſchwebt und ihn dort zu erhalten.

Da macht er bei der Obftkelter des Schuhmacher Flaig die Bekanntſchaft einer Heilbronnerin, die felber von rührender DOffenberzigkeit, ihn in Liebesjachen in die Lehre nimmt. Flittchen, balloh! wieviel Initiative bat doch die Kleine „aus des Nedars froben Talen“. Gind fie alle fo, die Mädchen von Heilbronn und ift die Urt, fich fo zu geben, das Erbe des berühmten Käthchens? Wie dem auch ſei, hüten wir uns vor PVerallgemeinerungen, aber bekennen müſſen wir, da Heffe in dem Heinen Liebeshandel und in der Moftlelterei ein Idyll geihaffen wie es die deutſche Literatur nicht ein zweitesmal aufzumweifen bat. Die Gefchichte endet für den Novizen Hans befchämend. Er verfteht nicht,

570 Rundſchau.

daß die fröhliche Tochter des Unterlandes aufs Ganze geht. Sie findet den Neuling dumm und unbrauchbar und verläßt ihn ohne Abſchied.

Nun war die Frucht reif, daß der Tod ſie ſchütteln konnte. Er tat's, aber nicht roh und brutal, ſondern ſo, daß man an ein Ungefähr, an einen Unfall denten konnte. Hans Giebenrath trat fo no einmal in den Mittelpuntt eines allgemeinen fchmerzlichen Bedauerns und Leute in Zylinderhut und Gehrod gaben ihm das Geleite zum Grabe. Als Epilog fagt uns Flaig, der Schub: macher, was wir ſchon wiffen, daß es Menfchen gibt, die am bellum gallicum fterben oder an der WUccentlehre.

Merkwürdig, recht merhvürdig, der gleiche Stoff ift in der legten Seit von Erih Lilienthal behandelt worden und Emil Strauß. Hat Hermann Hefe beides gefannt und fich gefagt: „Ich will Euch einmal zeigen wie's gemacht wird?“ Wenn dem fo ift, dann ift mit Hermann Heffe das Ende der Serie erreidt. Nach ihm kann keiner mehr fommen und es ihm gleichtun oder gar beffer machen wollen.

bh habe eben gefagt, daß mich dies liebe Buch auf einer Reife dur Sizilien begleitete. Diefer Ausflug ift mir nicht allerwege gut befommen. Ju groß war die Temperaturdifferenz zwifchen der Hitze von Syrakus und der Schneedede des Gotthardt. So floh ich nach Baden-Baden und fand im Hotel einen Arzt als Patienten. Iſt der Anblid eines jeden Kranken niederjtimmend, fo ift es der eines leidenden Arztes doppelt. Wer für die Firma Gefundheit reift, follte nicht krank fein. Zu alledem hatte der Kranke noch fo ein fanftes bilfeflebendes Auge, das mich in tiefiter Geele rührte. Ich überlegte mir, wie ich ihm etwas gutes erweifen könne, und gab ihm Heffes „Unterm Rad“.

Am nächften Morgen erfchien er mit ftrahlendem Antlitz beim Frübftüd. Hätte Hermann Heffe das glüdliche Lächeln im Auge diefes Kranken geſehen, er gäbe vielleicht fein Honorar darum. Aber der Mann hatte auch eine Ent: dedung gemacht. „Wiſſen Gie, wo Hans Giebenrath her ift, fragte er mid. Bon Calw. Es ftimmt alles, die Nagold, das Wehr, der Gerbergraben, der Bahndamm und felbft die Namen Flaig, Giebenratb und Heſſe.“ Ob der Mann recht hatte?

Weinheim. Adam Karrillon.

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Andreas DBöft.

Ludwig Thomas „Undreas Vöſt“ erfchien zuerft als Feuilletonerzählun, in den Münchener Neueften Nachrichten. Schon die erften Fortjegungen zeigteng daß Thoma feine alte, oft ganz ungeftüme Kraft zugleich behalten und vertieft batte; ungewöhnlicher Ernft, ſchwere und mwuchtige GSachlichkeit gingen Sand in Hand mit einem ftarfen und niemals mit wohlfeiler Draftit ſich begnügenden Humor. Zugleich fchien Thoma mit Glück beftrebt zu fein, fein Gebiet zu er- weitern; die ftädtifchen Szenen waren fcharf und dennoch liebevoll gefehen, eine Reihe von Fäden geſchickt angefnüpf. Was aber ganz befonder® angetan war, Hoffnungen zu erweden, war, daß man es bier endlich wieder einmal mit einem Roman zu tun hatte, der wirklich ein breites, großes Lebensbild war, nicht nur eine in die Breite und Länge gezogene Novelle. So fpann fi das Wert erfreulich und bedeutend an, und die Spannung war allgemein. Die neueite Fortfegung war das Morgengefpräch, und Lefer, die fonft Zeitungsromane grund: fäglich ignorierten, lafen zuerst die Rubrif unter dem Gtrich.

Im Verlaufe des Erfcheinens wurden allerdings Stimmen laut, die den Aufbau bedenklich loder und die Charakteriftit des Pfarrers tendenzids nannten. Uber eben die Breite der Gefamtanlage ließ erwarten, daß fich das alles aus-

Rundſchau. 571

gleichen werde, daß mit dem Fortſchreiten des Werkes die einzelnen Gruppen in immer feſtere und kunſtvollere Verbindung gebracht würden, und daß Thoma vor allem auch Mittel finden werde, die bisher unleugbar einſeitige Verteilung von Licht und Schatten überraſchend in Ordnung zu bringen. Da erſchien plötzlich das neun- zehnte Rapitel und erwedte große Beftürzung: der Autor hatte bisher den Rampf ums Recht des Schullerbauern in einer Weife gefchildert, die nicht gerade be— fonders wahrfcheinlich, aber immerhin möglih war. Nun aber fchien er fich in eine böfe Sadgaffe zu verrennen. Als gar der jähe, unvermittelte, unwahr- foheinliche und unbefriedigende Schluß erfchien, war die Enttäufchung allgemein. Denn was vierhundert Seiten lang Hoffnungen erwedt hatte, wurde durch die legten dreißig Seiten vernichtet. Was man für künftlerifch durchdachte und in den Gefamtorganismus ſich einfügende breite Lebensfchilderung gehalten hatte, zeigte fih am Ende als eine Reihe äußerft loſe zufammenhängender Skizzen, zu deren ftraffer Verknüpfung dem Verfaſſer vielleicht die Zeit, vielleicht der künft- lerifche Ernft, vielleicht das Können gefehlt hatte. „Andreas Vöſt“ erwies fich nicht als Roman, fondern als langausgefponnene und durch das Hereinziehen anderer Lebenstreife mehr verworrene als ausgejchmücte Novelle. Einen Roman anfangen, das kann fchließlich jeder. Ihn gleichmäßig durchführen, ift fchon mehr als Technik, und fein Schriftjteller, der künftlerifch etwas erreichen will, follte es unter feiner Würde halten, noch von Romanfchriftitellern dritten und fünften Ranges zu lernen, wie man eine Sandlung folid fundamentiert, gleich- mäßig und intereffant aufbaut und finnvoll abfchließt. Die Verachtung des Rein- Tehnifchen, auf die ſich manche unferer Künſtler fogar etwas zugute tun, rächt fi immer. Wer glaubt, über die „alte Romanfchablone” erhaben zu fein, mache nur einmal den Verſuch, ob er wirklich diefe alte Romanfchablone beberrfche. Einen Roman abfchließen, fo daß ſich die Empfindung eines innerlich notwen⸗ digen und befriedigenden AUbfchluffes einftellt, ift vollends Sache des Meifters, und eine Kunſt, die die Deutfchen von den englifchen Romanfchriftftellern, be- fonders den älteren, lernen können, wenn fie nicht dazu zu bochmütig find. Die beiden technifch vorzüglich gearbeiteten Romane Guftav Freytags, Spielhagens befte Werte zeigen deutlich das englifche Vorbild, und find technifch inzwifchen weder erreicht, noch gar übertroffen worden.

Wie prächtig breit und vielverfprechend die Anfänge, wie ifoliert die ver- fhiedenen Gruppen, wie abgeriffen der Schluß, wie bedenklich die Fabel des Romans ift, läßt fi) am leichteften an einem Inappen Auszuge der zwanzig Kapitel zeigen. 1. (13 Seiten): Das neugeborene Kind des GSchullerbauern Andreas Vöſt fol, weil ungetauft, in ungeweihter Erde begraben werden. Vergebens ver- fucht Vöſt den ihm nicht günftig gefinnten Pfarrer umzuftimmen II. (16 Seiten): Der Bierangl Xaverl verfucht, fih von feinen DVaterpflichten gegenüber der fhwangeren Urſula Schuller zu drücken. Theologiefandidat Mang lernt Fräu- fein Sporner, die Nichte des Lehrers, kennen. Auf dem Tanzboden wird gerauft. Herr Mang begleitet Fräulein Sporner nah Haufe. III. (11. Seiten): Die Mutter des Schullerbauern wird mit den Sterbfatramenten verfehen. 1V. (19 Seiten): Die Großmutter hat dem Pfarrer teftamentarifh 500 Mark zu einem neuen Kirchturm vermacht, worüber Vöſt erzürnt ift. Er erfährt, daß Urſula vom Sohne des mit ihm verfeindeten Hierangl in der Hoffnung fei, und verfucht umfonft, diefen zur Anerkennung der Baterfchaft zu bewegen. Der Pfarrer hält am nächten Sonntage eine Predigt mit deutlichen Spigen gegen Vöſt. V. (17 Seiten): Schilderung der Anfänge der Bauernbundbewegung. Audienz des Dekans Erf beim Bezirtsamtmann wegen der wachjenden Anzahl der Bauernbündler. Der Bezirtsamtmann fchict einen Geheimerlaß an die Pfarrämter. Der Pfarrer von Erlbach denunziert VBöft als Rädelsführer und will, daß er auf feinen Fall

572 Rundfchau.

Bürgermeifter werde. VI. (15 Geiten): Am QUllerfeelentage reift der Pfarrer das Holzkreuzlein, das die Schullerin in den Hügel des ungetauften Kindleins geſteckt bat, heraus, zerbricht e8 und wirft die Stüde weg. (Das ift ziemlich un- wahrſcheinlich: aus feiner Dogmatif muß der Pfarrer wiffen, daß auch für bie im limbus infantium befindlichen Ungetauften Chriftus nicht umfonft geftorben ift! Außerdem ift der rohe Zug eine zwedlofe Verfchärfung des Charakters des Pfarrers; es ift künftlerifch verfehlt, den Gegner des Helden allzu ſchwarz zu machen) Man bört, daß Mang viel beim Kaufmann Sporner in München verkehrt. Schuller ift im Glauben irre geworden: eine Religion, die einen Unter: fchied zwifchen getauft und ungetauft mache, könne nicht gut fein; eine Religion, bei der ſolch rachfüchtige Geiftliche möglich feien, könne nicht von Gott fein. VII. (11 Seiten): Bei allen Gemeindewahlen fiegen die Bauernbündler. Böft wird zum DBürgermeifter gewählt. VIII. (19 Geiten): Schilderung des Gpor- nerifchen Rolonialwarengefchäftee. Dem Studiofus Mang wird von der Mama Sporner angedeutet, er folle feine Mufitftunden mit Traudel einftellen. (Das ganze Kapitel ift überflüffig, nachdem Thoma den Faden nicht weiter fpinnt.) IX. (32 Geiten): Pfarrer Bauftätter lieft dem unterlegenen Bürgermeiftertandi- daten einen angeblich von feinem Amtsvorgänger Pfarrer Held ftammenden Zettel vor, wonah Vöſt feinen leiblichen Vater abjcheulih mißhandle. Hierangl jol dag weitererzäblen. Das Gerücht verbreitet fih. Beim Sühnetermin padt Schuller den Bierangl an. Der Pfarrer weigert fich, ihm den Zettel zu zeigen. Böft baut darauf, daß jedermann wiffe, wie gut er feinen alten Bater behandelt habe. x. (21 Geiten): Schilderung der lokalen Bauernbundpreffe und -Bewegung (18 Seiten!); Akten beim Bezirksamt: Proteft des Pfarrers, Abfchrift des Zettels, deffen Driginal der Pfarrer zurückerbeten hat, Mitteilung über die Tätlichkeiten beim Sühneverſuch. XI. (33 Geiten): Bisheriger Lebensgang des Studioſus Mang und feines Simmernachbarn, des alten Achtundvierzigerd Schratt. (Trot lofer Verbindung mit Pfarrer Helds Gefchichte vom Standpunkte de8 Romans aus ebenfo überflüffig wie VIIL) XI. (31 Geiten): Vöſt wird als Bürger- meifter nicht beftätigt. Die mündliche Befchwerde beim Bezirksamtmann verläuft refultatlos, da Vofis Begleiter durch bäuerliche Lberpfiffigkeit alles verdirbt. XIII. (39 Seiten): Schilderung einer Bauernbundsverfammlung. (An fich glänzend, aber mit dem Roman bat fie fehr wenig zu fun; fie ift viel zu breit geraten, Selbſtzweck, felbftändige Skizze!) XIV. (27 Geiten): Vöſt wird immer düfterer, gebt in feine Kirche mehr, fogar die Dienftboten parieren nicht mehr. Dazwiſchen ein Befuch beim Anwalt, wo Vöſt keine entjprechende Belehrung findet, ſowenig ihm das Drdinariat zu feinem Rechte verhilft. XV. (27 Geiten): Der erfte Ball des Studiofus Mang; Fräulein Sporner ift auch dabei. (Das überflüffigfte Kapitel im ganzen Buche.) XVI. (25 Geiten): Den unehelichen Buben der Schullertochter will der Pfarrer Simplizius taufen, weil er am zweiten März geboren ei. Darob großer Verdruß. (Zu breit ausgefponnen.) XVII. (26 Seiten): Die Vaterſchaftsklage wird verwirrt. Mang fagt feiner Mutter, er könne nicht mehr Geiftlicher werden. XVII. (25 Seiten): Mang bekommt den verhängnis- vollen Zettel zu Geficht, fieht augenblicklich, daß er gefälfcht ift, und teilt dies Böft mit. XIX. (23 Seiten): Der Bezirtsamtmann erklärt Vöſt, da er trotz diefer Behauptung des Mang gar nichts machen könne, Vöſt tötet im Rauſch den Bierangl. XX. (5 Geiten): Vöſt erhält vier Jahre Gefängnis.

Es ift nicht gut für das Buch !), daß von den 434 Seiten mehr als 134 überflüffig find, fchlimmer noch als überflüffig: fie erweden Hoffnungen, ohne fie

') Berlag von Albert Langen. Umſchlagzeichnung von f. Taſchner. oeheſu 6 Nett 8 gzeichnung Prof. Ignaz

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zu erfüllen; fie ſtehen künftlerifch ganz leer da wie Spalier ohne Reben, wie Säulen ohne Gebälte. Thoma fnüpft Fäden an, nur um fie fallen zu laffen. Was haben Mang, Schratt, was hat all das Detail der Bauernbundsbeivegung mit dem Rampf ums Recht des Andreas Vöſt zu tun?

Das Schlimmfte an der Fabel jedoch ift ihr kriminaliftifcher Kern. Die dem Pfarrer imputierte Fälfhung ift von unglaubwürdiger Plumpheit; auf folch ſchwachem Grunde errichtet man nicht das Gebäude eines Romans! Alles ruht auf dem Bordereau des Pfarrers Bauftätter; die Vorbedingungen des ganzen Verlaufes find, daß erftens ein Pfarrer aus politifhem Haß zum infamften Ur- fundenfälicher werde, daß zweitens der Bezirksamtmann dem Vöſt keinen ver- nünftigen Rat gebe, daß drittens der Anwalt ihm wieder feinen vernünftigen Rat gebe, daß viertens das DOrdinariat der Sache nicht nachgehe, dab fünftens der Bezirksamtmann trog Mangs Behauptung, der Zettel fei gefälicht, noch immer nicht ftugig werde, daß endlich bei der Verhandlung der Angeklagte, die Zeugen, der Anwalt und der Richter, jeder in feiner Art, fih fo dumm als möglich benehmen. Vöſt brauchte ja nur im Wochenblatt inferieren zu laffen, er erkläre Urheber und PVBerbreiter des Gerüchtes für elende Verleumder: was läge einem Bauern näher als diefer Gedante? Damit wäre der ganze Roman hinfällig. Nein, wer einen Kampf ums Recht fchildern will, darf nicht mit der Tatfächlichkeit fo umfpringen wie Thomal Die Fabel des „Andreas Vöſt“ ift ein flüchtig aufgeftelltes Kartenhaus; kein Hauch von Realität darf fie berühren, fonft fällt fie zuſammen.

Unwahrfcheinlih ift auch der Charakter des Pfarrers. Es ift ein wohl: feiler Dtto-Ernft-Trid, den jeweiligen Flahsmann kohlſchwarz zu machen, damit der jeweilige Flemming umfo weißer daftehe. Der Pfarrer ift ohne den ge- ringften menſchlich verfühnenden Zug gezeichnet: er ift ein Dämon des Haffes, ein Scheufal voll Falfchheit, ein Satan der Heuchelei, er ift kein Menfch mehr. Er ift der aus dem Eugen Sue’jchen ins DOberbayrifche überfegte +++ Iefuit. Nein, fo leicht durfte fih Thoma feine Thefe nicht machen. Er durfte nicht alles Recht in die eine, nicht alle Niedertracht in die andere Wagfchale legen.

E8 wäre aber fchreiendes Llnrecht, höbe man nicht die glänzenden Einzel- vorzüge des Werkes hervor, das ald Ganzes verfehlt it. So fchlecht „Andreas Vöſt“ die Probe ald Roman-Organismus, als einheitliches Kunſtwerk, als logifch aufgebaute Erzählung befteht, fo prachtvoll ift das Detail. Das Buch fprudelt von Leben, e8 ftrogt von Kraft, es ift hingefchrieben mit einer großartigen Wucht, latonifh und dann wieder köſtlich in behaglicher Breite erzählend, tiefernft, ans Innerfte rührend, und wieder von fchalkhaft gütigem Herzenshumor erfüllt. Wäre nicht „Andreas Vöſt“ trog alledem und alledem das Werk eines Talentes erften Rangs, ich hätte mir nicht die unerfreuliche Aufgabe geftellt, e8 fo fcharf unter die Lupe zu nehmen. Wäre Ludwig Thoma nicht eine Begabung, von der wir viel, jehr viel hoffen, wir hätten ihm nicht die Ehre ſolch eingehender Kritik widerfahren laffen. Talentlofe Schreiber ignorirt man; Mittelmäßigkeiten toleriert man; einem wirklichen großen Talente fchaut man ſcharf auf die (Finger, damit es no nicht, um eine Wendung unferer böfifchen Epen zu gebrauchen verliege.

Weit Ludwig Thoma was wir von ihm hoffen? Daß er der Ieremias Gotthelf Altbayerns werde, der ftarte und treuberzige, ehrliche und furchtlofe Schilderer altbayrifchen Lebens. Daß er alles was an fchlechter Satire, an un- fohöner Spottluft noch gelegentlih an ihm zu fpüren ift, läutere zu jenem herz- erquidenden Humore, den er im „Andreas Vöſt“ gelegentlich zeigt. Daß er nicht feinen unbewußten und reinen künftlerifchen Snftintt durch bewußte Tendenzen fih verderben laffe. Daß er, Ludwig Thoma, fich nicht ins Konzept pfufchen

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lafje von Peter Schlemihl. Thoma hat das Zeug zu Großem und Herrlichem in fih, und DBieler Augen boffen auf ihn. Ein Sammer wäre ed, ivenn er ung enttäufchte, feine in ihrer Urt ganz einzige Begabung nicht reſpeltierte.

München. Joſef Hofmiller.

Neue Literatur zur Arbeiterfrage.

1. Die Arbeiterfrage. Eine Einführung von Dr. Heinrich Herfner. PVierte erweiterte und umgearbeitete Auflage. Berlin 1905. 9. Guttentagfche Ver: lagsbuchhandlung. 642 ©.

2. Organifierte Arbeit. Don ie br Sue Borfigender der Vereinigten Bergarbeiter Indianapolis, Ind. ©. Deutfih von Dr. Hermann Haſſe. Leipzig 1905. Verlag von S ®. —— 206 S.

Das ausgezeichnete Wert von Herkner erſcheint heuer in vierter, erwei— terter und umgearbeiteter Auflage. In den neuen Partien des Buches ift eine fhon früher angedeutete Stimmung des Verfaſſers noch ftärfer zum Ausdrud gelommen, bie ihn die Erfolge fozialtonfervativer Politit im Hinblid auf die Erhaltung des „Mittelftandes“ und die fozialpolitifchen Leiftungen des Hand⸗ werks u. E. zu günftig, die feelifchen Einflüffe des Großftadtlebens und der in- duftriellen Tätigkeit zu ungünftig beurteilen läßt. In diefem Stimmungsgehalt des Werkes läge eine nicht unerbebliche Gefahr, wenn die Grundanfchauung zu träfe, welche der Verfaffer in den Worten ausſpricht: „Schließlich ift alle gefell- fchaftliche Entwidlung doch ein Produkt menfchlihen Willens. Es kann alfo nur darauf antommen, ob die Wiffenfchaft ihre Ideale mit fo überzeugenden Beweisgründen ausftatten kann, als notwendig ift, um das Wollen einer genügend großen Zahl von Menfchen zu beftimmen.“ Man braucht indeffen fein unbe dingter Anhänger der materialiftifhen Geſchichtsauffaſſung zu fein, um anzuer- kennen, daß der menschliche Wille, fo Gewaltiges er auf dem Gebiet d der gefell- ſchaftlichen Entwidlung vermag, namentlich, wenn er die Tendenzen diefer Entwidlung kennt und ihnen zu folgen verfteht, doch auch nicht allmächtig ift. Denn offenbar gibt e8 auch hier eine Natur der Dinge, an welche das menfd- lihe Wollen in zahlreichen Fällen, ihm felbft mehr oder minder bewußt, gebunden if. Wie dem aber auch fei, jedenfalls ift es nicht die Wiffenfchaft, welde Ideale aufftellt und mit VBeweisgründen ausftattet. Denn die Wiffenfchaft fennt nur das Eine „Ideal“, das Geiende zu erkennen. Andere Ideale aber, d. b. Anſchauungen über das Geinfollende, laffen fich nicht „beweifen“. Pas Herl- nerfhe Buch bietet im übrigen in der anfprechendften Form eine folche- Fülle fozialpolitifchen Wiffenftoffs, daß es jedermann mit dem größten Nutzen leſen wird. Wer fich dafür intereffiert, welche Geftalt die gewerbliche AUrbeiterfrage in dem Lande angenommen bat, welches feine „verfallenen Schlöffer und feine Bafalte“ kennt, dem fei die Arbeit des amerikanifchen Gewerkfchaftsführers John Mitchell aufs Wärmfte empfohlen. Er wird daraus nicht nur über die tatfäch- lihen fozialen Zuftände der Induftriearbeiterfchaft in den Vereinigten Staaten eine Menge lernen, fondern auch überrafchende Auffchlüffe darüber erhalten, wie freiere politifche Inftitutionen auf den Geift der organifierbaren Schichten der Arbeiterſchaft einwirken, wenn der innere Markt durch keinerlei Mittelftandepolitit fünftlich befchränft ift.

München. Mar Prager.

Rundichau. 575

Bücher zum Feite.

Bücher follen Fefte fein: mit Sehnſucht erwartet, mit fröhlihem Aug und Ginn genofjen. Solch längft erwartete Feſt war die billige Volksausgabe der Werte Mörites (Leipzig, Göfchen). Uber hat uns nicht der Verlag allzu lang darauf warten laffen? Zuſt bis der Ablauf der Schugfrift ihn zwang, eine billige Ausgabe zu machen? Iſt der Verlag nicht zu einem großen Teil durch den dreißig Jahre lang eigenfinnig feitgehaltenen Preis ſchuld daran, daf Mörike im deutſchen Volke noch zu wenig bekannt ift? Ich muß offen gefteben, daß mich der Wafchzettel des Verlegers, in dem von dem „lange gehegten Wunfch aller Mörikeverehrer“ die Rede tft, mit einigem Grimm erfüllt bat, und daß diefer Ingrimm wuchs, ale ich ſah, welch Heinen Drud der Verlag für diefe Ausgabe genommen bat. Unſere großen Verleger haben große Verpflichtungen! Das mögen fie ſich merken, ehe fie idealiftifche Redensarten in den Mund nehmen!

Zu den taffräftigften Verlegern gehört Diederichs in Jena: wie prächtig bat er den „Blütentranz des bl. Franz von Affifi” herausgegeben, auf den wir übrigeng, zufammen mit Guftav Schnürers „Franz von Affifi“ (München, Kirchheim) in einem der erften Hefte des neuen Jahrgangs ausführlich zurüdzulommen gedenten. Ein anderes originelles Unternehmen von Diederiche find die „Erzieher zu deutfher Bildung“: Friedrich von der Leyen bat eine ganz ausgezeichnete Auswahl aus Herder getroffen, ganz perfönlich, das DBleibende und eben darum ewig Moderne an Herder betonend. Ebenjo gut ift desfelben Herausgeberd Auswahl der Fragmente von Friedrih Schlegel, aus ber man von dem geiftvollen Anreger einen guten Gefamtbegriff erhält. Daß die fchmuden Bändchen auch äußerlich gut geraten find verſteht fich bei Dieberihs von felbft. Friedrich Schlegel ift im legten Jahre nicht weniger als dreimal neu aufgelegt worden: Fritz Baader hat das „Athenäum“ neu in Auswahl herausgegeben (Dan-Berlag Berlin), und in der zierlichen Sammlung „Die Fruchtſchale“ (München, Piper) ift er ebenfalls vertreten: der erſte Band bringt chinefifche Lyrik, der zweite eine Auslefe aus Platens Tagebüchern, die Erich Petzet mit Umficht beforgt hat, der dritte Schlegeld Fragmente und Ideen, der vierte Amield Tagebücher. Gerade eine deutfche Ausgabe diefer legten wunberfeinen pfuchologifhen Dokumente war befonderd wertvoll. Der feinempfindende Genfer Dichterdenker verdient auch bei ung mehr beachtet zu werden.

Bon den Tagebühern Adolf Pichlers haben wir im erften Jahrgang eine Auswahl gebradt. Damals bat uns wirklich die Wahl web getan, und jest, da fie in einem Bande vorliegen und fich der Neudrud der autobiographifchen Blätter „Zu meiner Seit“ zu ihnen gefellt bat, können wir nur wieder und wieder auf die im Verlage von Georg Müller (München) erfcheinenden gefam- melten Werte Pichler empfehlend binweifen.

- Ein wahrbaftiges Feitbuch ift der 109. Band der befannten Philoſophiſchen

Bibliothek: „Boetbes Pbilofophie aus feinen Werten“. Mar Hey: nacher bat bier eine Auswahl beforgt, die im Einzelnen vielleicht anders fein könnte, denn fchließlih macht ſich doch jeder eine foldhe Auswahl nach dem eigenen Kopfe zurecht, die aber als Ganzes im böchften Grade anregend und wertvoll if. Der Dürr’fche Verlag bat damit einen glänzenden Griff getan.

Theaterfreunden werden Eugen Kilians „Pramaturgifhe Blätter“ (Münden, Georg Müller) eine willtommene Gabe fein, in denen fie fieben Auffäse über Shakefpeare auf der modernen Bühne neben intereffanten Studien über Regiekunſt und Theatergefchichte finden. Richard Weltrichs Gfreit- Ichrift über Wagners Triftan und Ifolde als Dichtung (Berlin, Reimer) ift ein Buch für nacdenklihe und felbftändig urteilende Leute, gleichviel ob ſie's mit

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dem DBerfaffer halten, ob nicht. Rudolf Kaſſners ſechs Briefe über „Die Moral der Mufit“ endlih (München, Brudmann) find ein erquifit geiftvolles Wert, ein böchft bedeutendes Gewebe von Mufiffritit und Philoſophie, von ganz perfönlicher Lebens und KRunftanfchauung, von tiefen Einfällen, Paradoren, Marimen, ein feltfam faszinierendes Buch für einfame Denter und Genießer.

Unſern Lefern ift vielleicht fchon einmal der Name des Verlags von Langewiefche in Düffeldorf aufgefallen: ficher ſtand er nur auf einem ganz guten Buche. Heute feien nur zwei feiner Veröffentlihungen zu rübmlichem Scluffe erwähnt: die gute Auswahl aus Garlyle „Arbeiten und nicht ver: zweifeln“, und die herzige Sammlung deutjcher Kinderlieder „Macht auf das Tor! Macht auf das Tor“! Mit alten Weihnachtsliedern aus Freifing bab- ı wir voriges Jahr den Band gefchloffen. Mit einem alten Neujabrsliede, das wir diefer Sammlung entnehmen, tun wir’3 heuer:

Nun reifen wir froh nach unfrer Sonnen,

Wir haben allhier groß Heil vernommen:

Des freuet fich die englifche Schar:

Wir wünfchen euch allen ein glüdfelig Neujahr! Wir wünfchen dem Herrn einen goldenen Hut,

Er trinke feinen Wein, er fei denn gut.

Wir wünfchen dem Herrn einen goldenen Bronnen, So ift ihm niemals fein Glück zerronnen.

Wir wünfchen dem Herrn einen goldenen Tifch, Auf jedes Ed einen gebratenen Fiſch.

Wir wünfhen der Frau einen goldenen Rod,

Sie geht daher als wie ein Dod.

Wir wünfchen dem Sohn eine Feder in die Hand, Damit foll er fchreiben durchs ganze Land.

Wir wünfchen der Tochter ein Räbdelein,

Damit foll fie fpinnen ein Fädelein.

Wir wünfhen der Magd einen Befen in die Hand, Damit foll fie kehren die Spinnen von der Wand, Wir wünfchen dem Knecht eine Peitſch in die Hand, Damit foll er fahren durchs ganze Land.

Wir wünfchen euch allen einen goldenen Wagen, Damit ihr könnt ins Himmelreich fahren.

Des freuet ſich die englifche Schar:

Wir wünfchen euch allen ein glüdjelig Neujahr!

München. Joſef Hofmiller. ER EER FR ER Ca FR Fam Fa Da Da FE DR PER FR RER ER

Berantwortlich für den fozialpolttifhen Teil: Friedrih Naumann in a für den übrigen Inbalt: Paul Nikolaus Cofimann in Münden

Nachdruck der einzelnen Beiträge nur auszugsweife und mit genauer Quellenangabe geftattet.

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