IN COMMEMORATION OF THE VISIT OF HIS ROYAL HIGHNESS PRINCE HENRY OF PRUSSIA MARCH SIXTH,1902 ON BEHALF OF HIS MAJESTY THE GERMAN EMPEROR

IN COMMEMORATION OF THE VISIT OF HIS ROYAL HIGHNESS PRINCE HENRY OF PRUSSIA MARCH SIXTIT, 1902 ON BEHALF OF HIS MAJESTY THE GERMAN EMPEROR —— en

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PRESENTEDBYARCHIBALD CARY COOLIDGE Pit. ASSISTANT PROFESSOR OF MISTORY.

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Baltifche

Monatsichrift.

Herausgegeben von

Arnold von Tideböpl.

Vierundvierzigſter Jahrgang.

LIV. Band.

Riga 1902. Verlag ber Baltifhen Monatsidrift. Ritolaiftraße Pr. 27.

Dleus 4]

Harvard College Library APR 231909

Hohenzollern Collection

Gift of A. C. Conlidge

Inhalt.

LIV.

Ueber das livländ. Bauerprivatredht Salt); Von Robert Schöler . . Johann von Blanfenfelb, Erzbiſchof von Riga, Bid ı von Dorpat und Reval. II. Von Aler. Berendts Die Slaven in Deutihland. Cine Anzeige von Dr. A. Bielenftein . Mr ng Das erjte Jahrzehnt der Univerfität Dorpat. Aus den Diemoiren des Profefjors J. W. Kraufe (Schluß) Die fittliche und fogiale Bedeutung des modernen —— ſtrebens. Von Prof. Dr. Adolf Harnack Tagebuchblätter von Karl Gotthard Graß aus ber Zeit "her Züriher Staatsummälzung 1798. Mitgeteilt von Dr. Friedr. Bienemann jun... . * Die Bedeutung der altkirchlichen Seprftreiigteiten. Ein Vortrag von Mag. Aler. Berendts * Ein ungebrudter Aufſatz von Victor BR: Ditgeteit von ©. v. Sabler . B one. Politiſche Feriengedanken. Ton R. v. 8. —— Livland und die Schlacht bei Tannenberg. Von Osfar Stavenhagen . - 22. 235. 310. Lord Byron als Dramatifer. Bon Dr. Eduard EdHardt . Der Kaufmann in ber ergäßlenben Poeſie. Ein Vortrag von Dr. Eduard Schneider 7 von. Anti-Tolftei. Don Ernft Külpe 5 —— Johann von Blankenfelds Verrat, Von Mag. A. Berendts 5 Alexander von Dettingens Dogmatit. Bon FR Eiſenſchmidt.

193

365

273

489 345 354 382

Litterärifdhes: Seite Garneri, Der moberne Menſch B 2 Aus Bismards Brieſwechſel. Jaftom * Binter, Deutfche Gefdjidhte im Zeitalter der Hofenftaufen. Türd, Der geniale Menſch. Shmitthenmer, Neue Novellen, Grunomw, Bom Weg. Stellanus, Blau und Weiß. Aurz, Geneſung. Brenifen, Dorfprebigten. Trommel, Segen und Zroft. Burdharbt, Die Aufı eritehung des Herrn . . 180 Lamprecht, Zur jüngften beutfhen Vergangenheit. Seyne, Das deutfche Rebrungsweſen. Rudolf Kögels Werden und Bieten. . . 266 Lindner, Meitgelöiäte. IL. Neurat, Nalionalötonomife Vorträge. v. d. Helfen, Gocihes Briefe, IL Lenaus fämmtliche Werte. Weltric, Als Sr, Worms, Die Stitlen im Lande. . . » 337 Rem, Die Seele des Wenſchen. Ga gei, Aunftformen. Keuter, Zum 700jährigen Jubiläum der Stadt Riga . 303 Don dee Neballin » 2 nm 2397

Holtgenisn ren 66 * *

* Baltifhe Chronik. 6. Jahrgang. Vom 1. Sept. 1901 bis zum 1. Sept. 1902. Nebigirt von ©. 8.

Ueber das livländ. Baner-Privatredht.

Bon Robert Shöler. Schluß.)

Sagenreät.

1. Vom Eigentumsrecht.

Der Finderlohn beträgt !/s des Wertes des Gefundenen nad) $ 979 ber BL. 4, während nad) dem Privatredht Y/s doch das Höchite ift, worauf das Gericht erkennen barf, wobei aber noch die Koften ber Publifation 2c. von biefem %/s in Abzug zu bringen find (bie Quelle ift BB. 2 $ 395 und namentlih BB. 3 $ 1042).

Das bäuerlide Grundeigentum auf dem Bauerlande ($ 223, vgl. 221,226) barf von bem Eigentümer parzellirt werben, jedod nur in fo weit, daß ber alienirte Teil nicht fleiner als Y/s Hafen (= 10 Thaler) ift (Quelle BB. 3 $ 250, wo jebod) das Minimum auf Yız Haken 6°/s Thaler feitgefegt worben war).

Hiermit ift jedoch nicht ausgefchloffen, daß mehreren Perfonen, wie ab intestato, fo auch durch Teftament ein Grunbftüd bes Bauerlandes zu ibeellen Teilen hinterlaſſen wird !), an bem ihre

91. R. Smirlow, der im Journal des Juftigminifteriums (cuff.) vom Degember 1898 das übrigens erft im J. 1900 Ar. O1 publigirie Senatgurteil über die Erblofung und die vortrefflich motivirte Kaſſationsbeſchwerde bes ver« ftorbenen vereibigten Rechtsanwalts Joſeph v. Helmerſen, der ſich für die Erifteng der Grblofung im Vauerrecht ausfpricht, abfälig zu kritiſiren unternommen Bat, behauptet unter Anderem, dah die BL. 4 ein Miteigentum von Bauern Binfihtfih einer Parzelle des Bauerlandes nicht geflatie (S. 385 1. ©). Diefes Verbot foll in $ 983 und 984 BB. 4 enthalten fein, wo inbeh nur beftimmmt wird, dab ber äftefte Sohn bie Verwaltung bes Gefinbes zu übernehmen berechtigt ift, wenn er als Gefindeswirt betätigt worden ift. Smirlom überfieht Hierbei ganz, daß & ſich im $ 983 und 984 um Basıyende

2 Ueber das lidl. Bauerprivatrecit.

Teile weniger als /s Hafen betragen würden, wenn eine Realteilung vorgenommen werben dürfte (vgl. aud) Erdmann, Syſtem Bd. I,

Handelt, bie weder im Eigentum noch Miteigentum der Erben bes PächterS ftehen fönnen (ogl. über das Nähere unten im Abichnitt über das Erbreht S. 6). Et läht überhaupt aufer ct, daf die BL. die Möglichteit des Miteigentums an einem Immodil dadurch anerfennt, bafs nach $ 995 bie Eltern als Anteftat» erben hinfichtlich des von dem ohne Nachlommen verjtorbenen Rinde binterlaffenen Immobils zu gelten haben. Erben fie nun gemeinfom das Immobil ihres Kindes, fo entftände doch zunächit ein Miteigentum zwiſchen den Eltern. Wem denn wor ber Teilung ein mehreren Erben, eima der Mitte und den gindern Binterlaffenes und von ihnen angelretenes Immobil gehören foll, barüber fpricht fih A. Smitlow direlt nicht aus.

2. Cr behauptet auch (5. 246 1.c.), daß Hofsland, inftufive Quote, fei binſichtlich der Arrende und des Eigentumserwerbes durch Bauern allen Beftim» mungen der BI. unterworfen. Denn $ 97 der BB. wende dieſe Betimmungen auch auf bie Arrenden ber Hofslandparzellen durd; Bauern an, wenn dieſe Arrenden vor der Emanirung ber BR. vom Jahre 1860 beitanden Haben. Auch ſeien, was den Orundeigentumgerwerb durch Bauern beträfe, in bem Kapitel 2 der BL. die allgemeinen Beftimmungen über das. bäuerlice Grund: eigentum entpalten, ohne dah irgend eine Ausnahme dafelbit hinſichlich des vorn Bauern erworbenen Grunbeigentums an Hofslandparzelfen gemadjt worden fei.

Auf diefe Vehauptungen wäre unter den früheren Verhältniſſen nicht näher einzugehen gemefen. Es dürfte aber auch jept genügen, darauf hinguweiſen, baß in bem von N. Smirlom zitiren $ 97 mur von den Frohn pachtverirägen über 90f8» (influfive Quoten)ländereien gefagt wird, daß fie den Bejtimmungen der BI. über die Frohnpacht unterliegen. Da nun längit bie Frohnpacht ebenfo auf dem Hofsland (inftufive Quote) wie auf dem Vauerland gefehlidh verboten Ät, fo gelten auch die Beftimmungen der BL. 4 über Froßnpachtverträge nicht mehr. Weshalb aber trotzdem, dal; es ſich nur um ſolche Frohnpachtverträge über Hofslandpargelfen, die vor Emauirung der BL. 4 abgefchloffen waren, in $ 97 handelte, auch alle anderen bäuerligen Arrenden von Hofslanbparzelfen der BD. untermorfen fein follen, bleibt um jo unbegreiflicher, ols ja gerade in 8.97 feflgefegt wird, daß der Guisherr (mit der Ausnahme der Frohnpach. verträge) über das dofsland (influfioe Quote) ganz unbefpränft und frci dis poniren und e$ „nach eigenem Gutbünfen ohne alle Kontrolle” „benugen und zu beliebiger Verwendung. beitimmen darf." Was aber fpepiell die im Kap. 2 enthaltenen Veftimmungen der BB. über das bauertiche Grundeigentum betrifft, auf bie Smielom ſich glaubt ftügen zu dürfen, fo find fie enthalten in dem Abfhnitt „Über bie Art der Rudung des Gehordslandes“, woher es feinem Zweifel unterworfen fein fann, dab dieſe über das bäuerliche Grund« eigentum erlaffenen Beftimmungen fih nicht auf das Hofsland (infl. Quote), fondern auf das Gehorchsland bejiehen. N. Smirlorw will aber auch aus dem as vom 18. Februar 1893, der temporär den Verlauf von Quolenländereien über 10 Tholer verbietet, die Abjicht des Geſebgebers heraußlefen, die Quote dem Bauerlande gleichgeftelt zu fehen. Er imputirt hierbei dem Gefehgeber, im einer

Ueber das ol. Bauerprivatredit. 8

©. 148). Ebenſo ift es zuläffig, daß ein Erbe einen folchen ibeellen Anteil veräußert. Cs ift daher fehr wohl möglich, daß 1/s Hafen Bauerland von mehreren Perfonen zu ibeellen Zeilen gefauft werben fann und fteht ber NKorroboration eines ſolchen Kaufes ebenfo wenig im Wege, als ber Eigentumszufhreibung einer durch Erbihaft von mehreren Erben erworbenen Parzelle des Bauer: Landes, bie nur "/s Hafen groß iſt. Da der Bauer das Rechts: inftitut des Miteigentums (Eigentum zu ibeellen Teilen) gemöhnlid) nicht verfteht, fo entjteht allerdings unter den Eigentümern in ſolchem Falle leicht ein Befit zu realen Anteilen, wie ihn die BR. nicht haben möchte.

In bem Falle, daß ber Grunbeigentümer fein Bauerland- Geſinde durch Kultur größer als einen Hafen gemacht hat, braucht er ben Ueberſchuß nicht zu veräußern (Patent 135, 1889), bes gleihen auch nicht feine Erben, jelbft wenn von mehreren jeiner Erben einer durch Transaft mit ben Miterben fein Rechtsnachfolger im Gefinbe wird, denn als folder ſeht er bie Perfönlichteit des Erblaſſers fort.

Tom eifernen Inventar reden viele Stellen ber BD. Da nun aber bei Erwerb von Grundeigentum am Bauerlande jegt fein eifernes Inventar zu fonftituiren ift!) (Art. 370, 371 und

temporären Mafiregel bie Gleichſtellung herbeizufügren und fpricht hier von einer Steicftelung mit dem Bauerlande, obgleich dieſes ja befanntlich gerabe nicht unter 10 Thalern verfauft werden foll.

3. A. Smirlow tommt in feinen Bifverftändniffen fogar dabin, daß er Kauf ©. 247 1. c.) fcreibt: ein Yauer, ber ein Hittergut erworben hat, muß aus dem Beftande der Glieder der örtlichen Bauergemeinde austreten, welche nur perföntich () (aber nicht vermitlelit der Verarrendirung) das Gehorchslond und bie Quote nugen Fönmen. fo hiernach dürfte auch ein Yauer, ber Eigentümer eines Gehorcheland » Befinbes ift, cs nicht verpachten (!) Tännen, obmohl ihm daS nad) $ 223 der BL. ausbrüdlich geftatet wird.

1%. d. Rieferigfg (Liol. BL. I, S. 122) hält den $ 225 der BB, dur) den die Ronftituicung des cifernen Invenlars bei Gejindesverfäufen vor« geichrieben war, noch für rehtägültig, trogdem die Korroborationsbehörben nicht den ebenbafefbft vorgefcheichenen Nadweis über bie Konftituirung des eifernen Inventars zu fordern Gaben und trogdem bie durch das Juftigminifterium Heraus gegebenen Motive des Gefepgebers zu ben Neformgefegen von 1889 (Gafmann« Rolten 1880, &. 205) es direft ausiprechen, daß der $ 225 aufgehoben fei, mas aud mit dem Sinne der 1.cc. motivieten rt. 870, 371 und Anm. 1 zu

Art, 370 der Notariatsordnung übereinftimmen bürfte. *

4 Ueber daß lol. Bauerprivatredit.

Anm. 1 zu Art. 370 ber Notariatsordnung), geſchweige denn vom Käufer bei Gefahr der Ungüftigfeit des Rauffontraktes nachzumeifen ober ſicherzuſtellen iſt, auch das Kreditſyſtem deſſen Eriftenz nicht verlangt, die Bauer-Rentenbank, die es geſetzlich verlangen muß, im legten Stadium ihrer eigenen Eriftenz ſich befindet, da ferner die Pachtverträge über das Vauerland auf zwei Vererbungen, bei denen bie Konftituirung eines eifernen Inventars noch obligatoriſch ift, kaum jemals vorkommen, und es bei fonjtigen Verpachtungen nicht konſtimirt zu werben pflegt, fo dürfte das ganze Inflitut To gut wie unpraftifh geworben fein. Die geſetzliche Verpflichtung zur Ronflituirung eines eifernen Snventars bei den gedachten Ver- pachtungen auf zwei Vererbungen macht daher jept den Eindruck eines abzuſchaffen vergefienen Geſetzes. Der im $ 194 vorgefehene feltfame Fall der Entftehung bes eifernen Inventars ift an bie Vorausfegung gefnüpft, daß bei einem über Bauerland, überhaupt auf Erben abgefhloffenen Pachtfontraft, der Erbe des Pächters auf deffen Erbſchaft verzichtet, wonach das Wirtihaftsinventarium bes verftorbenen Pächters ohne alle Vergütung als eifernes Inven - tarium auf bem Pachtſtück bleibt, aud) wenn es nicht als fuldes kontraktlich oder geſetzlich konſtituirt worden war. Auf dieſe Weiſe bürfte aber wohl faum jemals eiſernes Inventar entſtanden fein, und iſt biefes originelle Erbrecht, das unter den Veftimmungen ber BV. über bie Geldpacht ſich verbirgt, felbft den Nichtbeteiligten unbefannt geblieben, was fich durd) Befragen leicht Tonflatiren Tiefe. (Die Quelle für 8 194 ift BU. 3 8 226.)

Dem Gutsheren verbleibt auf allen Grundſlücken feines Gutes, fowohl Bauer: als Hofsländereien, bie verpachtet oder verfauft find, in Fällen ber Notwenbigfeit, die gerichtlich nachzuweiſen if, das Net!) der Durchführung von Ranälen, Straßen, Gräben und bergleiden zum Zweck der Ent und Bewäſſerung, Wege: und Mafferfommus nifation gegen angemefjene Entſchädigung ($ 42—45, aud) PR. Art. 868 Anm. 2. Die Quelle ift BB. 3 8 58), Wird das erlangte Territorium nicht zu dem angegebenen Zweck benugt, fo

1) Erdmann Syſtem Vd. II S. 187 befciränft biefes Recht im Wider ſpruch zum Wortlaut des $ 42 der BB. nur auf daS Bauerland.

Ueber das lidl. Bauerprivatredt. 5

fällt es an ben ehemaligen Befiper zurũck, ohne daß ber bie empfangene Gntfhäbigung ober einen Teil von ihr zurüczugeben hat.

Beſtritten ift (vgl. das Senatsurteil Nr. 23, 1895!) und das mit ihm zum Teil im Widerſpruch ſtehende Senatsurteil Nr. 61, 1900), baß bei Veräußerung von Erbgütern der Bauern bie Erb: loſung ftattfinden dürfe, weil fie eine ſtändiſche (cocaonnoe) Ein- richtung fei und ber BV. gänzlich fremd. Doch bürfte bierbei überjehen fein, daß die Erblojung eine Konfequenz des Erbgut- ſyſtems ift (PR. Art. 961), welches der BV. durchaus nicht fremb geblieben (BB. $ 973) und daß das Erbgutfyftem und bie Erb- lofung Nechtsinftitute find, die zunädft nicht zu ändifhen Zweden, ſondern zum Beten der Familie zu dienen haben (PR. Art. 1655), wie denn die Erblofung unbeftritten hinfichtlih der in den Städten befegenen Immobilien aud) den Yauern zufteht. Es bürften jomit fehr wohl die landrechtlichen Veftimmungen über die Erblofung an Erbgütern auch für die Bauern anwendbar fein, aber ebenfo aud) die landredtlihen Beſtimmungen über bie Erbfofung an wohl- erworbenen Immobilien, die wegen Schulden bes erften Erwerbers öffentlich verfteigert find (Art. 1658 ibid.), wie das aus ber Stellung des Landredts als Hülfsrecht folgt (ſ. oben bie Einleitung) und um fo weniger einem Bebenfen begegnen fönnte,

i) R. Smirlom 1. c. ©. 242 geht unter Berufung auf $ 55 der BB. fo weit, zu behaupten, eine Perfom, die nicht lieb der örtlichen Bauer» gemeinde fei, dürfte ein Bauerlanbftid nicht erwerben, weshalb fie jedenfalls von der Ausübung der Erblofung bei Verfteigerung eines folden ausgefchloffen fei. Run ift $ 55 total mihverftanden worden. Die Zugehörigfeit zur örtlichen Gemeinde ift nicht fon eine umerlählide Vorbedingung des Erwerhes eines innerhalb ihres Begirfes gelegenen Vauerlanditüces, jondern ber Erwerb hat erit zur unerläpliden Folge, dah bie Gemeinde den Erwerber, falls er bisher nicht au ihr geförte, in ihren Verband aufnefmen muß, wie daS Ilar aus $ 55, 219, 259 der BB. Gervorgeht (vgl. auch daS Senatßurteil Nr. 13, 1890). Auch die Befauptung 8. Smirlows 1. c. ©. 243, dah die Geltendmachung der Erblofung dann verboten fei, wenn durch fie der Retrahem mehr als einen Haten innerhalb einer Gemeinde zufammenbefomnt, dürfte nicht richtig fein. Er wäre allerdings aud) in einem foldien Falle verpflichtet, innerhalb zweier Jahre das Mehr zu veräußern, „wobei ihm die Beftimmung über den Teil, welchen er befalten will, volitommen feeigetellt bleibt.“ 8 it in foldhem Falle ber Erwerb durg Erb. Tofung ber Erbfhaft und nicht dem Kaufe gleichuftelen, denn Erblofung fomie Grörecht berupen beide auf einem ſchon vorhandenen Anjpruch

[j Ueber das fiol. Vauerprioatrecht.

als ja ber Gegenitand biefer Erblofung auf Grund des Art. 1658 wohlerworbene Immobilien und nicht etwa adlige Güter-Familien- Fideilommiſſe find.

2. Von Servituten,

Temporäre Servitute ($ 33, 34 ber BV.), 3. B. das Recht ber Hölzung, das Recht auf fremder Grenze zu meiden, das Recht bes Mahlens auf fremder Mühle, das Recht bes Dreſchens in fremder Niege, bürfen weder bei Lerfauf einzelner Grundftüce eines Gutes, nod) von Seiten eines Bauergrundſtückes einem anderen (und wohl aud nicht von einem verkauften Hofslandftüd einem anderen) auf länger als 12 Jahre eingeräumt oder vorbehalten merben. Nach Ablauf dieſer Zeit ift es beiden Teilen unbenommen, binfichtlih des Servitutverhältnifies miederum eine Abmachung zu treffen.

Das baltifche Privatrecht fennt die Einteilung ber Servitute in permanente unb temporäre nicht, verweiſt aber in Art. 1282 Anm. 2 hinfihtlih der Ablöfung der Servitute auf BV. $ 35 (über permanente und temporäre Gervitute) folgende.

öErbſchaftsteht.

Die Mitererben haften nach $ 984 der BR. ſolidariſch, wenn ein Nachlaß weiter vererbt oder unter die Erben zur Teilung gebracht wird, ehe bie Schulden berichtigt find. Die Quelle für $ 984 ift BB. 3 $ 1046. Doc) ift in $ 1046 dieſe Solibarhaft nur auf ein Jahr beſchränkt. Der $ 984 giebt ferner Beftim- mungen für ben Fall, daß der Gefindeswirt ſich einen Gefindes- nachfolger gewählt hat und biefer anerkannt iſt, alſo für einen Tall, wo es ſich nicht um eine Verpachtung auf zwei Vererbungen ($ 124 1. ec.) handelt, denn da bedarf es weiter feiner Beftätigung feitens bes Verpächters ($ 1268 1. c.) unb feiner Anerfennung von irgenb einer Seite. Nach ben Veflimmungen des $ 984 hat der beftätigte Nachfolger im Gefinde das Inventar, das zur Fort⸗ fegung der Wirtſchaft nötig ift, aus dem Nachlaß des früheren Wirtes zu erhalten und bafür die Verpflichtung, den unmünbigen

Ueber das lidl. Bauerprivatredit. 7

Kindern befjelben Nahrung, Kleidung und Erziehung zu geben. Wenn aber fein beſtätigter Gefindesnadhfolger die Wirtſchaft antritt, jo hat der ältefte Sohn des Vorftorbenen, und find feine Söhne vorhanden, der nädjte Verwandte die Verwaltung des Gefindes nad) Beſtätigung anzutreten und genießt diefelben Vor— rechte wie ein erwählter Gefindesnachfolger. Die Redaktion dieſer Beſtimmungen, die nur ber BV. 4 eigen find, ift nicht zweckent- ſprechend Mar. Es ſcheint aber doch, daß bei jedem Pachtkontrakt mit einem Bauerpähter auf deſſen Erben und Rechtsnehmer (mit Ausnahme der Verpachtung auf zwei Vererbungen), fei es über Bauerland- oder Hofslandgefinde, der Nachfolger in ber Pacht erjt der Veftätigung feitens bes Verpächters bedarf; denn bie gefegliche Beftätigung, die der $ 984 vorausjegt, fünnte faum von jemand Anderem ausgehen, zumal wenn man im Auge behält, daß aud) der erwählte Gefindesnachfolger, der nicht ber ältefte Sohn oder ein Verwandter zu fein braucht ($ 984), um Beſtätigung nachzu- ſuchen hat, die ihm aud) verweigert werden kann ($ 984). Es wäre unter ſolchen Umftänden ganz undenkbar, daß eine Behörde über dieſe Betätigung zu befinden hätte ober daß es fid) im $ 984 gar um bäuerlihes Grundeigentum handelt, für das ber Nachfolger ernannt ober beftätigt wird. In dem $ 984 ift jedod) nicht einmal ausgeſprochen, daß er fich nur auf Pachtgefinde bezieht. Erdmann Syſtem Bb. 3 ©. 493 ift dadurch irre geführt. Cr behauptet, daß der ältefte Cohn nad) $ 984 bas im Eigentum des Erblafiers befindliche Gefinde ausſchließlich erbt, was ſchon mit Nüdjiht auf die Beftimmungen bes & 985 über die Erbfolge (aud namentlich in Gefinden) und über die Teilung nad) Köpfen ?), und mit Rüd: fiht auf $ 1001 über das dem Landrecht entſprechende Vorzuges recht des jüngeren von zwei Brüdern auf den Befig der hinter laſſenen Immobilien entſchieden unrihtig iſt.

Der geſunde Kern in $ 984 dürfte darin liegen, daß nur ein Erbe Bachtnachfolger im Gefinde werben darf und daß er das erforderliche Inventar zu erhalten und dafür die Unmünbigen zu erziehen hat, welches legtere, ſoweit mir befannt, den bäuerlichen Anſchauungen entipricht.

4) während nach $ 984 der nädjfte Verwandte des Erblafjers, bei Mangel am Sohnen deſſelben, das Gefinde antreten darf, ofne den münbigen Töchtern des Erblaſſers etwas geben zu müffen.

8 Ueber das Kol. Yauerprivatreit.

1. Vom Erbgang ohne leiten Willen des Berftorbenen,

Die Kinder erben zu gleichen Teilen. Doch haben bei Erb: haften aus umbeweglihem Vermögen die männlichen Erben ein näheres Recht zum Befig als die weiblichen ($ 1000). Quelle bafür ift bie Eſtl. BQ. von 1816, nur haben nad) ihr die männ- lichen Erben zwei Teile aus dem unbeweglichen Vermögen gegen: über den meiblichen Erben zu erhalten. Dah biefe Beftimmung der livf. BB. 4 (ebenfo aud BB. 2 und 3) fehlt, macht ſich jegt ſchon, wo die Erbſchaften aus unbeweglihem Eigentum erſt ange: fangen haben in Frage zu Tommen, zum Schaben ber Erhaltung eines fräftigen Bauernſtandes geltend.

Die Wittwe muß fih außer in den Fällen ber Wieder verheiratung ober ber fchlehten Wirtſchaft auch dann teilen, wenn ber ältefte Sohn volljährig (nicht „mündig”, wie es falſch überfegt ift) geworben war, ober, wofern nur Töchter vorhanden waren, bie älteſte Tochter heiratet, ober wenn fie (bie Wittwe) nit im Gefinde bleibt. Bei der Teilung erhält bie Mittwe, nachdem fie ihr Eingebrachtes vorabgenommen, aus dem Nachlaß Kinbesteil?), welcher nad) ihrem Tobe ben Kindern zufällt ($ 985). Die Quelle it BL. 2 8 200.

Unter bem Eingebraditen, das fie zurüd erhält, ift aud das Nequivalent für verbraud)tes oder nicht mehr vorhandenes Einge- brachtes zu verftehen (vgl. $ 904, IV. Klaſſe, Pit. 1, $ 946).

In das von ber Wittwe während der ihr gemäß $ 985 zuftehenden Verwaltung, vor der Teilung erworbene Vermögen, teilen ſich ihre Kinder und die Kinder früherer Chen ihres Mannes zu gleichen Teilen nah $ 987. (Die Quelle ift BL. 2 $ 402.)

Obſchon in $ 987 nicht erwähnt wird, daß bie Wittwe auch einen Teil an dem hat, was fie erwarb, fo bürfte doch foldes aus ben vorhergehenden Beſtimmungen des $ 985 ſchon folgen, wo angeorbnet ift, daß fie einen Kopfteil an dem zu teilenden Vermögen erhält (ebenfo dv. Bunge Privatreht Bd. 2, ©. 151, ohne Angabe von Gründen).

Wenn jedoch die Wittwe kinderlos nachbleibt ($ 989), fo erhält fie bei Konkurrenz mit Kindern aus früherer Che ihres verftorbenen

3) Gefegbudh für die eftl, Vauern 1804, Buch 3, Tit. I, $ 3 und Eſil. Vauergefebbuch von 1816, $ 137, 138.

Ueber das liol. Bauerprivatrecht. °

Mannes nachdem fie ihr Eingebrachtes fortgenommen zu ihrem Anteil bie Hälfte des in ber Che erworbenen Vermögens !), doch nicht die Hälfte des während ber Ehe vom Manne ererbten unbeweglichen Gutes (vgl. $ 994).

Die nur mit Gtieflindern nachbleibende Witte hat fih ebenfo wie bie kinderloſe Wittwe fofort mit ben Stiefindern refp. anderen Miterben in bem Nachlaß bes Mannes zu teilen (og. $ 987, 989, 994) 9).

Auch für den Wittwer ſcheint es nötig zu fein ($ 992), fi gleich bei dem Tode der Frau in deren Nachlaß zu teilen, wobei er bei Teilung mit ben Kindern zwar einen Kindesteil, aber nichts von ben Kleidungsſtücken erhält. Das mütterliche Vermögen ber Kinder verwaltet er als deren natürlicher Vormund bis zur jeweiligen Münbdigkeit jedes Kindes (f. oben Vormundſchaft), fofern er nicht wieber heiratet und fie bei ihm leben (Quelle BV.2 $ 407, 424).

Es Heißt zwar in $ 992, daß ber Vater als natürlicher Vormund bis zur Mündigkeit (Bo ppeus marorkrerna brei cBomx5) fümmtlicher Kinder ihr mütterliches Vermögen verwaltet. Trog dieſer ungenauen Ausdrucksweiſe wird man doch gerade mit NRüdficht darauf, daß es fid) ausbrüdlic um eine vormundfchaftliche Verwaltung handelt, annehmen müſſen, baß fie für jebes einzelne Kind mit erreichtem 17. Jahr, mit der Mündigkeit aufhört und nicht erft die Dündigfeit auch des jüngften Kindes abgewartet zu werben braucht (hierfür aud) Erdmann Spitem Bb. 3 ©. 48).

Da bie Mutter bis zur Volljährigkeit bes älteften Sohnes ben Nachlaß ihres Mannes verwaltet ($ 985), fo bauert beim Vorhandenfein von nicht volljährigen Söhnen ihre Verwaltung länger als die bes Mannes. Sind nur Töchter da und heiratet feine, fo bauert ihre Verwaltung bis zu ihrem Lebensende ($ 985), wie oben ſchon angegeben ift.

Daß in ber Praris ber Vater bie Verwaltung des Ver— mögens feines 17 Jahre alten Kindes aus den Händen giebt und an einen von ben Kindern gewählten Vormund abgiebt, dürfte zu bezweifeln fein.

Stirbt der Mann ohne Nachkommen, jo erbt bie überlebenbe

3) Die Quelle iſt 83. 2, $ 404.

3) Erdmann, Syſtem Bb. 3, &. 37 erfennt an, dab die landrechtliche Trauerzeit von 30 Tagen fubfibiär Hier nicht zu gelten hat.

10 Ueber das livl. Yauerprivatrecit.

Chegattin, nachdem fie ihr Eingebracdhtes abgenommen, aus bes Verftorbenen Nachlaß, mit Ausnahme des ererbten Unbeweglihen, die eine Hälfte‘). (Ueber die nur mit Stiffindern fonfurrivende Wittwe fiehe oben.) Nah den nämlichen Regeln beerbt ber Mann das Weib ($ 994). Ueber den one Nachkommenſchaft mit Stieffindern nadhbleibenden Wittwer enthält bie BL. 4 feine fpezielle Beftimmung. Davon, daß er in Analogie zu der ohne eigene Kinder nachbleibenden Stiefmutter ($ 989) die Hälfte des in ber Ehe erworbenen Vermögens erhält, fann nicht wohl bie Rede fein, dba mit dem Tode des Weibes die Gütergemeinfdaft erliſcht und das, was er erworben hatte, ihm gehört (v. Bunge Privatrecht, Bd. 2, ©. 144). Mafgebend dürfte für den ohne eigene Kinder nachbleibenden Stiefvater deshalb bie in $ 994 enthaltene, oben angeführte allgemeine Norm über die Beerbung der ohne Kinder aus lepter Che verjtorbenen Ehefrau bleiben.

Iſt einer der Ehegatten ohne Nachkommen aus ber Che geftorben, fo teilen fi in die Hälfte, bie bem überlebenden Che gatten nicht zufällt und in das Ererbte Unbewegliche die Eltern, nachdem fie vorabgenommen, was ber Erblafjer von ihnen erhalten hatte und noch vorhanden ift, und Geſchwiſter; elternlofe Geſchwiſter⸗ finder fonfurriren hierbei nad) Stämmen ($ 994). Die Quelle ift BB. 3 $ 1056.

Das ererbte Unbewegliche fann auf ſolche Weile (anders als im Landrecht PR. Art. 1915) an eines ber Eltern fallen, von deſſen Seite e8 nicht ftammt (BL. 4 $ 995, BB. 3 $ 1057, BB. 2 $ 409).

Nach den angeführten Beſtimmungen bes $ 994 müßten ben Großeltern, wenn feine Eltern vorhanden find, Geſchwiſterlinder vorgehen. Aber trapdem in jenen Beftimmungen nur von Eftern und nicht von andern Aizendenten die Nede ift, fo wird man doch das Landrecht hier ergänzend eintreten laſſen müſſen und Aſzen⸗ denten fuppliven, und das um fo eher, als jpäter die BV. 4 in $ 997 gleichſam vorausfegt, daß fie ſchon Beſtimmungen über Erben in auffteigenbder Linie gegeben Habe, während fie doch bisher von feinem anderen derartigen Erben, als nur von ben Eltern

%) Die furl, BB. von 1817 $ 120, 121 ebeufo, mur wird von bem

Ausſchuß des ererbten Unbeweglichen dort nicht geredet. Diele Ieptere Veſtim⸗ mung ſiammt aus ber BB. 2 $ 409.

Ueber das livl. Bauerprivatrecht. 11

geredet hatte, denn fie jagt dort ($ 997), wenn feine Erben in abjteigender und auffteigender Linie und weder leibliche Geſchwiſter noch leibliche Geſchwiſterlinder, noch deren Nachkommenſchaft vor- handen find, fo erben die Halbgeſchwiſter und Halbgeſchwiſterkinder. Alfo andere Azendenten als die Eltern jollten doch aud Erben haben fein fünnen, was auch aus ber noch jpäteren Bejtimmung der BV. in $ 1007 hervorgeht, wonad ihnen fogar ein Pflichtteil zu hinterlaffen ift. Beim Fehlen weiterer Beltimmungen in der BL. über das Erbredit diefer Aſzendenten iſt es aber notwendig (Art. XII des PN.) auf das Laubreht zurüczugreifen, wobei denn das anfcheinend Beſondere in ben Beitiimmungen ber BL. hinfichtlich der Großeltern und weiterſtehender Aſzendenten ver: ſchwindet.

Eine Spezialität bleibt aber bie Beſtimmung der BV. 4 $ 997 über das Erbrecht der Nachkommenſchaft der Geſchwiſter⸗ finder. Diefe Nachkommenſchaft fulzedirt, wenn feine Gejchwifter- finder ober Aizendenten bes Erblaſſers erben, und geht des Ver ſtorbenen Halbgeſchwiſtern und Halbgefchwifterfindern vor. Etwas Aehnliches enthält Teine Bauerverorbnung und nicht das kodifizirte Privatrecht.

2. Von der Erbſchaft durch den letzten Willen.

Die lebtwillige Verfügung kann gültig (nad) $ 1003 der BV. und $ 284 der Negeln von 1889 über das Verfahren in Zivil: ſachen ber Bauern) entweder mündlich!) in Gegenwart zweier tabellofer Zeugen geſchehen, oder vom Erblaſſer ſelbſt oder auf feine Bitte vom DOrtsgeiftliden ober vom Gemeindegericht ober vom Notar oder von Perſonen, bie öffentliches Zutrauen verbienen (4. B. Lehrer) ?) niedergeichrieben werben; ohne Beobachtung dieſer

%) Eine in Gegenwart zweier tabellofer Zeugen von dem des Schreibens tundigen Erblaſſer biftirtes, jedoch nicht von ihm unterſchriebenes Teftament, Hann, wenn es als jchriftliches Teftament feine Geltung hat, deshalb nicht der. hindern, daß der Teitiraft als münbliches Zeftament zu gelten hat (Urteil des Zioil-Roffat.»Departements des Senat vom 24. Januar 1901).

®) vgl. das SenatSurteil von 1900 Ar. 28.

Aur dürften bie zitirten Senatßurteile in ihren Ausführungen darin zu weit geben, dafı fie unter Berufung auf das Landrecht jedes bäuerliche Teftament (mit Ausnahme des von einer dritten Perfon für einen des Schreibens und Leſens gefchriebener Schrift unfundigen Teftator), wie es ſcheint, für rechtsgültig halten, wenn es erweisiich den lehten Willen des Teftators enthält.

12 Ueber das livl. Vauerprivatrecht.

Formen ift fein At letztwilliger Verfügung gültig. (Quelle BB. 2 $ 429.) Bei dem Rufturzuftande ber Bauern ift es eine wohlthätige Bejtimmung, baß für fie nicht die Formloſigkeit ber Teftamente und Vermächtniſſe des livländiſchen Landrechts gilt.

Nah 8 1007 der BL. ift ein Pflichtteil zum Bellen der Deſzendenten und Aizendenten zu hinterlaffen. Diefer Pflichtteil befteht für alle fonfurrirenden Noterben insgefammt im vierten Teil „bes ganzen Nachlaſſes“, und im Falle unerzogene Deſzendenten da find, im noch fo viel, als zu deren Erziehung erforderlich ift (bie Quelle für $ 1007 ift BB.2 $ 423). Da Defgendenten und Afzendenten auch nad) ber BV. nicht fonfurriren, jo kommt ber Pflightteil bei beiden zugleich nicht in Anwendung.

Jeder einzelne Defgenbent, oder wenn Aſzendenten Erben find, jeber Afzendent erhält fomit mindeftens !/s defien, was er ohne Teftament befommen mußte. Beſteht ein folder Nachlaß in einem Erbgnt, über das aud ber Bauer nicht zum Nachteil feiner gefeglihen Erben Ieptwillig verfügen darf (BV. $ 973), und in fonftigem Vermögen, fo ift beshalb das Y/& nur von bem leptern zu berechnen.

Erdmann Syſtem Bb. 3 ©. 119!) behauptet, unter Bezug: nahme auf $ 1006 (über den Plichtteil), Erbgüter feien nur in Bezug auf das !/ı des Pilichtteils bispofitionsunfrei ?). Er über: fieht aber dabei, daß, obwohl $ 1006 von Dispofitionen auch über ererbtes Vermögen Spricht, die dem Pflichtteilsrecht, dem 1/4 unter: worfen fein follen, dod) nach der Vorjchrift des $ 973 Bauern nur über bewegliches ererbtes Gut letztwillig verfügen dürfen, das unbewegliche ererbte Vermögen, das Erbgut, aber ihrer legtwilligen Dispofition entzogen ift.

Dem livl. Landrecht ift das Pflichtteilsreht, mit Ausnahme der Alimentationsverpflichtung, unbefannt, mas wieber ein Vorzug dieſes Nechts fein dürfte (vgl. meine Arbeit in der „Balt. Dionats- ſchrift· Dezember 1892, ©. 651).

Eine ſolche Annahme wiberipricht firitt den klaren Worten bes $ 1018, wonach „zur Gültigleit“ der Ieptwilligen mündlichen Verfügung bie Anwefenheit don zwei tabellojen Zeugen „erforberlicdh" ft.

3) Ebenſo X. Smirlom 1. c. ©. 20.

3) Dagegen jegt aud) das SenatSurfeil 0. 9. 1900 Nr. 28.

Ueber das Ilol. Bauerprivatregt. 1

Eheleute, welche feinen Pflichtteil hinterlaſſen müffen, können ihr ganzes Vermögen einander gegenfeitig hinterlaflen ($ 1010). (Quelle bie BB. 2 $ 425). Doch ift Hier felbitverftändlih, mit Nüdficht auf das Verbot, über Erbgüter willkürlich zu disponiren ($ 973), zu ergänzen, baß dadurch nicht das Erbgutsredht verlegt werben barf!). Weiber, die Kinder von ihren Männern haben, fönnen (nad) $ 1008) bei Lebzeiten ihrer Männer nur über ihr Gefchmeide und über ihre Kleidungsftüde, und zwar nur zu ber Kinder Beſtem legtwillig verfügen (die BL. 2 $ 424 ift hier die Quelle) 2). Das livländiihe Landrecht kennt biefe Freiheit ber Ehefrau auch nit einmal Hinfichtli ihres Sondergutes, mas allerdings viel zu weitgehend fein dürfte.

Ehefrauen, welche feine Rinder Haben, bürften (vgl. $ 1008, 1009, 1010) auch ſchon zu Lebzeiten ihres Mannes frei über das Ihrige Ieptwillig verfügen fönnen, foweit das etwaige Pflichtteils- recht oder das Erbgutsrecht nicht verlegt wird. In eben derſelben Weiſe dürfte ber Ehemann das Recht zum Teftiven haben, und zwar ſelbſt wenn er Kinder hat.

Jedenfalls hindert die Chegatten am Teftiren nicht bie foger nannte Gütergemeinihaft an fid), wie in dem Senatsurteil Nr. 5 1895 richtig ausgeführt wird, ba fie mit dem Tode eines Ehegatten erliiht. Daß es aber einem der Ehegatten überhaupt unterfagt ift, dem anderen legtwillig zu entziehen, was er zu erben hat aus dem in ber gemeinfchaftlichen Maſſe befinblid) gemefenen Qermögen, geht, mit Yusnahme des $ 1008, aus feiner Beftimmung ber BL. hervor, zumal bie Ehegatten nicht unter den Pflichtteilsberedhtigten von ihr aufgeführt werden, und dürfte aud) nicht unter Hinweis auf bas Landrechi (Art. 2022 bes PR.) behauptet werben fönnen, ba es in biefem Falle nicht herangezogen werben darf, weil das eheliche Güterreht der BL. zum Teil auf anderer Grundlage als der bes Landrechts beruht und zudem biejes Noterbenrecht des Art. 2022 bes BR. erft mit dem PN. von 1864 in das Landrecht einger führt worben ijt, d. h. zu einer Zeit, als die BD. von 1860 ſchon in Geltung war (Erdmann, Spitem Bd. 3 ©. 49, Bd. 1 S.455). Das

1) Hiermit ftimmt bie Senatsentſcheidung v. 3. 1900 Ar. 28 überein.

2) Ihe zu Grunde Tiegt $ 159 der eftl. 38. von 1818 und 32. 3 Zit. 3 $ 3 des Gefehbucheß für die eitl. Bauern, wonad fie auch über baarcs Cingebradjtes für die Rinder verfügen dürfen.

1 Ueber das Hol. Bauerpriontredit.

Teſtirrecht der finderfofen Ehefrau ijt implieite dadurch anerfannt, daß ihr ausdrücklich geftattet wird, wie oben jchon angegeben, zum Beſten des Mannes zu teftiven ($ 1009 und 1008), und ift nirgends in ber BV. ausgedrüct (f. oben unter Cherecht), daß die Ehefrau wegen ber Ruratel des Ehemannes im Allgemeinen unfähig geworden fei, ſolche Rechtsgeſchäfte felbft vorzunchmen, die feine Verwaltungs: befugniffe garnicht oder garnicht mehr tangiren. Daß zwilhen den Bauern auch Erbverträge zuläſſig find, ift neuerdings aud vom Senat anerfannt worden (Nr. 29, 1899).

Haben Kinder, Kindesfinder, Eltern, Großeltern ſich bes Erblaſſers, als er in Armut und Elend war, nicht angenommen, fo fann er fie in feiner lehiwilligen Verfügung gänzlich übergehen (8 1011) ') und feinen Nachlaß Anderen beftimmen.

Das Landredt, dem das Pflichtteilsrecht unbekannt ift, hat eine ſolche Beſtimmung nidt. Doch kennt es eine Entziehung der Erbſchaft, inklufive bes Erbgutes, bei Wahnfinnigen und Gebrech- lien, die von ihren Angehörigen vernadhläffigt wurden, zu Gunften der DVerpfleger und der Pflegeanſtalten (Urt. 2867—2870 des Privatrechts).

dns Hecht der Forherungen.

1. Das Pachtrecht.

Die Domänenbauern, bie ſeit 1886 Geſindeskäufer find, unterlagen früher ſpeziellen Pachtbeſtimmungen hinfichtlid ihrer Parzellen, an benen fie ein feit dem 10. März 1869 gefeplid) anerfannies Recht der immerwährenden Nutzung halten ?).

Auf Hofsland beziehen fid) hinſichtlich der Pacht nad: ſiehende Veftimmungen ber Yauerverordnung und ihrer Ergänzungen: Die Frohne ift meder auf dem Hofs- noch auf dem Yauerlande

1) 88. 2 8 427, ebenſo BR. 3 $ 1073.

2) Ueber dieſes eigentämliche echt fiche meine Ausführungen in ber „Balt. Msicr.” (Bd. NNVIIL, Heft 7, ©. 587 fi.) aus dem Jahre 1881 und ©. Erdmann, Syſtem IL, S. 246, ige 1891 und Bd. 3, S. 305, Nige 1894 und daß Urteil der Algen. Berfammlung des I. Depart. und der Saffation. Tepart. Nr. 6.0. 3. 1886.

Ueber daß Iiof, Bauerprivatredit. 1

zuläffig. Das Recht des Gutsbefigers auf Zwangsenteignung bei Pachten (und Veräußerungen f. unter Eigentumsrecht) bezieht ſich nicht nur auf das Bauerland, fondern aud auf das Hofsland. Ein Pachtkontralt, den ein Glied der Vauergemeinde mit bem Gutsbefiger über Parzellen des Hofes ober Banerlandes abgefchloffen hat, erliſcht nicht durch Uebergang des Gutes in andere Hände, durch Kauf, Arrende 2c. ($ 205). Endlich beziehen ſich bie Beftim- mungen über die Nugung bes Bufchlandes durch ben Pächter ($ 141—145) auch auf bas Hofsland (Anmerkung zu $ 142) und dürfte fid) die Beſtimmung über ben Gefindesnachfolger in $ 984 1. ©. auch auf Hofslandgefinde erftreden, die an Bauern verpachtet waren. Sonft beziehen die Beitimmungen ber BV. und ihrer Ergänzungen über bie Pocht ſich nicht auf das Hofoland !).

Die Gefege über die Pacht ber Yauerländereien find erfült von Schugmaßregeln für die Bauern und von Miftrauen gegen die Gutsbefiger. Als die BV. von 1860 rebigirt wurde, gab es fait gar feine bäuerlichen Grunbeigentümer. Die Beſtimmungen der DW. über bie Pacıt find daher meilt jo gebacht, als ob es ſich um Pachtverträge über Bauerland zwiſchen Gutsbefigern und Bauern oder Perfonen anderer Stände handelt, die zu biefem Behuf in ben Vauergemeindeverband ohne Verluft ihrer perjönlichen Rechte einzutreten haben ($ 112, 234, 235 ber BL.).

Mit dem Verkauf der VBauerländereien entitand nun die ſchwierige Frage, was von dieſen Spezialbeftimmungen und von biefen Schugmaßregeln für die Pachten zwiſchen Bauerpächter und Bauerverpächter über beifen zum Eigentum erworbene Yauerland- parzelle gelten follte. Der Eigentümer der Bauerlandparzelle fönnte, wenn man hier nicht forgfältig unlerſcheidet, Leicht in feinen Rechten zu fehr beengt werben. Jedenfalls beziehen fih auf feine Ver— padtungen nicht bie Geſehe über bie fogenannte patentmäßige Entfhädigung des abziehenden Pächters, über das Vorrecht auf die Pacht, über das Näherreht und über die Entſchädigung für befondere Meliorationen. Auch ift der Eigentümer des Banerland- gefindes durch das Gejeg nicht behindert, fein Grundeigentum in beliebig feinen Parzellen zu verpadhten, was dem Gutsbefiger

%) f oben Anmerfung S. 1-3 über die emigegenftehenden Anfichten 8. Smirlows.

16 ueher das Hol. Bauerprivatreäit.

hinſichtlich des Bauerlandes nicht geftattet ift. Es geht dieſes Recht des bäuerlichen Grundeigentümers aus $ 223 hervor, ber ſich ſpeziell auf feine Rechte bezieht, während $ 114!) im Allgemeinen (mit Rüdfiht auf den Gutsherrn) das Verbot der Verpachtung von Grundftüden des Gehorchslandes unter 10 Thaler verbietet.

Während bei Strafe ber Nichtigkeit Bachtverträge über Bauer: fand zwiſchen bem Gutsbefiger und den Pächtern?) an die Korro: boration durch den Bauerkommiſſär geknüpft find, darf der Eigen tümer einer Bauerland-Barzelle auch ſchon durch ſchriftlichen, nicht torroborirten Kontrakt fein Orunditüd, oder Parzellen deifelben, gültig verpadhten (BL. $ 196—198, Senatsurteil vom 28. Nov. 1894 an bas Pernau⸗Fell. Plenum). Ein mündlich zwiſchen bem Eigen tümer ber Bauerland-Parzelle und feinem Pächter abgeihlofiener Pagtfontraft ift nicht anders gültig, als wenn er nicht wenigftens im örtlichen Gemeinbegericht zu Protofoll gegeben ift. Doch darf das Gemeindegericht in ſolchem Falle Kontrakte, die den Wert von 300 Rbl. überjteigen, nicht verfchreiben (Regeln v. 3. 1889 über das Verfahren in Zivilfachen ber Bauern $ 278), was im Intereile ber Rechtsſicherheit ebenſo zu bedauern ift, wie das Verbot ber Attejtation ber obengedadhten ſchriftlichen Pachtfontrafte 3) durch bie Gemeindegerichte, Jobald die im Laufe ber Pachizeit zu erlegenden Pachtzahlungen zufammen mehr als 300 Rbl. ausmachen *), was iu bei einer Pachtdauer von nur 6 Jahren auch ſchon bei Vers pachtung von Parzellen eines Banerland-Gefindes leicht ber Fall fein fann 5).

1) Die Duelle ift 88.3 $ 208. Doc) find dort 1/59 dalen das Minimum.

ʒ Gehört der Pächter zum Bauernftande im engeren Sinne, jo bedarf es in dem gedachten Falle teines Stempelpapiers (PlenarsLerf. d. 1. und 2. und des Nafjet.-Tepart. o. 4 Februar 1801, Ar. 4).

%) Gehören bei ihnen beide Kontraßenten nicht zum Bauerftande im engern Sinne, fo darf das Gemeinbegericht den Pagtfontraft nicht atletiren (ogl. das angeführte Urteil).

4) gl. Urteil d. 1. u. 2. Depart. und bes Naffat.-Depart. des Senats vom 23. März 1898 Nr. 3, Pit. L

%) Dah Pachttontratte über abgeleilte Bauerland-Gefinde, wenn auch beide Kontrahenten zum vauernſtande im engern Sinne gehören, von ber Stempelfteuer befreit wären, dürfte bireft übrigens weder aus dem Gefet noch aus den Senats» urteilen hervorgehen.

ueber das Kol. Bauerprioatsedt. Bu

Die Pächter von Bauerland, das nicht dem utsbefiger gehört, brauchen zu ihren fchriftlihen Pachtkontrakten ſich nicht des gefeglihen Formulars zu bedienen ($ 203, auch $ 238). Ihre Kontrakte brauchen aud nicht mit dem Georgi:Tage zu enden (8 200, aud $ 233). Ob auf dieſe Rontrafte die Beftimmung fich bezieht, daß Pachtkontrafte über Bauerland nicht auf kürzere Zeit als auf 6 Jahre abgeſchloſſen werden dürfen, bebarf ber Erörterung. Da dieſe Kontrafte, wenn fie jhriftlih abgeſchloſſen merben, feiner Korroboration bebürfen und fie aud nicht deshalb nichtig wären, wenn fie auf weniger als 6 Jahre gehen (vgl. $ 200 und 201, die für Verpadtungen feitens ber Gutsbefiger gelten, ferner $ 119, 120), fo dürfte jedenfalls in der Praris die Vorſchrift über das Minimum ber Pachtdauer für die Pachtverhältniſſe zwiſchen dem Eigentümer ber Bauerland-Parzelle und feinem’ Pächter von geringer Bedeutung fein.

Abgefehen hiervon ſcheint nad $ 233, durch den dem Eigen: tümer ber VBauerlandparzelle die freie Dispofition hinſichtlich ber Verpachtung ausdrücklich zugeftanden wird, die Veſchränkung Hin ſichtlich bes Minimums ($ 119) und bes Marimums der Badıt- dauer von 50 Jahren ($ 122) fi nicht auf die Verpachtungen der Eigenlümer von Bauerlandparzellen zu beziehen h). Auch auf bie Pachtkontralte zwiſchen Eigentümern von Bauerlandparzellen und ihren Bächtern bürften nachfolgende Beftimmungen ſich beziehen: 1) baß bie Frohne abgeſchafft it, 2) daß bei Verpachtung auf Erben erft die Nichteinhaltung von zwei Pachtterminen zur Klage auf Ermiffion beredtigt ($ 188) %), während nad) dem kodifizirten BR. der Oftfeeprovinzen das Ausbleiben einer Pachtzahlung biefe Klage ſchon begründet (P--R. Art. 4116), 3) daß der Verpächter,

1) Die Kommiffion für Vauerſachen (9. v. Kieſcrihth, Lil. BL. I, ©. 02 zu $ 119) Begicht in einer dem Pernau-elfinfejen Areisgericht gegebenen Erläur terung d. 3. 1808 das Minimum von 6 Jahren Rachtdauer auch auf Verpach: tungen feitens der Yauergrumbeigentümer, weil das Geſeh ganz allgemein für das Gehorhsland turyere Radten unterjagt. Die Kommiffion hat jedoch aufer Acht gelaffen die fpegielle Veftimmung (de8 $ 293) über bie Freiheit ber Bauer« grundeigentümer bei ihren Verpachtungen.

2) Exit durch die BD. 3 $ 220 eingeführt. Erdmann, Spitem Bb. 4, S. 369 jewantt und meint, unter Berufung auf $ 191, das gelte für alle Pachtverträge über Bauerland, ropdem $ 188 ja bie ftrifie, einfchränfende veſtim .

mung entpält, 2

1 Ueber das of. Bauerprivateeät.

falls der Pachtkontralt auf Erben abgeſchloſſen war, ſich gefallen iaſſen muß (8 190) 2), daß ber (eventuelle) nächfte Erbe des ermit- tirten Pächters, wenn Letzlerer auch nicht geftorben ift, bie Pacht gegen Zahlung ber zwei ſchuldigen Termine übernimmt. 4) Der Verpächter wird Erbe bes Inventars feines Pächters, wenn ber Pachtkontralt auf Erben abgefchloffen war und fein Erbe des Pächters nad) beijen Tobe die Erbſchaft antritt, und zwar wird das Inventar dadurch zu einem eifernen (8 194)®) (f. oben unter Eigentum). 5) In Badıtverträgen darf die Konventionalpän nicht 6 pCt.*) von der Pacht überfteigen (8 202. Die Quelle it BB. 2 $ 490). 6) Der Pächter hat ohne Weiteres alle öffentlichen Laften und Abgaben, die das Pachtobjekt belaften, zu tragen (% 207, Quelle BV. 2 8 484), mit Ausnahme ber Deffätinenftener (Entſcheidung bes 1., II. und ber Kaſſationsdepartements Nr. 28, 1897), 7) Die unglüdlien Beftimmungen über ben fimulirten Pachtkontrakt (8 204—206) *). As fimulirter Pachtvertrag ift anzufehen, wenn außer bem Wortlaut des Kontraktes heimlicher Weile oder zur Schädigung britter Perfonen noch anderweitige Abmachungen zwiſchen ben Kontrahenten bejtehen. Ein folder Kontraft ift dem Betruge gleich zu achten. „Ein fimulirter Kontrakt bleibt vor dem Gefege ftets ungültig. Sowohl die Kontrahenten, welche ſich der Abſchließung eines fimulirten Kontraktes ſchuldig gemacht Haben, als auch fämmtlige Mitwiſſer und Beteiligten unterliegen ber gefeglihen Strafe des Betruges“ (8206). „Jeder, der überführt „ift, einen fimulirten Kontraft abgeſchloſſen zu Haben, verliert das „Recht noch ferner für feine Perfon zu fontrahiren, und ift Hin- „ſichtlich dieſes Aktes dergeftalt unter Auratel zu ſetzen, daß künftig „Namens feiner der Kurator die Kontrafte abzuſchließen und zu „unterfchreiben hat” ($ 206).

Diefe legte Beſtſimmung ift eine berarlige, daß die Praris fie, meines Wiſſens, abfolut ignorirt hat. Aber auch die übrigen

4) Erft durch die BB. 3 $ 222 eingeführt.

2) Durch bie BB. 3 $ 226 eingeführt,

>) Reuteen, Sammlung ıc., 3b. 3, St. Petersburg 1808 (cuff.) Hält dieſes Verbot für aufgehoben, weil <$ fein Zinsmarimum von 6 pCt. mehr giebt.

Erſt durch die BB. 3 $ 236-238 eingeführt. Die Beftimmungen der $ 204-206 finden nad) $ 228 (deffen Quelie BL. 3 $ 266 it) Anwen dung auf fimulicte Kauſtonlralie.

Ueber das liol. Vauerprivatrecht. 19

Beftimmungen, foweit nicht im fimulirten Vertrage ein Betrug im gewöhnlichen Sinne des Rechts vorliegt, dürften ſchwerlich Anwen⸗ dung gefunden Haben, weil fie zu ſehr mit ben gewohnten Rechts: anfhauungen im Widerftreit ftehen. Wem wird es einfallen, einen Pachtvertrag für fimulirt und ungültig zu erffären, weil bie Kon trahenten Abmachungen heimlich getroffen haben, die nicht in dem zur Kenntni Dritter gebrachten Pachtkontrakte ftchen.

Mit der durch Art. 2952 des Privatrechts gefchehenen Ges fattung fingirter Rechtsgeſchäfte bürften bie Beftimmungen ber BB. über fimulirte Verträge unvereinbar fein. 8) Klage über unrecht⸗ fertige „Gefindes“ Kündigung (oTkasn mo corepamnim Kpectbin- ekon ycaabbui) find innerhalb einer 4wöchentlichen Präkluſivfriſt, vom Kündigungstage gerechnet, anzubriugen ($ 215). Dies bezieht ſich alfo nur auf Pachtung von Gefinden, nit von Teilen ber- felben und nur auf bie Kündigung feitens bes Verpäcters, wie aus ben angeführten Worten bes ruffiihen Textes hervorgeht. 9) Der Pächter hat wegen der aus dem Padjtvertrag ſtammenden Forderungen nur dann das Recht der Netention des Pachtobjeltes, wenn Verpächter dieſe Forderungen nicht beftritten hat ober fie durch das Gericht proviforiih anertannt find, es wäre benn, daß der Verpächter hinfichtlich biefer Forderungen eine vom Gericht zu beftimmenbe Sicherheit leiftet ($ 218, Quelle eſtl. BL. von 1816, $ 208). Das PR. fennt eine ſolche Einſchränkung bes Retentionsrechts nicht, bie gegenüber ber ftumpfen bäuerlichen Art ber Chifane wohl motivirt ift. 10) Im Falle einer Verpachtung auf zwei Vererbungen, ein Fall, der wohl in ber Praris weder bei Bauern noch bei Gutsbefigern vorfommen bürfte, würden bie befonderen Bejtimmungen über Verpachtungen auf zwei Vererbungen (8 123 ff.)) gelten, wenn die Kontrahenten fi nidt anders geeinigt Haben. 11) Von feiner praktiſchen Bedeutung bürften aud bie Beftimmungen über Nugung ber Bufgjlänbereien in zuſammenhãngender Flädje durch ben Pächter fein ($ 144 und 353) 2). Bon der Anzeige über bie dritte Ernte bes genußten Buſchlandes durch den Pächter an das Gemeindegericht, und über bie Bezeich- nung bes betreffenden Felbftüdes durch das Gemeindegericht mit einem bejonberen Merkmal, und über die Betrafung mit 25 Kop.

4) Erft durch bie BB. 3 $ 147 ff. eingeführt.

2) Erſt burd) die BB. 3 $ 106-170 eingeführt. *

20 Ueber das livl. Vauerprivatrecht.

für die unterlaſſene Anzeige, was Alles durch & 1431) gefordert wird, dürfte in der Praris auch da, wo das Bauerland überhaupt noch unveräußert ift, nie etwas zu hören geweſen fein. Für die DVerhängung ber Strafe von 25 Kop. ſcheint das Gemeindegericht nad) ber Juftigreform nicht mehr fompetent zu fein, benn fie ift unter den Strafen, die e8 verfügen darf, nicht angeführt. Uber aud für die Beantragung bes Dierfmals Hinfichtlih des benugten Buſchlandes fcheint bie Kompetenz bes Gemeindegerichts erlofchen zu fein“), weil einer ſolchen in den Regeln von 1889 über das (oxpaunressutoe nponanoaerno) unftreitige Verfahren bei ben Gemeindegerichten nicht Erwähnung geidieht. 12) Wo Natural pacht ausbebungen ift, d. h. nad) $ 179, mo Pächter ein beftimmtes Quantum von Bodenerzeugniffen, und namentlih an Korn als Pacht zu zahlen Hat, muß au) ein feſier Preis feftgefegt fein, für welchen ber Pächter zu jeber Zeit ($ 180) berechtigt ift, feine Natural» leiftung durch Geldzahlung abzulöfen und ſich foldergeftalt ben allzu beeinträdhtigenden Folgen übermäßiger Teuerung ober Miß- ernte hinſichtlich feiner Pachtleiſtung zu entziehen. Bei Natural: pachten auf länger als auf 12 Jahre muß immer ($ 131) ber Kanon feitgeftellt fein, in Grundlage deſſen bie Naturalleiftung nad) Ablauf von 12 Jahren gänzlich auf Provofation eines der Kontrahenten in Geldzahlung vermanbelt werden muß. Soviel bürfte aus dieſen Beſtimmungen erhellen, dab bei Pachtung auf fänger als auf 12 Jahre nad) Ablauf berfelben, wenn einer ber Kontrahenten, aljo auch ber Verpächter, bie Konverfion in Gelb verlangt, die Naturalleiftung gänzlid) aufzuhören hat. Vor Ablauf biefer Zeit fann nur ber Pächter Ronverfion verlangen, und jwar für jedes einzelne Jahr, und wahrſcheinlich auch nach Ablauf ber 12 Jahre, ebenfo für jedes einzelne Jahr, wenn er e8 nicht vors sieht, das gänzliche Aufhören ber Naturalfeiftung zu verlangen ?).

4) Erſt durch die BL. 3 $ 168 eingeführt,

3) Jacobi Hat tropdem in feinem oben angeführten Wert ben $ 143 uns verändert ftchen laſſen.

Nach der Entfepeidung der allgem. Verſammlung des I. Depart. und der Aaſſat.Depart. des Senats v. J. 1898 (Nr. 15) hat das Gemeindegericht nicht meht diejenigen gerichtlich.poligeilichen Aompetengen, die in dem Gefep für Ger meindegrichte nicht ftrift (rouno) aufgeführt find.

') Auch für die Beftimmungen über die Naturalleiftungen $ 171-182 iſt 88. 8 $ 211 ff. die Duclle,

Ueber das liol. Vauerprivatrecht. a

Von biefen unter 1—12 aufgeführten Bejonberheiten bes Pachtverhãltniſſes find die meilten ohne rechte Vebeutung im Rechtsieben (vgl. 3, 4, 7, 10, 11 und wohl aud) 12 über bie Naturalpadht) ).

Bon den bejonberen Beltimmungen über das Pachtverhältniß zwiſchen Gutsbefiger und Pächter hinſichtlich ber Bauerlandparzellen ſoll hier nicht weiter gehandelt werben, da dieſe beionderen Bejtim- mungen in einzelnen Kreifen Livlands, wie ſchon früher erwähnt, faum mehr in Frage fommen fünnen, weil faft alles Bauerland verkauft ift, und in anderen Kreifen wegen bes fortichreitenden Bauerlandverfaufes in abjehbarer Zeit feine Anwendung mehr finden werben.

Frohnpacht iſt nad) $ 149 eine jede Pacht, in welcher Pächter das für Nuyung des eingeräumten Pachtſtückes dem Ver pächter zu entrichtende Aequivalent mittelft Arbeitsleiftung präftirt. Die Frohnpacht iſt, wie oben ſchon angeführt, verboten *), unb zwar auch in Verbindung mit Geld- oder Naturalpacht. Bon der Frohn: pacht find die Dienftverträge mit den Knechten oder mit ganzen Familien von Knechten zu unterſcheiden und erlaubt, bei denen bie beſtimmte Arbeitsleiftung durch die eingeräumte Nutzung eines beftimmten Landftüdes gelohnt wird, a) wenn bie eingeräumte Landftelle nicht mehr als 5 Lofftellen Ader, Garten: und Buſch-— fand zufammengerecjnet, beträgt, doch bürfen Pächter und Eigen- tümer bäuerliher Orundftüde nur biejenigen ihrer Knechte mit Land lohnen, welche ihnen das ganze Jahr hindurch ununterbroden oder in beitimmten, regelmäßig ſich folgenden Zeitabſchnitten Dienfte geleiftet haben ($ 353) ®), b) und wenn das eingeräumte Land mehr als 5 Lofitellen beträgt, aber nicht mehr als 3 Thaler 30 Groſchen Landeswert ausmacht ($ 151 B, 2 und Beilage C zu $ 124) und dabei feine Gefpanndienfte vorbehalten find, und bie Summe ber Leiftungen nicht 460 Arbeitstage überfteigt, und

1) Durch den Tod des Arrendatord bürfte ber Pachtvertrag, wenn er nicht auf Erben lautete, erlöſchen (vgl. $ 188 der BB. 4, Art. 4113 des BR. und das Genatsurteil des Zivil-Kaſſat. Depart. vom 4. Januar 1901).

2) Dod) iſt es nicht verboten, daß Pächter die Ableiftung der öffentlichen Begefropne übernimmt.

®) Quelle 98. 3 $ 396.

2 Ueber das liol. Bauerprivatredit.

die ausbebungenen Dienfte entweder gleihmäßig für das ganze Jahr verteilt ober aber nur für eine beftimmte Arbeit vorbehalten worden find, unb bie Dauer des Dienftverhältnifjes nicht auf länger als 12 Yahre geftellt worden ift ($ 151)%). Ferner gelten nicht als verbotene Frohnpacht, fondern als Dienftvertrag ($ 351 Pft. d)®) bie in einem folhen ausbebungenen perjönlichen Zeiftungen, welche zu gemiffen Zeiten, auf Verlangen bes Dienftheren, gegen einen dem Dienenden zu überlaſſenden beftimmten Anteil an bem ver arbeiteten Gegenftande oder bem Ernteertrage zu leiften find. Maturaldienſt⸗Miete.)

Unter dieſem Geſichtspunkte find ſchon Halbkornverträge, troß Arbeit mit eigenem Geſpann, nicht anfechtbar, wenn nur vermieden it, dem eingeinen Halbförner mehr als 5 Lofſtellen ($ 151 A) als Nequivalent zur Nugung zu geben.

Uebrigens könnten Halblornverträge aud als Naturalpacht gültig fein, jedoch, was das Vauerlanb betrifft, mit ben obigen Beſchränkungen Hinfichtlich der Konverfion in Gelb auf Verlangen des Päcters refp. Verpäcters (j. oben und $ 179 ff.)

2. Dienftordnung.

Die BL. bringt die Dienftverträge unter zwei Abfchnitten: „Dienftoerträge außerhalb ber Gemeinde“ und „Dienft- verträge innerhalb ber Gemeinde und des Gutes“. Ihre Syſte- matif ift aber irreführend, denn einerfeits ftehen in dem Abſchnitt I der „Dienftverträge außerhalb der Gemeinde” bie Beſtimmungen des $ 367 über bie Rechte der Minderjährigen, der Ehefrauen zc. bei Verdingungen, bie ebenfo für Dienftverträge innerhalb ber Gemeinde und bes Gutes (Abfchnitt IT) gelten, und fehlen anderer: feits im Abſchnitt I alle Beftimmungen bes Abfchnittes II über Antritt und Entlafjung aus dem Dienft 2c., bie fi) unbeſtritten aud) auf Dienftverträge außerhalb der Gemeinde beziehen. Der Dienftvertrag ift an feine Formen gebunden ($ 369 AoroBopk o undiırb RL ycayzeiie MOTYTb ÖHTE SARMOEHK nun C20BeCTHO IPH ABYXb CBEXbTeINXT, HIN te IIOCPEAICTBOML BbIAAYH H IPHHATIA sagarka. Üo6erBennoe Npelb CyAoMb

1) Erſt durch die BB. 3 $ 177 eingeführt, nur find dort 480 Arbeitstage

angefeht. ) Duelle 88. 8 $ 804.

Ueber das fiol. Bauerprivatredit. 2

coauanie NOCTATOYHO IA npuauanin AOTOBOPA HEHAPYIINMLIMD. Zu deutſch: Dienftverträge Fönnen gefchloffen werden entweber mündlid) in Gegenwart zweier Zeugen ober mitteljt Hergabe und Entgegennahme eines Hanbgelds. Das eigene Zugeftändniß vor Gericht genügt zur Annahme, daß ber Vertrag fortbeftehe).

Nach $ 373 (Quelle BL. 2 $ 454) Tann ber Dienfiherr den Dienftboten aufſuchen, wenn er zum Antritt des Dienftes nicht erſcheint. Will er ihn in foldem Fall jedoch nicht haben, jo muß von dem Dienjtboten außer Schabenerjag und Rüdgabe des Hand- gelbes an den Dienſtherrn noch 1 Nbl. an die Gebietslade gezahlt werden, was übrigens nicht in den Strafbeftimmungen bes Reform: gefeges von 1889 !) erwähnt wird und baher nicht mehr gelten bürfte®). „Wer eines anderen Dienſtboten zu ſich lockt, wird auf erhobene Rlage je nach den Umftänden mit Polizei: ober Gelbftrafe belegt“ nad $ 376 (Quelle BB. 2 $ 459). Diefer Artifel dürfte, ſozuſagen, eine hohle Nuß fein, da es weder in den Polizei- noch Strafgefegen eine begüglidhe Strafbeitimmung giebt.

Im Falle der Erkrankung des Dienfiboten während ber Dienftzeit fann ber Dienftherr, wenn er genötigt ift, einen anderen an feine Stelle zu mieten, ihm ben Lohn (saxopanie) für bie Dauer ber Krankheit abziehen, muß aber gleichwohl an nötiger Koſt und Pflege es ihm nicht fehlen laſſen, wobei er leßteres beides (coaepaauie) ihm nicht in Rechnung ftellen darf ($ 379, Quelle BL. 2 8 462).

Nah dem P.-R. Art. 4209 ift der Dienftherr zu einer außer: gewõhnlichen Verpflegung nicht verpflichtet, darf aber, wenn bie Krankheit nicht von langer Dauer ift, feinen Abzug vom Dienſt- lohn maden.

Wer vor Ablauf der verabrebeten Dienftzeit zum Verlaſſen bes Dienftes Urfahe hat, muß bei Widerſpruch des Dienſtherrn erft bie Entſcheidung des Gerichts abwarten, ehe er ben Dienft verläßt, wibrigenfalls er, wie jeber Dienitbote, ber ohne Grund den Dienft vorzeitig verläßt, nicht mur das empfangene Handgelb zurückzuzahlen hat, fondern noch jo viel dazu, als ihm an Lohn

3) Jacobi Bringt trobem den $ 373 in unneränberter Geftalt. 3) Temporäre Regeln über die von den Gemeindeherichen zu verhängenden Strafen (uf) $ 1.

a Ueber das liol. Bauerprivatreit.

verfproden wurde (sc. für bie Zeit, die er noch zu dienen Hatte) ?), fobald der Dienfiherr ihn nicht wieber nehmen will ($ 363, 385, Quelle die eitl. BL. von 1816 $ 186, BV. 2 $ 465).

Diefe Beftimmung kann zu großer Härte führen. Man benfe nur an bie Verlobte, die nad) $ 943 der BB. 4 aud) ohne Auf fündigung, vor Ablauf des Dienftvertrages, den Dienſt verlaſſen darf?). Wenn fie nun um zu heiraten den Dienft verläßt, ehe bei einem ganz unmotivirten Widerſpruch des Dienftherren bie gerichtliche Entfcheidung vorliegt, fo verliert fie, obwohl fie materiell im Recht war, das Handgeld und muß dem Dienftherren, der fie ungerecht zurüdhalten will, nod) den Betrag des Dienſtlohnes für die nicht abgebiente Zeit zahlen.

Im Falle des einfeitigen Aufgebens bes Dienftes durch weibliche Dienftboten, in Folge böfer Zumutung von Seiten ber Herrſchaft, fann die Lage des Dienſtmädchens, die eine gerichtliche Entiheidung erft abzuwarten hat, ehe fie den Dienft verlafen barf, geradezu eine empörende werben. Das PR. kennt biefes Ab- wartenmüffen gerichtlicher Entfheibungen in folden Fällen nicht. Auch bemißt es die Entihädigung für willkürlichen Austritt und willfürliche Entlaſſung aus dem Dienft meift niedriger (P.-R. Art. 4224, 4225), da bie Entihäbigung nur ben Betrag von eines Monats Lohn (nicht Unterhalt) beträgt.

Was den Zwang zum Eintritt in ben Dienft und zum Abdienen betrifft, ben das P.:R. ftabilirt (Art. 4217, 4225), fo operirt mit ihm aud die BB. Doc) in der Pragis bürjte bas von ihr vorgeichriebene ($ 378, 389) zwangsweife Abdienen wohl nicht vorfommen. Nach ber BV. ($ 394) hängt beim Tode des Dienſtherrn es von deſſen Erben ab, ob ber Dienftvertrag weiter geht. Wollen fie deſſen Nufhören, fo haben fie dem Dienftboten den Lohn (jedoch nicht Eniſchädigung für den Unterhalt) bis Ablauf ber verabrebeten Dienftzeit zu zahlen. Hier ift nun ein prinzipieller Segenfag zum PR. (Urt. 4218), nad) bem mit dem Tobe des

9) Erdmann, Syſtem Bd. 4 S. 395 firiet im Widerſpruch zu $ 385 die Lohnzahlung nur auf den Betrag eines Monatslohnes, in Anlehnung an rt. 4225 des Privatrechts

>) Erſt durch die BB. 3 $ 1001 eingeführt. Nach dem P. R. Art. 4219 bat die Dienftmagd, die wegen deirat den Dienft verlafjen will, die geſehliche Kündigungsfrift einzuhalten.

Ueber das liol. Yauerprivatrecht. 26

Dienſtherrn ber Dienſtvertrag erliſcht. Die BV. dürfte jedoch das Richtige getroffen haben, benn bie praftifchen Folgen ber Vejtim- mung bes Privatredts für eine Gutswirtſchaft ober größere Haus: wirtſchaft tönnten unter Umftänden entfegliche fein (wenn z. B. fämmtlide Dienftboten bei dem legten Seufzer bes Dienftherrn ben Dienft verlafjen).

Quelle für $ 394 ift BB. 2 $ 478, die im Weſentlichen auf ber eſtl. BU. von 1816 $ 192 beruht.

Die eben befprodene Dienftorbnung ($ 349 ff.) bezieht ſich, was bie Dienenden betrifft, nur auf Perjonen bäuer- lichen Standes ($ 349), was ben Dienſtherrn betrifft, aud auf Perſonen anderer Stände (vgl. 3. B. $ 352).

Gemäß $ 978 müſſen Klagen wegen bes Verkaufs unbraudbarer oder fehlerhafter Saden, bei Terfuft des Klagerechts, innerhalb 14 Tagen nad) erfolgter Neber- gabe anhängig gemadjt werben. Die fur. BL. von 1817 $ 98 iſt hier die Quelle. Obwohl die Ttägige Friſt der furl. BB. in ber liof. BD. verdoppelt worben ift, fo dürften auch 14 Tage viel zu menig fein. Das PN. (Art. 3271, 3272) hat a dato des Ver- trages ober ber befonderen Zufiherung, für bie Wandelungsflage eine Friſt von 6 Monaten unb für die Minderungoklage eine Frift von 1 Yahr.

In dem Kapitel II mit der Ueberfärift „Befondere Beftimmungen über bie Ablöfung der Frohne mittelit Raufs“ find auch enthalten in $ 60 ff. bie Beflim: mungen !) über bas Korroborations- und Ingrofiationswefen und die Ausiheidung ber Grunbftüde aus dem Hypothekenverbande bes Hauptgutes, furz, die Orbnung bes Verfaufes auch berjenigen Gefinde, die nicht in Frohnpacht ftanden und nicht mittelft Kaufes von ber Frohne abgelöft wurden. Trotzdem wird man ent ſprechend ber Rapitelüberihrift und dem Umftande, daß in ber BB. $ 219 fi. beſondere Beſtimmungen über das bäuerliche Grumbeigentum und deſſen Erwerb folgen, was bie dem $ 60 vorhergehenden Beſtimmungen bes befagten Kapitels betrifft,

) Die übrigens zum größten Teil heut zu Tage nicht mehr gelten.

26 Ueber daS livl. Vauerprivatrecht.

body zunächft notwendiger Weile davon ausgehen müflen, daß es fi in bemfelben um Beſtimmungen über bie Ablöfung der Frohne handelte. Deshalb dürfte man bie in demfelben Kapitel enthaltenen Vorſchriften ber S$ 53 und 54) aud nur auf Kontrakte beziehen fönnen, die die Ablöfung ber Frohne durch Kauf bezwedten. für ſolche Kontrakte find denn auch bie Beftim- mungen ber gebachten $$ erflärlich, durch bie augenfceinlid ein Fortbeftehen der Frohne oder ihre Zulafjung auf einem Ummege verhindert und die früheren Frohnpächter möglichſt unabhängig Hingeftellt werben follen. Denn wozu follte fonft in ihnen ange orbnet werben, daß alle zum Veſten des Verkäufers vorbehaltenen Rechte in dem ber Korroboration unterliegenden Kauffontrafte bezeichnet fein müflen, unb überdies ausbrüdlid) angegeben fein foll, welde mit dem Befig des Kaufobjeftes verbundenen Vorteile als Aequivalent für bie vorbehaltenen Rechte des Verkäufers zu betrachten feien, und daß „demnach“ alle unter gewiſſen Umftänden und für gewiſſe Fälle ftipufirten Zahlungen, insbejondere aud) für die Benugung bes gekauften Gegenftandes, beifen Teilung oder Alienation verboten feien und ferner nicht geftattet fei der Vor— behalt eines Wiederanfallsrechts ober Mortuarii. Sowohl in Rauf- fontraften über das Hofsland als über das Bauerland, wo es ſich längft jchon nicht um Nblöfung der vor mehr als einem Menſchen⸗ alter aufgehobenen Frohne handelt, dürften baher bie Beftimmungen der S$ 53 und 54 nicht *) Anwendung finden. Es wäre beshalb

3) Grit durch die BI. 3 $ 70, TI eingeführt,

2) A.M.R. Smirlom 1. c. ©. 240. Cr behauptet fogar, daß $ 54 für alle Käufe von Bauerlanbparzellen durch Bauern gilt, alfo aud) für Diejenigen, in denen ber Vauereigentümer feine Parzelle weiter verfauft. Wie aber babei noch Die Abloſung der dem Cigentümer des Nittergutes zu leitenden Broßne durch, Verfauf irgend wie in Betradit Tommen Tann, worüber doch aber $ 54 ac} der Ueberfcheift des betreffenden AapitelS IT ber BR. zu handeln Hat, bleibt unertlärt, Es it deshalb fon dieſe Behauptung N. Smirloms ebenjo unbe: gründet, wie die Golgerung, die er daraus auf ©. 244 1. c. giebt, wo er annimmt, daß aus logiſchen Gründen, weil 8 dem Bauern angeblich verboten fei, das Nüdlaufsreiit am einem Bauerlanbftüct fic) auszubebingen, er auch die Erblofung miggt ausüben dürfe, da die Ieptere doch mur durch Die Erben des Verduherers geltend gemadit werben bürfe und diefe nicht mehr Rechte haben fönnten alß der Grölaffer, wobei inbeb X. Smirlom auch außer Acht läht, dap in den Bällen der Ausübung der Erblofung der veräufernde Verwandte noch garnicht geitorben gu fein braucht und der Netrahent nicht nötig hat, jemals fein Erbe

Ueber das fiol. Bauerprivatredit, Eu

unter Anderem durchaus zuläffig, ohne in dem Kauffontraft geihehende Bezugnahme auf ein befonberes Nequivalent a) dem Käufer ber Bauerlandparzelle zu verbieten, Buben auf feinem Grundſtück zu eröffnen ober b) ſich für bie Eröffnung berfelben eine beftimmte Zahlung ftipuliren zu laſſen (vgl. ein bezügl. Senats- urteil Nr. 47, 1898 für das Innere Rußland).

56611 ß.

Der Bauer, wie es ſo oft in der Praxis vorkommt, glaubt wirllich mit dem kurzen privatrechtlichen Satz aus der BV. etwas Feſtes in ber Hand zu haben, und ſiehe da, bei der verſuchten Anwendung ift Alles zerronnen. Uber auch dem Gebilbeteren wird durch die ungenaue Ausbrudsweile, die zu große Kürze, bie Epftemlofigkeit, die unmotivirbaren Vefonderheiten ber BV., auf welches Alles in ber vorhergehenden Darftellung wiederholt hin- gewiefen werden mußte, das Verftändniß erfchwert. Dazu fommt noch, daß die BV. vor bem großen Wendepunfte der 60er Jahre des 19. Jahrh. entſtanden ift und in ihr daher zu wenig Rückſicht auf den erft damals ſich bildenden Kleingrumbbefig hat genommen werben können und baß bas Hülfsredht durd) Kobifizirung eine Fortbildung und feſte Firirung und in gewiſſen Inſtituten, bie das Bauerprivatrecht nahe berührten, wie bie Vormundihaft und bie Schulbenhaftung der Ehefrau nad) dem landrechtlichen ehelichen Güterrecht, eine Neugeftaltung erfuhr. Es entjtanden fomit Ver- ſchiedenheiten vom Landrecht und bem allgemeinen Privatrecht, die vor der Kodififation nicht vorhanden waren oder auszugleichen geweſen wären, woburd) eine größere Iſolirung bes Bauerprivatrechts und eine teilweiſe Abjchließung von dem lebendigen Strom ber Praris und ber Wiſſenſchaft des baltifchen Privatrechts herbeigeführt wurde. Jebenfalls liegen die Dinge jegt fo, daß durch bie BB. der Zweck nicht erreicht wird, den Bauern ein klares, einfades Privatrecht zu geben. Ihr Privatrecht ift fomplizirter geworden als bas landrechtliche. au werden (j. auch Smirlow S. 253), um ben Netraft auszuüben (Met. 1060 des BR), denn der Retrahent retrafirt ja gerade auf Grund eigenen Rechts und nicht auf Grund des Rechts des vermandten Beräußerers, das ſchon auf gehört Hat (Art. 1621 1. c.).

2 Ueber das livl. Bauerprivatredit.

It fomit die BL. ſchon durch das, was fie an Privatrecht giebt und wie fie es giebt, fein recht geeigneter und oft unzuver⸗ läffiger Führer, fo wird ihre Brauchbarkeit noch erheblid; vermindert durd) das, was fie nicht giebt. Es genüge in biefer Beziehung auf das Sachenrecht und Obligationenrecht zu verweifen.

Sollte es unter folhen Umftänden nicht das Befte und Ein- fachſte fein, das gefammte befondere Bauerprivatreht aufhören zu laſſen mit Ausnahme einiger weniger, als wertvoll erfannter Beſtimmungen, die dem P.-NR., foweit es nicht ſchon geſchehen, an paſſenden Stellen beizufügen wären. Den Bauern und dem geſammten Nectsleben wäre damit nur gedient. Der Bauer hier zu Sande ift ſchon längſt jo gebildet, daß er fi in privaten Rechtsarbeiten zurechtfinden könnte, die ja unfehlbar in foldem Falle entftehen würden. Die Rechtsentwicklung im weſtlichen Europa bat aud dazu geführt, daß es bort feine befonberen Bauerprivatrehte mehr giebt, denn 3. B. Gefee, wie die über das Anerbenrecht der Kleingrunbbefiger einzelner Provinzen bes preußifchen Staates bürften nicht als privatrechtliche Gefeggebung für einen Stand anzufehen fein.

Wie viel Mühe und Zeit und wie mander Umweg würbe eripart werben, wenn ber privatrehtlihe Zuftand der Bauern, mas ohne Schaden für ihre wirkliche Beſonderheit geſchehen könnte, durch Abfchaffung bes befonderen Bauerprivatrehts vereinfacht und in Einklang mit dem Landrecht und dem -allgemeinen baltischen Privatrecht gebracht werben würde.

Sollte das Erreichen dieſes Zieles überhaupt mit großen Schwierigkeiten verbunden fein, wo es ſich doch vielfad) nur um das Beleitigen nicht gemollter Unterjchiede vom ſonſtigen Rechte handeln würbe?

Für den Deſelſchen Kreis gilt heut zu Tage noch die Siefländifce Bauer- verorbmung von 1819 (ogl. Lios, Efte und Rurlänbifcies Privatrecit Art. LIT), die durch die Allerhöchn am 19. Febr. 1805 beftätigten „Negeln betreffend bie Drdmung der Ngrarverfältniffe ber Inſel Defel“ erpänzt und teilweife mobifigirt ft. Die vorftehende Arbeit begieft fi auf das in der Liefländifden Bauerr verordnung von 1810 enthaltene Bauerprivatredit nur infomeit, al8 c& die Duelle des jegt auf dem livlandijchen Fetlande geltenden Bauerprivatreijts bilbet aber mit ihm übereinftimmt,

ann von Blantenfeld, Erzbiſthof von Riga, Biſchof von Dorpat und Reval.

Zwei Vorträge von Alerander Verendts.

I.

Don Stufe zu Stufe war Blankenfeld emporgeftiegen: nun enblich war er Regent eines nicht unbebeutenden Gebiets, felbft ftändiges Glied einer Stantenfonföberation, er konnte nun eine felbftändige Politit führen in inneren und auswärtigen Angelegen- heiten. Es fam jet darauf an, wie er die Aufgaben und Ziele feiner Negententhätigfeit auffaffen werde.

Es war aber ein geiftliches Fürftentum, deſſen Regierung er übernahm, es war eine Konföderation faft nur geiftliher Staaten, in bie er eintrat.

Offenbarte er Verftändniß für die eigentümliche Lage feines geiftlichen Staates und diejenige feiner nädjiten Genoſſen, des Erzbifchofs von Niga und ber Biſchöfe von Oeſel und Kurland?

Als den wefentlihften Schaden mußten dieſe bie Art und Weiſe der geiftlihen Stellenbefegung in ihren Gebieten betrachten, insbefonbere ben Hergang bei ber Biihofswahl: eine eigentliche Wahl, auch nur durch bie Domkapitel, wie das Kirchenrecht fie forderte, war jo gut wie ganz abgefommen. Der römifche Biſchof hatte ſich gerade bie livländiihen Bistümer fat alle (Rurland, Dorpat, Dejel) „refervirt”" N). Ja, ſchließlich war erflärt worben, es ftände überhaupt dem Papft zu, barüber zu entfdeiben, ob ein Bifchof ernannt ober frei gewählt werben folle 2).

1) A. v. Gernet: Verfaffungsgeihicte des Bistums Dorpat, Dorpat 1896, 61. 2) Gernet a. a. O. S. 62 f.

EU) Yofann on Vlantenfelb.

Nur für kurze Zeit, in Folge der großen Neformkonzilien des 15. Jahrhunderts, war Befferung eingetreten ?); dann aber war die päpftliche Willfür auch auf diefem Gebiet erſt recht zur Herrſchaft gelangt 2). Gerade ber Orden, wie anberwärts bie mweltlihen Staaten, war dabei am Meiſten intereffirt: nur auf biefem Wege gelang es ihm, feine Kandidaten überall durchzu— bringen oder gar Bistümer (Rurland und Neval) ſich zu „infor: poriren“. Erſt unter Plettenberg war eine gewiſſe Mäßigung üblid) geworben: wenigftens war ber Erzbiſchof Jasper Linde (150924) nad) fait einem Jahrhundert wieber der erfle frei gewählte). Es war aljo wohl verſtändlich, wenn die livländiſchen Prälaten fi zum Ziele fegten *), diefen unwürdigen Zuftand zu änbern. Es galt demgemäß in Bezug auf Livland entweber daffelbe zu erreichen, was für Deutſchland feit der Mitte bes 15. Jahrhunderts erreiht war, d. h. nämlich es galt die Wirk: ſamleit des Aſchaffenburger oder Wiener Konkordates vom Jahre 1448, das ben Domfapiteln (zum Teil wenigftens) freie Mahl zuſicherte >), durch Beſchluß von Raifer und Neid) aud) auf Livland auszubehnen. Oder aber: es follte beim Papſt bie Wiederher⸗ ftellung des im 13. Jahrhundert beftehenden Zuftandes durchgeſetzt werben, indem Wahl und Veltätigung ber Vifhöfe bem Nigafchen Erzbiſchof als Metropolitan überlaffen wurde.

Beide Wege wurben zugleich eingeſchlagen. Sollte aber das KRonkorbat auf Livland ausgebehnt werden, fo war dazu bie Vor:

1) Auch in Lioland hatte der Landtag in ber Sanbeseinigung vom 4. Dezember 1435 den Domfapitehn das Mahfeecht garantirt. ogl. Gernet 0.0.0.6. 64

2) Für Dorpat gl. Gernet a, a. D. S. 66.

®) Der Papft Hatte dem Rigaer Domfapitel das Wahltecht unmittelbar vorher ausbrüdlic, zurücgegeben (5. April 1508), vgl. A. v. Richter: Geſchichte der beutfchen Oftfecprooingen Teil I, 3b. II, S. Riga 1858,

+) Ueber diefe ganze Unternehmung der lioländiſchen Präfaten und ihren teilweiſen Wiherfolg vgl. 9. Hildebrand: Die Arbeiten für das liv- eſt. und turlandiſche Urtundenbud; im Jahre 1875— 76, Riga 1877, S. 03-100.

3) Durch das genannte Koutordat iſt freilich bie päpftliche „Provifion“ durchaus nicht ganz ausgeicfoffen und die „Ronfiemation" mit allen ihren Misbräudgen geradezu ſichergeſteilt worden, vgl. M. Püdert: Die fürfürftlice Neutralität während des Vajeler Konzils, Leipzig 1858, S. 318. 2. Paftor: Geſchiche der Päpfte im Zeitalter der Renaiffance, Vd. I, 3, Freiburg i. 8., 1901, &. 380.

Yofann von Blantenfelb. st

ausfegung, daß ben livländiſchen Biſchöfen die Negalien erteilt mürben, d. 5. daß ihr reichsfürftlicher Stand anerfannt würde. Niga, Oeſel und Dorpat hatten ſchon früher als Reichsſürſtentümer gegolten, aber dieſe Rechte waren in Vergeffenheit geraten. Kur— fand und Reval waren bis jegt nad) nicht diefer Stellung gewürdigt morben.

Auf demfelben Reichstag zu Worms (1521), da Luther feinen Glauben vor Raifer und Reid) befannte, Haben bie vier livländiſchen Prälaten dieſes Ziel ihrer Wünſche erreiht. Der Dorpater Dom- here Dr. Wolmar Mey leiftete „in ihre Seele“ dem Kaiſer ben Lehnseid!). Die Ausdehnung des Ronforbates auf Livland erfolgte wenig fpäter unbeanftanbet ).

Diefe Rangerhöhung und Sicherung ber Selbftändigfeit feines Stifts hat fid) Blankenfeld gern gefallen laſſen. Das andere Ziel ber Bemühungen ber Prälaten, der Zuſammenſchluß ber livlän- diſchen Kirche unter dem Erzbifchof von Niga, fo daß biefer bie Gewählten aud in ben andern Stiftern zu beftätigen hätte und der Amtsantritt der Gewählten ohne jede Verzögerung und Unfoften vor ſich gehen könnte, biefe ohne Zweifel jegensreihe Neform fieß gerade bei Blanfenfeld und dem von ihm beeinflußten Johann Kievel, Biſchof von Defel:Wiel?), auf geringe Neigung. Das war um fo merfwürbiger, als der Papſt jogar bereit war, feine diesbezüglichen Rechte aufzugeben, natürlich nicht umſonſt, fondern gegen Bezahlung. Die geforderte Summe, die an Bapit, Rardinäle, Kanzlei, Anwälte u. ſ. w. zu zahlen war (810,000 Goldgulden), tam Blanfenfeld garnicht fo ungeheuerlich vor; von intimer Kenntniß römischer Verhältniffe zeugt fein Ausſpruch: man müſſe den Wagen wohl jchmieren, wenn man wohl fahren wolle. Etwas Anderes machte die Bifchöfe bedenklich und wog in ihren Augen reichlich alle Vorteile ber freien Wahl, fowie der Erfparniß ber jebesmaligen

) Hildebrand a. ©. D. S. 97. Den 20. Januar erfolgte die Eides- Teiftung. Im der Ausgabe der deutſchen Reichstagsatten (Jüngere Reihe, Vd. IT, Gotga 1896) ift von biefem ft gar feine Rotiy genommen.

3) Hildebrand a. a. D. &. 97 f.

%) Ueber Mievels moralifche Abhängigfeit von Vlantenfelb vgl. Hilbebrand «0. ©. 5. 03. Die Mitteilungen Hildebrands find ben Bifcöflic-Delelfcren Regitranten entnommen, Die fid im Sönigl. Dänifcen Geheimarchio in die Lioland betreffenden Sammlungen eingereiht finden, a. a. D. ©. 88 f.

32 dohann von Bfantenfelb,

Geſchenle reichlich auf: der Einfluß bes Rigaſchen Erzbiſchofs hätte in Folge diefer Neform jteigen müſſen.

Das war «8, was bie beiden Biſchöfe in der Unterftügung der betreffenden Verhandlungen innehalten fie. Die Eriparnifie, meinten fie übrigens, würden aud) nicht ihnen zu Gute fommen, fondern ben Kapiteln, und bie unmittelbare Einweiſung ins Amt mit feinen Einfünften bot aud) feinen befonderen Vorteil, da bie Verwaltung des Vermögens bis zum Amtsantritt des neugewählten Biſchofs einem Delonomen anvertraut zu werben pflegte, fo daß Jenem durd) die Verzögerung gar fein Schade erwuds. So ließen denn die beiden würdigen Kirchenfürften die Verhandlungen mit Gemütsruhe im Sande verlaufen. Umfonft erzürnte fid) der alte Erzbiſchof und fuchte ihnen den Undant gegen Gott für fo große Gaben vor Augen zu halten, ihnen vorzuftellen, daß fie durch folgen Wanfelmut am römifchen Hofe in ewige deindſchaft, Hab und Mißachtung geraten würden. Nom war weit und ließ fi) außerdem wohl ſchon durch andere Vorteile verföhnen. Kirchliche Rüdfichten haben bei Wlanfenfeld nie mitgeipielt, wenn es fid) um bie Erhöhung oder Bewahrung feiner Machtſtellung handelte. Freilich werden fie aud) bei Jasper Linde zum Mindeſten nicht die Hauptfache geweſen fein: es fam diefem wohl vor Allem barauf an, ben Einfluß des Ordens auf die Stifter zu breden. Daß gerade durch die feit Plettenbergs Negierung fi immer mehr feftigende Vorherrſchaft des Ordens die Einheit des Landes gewann und die Verhältnifje gefunder, fefter wurden, das wird für den Erzbiſchof nit in Betracht gekommen fein. Jasper Linde ftand aud) jonft mit bem Orden nicht auf bem beiten Zug‘). Es iſt

1) Schon früher (1518) hatte er den Lipentiaten Andreas Tiergarten nad) Rom entfandt, um „jein nom Drden angefochtenes Jnveftiturrecht der Landes: bifchöfe zu fidern", vgl. Nichter, Gefchichte ber Ditfeeproingen L, 2, ©. 254 Auch beim Kaifer hatte er Mage gegen den Orden gefühtt, Index Ar. 2577 b (1512). Im September 1514 bittet der Hochmeifter den Erzbiichof, „bie mit dem Weifter Plettenberg fhwebenden Jrrungen dem Godmeifter zu Siebe ruhen au laffen, bis Gott ihm und dem Orden aus diefen ſcuveren Sachen (sc. dem Bwift mit Polen) helfe.“ (Initruftion für die Gejanbien des ocmeifters nach gioland, vgl. E. Joachim: Politit Albrecht von Brandenburg, I, S. 68 und Anm. 2). Doc, bejteht auf dem Wolmarer Landtag von 1516 cin leidliches Einvernehmen zwilchen Meifter und Ergbifchof, wenigitens in Fragen äußerer Volitit, vgl. Joagim I, S. 100.

Dohann von Blantenfelb. 3

nun freilich wahrſcheinlich, daß gerade ber Orben Hinter ber Ver- hinderung jener Verhandlungen geſteckt und es verftanden hat, ben Biſchöfen ihren Vorteil far zu machen. Kurz und gut, bie landetirchliche Einigung und Feftigung der livländifgjen Kirche mißlang in Folge von Vlontenfelds und Kievels Verhalten.

Im Uebrigen ift Blankenfeld ebenfo wie Kievel und 3. Linde kirchlichen Neformen im Sinne einer moralifhen und intelleftuellen Hebung bes Priejteritandes, einer beijeren Orbnung des gottesbienftlihen Lebens, ſowie ber kirchlichen Vermögensver⸗ hältniife gar nicht abgeneigt gewefen !). Aber den tieffien Grund der immer wieder durchbrechenden Entartung: die Verflechtung geiftlicher und weltliher Intereſſen hat er nicht zu durchſchauen vermocht, weil er ſelbſt viel zu tief darin ftaf. Das Interefje ber Rirdje vermochte er nur foweit zu hegen, ald es nicht mit bem Intereſſe feiner perfönlichen Machterweiterung ſich freugte.

Diefem Intereſſe wiberftrebte aber aud) bie innere Ent widfung bes Landes, d. h. feiner beiden wirklichen Vertreter: ber Ritterſchaften und Städte.

Schon vor Blankenfelds endgiltiger Ueberſiedelung nad) Liv: land war Biſchof Kievel mit feinen Ständen in Ronflikt geraten ?): es handelte fih vor Allem um die Forderung des Biſchofs, Die Lehnsgüter follten vor etwaigem Verkauf, ja ſogar Verpfänbung, bem Lanbesherrn angeboten werben müſſen; es wurde alfo von dieſem ein Näherrecht geltend gemacht, Verkauf und Verpfändung der Güter follten abhängig fein von der Zuftimmung bes Biſchofs. Damit war die freie Verfügung über das Eigentum ernftlid in Frage geftellt und der Gedanke der Verlehnung ber Güter, ber den wirklichen Zuftänden bes Landes gar nicht mehr entiprad und die Verhältniffe nur unficher machte, aufs Neue zum Leben ermedt. Gerade dieſe jelbe Forderung Hat nun auch Blankenfeld feiner

%) Dafür zeugt feine Teilnahme am Prälatentag zu Ronneburg Juli 1521, dgl. F. Vienemann: Aus Livlands Luthertagen, Reval 1883, S. 16. Ueber Kievels Toätigfeit in diefer Richtung fiche Hildebrand a. a. D. S. 86-02; über Jasper Linde f. Richter a. a. D. S. 251 und Th. Schiemann: Ruhlanb, Polen und Sioland, Bd. IL, Berlin 1887, ©. 102 f.

?) Bol. auch für diefe Frage, Nievel betreffend, Hildebrand a. a. D. S. 102 ſ. nach den furz vorher erwähnten Defelihen Kegiftraten aus bem Kopenhagener Gefeimardio; zu Blanfenfelds Stellungnahme vgl. Vienemann

a. a. D. S. 10. Ei

3 Johann von Blantenfelb.

Dorpater Stiftsritterf—haft gegenüber aufgeftellt, dann aber aud mohl die andere, melde von Kievel erhoben worden war: bie Appellation von ben Urteilen bes Biſchofs folle nicht an ben Landtag, fondern an ben Papſt gehen !). Die Einheitsbeftrebungen im Lande, welche gerade zur Einrichtung ber Landtage und zur Ausdehnung ihrer Befugniſſe geführt hatten, wurden durch fol eine Forderung unmöglich gemacht. Was bie Appellation an ben Papſt bei den damaligen römiſchen Verhältniffen bedeutete, wußte außerbem Jebermann. Nicht nur ungeitgemäß war biefe Forbe- rung, auch unklug, benn das eigene Intereſſe ber Biſchöfe wies fie an, fih an ben Orben zu halten: ohne biefe einzig wehrfräftige Macht im Lande zum Bundesgenoffen zu haben, fonnten fie weber nad außen nod nad innen ſich zu behaupten benfen. In ben Zandtagen aber mußte ber Orden ein Mittel fehen, um auf bie andern Glieder ber Ronföderation zum Beſten bes Landes einzus wirfen, gerade hier fam die führende Stellung des Ordens, als bes einzig feiten, in ſich geichloffenen Veftandteils der Landes vertretung zum Ausbrud.

Afo nad) allen Seiten fegten ſich die Bifhöfe mit ihrer Forderung in Widerſpruch.

Zugleich hat es nun aber Vlankenfeld fertig gebracht, auch mit feiner Stadt Dorpat in ein ernites Zerwürfniß zu geraten, das nur mühfam und, wie es [heint, nur vorübergehend beigelegt werben konnte.

Dom 30. Juni bis zum 19. Juli 1519 find in Dorpat Verhandlungen geführt worden, um ben Streit zwilden bem Biſchof und feiner Stadt, genauer: bem Nat und der großen Gilde gütlich beizulegen. Es ift dazu die Vermittelung von Rats: fenbeboten der Städte Niga und Reval nötig geweſen. Ihren Bericht Haben wir in einem bisher noch nicht verwendeten Scriftftüd vor uns, das gegenwärtig im Nevaler Ratsarchiv ſich befindet 2).

1) Rur bei Hilbebrand a. a. D. S. 102 f., und zwar als Forderung aievels erwähnt.

2) Die Möglichfeit und Gelaubnig, dieſes Schrififtüd zu benuhen, verbante ich ber Sichenswürbigfeit des Heren Stadtarcioars Hugo Fichtenftein in Dorpat, der mir auch ein von ihm felber angefertigtes ausführliches Aegeit der Ber Handlungen gütigft zur Verfügung geftelt hat. Der Verich fühet den Titel:

Iohann von Blantenfelb. 3

Nach diefem Bericht zu urteilen, müſſen in ber furzen Zeit zwifchen ber Ankunft des Biſchofs und biefen Verhandlungen arge Dinge geſchehen fein; die Erbitterung war ſchließlich jo hoch getiegen, daß bie Stäbtiihen einen bifhöflichen Diener gefangen ſetzten, ber Biſchof aber dem Stadtfchreiber, der zugleich Domherr und Pfarrer an St. Marien war, verbot, ber Stadt den ihr zur geſchworenen Dienft zu thun. Ja, es heißt fogar, daß ber Biſchof ben von Dorpat nad; Reval und Riga ausgefandten Boten hatte auflauern lafjen, weil ihm Nachricht von bewafineter Hülfe zuge: kommen mar, die biefe Städte gegen den Biſchof leiften follten. Soviel ſich erfennen läßt, war Blanfenfeld ber angreifende Teil: er hatte feine Stellung fo aufgefaßt, als fei er vollftändig freier Herr, die Privilegien der Stadt anzuerkennen ober nicht, ohne Nüdficht darauf, daß er fie „bei dem heiligen Saframent feiner Prieſterſchaft und durch Handſtreckung“ beſchworen.

Aber nicht nur gegen einzelne Rechte der Stadt wandte er ſich: die Grundlage ihres Rechtslebens taſtete er an, indem er die Geltung bes Rigiſchen Rechtes verkürzt und die Appellationen vom Dorpater Rat nicht mehr nad) Riga, ſondern an ihn felbft gerichtet wiſſen wollte. Ebenfo verlangte er, daß feine Diener ſelbſt in Kriminalangelegenheiten an fein geiftliches Gericht ausgeliefert mürben.

Sein höchſter Trumpf bejtand jedoch darin, daß er bie Pris vilegien der Stadt, bie fie von ihm und feinen Vorgängern empfangen, weil fie mißbraucht und nicht gehalten feien, einfach widerrief und für ungiltig erflärte. Praktiſch bewies er biefe Haltung, indem er die vorgewiefenen Briefe und Siegel weber fehen noch die Urkunden verlefen laſſen wollte.

Auch im Einzelnen weiſt Blantenfelds Verhalten während ber Verhandlungen viele unangenehme Züge auf: Gemaltfamteit und Unzuverläffigfeit werden ihm nicht ohne Grund vorgeworfen. Infolgedefien findet die Stadt die Sympathien nit nur ber Rigiſchen und Revalſchen Ratsjendeboten, fondern auch ber Edel- Teute bes Stifts, die ebenfalls an ber DVermittelung arbeiten. Nur die Meine Gilde ſcheint für den Biſchof Partei ergreifen „Verhandeling tüsschen dem hern von darpte unnd der Stadt darsulvigest“ (10 fol., zwiſchen fol. 6 und fol. 7 ift cin FofioBlatt ausgefcnitten). Ver

zeichnet ift dieſes Schriftftüc in der Brieflabe I, 2, ©. 238. 8

86 Johann von Blantenfelb.

zu wollen: es ift nicht deutlich, wodurch fie dazu bewogen ift und ob ber Biſchof felbit auf fie derarligen Einfluß gewonnen hat, um ber Stadt in ihrem eigenen Lager Feinde zu erweden.

Dennoch fommt der Streit zu einem unerwartet guten Ende: der Rat huldigt dem Biſchof, dieſer ftattet ihn aufs Neue mit Privilegien aus und giebt auch fonft teilmeife nad. Wie das eigentlich gekommen ift, läßt fid) darum nicht jagen, weil ein ganzes Blatt an der enlſcheidenden Stelle ausgeſchnitten iſt.

Doch trog dieſer Verjöhnung ift die Mißftimmung geblieben: es ſcheint doch eine ſolche Füle von Zündftoff angehäuft geweſen zu fein, daß folh ein Kompromiß nur einen Waffenftillftand bebeuten Fonnte. Klar und deutlich war ja bei biefer Gelegenheit zu Tage getreten, daß die Stabt in Blanfenfeld einen prinzipielle Gegner ihrer Freiheiten befaß. Er hatte aud) Hier feinen Gegenfag zu ber Geſchichte des Landes offenbart.

Aud in feiner äußeren Politit zeigte ſich diefelbe Stimmung: auch Hier dachte er nicht an bie gemeinfamen Intereſſen bes Landes, fondern hatte allerlei perfönliche Zwede im Auge. Viel: leicht wirkte er im Intereſſe feines alten Herrn, des Hodmeifters, wenn er von ſich aus ein möglichſt gutes Verhäliniß zu ben öftlichen Nachbarn unterhielt. Es wird von ihm gejagt: „Er hat alle Wege gute Nachbarfhaft mit den anftofenden Amtleuten ber Mostowitiihen Reußen fowohl als mit den Anbern gehalten, fehleunig gut Recht denfelben gepfleget und mieberum genommen. Deshalb der Großfürft und dieſelben feine Amtleute ein gut Gefallen an dieſem ihrem Nachbar getragen!“ ). Er ließ fi auch durch den Hochmeiſter unmittelbar der unit des Großfürſten empfehlen, bamit dieſer nach wie vor feinen Vefehlshabern und UntertHanen in Nowgorod und Plesfau befehle, die Lande bes Biſchofo nicht zu behelligen 2). Die Zweckbeſtimmung, welde ber Großfürft dabei ausipricht, lautet fonderbar genug: „damit ber Biſchof ihm diene” %. Wie das gemeint ift und ob biefe Zweck- beftimmung mit Einwilligung Vlanfenfelds aufgeftellt ift, das müßte noch erft unterfucht werden.

1) Dot. Schiemann: Rußland, Polen und Liolan 2) Joadim a..0.D. IL, S. 54 und S. 210 |, 3 Großfürften auf die verjchiedenen Vorträge Schönbergs bei %) a. a. D. „opiscopus autem nobis ut serviret“.

II, ©. 208. , die Antwort des nen Rälen.

Johann von Blantenfelb. 37

Soviel ift Mar: Blankenfeld hielt ſich vom livländiſchen Teil des Ordens gefondert und wirkte auch hier ber naturgemäßen, dem Lande einzig vorteilhaften Entwidelung, bie dem Orben immer mehr die Stellung einer Vormacht zumies, entgegen.

Es ift nicht zu vermunbern, wenn alle biefe Bejtrebungen bes neuen Biſchofs ernſte Mißſtimmung auch außerhalb feines eigenen Gebiets erzeugten. War doch ſhon überhaupt bie Unzu- friebenheit mit dem geiftlihen Stande und feinem Treiben ganz gefährlich herangemwadjfen. Die Verhandlungen auf den Landtagen des legten Jahrzehnts vor’ ber Reformation legen mannigfad Zeugniß dafür ab). Den Landtag von 1520 wagt Blantenfeld auf Anraten feiner Stiftsräte gar nicht zu beſuchen. Indeß läßt er ſich durch das Mikvergnügen der Stände in feinen Unterneh- mungen nicht beirren: er ift von dem Recht feiner Handlungsweiſe feft überzeugt. Viele Verleumdungen hätten ihn getroffen, bie Zeit werde bie Wahrheit an den Tag bringen, ſchreibt er 2). Gerade in diejer Zeit hat er das von Joachim von Brandenburg ihm angetragene Bistum Havelberg ausgeſchlagen: er wolle bei feiner Kirche bleiben ?). Liebe zum Lande war das indeß nicht, was ihn fo fpreden ließ. Eben damals äußerte er ſich jehr verächtlich über bie Entlegenheit biefes Landes *). Cr ſcheint einen befonberen Beruf in ſich gefühlt zu haben, gerade bier feine Thätigfeit zu entfalten; wir gehen mohl nicht irre, wenn wir biejen Beruf „in der Erhaltung der geiſtlichen Oberhoheit” fehen.

Es hanbelte fid) in ber That bereits um beren „Erhaltung“, denn die Wellen der von Luther ausgegangenen Bewegung hatten ſich allmählich dem Hauptbollwerk der mittelalterlichen Kirche genãhert: ber biſchöflichen Gewalt über Seelen und Leiber ber

1) Schiemann 0. a. D. ©. 192 f.

2) C. Shiren: Verjeichnißz lidländiſcher Geſchichtsquellen in ſchwediſchen Archiven und Vibliotheten Band I, Heft I, Dorpat 1801, ©. 22, vom 1. Oftober 1520.

% €. Schirren a. ©. ©. 22. Roch 1517 hatte Leo X. in einem Breve (vom 14. Sept.) ihn dem Aurfürften Joachim von Brandenburg für den Fall der Valang eines feiner Bistümer empfohlen (Hildebrand a. a. D. ©. 82). Dfne Zweifel geſchah das auf Blanlenfelds eigene Veranlaffung. Die neuen Pläne, bie ihn feit der zweiten Ankunft in Sioland beicäftigten, müfien aus) in Diefer Bepiehung die Sinnesänderung bewirkt Haben.

4) Hildebrand a. a. D. ©. 82.

3 Johann von Blantenfelb.

Chriften. Zu feinem Entfegen Hatte Blankenfeld wahrnehmen müffen, daß biefe Bewegung, ber er bereits in Berlin entgegen getreten war, nunmehr in feinen eigenen Sprengeln jpürbar wurbe. Gerade im Jahre 1520 ſcheinen bie erften reformatorifchen Negungen ſich in Dorpat gezeigt zu haben. Es war das Jahr, da die großen Reformationshauptihriften Luthers erſchienen, beſonders diejenige „von der babyloniſchen Gefangenſchaft ber Kirche”, die zuerjt bie ganze Tragweite ber Bewegung erkennen ließ. Denn hier erſchien die Saframentslehre ber Kirche angegriffen; auf ben Saframenten aber und ihren geheimnißvollen Kräften, die für die Gläubigen bewahrt und verwaltet werben mußten, beruhte die Macht, die Unentbehrlichkeit ber hierarchiihen Kirche, bie Notwendigkeit ihrer Jurisdiktion. Luthers Schriften werben es geweſen fein, melde aud in Livland hauptfählich bie Propaganda für feine Lehre bejorgten. Gegen fie wird fi auch Blankenfelds Gegenwirkung gerichtet haben. Wir hören von einem bifhöflihen Mandat in Dorpat ?), das wahrſcheinlich die Auslieferung und Verbrennung der Lutherſchen Schriften verlangt haben wird). Aber ben Gehorfam „einer lieben, treuen Kirchenſtadt Dorpat” hatte Blan- tenfelb ſchon um weltlicher Angelegenheiten willen fo fehr über- anftrengt, daß er in geiftlichen erſt recht nicht auf williges Gehör rechnen durfte.

Die Verbreitung des Mandats ift in der That auf Hinderniſſe geftoßen. Blankenfeld ſcheint ihrer zwar Herr geworden zu fein, aber bo nur mit Mühe, fo daß er eine Bifitationsreife durch fein Revaler Bistum nicht eher antreten will, als bis er vom Hat zu Neval eine Antwort erhalten, wohl des Inhalts, daß biefer ihn bei feinem Vorgehen zu unterftügen bereit fei und jedenfalls feinen Wiberftand leijten werbe. Bei biefer Gelegenheit äußert fi) Blan- tenfelb über ben Zwed feiner Neife mit ber üblichen Salbung, die doch feine Abficht, das Alte um jeden Preis zu erhalten, deutlich durchblicken läßt. „Er ſuche in biefer Rundreiſe neben vieler Mühe und aufgeladenem Ungemad) nichts als Lob und Ehr’

%) ©. 0. Hanfen: Die Kirchen und ehemaligen M öfter Revals, 3. Aufl., Real 1885, S. 181.

u) raphim: Geſchichte Liv«, Eit- und Kurlands, Band I, Reval 1895, &. 205; er fheint Das aus ben Angaben bei Hanfen über jenen Brief Blantenfeld8 an den Rat von Real zu fließen, vielleicht mit Recht.

Johann von Blantenfeld. 39

des allmächtigen Gottes und Seiner lieben Heiligen, er ſuche Troft mancher hriftgläubigen Seelen und Erhaltung ber geiftlichen Ober- Hoheit” 1).

Aus biefer Anfrage blidt aber ſchon bie Furdt vor eben folhen Erfahrungen durch: in ber That war in Neval die Stims mung fehr erregt; der Rat muß vor höhnifchen Reden gegen bie Prozeſſion am Frohnleihnamstage warnen, doch erſcheint der Nat felbft durdaus noch aftfirhlid gefinnt 2). Wie es Blankenfeld damals in Neval ergangen ift, wiffen wir leider nicht, find auch fonft über feine Politit in den Jahren 1520 und 21 noch faum unterrichtet °). ebenfalls läßt ſich aus den Ereigniijen bes Jahres 1522 fließen, dab fein Verhalten in biefer Zeit die Stimmung in Stadt und Land immer mehr gegen ihn eingenommen hat. Es bedurfte ſeinerſeits nur des geringiten Vorftoßes auf weltlichen oder geiftlihem Gebiet, um einen öffentlihen Konflikt herauf zubeſchwören.

In Reval war im Jahre 1522 das Verhältniß zwiſchen Nlerus und Laien fo geipannt, daß ber Nat, noch bevor er zu Gunften ber Neformation Stellung genommen, jegliche Beihülfe zur Verfünbigung des Wormfer Edikts verfagte. Auf Blantenfelbs Anfinnen antwortete er in zwei noch erhaltenen Briefen +): im erſten verbat er ſich „old ein Verbannen und Abjondern”, ba die Stadt fih unſchuldig wiſſe. Nur Mißhelligkeit und Parteiung zwiſchen Geiftlifeit und Laien fei von ber Verkündigung bes Editts zu erwarten. Im zweiten Briefe erklärt ber Rat bie Ver— fündigung geradezu für ſchädlich. Die bisher unbefannten Artitel Luthers würden fid) verbreiten und dadurch würde „nicht geringe Urfache bes Aergerniſſes, fremder, ſchädlicher Bekümmerniß und zweifelmütigen Mißdünkens gegeben werden. Nur was Biligfeit und Geredtigfeit erfordern, jei der Nat zu thun bereit. Dian

%) danſen a. a. D. ©. 131.

9) ©. ». Yanfen im Ardio für die Geſchichte Livs, Eft- und Aurlands, IIE. Folge, 4. Band (Regeften aus zwei Miffivbüchern des 16. Jahrhunderts im Nevaler Stadtarchiv), Ar. 161.

%) Seine Teilnafme am Präfatentage zu Ronneburg (Juli 1521) ift bereits erwähnt worden, dal. oben ©. 33.

9) Bgt. Hanfen im Mechio, TIL. Folge, 4. Bd., Nr. 197 (7. Märy 1522) und 200 (1. April 1522). Bolftändtg gebrudt in Hanfens Kirchen und Alöfter Noals, 3, Beilage XI, ©. 207 f.

40 Jobann von Blankenfelb.

erfennt beutli bie Stellung bes Rates zur Cache: bie ganze Angelegenheit Luthers it ihm nod) völlig fremb und fogar unfym« pathifeh; ebenfo wenig vermag er aber gegen fie Partei zu nehmen, denn der vom Luther angegriffene Klerns ift dod noch viel unſym⸗ pathifcher, und fein Bemühen, jeben Wiberfprud im Keime zu erftiden, foll nicht unterftügt werden. Der Nat will ſich nicht mehr zum Vollftreder bifchöflicher Neligionsverfügungen maden, will nicht mehr der Arm ber Kirde fein; er will fih in einer Art Neutralität halten. Revals politiſche Stellung gegenüber dem Viſchof gab die Möglichleit dazu. War dod ber Vifhof Hier nicht Sandesherr, ja übte nicht einmal biſchöfliche Nechte über bie ſtãdtiſchen Kirchen aus !).

In Dorpat, wo der Biſchof beiderlei Rechte beſaß, war bei feiner Gefinnung in firhlihen und weltlichen Dingen bie Lage viel gefährlicher. Der nur mühſam beichwichtigte Streit mit ber Stadt und die immer nod; ſchwebenden Ziwiftigfeiten mit ber Ritterſchaft mußten zu einer Krifis führen. Auch der Stadt gegenüber ſcheint Blankenfeld jegt das Näherrecht bei Verfauf und Verpfändung der Lehnsgüter beanjprucht zu Haben ?). Selbſt bei dem brohenden Anwachſen ber dem Klerus feindlichen Stimmung war er nicht zu bewegen, auf bie Pläne weltlicher Machterweiterung zu verzichten. So bradjte er es dazu, daß Stadt und Land, fonft durch verſchiedenartige Intereſſen vielfach getrennt, zu gemeinfamem Widerſtand gegen den Landesherrn ſich vereinigten. Am 9. April 1522 erneuerten Ritterſchaft und Stadt auf der großen Gildeſtube zu Dorpat eine ſchon 1478 geſchloſſene Einigung zu Schuh und Trug). Die Einigung trug fofort auf dem im Juni 1522 zu

1) €. v. Rottbet und W. Neumann : Geſchichte und Kunftbenfmäler ber Stadt Reval, 1. Lieferung, Reval 1896, S. 11 f. und Anm. Seit dem Jahre 1284 befand ſich der Hat im Befig der geiftlicen Nechte (wie ſolches auch in Wübed der Fall war); beren Umfang war freilich ftritig, doch befaßte er wohl „die Dispofitionsbefugniß; über die Kirchen, deren Vermögen und die Anftellung der Geiftlichen." Wem das geiftfiche Gericht zuftand, war fittig. Dem Bifhof eigneten alfo nur die eigentfich geiftlichen Handlungen.

2) In der unten S. 47 zu ermäßnenben Privilegienbeftätigung für Kapitel Ritterſchaft und Stadt Dorpat vom Jahre 1524 iſt ausbrüdlich der Nitterfhaft wie der Stabt zugelagt, daf der Biſchof „uck in kopinge ader vorkopinge eror guder keyne upbedinge van en begern“ werde. Unter den Streit. puntten vom 1519 findet ſich biefer noch nicht.

%) Bienemann: us Liviands Suthertagen, ©. 11 f.

Johann von Blantenfeld. 4

Wolmar zufammentretenden Landtag !) ihre Früchte. Noch vor Eröffnung der Landtagsverhandlungen erweiterte ſich der Bund der Dorpater Stände zu einem folden aller livländiſchen Nitter- ſchaften und Städte. Es waren vor Allem die Beſchwerden gegen bie Prälaten und Geiftlihen, deren Abftellung ben Verbündeten am Herzen lag, und zwar galt e8 ben auswärtigen Einfluß in jeder Form, wie er durd) bie Intriguen der Prälaten in Rom und am Raiferhof beftändig ins Land gezogen wurbe e), auszufchliehen. Die Wahl der Biſchöfe durd bie Stände, die Abwehr der Ein- miſchung fremder Fürften, römiiher und anderer Prozeſſe, das war bas Programm der Stände. Die Gefahr erfdien denn aud ben Prälaten jo groß, daß Blankenfeld, von Plettenberg dazu veranlaßt, fchleunigjt einlenfte und menigftens in der Lehnsgüter: frage milbere Saiten aufgog, aber aud) überhaupt die Rechte feiner Stände unangetaftet zu lafien verſprach. Auch er lieh fih nun verlauten, daß nichts nüglicher fei, denn Liebe und Eintradht.

Die Stände liegen fih in ber That zu einigen Konzeſſionen bewegen: fie wollten die Forderung einer Biſchofswahl durd alle deutſchen Stände nicht aufrecht halten; die Wahl durch das Kapitel genügte ihnen.

Ueberhaupt war man hier burdans nicht auf Neuerungen bebadht, nur auf Feitigung der Verhältniffe und Schub des Landes gegen auswärtige Einflüffe. Inſofern begegneten ſich die Beftre- bungen ber Städte mit denen bes Herrmeiſters: biejer ſcheint ſich in ber That bei den DVerfiherungen der Stände über bie Ziele

4) Ueber die Vorgänge auf dieſem Sandtag vgl. Vienemann chenba, ©. 12-18.

2) Auf dem Reichstag zu Worms hatten die Prälaten ſich eine faiferliche erorbnung zu vericaffen gemußt (atirt vom 12. Januar 1621), bie den Schub, dee Rigaer Grgbistums und der Bistümer, befonbers ihrer bonn, Jura, privilegis, immunitetes et libertates verfhiebenen hohen Potentaten übertrug: dem König von Dänemart, Joachim von Brandenburg, dem derzog von Medlenburg, bem Großfürften von Litthauen, aber auch dem Hocmeifter, bem fiofändifchen Orbens« meifter, den Magiftraten ber Yanfeftäbte, beſonders Lühels (gebrudt in Monu- menta Livoniao antiquae, Band V, Riga und Seipgig 1847, „Urkunden und Atenftüce zur Gedichte des Erzbiſchofs Wilhelm von Riga und feiner Zeit", ©. 127 fi). Dah diele Verordnung auch auswärtigen Staaten, befonders Lit: tauen, das Hecht gab, ſich in die Koländifcien Angelegenheiten zu milden, tonnte der Stellung der Prälaten teineßwegs günftig fein. Im der näcften Zeit Hören wir freilich weber von ihrer Aufnafme noch von ihrer Wirtung.

2 dohann von Blantenfelb.

ihres Bundes vollflänbig beruhigt zu Haben. Nicht fo Kievel und Blankenfeld: das Beharren der Stände auf den übrigen Punkten ihres Rezeſſes verjegte fie in einen folhen Zorn, daß fie vor ber Zeit den Landtag verließen, „alles ungeſchlichtet und ungeichlofien faffend.“ Cs war ihnen wohl völlig deutlich geworben, ba; fie als bie eigentlich gefährlichen Elemente im Lande betrachtet wurden. Auch in kirchlicher Hinficht Hatten fie ſchwere Enttäufhungen zu erleben gehabt. Gie waren mit ben auf dem Prälatentag zu Nonneburg (Juli 1521) getroffenen Vereinbarungen zwar durch⸗ gebrungen, infofern als biefe fich auf firhliche Vormögensverhättnifie, fleißige Predigt des Wortes Gottes und Sorge für guten Kirchen- beſuch der Bauern bezogen. Aber fogar bem am ſich fehr lobens— werten Plan gegenüber, eine Hochſchule im Lande zu begründen, verhielten ſich Nitterihaften und Städte mehr als zurüdhaltend. Sie Hatten zwar nichts dagegen, wollten aber dieſe Hochſchule nicht auf ihrem Gebiet haben. Sie befürchteten wohl, es möchte ſich nur um eine Art von Pflanzſchule für die fo verhaßte Gefin- mung der Prälaten Handeln.

Vollftändig unzweideutig war aber in biefer Beziehung das Verhalten ber Stände in der Sache Luthers. Das Verlangen der Bräfaten, Luthers Lehre förmlich vom Landtag verworfen zu ſehen, fand feinen Beifall. Cs wurde ihnen anheimgeftellt, in ihren Diözefen bie päpftlie Bulle gegen Luther verlefen zu laſſen. Die Stände felbft Dagegen verweigerten es, fi) eher mit der Sache zu befaſſen, als bis fie auswärts durch bie maßgebenden Gewalten der Chriftenheit, womöglich durd ein Konzil, entſchieden wäre. Außerdem aber gedachten fie weder hierin nod in anderen Sachen Mandate und Bann im Lande zu dulden. Die Stände waren eben nicht gewillt, biefe Präfaten, deren Art und Charafter fie hinlänglich kannten, als Richter anzuerkennen; fie jahen in ihnen nur eine Partei. Den eigentlichen Grund der Reformations- bewegung erfannten fie noch nidt: noch war auch hier, wie jo vielfad) in Deutichland, die Gedanfenwelt bes 15. Jahrhunderts vorherrſchend, die alles Heil vom Konzil erwartete und in ber Abftelung von Mißbräuchen, in ber Beſchränkung der biſchöflichen Macht die einzig mögliche Reformation erblidte. Dennoch zeigt die Begründung, welche die Stände ihrem Votum gegeben Haben, unverkennbar, wie fern fie ben Ideen jtanden, von denen aus bie

Johann von Blankenfelb. 48

Stiftung ber livländiſchen Stanten erfolgt war !). „Da diefe Lande nit mit dem Bann, fondern mit dem weltlichen Schwert erobert unb gewonnen find, wollen wir berhalben aud) nidt mit dem Bann regiert und beſchwert werben.“ Das war nicht hiſtoriſch geurteilt: die Eroberung war allerdings durch das Schwert erfolgt, das Schwert aber war von geiftlihen Ideen und zu geiſtlichen Zweden in Bewegung gefegt worden. Aber Nitterfhaften und Städte waren im Gegenſatz zu biefen Ideen emporgefommen und fühlten ſich ihnen völlig fremd.

Als diefe Erklärung erfolgte, war die Predigt des Evanger liums in Riga bereits eingezogen und die Gemüter der Bürger waren ihr zum großen Teil ſchon zugefallen. Im folgenden Jahre (1523) trat fie bereits im Bereiche der Wirkſamkeit Blankenfelds offen hervor, zunächſt in Reval, wo er ihr aus den ſchon ange: deuteten politiſchen Gründen ziemlich wehrlos gegenüberftand. Dennoch ift er alsbald entſchloſſen geweſen, ben Kampf aufzu- nehmen, aber nit unmittelbar: er ftedte ſich hinter Plettenberg, der eben damals im Begriff ftand, ber eigentliche Landesherr in Reval wie in Harrien und Wierland zu werden. (Bis dahin war es ber Hochmeijter ſelber geweſen, wenn auch nur mominell.) 2).

Auf Blankenfelds Veranlaffung mußte Plettenberg dem Revaler Rat über das Heftige Gebahren jeiner Prediger, über die bereits eingeführten Neuerungen, endlich auch über Aufhegung der Bauern Vorftellungen machen ?). Daneben ließ der Biſchof durch den Orbensfomtur bei ber Stadt jelber Klage erheben, als wäre er von ben Revalern beſchwert und verfolgt worden, freili ohne Näheres anzugeben, von wem oder woburd dies geſchehen wäre *).

9) Es wurde indeb doch auf dem Landtag befchloffen, die Präfaten follten in den Diögefen die pöpftliche Bulle gegen Luther verlefen laffen. Die Sache folte dann vom Erzbifchof für den näciiten Landiag zur Veratung geftelft werben. (A. Volchau in den Nigaer Stabtblättern 1895, Nr. 45 und 46, unter Berufung auf ungebrudte Vorlefungen C. Schirrens.)

>) Bal. Schiemann a. a. D. I, S. 190 ff. Am 14. Januar 1525 ift die Angelegenheit zum Abſchluß gefommen. Am 19. März 1525 ritt Plettenberg in Reval ein, um fid) bort als eigentlichem Landesherrn huldigen zu laffen, was am 23. Märy gefchah (Nottbed und Neumann a. a. ©. I, ©. 45).

9) G. Hanjen: Aus baltiicer Vergangenheit. Miszellaneen a. d. Nevaler Stabiarhio, Aeval 1894, ©. 123. Der Brief ift vom 8. März 1624 datirt.

4) Antwort des Revaler Rats vom 19. April 1524 bei Yanfen: Die Kirchen und Kföfter Revals, 3, Beil. XIL, S. 210 j.

4 Johann von Blanfenfelb.

Ja, er hielt es für ber Mühe wert, gegen einen Kaufgeſellen beim Reichskammergericht Magbar zu werben, weil dieſer „ganz unmeije und undiemliche Worte geführt“ Habe !).

Doc) konnten derartige Bemühungen die Stadt Reval nicht daran verhindern, auf dem Wege der Neformation fortzuichreiten. Blankenfeld mußte ruhig zufehen, wie im Dominitanerflofter evan- geliſche Prebigt eingeführt, wie ein Teil des Kloſlergutes von der Stadt in Verwahrung genommen wurbe?). Freilich, wo er etwas zur Behaupfung feiner Stellung thun fonnte, da that er es: er verweigerte ber Stadt die von ihr verlangte Verminderung der Zahl ber Feiertage, verfagte den Ehen der aus dem St. Micjaelis- Nonnenffofter entflohenen Rlofterjungfrauen bie kirchliche Anerten- nung ®), aber fein Bemühen war dod vornehmlich darauf gerichtet, den Meifter und die Nitterfhaft von Harrien-Wierland gegen bie Stadt in Bewegung zu ſetzen. Das war nicht ſchwer, infofern bei Plettenberg wie bei den Vertretern ber meiſten Nitterihaften zwar für die unverfälfchte Predigt des Wortes Gottes viel Eym- pathie vorhanden war, aber dabei wenig Verftändniß dafür, daß diefe Predigt auch mit Notwendigkeit die Nbftellung der Tatholifchen Ordnungen nad) fih) ziehen mühe. Solche Folgerung ftellte bie Nedtsgrundlagen in Frage, auf welden das gefammte livländiſche Staatsleben beruhte. Das durfte Plettenberg nimmermehr zulajlen. Denn damit geriet auch bie MWehrfähigfeit bes Landes feinen tingsum (auernden Feinden gegenüber in Gefahr. Cine heue Nechtsgrundlage zu finden war in der ſchwierigen Lage bes Landes taum möglid. Die Nitterfhaften aber waren an ben herrihenden Zuftand durch die verſchiedenſten Intereilen gefettet; von einer Veränderung mußten fie eine ernfie Erjcütterung ihrer Nechts- verhältniffe befürdten.

So lie ſich denn Plettenberg durch eine Klage ber harriſch- wierifchen Ritterfchaft bewegen, in einem Brief an ben Rat die Forderung zu ftellen, daß die getroffenen Veränderungen wieber

1) Brief Pleitenbergs (j. Anm. 3 S. 48) bei Yanfen: Aus baltifcher Berr gangenheit, ©. 124.

2) Diefe Mahregeln gegen die Dominitaner find ausführlich dargefteit bei Hanfen: Kirchen und Klöſter Nevals, 3, S. 133—149.

%) Gbende. Brief Vlantenfelds vom 8. Mai 1524, Beil. X, ©. 201 f.

Yohann von Blantenfelb. Ei}

rüdgängig gemalt, zum Teil fogar beftraft würden !). Es war eine Folge dieſes unbefonnenen Schrittes, daß nun in Neval bie Volfswut gegen den Alerus fid) nicht mehr bändigen ließ und am 14. September 1524 bie äußeren Zeichen bes Katholizismus in wüften Tumulten vernichtete 2).

Der Rat aber konnte nun, nachdem der Zufammendang mit der Vergangenheit aud) äußerlid) zerriffen war, nicht umhin, nad) den Vorſchlãgen der Prediger eine völlig neue Firchlide Ordnung einzuführen). Blanfenfeld Fam babei garnicht mehr in Betracht. Sein eigenes Gebiet, die Domkirche und der Biſchofshof blieben zwar unberührt, aber der Nat verbot ben Bürgern ben Beſuch des bort abgehaltenen Gottesdiejtes ’).

So war bas Nefultat der Bemühungen Blanfenfelds, in Reval die alte Ordnung um jeben Preis aufredht zu halten, ber völlige Verluft feiner Autorität.

* * *

Größere Macht beſaß er in Dorpat, ernftere Schwierigfeiten Tonnte er dort der Reformation bereiten, fo zog denn auch fein Widerftand ihm hier noch jhlimmere Folgen zu.

Seine Stellung war durch die ſchon geſchilderten Streitig- feiten mit der Stadt und Nitterfhaft ſchon ohnehin eine ſchwierige. Auch nachdem er zu Wolmar 1522 eingelenkt, hat er hinterher doch wieder „gegen fein eidlihes Verſprechen“, gegen bie Briefe und Siegel des Erzbiihofs und Meifters die Stadt „an ihren

1) Der Brief (vom 25. Auguſt 1524) ift gebruct bei Hanſen: Die Kirchen und Nlöfter Nevals, 3, ©. 137 f.

?) Bienemann a. a. D. ©. 30 X

3) Bienemann ebenda S.

4) Ebenda S. 49. Mit der if war bei Belegenfeit des Einrities Piettenbergs am 20. März 1525 ein Lergleidh zu Stande gelommen, der jene Bejtimmungen über den Befuch des Domgoltesdienftes zur Folge hatte, ebenfo mie die Anerlennung bes Nonnenflofters St. Michaelis als einer Art tatholifcier Enklove. PicttenbergS Bermittchung war bei diefem Bertrage ent» ſche idend gemefen. Auch ex Hat fich um den viſchof in diefen Fragen nicht mehr gekümmert (ogl. Rotibet und Neumann : Geſchiche der Stadt Neval I, ©. 64 f.; die Grundlage für die Gier gegebene Daritellung iſt der Bericht des Setretärs Marcus Thierbach, abgedrudt in den Beiträgen zur Kunde Ejts, Liv und gur. tands, Band I, S. 217-221). Vlantenfelbs Bemühungen, bie Ritterichaft gegen bie Stadt in der Sache des Nonnenlofters in Bewegung zu fegen, bemeiſt fein Brief vom Sonntag Eraudi 1524.

4 Johann von Blanlenfeld.

Privilegien, Gereditigfeiten, alten, [öblichen Gewohnheiten, Nahrung und Wohlfahrt” „beicwert, verfürzt, benachteiligt und bebrüct” '). Auf foldem Hintergrunde mußte ber religiöfe Konflikt ſich noch ſchaͤrfer abheben.

Die exften reformatoriſchen Negungen zu erftiden war Blan- tenfeld zwar gelungen. ber bie Bewegung fonnte auf bie Dauer vor Dorpat nicht Halt machen. Im Beginn des Jahres 1524 war die Bücgerſchaft für das lautere Evangelium bereits gewonnen. Da aber hier die jtädtiichen Geiftlichen ſich fern hielten, war man genötigt, ſich auswärts nad) einem Prediger umzufehen. Die Wahl fiel auf den Nigenfer Hermann Marjow, der zu Witten: berg ftubirt hatte und vielleiht von Luther felbit empfohlen worben ift. Raum aber hatte Blanfenfeld von diefer Wahl gehört, fo erklärte er: „Da ſie ſich erdreiftet, ben Prediger ohne feinen Konjens und Mitwiſſen in die Stadt zu holen“, jo müßten bie, bie ihn hineingebradht und mit Nat oder That dazu geholfen Hatten, verzeichnet und in billige Strafe genommen werben. Er wolle ihn nicht dulden, wenn er aud) fünf oder, wenn von Nöten, zehn Finger daranfegen follte®). Der Nat, in dieſer Not von der vor: fihtig fih zurüdhaltenden Nitterfhaft verfaffen, fah ſich genötigt nachzugeben: bie Gemeinde aber erklärte, fie fei nicht gefinnt, das göttliche Wort zu entbehren ).

Vom 17. bis zum 23. Juli 1524 tagte in Reval ein Stände tag, eine Folge des Gtändebündnifies von 1522°) Da famen alle die gemeinfamen Nöte der Stände, wie fie befonders durch die Biſchöfe Kievel und Blanfenfeld verurfaht waren, zur Sprade. Hier gedachte auch Dorpat Unterftügung zu ſuchen. Aber fo jharf damals aud) die allgemeine Stimmung gegen die Prälaten gerichtet war, bie Stände verwiefen bie Stadt Dorpat doch noch auf den Weg gütliher Lermittelung und Vereinbarung: nur für den

1) C. Rußwurm, SM. aus Nacht. über d. Geſchl. Ungern-Sternberg : Der Ständetag zu Reval im Juli 1524, Reval 1874, ©. 2.

>) Kubwurm, Ständetag, ©. 6 f. 3) Ebene ©. 7.

+) Rußmwurm a. a. D. giebt den Rezch diefer Verfammlung im Auszug wieber. Bei biefer Gelegenheit fam auch eine fehr darakterifilhe Intrigue Blanlenfelds zur Sprache er batte das Gerücht ausgelprengt, als hätte Riga ihm die Alleinherrſchaſt über die Stadt angetragen. IS er barüber zur Rebe geitellt wurde, ſuche er die Schuld an dem Gerücht auf Dorpais Vürgermeifter und einige Bürger zu ſchieben (ebenda S. 3).

Johann von Blantenfelb. 4

äußerften Notfall fagten die andern Stäbte ihre Hülfe zu. Dennoch machte dieſe immerhin einmütige Kundgebung ber Stände Eindrud: mahrfcheinlih dank den Bemühungen Plettenbergs verſtanden ſich bie Prälaten zum Nachgeben ; in kurzer Zeit folgten einander bie Privilegienbeftätigungen für bie Nitterfchaften des Erzftifts Niga !) unb des Stifts Dejel:Wiel?); aber auch Kapitel, Ritterfchaft und Stadt Dorpat erhielten in biefer felben Zeit, am 19. Oftober 1524 9), alle gewünfchten Zufiherungen. Selbſi in ber Religions: frage gab Blankenfeld foweit nach, daß dem Volle „das Wort Gottes und das Heilige Evangelium” „von denen, weldien es gebührt, lauter und unverfälfcht geprebigt werben“ follte, „nad) dem alten und neuen Teſtamente“, aljo nicht nad) den Satzungen ber rõmiſchen Kirche. Nur Hinfichtlih der kirchlichen Gebräuche dürften feine Neuerungen ober Veränderungen ftattfinden, bis „die gemeine Chrijtenheit” „Hierin was änbern oder orbnen” wollen würde, alsbann würde auch ber Biſchof fi den Andern „gleich: förmig erzeigen“ und es „gehorfamlid) annehmen.” Endlich follen inzwiſchen in Predigten und fonft Scheltworte und anderes unbilliges Vornehmen gegen Geiftlihe und Weltlihe bei Strafe vermieden werben.

So ſchien auch Blankenfeld ſich auf den Standpunkt Bletten- bergs ſtellen, die reine Predigt zwar anerkennen, die Folgerungen daraus aber verleugnen zu wollen. Aber wie wenig bas aufrihtig gemeint war, zeigt bie Thatjadhe, daß doch nichts geſchah, um der Gemeinde das reine Wort Gottes zu verihaffen, nad) dem fie verlangte. Auch Marſow kehrte nit zurück.

War der Durft nad dem Worte Gottes auf georbnetem Wege nicht zu ftillen, fo wandte er ſich um fo begieriger frei und ungeregelt fließenden Quellen zu. Der berufene Prebiger war ausgeſchloſſen: fo eröffnete ein Unberufener feine aufregende, ja aufreigende Thätigfeit, der fog. Laienpelzer, Meldior Hofmann BE. unten ©. 58.

2) Gebrudt in: Neue nordifhe Miszellaneen, IX. und X. Stüd. Riga 1794.

®) Die Mögliceit der Venuhung biefer noch nicht verwendeten Urfunde verbante ic, ebenfalls der Güte bes Herrn Stadtardjivar H. Lichtenftein in Dorpat, der bie im Siadiorchiv zu Meval aufbewahrte Abſchrift Fopirt und ein Regeſi hergeſlellt Hat (da Driginal iſt verloren). Lerzeichnet iſt biefe Unfunde Briefe lade 1,2, ©. 298.

s Johenn von Blanlenfeld.

aus Schwäbiſch-⸗Hall i) im Herbſt 1524°). Die Reformation ber fichlien Ordnungen war verweigert worben: fo erfolgte nun ein Umfturz aller Ordnungen. Hofmann rief ja nicht geradezu zur Gewalt auf, aber der Heftige Tadel der beitehenben kirchlich⸗ welt lichen Zuftände, das Leben und Weben im Gebanfen an ben zukünftigen Zorn Gottes, in prophetiihen Bildern und Wendungen, Ales das brachte doc) in den Gemütern feiner Anhänger eine tiefe Spannung hervor. Aber da dieſe fich in wilden Unruhen entlud, das hat doch nur unbegreiflice Verblendung und Ver: ftänbnißfofigteit ber regierenden Perfönlichfeiten verfduldet. Blan— tenfelb jelbit war es, der das Thörichtefte that, was er thun konnte. Er gab feinem Stiftsvogt, Peter Stadelberg, den Befehl, Hofmann gefangen zu nehmen. Das ward das Signal zum Aufruhr. Bei ber Befreiung Hofmanns floh Bürgerblut. Da ein Angriff gegen ben Domberg nicht gleich gelang, wälzte ſich ber erregte Haufe gegen die ftäbtif—hen Kirchen. Der ganze Kirchenſchmug wurde zerſtört oder verbrannt. Dann famen bie Rlöfter an bie Reihe: man jchritt hier jofort dazu, alle am ihrem Gelübbe feit- Haltenden Mönde zu vertreiben. Cnbli gelang es, auch bie Domtirche zu erftürmen; felbft bie Rapitelhäufer blieben nicht verfchont. Nur das Schlog war dem Stiftsvogt noch erhalten geblieben. Das war am 10. Januar 1525 geſchehen ).

1) Ueber ihn ngl. 3. O. zur Linden: Melchior Hofmann, ein Prophet der MWiebertäufer, Haarlem 1885 und 2. I. Leenderp: Melchior Hofmann, Hanrtem 1883 (Holländifch). Cine jehr gute Daritellung giebt C. U. Cornelius: Geſchichte des Münfterifcen Aufruhrs, Leipzig 1860, Band 2, ©. 81-0 und Beilage X, 287—90, über die chronofopifehe Frage ſchon ſehr richtig urteilend.

®) Hildebrand a. a. D. ©. 19,

®) €. Seraphim (Geſchiche Lior, Eit und Aurlands, I, Reval 1805, &. 281-8) verteilt die erwähnten Greigniffe auf ben 10. Januar 1625 und den 31. Mai 1520 (das Froßnleihnamsfeit) und den nächitfolgenden Sonntag. Lehtere Daten wollen wohl der Erzählung des fatholiic gefinnten Tilmann Bredenbadh gerecht werden. Das Wer dieſes Mannes, Belli Livonici historia (gebrudt bei Ab. Starezewöti: Historine Ruthonicae seriptoros oxteri, Bd. I, Berlin und Petersburg 1841, p. 17—28) it wohl Cöln 1504 zuerft erichienen und verfaht nach den Erzählungen des Dorpater Domherrn Philipp Omen ; aber auch dieſer it erft 1551 nad) Dorpat gefommen und hat bie Greigniffe ber Heformationggeit nur aus den Verichten Anderer fennen gelernt, ift darum qronologiſch nicht zuverläffig (er gicht fogar das Jahr 1527). Dagegen befigen

Johann von Vlantenfelb. 9

Die Nachricht vom Blutvergießen verbreitete ſich raſch im Lande, Sie raubte dem Biſchof die legten Sympathien bei ber Dörptichen Kitterichaft und ben Städten. Reval fanbte bewaffnete Hülfe, vor welcher ber Stiftsvogt es für gut befand, auch das Schloß zu räumen. Da griff bie Ritterſchaft ein und nahm es zufammen mit Rat und Kapitel in Verwahrung. Dit dem Kapitel wurde in der That eine Uebereinfunft gefchloffen, ber zufolge der Dom dem latholiſchen Gottesdienft eingeräumt werben mußte, mährend ber Rat, wie in Reval, den Bürgern jede Beteiligung baran verbot. Der Streit mit dem Biſchof war durch alle diefe Vorgänge unheilbar geworden. Auch daß der Meifter zu vermitteln fuchte und für ihn warm eintrat, war umfonft; es war freilich nicht recht begreiflich, mie er barauf hinweifen fonnte, der Biſchof habe ſich den ftänbifchen Privilegien und Freiheiten nie feindlich erwiefen, fo daß man auch ihn bei feinen Gerechtfamen laſſen müſſe. Derartige Vermits telungsverſuche konnten nicht zur Beruhigung beitragen. Aber aud der Biſchof ſelbſt Hinderte jede Verföhnung: er erklärte bie Dorpater für feine offenbaren Feinde und fperrte ihnen das freie Geleit. So gelangte er denn auch nicht wieder in ben Beſit

wir in gleichzeitigen Quellen die beſtimmteſten Angaben barüber, daß ſchen während des erften Aufenthalts Hofmanns in Dorpat der ganze Bilberfturm fic) abgefpielt Hat ; der zweite Aufentpalt (nicht 1526, fondern Spätfommer bis Enbe 1525) zeigt Hofmann nur im Gegenfag zu den coangeliichen Predigern und Höchften gu den Ichlen, noch nicht außgerolteten Reiten des Ratgolizismus (ogl. Linden S. 47—56 und R. Hausmann in dem Ariifel: Die Monftranz des Hans Ruffenberg. Mitteil, a. d. fiol. Geſch. 1000, Bb. XVII, ©. 187 bis 194). Jene gleicpeitigen Quellen find: Sivefter Tegetmeyers Tagebuch (Reue Ausgabe von F. Vienemann, Mitteilungen a. d. lidi Geſch. Band XII und bazu in Band XIII von 9. J. Vöthführ: Einige Bemerkungen zu Siloefter Tegetmegers Tagebuch, bei. S. 05—72), dem zufolge jene Vorgänge im Jahre 1525 ury nach Weihnachten fic) ereignet Haben. Da damit Weihnachten 1524 und nicht 1525 gemeint ift (ngl. auch Linden S. 49 Anm. 2), ergiebt ſich aus dem Herrmeifterlicen Komzeptbuc; im Schwediſchen Neidsargio, von dem 9. ildebrand a. a. D. ©. 18 f. Kunde gegeben hat. Bier iſt ausbrüdlich ber 10. Januar 1525 genannt. Die dort und hier wie bei Vredenbach gefdilderten Vorgänge find diefelben. Cine Beftätigung diefer Angabe gewähren auch bie Alten des Progefies, den ber Dorpater Domherr Leonhard Niderhof gegen bie Stadt Dorpat wegen Landfriedensbruchs anftrengte. Sie Gaben fih nad im Neichskammergerichtsardjio zu Weplar erfalten und find dort von Profeſſot Dr. Hausmann aufgefunden worden (vgl. R. Hausmann a. a. D, ©. 191 und 193). 4

50 Dohann von Blantenfeld.

feines Schloffes'). Damit war ihm aber auch im Wefentlichen die landesherrliche Gewalt verloren gegangen. Das war das Refultat feiner Dorpater Wirkſamkeit.

*

Aber fein Ehrgeiz, noch mehr vielleicht der Eifer für feine Sache, bie Sache ber geiftliden Gewalt und ihrer Befeftigung, feloft auf Koſten der Landesintereſſen, hatten ihn noch meiter getrieben, fie hatten ihm auch den erzbiſchöflichen Stuhl von Niga verſchafft und als lehtes Ende feiner Beftrebungen ben Verluſt feiner Freiheit und Selbftändigfeit.

Moglicherweiſe hat Blankenfeld ſchon feit feiner endgültigen Ueberfiebelung nad) Tivfand ganz bewußt den Befig ber Rigaer Erzbifchofswürde erftrebt. Jedenfalls hat er von ba an geheime Beziehungen zu dem Rigaer Siadtſekretär Johannes Lohmüller unterhalten, dem befannten Förderer der Reformation in Riga.

Seit aber Riga von der reformatoriichen Yewegung ergriffen war, ſcheint Blankenfeld es als feine Pflicht angeſehen zu haben, die Widerſiandokroft bes alten Erzbifchofs Jasper Linde zu ftärten. Auf feinen Rat Hin ift die Geſandtſchaft ber Mönche ausgerüftet worden, bie gegen bie reformatorifch gefinnte Stabt päpftlide und kaiſerliche Strafbefehle auswirken follte*). Faſt um diejelbe Zeit famen aber aud) Blanfenfelds private Pläne zur Reife: er lieh in Rom Schritte thun, um feine Ernennung zum Coabjutor bes greifen Erzbiſchofs durchzuſetzen. Zugleich beauftragte er Lohmüller, bei Rat und Gemeinde für feine Anerkennung zu wirken ?). In

1) Die Veſchung des Schloffes, die Vermittekungsverfuce des Meifters, bie Haftung des Bilhofs nat) dem genannten Gerrmeifterlicen Konzeptbuch bei Hilbebrand a. a. D. ©. 19. Auch Hier blieb die Domtirche dem Latyolifchen Gottesbienft noch überlaffen, aber der Rat verbot ben Bürgern unter Androhung einer Strafgahfung von 10 Mark effe und Predigt in ber Domticche zu befuchen. Unter Termittehung der Niterfcaft war dieſer Vergleid) zu Stande gelommen. (Bredenbach a. a. D.)

3) Hadz der Ausfage Vomhouwers. ogl. Ruhwurm, Stänbelag, ©. 11.

3) Ueber bie Begiehungen Blantenfelds zu Lopmäller f. des Lehieren Brief an den Viſchof Georg Polenp von Samland bei ©. R. Taubenheim: Einiges aus dem Leben Mag. Jof. Tohmüllers, Gymn. Progr., Age 1830, ©. 12 fi. Lohmüller befcpuldigt fich zwar felbit in dielem Brief, c8 habe ihn „Die große Verwandtnif mit demfelbigen Banfenfeld gereiget, feine Gottlofigleit fortzufegen, und habe c8 dahin gebracht, dalı Bewilligung in feine Perfon der Wahl halber vornehmlich vom efrfamen Rate gefciehen.“ Dog wifft die Schuld nicht ihn

dohenn von Blantenfel, 5

ber That ging biefe, nachdem bie Ernennung wirklich erfolgt war (29. November 1523) %), glatt von ftalten. Das war um fo befremblicher, als Blankenfelds Stellung zur Reformation ſowohl Lohmüller wie der Stadt befannt fein mußte. Cs läßt fi indeß mit gutem Grund annehmen, daß die Anerfennung nicht erfolgt iſt, ohne daß von Blanfenfeld beitimmte Zufagen in politifchen, aber auch in religiöfen Fragen verlangt worben find 2). Freilich waren dieſe Zufagen nur mündlich erfolgt, und zwar in ber beftimmten Erwartung, baf ber Gang der Dinge der Notwendigkeit, fie auch ſchriftlich zu vollziehen, überheben werbe?). Verlautete doch eben damals, daß die Geſandtſchaft der Mönde Erfolg gehabt hätte und daß fomit faiferliche Edikte und päpftlidhe Bullen der evangelifhen Sache in Livland bald ein Ende maden würden 9). Auch als biefe Erwartung zu nichte wurbe, Hat Blankenfeld bie ſchriftliche Veflätigung zu verzögern gewußt und Hatte fie auch

allein, fondern aud) Rat und Gemeinde, bie ebenfo gut wie ber Siadiſchreiber die refigiöfe Stellung Vlanfenfelds tenmen mubten. Daß Lopmüller von Blanı tenfeld jährlich einige Laften Korn begog und dafür den Viſchef mit Rachrichten über den Stand der Dinge in Riga verforgte, erllärt ſich doch zum Teil daraus, hab er ja (feit 1517) in erzbiſchoftichen Dienften ftand. Wann er biefe aufge, geben hat, wiffen wir garnicht. Cine derartige Doppelftellung ſcheint bermalen nicht ungewöhnlich gemefen zu fein.

1) Richier, Geſchiche der Oftfeeprovingen I, 2, ©. 261 nad) SeidelsRüfter: Bilderfaminlung, S. 30 und 31.

2) D. Chytraeus: Newe Sachssen-Chronica, Leipzip 1597, S. 381 fagt es birelt. Dah die Stadt ſolche erhalten hat, läht fidh aber auch aus Lopmüllers Morten in dem oben zitirten Brief an Boleny erihlichen: Blanfenfeld habe noch bei Lebzeilen Lindes verfprochen, mit Brief unb Infirgel eine folde Ver» ſicherung zu vollziehen.

3) Brief Lohmallers an Polent, bei Taubenheim a. a. D.

4) Brief Antonius Vomhouwers aus Rom an den Kuftos der Minoriten in Riga vom 19. Rovember 1523, im Ausyug bei Yanfen, girchen und Möfter Revals, 3, ©. 132 f. Roch fchärfere Drohungen als fie in biefem Brief ent« Halten find, müffen bie Mönche kurz vor ihrer Rückfehr fehriftlid) oder münblich verbreitet haben, vgl. W. Brachmann: Die Reformation in Lidland (Mitteilungen aus dem Öebiete der Geſchiche Lios, Eſt. und Aurlands, Band V, Niga 1850, ©. 20). Die Gefangennehmung erfolgte eiwa Anfang 1524 (natürlich nicht vor Gröffnung der Scifffahrt, andrerjeit8 aber vor dem Tode Jasper Lindes (29. Juni 1524), da mit diefem nod) über die Ueberlaffung der Mönde an das che Gericht verfanbelt worden it, alſo eiwa im März oder April, vieleicht noch fpäter, da bie verhandlungen mit Jasper Linde Turz vor deffen Tobe ftatt« gehabt haben ſollen, |. Rufwurm a. a. D. ©. 0. Pr

»” Johann von Blantenfelb.

wirklich nicht vollzogen, als Jasper Linde ftarb und er felbft ohne alle Schwierigkeit zur Regierung gelangte (29. Juni 1524).

In feinem fanatifhen Eifer verlor er fofort jede Vorficht aus ben Augen: der Stadt ſandte er nur eine ganz allgemein gehaltene Konfirmation ihrer Privilegien, und, wie er zur Nefor: mation ftand, zeigte ſich in dem fofort ausgelprochenen Verlangen, die Stadt folle ihre zwei der evangelijchen Predigt eingeräumten Kirchen dem Klerus zurüderftatten !). Noch anders trat er aber auf, wo fein Arm unmittelbar hinreichte: in den beiben erzbiſchöf- lichen Reſidenzen, Kofenhufen und Lemfal, wurben die evangeliſchen Prebiger vertrieben und aus dem Lande, ja fogar aus der Stabt Niga verbannt ?). Niga war aber durchaus nicht gefonnen, ſich ala bem Erzbiſchof unterthan anzufehen, fo lange nicht Hinlängliche Bürgſchaft in Saden ber „reinen Neligion und des wahren Wortes Gottes“ gegeben wurde 3). Aber bes Biſchofs „ſcharfes Vornehmen und bejonderer Sinn“, feine Treulofigfeit und Gemwaltfamfeit, über bie die Vertreter Nigas auf dem Ständetag zu Neval klagten 9), traten immer deutlicher hervor ; da that bie Stadt einen weiteren Schritt und beſchloß „einträchtig und endlich den Blanfenfelb und überhaupt feinen Biſchof oder Erzbifchof „zu ewigen, fünftigen Zeiten” als Herren „zu empfangen“ >). Es war nur eine Folge

1) Richter a. a. D. S. 201.

2} Brachmann a. a. D. S. 35 f. Den Evangelifcen von Kofenhufen Hatte er vor dem Einzug (mohl nur mündlich) bie Verficherung freier Religionss bung gegeben, wohl aud) denen von Lemfal. Die Ritterſchaft des Erzftifts Hat inbeh noch wor ber Konfirmation ihrer Privilegien, wie es ſcheint, dem meuen Ergbifchof das Stift eingeräumt, „ohne Wiffen und Vollwvort“ der Stadt. (Bunges Archiv für die Gefchichte Liv- Et» und Auclands, Band II, Dorpat 1843. Die Verhandlungen zu ziujen und Wolmar i. J. 1526, mitgeteilt von ©. v. Brevern, S. TI f.) Doc) vgl. die „Foriſehung einer liolänbifchen Viſchofs. Gronit”, Gerausg. von D. Stavendagen, Mitteilungen NVIL, &. 92: „da freg er die Schloffer ein mit Volwort des Sapittels und eins parts ber Nitterfchaft.” Nach Chptracus, Chronika, S. 413 Hat die ganze Ritierjchaft gehuldigt.

3) Grefentgal (Monumenta V), ©. 51. Wicberholte Weigerung Rigas, ſ. Richter a. a. D. ©. 261.

4) Ueber die Verhandlungen mit Vlanlenfeld als Here des Stifis Kiga, mie überhaupt über das PVerhältnif zu den Prälaten, deren heimliden Bund, bie Negalien u. a. find bier befondere Rezeſſe gemacht worden, die ſich nicht Haben auffinden Iaffen, . Rufwurm a. a. D.

®) Lopmüller jelbft will diefen Veſchluß veranlaft Haben, f. feinen Brief am Poteng bei Taubenheim a. a. D. ©. 13.

Johann von Blanfenfeld. 58

diefes Beſchluſſes, daß ber Meifter erfucht wurde, die alleinige Schugherrigaft über Niga zu übernehmen. Er zögerte: ber Schritt bedeutete nicht weniger, als Parteinahme gegen das ganze geiftlich: weltliche Weſen, deſſen Vertreter Blanfenfeld war und das auch den eigentlichen Inhalt des Ordens ausmachte. Erſt als er die Gefahr erfannte, daß im Falle feiner Weigerung ausländiſche Mächte, insbefonbere Albrecht von Brandenburg, deſſen Säfulariz fationspläne damals ſchon durchſchimmerten, zugreifen könnte, milligte Plettenberg ein!) (24. Auguft 1524)). Doch auch jept noch verſuchte er, dieſem Entſchluß feine gegen ben Erzbiſchof gerichtete Spihe zu nehmen. Er verſicherte dieſem, daß er feine Schuld an der Sache trage, und warnte (in bes Erzbiſchofs Auftrag) die Stadt vor allen Neuerungen, die Spaltung und Zwietradht erregen würden ?).

Allein thatfählih war doch Blankenfeld damit von ber Mitherrſchaft über Riga ausgeſchloſſen: ber Stein war ins Rollen gekommen, ber Fortgang der Reformation geſichert. Jetzt mochte Blanfenfeld einfehen, daß es Zeit fei, zu retten, was noch zu retten war: er beftätigte eiligft die Privilegien der erzitiftiichen Ritters ſchaft (21. September 1524), vor Allem wohl auch durch beren Beteiligung am Ständelage von 1524 und burd) Plettenbergs Mahnungen beftimmt. Auch die freie, unverfälſchte Prebigt des Evangeliums war bier zugeltanden, freilich aud nur fomeit, als daraus feine Folgerungen in Betreff ber beftehenden kirchenrecht- lichen Zuftände gezogen wurden ®).

Es ließ ſich überhaupt feftfiellen, daß ihm die Ritterſchaften verhältnißmäßig günftiger gefinnt waren, als die Städte. Auch fie mußten fid) ja durd die Neuordnungen in ihrem Befigitand unb ihren Rechten bedroht fühlen. Der Meifter hielt ebenfalls noch zum Erzbiſchof. Er glaubte jegt das Gleichgewicht im Lande

) 2ohmüllers Brief on Polenp a. 0. D. ©. 18.

*) Sciemann a. a. D. ©. 21.

9 Sohmüllers Brief a. a. O. ©. 18.

4) Gedrudt im Hupels Neuen Rordiſchen Nisgelaneen, Stuct VIL und VII, ©. 2771-77; aud, in ®. Greſenthals Chronit ift die Urkunde aufge: nommen, dod) in der Ausgabe (Monumente Livoniao antiquao V) find nur die Varianten von dem dupelſchen Tert angegeben (S. 50). Auffallend iſt die faft mwörtliche Webereinftimmung ber auf bie Religion bezüglichen Gemäßrungen Hier und in dem Rieoelfcen Privilegium.

54 Johann von Blankenfeld.

durch die Städte bedroht zu ſehen. So ſchien «6, als wenn ihrer Bewegungsfreiheit Zügel angelegt werben müßten. Das geſchah auf dem Wolmarer Landtag vom Yuli 1525. Die Städte befonders Niga gingen hier [don ganz unverhüllt darauf aus, bie Zanbeshoheit der Prälaten zu befeitigen !). Der Orden erſchien ihnen dagegen als von Gott geordnete Obrigkeit, fo jehr war feine Natur als die eines geiftlichen Staatsweſens verfannt.

Die Stimmung wurbe bereits von dem eben in Preußen geſchehenen Umſchwung beſtimmt, von der Säfularifation bes preußiſchen Ordenslandes.

Bebeutungsvoll war es auch, daß, wie es ſich gerade auf biefem Landtag zeigte, die reformatorifce Predigt aud) ſchon bei dem Hofgefinde bes Ordens und ber Biſchöfe Anklang fand ?).

Aeußerlich erihien die Macht des Erzbiſchofs und der Biſchöfe in biefem Moment wmohlbefeftigt und wohlbewahrt. Noch einmal fanden fid die Prälaten mit dem Orden und ben Nitterfdaften in einer förmlich gegenfeitigen Garantie der Rechte gegen alle zukünftigen Eingriffe und Angriffe zufammen (Rezeß vom 8. Juli 1525) °). ber es gab auch ſchon unverfennbare Anzeichen einer völlig veränderten Situation: Blankenfeld mußte fid) herbeilafien, perſönlich fein Negiment als göttlich und feine Stellung als bie eines Nachfolgers der Apojtel aus ber Schrift und mit andern Gründen zu verteidigen‘). Zugleich fah er fih doch aud zur

1) Diefer Standpunft kommt am ſchärffien zum Ausbrud in der Abhand- hung, die Sopmüer zugleich) mit einem Brief fury vor Beginn des Landtages dem Ordensmarfchall Johann von Plater, genannt von dem Broele, zulommen Vieß (12. Juni 1625), im Muszuge bei Taubenheim a. a. D. ©. 14 fi. Beyeich- mend {ft fon ihr Titel, „dah Papit, Bifhöfe und geiftfich Stand fein Sand und Zeute befipen, vorftehen und regieren mögen, aus ber heiligen Schrift vers faffet.“ Diefe Schrift und mehrere andere Artitel, die die Haltung der Stobt iga dem Expbifchof gegenüber motiviren follten, brachten bie Abgeordneten der Stadt Nige nebit mündlichen Inftruftionen gleichen Inhalts auf den Landtag mit, Auch jeder Gebietiger des Ordens erfielt eine Abjchrift dieſer Wohandkung. Qgl. Index Rr. 2023. und Anmerkung dazu.

2) Ueber bie Vorgänge während diefes Sandlages liegen uns zwei im Wefentlichen übereinftimmende Berichte vor: in Cilo. Tegeimeyers Tagebuch (a. 0.0. &. 504 f.) und in bem mehrfach erwähnten Brief Lopmüllers an Poleng.

®) Der Neyeh fit abgedruct bei Taubenheim a. a. D. &. 80.

4) Brief Topmüders an Polenk ebenda. Daneben verſuchte Blantenfeld durch Bermittelung der Yanfeftädte Hamburg, Lüneburg und Lübet auf Rige

Johann von Blanfenfelb. 55

Nachgiebigfeit genötigt : er verftand ſich ausdrücklich bazu, bas göttliche Wort nad dem Inhalt Alten und Neuen Teftamentes prebigen zu lafjen, freilich mit ber vielbeutigen Einjchränfung, es folle in gebührficher Auslegung geſchehen, damit feine Zwietracht erregt würbe t). Cr hat fogar nad) einer perfönfichen Nuseinanber- fegung mit dem in Wolmar anmefenden Nigaer Neformator Eil: vejter Tegetmeyer geſucht ?).

In Wirklichkeit war feine Stellung bereits völlig untergraben. Faft unmittelbar nad) diefem Landtag brad) fie zufammen.

Plettenberg mußte fehr bald einfehen, daß er durch jenes Bündniß mit Prälaten und Nitterichaften die Stäbte, befonders Riga, zu auswärtigem Anſchluß bränge, daß das Luthertum eine Macht im Lande geworben fei, mit ber man zu rechnen habe. So machte er denn die Alleinherrſchaft des Ordens über Riga zur Wirklichkeit und zog als Herr in Riga ein; bie Urkunde vom 21. September 1525) bejtäligte nicht nur die reine Prebigt, fondern aud bie in Kraft bes Mortes Gottes getroffenen Vers änderungen. Die Reformation hatte damit ihre rechtliche Grundlage erhalten.

Waren die Verhandlungen Nigas mit Preußen der einzige Grund für biefe unerwartete, entſcheidende Wendung? Dieje völlige Abmwendung vom Erzbiihof läßt fih nur fo erflären, daß dieſer als ber Gefährlichere erſchien, der um jeden Preis nieder geworfen werben mußte. Das war «6, was Plettenberg zunächſt erſtrebte; es ift ihm gelungen mit Hülfe des bamals ſich verbreis tenden Gerüchts, Blanfenfeld habe ſich mit den Ruſſen verbunden, um mit ihnen gemeinfam über Livland herzufallen.

Dies Gerücht gab allein bie Möglichkeit, die Ritterſchaften von Kiga und Dorpat zu fräftigerem Handeln zu bewegen: fie bemädtigten ſich der Schlöſſer Blankenfelds und nahmen ihn ſchließlich ſelbſt am 22. Dezember 1525 zu Ronneburg „in fürſt-

zu wirfen. (Das Schreiben dieſer Städte, das warnend auf das Ccidjal Diahlhauſens in Thüringen nad) dem Bauernfriege hinmeift, ift im Briefe Sopmüller8 an Poleng mitentfalten.)

1) Zaubenfeim a. a. D. ©. 18.

*) Silo, Tegetmeers Tagebuch, Mitteil. XIL, ©. 505.

®) Gebrut in Monumenta Livoniae antiquae, Band IV, Kiga und Leipzig 1844, Ar. 152.

66 Dohann von Blantenfeld.

liche gute Enthaltung”, bis er fid) genugfam verantwortet haben würbe.

Was war an bem Gerücht? Das bisher veröffentlichte Quellen: und Urkundenmaterial läßt feine fihere Antwort zu. Soviel ift aber Mar: es ift nicht gelungen, ein derartiges Bündniß Blankenfelbs mit bem Moskowiter nachzuweiſen. Nur Verhand- tungen hat er mit einer Mostowitiihen Gefanbticjaft auf feinem Schloſſe Neuhaufen geführt.

Was bezwedten diefe Verhandlungen ? Nur die Vermutung barf ausgeiprochen werden, daß es ſich dabei um bie Vermittelung eines Waffenſtillſtandes zwiſchen Polen und Mosfau handelte, bamit erjteres freie Hand erhalte, im Bunde mit feinem preußiſchen Vaſallen dem Orden in Livland die Spige zu bieten, während Zepterer feinerfeits mit dem deutſchen Teile des Orbens verbünbet gewillt geweſen zu jein ſcheint, die Säfularifation Preußens rüdgängig zu machen ?).

Iener preußiich-polniihen Kombination ſcheint Blanlenfeld in unbegreiflicher Verblendung fid) angefchloffen zu Haben. Den eingigen mäghtigen Halt, den er hatte, den Orben, war er geneigt aufzugeben und bereit er, ber fanatijhe Anhänger des mittel: alterlihen Syitems, Hand in Hand mit dem eben erft von biefem felben Syſtem endgültig abgefallenen Albrecht von Preußen zu gehen. So hat Blankenfeld ſelbſt feine Stellung zu nichte gemadt: er Hat an bie innerften Wurzeln feiner Kraft felbft Hand gelegt.

Nun lag in der That bei Plettenberg die Enticheibung, ob bie thatfächliche Vefeitigung Vlankenfelds auch zu einer rechtlichen werben follte oder, mit andern Worten, ob er felbit, ber Dann bes allgemeinen Vertrauens, aud der wirkliche Herr des Landes werben follte, ob bamit bie livländiſche Konföderation zu einem lebenokräftigen livländiſchen Staat ſich umzugeftalten die Kraft hätte.

Der Frühjahrslandtag 1526, zu Rufen und Wolmar abge: Halten, brachte die Entfheidung *). Die Neform der Lanbesvers faſſung gelang nicht. Das lag nicht fo fehr an Plettenberg, fondern daran, daß bie Einigung ber einzelnen Glieder der Kon—

3) Siehe den Erlurs über Blanfenfelbs angeblichen Verrat.

2) Die Verhandlungen dieſes Landiages hat ©. v. Brevern herausgegeben in Bunges Arhio, Pand TI, Dorvat 1943.

Johann von Blantenfelb. 57

föberation nicht zu Stande fam. Die Ritterſchaften ber Stifter, aber aud) die Stadt Dorpat waren garnicht ober nur mit halbem Herzen für die Begründung einer einheitlichen Herrſchaft im Lande. Die Ummandlung hätte zu viele Opfer gefordert; nod war aber bie reformatorifche Gefinnung nicht fo tief eingewurzelt, um biefe Opfer erträglich zu maden. Ohne die Nitteriaften, dieſe eigent- lichſten Vertreter bes Landes (die Städte hatten mehr auswärtige Interefen), wollte Plettenberg feine größeren Veränderungen treffen. Was ihm erreichbar erſchien, das war bie Herftellung der unbe dingten Ordensvorherrſchaft bei Fortbeftand ber bisherigen Ein- richtungen. Das hat er in ber That erreicht und damit die Vers hältnifje wenigſtens fomweit befeftigt, daß fie noch 35 Juhre den inneren und äußeren Stürmen Stand halten konnten.

Blankenfeld fam ihm dabei entgegen: er hatte doch endlich den Eindrud gewonnen, daß des Meifters Intereſſen am eheiten den feinen verwandt wären. Von ihm unmittelbar hat er ſich freies Geleit erwirft und hat dann mährend bes Landtages vor Allem die unmittelbare Verhandlung mit der Gefammtheit ber Stände zu vermeiben geſucht. Er hatte nur unter der Bedingung feine Freiheit wiebererlangt, daß er ſich in Wolmar perfönlid, ftellen follte. Dennod) Hat er fein Erſcheinen zu vergögern gefucht, bis bie Stände ſich anſchickten, auseinanderzufahren, und ift dann doch ſchließlich auf halben Wege zum Landtag umgekehrt. Und doch, wie merkwürdig ! Alle feine Verfhuldungen, fo große Erbit: terung fie erregten, haben die Stände bach nicht zu energiſchem Einfhreiten gegen ihn vermodt. Die Ritterſchaft von Riga führte geradezu mit Eifer feine Sade und fuchte jede Benachteiligung von ihm abzuwenden, nachdem fie ſchon zuvor mit ihm ein Separat- abfommen geſchloſſen hatte, das ihm nicht nur Freiheit, fondern auch ben vollen Befig feiner Herricaftsrechte gemährleiftete !). Die Nitterfhaft von Dorpat erklärte fih für neutral; aber auch die anderen, befonbers bie ihm am feindlichften gefinnten Harriſch- Wieriſchen Nitterfchaften ließen ihn ſchließlich unbehellig. Cs Scheint ihm bod eine gewiſſe die Gemüter gefangennehmende Macht innegewohnt zu haben. Cs ift auch fonft zu beobachten, daß willensſtarke Perfönlichleiten, mag ihr Wille nod fo unſympathiſche

1) Gebrudt in Hupels Neuen Nordiſchen Miszellaneen, Stüd VII und VIII, Riga 1794, ©. 278 ff.

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Ziele verfolgen, auf viele Menſchen einen gewiſſen faszinirenden Neiz ausüben.

Immerhin war Blankenfelds Autorität im Lande vernichtet, damit aber auch die Geltung der mittelalterlih-fichlihen Ideen entſcheidend erjdjüttert. Daran änderte es aud) nichts, daß Blan- fenfeld feine äußere Stellung wiebergewann. Der Reformation wie auch ben weltlichen Interefien feiner Stände konnte er nun nichts mehr anhaben.

Freilih, ber Moment war verpaßt, die Ideen ber Nefors mation auch in der Geftaltung der ftaatlichen und geſellſchaftlichen Verhältniſſe entſcheidend werden zu lafjen, d. h. die Verpflichtung der geiftfihen und weltlihen Intereſſen aufzulöjen!). Der innere Widerfprud) blieb und zehrte an dem Dark des Landes.

Plettenberg kehrte zu feiner Politit vom Sommer 1525 zurück: im Widerſpruch zu ben Städten fnüpfte er wiederum bie an ber alten Orbnung interejfirten Stände zu einer Verbindung zuſammen. Die Städte mußten fi fügen und Blantenfeld ?) durfte ſich von aller Schuld durch eine „künſtliche, gegierte und verblümte Oration und Rede“ löfen ?). Freilih einen hohen Preis mußte er für die Wiederheritellung in feine Rechte zahlen:

1) Wie lebhaft ſolches erwartet, refp. befürchtet wurde, zeigt ſowohl des ehemaligen preußiſchen Drdensriuers Friedrich zu Weyden 1526 verfahte „rifte liche Ermahnung an Herrn Walter von Plettenberg" (herausp. von B. Licadert in ben Sigungsbericjten ber Altertumggefellichaft Pruffia 1891, Heft 17, ©. 07, 10, auch im Sonberabdrud, Königsberg 1892), al8 auch der Brief Viſchej Hermanns von Kurland an Plettenberg, Ende 1520 gefcrieben, eine Warnung dor dem Ueberiritt „zu Lutheriſcher Schre und Wejen.” (Hildebrand a. a. O. ©. 29 f., aus dem fhmedifchen Reichsarhio.)

%) Rach ber ſhon erwähnten Foriſebung der Viſchofechtouit (Mitt. XVID hätte Blantenfeld ſich mit Lift von der Beitrichung befreit. Die Lift beftand aber darin, ba er, wie der Fortſeber weiterhin bemerkt, mır „zum Schein“ bem Meifter den Vorrang abtrat, „zu Behelfe feiner Befreiung“. Bielleicht darf man daraus fchliehen, daß Blantenfeld bis zum Junilandtag in Gefangenſchaſt geweſen Üt; doch wäre dann feine Bewegungsfreifeit während des Frühlingslandtags micht verftändlich. Die Befreiung, von der der dortſeher der Biihofschronik fpricit, bedeutet demgemäß wohl feine Reflitution.

3) Ueber die Verhandlungen deS Juni» Sandtags von 1526 referirt O. Stovenfangen in den „Arbeiten für die Herausgabe der liofändifcen Ständer togsatten", Niga 1897. CS find die Berichte der ftädtifchen Abgefandten, verfaßt von Lohmũller

Johann von Blankenfelb. 5

wie er in geheimer, birefter Verhandlung mit Plettenberg vielleicht felbft angeboten !), jo unterjtellte er fih in dem „Rontraft” vom 15. Juni 1526 mitfammt ben andern Prälaten bem Schuß bes Drbens ?), Sie gelobten dem Orden unbedingt Heeresfolge und ſchworen ihm die „Ratopflicht“, d. h. mit andern Worten, fie ver: sihteten auf jede jelbftändige, auswärtige Politik.

So war eine Einigung bes Landes allerdings hergeftellt, aber body nur eine ſolche, die auf bem guten Willen einer viel: Löpfigen Verfammlung beruhte.

Der gute Wille fehlte zunächft bei Blanfenfelb ſelbſt völlig: taum frei geworben, eilte er aus dem Lande, vorgebend, bie Beſtätigung bes Vertrages bei Kaifer und Papft ausmwirfen zu wollen, in Wirklichkeit, um bei Papft und Kaifer die Aufhebung des Vertrages durchzuſetzen ®).

Aber bie beiden Häupter ber Chriftenheit waren eben bamals, uneingebenf ihrer Aufgabe, die Kirche gegen Ketzer und Ungläubige zu ſchützen, um weltlicher Vorteile willen in erbitterte Feindichaft, ja in offenen Krieg mit einander geraten. Der Papft erwies ſich völlig ohnmachtig, die Macht der Viſchöfe zu fhüpen). So eilte

3) Sciemann a. a. D. ©. 220 j. Serapfim I, S. 300, nach Mitteir lungen O. Stavenfagens.

Gedruci ift ber „Rontraft" bei Taubenheim a. 0. ©. ©. 87 ff. und in der Ausgabe von Grefenthals Chronit, Mon. hist. livon. V, S. 52-50.

3) Rad 3. G. Arndt, Siefländifche Chronit IL, Yalle 1753, ©. 195 und 3. a. Gadebufe): Siolänbifce Jahrbücher I, Nige 1780, ©. 327 Hinterlich er eine Protejtation gegen die Wolmarer Reverjalien. Am 3. Auguft 1520 hat er daß Sand verlafien, Stavengagen, Bifchofscxonit ©. 93. Dennod) ift er mit Plettenberg in brieflichem Bertehr geblieben unb at ſich bei Papft und Raifer in Sadjen Plettenbergs „des Hocmeiiteramte und be Zolles wegen" bemüht. Witeil. IL, S. 505, eine leider ned) nicht publigirte Urkunde, batiet aus Riga 6. Zuli 1697.

+) Er ſcheint zuerſt nach Rom gegangen zu fein (Bradimann a. a. O. S. 92 meint: über Polen, doc ohne genügenden Grund, wenn «8 auch vieleicht nicht unmahrfcheintich ft). Doch hat er Rom nicht erft furz vor dem 6. Mai 1527, be „sacco di Roma“, verlaffen, wie bie Bifchofschronit ergählt, fondern begegnet uns fen am 19. Gebruar 1527 in Benebig, 7. März in Gafzburg, 2. April in Regensburg, 29. Mai in Neumarlt (im ber Oberpfalz ?). Es handelte fih um eine Zufammenfunft mit dem Deutl—meifter und feinen Romtguren, aud) um ein Zufammentrefien mit dem König von Böfmen. Erft im Juli ging er nad; Spanien (Bilgofshronit 0. 0. D.).

oo Jobann von Blantenfelb.

Blanfenfeld zum Kaiſer nad) Spanien. Er hat ihn nicht erreicht. 4 Meilen von Palencia, im Stäbthen Torquemada, hat er am 9. September 1527 fein ſtürmiſches Leben beſchließen müflen !). Aber als eine Art von Teftament ließ er dem Kailer bie Bitte überbringen, daß das Erzbistum einem deutſchen Fürftenfohn, dem Herzog Georg von Braunfhmweig-Wolfenbüttel übergeben werde, das Bistum Dorpat bem Bizefanzler Karls V., Balthafar Märklin von Waldkirchen (Reval hatte er ſchon früher aufgegeben). So wies er fterbend ber deutſchen Hauspolitit ben Weg nad Livfand, und biefe ift es gemefen, welde nachmals das Werk ber Zerfegung der fiolänbifcen Ronföberation, der Jerſtörung der von Blankenfeld ſelbſt verteidigten geiftlichen Oberhoheit zu Ende geführt hat.

Die Reformation aber, gegen bie er bis zulegt ben tiefiten Groll hegte, hat er nur zu ftärfen, ihr die Wege zu ebnen ver mocht, weil er, als getrener Sohn des Mittelalters, feine Religion nicht anders zu verteidigen wußte, als mit politiihen Mitteln.

%) Bifcofschroni, ebenda. In Betreff Torguemadas als Stätte feines Todes vgl. P. Schwarg, Mitteil. XIV, ©. 443 und Sigungsberichte der Gejell- ſchaft für Gefchichte und Altertumsfunde 1886, 3 und 1883, 9, aber aud ſchon Küfter a. a. D. S. 31. Dort aud bie Grabſchrift. Doch ift das Grab nicht mehr zu finden.

Die Slaven in Deutſchland.

Eine Anzeige von Dr. 4. Bielenftein.

Neuerdings ift unter bem Titel „Die Slaven in Deutſch- fand“ ein Werf von Dr. Franz Tepner (Leipzig), Braunfchweig 1902 erſchienen, welches bas Interefie baltifcher Leſer in nicht geringem Grabe verdient. Das Buch giebt nämlid) eine Volkskunde nicht allein ber wirklich flavifch zu nennenden Stämme, ber Mafuren unb ®hilipponen, der Tihedjen, Mähren und Serben, Polaben und Stovinzen, Kaſchuben und Polen, fondern auch ber nicht eigentlich flavifch zu nennenden lettiſchen Volkoſtämme, ber Alt- preußen, ber Litauer und der Letien (Ruren), welche nämlich alle in ben Grenzen bes preußiſchen Staates, bezw. des beutichen Reiches, noch ihre Giebelftätten haben ober gehabt haben.

Wenn id) meines verehrten Freundes Werk Hier einer Ber ſprechung unterziehe, fo ift es ja meine Aufgabe, auch das nicht zu verſchweigen, was neben dem vielen höchſt Anerkennungswerten gerade aud mir etwa bedenklich und ftrittig erfcheint, und da war es gleich der Titel, welder die lettiſchen und ſlaviſchen Stämme unter ber gemeinfamen Bezeichnung als Slaven aufführt. Freilich nennt ber Verfaſſer gleich auf pag. 2 die lettiſchen Stämme eine „baltifche Gruppe”, die zwiſchen Slaven und Germanen ftehen. So iſt's in der That. Der Wunſch, den Titel des Buches einfach und kurz zu fallen, begründet wohl nicht genug die Verwiſchung bes bemerften, thatfählih nicht unbebeutenden Unterfdiebes, namentlid; weil nicht felten ber Unterſchied zwiſchen den letliſchen und flavifhen Spraden und fonftigen Vollseigentümlichkeiten irrtũmlich für geringer geachtet wird, als er wirklich it. A. Schleicher dürfte den Sachverhalt richtig fo dargeftellt haben, daß eine ver- hältnigmäßig kurze Zeit Slaven und Leiten nod ein Volt ge weſen, nachdem bie Germanen ſich von ihnen gefondert hatten, daß aber bann doch ſchon fehr früh Leiten und Glaven in

2 Die Sladen in Deutſchland.

Sprade und Eitte auseinander gegangen feien, lange ehe bie einen und bie anderen ſich differentiirt Hätten, bie einen in Alt preußen, Litlauer und Leiten und bie anderen in Offlaven und Weftflaven u. |. m. Jenes Auseinandergehen muß ſchon lange vor den Perferfriegen eingetreten fein, benn bie Perfer Haben erft die Hühner und den Hahn nad) Europa gebradt, und als Slaven unb Leiten ben Hahn fennen lernten, nannten fie ihn nicht mit bemfelben, fonbern mit verſchiedenen Namen (nbryx» und gailis).

Tehner Hat ſich auf dem Gebiet volfskundfidier und kulturgeſchichtlicher Forſchung einen guten Namen gemadt. Ich nenne nur „Geſchichte der deutſchen Bildung und Jugenderziehung von ber Urgeit bis zur Errichtung von Stabtfchulen“ Güters- loh, 1897. Hier fhildert Tetzner, wie fi zum erſten Mal die deutſche Bildung geſchichtlich felbftändig machte und aus ber römiſchen fich fiegreich herausgelöft Hat. Das war ein Prozeß an der Weſtgrenge Deutfhlande. Nun ift Tegner zur Oft ober Norboftgrenze ber Deutichen gefommen, wo die Bewohner von Dfteuropa nicht als die geiftig überlegenen, wie die Nömer es waren, fondern als bie inferioren Nachbaren bie Schüler ber Deutſchen wurden und ihren Lehrmeiftern und Beherrſchern ſich großenteils allmählich aſſimilirlen. Cin Teil der baltifden und ſlaviſchen Stämme befindet ſich fomit vettungslos auf dem Aus: fterbeetat; hierher gehören die Littauer und Letten in Oftpreußen. Die Atpreufen find bereits geſchwunden. Ebenſo ſchwinden all: mählid Mafuren, Philipponen, Sorben, Polaben, Slowinzen, Kaſchuben, weil fie zu wenig Nüdhalt an Stammesbrüdern außer halb ber deutſchen Reichsgrenze haben. Tſchechen und Mährer find ihrer Zahl nach zu unbedeutend, mögen fie aud) im öfter: reichiſchen Kaiſerſtaat Volksgenoffen haben. Anders fteht es mit den Polen, nicht allein Hinfichtüch ihrer Zahl (2!/. Mill.), fondern auch hinſichtlich des Wachſens ihrer Zahl und hinſichtlich bes brennenden Eifers, ihre Nationalität zu erhalten, und ihre einflige politifche Macht über polnifhe und nicht polniſche Ländergebiete, wenn irgend möglich), einmal wieder zu gewinnen. An biefem Punkt berührt fi des Verfaſſers Forihung mit der gerade jett brennenden und hochwichtigen Frage, wie das deulſche Neid) ſich vor ber Gefahr bes wachſenden Polentums in feinen Grenzen er- wehren könnte.

Die Sladen in Deutfhland. os

Der Plan des Tetznerſchen Werkes iſt folgender. Nach ber Einfeitung befpricht er die fhon oben genannten einzelnen Volks- ftämme und giebt in ben einzelnen Abfchnitten in durchaus knapper Rürze eine flaunenswerte Fülle von gründlich durd eigene Ber obadhtung und durch gewiflenhafte Vennhung der vorhandenen Quellen erforſchtem hiſtoriſchem und volfstundlichem Material. Ich vermag nicht anzugeben, wo er etwas Wichtiges überfehen oder beifeite gelaffen hätte. Es ift nicht zufammengetragene Bücher- meisheit, der Verf. ift überall felbft geweien und berichtet überall, was er felbft gefehen und ſelbſt erfahren, und was er giebt, ift nie trodne Gelehrfamfeit, jondern lebendig aus dem Leben Ger ſchöpfles. So iſt das Buch vom Anfang bis zum Ende im vollen Einne des Wortes interejlant. Die verfchiedenen Nationalitäten find fo genau gefhildert und charalleriſirt, daß man Teilnahme für fie gewinnt, daß man fie fogar lieben lernt. Wir finden von einzelnen Männern, die aus den Volfsfplittern entitammten, Heine und doch eingehende Biographien, bie id in ihrer Art Perlen nennen möchte, jo lebenswahr jtehen fie vor uns in ihrer Entwickelung, in ihrem Streben und Wirken, ihrem Kämpfen und Reiben; fleine Proben aus ihren Schriften ober Dichtungen werben uns geboten, alles anziehend, geihmadvoll in Inhalt und Form, immer mit freundlichem, nie mit hartem Urteil und doch ftets mit dem Eindrud treuer Wahrhaftigkeit.

Die einzelnen Abſchnitte über die bereits oben genannten Volksſtämme enthalten je nach dem vorhandenen Material:

1) bie dahin gehörige Litleratur;

2) das Spracdgebiet, d. h. die Grenzen, in melden der Stanım einft gelebt hat und noch jetzt ſich findet (Meine Karten fellen die Sade vor die Augen);

3) bie Geſchichte des Stammes. Diefen hiſtoriſchen Stüden ſchreibe id einen großen Wert zu, denn fie geben in großer Kürze vieles Detail, welches man felten wo anders jo beifammen findet. Vortrefflich fhilbert T. 5. B. die Heldenzeit bes Fittauifchen Volkes, die Charaktere eines Gedimin, Keiftut, Witold, und nennt ben legten eine Abendröte vor der Nacht, auf die fein Morgen folgt. Die Wirkſamkeit Herzog Albrechto, die grandiofe Kultur: pflege der preußiſchen Könige, namentlid) Friebrid) Wilhelms 1. und Friedrichs U. im littauiſchen Gebiet Ofipreußens, und immer

64 Die Slaven in Deutſchland.

iſt es etwas Konkretes und Detaillirtes, was wir leſen, nirgends allgemeine Redensarten, bei denen man ſich nichts benfen kann;

4) die Nationallitteratur bes einzelnen Stammes, bas ift ja zunächft bie erfl in neuerer Zeit aufgejeihnete mündliche Tra- dition, das Vollslieb, die Sage und das Märden, das Sprichwort und das Nätfel. Mit feinem Sinn dharakterifirt der Verf. bie Voltspoefie im Unterſchiede von „Scillerfhen Ideendichtungen, Fauftfepen Lebensfragen, Subermannihen Chrenfragen und Nietzſcheſchen Umwertungen“, und weiſt hin auf die Benugung namentlid) bes littauifchen Volkoliedes feitens Schillers, Chamiſſos und anderer. Er hebt hervor, wie bas Volkslied zu einem Teil den Charakter des Volkes abipiegelt und dennoch in feiner oft ſich zeigenden Tragif durchaus nicht ein Bild bes thatſächlichen Lebens barftellt, z. B. wo es das Brautleben als Pocfie und das Ches leben fehr oft als Profa ſchildert. Was im Liebe guten Grund und gutes Recht Hat in dem Augen bes Einfihtigen, ift nicht zu vergleichen ben unwahren Lebensfhilberungen Sudermannſcher und Ibſenſcher Romane und Dramen.

5) An die Volfstraditionen ſchließt T. alles mögliche Volts- tunblie an über Sitten und Bräuche, Volksfeſte und Spiele, Mufit, Tanz, Gefang, Hochzeiten und Beftattungen, Glauben und Aberglauben, Mythologiſches, Lebensweile und Arbeit, Hof: anlage und Häuferbauten, Kleidung und Speifen, Haus- und Arbeitsgeräte.

Diefe Andeutungen mögen genügen, um ein Bild von dem Neichtum bes Inhalts zu geben, auf welden genauer einzugehen der Raum verbietet.

Ein Höchft anziehender Abſchnitt findet fih in dem Kapitel „Die Littauer” über die Maldininker. Diefe Leute bringen auch zu ben Lutheranern in dem Littauen diesſeits ber ruſſiſchen Grenze. Ich habe oft von denfelben gehört, aber nirgends eine jo Mare und erſchöpfende Darftellung ihres Wefens und Wirkens gefunden als wie bei Tetzner. Diefe Leute find feine Sefte zu nennen, Sondern nur geiftige Nachkommen Herrnhuts „Erwedte, Bekehrie“, und haben fi in Preußiſch-Littauen wie „bie Brüder” in Liv land feit den Tagen Zinzendorfis von einzelnen Edelhöfen und Paſtoraten aus unter das Volf verbreitet. Ihr äußerer Charakter zeigt fid) in den Gebetsverfammlungen (Maldininker-Beter). Wie

Die Slaven in Deutfchlanb. 6

bie Pietiften feit Spener und Franke, find fie Gegner ber toten Orthoborie, unterfhägen das geiftlihe Amt, wollen fromm eben in Demut, Yußfertigkeit, Arbeitfamfeit und Pflichttreue, laſſen aber leider wie früher fo jegt Aeußerlichkeiten vorwalten, 3 B. die Verwerfung bes Tanzes, bes Theaters, des Rauchens, einer heitern Fröhlichkeit 2c. In Livland ift bie Brüdergemeinde von ber Kirchlichkeit wohl überwunden, in Preußifd-Littauen blüht fie, wie es ſcheint, noch in gewiſſer Kraft. Diefer Abſchnitt in Tegners Werk hat einen kirchengeſchichtlichen Wert.

Nach diefem allgemeinen Referat über ben reichen, ats regenden und belehrenden Inhalt ber Tetznerſchen Forſchung bes treffs der lettiihen Stämme in Deutfchland, wo ber Verf. ja oft in bie Grengen des ruffifchen Neiches hinübergreift, erlaube ich mir nun aber aud einige Punkte zu erwähnen, wo id mit meinem verehrten Freunde nicht übereinftimmen kann. T. fpricht pag. 14 bie Meinung aus, die altpreußiiche Sprade „müſſe“ um die Zeit des Herzog Albrecht, als der Lutherſche Katechismus für das Bölfchen überfet wurde, bereits „im größten Verfall“ ge weſen fein. Was fönnte folden Verfall der Sprade bamals ſchon herbeigeführt haben? Der fulturelle Einfluß der Deutfchen auf die Bauern ift in ber fatholiichen Zeit höchſt gering gewefen. Die deutſchen Einwanderer zur Zeit ber Ordensherrſchaft haben fi vorzugsweife gewiß in den Städten bes Weichſellandes an- gefiedelt, und wenn beutihe Bauern Dörfer oder Höfe von Alt: preußen, bie im Kriege umgetommen, im Befig erhielten, fo haben biefe Deutſchen umfoweniger die Sprache ihrer altpreußiſchen Nachbaren in Verfall bringen können, als wir im altpreußifchen Katechismus Germanismen eigentlich nicht finden, wie bas im heutigen Lettiſch ſich freilich maſſenhaft findet. So halte ih es für wahrſcheinlich, daß die mafjenhaften Sprachfehler und nament- lich aud die Ungenauigfeiten in den MWortendungen im pr. Katechismus nit aus dem Verfall der Sprache ſelbſt, fondern aus ber Unmifenheit ber Weberjeger zu erklären find, aus ber Ungenauigfeit des Hörens und aus der Ungefdidtheit, für bie frembartigen Laute die geeigneten Schriftzeihen zu treffen. Wir finden genau dieſelben Eriheinungen in den älteften lettiſchen Drudichriften des 16. und 17. Jahrhunderts. Die lettifche Sprache hat troh der vielfachen Kultureinflüſſe beutfcher Bildung

os Die Sladen In Deuiſchland.

und Schule im eigentlichen Vollsmund noch bis heute volle Ger nuinität, und nur halbgebildete oder deutſch gebildete Letten find feit einem reichlichen Menſchenalter, natürlich ohne es zu ahnen, bamit beichäftigt, ihre Mutterſprache zu verberben.

Die Grenzen bes Gebietes, wo vor Zeiten die jet aus— geftorbenen Altpreußen gehauft haben, giebt T. weniger genau an, als es möglich gewejen wäre. A. Vezzenberger hat in feiner Weiſe diefe Grenzen höchſt genau feitgeftellt, indem er beachtete, daß in Oft: und in Weltpreufen heute noch fehr viele Ortsnamen vorfommen, entweder mil ber Endung -kaimen ober mit ber Endung -kemen, bie erfteren vom altpr. kaimlas], bie anderen vom litt. kemas, beides Dorf und Hof (Heim). Wo num Ortsnamen auf -kaimen vorfommen, ift unzweifelhaft Siebelgebiet der Preußen (vom Samland bis zur Weichſel).

T. fügt pag. 88: „Die Laima als Glücks- und Liebes- göttin Fennt man faum (bei den Littauern), weder biesfeit noch jenfeit der Grenze.” Als Liebesgöttin kennt man bie Laima auch bei ben Letten durchaus nicht. Diefelbe ift hier nur das per- fonifizirte Schickſal, wenn auch vorzugsweile in freundlichem Sinn. Cine Liebesgöttin hat der Leite wohl niemals gehabt, und es dürfte bafür auch nicht angeführt werden, daß die Laima im lett. Volfslied als bie jegenbringende Beldjfigerin ber Chefrauen, ber Mütter, der neugeborenen Kinder ober aud) als die Spenberin reicher Ausftener für die Bräute und endlich aud) als Verforgerin ber Waifenfinder vorfommt, in melden Funktionen jüngere Volts- lieder die katholiſche (Mutter Gottes) Maria flatt der Laima nennen, um dem heibnijchen Liedchen eine drifiliche Färbung zu geben. Die lettifhe Laima entſpricht niemals ber griechiſchen Aphrodite, ſondern höchſtens der mütterlichen griechiihen Here.

Wo T. vom littauifhen Wohnhausbau redet, tritt er ber Auffaffung Bezzenbergers entgegen, handelt aber weſentlich vor— zugsweiſe von ben jüngeren noch vorhandenen Bauformen, nicht gerade von ber, wie id) meine, wohl mod) nadjweisbaren prä Hiftorifchen Urform des Littauifch = lettifchen Mohnhaufes. Das jüngere Wohnhaus zeigt befanntlid drei Teile, in ber Pitte Flur und Kücenraum, baneben auf der einen Seite Wohnftube mit Dfen, auf der andern Seite (urfprünglic falte) Kammern. T. ſcheint biefe Dreiteilung als uralt anzufchen. Das halte ich

Die Sladen in Deuiſchland. #7

mit Bezjenberger für beftreitbar, ohne jedoch den mißverſtändlichen Ausdrud brauden zu wollen, welden T. pag. 106 nennt, aber mißbilligt. Wir brauden nicht anzunehmen, daß man brei ur fprünglich gefonderte kleine Gebäude, ein Küchenhäuschen, ein Wohnhäuschen, ein Häuschen für die Handmühle, wirtſchaftliche Vorräte ꝛc. einmal angefangen habe zu vereinigen, nachdem fie früher bejonders bejtanden Haben, wie fie zum Teil aud) nad) Hier und da beftehen. Vielmehr ift ber Prozeß wohl folgender ge: weſen: die Familie Hat uriprünglid in einem Häuschen mit uns geteillem Raum gewohnt, in demfelben gekocht, fi gewärmt, ge- Schlafen, gearbeitet, allmählich aud) noch andere Heine Gebäube je nad) Bedürfnis höchſt einfach beſonders gebaut, weiterhin aber es bequemer gefunden eine geräumige Wohn, Schlaf: und Arbeits: ftube an ben Küchenraum (nams- ſchlechthin Haus) anzubauen. Viel fpäter find die Kammern auf der anderen Seite der Küche angefügt worden, wie ſchon der entlehnte Name (Kambaris) bemeift. Dieſe Entwidelung des Hausbaues läßt fi bei ben baltifchen Leiten durch eine fehr lange Zeitperiode hindurch ver- folgen und nachweiſen, und zugleich ſieht man, wie in größeren Bauerhöfen bei deu Hochletten neben bem reicher organifirten Wohnhaus alte Heine Häuferhen zum Teil noch fortbejtehen, mag ihr Verſchwinden auch mur eine Frage der Zeit fein.

Es feint ungenau, wenn T. pag. 115 fagt, daß man „jeben Bewohner der brei üblichen oder deutſchen Dftfeeprovinzen Live genannt habe, weil Livland die Vorherrſchaft führte,“ Liv— länder ja, aber Live nidt, denn Livland war der alte Name für das ganze Gebiet von ber Memel bis zur Narowa, aus bem Grunde, daß die Herrſchaft über dieſes ganze Gebiet von Riga im Livfande ausgegangen war. Aber die Eingeborenen wurden von Anfang an und immer nad ihren Nationalitäten unters fchieblic benannt: Eften, Liven, Letten, Semgallen, Kuren.

Eine erux für Hiftorifer, Ethnologen und Sprachforſcher ift bis vor Kurzem immer ber Kurenname geweſen. T. hält bie Kuren auf ber Nehrung, offenbar wegen ihres Namens, für „ein: gewanberte lettifirte Finnen ber nördlicheren kurländiſchen Küften- ſtriche“ und führt p. 117 an, daß die benahbarten Eſten (d. h. doch wohl die Defulaner) die Liven an ber nordkurländiſchen Küfte auch Kuren nennen. IH muß meinerfeits behaupten, dab es

68 Die Slaven in Deutſchland.

vorderhand ein Rätſel if, mo ber Name ber Kuren (Kors bei Neftor) ſprachlich Herjtammt, welches feine Etymologie ift und auch, ob berjelbe jemals eine befondere Nationalität oder aber jtets nur ein geographifdes Gebiet bezeichnet habe. Aber das fteht mir hiſtoriſch feit, daß im ben ſchriftlichen ätteften Quellen, Urkunden und Chronifen der Name Kuren ebenfowohl für bie Xetten als für bie finnifhen Bewohner bes Landes, beachtenswerterweiſe auch gerade für die Liven, vorkommt. Deshalb kann id um bes Namens willen die Nehrungsbewohner mit Tepner nicht für eingewanderte Iettifirte Finnen halten, fonbern muß fie wegen ihrer echt letliſchen Sprade, bie namentlich mit dem Niebers bartaufchen Dialekt (in Kurland) harmonirt und von dem durch finniſche Einflüffe zum Teil verdorbenen Dialekt der Letten (Tahmen) im Norben Kurlands total abweicht, im Allgemeinen für urfprüng- liche Leiten halten. T. ſcheint meine (und Koskinnens wie auch Schirrens) Hypotheſe betreffs der Einwanderung ber Liven von der Seefeite ins baltishe Land nicht recht anerfennen zu wollen. Ich würde biefelbe bereitwillig aufgeben, wenn bie von mir in den „©renzen bes leltiihen Volls“ aufgeftellten Gründe widerlegt würden *).

Alfo der Kurenname beweilt nichts betrefjs der Nationalität ber Leute, die ihn tragen, berfelbe ift thalſächlich indifferenter Natur, und nur andere Gründe fönnen geltend gemacht werben, um bie fonjt vielleicht zweifelhafte damalige oder frühere Nationa- lität ber Leute feftzuftellen.

Ebenfo fcheint es mir ungenau, wenn T. p. 154 neben ben Strandliven „lettifirte Kuren“ Hinter den erfteren im Binnenlande nennt. Die Kuren find fein dritter Stamm zwiſchen Liven und Lellen; bie hier genannten leitifirten Kuren find etweber leltifirte Liven oder vielleicht auch alt eingefefiene Letten, deren lettiſche Sprache durch den Einfluß ber Sprache ber alten liviſchen Nachbarn von ihrer Reinheit einen Teif verloren hat. Maßgebend wirb für meine Auffefung der uralten nationalen Befiedelung Kurlands immer die ſprachliche Beschaffenheit der Ortsnamen fein und

*) In meinem Brief an Dr. 2. ift das Wort „ungweifelfaft“ in dem don T. angeführten Sat „die Zettifirung der in daS Turifche Küflengebiet eins gedrungenen Finnen, weldie ja an fid nicht unzweifelgaft iſt . «" fider ein Scpeibfehter für Iwelfelhaft

Die Slaven in Deutſchland. o

bleiben, wie fie als etwa den Letten zugehörig nachgewieſen werden fönnen. Ebenſo wie bie flaviſchen Ortsnamen }. ®. um Leipgig oder in Diedienburg ein ficherer Beweis find für bie vor Zeiten ba anfäffig geweſenen, allmählich germanifirten Slaven, ebenfo hätten lettifirte finniſche Stämme finniſche Ortsnamen nachgelaſſen haben müffen da, wo jegt in Nord- und Wejtkurland Letten leben. Finden wir aber ebenda in großer Majorität uralte lettiſche Orts- namen, fo iſt das für mic ein Beweis, daß bie Majorität ber ba wohnenden Letten nicht Tettifirte Finnen fein können.

Mein verehrter Freund Dr. T. wirb in dieſen thatſächlich nur Meinen fritifchen Ausftellungen und Abmeidungen nur ben Ausdrud des Grundfages fehen: amieus Plato, amicus Aristo- teles, sed magis amica veritas, unb der geneigte Leſer wird in biefen Ausftellungen feine Minderung bes großen Mertes finden, den das treffliche Werk Dr. Tehners hat.

Nah Beſprechung der lettiſchen Stämme innerhalb ber Grenzen bes deutſchen Reiches fommt nun Tegner auf bie eben dort haujenden Slaven. Die eriteren liegen dem Interefje unfrer baltiſchen Leſer näher, ich barf mich alfo im Folgenden kürzer faſſen. Die Methode, bie Gefihtspunfte des Verfaſſers bleiben diefelben.

Mit kurzen Strichen, aber lichtvoll, zeichnet er das Sprach⸗- gebiet des einzelnen flaviihen Stammes, feine Geſchichte, einzelne hervorragende Männer aus demſelben, feine nationale Literatur, fomweit davon etwas exiftirt, feine Wolföpoefie und Diythologie, Eitten, Bräude und Lebensweife u. |. w.

Aus dem Abjchnitt über die Mafuren (260,000 Seelen) im füdlichen Oftpreußen Tann id mir nicht verfagen, ein Vollslied herzufegen, welches bie Grundlage ober den Anlaß zu Goethes „Ich ging im Wald fo für mich hin“ *) hergegeben zu haben

*) Ih ging im Walde fo für mid) Gin, Und nidt8 zu ſuchen war mein Sinn. Im Schatten fah ich ein Blümlein ftehn, Wie Sterne leuchtend bie Yeuglei 34 wollt es brechen, da jagt «8 „Sol ic) zum Welten gebrochen Ih grub es mit allen den Würplein aus, Zum Garten trug ichs am hübjchen Haus Und pflant e& wieder amı ftillen Ort. Run zweigt es immer und blüget fort.

0 Die Slaben in Deutfchland.

ſcheint. Jenes lautet nad) der Ueberfegung, welde T. pag. 190 mitteilt : „Ich ging im Walde” Blümelein im Schatten ftand, Sah als ob es Weuglein hätt. Will es brechen, bittet fehr: „Ich verwelt Dir, brich mich nicht.“ Grub es jegt mit Wurzeln aus, Pflanzt es, netzt es, bis es wuchs. Heut im Garten vor der Thür, Wädjt es, blüht es, duftet mir.

Inmitten der Maſuren findet fi eine Inſel ganz anders, ſprachigen Volles. Cs find das Nuffen, Altgläubige, die von ber griechifch-fatholifchen Kirche verfolgt. hier Schuß und Freiheit für bie Uebung ihres Glaubens erjt in Polen dann in Preußen ſuchten und fanden. Sie famen aus der Gegend von Archangel, hatten 1666 gegen bie Nikoniſchen Verbefferungen der altjlaviichen Liturgie u. f. w. proteſtirt, zählen noch 500 Geelen und werben Philipponen genannt nach einem Mönd Philipp, unter deſſen Führung fie ausmanderten.

Während Tegner in feinem Wert von ben Majuren und Philipponen an bie öſterreichiſche Grenze zu den unter preußiſchem Spepter wohnenden Tſchechen und Mährern fpringt, ohne dafür einen Grund anzugeben, erlaube id} mir, in meinem Referat an ber Oftfee entlang meitergugehen und auf diefem Mege zuerft bie Kaſchuben zu berühren. Die Grenze ber Kaſchuben wird heute durch die Meichjel im Often, die Oſtſee im Norden, die Leba im Meften, das große Bruchland im Gebiet der Nege und Warthe im Süben bezeichnet. Die Zahl der noch vorhandenen Kaſchuben wird fehr verfdieden angegeben. Die wahrſcheinliche Ziffer be- läuft ſich auf ca. 137,000. Die Kämpfe ber Polen und Deutichen um die Kaſchubei oder, "vie das Land auch genannt wird, um Pommerellen (Demin. von Pommern, unb biefes flan. am Meere) übergehen wir hier billig, und ic) bemerfe nur, daß bas Gebiet der Kaſchuben, fofern es einfiges Orbensland war, in bie Provinz Wejtpreußen fällt, der kleinere weſtliche Teil in bie Provinz Pommern,

Die Slaven in Deutſchland. 71

Bas T. von den Bauten, Sitten und Bräuden ber Kaſchuben erzählt, zeigt, wie bergleihen nicht an einem Lolls- ftamm ober einer Nationalität haftet, fondern zum Teil Gemeingut verſchiedener Wölfer gewefen, ohne daß in jedem Fall nachzuweiſen wäre, wo der Urfprung des Gemeinfamen zu ſuchen ober zu finden wäre. Beiſpielsweiſe erwähne ich ben auch im baltiſchen Sande verbreiteten Ziehbrunnen oder ben Krug an ber Lanbftraße mit ber breiteren Stadolle am Ende der Wohnräume, zur Eins fahrt für Equipagen und Fuhren ober das Bekreugen ber Brobe vor dem Baden, das Annageln gefundener Hufeifen an die Thür— ſchwelle u. ſ. w. u. ſ. w.

Die einſt ſlaviſchen Bewohner Pommerns weſtlich vom Gebiet ber Kaſchuben nennt Tehner nicht, wie es fonft wohl ge: ſchehen ift, Wenden, fondern nach dem Zeugniß der Leute über ſich ſelbſi, Slowinzen. Die Zahl derfelben it auf etwa 200 bereits herabgefunfen ; bie öftlihften an ber Leba fpraden einen taſchubiſchen Dialekt, welcher wie das Kaſchubiſche ſelbſt, dem Polniſchen ähnelt. Der Gottesdienit in ſlowinziſcher Sprade hat bereits vor 1850 aufgehört und bie Germanifation fann als vollendet angejehen werden. Pommern ift auch weſentlich evan—⸗ geliſch, während die Kaſchuben fid zur katholiſchen Kirche halten.

Tegner giebt pag. 391 f. im Anfchluß an die Geichichte der Heruler ein Bild der Slavifirung Oſtgermaniens aus ben Zeiten der Völkerwanderung wie er es ſich denft und wie es nicht uns wahrjcdeinlid fein mag. Die Wanderungen der Germanen von den Geftaden ber Ditiee nad) Süden und Weſten fönnen nicht ihren Grund in einem Dlangel an Wohnfigen oder an Raum zu Aderfeldern gehabt Haben. Die Luft am Kriege, der Thatendurit, ber ungebänbigte Trieb nad) Freiheit, der fein Genügen fand an dem frieblihen Aderwerk fei es geweſen, ber bie jüngeren (Ges nerationen aus der Heimat hinausgeführt um ſich aud) wohl in den Dienft römischer Kaifer oder Heerführer zu ftellen, jebod) nur fo lange, als biefe ben Germanen ihre eigentümliie Sitte un- geſtört gelaffen. Viel fpäter, erjt nad) den Tagen der Völker— manberung, feien Weſigermanen mit dem Pfluge bewaffnet wieder über die Elbe und Oder gezogen und haben fi Heimftätten in ben nod vorhandenen Urmäldern gegründet, wo aber inzwiſchen ſlabiſches Volt während jener erft erwähnten Wanderungen ſich

”2 Die Slaven in Deutfhland.

langjam überall eingeniftet hatte. Zu Karls des Großen Zeit war ganz Dftgermanien flavifh geworden, aber deutſche Schrift: fteller, nod} zur Zeit ber Hohenftaufen, brauden noch bie beutfchen Namen für bie inzwiſchen flavifirten Voltsftämme, ef. Teyner p. 392. Id kann nicht umhin, Hierzu zu bemerken, wie unendlich viel KRonfufion unmiffenfhaftlihe Leute mit den Namen von Völkern und Volksſtämmen gemadt haben. Die Gefahr dazu liegt nahe genug. Dan benfe über die Phantafien und Fabeleien, bie über die einftigen Vollsgruppen im ſüdlichen Rußland gebichtet find. Es wimmelt ja da von Namen, melde von griechiſchen und anberen Schriftftellern erwähnt werden, von denen aber zum Teil garnicht feitlteht, ob fie beſondere Nationalitäten oder Heine lokale Gruppen einer Nation bezeichnen, ob nicht vielleicht mehrere dieſer Namen gar benfelben DVolfaftamm bezeichnen u. ſ. w. Ebenſo zahlreich find die Fabeleien über die Völker an ber Oftfee, haben doch Letten auf Grund ganz irrtümlicer Vorausfegung 3. B. über das fogenannte heruliſche, eigentlich lettiſche Vaterunſer, welches den Herulern fälfchlich zugeſcheieben worden war, im ſchwellenden Größenwahn gemeint, Letten hätten bie Macht Noms allendlich niedergeworfen.

Der Name Pommern (Pommerania) neben Kaljubien ift erft furz vor ber Mitte bes 13. Jahrhunderts für das ältere Slavien (Silevonia), das Gebiet von ber Peene (meftlihe Mündung ber Ober) bis zur Perfante (mündet bei Eolberg), üblich geworden. Bis zum Ende bes 13. Jahrhunderts wurde Weſtpommern bis ins weltliche Mecklenburg hinein Kaſchubien genannt; von da ab tam für daſſelbe Gebiet ber Wendenname auf. Die Infel Rügen, geitweifig ein Hort ber Sfaven, ift feit 1404, wo die legte Wendin ftarb, vollitändig wieder germanifirt. Der Neformator Bugenhagen führte in Pommern die plattdeutſche Schriftiprade ein, und das Deutſchtum war fo mädtig geworden, daß an flaviihe Bücher nicht mehr gedacht wurde.

Bon den Polaben (für Poalben, Elbſlaven) fann heute als von einem eriftirenden Volk nicht mehr die Rede fein, fie find jet vollftändig germanifirt. „Wenn in ber erften Hälfte bes 16. Jahre hunderts in ber Jabelheide zwiſchen Lubwigsluft und Dömig noch ſlaviſch gefprochen wurde, fo ſcheint doch das Deutſche ſchon damals fo mächtig geweſen zu fein, daß man ſich nicht gedruckter polabiſcher

Die Slaven in Deuiſchland. 73

Bücher bediente.” Selbft die Reformation brachte ben Polaben feinen Katechismus ober fonft ein kirchliches Büchlein in ihrer Sprade. In der zweiten Hälfte bes 18. Jahrhunderts ift bie polabiſche oder wendiſche Mundart in drei füneburgifchen Nemtern, das Hannöverfche Wendland genannt, zulegt noch gehört worden. Anfang des 19. Jahrhunderts waren es nur nod) Einzelne, bie bie Sprache ber Väter fannten. Die älteften Nachrichten bezeugen, daß bie Polaben öftlih an die Slovinzen in der Odergegend und ſüdlich an bie Sorben gegrenzt haben. Cie haben alſo öftlich von der Elbe ungefähr das heutige Mecklenburg und den Kreis Weit: priegnig von ber Mark Brandenburg eingenommen. In ben Kriegen Pipins und Karls gegen bie Sachſen ftanden bie Wenden auf der Seite ber fränfifhen Könige und wurden wahrſcheinlich von dieſen auf dem Grund und Boden befiegter Sachſen angefiebelt und mit Vorrechten beichentt.

Wollte man genauer feftitellen, wie weit im Norboften Deutfchlands Germanen bie Priorität vor Slaven gehabt haben, fo ließe fi) das vielleicht nach derfelben Methode erreichen, wie ich in meinen „Örengen der Letten“ die hiftoriiche Priorität ber legteren vor ben Liven in Norbkurlend und Südweftlivland nachzuweiſen verfucht habe. Es müßten die Ortsnamen vom Menbland bis ins Weichjelgebiet aus den älteften Urfunden und Chroniken zufammen- gelucht und auf ihre fpradhliche Entftehung bin geprüft werben. Es bebürfte allerdings ber feinften Kritit und Kombination, um nicht in bie Irre zu gehen. Ich weiß nicht, ob irgend jemand einen folhen Verſuch ſchon unternommen haben follte.

Wir fommen zu den Sorben, beren Gebiet einft bis in das Herz Deutichlands Hineingereicht hat. Tegner wählt diefen Namen für den früher gebräuchlichen Wendennamen, welden man von Alters her allen ſlaviſchen Nachbarn der Germanen beizulegen pilegte (ähnlich wie bie öſtlichen Nachbarn ber Deutſchen ben Namen ber Welihen (Gallier, Kelten) führten, mochten es nun bereits Italiener, Franzoſen ꝛc. geworben fein). Tehner will mit Recht die einzelnen ſlaviſchen Stämme nad) ihrer Verſchiedenheit mit befonderen Namen bezeichnen, mie folden bie Stämme ſelbſt ſich gegeben haben. Das Gebiet der Sorben begrenzt Tegner dur) die Saale, das Grägebirge, ben Wober, bie untere Spree und Havel. In diefe Grenzen ift alfo eingeſchloſſen

2 Die SIaven in Deutfchland.

bie alte Lauſitz, melde jet zum Königreich Sachſen, zu Sclefien und aud) zu ber jegigen Mark Brandenburg gehört, ebenfo auch ziemlich das ganze Oberfachien. Im Jahre 1987 fahen bei Köpenis, füblih von Berlin, nod Wenden. Heutzutage find die Refte der Sorben nur noch in der Kottbufer Gegend (Spreewald) im Oftenbe bes Königreichs Sachſen und im Nordweſtende Schlefiens vorhanden. Die Zahlenangaben der Statiftik find aber hödt ungenau, weil nicht nad) einem einheitlichen oder wiſſenſchaftlichen Prinzip aufgegeben. Abfichtlich germanifirender Einfluß findet von feiner Seite ftatt. Die Germanifirung ift von innen heraus ein notwendiger Prozeß. Aufhalten läßt er fi nicht. Sorbiſche Gottesbienfte werben meijt nur abwechſelnd mit deuiſchen gehalten. Die fatholifhen Sorben halten mehr ihre Nationalität feit; die evangeliſchen werden durch das Bildungsbedinfniß mehr zur deutſchen Sprache getrieben. Tepner giebt bie Geelenzahl ber Sorben noch auf 110,000 an.

Auch das Sorbenland ift urfprünglic von Germanen beiegt, befiedelt gewefen. Beweiſe führt Tegner nicht gerade dafür an, aber es ſcheint der Analogie zu entipreden. Karl der Große ſcheint in Güte mit den Sorben ausgefommen zu fein. Die fpäteren Rarolinger Haben, unter ihren Angriffen zu leiben gehabt. Erft Heinrich I. und dann die Ottonen brachten deutſche Herrſchaft, bas Ehriftentum und deutſche Sprade. Dazu fam im 13. Jahr» hunbert bie große Giebelarbeit der Thüringer, Flamen, Franken, Bayern und Sachſen in den Grenzen bes Sorbenlandes. Heut⸗ zutage wirft auf die Auffaugung des Sorbentums in den Dörfern mit unabſichtlicher Macht aber ftetig der Einfluß der deutſchen Gutsherren, Handwerker und namentlih Gaftwirte, endlich ber deutſchen Beamten unb ber deutſchen Bauern, dazu ber Einfluß des beutichen Penfionats, wo das Dorfmädchen als Sorbin hinein- tommt und als Deutſche austritt, der Einfluß bes ftäbtiihen Dienftes, in welchem der Dorfjunge höheren Lohn befommt und endlich die Militärpflit. Der Burſche bringt die deutſche Sprache mit heim und behält fie auf bem Dorfe bei. Paſtor und Schul: lehrer ehren und pflegen natürlich bie nationale Sprade. Den- ſelben Prozeß fehen wir aud) in anderen Ländern, bemerfen aber, wie der Bauer überall am leichteften ſich nur dem Volkstum eines Stanbesgenofjen anähnlicht. Gleich und gleich gefellt ſich gern.

Die Slaven in Deutſchland. 75

Die Tihegen und Mährer an der Südweſt- und Südgrenze Schlefiens berühre ich hier ganz kurz. Beide biefe flavifhen Stämme hängen in ihrem Urfprung, Sprade und Sitte mit ihren zahlreich und heutzulage national auffteigenden Brüdern jenfeit der öftreihiihen Grenze eng zufammen, gehören nun aber feit den Tagen Friedrichs des Großen mit Preußen und dem deutſchen Reiche politiſch zufammen und unterliegen nun unabwendbar ben Kultureinffüflen des deutſchen Volfes. Bodenanſäſſig find in der Grafihaft Glatz nur etwa 5000 fatholifche Tſchechen (ein Kirchipiel). Zur Zeit Friebrichs des Orofen wurden fünf evangelifche Kolonien, in Schlefien zerftreut, von böhmiſchen Brüdern gegründet. Die Seelenzahl beträgt c. 7000. Die Kirchenſprache ift bei biefen legteren teils tſchechiſch, teils bereits deutſch.

56,895 Mährer bilden eine Spradjinfel, find aber bereits zweiſprachig.

Die Zahl der Polen im deutſchen Reich giebt Tehner auf 2,5000,000 an, melde ziemlich tompaft an ben Grenzen bes ruſſiſchen Königtums Polen in den Provinzen Mejtpreußen, Schleſien und Pofen figen. Interefjant ſchildert T. bie Sadjien- gängerei gerade ber Polen. Diefe ſuchen Arbeit und höheren Lohn in ganz Norbbeutichland bis weit in bie Aheinlande, und helfen dem wachſenden Mangel zum Teil an Fabrifarbeitern, namentlich an Landarbeitern ab, ber ſich bei dem Zuftrömen ber Landbewohner in bie Städte mehr unb mehr geltend macht. Dieſe Sachſengänger tommen nicht allein aus den beutichen Grenzbiftriften, ſondern aud aus Nuffiih-Polen her, gehen für ben Winter meift in bie Heimat zurüd, bleiben aber auch nicht felten hier und ba in Dörfern und Städten zurüd und bilden bafelbjt allmählich wachſend auch Meine Gemeinden und bewahren fi gern ihre Sprade und Sitte.

Der Pole ift im Feſthalten feines Volkotums zäher als die anderen von T. beiprochenen flavifchen Stämme in folge des Rückhalts, den er an den c. 61/. Millionen Brüdern Hinter ber ruſſiſchen Grenze hat, infolge auch der gebildeten Stände, die er in Preußen felbft als feine Führer befigt und enblid infolge ber immerhin großen Erinnerungen, bie ihm bie Geſchichte feiner Vorfahren und deren einftige Herrichaft von Danzig und Niga bis ans Schwarze Dieer aud) eine Hoffnung geben auf einmal wieder:

76 Die Staven in Deutfhfand.

fehrende Größe, mag biefe auch nur ein Phantafiegebilbe fein. Seit einiger Zeit ift bie polnifhe Nationalität nicht im Burüd- weichen, fondern in einem gewiſſen Vordringen gen Weiten begriffen, aber die preußiſche Regierung ift wach und energifch genug unb thut vieles, fei es auch nicht um bie polniſche Sprache zu verbieten ober zu tilgen, fo body um das deutſche Vollstum in ben Grenz gebieten namentlih durch Kolonifirung deutſcher Landwirte und Landarbeiter zu ftärfen.

Auch die Polen find wohl in deutſches Land bei ihrer erſten Einwanderung gefommen. Es wäre zu wünfhen, daß eine genauere hiftorifche Unterſuchung über die älteſte Bewohnerſchaft Norboft- deutſchlands von kundiger Hand verſucht würde. T. teilt bie erften flavischen Einwanderer, die in das Weichfelgebiet famen, in vier Gruppen: Polen, Lutizen, Majovier und Pommern. Die Polen (Bewohner ber Ebene) fanden Nejte alter germaniſcher Völker ſchaften vor, benugten ja Burgunder, Heruler und Goten die Fluß- thäfer als Heereswege und fiebelten wie alle Völker zunächſt an ben Gewällern. Das allmähliche Vorrüden ber Slaven in deutſche Gebiete fällt in bie Zeiten der vernichtenden Kämpfe zwiſchen Rom und Germanien. Die Völferwanberung war ja eine allgemeine Bewegung von Oſten nad) Weiten. Nachdem dieſe Bewegung zu einem gewiſſen Stiffftand gefommen war, manbte fid) feit ben Tagen Karls des Großen mit ber wachſenden Macht des fräns fiihen, dann bes beutfchen Neides, der Kampf mwieber rüdwärts von Weften nad) Often. Inzwiſchen hatten aber die Reſte deutſcher Bevölkerung unter ben Slaven ihre Eigenart aufgegeben und es begann von ba ab ein Prozeß, wie wir ihn heute in ber Wiebers gewinnung Eljaß-Lothringens für das deutſche Volkstum finden. Hatte doch Elſaß feinen deutſchen Sinn, Lothringen feine deutſche Sprade jeit der Eroberung durd) Lubwig XIV. zum Teil verloren.

Es ift nicht möglid, bie reichen kulturgeſchichtlichen Mittei- [ungen Tetzners, die er in bie Geſchichte ber nationalen Wand» lungen einwebt, hier wiederzugeben. Die Fülle berfelben ift zu groß, ebenſo wo er von ben Polen, als wo er von ben anderen ſlaviſchen Stämmen ſpricht. Nur Kleinigkeiten fann id) bemerten, 3 B. im 12. und in ben folgenden Jahrhunderten find Deutſche zahlreich ins polnifde Land gekommen, haben Handel und Handwerk und Bildung hingebracht, haben Stäbte mit Magdeburgiſchem Recht

Die Sladen in Deutſchland. 77

gegründet, in welchen deutſche Ratsherren das Regiment führten. In 300 Jahren aber wurden dieſe tüchtigen, durch ihren Fleiß wohlhabend gewordenen Einwanderer zum großen Teil polonifirt. Der Deuiſche hat ja überall eine größere Nadjgiebigfeit als andere Völker und namentlih als die national fanatiihen Polen, und giebt fih zu leicht fremden Einflüfen hin. Denfelben Prozeß, ben T. aus dem Poſenſchen berichtet, kennen wir aus bem Könige reich Polen, ja aus Polniſch-Livland, wo eine fo große Menge deutſcher Familien ſich unter polnifher Herrihaft dem Polentum und zum Teil bem Katholizismus angefchloffen Haben. Nach bem Untergang des deutſchen Ordens und nad) dem Beginn bes 3ojährigen Krieges wurde das ganze Polenland von einem ganzen Strom beutf—er Koloniften durchtränkt, Evangeliſche aus Böhmen vertrieben, und vielerlei anderes Volk zog hin, wo bie Konfeffion ihnen gewährleiftet war. Sogenannte Hauländer machten in ben polnifchen Wäldern Robungen, z. B. auch aus ber Gegend bes Friſchen Haffs, von denen ſich bis Heute eine ganze evangelifche Gemeinde bei Breſt-Litowok erhalten Hat und deren urſprünglicher Name Hauländer ſich da in Holländer gewandelt Hat, ohne daß boch dieſe Leute je aus Holland hergefommen wären. Schon oben ift erwähnt, daß die preußiſche Negierung (Bismard 1886) ein neues, weitzielenbes Projekt zur Kolonifation von beutichen Land: leuten ins polnifche Gebiet auszuführen begonnen hat. Kanzler von Bülow iſt foeben im Begriff, daſſelbe bedeutend zu erweitern.

Id muß mein Referat fliehen. Es follte eine Rezenſion fein, aber ich habe weniger zu kritiſiren gefunden, als vielmehr mich gebrungen gefühlt anzubeuten eine große Fülle angiehendſien Materials aus der Gedichte und dem Leben einer Reihe von Volfsfplittern, deren Gebädtniß um fo mehr verdient der Nachwelt aufbewahrt zu werben, als bie Tage diefer Nationalitäten gezählt erſcheinen. Ich fafje noch einmal zufammen, daß es Dr. Tepner gelungen ift, den großen Stoff vortrefflid zu beherrſchen. Die biftorifchen Aofchnitte geben in großer Kürze ein wirkliches Bild ber Creignifje oft aus einer langen Reihe von Jahrhunderten, Einzelne Heine biographiſche Skizzen find meifterhaft. Die von mir felbftverftänblih überfprungenen Darftellungen ber Dorf und Hofbauten, der alten heidniſchen Volfsreligion, der Sitten und Bräuche geben in großer Kürze und oft in origineller Art immer

8 Die Sladen in Deutſchland.

Intereſſantes, 5. B. ganz allerliebfte Sprihmwörter *). Cs läßt fih aber nicht Alles hier aufzählen, und ich nenne nur noch bie 215 ſehr hübſchen Iluftrationen, Karten und Pläne. Dr. Tegner hat fi ein Verbienft um bie Vollsfunde erworben.

Litteräriides.

8. Garneri. Der moderne Menſch. Bonn, Emil Strauß. 1901. 6. Aufl,, geb. 4 Marl.

Garneri ober, wie fein voller Name lautet Batholomäus Nitter von Garneri, der eine ganze Dienge von Schriften politiſchen und populärphilofophifhen Inhalts, auch einige Bände Gedichte hat druden lafjen, veröffentlicht die vorliegende Schrift unter bem vielveriprehenden Obertitel: „Schriften zur Förderung einer freien und wiſſenſchaftlich durchgebildeten Weltanſchauung im deutſchen Volke“, Schriften, unter denen, nebenbei geſagt, auch Häckels „Welträtſel“ erſchienen ſind.

Der moderne Menſch der Titel iſt eigentlich nur ein geidiet gewähltes Aushängeſchild für dieſes Buch, welches weber fagt, was man unter einem modernen Menden zu verftchen hat, noch auch ſehr moberne Gedanfen bringt. Es ift eine populäre Ethik, wie ſchon die Titel der einzelnen Betrachtungen oder Eſſays zeigen. Fragt man, wie bei jeder Ethif, nad) dem Prinzip des Guten, fo erhält man bald eine klare Antwort: gut ift das, was das Glüdfeligfeitsgefühl des Einzelnen Hervorruft oder fteigert. Die Gerechtigkeit verlangt aber zu ergänzen, daß die Glückſeligkeit bei Garneri nicht bie Form bes rein animalif—en Glüdjeligfeits- triebes trägt, die für die Grundlegung einer Eihit ebenfo wenig in Betradt füme wie für die Beſtimmung wahren Glüds. Nein, Carneri fennt eine tiefere Glüdjeligfeit, die Befriedigung nach

*) Probemeife muß id; cinige polnifche herſehen: Die einen erjagen in Sümpfen das Elen, dic anderen verzehren den Braten im Trodnen. Er inarri wie cin pofnifches Fuhrwerl. Trau nicht dem Hund, wenn er fhläft, dem Juben, wenn er fipreit, dem Zrunfenbold, wenn er betet. Er lügt wie der Kalender. Wenn der Teufel nicht ausreicht, ſchict er ein altes Weib bin. Er ſchmiert den Spich ſchon mit Butter und die Vögel fingen noch im Walbe.

Die Gefege gleichen Spinnweben, bie großen Gummeln breden burd, bie duegen bleiben hängen,

Sitterärifges. KL}

wirklich gutem, bem Allgemeinwohl bienenbem Handeln. Immerhin liegen die Schwächen einer folden Grundlegung ber Ethik far zu Tage. Was gut it, fagt diefe Arbeit überhaupt nicht, ſondern nur, was angenehm ift. Stimmt nun das Angenehme mit dem wirflich Outen überein, fo bewirkt dies ein günfliger „Zufall“, nicht aber bie Nichligkeit des Prinzips. Günftige, aud) nod) fo günftige Zufälle find aber eine fehwache Grundlage. Auferdem bleibt bei einer ſolchen Begründung ber Ethik die legte Inſtanz immer das „guie Gewiſſen“. Nun ift in tieferen ethiſchen Werfen, ja ſchon im Kathehismus für die Volksſchule bis zum Ueberdruß wieberholt worben, daß das Gewiſſen durchaus nicht immer ein gutes ift, jedenfalls feinen ausreichenden Mafitab für das Gute abgiebt, weil es verborben und verbildet werden kann. So fteht bie Kathehiomus- Weisheit Höher uls bie Ofücjeligfeits « Ethit Garneris.

Wieder fehen wir an einem efatanten Beifpiel, wie bie religionslofe Moral nicht zu einer jtichhaltigen Begründung der Ethik kommen fann. Religionslos aber will die Ethik Carneris fein aus volliter Ueberzeugung. Diefer Punkt verbient einige Beadjtung wegen ber Chrlichfeit, mit ber ber Eſſayiſt ſich auf €. 73 als einen „Glaubensloſen“ vorftellt, „der in feiner Jugend von ganzem Herzen einer pofitiven Neligion ergeben war, im Verlauf feiner Entwidelung zu einem wiſſenſchaftlich gefärbten Deismus und von biefem zu einem Pantheismus übergegangen ift, der ſich ihm ſchließlich, mochte er wie immer ihn wenden, als ein unbaltbarer Glaube herausgeftellt Hat.“ Der Verfaſſer fennt die Neligion, er giebt aud) ihre Möglichkeit zu, noch mehr: er ſchätzt fie als Erziehungsmittel jehr hoch und will fie aus bem Jugend— unterricht durchaus nicht entfernt willen. Diele Schägung bewegt ſich nidt in den oberflädlihen Bahnen derer, die den Religions: unterricht als Mittel zum Zweck für das Volt und bie Kinder zeitweilig dulden wollen, fondern Carneri ſpricht es deutlich aus: feiner Meinung nad) gehen durch die religiöfe Unterweifung die Begriffe „gut und böſe“ den Kindern in Fleifh und Blut über. Das heißt mit anderen Worten: das Gewiſſen des Kindes wird in redter Weiſe gebildet, wenn es religiös beeinflußt wirb. Darin fieht Carneri eine Garantie für bie fpätere Moral der fo Erzogenen.

bo Litterärifhes.

Kann man eine grünblicere Aufhebung feinen eigenen reli— gionslofen Pofition liefern, als er fie dadurch felbit geliefert hat?

Ferner ift für den Verfaffer charakteriſtiſch, daß er nur bie römifcfatholifche Form ber Religion fennt. Das geht Mar aus allen Stellen hervor, an denen er über ben Glauben, bie Kirche, die Fafuiftijche Dioral und Aehnliches fpricht. Wenn er ſich da über Mißbrãuche, Legenden, Aberglauben äußert, fo wird man ihm Recht geben. Aber er meint damit alle Religion zu treffen und darin verfieht er fi. Aus feinen eigenen Morten ſpricht vielmehr ein religiöfes Bedürfniß, das ſich im evangelifhen Glauben wohl befriedigen ließe, einem Glauben, ber nicht Fulturfeindlich und nit wiſſensfeindlich ift, fondern aud) dem modernen Menſchen das geben fann, was er braudt, wenn er nicht ganz Intellelt allein geworben if, wenn er auch Herz und Gemüt und Gewiſſen hat. Unfer Verfaffer aber hat Herz, viel Herz, das zeigt er in den durchweg ſympathiſchen und ernftfittlihen Kapiteln über Liebe, Ehe, Familie, ben echten Stichproben für den Wert einer Ethik. Ihm find eben, wie er felbjt fagt, durch ben Neligionsunterricht feiner Jugendzeit die Vegriffe gut und böfe in Fleiſch und Blut übergegangen. Nebenher gehen dann freilich Ausfprüde über Religion, wie fie in ihrer Oberflächlichkeit bei einem ſolchen Manne überraſchen. Da find Strauß und Feuerbad feine Lehrmeifter.

Die Form des hübſch ausgejtatteten Buches ift fehr gewi nend: kurze Kapitel, in diejen kurze Sähe, bie häufig aphorismen: artig pointirt find. Nur die Phraſe ift nicht ganz vermieden. Gar zu komiſch wirkt endlid die Oefliffentlikeit, mit der ber Verfaſſer dem „du folljt” aus dem Wege geht. Er will natürlich fein Sollen gelten laffen im Sinne ber von Kant perhorrejjirten Heteronomie. Darum meibet er peinlich das Wnrt „jollen“ felbit da, wo er es braudt. Dafür fept er dann immer: „der Menſch hat das und das zu hun”, was ja beinahe auf daſſelbe hinaus: läuft, aber oft zu ſchwerfälligen, oft auch zu brofligen Wendungen Anlaß giebt und ſchließlich in dem unwiderſtehlich komiſchen Aus— ſpruch gipfelt: „man hat die Anlage zum Humor mit auf die Welt zu bringen.” ©. 178. Wie macht man bas?

Ernst Külpe.

das erfte Jahrzehnt der ehemaligen Univerität Dorpat.

Aus den Memoiren des Profeffors Johann Wilhelm Rraufe. Edhluß.)

Joh. Ludw. Müthel, Profeſſor des Livl. Rechts d. d. 24. Febr. 1802.

Sein Vater war Prediger in Seßwegen in Livland Wendenſchen Kreifes. Er bereitete ſich in Kloſterbergen [bei Diagdeburg) unter Abt Reſewitz zur Aabemie vor, ftubirte in Halle Rechtsgelahrtheit und trat frühe ins Geſchäftsleben, 1798—99 bis 1801 als Sekre⸗ tarius bes rigiſchen Landgerichts. Eine Art astetifhe Säure ſchärfte fein fonft zart befponnenes Herz und Gemüt, er witterte überall Gaunerei der ſchlimmſten Art. Cs wollte Manchem vortommen, als wäre ein Torquemada oder... . in ihm untergegangen. Er verheiratete ſich früh mit der ſchönen Sybille Schmidt, einer Tochter des Neuhaufenihen Prebigers, Enkelin bes quondam Chren- Generalfuperintendenten Lenz in Riga, welcher früher Oberprediger in Dorpat gewefen war. Sein Sohn David folgte ihm in Dorpat als Oberpaftor, ein zweiter Sohn war Sefretarius beim Hofgerichte, ein britter Sohn Oberfisfal in Niga. Seine Töchter Hatten Paſtoren, Schmidt und Pegau in Kremon, zu Ehefreunden. Ober: paftor David hatte ben Dörptihen Oberfekretär, ben Ringenfchen Paſtor und ben jüngften ber Söhne, Eduard, etliche Töchter, von benen bie eine 1312 in ben ſtürmiſchen Tagen in Mostau verloren ging. Der gute, wahrhaft menſchlich treu gefinnte David Lenz erlebte dieſes Unglüd nicht; fein Sohn Eduard wurbe fein Nachfolger im Amte, 18207, 252 wurde er Profellor der Theologie.

Müthel kam alfo recht in die Mitte feiner Verwandten. Die ſchöne Sybille fegnete ihn in beiberfeitiger Seoeneitle mit

Dorpat 1802-1812.

zei Söhnen und vier Töchtern, unter denen Minna Jäſche Reut⸗ Tinger ſich befonbers auszeichnete. Er hatle etwas väterliches Ver— mögen ; allein bei ber ſich mehrenben Familie und bei ben fleigenben Preifen ber Lebenserforderniffe zu einem gewiſſen Anftande reichte es nicht zu, um forgenfrei malten zu fönnen. Geine erregbare Sinnesart und Spbillens Feuereifer erhielten ben beglüdenben Frieden nicht immer. . . .

Müthel gewahrte gleich bei feinem Amtsantritte bas Schwan- kende ber Abelsuniverfität, er fondirte, fand feine fihere Grund- Tage, und es erfolgte bie oben [&. 242 ff.) angebeutete Regeneration ber Univerfität. Hier bewährte ſich Mülhels Eifer, Einficht, Thätig- feit. Parrot hätte nicht mit fo glüdfichem Erfolge für die Soli— dität ber Univerfität zu wirfen vermocht, wenn ihm nit Müthel mit juridifhen Formen bei ber Fundationsafte und Präliminar- ftatuten 2c. zu Hilfe gefommen wäre. Es lag zu Tage, im Olympe mußte man in allen Dingen Beſcheid und Hilfe, wo Geld und Bajonette ausreichen, aber das Univerfitäten: und Schulenmaden, fo daß fie ineinander griffen und gemeinfchaftlih zu einem großen Zwecke dienten, war noch nicht vorgefommen. Man forderte und forderte Vorfchläge, prüfte, beftritt, verwarf, forderte neue und ftatuirte etwa die Hälfte ober zwei Drittel. Der Mäctig-Gewäh- rende behält immer Neftriftionen, vor- und rüdwärts wirfenbe Motive, fo daß bei Allerhöchſter Sanktion dennoch Einſchieben, Ergängen, Auslegung oder Andersftellen offen bleiben, wodurch bie Grunbbedingungen und deren Erfolge nimmer zur normalen Feſtig- feit gelangen fönnen. Dadurch lernte eine Partei von ber andern, und bie Fundamentalien zu den übrigen Univerfitäten und Schulen bes Neichs find, mit Iofalen Abänberungen, Kopien der Dorpiſchen aus Müthels Geift und Feder. Sie werden ihm ein ſiets ehren: volles Denkmal bleiben, ba fie nach vielem Künſteln und Drechſeln in ber Grundform dennoch mandes echt Deutſche enthalten.

In feinen Vorlefungen war er nicht glücklich, obgleih bie Zahl ber Studirenden ſich mehrte und das Kaiſer-Gebot, bei Belegung ber Behörden auf bie Zöglinge der Univerfität befonbere Rüdficht zu nehmen, das Unterfommen ber Juriften erleichterte. Freilich fehlte ben Subjeften noch viel zur volltänbigen Geicäfts- führung ; unterbefien vermochten bie auch noch mangelhaft gebildeten Sekretäre und Aſſeſſoren befjere Dienfte zu leiften, fih mit ben

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zum Zwede leitenden Grunbfägen bes Rechts, ber Verfaflung und Juftigpflege leichter einzuftubiren, als verabſchiedete Offiziere ober verjunferte Sandbefiger. Die kaiſerliche Zufage, bie Univerfität auf Landbefig zu fundiren, erforderte viel Kenntniß der Landes: verfaffung und ein eigenes Verwaltungsftatut. Gollte biefer Zuſchnitt ber Univerfität möglid) werben, fo mußten bie benomis nirten Landgũter den Rameralhöfen entzogen werben. Man mußte meſſen, taxiren, um fihere Regeln zur Verpachtung und zur Ver befierung ber Rente zu erhalten, um fie dem lauernden Eigennuße in ben Torgen zu entziehen; bie Rommunferoitute mit Privat: gätern mußten gehoben, bie mangelhaften Grenzen geſetzlich beftimmt werden. Alles diefes, mehr zergliedert, dergeftalt von einem etwas erfahrenen Kollegen, von Juriſten, Rameraliften und andern Erfahrneren geprüft und erwogen, machte Mütheln beforgt, die Univerfität mit unendlicher Wrbeit zu überladen, in unüber- fehbare Weitläuftigfeiten mit den Rameralhöfen und Privatbefigern zu verwideln, die den Kronsetat ber Oſtſeeprovinzen faft total teformiren mußten.

Der Adel murrte über die faiferl. Verheißung von 400 Hafen in Sandgütern: „womit fol der Monarch unfere treuen Dienfte in Arrenden belohnen, wenn alle Kronsgüter von den Schludern verjhluct werden?“ Der Anaul war zu verwirrt, Behörden und Abel fühlten fid) ungeneigt, denſelben auf bie leichtefte, gerechtefte und biligite Art zu entwideln. Hierzu gehörte Zeit, Geld, Autor rität, viele Einfiht und großes Vertrauen in den Dirigirenden. Ber von ber Univerfität hatte die Einfiht? Wer bei jo viel andern bringenden Gefchäften bie Zeit? Und gleichwohl mußten Univer- fitätsleute babei fein, um ben Zufammenhang ber Geſchäfte fennen zu lernen und mit Verftand das Vefte der Univerfität ganz parteilos beachten zu fönnen. Mande träumten ſchon von guten Gelegen- heiten ꝛc. Wer von den Profefforen follte das Oekonomiſche, wer das Juridiſche, wer das Merkantiliſche betreiben. Jedes biefer Fächer erfordert einen ganzen Mann und feine ganze Zeit an ber Spige und eine wohlgeorbnete Kanzelei. Ohne diefe Anordnung mußte bie faiferl. Huld zum Verderben der Univerfität gereiden.

Müthel verftand dieſe Winke befjer, als irgend Jemand, er ahnte bie verderbliche Verfettung fo vieler Schwierigkeiten, jtimmte für das Aufgeben ber verheißnen öfonomifchen Derhältnifie, und

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Ale ftimmten ihm bei, und zwar um fo lieber, als bie erften Bermaltungsverfuche einiger weniger Hafen Wuttigfer, Unrepshof, Aidenhof*) große Diühfeligfeiten hervorbradhten, bie erforberlihen Summen nit lieferten und die Notwendigkeit erzeugten, jedes Dal um die Ergänzung ber Etatſummen burd) ben Heren Kurator und Minifter vom Monarchen zu erbitten. Lieber Alles von ber lanbesväterlihen Huld und Gnade zu erwarten, aus der Staats taffe zu beziehen, Zeit und Kraft auf ben Zwed ber Univerfität, als auf neue Verwaltungszweige, benen man feineswegs gemachfen war, ji verwenden? Alſo dietum factum. Baare Etatjummen und verliehene Landgüter ruhen beide gleich fiher in der Gnaben- taſche des Monarden. Lieber alfo das Kürzere, als das auf fehr ſchwankenden Füßen ftehende, von Zeit und Handelskonjunkturen abhängenbe Längere und ficher nicht Fettere! Die damals obwal- tenden Ariegesumflände in Finnland 1809—10, bei Pultusk, Eylau 2c., 1811 2. und ber drohende Einfall der Franzofen in Rurland, Livland, Litauen 2c. geitatteten feine weiteren Verſuche. Dan fegte von oben her den Etat feit, zahlte ein Tertial voraus und ber allerdings wichtige, tief in bie Verfaſſung diefer Provinzen eingreifende Plan hob ſich auf.

Müthel verlor feine Frau an den Folgen des Rindbettes. Er folgte ihr bald genug den 25. Mai 1812, von allen Neblichen betrauert.

* * *

Dr. Daniel Ball, Profeſſor der Pathologie, den 24. Febr. 1802.

Er ſtammte aus Preußen, vielleiht ein Nebenfprofje aus dem herrmeifterlihen Stamme bes heldenmütigen Herm. Balk, der aber 1238 Altersfhwäce wegen abdanfen mußte. Von unferes Vrofeffors NAusbilbungsgefhichte ift nichts Bulammenhängendes befannt worden. In Königsberg Hatte er ftubirt, geliebt, geheis ratet. Trat in Rurland als glüclicer Arzt auf, friftftellerte in feinem Face mit Beifall der fogenannten Kenner, wurde Kreisargt in Jafobjtabt und wurde von daher nad) Dorpat berufen. Balk nahm an allen Ereignifien der Univerfität Anteil. Weltfenntniß,

*) Wottigfer im Dorpiſchen Kreife; Anrepshoff im Doͤrpiſchen Rirhfpiel ; Aidenfoff im Felfinfejen Kreife,

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Scharfſinn, Witz und Leichtigkeit im Arbeiten machten ihn ſchätbar, welches Alles durch freundliches, zuvorfommendes Weſen, Dienft- fertigfeit ohne Eigennug und herzliches Mitteilen unterftügt wurde. Unterbeijen wollten die Nigoriften in der Folge eine gewiſſe Locker⸗ heit in feinen Grunbfägen der Moral bemerken, e. g. gut Eiien, Trinken, Spiel, witig in die Pfanne hauen, unbedachtſame Mit: teifungen im frohen Sinne, nebft Augen: und Fleiſchesluſt, auch wohl bisweilen über oder unter ber Wahrheitslinie feine Anſichten und Meinungen wohlberebt und mit Wahricheinlichfeit vortragen, um bie Lacher auf feiner Seite zu haben.

1804 wählte man ihn zum Rector magnificus, und er regierte das Schifflein ganz in bem republifanifden Sinne ber Statuten, d. 5. in vollſtimmigem Beirate aller Mitglieder des KRonfeils, nad) Parrots pofitiihen Winfen und nad Müthels juridiſchen Anfihten. Unterbefien hatte fi) Die mediziniſche Fafultät durch Iſenflamm und Kautzmann, durch mehrere Philofophen, als Germann, Dorgenftern, Gaspari, Glinka, Rambach, Scheerer 2c. verftärft. Die Anfichten erweiterten fi, aber aud) oft leidenſchaft⸗ licher Widerſpruch, befonders über die Verwaltung der kliniſchen Etatsfummen. Es herrfchten überhaupt viele Vorurteile gegen Iſenflamms Anatomikum, Balks Verpflegungsanftalt mit ſchmucken Aufwärterinnen, gegen Deutſchens Hebammenunterricht, welche alle in Bürgerhäufern fo lange unterhalten werben mußten (1805 bis 1807), bis bie im Bau ftehenden Gelegenheiten [bezogen] werben Eonnten. Die Erlanger (Ifenflamm und Kautzmann) betrugen ſich überhaupt anmaßend, hielten ſich allein für Berufene, die übrigen für Zugelaufene, nahmen feine Rüdfiht auf das Mögliche des Geleifteten, tabelten geringfhägig das mit folder Anftrengung zu Stande Gebrachte, ohne eine der mißlichen Lagen anzuerkennen, die mit Angft und Sorgen durchwadet worden war, und äußerten nicht jelten, fie würden ganz andre Erfolge bewirkt Haben 2. 2c. Sie gaben bald Beweiſe, unter manden andern nur ben: ben Plan zum Ausbau einer Kaſerne [jegt Klinit) zu prüfen und genauer zu beftimmen, ber zwei Jahre lang liegen blieb, und nun erft, als fie es bezogen, mit allerlei Mäfeleien und Forderungen hervortraten. Aus biejer Quelle floß viel Ungemad für Alle! Balt behielt die Direftion über das Ganze. Es iſt nicht zu leugnen, baß Liberalismus vorwaltete, und als das Konfeil andere Direk-

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toren ber Defonomie einführte, herrchte jebe Seftion in ſich befto freier. Es würde einen guten Band füllen, wenn alle Vorfälle der Direktoren, Affiftenten, Studiofen, Wärterinnen ꝛc. erzählt werben follten.

Balk trank und fpielte nun fleißiger, verlebte bie meiſte Zeit auf der Muffe; feine Kenntniffe, fein Witz überbot Alle, bis Ehren⸗Guſtel Peterſen ihn perfiflirte und [ihm] ein Paar Ohrfeigen von einem burcreifenden Offizier verſchaffte [ugl. S. 371]. Von ba an minderte fein Kredit ſich merklih. Ein Stabtarzt, Dr. Wilmer, behandelte ihn verächtlih. Unterbeflen hielten ihn fein guter Vortrag, feine glüdficen Kuren noch im geltenden Anfehen. Er Hatte eine gute Badeanſtalt angeorbnet, deren er ſich felbit oft bediente. Eine... . Kranke blieb in feiner Anftalt auch nad vollendeter Kur... . genug ber kliniſche Defonomie-Direktor Styr zeigte ben casum in terminis an.

Der neue Kurator, Graf Lieven, war eben angelangt, alle Mitglieder [bes Konfeils] waren zu einer Seffion zufammenberufen worben. Balf erfdien denn aud, wurde aber auf der Stelle ab- geiiefen, mußte fih um ben Abſchied melben, verlor mit bemfelben für fi und feine Kinder die in der Fundationsakte zugefiherten Vorteile (1817).

Nun verkaufte er fein noch ſtark verfculbetes Haus, mietete feine Freundin in ber Stadt brittem Teile ein, befuchte fie oft ... zog endlich mit ihr nad) Rußland, vergaß Frau und Kinder faft gänzlich, ſchickte von feinem glücklichen Erwerbe den⸗ ſelben ſehr wenig und ſtarb 1826, man weiß nicht wie, nahe an ben 60er Jahren.

Seine ältefte Tochter Agnefe wurde an einen Dr. ®... verheiratet, dem —— nad) glücklich, hatte Söhne und Tücher; ein rüftigerer Art © . . . ., von mittelmäßigem Rufe, gefiel ihr befier, fie trennte fid) von jenem, folgte biefem, ber fie in ber Folge nicht auf Roſen bettete. Die zweite Tochter war mit dem Dr. Rinne in Weißenftein glüdliher, ihre Che gefegneter, Troft und Stüße ber armen verlafjnen Mutter, melde zwar vom Herrn Rurator eine Unterftügung, jährlich 600 Rbl., und von ſämmtlichen Profe ſoren auch Deiträge erhielt, aber dennoch mit einer Tochter nnd zwei Söhnen ſich fümmerli genug erhalten fonnte. Die dritte Tochter Minna, bes Vaters Ebenbild an Gefiht und ſchönem

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Körperwuchfe, war ein fehr edles Weſen. Ihr raftlofer Fleiß, mit Aufopferung mander nächtlichen Ruhe, linderte manden Schmerz ber tief befümmerten Mutter. Allein fie ftarb in ber ſchönſten Blüte ihrer Tage ben 16. März 1823. Der ältefte Sohn Aler- ander, bem Vater an Geficht und Talent, dem fleinen unanfehn- lien Körper nad) ber Mutter ähnlich, ſtudirte Medizin. Dan rühmte als Kronsftubent feinen Fleiß nicht beſonders. Unterdeſſen erhielt er 1826 eine Anftellung in Kronftabt bei ber kaiſerlichen Slotte, welche 1827 nad) dem Dlittelmeere fegelte. Wie lichtvoll öffnen fi) die Ausfichten nad) einer fo büfter verlebten Jugendzeit! Der jüngfte Sohn Julius warb 1807 erft in Dorpat geboren, verrät viel Talent, aber geringen zwedmäßigen Fleiß. Er benft bei ber Wafferfommunikation fein Glück zu machen, übt aber das Zeichnen nicht fonderlih. Nun ber Himmel verleihe, daß ihm begegne fein Glüc. ri * Dr. Albert Germann 1802—1809 d. d. 24. Febr. 1802. Brof. Orb. ber Botanif.

Sohn eines Schullehrers an ber Domſchule in Riga, ftubirte in Jena Medizin, kehrte 1796 zurüd, wurbe Gebietsarzt in Bauenhof bei dem Geheimen Rat und Ambafjadeur Sievers, furirte und heiratete das Frl. von Güngel, beren Pater, ein Paftorenfohn, num Generallieutenant, Ritter, Gouverneur in Wiburg und als ſolcher Schwiegerfohn bes Geheimen Nats und Ambaſſadeurs von Sievers geworden war. Gleih nad erfolgter Vokation nad Dorpat heiratete Germann, zog nad) Dorpat und profefjorirte. Die Univerfität mietete ad interim ben Piſtohlkorsſchen Garten und Wohnhaus vor der Nigaifhen Ragatka mit einem fleinen Treibhaufe, wo er fein Pflanzenwefen treiben jollte. Das Mieten verwandelte ſich in einen Kauf für 15,000 Rbl. Bko. Germann veranlafte ben Ankauf eines großen Stüds vom Techelferſchen Felde wegen eines Heinen Teichs für 2500 Rbl., behalf fih mit eingemwanberten Gärtnern. Umzäunungen, Reformen bes Areals beliefen ſich allendlich auf 25,000 Rbl. Er berief Herrn Weinmann aus Würzburg oder Wien als tüchtigen botaniſchen Gärtner, er tam mit feiner Schwiegermutter in futuro, wirtſchaftete mit Ders ftand und raftlofem Eifer. Germann und Weinmann lebten nicht einmütiglih mit einander.

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Das Konfeil beſchloß (1804), die neuen und größern Treib: und Gewähshäufer in ber Nähe des Teiches aufzuführen. Man legte bie Fundamente, Taufte nod) einen Teil eines benachbarten Gartens zur befferen Rundung. Germann fand ben Garten des Herrn von R...., quondam rev. patronus bes befannten Guſtel Peterfen, bes Waſſers, der größeren Verſchiedenheit des Bodens ꝛc. wegen ſchicklicher. N... ., damals in Petersburg bei ber Gejegfommiffion, forderte 12,000 Rbl.; das Konfeil unter: legte, ber Monarch ließ unterhandefn, N... . ſchenkte ben Garten mit allen Xppertinentien ohne Neferve, mit allen unbe richtigten Grenzen und Querelſachen, wie er benjelben bis dato befefien hatte. Der Monarch verehrte ber didbelobten Gemahlin bes Herrn von R.... einen Schmud 12,000 Rbl. und bonirte ben Garten zum botanifchen Bebarfe. Nun mußten alle Bauvorräte dahin geschafft, das Angefangene ausgerifien und neue Anordnungen getroffen werden. Sumpfland und Schutt waren die mefentlichen Beftandteile, eine bemolirte Baftion und ein ver fumpfter, ſchlammreicher Feftungsgraben nebft junger, wilder Flora gaben bie Hauptpartien. Der ſtattliche Pferbeftall und Remife nebft einem Holzhofe und einer Futterſcheune zunächſt einem alten verfallnen Stärflis-Fabrikgaufe umfaßte alles bauliche Wefen. Ein eftnifher Bauer hatte bie wenigen Kohlbeete und ärmlichen Obft- bäume in Padt. Man baute und räumte. Weinmann leiftete Wunder. 1807 konnten bie Gemwächshäufer bezogen werben. Der Gärtner mohnte etwas anftändiger und die Vorfefungen hatten einen Meinen Saal zwiſchen ben Behaufungen ber Pflanzen. Germann legte ſich einen Inſpeltor des Naturalientabinets in ber Perſon feines akademiſchen Freundes Herrn Ulprecht zu ein guter Zeichner, Mineralog unb redlicher, anſpruchsloſer Junggefell. Das Publitum befuchte alle dieſe Unftalten mehr aus Neugierde als Unterrihtsbebürfniß. Die Roheit verriet fi in der Schonungs- lofigfeit ber fo mühſam zuſammengebrachten Naturfchäge. 1809 tonnte denn auch das mineralogiihe und zoologiſche Kabinet im eben vollendeten Hauptgebäube [ber Univerfität] aufgeftellt werden, wo denn Ulprecht fein theatrum activitatis aufichlug.

Germann hatte feine Kinder, Tränfelte und entichlief 1809 ben 16. November. Sein Leichnam begrüßte zuerft ben afaber miſchen Hörfaal, von woher die Studirenden ihn feierlich zum

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Friedhofe brachten. Schlummre ſanft, frühe hingeſäetes Gebein!

* * * Dr. Karl Morgenftern, Prof. der klaſſ. Literatur d. d. 6. Juni 1802.

Er ſiammt aus Magdeburg. Sein Later war beliebter Arzt und bie Mutter fehr fanft, fromm, gebildet. Sie befaß außer anbermeitigem Vermögen beträchtlichen Anteil an ber Salzſiederei— Pfännerfhaft in Halle an der Saale. Als Lieblingsfohn, zart, mohlgebilbet, genoß er einer guten Erziehung fowohl in ber frühften Jugend wie als Jüngling unter dem als Päbagog berühmten Funke; ftubirte in Halle, beſuchte Göttingen, Leipzig, wurde Magister legens in Halle, zeichnete fich frühe als guter lateiniſcher Schriftſteller aus. Seine platoniſche Republik, melde 1794 in Halle herausfam, machte ihn weit und breit unter ben Gelehrten befannt und geichägt. Der allgemein hochgeachtete Philolog [Fr. Aug.] Wolf war fein Lehrer geweſen. 1792 erhielt er einen Ruf als Direktor Gymnaſii in Danzig. So günftig übrigens die Lage in ber noch reihen Hanbelsftabt fein mochte, fo wenig fonnte ihn ber vermöhnte Ton ber Jünglinge aus ben obern Rlafjen und ber geringe Eifer derfelben für angeftrengtes Studium ganz befriebigen. Man ließ ihn ungern dem Rufe nach Dorpat folgen. Anfangs ſchien es ihm auch hier nicht zu gefallen, es befand ſich noch Ales zu chaotiſch, zu roh. Unterdeſſen feſſelte ihn bie ziemlich ſichere Ausfiht, eine anfehnliche Bibliothek anſchaffen und orbnen zu Tönnen, mehr und mehr. Arbeit gab es genug und er arbeitete gern, befonders in einem Fade, wo ihm gelehrte Rechthaberei und Parteilichleit nicht leicht Hinderniffe in ben Weg legte. Das Lofal der Bibliothet im ebelfinnig überlaßnen unentgeltlichen Haufe des Gtatrats von Bog wurde zu enge; vergebens ſuchte man nach geräumigern und trodnen Räumen, den ftets ſich mehrenden Reid) tum an [hägbaren Werfen zum bequemern Gebrauche aufftellen zu können. Nach der glücklichen Kataftrophe der Regeneration der Univerfität ſchien ihm bie Domruine am ſchicklichſten zu fein, am ſchnellſten, fihherften und anftändigften das Unterfommen ber Bibliothek bewerkftelligen zu fönnen. Der Monarch hatte ohnehin Eile beim Bauweſen empfohlen. Die darüber entworfene Anorb-

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nung bes Chors von 60 Fuß Höhe und drei über einander liegenden Sälen fand Beifall; fie mußten aud im Winter bemohnbar, folglich zum Heizen eingerichtet werben. Im Herbft 1805 fonnte man ſchon den mitteljten Saal beziehen, juft in bem Momente, als der Termin ber freien Wergünftigung bes bisherigen Lokals zu Ende ging. 1807 vollendete fi das Ganze als eigentlicher Raum für die Bücher; es fehlten aber noch Wohnungen für bie Offizianten und anbere notwendige Erforberniffe, die bei dem größern Nefte der Ruine, dereinft zur Univerſitätskirche ausgebaut, ſchickliche Stellen finden Tonnten. Dan mußte fih aljo behelfen und hoffen (hofft 1827 noch). Außer diefer Beforgung und Meh— rung ber Vibliothek folgte er auch feiner Liebhaberei für Aeſthetik. Bei Meinem Fonds fammelte er Gemälde, Kupfer, Handzeichnungen, Münzen, Büften als Fundament zu einem Muſeum. €s foll ſich mand Gutes in ben verflofinen 25 Jahren zufammengefunden haben zum Behufe ber Vorlefungen über die bildenden Künfte.

Nah etlichen Jahren wandelte ihn die Reifeluft an, teils um nad dem väterlichen Erbe zu jehen, welches mit einem Bruder teilend feit 1806 durch die franzöfifche Invafion ſchwan— kend zu ftehen ſchien, teils auch die alten litterariihen Fäden fort: zuſpinnen und mit denfelben zugleich für die Mehrung der Bibliothek zu forgen. Der ruſſiſche Monarch und Bonaparte nebft den meiften Großen Europas famen in Erfurt zufammen. Weimar, Leipzig, Helvetien, Mailand, Nom, Neapel, Paris, Straßburg, Frankfurt, Göttingen zc. konnte er nur im Fluge beſuchen. Die große Zeit Europens waltete faft frampfhaft in allen Verhältnifien. Nach feiner Zurüdtunft im Februar 1810 legte er bem Publikum Rechenſchaft ab 1811, 1812, 1813. Die liebreiche, dankbare Diit- welt Hielt fie für allzu breit und meiftenteil® nur zujammen- geichrieben , doch fanden fih Mehrere, melden dieſe Zuſammen ftellung ber intereffanteiten Gegenftände, Zeitumftände unb Ereigniffe, von einem Fenntnißreihen Manne gefehen und im mohhwollendften Herzen beleuchtet, fehr angenehm lehrreid) waren. An biefe Mit- teilungen ſchloſſen fi in den folgenden Jahren die „Dorptichen DVeiträge” an. Dan nahm fie mit Erwartung, naher aber mit mäßigem Beifalle auf. Der Verfaſſer litt Schaden bei dem Gelbft- verlage, fie hörten 1816 denn aud auf.

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Bis Hierher füllten die Mufen nnd litterariſchen Sorgen und feine Reifen nad Petersburg, Reval ꝛc. alle feine Zeit. Jegt 1817 regte ſich denn ber Cheftandstrieb ftärker. Schon meit über bie 40 hinaus, fdien es ihm nun aud hohe Zeit zu fein. Umfihtig von Natur, ſuchte feine Seele im Stillen vielleicht ion feit langer Zeit. In Neval flug feine Stunde. Eine ſchlanke, blühende Hebegeftalt befiegte feine Kritik in ber holden Minna von Leſedown aus dem Weſenbergſchen, deren Vater, aus Schottland ftammend, ein tüchtiger Landwirt, bie treffliche Mutter, geb. von Kiel, die Seele ber zahlreichen, in ſich ſehr glücklichen Samilie war. +. Siaswerue an sw eeee

Sein Schalten und Walten in der Bibliothek und im Mufeum ging ben eingeleiteten Weg. Doc fanden ſich in ben legten Jahren junge, ftarfe Lichter, aus bem benachbarten Deutſchlande herbeigerufen, die feine Anordnungen tabelten, mit Tiefforfhungen und fettem marfchlänbiihen Wige feine Haffiiche Berühmtheit etwas zu milbern fuchten. Er blieb, ber er geweſen, in feinen gelehrten Programmen, Feitreden, Abhandlungen und übrigen Amtsverrich- tungen. Am 6. Junius 1827 war jeine Dienftzeit von 25 Jahren, um fich emeritiren zu laſſen, verfloffen. Er blieb, entſchloß ſich aber eine Reife ins Ausland zu machen, ben Zweck ber Bibliothek zu fördern, feine Familienangelegenheiten allendlich zu befeitigen und feiner holden Minna eine mit Mühen zu erfaufende Freude zu verfhaffen. Am 7. Juli a. Styls gingen fie von Riga aus unter Segel, vorerft nad) Lübeck. Gott geleite fiel...

* *

Dr. Karl Frieder. Meyer, Prof. des röm. Rechts d.d. 6. Juni 1802.

Er ftammte aus dem Hannövriſchen und, wie man fi zuflüfterte, als Pſeudonym aus einer alten Adelsfamilie. Sei wie es fei. Er fam als Göttingenſcher Zögling ins Land, trat als Hauslehrer in eine Familie... .*) allhier in Dorpat, akfrebitirte fh als praftificender Advokat, warb um bie ſchöne 14jährige Tochter des damaligen Bürgermeifters Wilde, thätigen Kauf und Handelsheren in Dorpat, welches ihm ben Weg zum Stabtjynbitate, zum Erwerbe des ſiattlichen, aber feinen Wohnhaufes feines ehe:

*) Lüde im Text.

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maligen Brodherrn und endlich zur Heirat mit bem lieblihen Gegenftanbe feiner zärtlihen Wünſche verhalf. Nur etliche Jahre verblieb er in biefer Lage. Er trat, wie oben erwähnt, 1802 als Profeſſor zur Univerfität, as mit Beifall, war Müthels geheimer Gegner. Sein fihtlid) offnes, freundliches Wefen ohne Miktrauen und Zweifel, feine früheren Vekanntſchaften mit dem Abel und allen Honoratioren ber Stadt veridafften ihm das Uebergewicht gegen den juribifchen Rollegen. Eine lichtvolle, bequeme Philofophie machte ihm das Leben und die gejelligen Freuden peractis officiis angenehm, während jener baheim grübelte unb grämelte. Unter— deſſen wollen doch aud Andre eine Art Hinfens bei ber großen Reform in utramque partem: Univerfität Adel, Magiltrat bemerft haben. Er war feinem ber wejentlihen Punkte ber Uni- verfität entgegen, foviel ift gewiß, und man barf nicht zweifeln, daß mande feiner Anſichten, bejonders in Beziehung auf Stabt und Dagiftrat, glücklichere Verhältniffe erzeugt haben würden, wenn man fie befolgt hätte. Allein er wurde überftimmt, war allzu fein und Welt- und Menfchenfenner, um es fid) nicht hinters Ohr zu fchreiben und dem Mannfinne zu empfehlen. Pünftlih und genau in allen Geſchäften, wählte man ihn zwei Mal zum Rector magnificus, und das gerichtliche Formenweſen bildete fi) unter ihm beſſer aus.

Das ephefiniiche Kirhenwefen, von dem er Mitglied war, ſchien ihm mehr und mehr gleihgültiger zu werden. Der bide Peterſen mit feiner heitren Laune und treffendem Wige, dickbelobter Guſiel [Peterfen], bisweilen auch Pöſchmann, blieben ftets die beliebteften feines Kreifes, der fi) im quondam Richterſchen Kaffé— (jest Stadt London) täglich nad) den Arbeitsftunden zu ſammeln pflegte. Mit den Kollegen Müthel, Kleinberg, Köchh, Rojenmüller, wie fpäter mit Lampe mochte die Seelenharmonie nicht allzu rein ſich ftimmen.

Diefes ſcheinbar glückliche Leben litt etwa gegen 1810 eine totale Neform. Aligemein befannte Urſachen gab bie öffentliche Sage an: . allzu fpätes Nachhaufefommen aus ben Abends geſellſchaften, Klagen ber Holden Gattin über Langeweile, Kälte, Revitenlefen x... . - Sie trennten fid) endlich, wie fie es ver- langte. ..... Er verkaufte bald darauf fein Haus, veridaffte fich ein wohlfeileres. Das Lebensglüd war zerrifien. Karl Peterſens

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Hader mit feiner Frau über die Zweifel an feiner Neligiofität ver- ftimmten bie fonft gewohnten Erheiterungen. Guftel Peterjens Fisfalfprünge und Streitigkeiten mit ben Studenten, die Schneiber- Promotion zum Doctor juris 1815, die oben &. 373 angebeutet worden, bie Auflöfung der juribifchen Fakultät nagten an feiner [Meyers] Lebenswurzel, fein etwas ftolges und tief verleptes Chr: gefühl vereitelte die vielleicht etwas weniger ftrenge angewendeten Arzneimittel, er ftarb lebensfatt und müde am 27. November 1817.

Don herausgegebenen Werfen ober von anderweitig hinter laßnen Manuffripten ift niemals die Rede gewefen. Die ältejte Toter ftarb wahnfinnig 1826 in Petersburg, die zweite heiratete einen Dr. Walter in Petersburg, bie dritte heiratete den Lehrer Gymnafii 1822 Freytag, der (1826) Zenfor wurde,

* *

Dr. Heinr. Friedr. Ifenflamm. Prof. d. Anatomie d. 20. März 1803.

Sein Vater berühmter Profeſſor der Anatomie in Erlangen. Unſer Held kam auf Anraten eines Herrn Dr. Doppelmeyer nach Dorpat, der früher ein Zögling der Erlanger Muſen gewefen war. Er glaubte das Talent des Vaters auf den Sohn vererbt.

Der lange Heinrich erſchien auch Ende Auguft 1803 mit dem aus Schwabah ftammenden Chirurg und Vorſchueider Dr. Kautzmann. Nah kurzem Ueberblid des Vorhandenen und bes nun erſt zu Begrünbenden lautete fein berufenes Urteil an die Herzugelaufnen: dum Zaig, ollewail, iſcht Halter nit! Das Fundament des Anatomikums, mit Mühe auf einer ſchönen Stelle, aber in ſchlechtem Yaugrunde ſchon aus der Erbe, erſchien ihm ſehr ſchlecht: niſcht, zu Main, a Hundeluch! Er haberte mit dem Architelten, der dod nur den Willen bes Bauherrn, des Konſeils, in Rüdfiht auf Wahl des Orts, der Größe und Form auszu— führen hatte, und führte den Nat befjelben nicht aus, nämlich dem Konfeil feine Meinung und Proteftation, dann jeinen Plan und Anordnung vorzulegen. Der lange Heinrich fand Alles ſchlecht, verkehrt, doch fagte er Alles laut und unverhohlen. Das war ehrlich und nicht meuchelnd Hinterrüds Flüftern. Da er ſchwieg, fo fegte man den Bau fort, und ba er fi) notgebrungen mit ber Einrichtung eines Interims-Anatomitums beichäftigen mußte, ſonſt aber feinen Anteil an dem Herausarbeiten aus bem unüberfehbaren

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Chaos nahm, fo achtete man auch weiter nicht auf feine gallichten Ergüffe. Noch jung, rüftig, feinem Fade gewachſen, fertig latein ſprechend, Hätte er viel leiften können; aber ber beutfche Leiften ſaß zu feft, es mangelte ihm an Gewandtheit und Weltfenntniß. Eine Hohe Meinung von fih, eine ſchlechte von allem ruffiihen Weſen und nun biefe ſcheinbare Zurücjegung feiner Verbienfte erbitterten die ohnehin zerknickte Seelenftärke.

Iſenflamm nämlich hatte einen allerliebften Sohn, 6-—Tjährig, und feine Frau; fie fei tobt, hieß es. Naumann zudte bie Achſeln, machte das Maul breit und gab zu verftehen : bie ſchöne junge Frau, von Heinrichs Eiferfucht gequält, habe fich im Wahn: finne vergiftet. Dies allein habe ihn bewogen, dem Rufe nad Dorpat zu folgen; und da nun hier Alles erft geihaffen werben müffe, Lebensart, Sitte, Nahrungsmittel und beren Zubereitung aber nicht nach Erlangenſcher Manier zu erzwingen fei, fo über: manne bies Alles ben fonit trefflihen Geift; wäre er mit in Pirmafens bei dem großen Feldlazarethe bes Herzogs von Braun: ſchweig während bem unglüdlicen Felbzuge in ber Champagne [1792] gemwefen, fo würbe er empfänglicer für alle hier vorerft obſchwebenden humanen Ideen fein.

1805 wurde das Anatomikum fertig und begogen. Der Herr Kurator, General Klinger, fand es hell, freunblid und fo aus- gepußt, baf die vornehmite Geſellſchaft mit Vergnügen ben Thee im Heinen runden Saale einnehmen würde. Sfenflamm mar andrer Meinung: „iſcht nifcht“, dunkel, unbequem, entfernt, ermübend und halsbrechend, dahin zu gelangen. Cs Hang: jämmerlihe Dummheit, ihm zum Pollen fei Alles fo verfehrt gemadt. Der Arditelt, Profeſſor Kraufe, erfuhr das von feinen Bauleuten, und Iſenflamm dann auch auf dem nämlichen Wege, baf jener ihm bie Erlanger Jade ausklopfen wolle, wenn folde fiebreiche Neußerungen wieder verlautbaren follten. Vortreffliche wechfelfeitige Humanität auf ben Knöpfen ber Uniform! Der Unterfag des runden Saales [im Anatomikum] enthielt außer zwei Präparationsjimmern eine Küche, eine Dinzerationsfammer, im Mittelpunfte eine mechaniſche Vorrichtung, mit welder bie Leichname hinauf in den Saal auf den Vorſchneidetiſch, in Form eines Altars, gelangen und nad) ben Demonftrationen ſogleich wieber hinabgelaſſen werben fonnten, um alles Wiberlihe und Ekelhafte

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zu entfernen und Reinlichfeit und gefunde Luft zu erhalten. Die Dede des Saales war en Camayeu gemalt, Apollos Antlig ſah aus einer Olorie mit Beifall auf bie für Menfchenwohl bezwedenben Arbeiten, aus dem Tode fürs Leben zu lernen. Iſenflamms Geſchmack trieb diefem ſchön gezeichneten Kopfe eine flarfe eiferne Rrampe ins Zentrum, um einen Kronleuchter daran zu hängen. Recht geichmadvoll und der vorgefahten Meinung Tonfequent: „iſchte niſcht, Hat all kai Liecht!“ Etliche Monate fpäter mußten Gardinen vor acht große Fenfter angeſchafft werden: „iſchte nicht, © blenbet allwege!“ Wunderlih! Ein Jahr fpäter ſchienen ihm bie fanft anfteigenden Rampen als Zugänge zum runden Saale allzu befchwerlid und halsbrechend. Er verlangte vom Unterfage aus eine Treppe. ine ſchwere Aufgabe, zerftörend für das Aeußere wie für bie Konftruftion des Mauerwerks ber Rotonde. Der Architelt lie ihm eine tüctige hölzerne Treppe anfertigen, ftellte fie Hin, wagte es aber nicht, das obere Norbfenfter in eine Thüre zu verwandeln. Neue Quelle der Spannung! Die Treppe verf wand. Mit eben ber bittern Empfindung verlangten bie Herrn Erlanger eine Knochenbleiche; fie follten ihren Bebarf und Einrichtung angeben. „Nifhte!” Das Ronfeil gab Ordre zu Plan und Unfchlag, fie billigten beibe nebft bem Orte, wie bie Nähe und das Lofal es verftatteten. Man that das Mögliche, um Sicherheit und freies Licht zum Bleihen zu erhalten und die üblen Gerüche von den Luſtwandelnden zu entfernen. Es war und blieb „Alles nifchte 1.

1810 mit Eintritt der Sommerferien nahm unfer langer Heinrich Urlaub, in feine Heimat zu reifen. Bald genug langte fein Gefuh um Abſchied in Dorpat an, den er am 30. November 1810 aud) erhielt. Die Sage ftellt ihn als Gerichtsarzt in feiner Voterftadt an. Möge er den Frieden finden, den feine Seele ſucht. In Dorpat hal er wenige Dlaterialien zum Tempel ber Ruhe gefammelt. Sein Name ift ſchon bei ben Zeitgenofien fait verihollen. Auch die Litteraturpofaunen aller Art nennen ihn nicht.

* * *

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Dr. Michel Ehrenreid Kaugmann, Profeſſor der Chirurgie d. d. 20. Sept. 1804 ... Muß als Kumpan und fidus Achates hier folgen *).

Die erwähnt, ſtammt unfer Michel aus Schwobach [Shwabad)]. Ein Barbier in modum Sevillae von Profeffion und Habitus, doch von beſſrer Ausbildung nad feinen Feldzügen unter dem Herzoge von Braunschweig 1794—95. Seine glänzendfte Periode fcjeint er in den Gegenden von Pirmafens verlebt und Verlangen nad) gründliceren Anfichten erworben zu Haben. Ceine Seele war voll des Lobes biefer Zeit und der reichften Ernte an Erfahrungen. Iſenflamm brachte ihn als Proſektor mit, als Criraorbinarius Hatte er nur eine untergeordnete Rolle. Da aber der militärifhe Srtraorbinarius, Baron von Elsner, auf Verbienftre_hnung des Profeſſors Kraufe als Adjunkt des Bauweſens zum Ordinarius avaneirte, jo verſuchte Iſenflamm das Nämlihe mit unferm Kautzmann. Er befam alfo nad) einem Jahre Profeftorat als Ordinarius Sig und Stimme im Konjeil, und ber Leipziger Dr. Cichorius trat als Leichenf—neidermeifter in Amt und Pflicht. Deſſen 10jährige Prüfungs: und Leidensgeſchichte unten als Nachtrag *).

Die oben S. 85 erwähnt, fingen die kliniſchen Geſchichten an. Es wäre interejjant, den Kampf ber Vorurteile, ber vorge— faßten, angebildeten Ideen mit der Firma „Liebe zur leidenden Menſchheit“ zu erzählen, wer es vermöchte. Kautzmann arbeitete wirklich mit Leib und Scele, verftändig, regfam und ohne Eigennutz und ohne Nüdfiht auf Ruhe und Bequemlichkeit, wie Ehren-fange: Heinrich (Iſenflamm] es pflegte, ober Meifter Daniel Balk). Taufende von Freien und Unfreien ber ärmſten Notleidenden fanden in ihm Nat, Troft und möglichſte Hilfe bis auf ben leeren Magen. Dies wird ihm fein Engel fiher ins Himmelsbuch einge: tragen ober zu Gute gefchrieben haben. Erbarmen und thätiger BVeiftand, ohne Anfehen der Perſon, war feine Prachtſeite. Aber feine Bartengel-Verebjamteit, mit Fiſch- oder Kräuterweiber-Phrajen aufgejtugt, überſchwemmte den Geduldigſten. Späterhin fand fich auch Liebe zum Weine ein, bie ihn in den Seffionen des Konſeils,

*) D. 9. als Iſenflamms getreuer Kumpan und fidus Achates wird er Hier ſchon angeführt, ber Zeitfolge nad) mühte er fpäter aufgesäßlt werben,

**) geht.

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gewöhnlich von 6—9, unermeßlich weile und ariſtarchiſch [fritifch] machte, beſonders wenn Gegenftände ber Beratung von irgend einem Ephefiner ausgingen ober unterftügt wurden. Unfelige Rirchenibee |

Kaum war er zum Orbinarius herangezogen, als ihn aud ſchon bie Liebe fegnete. Seine Teilnahme gewann ihm die Herzen ber Patientinnen. Ein ſchönes und ziemlich wohlhabendes Fräulein fam in den Fall, durch feinen Beiſtand einer gefährlichen Entzün« bung zu entgehen. Sie ſchentte ihm Herz und Hand 1806. Eein Glück dauerte aber nur bis 1811, er verlor fie und behielt nur brei Meine Töchterhen zum Andenlen von ihr. Ein Jahr ſpäter verheiratete er ſich mit einem Fräulein von Tunzelmann. Ders brießlih, baß man feinem Werte nicht volle Gerechtigkeit wider⸗ fahren ließe, nahm er 1814 feinen Abſchied, zog nah Reval, glaubte viel zu berudern. Es ſchlug fehl; fonft glücklich in Augen turen, wollte ihm feine mehr gelingen. Cs gab mehrere Nerzte in Reval, die ben Glauben ihrer Kunden zu bewahren mußten, unb bie Armenpraxis bringt weber Gelb noch Ruhm. Meiſtens lieben fih die Doftiffimi wie Töpfer und Fiſchweiber auf bem Kohlmarkte, nur geben fie es lateiniſch oder griehifh in Form von Rezepten. Petit Bourgogne, Medoc, Chateau Margot find tot, färben Alles rot und das Aſchgrau bes Lebens wandelt ſich ins Gewand ber Dorgenröte mit feierlich einhüllendem Hegeraud). Alſo marſch! nad) Riga! Aber auch hier ging es nicht befler. Bei größerer Menfchenzahl, bei mehr Nobleſſe und Staats: beamten, bei mehr Geld, Gut, Mut, Krankheitsformen haufeten auch [bier] eine Ueberzahl an Aerzten, Halbärzten, Proviforen und Quadfalbern mit und ohne Hofen, bie ſich ſchon Vertrauen erworben hatten. Raugmanns Glüdsftern war untergegangen, feine Seele mar nicht jtart genug im Leiden, Dulden, Hoffen. Der Körper fant ſchnell in den Staub 1817. Friede dem ſchlummernden Gebein !

* x Joh. Wild. Kraufe, Prof. Ord. der Defonomie, Technologie und Arditeltur d. d. 20. März 1803.

Diefer Ehrenmann war eigentlich fein Gelehrter, fondern ein

vom Schickſal durchgewalkter Weltzögling. 1757—74. Im von

os Dorpat 1802· 1812.

Haufe aus, im ſiebenjährigen Kriege, in ber Hungersnot 1771 aufgewachſen, magte er ſich ſchon im 16. Jahre [1773] in bie weite Welt aus ben ſchleſiſchen Gebirgsihälern oberhalb Schweibnig nad) Dresden, verweilte halb wunderſam als irrender Züngling 31/ Jahre in Zittau durch einen eben nicht reichen aber ebel- gefinnten Töpfermeifter Reichel und verunglüdten Architekten Eſchle, befuchte bas dortige Gymnafium, fah den Krieg 1778 in Böhmen *) näher, ſtudirte in Leipzig Theologie. Totale Armut und Wiber- willen gegen den Brodermerb im Privatftunden-Geben und auf- gereizt von faft unbezwingbarer Reifeluft, trieben ihn nad) Zerbſt, um als Soldat im engliſchen Solde und gut verpflegt die Welt etwas zu fehen. Das Garnifonleben in Jever fagte ihm infofern zu, als er guten Unterricht in ben Kriegswiſſenſchaften theoreliſch und praftifc erwerben konnte. Seereiſen Newyork Amfterbam, Libau—Riga— Petersburg, 13 Jahre langes Hofmeifterleben (1784—97) in Lioland in drei Familien Delwig, Kahlen, Mellin, eine Reife in bie Schweiz entſprachen feiner Liebe zur Freiheit, lieferten viele Gegenftände ber Praktik des bereits Erlernten und ber Belehrung. Das blinde Glüd beſcheerte ihm eine treffliche Gattin mit elwas Vermögen. Er wurde 7 Jahre lang Landwirt [bis 1803]. Seiner Frau Schweſtermann, Parrot, riet zu einer Anftellung bei der neuen Univerfität; ber Wildling hatte feine Luft im Vollgefühle ber Idee, was ein Profefior fein und wirken fol.

Eine Beſuchsreiſe nad Dorpat gab Veranlaffung, auf Ver langen bes vorbemelbeten Herrn Orbinarius [Parrot] jeine Meinung über das vom Monarchen als eiligit zu vollgiehende [verorbnete] Bauweſen in einem flüchtigen Entwurfe vorzulegen. Er fanb Beifall, man forderte beftimmtere Pläne, Kraufe arbeitete fie in Kipſal fiegt Beigut von Schloß Kremon], als auf feinem Landfige, aus, aber, unbefannt mit ben Preifen ber Materialien und des Arbeitslohnes, konnte er feinen Bauanjhlag geben. Man ſchickte 1803 im April dieſe Croquis nad) Petersburg. Der Monarch bewilligte Alles, wies 200,000 Rbl. an. Der Herr Kurator trug auf: wer bie Pläne gemacht habe, ſolle fie ausführen. Man machte demnach eine neue Profefjur, ernannte ben bereitwilligen,

Boiriſchet Grbfolgefrieg.

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aber zum Profeſſor untauglichen Krauſe zum Ordinarius am 20. März 1803, eben als man Iſenflamm, Gaspari, Glinka, Scherer berief, ohne jedoch feine Einwilligung erhalten zu haben. Parrot Hatte eigentlich entfchieben, er ſchrieb es ihm auch: ic) habe über Did disponirt, Du follft und mußt für uns bauen.

Es meldeten ſich eben beſchwerliche Unbilden ber Oekonomie, bie ihm Krauſe] bie teuer (1500 Rthl. AB.) errungene Freude, etwas für die Bauern gethan zu haben, verleideten. Er zögerte, bedachte eine Aufforderung vom Konfeil, baldmöglichſt zu er: fcheinen, den Bau zu betreiben, entſchied. Am 21. Mai [1803] leiftete er den Amtseid. Kraufe richtete das Baumefen ein, Bau⸗ fomite, Inſtrultionen. 1803 Juni 13. gründete er das Anato— mikum 1805 im September fertig, räumte bie Nuine aus, ſchloß Kontrafte auf Baumaterialien; Vürgerpreife erforſchen.

Baron Elsner, ber Ertraordinarius ber Kriegswiſſenſchaften, Adjunkt; der alte Peterfen, Kreisfommilfar, wurde Baukom⸗ miffar ber Landesſprachen wegen; Kranhals und Lange als Brader der Steinwaaren, Königmann für alle Holzwaaren; Bad: mann als Bauſchreiber für Arbeiter, Auffeher und Zeugnieber- Tagen ; Transporte, Mefjung des Doms. 1804 am 16. Mai kam der huldreiche Monarch Alexander; man gründete die Biblio: thef, räumte den Pla zum Hauptgebäude, erbaute Nrbeitsfheunen und Bretterfhauer ; Verteilung der Grundſtücke auf Zins. 1805 vollendete fid) das Anatomikum; die Kaſerne zum Klinikum empfangen, ausgeräumt ; mittelfter Bibliothel-Saal fertig ; bie botanischen Gartenhäufer begründet, fort transportirt |f. o. ©. 38]; Grundfteinlegung zum Hauptgebäude, Monument im Oraben. 1806 Fortfegung aller angefangenen Bauwerke; Grundlegung zur Sternwarte; bie Knochenbleihe. 1807 —- Vollendung ber Bibliothel, des Klinikums, der Treibhäufer. 1808 Sortfegung bes Hauptgebäudes, es kam unter Dad); fleikiges Betreiben ber Anpflanzungen ; Anlage ber Hauptwege ; Applaniren ber Schutt⸗ Hügel und Gruben; Hlinifche Nebengebäude. 1809 es fielen die Gerüfte vom Hauptgebäude, das mittlere Stockwerk wurbe auf Befehl des Herrn Rurators in feiner Gegenwart bezogen, man gründete das Gehöfte und oben auf dem Dome bie ökonomiſche Herberge. 1810—12 vollendete ſich die Sternwarte, die Herberge, das Gehöfte am Hauptgebäude, ber Hauptweg nad) dem adume

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und fämmtlies Npplaniren und Pflaftern befjelben, wie um bie Gebäude. Im Auguft 1812 gab Kraufe die Generalrechnung über 579,000 Rbl. Banko an das Konfeil ab und empfing bie offizielle Quittung barüber wie die Entfafjung aus dem Baudireltor-Amte. Die Pflanzungsgefhäfte behielt er noch bis 1816, wo ihn heftigere Gichtanfälle nötigten, auch um die Entlaffung von bemfelben zu bitten, nachdem nun die Hauptarbeiten zum Teil vollendet, zum Teil aber vorbereitet waren und auf Gelb und beſſre Zeiten warten mußten.

In den beiben erften Jahren [1803—4] murbe es ihm unmöglid, Kollegia zu lejen. Das allgemeine und befondere Plan- zeichnen und das Berechnen, das Kontraftentwerfen mit jedem Lieferanten, Handwerker, oft das boppelle Abfchreiben, bie wöchent- liche Zufammenftellung aller verbrauchten Materialien, der neu angeſchafften, aller Xrbeiten, die monatliden Berichte an ben Herrn Kurator wie ans Konſeil und taufenberlei Lumpereien hinderten ihn. Einige Kollegen, beſonders Theologen, flüfterten : er Tönne nicht, er verftehe nichts. Der Herr Kurator fagte es ihm unverhohlen.

Krauſe hatte ſchon früher Entwürfe gemadt, fie georbnet, ließ fie druden fing an von ben Theologen ging bas aus eine Doltor-Disputation des Herrn Ahorn von Hartwiß über Nationalreihtum und Handel, wo er opponiren jollte, nicht konnte und mollte, beftärfte bie Meinung ; bie Oberlehrer bes Gymnaſii Struve, Böhmer, Hermann trätfchten recht hriftlih. Es war um feinen litterarifchen Ruf gethan. ee ae Ze

Dean glaubt das Böfe gern. Böhlendorff warf ihm, wie im Scherze, offenbare Betrügerei mit ben Baufummen vor, Horn Schlechte Auffiht aus Faulheit und Unverftand, Gaspari und Meyer als Neltoren ſchlichteten bie Fehde. Ale redlich Gefinnten, felbft ber Kurator, beurteilten ihn nad) feinen Werfen und offnem, unbefangnen Betragen. Strunes, Böhmers und Rambad;s Umtriebe bei großen Groggläfern verbreiteten fi) um fo mehr, als Kraufe nicht allein ſich erhielt, fondern auch avancirte, ben damals noch feltenen Mladimir-Orden erhielt (1810)... ü

1817 brauchte ihn der neue Herr Kurator, Graf Lieven zum Planmachen der Aſtronomen-Wohnung, und als der Monarch ihm eine Arrende von 1820—32, einen Brillantring für einen

Dorpat 1802—1812. 101

gezeichneten Baurapport ſchenlte (1819), erwachte der Neid um fo heftiger. Die Arrende griff in bie vermeinten Adelsrechte, man fol ſich das Wort gegeben Haben, fie ihm zu vermäflern. Am thätigften erwies fih ber Synbifus, von 1803—10, welder fo mandjes unberufne Syndiziren im Bauwefen, freilich oft berb abgewieſen, nicht vergeſſen fonnte, von 1810 bis 1818 als Aſſeſſor beim Hofgerichte geftanden, nachher aber wieberum als Syndilus eintrat, fi) als Baubireftor! aufführte, bei einem kliniſchen Erfer- zimmer, bei ber Negulirung ber Grundzinfen, bei bem Bau ber Neitbahn in Kompagnie mit dem Stallmeifter Daue wenig als ſolcher auszeichnete, weil bie von ihm eingerührten Bauſachen, auf Verlangen des Herrn Kurators und des Neftors rein techniſch befeuchtet, fich nicht bemährten. 1826 ging er ab als Zenſor mit 3000 Rbl. Gehalt und mit dem Vorbehalt des Baudireftorats. 1827 Staatsrat und Wlabimir-Nitter.

Krauſe befam unterbeijen allerlei Aufträge, 3. B. Pläne zur Univerfitäts-Sirhe zu entwerfen und VBauanjchläge zu verfertigen, befonders die Ruine vollends auszubauen. Parrot erhob ſich nun ebenfalls als Architekt. Wenn es aber mit feiner Geologie und Vulkanen nicht beffer jteht, als mit der praftiihen Baukunft, fo doch ein guter Menſch fann wohl zuweilen auf allerlei Ideen von Alwiffenheit und Vollkommenheit verfallen. Er forderte nur einen 300 Fuß hohen Thurm, ohne bie Fundamente zu kennen! Das Hauptgebäude wurde zu enge, man wollte die Kanzeleien und Aubitorien in ein anderes Haus verlegen. Es iſt fein ſchicklicher Plag vorhanden, als ber Hofraum mit feinen Hintergebäuden. Man verlangte von Kraufe einen Plan und Anſchlag dazu, er lieferte Beides 1824. Die innere Einrihtung des Gymnaſiums (feit 1805) ift elend und bie Gebäube ber Kreisſchule fait unbrauchbar. Parrots Pläne wurden mit fehr prefären Anſchlägen nicht aus führbar befunden. Dan verlangte anwendbarere, Kraufe lieferte 10 Blätter, fo ober jo auszuführen, mit ben bazu gehörigen Berechnungen 1826. Der neue botaniihe Garten brauchte feit 1805 einen foliden Zaun, man verflidte viel Geld; 1814 verlangte man einen Plan und Devis, des Krieges wegen Fonnte man 18,000 Rbl. nicht erlangen, ber Plan verſchwand, die Sache ruhte. Ein gelegnes Grundftüd ſchloß fih gut am das alte Revier, es war aber, mie jenes, der Ueberſchwemmung beim Hochwaſſer des

102 Dorpat 1802--1812.

Embachs unterworfen. Man verlangte einen neuen Plan und Anſchlag. Nach 10 Tagen Arbeit gab Kraufe Beides über 28,000 Rbl. (Junius 1827). Und fo brauchte man ihn ftets in ſolchen Fällen, wo andre Baulichter ſich mit mutmaßlichen Angaben ins liebe Blaue behalfen. Wers glaubt, wird felig! Amen.

Seine Vorlefungen wurden niemals ſiark befucht, ſeitdem man wußte, daß er feine Arkana ohne Mühe und Kenntniſſe in ber Landwirtſchaft zu offenbaren hatte, daß er Bekanntſchaft mit dem mechaniſchen Teile vorausfepte, Hilfswiſſenſchaften, beſonders gut Rechnen forderte, nach gemeiner Haushaltsart. Bei der Ver— änberlichteit ber Moden in ber Philoſophie wie in ber Theologie, Medizin, Jurisprubenzs und denn aud in ber Wirtſchaftslehre biktirte er die Hauptgrundfäge als ewig ſich gleihbleibende Wahr: heiten aus der Natur, fügte das Neue geſprächweiſe Hinzu, bis es als reine Erfahrungslehre beftätigt fi erwies, verband damit das eigentümlid; Inländifde, welches aus ber Verfaſſung des Landes, aus langer Gewohnheit hervorging. Wenige ber Zuhörer faßten ben großen Umfang, weil fie Vorurteile mitbrachten und feine Hilfowiſſenſchaften fiubirten, fondern von ihm maulgerecht vorge tragen erwarteten. Gelehrte und gemöhnliche Empirifer und Schlendrianiften urteilten wie Blinde von der Farbe, aber ihr Urteil fand aud bei den Bequemen Beifall, und fo konnte ihm die freubige und belohnende Ermunterung niemals werben, unter den gegebenen Umftänden tüchtige Landwirte gebildet zu haben.

Unterdeijen erlebte er doch die Rechtfertigung, daß mehrere der früheren Auditoren e8 nun als regſam ftrebende Landwirte geftanden, die befannt gewordenen Grundfäge wären ihnen fehr nüglich gemwejen. Beſonders zeichnete fih Normann aus, ber Bekanntſchaft mit dem Landüblichen in allen Wirtſchaftszweigen, aud im Buchhalten mitbradhte. Yon 1820 bis incl. 1823 gewann er fo viel, daß er Kandidat, 1824 Gefhäftsführer beim Serbigal- ſchen Wulf (Livl. Herzog) werden fonnte; 1825 fdhidte ihn die Defonomifhe Sozietät nad) Möglin, im September 1827 fehrte er mit guten Teftimonien zurüd, befannte: das bier [in Dorpat] befannt Gewordene fei ihm fehr förderſam geweſen.

*

Dorpat 1802-1812. 108

Dr. Abam Chriſtian Gaspari, Profeſſor Orb. der ruf. Geſchichte und Statiſtik, d. 20. März 1803.

Ein gefehrter, reblicher, anfpruchslofer Dann aus Meiningen am Thüringer Walde, wo er feine erfte Bildung erhalten, in ...*) erweitert, als Profeflor in . . .*) und Oldenburg fortgejegt hatte **).

*) Süde im Tert.

=*) Hier bricht das Manuſtript ab.

a

die ſittlihe und foziale Bedentung deö modernen Bildungäitrebens.

Ein Vortrag von Profefjor Dr. Adolf Harnad*),

Der evangeliſch-⸗ſoziale Kongreß hat fid bie Aufgabe geftellt, alle großen Erfcheinungen ber Gegenwart, melde förbernb ober hemmend, aufbauend ober umgeftaltend in das fittlich-foziale Leben eingreifen, zu beurteilen. Wie fie beihaffen find, was fie wert find und in weldem Sinne fie geleitet werben follen, mill er unterſuchen. Es bedarf nun wohl nicht vieler Worte, um zu beweifen, baf das moberne Bildungsitreben eine ber hervorragenbiten ſozialen Erſcheinungen innerhalb unfrer Gegenwart ift. Zu feiner Zeit Tann ber, welder das Ganze bes Zuftandes eines Volles ſtudiren will, an dem Stande der Bildung vorübergehen; er muß feftftellen, wie hoch berjelbe ift, wie ſtark bie Intereſſen find, die an ber Bildung haften, unb wie groß bie Opfer, die für fie gebracht werben. Aber in unferer Zeit find biefe Fragen von boppelter Bebeutung ; denn der flüchtigfte Blid lehrt uns, in weldem Maße ſich das Streben nad Bildung unter uns gefteigert Hat. Der Abftand von früheren Zeiten, ſelbſt wenn man nur um 30 Jahre zurũckgeht, ift fo groß, daß man geradezu behaupten fann, daß das Streben nad) erweiterter und vertiefter Bildung ein weſentliches Merkmal unfrer gegenwärtigen Epode ift. Wollte ich anfangen, Ihnen zu ſchildern, in welchen Hervorbringungen und Einrichtungen ſich dieſes Bildungsftreben überall zeigt, jo würde id in vielen Stunden nicht zu Ende kommen. Nur an einige Thatfachen, bie Ihnen alle befannt find, will ich erinnern.

=) Uebernommen aus den „Verhandlungen des 13. Evangelifgfogialen

Kongrefies, abgehalten in Dortmund vom 21. bis 23. Mai 1902.“ Göttingen, Bandenhoed und Rupredt. 1902.

Das moderne Bildungsftreben. 105

1.

Betrachten wir eine größere beutiche Stadt; mir finden zahlreich beſuchte Volksbibliothelen; wir finden Fortbildungsſchulen jeder Art, obligatoriſche und freie, ſowie Fachſchulen. Vorleſungen aus allen Gebieten ber Wiſſenſchaft werden für weite Kreiſe ge— Halten; die Vorlefungen werben belebt und verbeutlicht durch Experimente und bilbliche Darfiellungen von hoher Vollendung, die das Schwierigfte erläutern und das Fernſie gegenſtändlich madjen. Befindet fih an dem Ort eine Univerfität ober fonft ausreichende Lehrfräfte, fo hören wir, daß Hochſchulkurſe abgehalten werben, in denen befondere Zweige oder die Grundzüge ber ein- zelnen Wiſſenſchaften nit nur ihre Ergebniffe, fondern auch ihre Methoden folden zugänglich gemacht werben, melde der gumnafialen Vorbildung entbehren. Diefelben Univerfitäten richten Ferien: und Fortbildungsfurfe ein; durch fie werden bie neueflen Errungenſchaften ber Wiſſenſchaft denen zugetragen, die bie Uni- verfität feit Jahr und Tag verlajlen haben. Daneben ftehen praftifch:wifjenichaftliche Kurfe, Samariterfurfe, Unterweifungen für den Dienft bei plöglihen Unfällen, Einführung in das neue bürgerliche Gefegbuch, fozialpolitifhe und pädagogifhe Kurſe, zufammenhängende Belehrungen oder Diskuffionen über ethifche und religiöfe Grundfragen. Weiter aber: dort fordert ein Anſchlag zum Beſuch der Schaufpiele auf, in denen zu billigen Preiſen bie Meifterwerle unfrer Dichter aufgeführt werben; hier wird zu Vollskonzerten eingeladen, fei e8 in bie Kirche, um Bach und Händel, fei es in ben Saal, um Beethoven und Wagner zu hören. Die Mufeen find unentgeltlich geöffnet, und für fachverftändige Erfäuterung der Sammlungen und Kunſtwerke dafelbft wirb geforgt. Nod am jpäten Abend und bis in die Nacht hinein wirb gearbeitet, um folche, denen es in ber Jugenb nicht vergönnt war, fid eine gründliche Bildung zu erwerben, nachträglich zu fördern ober den aufftrebenben Arbeiter mit den tieferen Grundlagen, ben Zufammen- hängen und ben Fortichritten feines Arbeitsgebiets befannt zu maden. Grunbriffe, Lehrbücher und dazu bie beiten Werfe aus den Litteraturen aller Nulturvölfer werben zu ben wohlfeilſten Preifen verfauft. Wer es verjteht, kann ſich bereits für zehn Mark eine wertvolle Bibliothek anſchaffen, für die er nod vor einem Menfchenalter bas Zehnfahe zu zahlen hatte. Auch auf

106 Das moderne Bilbungsftreben.

das Land hinaus wenn biefe Arbeit auch erft begonnen hat werden Fachmänner geſchickt, welde in ber Aderwirtigaft, im Obfiban unb anderen länbfiden Unternehmungen unterrichten. Ueberall jeden wir, daß leicht und ſyſtematiſch Heute zugänglich gemacht wird, was früher nur wie zufällig dieſem ober jenem zuſlog, oder was der Eifrige mühſam ſelbſt aufſuchen und mit vielen Opfern fid) erwerben mußte. Schließlich iſt noch des unge heuren Bildungsſtoffs zu gedenfen, den bie Zeitungen fait in jebes Haus tragen, die politifhen Zeitungen und die Fachzeitſchriften. Ein jedes Handwerk, ein jedes Gewerbe und jeder Fabrikzweig befigt jolhe. Cie enthalten genaue Ausführungen über jeden Fortſchritt auf dem betreffenden Gebiet und werben von Männern redigirt, die neben ber genaueften Kenntniß bes befonderen Zweiges aud bie ber wirtſchaftlichen Zufammenhänge ihres Faces mit anderen Fädern, Produktions: und Handelsftatiftiiches Willen und allgemeine Kenntniſſe ber verſchiedenſten Art befigen. Ein Blid 3 B. in bie Rellner:Zeitung, den ich jüngft gethan, belehrte mic, mit welchem Ernft und welcher Umſicht ein ſolches Blatt geleitet wird, und mie viele Ratſchläge und mie viel Einfiht es feinen Abonnenten übermittelt.

Um aber den Rontraft bes heutigen Zuftandes zu bem, was vor einem Menſchenalter war, volljtändig zu maden, muß man auf bie Träger bliden, bie jet vornehmlich an bem Aufſchwung beteiligt find, während fie damals noch faum fi regten id meine bie Arbeiter und bie Frauen. Das Bilbungsftreben beider drüdt unfrer Epoche recht eigentlich ben Stempel auf.

Was bie Arbeiter betrifft, fo befhämen große Gruppen unter ihnen alle anderen Stände. Noch jüngft ift es wiederum aus Hamburg bezeugt worben, baß die bortigen großartigen Veranftal- tungen von Vorlefungsfurfen hauptfählih von ben fogenannten „Heinen Leuten“ bejucht werben.

Mit Anteil und Bewunderung fehen wir, welden Eifer dieſe „tleinen Leute” und Arbeiter entwickeln und melde Opfer fie bringen, nicht nur um ihre materielle Zage zu verbefjern, fondern auch um intelleftuell in bie Höhe zu fommen und an ben geiftigen Errungenfgaften Teil zu nehmen. Abgefehen it es babe teineswegs auf raſche Befriedigung eines vorübergehenden Bebürfs

Das moderne Bilbungsftreben. 107

niſſes, ſondern fie ftreben unzweifelhaft nah Wiſſenſchaft. Ein brennendes Verlangen, ein Hunger nad) wirklichen Kenntniſſen, nach einer wiſſenſchaftüchen Weltanfjauung it vorhanden. Mag aud) das Urteil darüber, was die Wiſſenſchaft vermag, oftmals ein ausichweifendes, ja phantaſtiſches ſein, mögen die Schwierige feiten des Wegs taufendmal unterf&ägt werben bas feite Zutrauen zur Macht und freieitftiftenden Kraft ber Willenfchaft Hat etwas Imponirendes und bie Freubigfeit zu der Reife in das unbefannte Paradies etwas Rührendes.

Noch gewaltiger aber, faſt möchte ich ſagen elementarer und univerſeller iſt das Bildungsſtreben der Frauen. Die Geſchichte erzählt uns von großen Völkerſchaften, über die plöglih ber Wanbertrieb gefommen ift und die mım ihre Wohnfige verlafien, um auszuziehen in ein fernes Land, wo der Himmel blauer ift, bie Erde fruchtbarer und das Leben lebendiger. Hieran fühlt man fid) erinnert, wenn man die heutige Frauenbewegung betrachtet. Aber wie bei jenen Völkerwanderungen, fieht man näher zu, nicht ein unerflärlihes Etwas zum Aufbruch getrieben hat, fonbern die Not verbunden mit Thatenluft, jo ift auch Hier die Not das Treibende, verbunden mit dem Drang, fid) aus der Enge zu befreien, und mit dem Gefühle ber Kraft. Alle Schichten ber Frauen hat diefer Trieb heute burgbrungen. Es find feinesmegs mur bie wirtſchaftlich Bedrohten, die fid) in bie Neihe ber ftrebenden Frauen ſtellen, weil fie für ihre Eriftenz fämpfen müſſen; nein, auch bier jenigen, deren materielle Lage gefichert ift, treten hinzu, und von Jahr zu Jahr mit jeber neuen Mäbchengeneration, die bie Schule verläßt wächſt die Bewegung in geometrifcher Progreffion. Sie wollen Teil nehmen an Allem, was die geiftige Entwidlung der Gegenwart bietet; fie wollen ihren Geift ſchulen und befreien und nad) Renntniffen, Bildung und Selbftänbigfeit ben Männern ebenbürtig fein. Es gilt dem Willen und ber Wiſſenſchaft, und fie verlangen, daß man fie zulaffe, wo nur immer Wiſſen gelehrt wird und Rechte auf Grund befjelben erworben werben. Der Spott über ein Korps von Blauftrümpfen oder von Amazonen iſt längft nicht mehr am Plage, verftummt aud) immer mehr; denn bie Bewegung ift viel zu mächtig geworden und fie hat ſich fo tief aud mit bem inneren weiblichen Sinn verbunden, daß man mit Recht von der Frauenbewegung ſpricht.

108 Das moderne Bilbungsitreben.

Laſſen Sie mich, bevor ich diefe kurze Ueberſicht ſchließe, nur nod) einen flüchtigen Bli auf die Stellung bes Staates zu biefer ganzen Bewegung werfen. Da bei uns in Deutſchland ber Staat, wenn aud nicht das Unterrichts: und Bilbungsmonopol, fo doch nahezu ein Monopol auf fie befigt, fo ift fein Verhalten hier von höchſter Bedeutung. Im Allgemeinen darf man urteilen, daß er mit Wohlwollen, Weisheit und thatfräftiger Hülfe bem mobernen Bildungsftreben auf den meiften Linien entgegenfommt. in nicht geringer Teil ber wifenfhaftlihen Einrichtungen, von benen wir foeben geſprochen haben, ift auf ihn zurüdzuführen; andere hat er gerne und mit Anteil verwirklicht gefehen und leiht ihnen feine Unterftügung. Es ift nur zu billigen, wenn er ſich bei ber Ini— tiative zurücdhäft und lieber freien Vereinen ober ben Kommunen ober Privatperfonen bie Anfänge und bie Durchführung überläßt. Daß er raſchem Drängen Wiberftand entgegenftelli und im Allger meinen nicht das Tempo befdjleunigt, ſondern zurückhält, ift jo lange nicht gefährlich, als er geſunde Bewegungen nicht unterbrüdkt. Auf feinem eigenften Gebiete, dem bes Vollsihulunterrichts, hat er foeben einen bedeutenden unb befonders banfenswerten Schritt vorwärts gethan. Die neuen Regulative für ben Unterricht auf den Lehrer-Seminarien find vortrefflih und jeden Lobes mert. Zwei Beftimmungen find es namentlid, die für fie nun maßgebenb find: eritlih, daß ein jtufenmäßiger Gang von ber unteriten bis zur legten Klaſſe eingehalten wird, fo daß an bie Stelle eines unermübdlichen und geifllofen Repetirens und Cinpaufens beijelben Penſums ein mirfliches Fortſchreiten in ber Ausbildung erzielt wird, zweitens daß auf den oberften Stufen ſowohl ein Einblid in die Hauptrefultate gewiſſer ben Lehrern nahe liegender wiſſenſchaft⸗ licher Disziplinen als ein Sinn für die Methode und Arbeit der Wiſſenſchaft erweckt wird. Durch beides find lang gehegte Wünſche der Lehrermelt felbjt befriedigt worben, und es fteht zu erwarten, baß mit bem abgeihafften Drill bie Untugenden allmählich ſchwinden werben, bie ungertrennlich von ihm find, und daß dann auch der Volksſchule bie neue Orbnung ber Dinge einen neuen Aufſchwung bringen wird. Der Staat iſt mit ben Vertretern eines gefunden Fortfehritts darin einig, daß Veraltetes und Faljches nicht gelehrt, Recht und Pflicht zu denken aber allen Bürgern eingeprägt werde. Die Vollsſchule fol und kann bavon feine Ausnahme maden.

Des moberne Bilbungsftreben. 109

2.

In einer furzen Ueberſchau haben wir es gerechtfertigt, daß mir von einem modernen Bildungsftreben ſprechen und in ihm ein mefentliches Merkmal unferes Zeitalters fehen. Unfere Frage gilt aber dem fittlihen und fozialen Wert biefes Bildungsftrebens. Bevor wir ihn unterfucen, haben wir das Weſen ber Bilbung und das bejonbere Weſen ber mobernen Bildung ins Auge zu fallen. Nicht um das, was man Zivilifation nennt, handelt es fich hier. Freilich ftehen Bildung und Zivilifation in einem fehr nahen Zufammenhang. Allein wir find mit Recht gewöhnt, unter Zivilifation etwas Neußeres zu verftchen, an weldem auch ber teilnehmen fann, der von wirklicher Bildung wenig berührt ift. Uns ift e8 nur um bie leßtere zu tun.

Wefensbeftimmungen der Vilbung giebt es zahlreiche, und ihre Mannigfaltigfeit beweiſt, wie verſchiedene Seiten fie hat und wie verjchieben fie betrachtet werden fann. Faßt man ben Menſchen feinen Anlagen nach, fo wird Vildung die volle Ausgeftaltung aller der Kräfte fein, die im Innern ſchlummern: man wird durd) bie Bildung, was man ift ober vielmehr mas man fein fann; bie volle Entfaltung ber Individualität ift hier das höchſte Ziel der Bildung, und mit biefer vollen Entfaitung aud die freiheit gegenüber ber Außenwelt, eine gleihfam wiedergewonnene Nais vität. Sie iſt das ficherfte Zeichen der geſchloſſenen befreiten Perſonlichkeit.

.Doch er ftefet männlich an bem Gteuer, Wit dem Schiffer fpielen Wind und Wellen, Wind und Wellen nicht mit feinem Herzen."

Faßt man den Menden innerhalb ber Natur, fo wird bie Bildung eine boppelte Aufgabe Haben: einerfeits wird fie eine Waffe fein gegen die Natur, eine Schugiwehr gegen ihre Alles zu verfchlingen brohende Gewalt Naturbeherrfhung, ſoweit nur immer möglid, ein Ablaufhen und Abtrogen ber Geheimniſſe der Natur, um fie zu zwingen und bienftbar zu machen. Anderer: feits fol fie durch Verſtändniß mit der Natur verföhnen, foll den Zufammenhang mit allem Lebendigen aufdeden und den Zufammens ihluß, wo er heilfam, befördern. Auch hier ift Kraft und Freiheit das höchſte Ziel, weldes wintt.

10 Das moberne Bilbungsftreben.

Faßt man den Menfchen aber innerhalb der Geſchichte und als Glied der Menschheit, fo it Bildung das Vermögen, alles Menſchliche mit Verſtändniß und Teilnahme aufzunehmen und wieder zurüdzuftrahlen, die eigene Seele offen zu halten und bie anderen Seelen zu öffnen, Verftand und Gerz zu feinen Organen auszubilden, die dort jehen und hören, wohin die Sinne nicht mehr reihen, ſich an vielen Orten heimiſch zu maden und fi doch nirgends einzufchließen, innerhalb des Wechſels ber Dinge das Leben dauerhaft und würdig zu geitalten und inmitien des Ein- förmigen und Abſtumpfenden ihm Gehalt zu geben, Selbjtbeherr- ſchung und Gebuld zu gewinnen gegenüber dem Allzumenſchlichen und Ehrfurdt zu behaupten vor dem Menſchlichen und Göttlichen.

Faßt man endlic) die Bildung im engften Sinne in Bezug auf ben befonderen Beruf jedes Einzelnen, fo iſt fie die Summe ber Kenntniffe und Yertigfeiten, die nötig find, um biefen Beruf wirklich auszufüllen und fid) frei in ihm zu bewegen. Auch hier ift Freiheit das legte Ergebniß: gebildet ift in feinem Beruf und für benfelben, wer durch ihn nicht niedergebrüdt wird, ſondern deſſen Kennen und Können zur zweiten Natur geworben iſt. Niemals darf bdiefe Bildung im engeren Sinn, bie Fahbildung, unterfhäpt werben; denn ber Weg zur allgemeinen Bildung führt tegelmäßig durch die fpeielle und ift anders fchwer oder überhaupt nicht zu finden.

€s ift ein hohes Lied von der Bildung, welches wir gefungen haben, und mander hat vielleicht gelächelt oder ift gar unwillig geworben. Ihm ift etwa ber „Bildungsphiliſter“ eingefallen und alles bas, was man mit Grund von demfelben gejagt Hat. Allein wer bie Bildung fo faßt, wie ich fie zu beftimmen verfucht habe, wird ber entfchiebenfte Feind jener Spottgeftalt fein. Der Bildungs: philifter neben dem Gebildeten ift Wagner neben Fauft, eine Sliederpuppe neben dem Lebendigen, lebendig nur burd ihre Selbftgefälligkeit. Der Bildungsphilifter ijt ohne Duldung und Geduld, ohne Freiheit und ohne Ehrfurdt, ohne Perfönlichkeit und ohne Liebe; jede Frucht verſchwindet in feiner Hand, und nur die Hülfen bleiben ihm übrig, bie er für den Kern ber Dinge Hält.

Aber je und je find aud) ernfte, wirkliche Gegner der Bildung aufgetreten, nicht Barbaren, fondern Feinde ber Bildung unter den Gebildeten. Das ift freilid) parador genug, und eigentlich

Daß moberne Bilbungsftreben. u

Könnte man fie einfach ihrem Selbſtwiderſpruch überlaſſen. Es waren und find hochgebildete Romantifer, die, nachdem fie einen reichen Bilbungsftoff aufgenommen, aber nicht alle Früchte erhalten haben, die fie erwarteten, auf die Bildung ſchmähen und ihr gegenüber die Natur ober bas Leben ober etwas Unbefinirbares ausfpielen. Das Altertum kannte ſolche, das 18. Jahrhundert Hatte feinen Rouſſeau, und wir haben unfre Meinen, aber nicht einflußlofen Rouſſeaus. Someit fie nicht die Bildung bekämpfen, um das Triebleben zu empfehlen, oder um fid) von der Sorge für ihre Mitmenfhen und von aller Verantwortung für ben Gang ber Dinge zu befreien, befehden fie nicht eigentlich die Bildung überhaupt, ſondern eine falſche, engherzige, verrottete Bildung. Dies war in hohem Maße bei Rouſſeau der Fall, und daher find wir ihm zu Dank verpflichtet und fönnen eine weite Strede Wegs mit ihm gehen. Nicht aber können wir mit ihm gehen, wenn er einfach die Natur gegen die Bildung ausipielt. Wird hier fein täufhendes Spiel mit Worten getrieben oder in ben Begriff „Natur“ etwas hineingelegt, was ihm garnicht zukommt, fo fann die Formel: „Rückkehr zur Natur“ nicht gebilligt werden. Gemiß, wahrhaftig follen wir fein, nicht geziert und nicht heuchleriſch, auch follen wir uns nichts aufreden lafjen, was unferem innerften Wefen widerſpricht, aber die Natur kann nicht überall unſre Lehrmeifterin fein; denn ihr fehlen zwei Elemente, welche wir nicht entbehren önnen, das ift die geſchloſſene Perjönlichkeit und die Güte. Bon der Natur können wir fie nicht lernen. Aus dem geſchichtlichen Leben empfangen wir fie.

Aber es giebt endlich nod) Gegner, die mit Mißtrauen bas unbedingte Lob der Bildung hören, und wir finden fie in ben Reihen unferer Freunde. Ernſte Chriften find es, die nicht nur vor Ueberſchãätzung ber Bildung warnen, fondern ihr überhaupt nur einen bedingten Wert beilegen. Ihre Stellung ift wohlver⸗ ftändlih; denn erftlih ift in allen höheren Dingen bie ſichere Kenntniß bes Jdeals etwas jo Bebeutendes, daß fie viele Mängel erjegen fann, und fo wird ber wahrhaft refigiöfe Menſch immer auch ein gebildeter Menſch fein, jo wenig Bildung im einzelnen er auch haben mag. Zweitens, alle tiefere Bildung wird nur aus einem ſchmerzlichen Wiberftreit und hartem Kampf geboren; fie wird nicht mühelos erworben und auch nicht mühelos feitgehalten.

12 Dos moderne Bilbungsftreben.

Sofern biefea Element aber von oberflächlichen Menſchen oft über fehen und Bildung einfach mit Kenntniffen verwechfelt wird, fofern weiter überfehen wird, daß Bildung nur langfam reift und eine Bildungoſchicht und -Geſchichte vorausfegt, ift bas Mißtrauen ber Ernten gegen das Schlagwort „Bildung“ wohl berechtigt. Allein die Bildung ift nit daran ſchuld, daß fie auch oberflächlich auf: gefaßt wird; darum ift jedes Wort, welches gegen fie geiproden wird, bedenklich. Bedenklich ift es aud, von dem Standpunkt ber Güter, welche die Religion gewährt, abjhägig über die Bildung zu urteilen. Gewiß wird ihr Mangel dort am wenigften empfunden, wo wahrhaft veligiöfes Leben ift, und dieſes kann in ſich geſchloſſen fein und die ganze Perſönlichleit verflären. Aber ohne Bildung wird fie nur in ganz beftimmten Berufen nad) außen wirkfam fein Tonnen, bie zahlreichen anderen werben ihr verſchloſſen fein, und diefe Erbe zu bebauen und zu bewahren, wird fie anderen über laſſen müfjen. So bleibt es babei, daß gegen bie Bildung feind- felig ift nur wer fie nicht fennt ober verfennt, und ber, welder gegen fie eifert, befindet fid in ber Regel in einer merkwürdigen Selbſttäuſchung: er denkt mit ihren Gebanfen und rebet mit ihren Worten. Mag au, wo immer gegen die Bilbung gefproden mird, bies ein Zeichen fein, daß im herrſchenden Bildungsbetriebe etwas Ungefundes oder Faules ift ber Bildung ſelbſt ben Krieg erflären ober fie für etwas Unbebeutendes barftellen, ift ein wahn⸗ finniges ober fredjes Unterfangen. Der verwirrt und ſchädigt alle gefunden Begriffe und ladet eine große Verantwortung auf fi, ber, ſei e8 in geijtreicher, fei es in welcher Nebe auch immer gegen bie Bildung ftreitet und fie dem Volke verächtlich oder überflüfjig zu machen fugt. Im biefem Sinne muß id) aud) die Wirkung, welche die Schriften Tolftois ausüben, für bedenklich halten und kann mid) nur mit dem leidigen Trofte tröften, daß bie meiften, die fie lefen, gar feine anderen Wirkungen aus ihnen empfangen, als die einer vorübergehenden Emotion. Im Großen und Ganzen bürfen wir fagen, daß der mächtige Trieb und das Streben nad) Bildung unter uns durch diefe und andere Hemmungsverfuche nicht aufgehalten werben. Sie find kräftiger und lebendiger als zu irgend einer Zeit. Wer fann fi) darüber wundern? Iſt doch die Erbe erjt in unferen Tagen ein einziger Schauplag geworben. Der moderne Verkehr Hat alle Zäune niebergeriffen. Taufend

Das moderne Bilbungsftreben. 18

wechſelnde Eindrüde treffen uns Heute; Alles fteht im Lichte ber Deffentlichfeit. Alles fpielt fi auf dem Markte ab. Konkurrenz in jedem Ginne des Wortes beherrſcht Alles, und zugleid greift jede Frage in eine andere ein. Hilflos fteht der Ungebildete dieſem Zuftand gegenüber. Einen ftillen Winkel, in ben er fi retten Tann, giebt es bald nicht mehr. Nur durch Bildung vermag er fi) zu wappnen. Hier liegt die legte Urſache des mobernen Bilbungsftrebens. 3

Aber fragen wir uns nun, in welcher Richtung hauptfächlich das moberne Bilbungsftreben ſich bewegt; denn obgleich alle Bildung nur eine ift, jo treten doch zu allen Zeiten verfchiedene Momente in ihr Bervor und gewinnen die Oberhand. Sehe ich recht, jo laſſen ſich in unferem modernen Bildungsftreben folgende Hauptzüge erfennen. Erſtlich, es zeigt eine energiſche Richtung auf bie wirkliche Wiſſenſchaft, zweitens, es zeigt die ernftefte Abfiht, Unabhängigkeit und wirtſchaftliche Selbftändigfeit zu erringen, drittens, es zeigt den Trieb, daS Lebensgefühl zu fteigern und größeren Anteil am Leben, ertenfiv und intenfiv, zu gewinnen.

Das moderne Bildungsftreben zeigt eine energiſche Richtung auf die wirkliche Wiſſenſchaft; ich könnte dafür auch fagen, auf bie Erfenntniß des Wirklihen. Der größere Teil aller ber Ein richtungen und Unternehmungen, von denen wir gefprochen haben, gilt diefem. Es ift für den Dann der Wiſſenſchaft eine Freude, zu fehen, mit welchem inneren Drang und Eifer wiſſenſchaftliche Erfenntniß heutzutage aufgeſucht wird. Mit ſchönen Worten und unterhaltenden Erzählungen ift nicht mehr gedient; man will bie Welt des Wirklichen erkennen und will die Fortfchritte der Erkenntniß ftudiren. Darum tritt Heutzutage ber einzelne populär-⸗wiſſenſchaft⸗ liche Vortrag immer mehr zurüd gegenüber der zufammenhängenden Unterweifung. Wie das Wirkliche gefunden und erfannt wird, dafür ift der Sinn aufgegangen oder wenigſtens das Verlangen, ben Thatſachen ins Geſicht zu fehen und fi vor Schein und Täufhung zu hüten. or allem aber find es die zwei leitenden Ideen ber mobernen Wifjenfhaft, die fi weiter Kreife bemächtigt haben unb bereits Richtlinien für fie geworben find, die Erhaltung und Umformung ber Kräfte und ber Entwidlungsgebanfe. Wir freuen uns, daß dem fo ift, und Diejenigen täufchen fich, melde

114 Dos moberne Bilbungsftreben.

meinen, daß biefer Schritt je wieber zurückgenommen werben fönne. Die Einfiht, daß die einzelne Kraft ein integrirender Beftandteil eines Kräftefyftems ift und nur in ihm feine Stätte Hat, und daß die einzelne Erfheinung nur als Glieb einer Entwidlungsreihe eine Thatfache ift, diefe Einfiht wird, einmal gewonnen, nie wieber verſchwinden; benn fie ift die Bebingung, foviel von der Welt um uns zu erfennen und zu durchſchauen, als uns zu erfennen ver- gönnt ift. In biefem Sinne ift bas Urteil, daß ber Zug der Zeit ein realiftifcher iſt, vollberedhligt; aber mir fällen es nicht im Sinne einer Klage, fondern freudig. Wir freuen uns, in einer Zeit Teben zu dürfen, in welder Stumpffinn und Aberglaube giebt es freifih genug ber Zug zum Wirklichen fo mächtig ift. Ehrlichkeit und Redlichkeit liegt darinnen, ehrlihe Arbeit und vebliches Bemühen, und ic) ftehe nicht an, dieſem Zug eine hohe fittliche Bedeutung beizumeiien. Won feiner Schrante werben wir noch hören; aber wer ber Erkenntniß des Wirklichen unbeftohen nachgeht, ber fteht dadurch in fittlicher Thätigfeit, und wer Opfer an Kraft und Mitteln für fie bringt, bringt fie für eine ſittliche Aufgabe.

Zweitens zeigt bas moderne Bildungsftreben die ernjtefte Abfiht, durch Bildung Unabhängigkeit und wirtſchaftliche Selbft- ftändigfeit zu gewinnen. Was treibt bie Scharen bilbungseifriger Arbeiter dazu, ihre kärglichen Freiftunden der Fahbildung zu widmen und ihre Renntniffe zu vermehren? Nicht nur der Wifjens- trieb als folder, fondern auch das lebhafte Verlangen, ihre Lage zu verbefjern und durch Kenntniſſe unb Feßigfeiten eine geſichertere Stellung auf bem Arbeitsmarkte zu gewinnen. Was it eine der mädtigften Teiebfebern in der großen Frauenbewegung, von ber wir geſprochen Haben? Selbjtändig zu werben, auf eigenen Fühen gu ſtehen und dur) einen feiten Beruf eine gefiherte Stellung zu erhalten. Diefe Tendenz ift in jeder Hinſicht beifallswert, ja auch fie ift als eine fittliche im firengen Sinne in Anſpruch zu nehmen. Ohne Beruf und einen feften Kreis ift der Menſch, ob Mann oder Weib, ein unnüges Wefen; der Beruf ift der Halt und ber Nüdgrat bes Lebens; nur in einem feiten Pflihtenkreife und in dem Gefühl, an feiner Stelle notwendig zu fein, bleibt ber Menſch gelund. it nun bie Che unzähligen Mädchen verjclofien und ift die Hauswirtihaftlihe Arbeit, vergligen mit früheren Zeiten,

Das moderne Bilbungsfirehen. 18

außerordentlich rebuzirt, fo müflen andere Berufe von den frauen gelucht, und fie müffen ihnen eröffnet werden. Ja, man wirb nod einen Schritt weiter gehen und denen beipflihten müſſen, die ba fagen, fein Mädchen ſoll nur für die Ehe und ausſchließlich als zufünftige Gefährtin des Mannes erzogen werben, fonbern fie Toll jo gebilbet werden, daß fie einem tüchtigen Beruf vorftehen fann. Ganz mit Recht wird biefe Forderung erhoben, nicht nur, meil eine zufünftige Eheſchließung immer unfider ift, nicht nur, weil es gilt, die bemitleidenswerte Lage unzähliger Wittwen, bie früher gleichſam wie eine unabänberlihhe Schidung betrachtet wurbe, im Voraus zu befjern, fonbern weil e8 dem Gang, ben unfere Entwicklung gewonnen hat, entipricht, daß jedes gefunde Weſen für fi felbft zu forgen vermag und es ala Pflicht und Recht empfindet, auf eigenen Füßen zu ftehen. Im anderen Zeiten find bie Anfhauungen darüber anbere geweſen eine neue Zeit ift beraufgejtiegen, und mir freuen uns, ihre Bürger zu fein. Wir erwarten auch von biefer Umgeftaltung, in beren Anfängen wir ftehen, eine Verfittlihung bes weiblichen Geſchlechts, wo jolde nötig, und eine Werfitilihung bes Verhältniſſes ber beiben Geſchlechter zu einander. Cigentümlihe neue Gefahren tauchen freilih aud Hier auf wir werden über fie ſprechen; ohne Schatten ift nichts Menſchliches, aber daß dunkle Nachtfeiten in ber Sage und dem Zuftande bes weiblihen Geſchlechts ſchwinden ober boch abnehmen fönnen, wenn die wirtichaftliche Selbftändigfeit und Unabhängigfeit deſſelben gefteigert wird, fann ſchwerlich zweifel: haft fein. Es ift 3. B. unmöglid, daf die Proftitution, bie grobe und bie feine, in dem Umfange fortdauert, wenn mit ber Bildung bie Ausbildung zu beftimmten Berufen in dem weiblichen Geſchlecht geförbert wird. Auch auf bie Männer muß notwendig biefe Neu: ordnung ber Verhältniffe einwirken. In diefer Betrachtung fühle id mid) eins mit einem ber tüchtigiten Vertreter ber Frauenbewer gung, mit Heren Wychgram. Cr ſchreibt in dem Vortwort zu feiner neuen Zeitſchrift „Srauenbildung“: „Die Förderung bes weiblichen Unterrichtsmwejens wird, wenn fie unter ben richtigen Gefihtspunkten und mit den rechten Mitteln vollzogen wird, ſowohl ber Frau als ber Geſellſchaft felbft Segen bringen. Denn bas find die beiden beherrſchenden Rückſichten: indem mir die geiftige Bildung ber Frau heben, heben wir bie Stellung ber Frau get,

116 Das moderne Bilbungsftreben.

und indem wir dieſes thun, glauben wir unferem Kulturleben neue große und fruchtbare Werke zuzuführen. Wir fchaffen der Frau eine höhere und edlere Selbftändigfeit. Dies aber fann und muß in boppeltem Sinn verftanden werben; im ethiihen und im wirt- fhaftfien. In jenem, weil bie höchftmöglid;e Ausbildung ber geiftigen Kräfte dem modernen Menfchen, was auch immer bagegen gelagt werben mag, bie wirkſamſte Vorbebingung einer ernften Erfaſſung bes Lebens und feiner Aufgaben bietet, und weil ſolche Erfafjung bei jeder tiefer angelegten Natur wiederum eine nicht verfiegenbe Quelle bes Glücs ift. In dem andern, bem wirtichaft- lichen Sinn aber bedeutet Selbftändigfeit die Erhebung über jenen traurigen Zuftand, da wir von ber Arbeit ber Anderen leben müffen und eigene von Anderen bewertete Arbeit nicht Teiften. Auch dies berührt ſich mit den erniteften Fragen, und wenn für feinen VBerftändigen darüber Zweifel beftehen, daß Arbeit, recht geboten, recht erfaßt und recht belohnt, Glück ift, dann müffen wir die Frauen zu folder Arbeit hinführen.”

Drittens zeigt das moderne Vildungsftreben den Trieb, das Lebensgefühl zu fteigern und größeren Anteil am Leben, ertenfio und intenfiv, zu gewinnen. Damit ift eine Geite berührt, bie nicht leicht zu faſſen ift. Ich meine nicht das Streben nad; mehr Genuß. Auch biejes enthält zwar etwas Gerechtfertigtes, und es it ſehr billig, es zu fhmähen, während ſich doch bie Schmähenden Teicht Hunderte von Genüjjen verfhaffen, die der Gefhmähte ent- behrt. Ich meine auch nicht die allermodernfte romantifche Neigung, das Lebensgefühl durch exzentriſche Phantafien zu fleigern und zu beraufchen. Diefe Neigung ift rechter Bildung geradezu entgegen: gefegt und feindlid. Das, was id) meine, ift das Beftreben, ſich aus jenem abftumpfenden Einerlei bes Lebens zu befreien, welches nod) für Taufende das Leben ſelbſt if, um ben Kreis bes Dafeins reich und fräftig zu geftalten. In Vielen ift heute dieſes Streben eine Macht: fie empfinden, daß ber Menſch nicht nur des Wechſels von Tag und Nacht bedarf, um geſund zu bleiben, ſondern auch eines Wechſels am Tage, und daß er fi nur friih erhalten fann, wenn er über feinen nächſten Beruf hinaus Anteil nimmt am allgemeinen Menſchlichen. Soll biefer Anteil aber über rohe Genüffe hinausführen, fo ift ein gewiſſes, ja ein fortfchreitendes Maß von Bildung unerläßlih, dazu ein Zuſammenſchluß mit

Das moderne Bilbungsftreben. ur

Gleichſtrebenden, denn der ifolirte Menſch gelangt hier niemals zum Ziele. Das wird aud) von den Nufitrebenden empfunden; denn nicht als etwas Aeußerliches oder Zufäliges tritt das foziale Element im Zufammenhang mit dem Bildungsftreben, das Leben reicher zu geftalten, auf. Vom fittlihen und vom driftlichen Standpunkt aber kann gegen dieſes Bemühen nichts eingewendet werben; benn der Zweck des Lebens ift um des ewigen Inhalts willen, welden jedes Leben Haben foll, das Leben jelbit.

Ich habe verfucht, das moberne Bildungsftreben nad) feinen wichtigſten Seiten zu charakteriſiren. Der fittlihe und foziale Wert deſſelben ift dabei überall hervorgetreten, ohne daß ich ihn auf dringlich vorgerüct oder Einzelwirfungen genannt hätte. In der That liegt auch nicht in ben Einzelmirfungen der Hauptwert, obgleich deren nicht wenige find. Ich verweiſe 5. B. darauf, mie durch die erhöhte Bildung die Wohnungsfrage, diefes fo wichtige Problem des fozialen Lebens, im günjtigften Sinne beeinflußt wird. Kann man dod) geradezu bie Wohnung als einen Grad— meſſer der Bildung in Anfprud) nehmen, und überall beobachtet man, daß gefteigerte Bildung ſich eine befjere Wohnung erzwingt: die wirtfhaftlichen Verhältniſſe müfjen hier dem idealen Anftoße folgen, und folgen ihm nachweisbar. Ferner verweife ich auf die Thatjache, dab durch die erhöhte Bildung ein Ausgleich der Stände ftattfindet, und daß bie einzelnen Schichten und Gruppen der Nation ſich näher treten und innere Fühlung mit einander gewinnen. In diefem Sinne find namentlih auch die Hochſchulkurſe von großer Bedeutung ; ja ſchon in diefen und ähnlichen Unternehmungen an fich liegt ein ſtarkes foziales Element, ein Element der Aner- tennung und des Zuſammenſchluſſes. Endlich möchte ich barauf aufmerffam machen, daß der gebildete Menſch in ber Regel ber befonnene fein wird: ertreme und erjentrijche Standpunkte werden verlaffen werben, und ber Sinn für das Bedingte der Verhältnifie wird erwachen. Damit wird der foziale Friede näher gerüdt. Aber, wie gefagt, die Einzelwirkungen bürfen hier nur als Teile der Gefammtwirfung ins Auge gefaßt werden. Diefe befteht darin, daß die erhöhte Bildung das Individuum zur Perſönlichkeit geftaltet und daß fie bafjelbe eben dadurch auch fozial wertvoll macht. Das Ziel einer in frieblier Arbeit und in gegenfeitiger Anerkennung und Fürforge geſchloſſenen Nation und das Ziel „eines allgemein

118 Das moderne Bilbungsitreben.

ſittlichen Weltbundes“, in bem „bie Menſchen ſich mit allen Kräften, mit Herz und Geift, Verftand und Liebe vereinigen“, liegt, wie alle Ideale, hoch über uns. Aber es ift gewiß, daß wir uns von ihm nicht entfernen, fondern auf dem rechten Wege find, wenn mir das Bildungsftreben überall fördern und neben der Sorge für bie wirtſchaftliche Hebung bie ibeale Seite, die doch in Wirklichkeit etwas höchſt Reales ift, niemals aus dem Auge laffen. 4

Des Leichtfinns aber und einer gefährlichen Schnellfertigfeit würben wir uns ſchuldig machen, wollten wir uns einfad bei ber Thefe beruhigen, das moderne Bilbungsfireben ſei fittlih und fozial genommen höchft wertvoll und mühe daher in jedem Sinne gepflegt werben. Wir Haben vielmehr bie Pflicht, fowohl bie Einwürfe ins Auge zu fallen, welde gegen bafjelbe erhoben werben, als auch bie befonderen Gefahren zu erfennen, die ihm anhaften. Eben dadurch werben wir feine fittfich-fogiale Bedeutung tiefer erfaſſen.

Als erite Gefahr, die uns Hier entgegentritt, erfcheint bie Gefahr der Halbbildung. Es find nicht nur „Realtionäre“, ſondern auch fozial gefinnte und einen gefunden Fortſchritt begün— ſtigende Männer, bie das moberne Bildungsitreben unb die Ein- richtungen, die für daſſelbe gefchaffen werden, mit Beforgniß betrachten. Wir kommen ihnen auch freimillig mit dem Zuger ſtändniß entgegen, daß bie Gefahren ber Halbbildung, nämlich Unflarheit, Verwirrung und wieberum thörichter Hohmut und Unzufriedenheit, nicht befeitigt werben können, ja ſich vielleicht in einigen Köpfen unter ben gegebenen Verhältniiien noch fteigern merben. Aber deshalb bem mobernen Bilbungsftreben entgegen- zutreten und es nieberzuhalten wäre das Verkehrtefte, was wir thun könnten. Nieberzubalten vermögen wir es überhaupt nicht; denn es ift viel zu mächtig; wir würben es nur auf ſchlechte Belehrung und ſchlechte Unterweifung zurüdwerfen. Den Gefahren der Halbbildung Tann man doch nicht durch die Verdammung zur Unbildung enigegentreten, ſondern mur durch „Banzbilbung”. Die beiten Männer müſſen in diefes Werk eintreten, und bie beften Bücher mühen für daſſelbe geſchrieben werden. Mit ben wichtigſien Ergebniffen der Wiſſenſchaft muß der Sinn für ihre

Das moderne Vildungsitreben. 119

Methoden und für bie unendlichen Schwierigkeiten einer geſicherten Erfenntniß auf allen Gebieten erwedt werben. Wo er erwedt ift, ba ift ſchon bie Hauptſache gewonnen, da ijt die größte Gefahr ber Halbbildung abgewehrt. Und er fann erwedt werben. Gewiß, die höchſte Stufe wiſſenſchaftlicher Erkenntnis Tann niemand erfliegen, und einen Föniglichen Weg zu ihr giebt es nicht; die großen Denfer werben immer einfam fein, und es wird ftets eine Wiſſenſchaft geben, bie nicht für die Maſſen iſt. Aber wie die Bildung, fo hat aud) die Wiſſenſchaft ihre Stufen, und es ift nicht wahr, daß die frichere Luft nur auf dem höchſten Gipfel bes Gebirges weht. Der ſchiechte Klang, den das Wort „populäre Wiffenihaft” hat fait lautet es wie Pſeudowiſſenſchaft, braucht ihm nicht immer anzuhaften; id; meine, er ift zum Teil ſchon verſchwunden. Wo das Halbwahre und Triviale verbannt, wo bie Ehrfurdt vor der Wahrheit und ihrer Erforihung erwedt, mo bem Einzelnen ber wiſſenſchaftliche Stoff geboten wird, ber ihn in feinem reife wirtlid zu fürbern vermag, ba ift die populäre Wiſſenſchaft eine gute und rechte Wiſſenſchaft.

Mit dem zulegt Gefagten bin ich bereits einer zweiten Gefahr entgegengetreten, bie bem mobernen Bilbungöftreben anhaftet, der Gefahr ber Gleichmacherei. Sie erſcheint mir bejonders groß und verderblich; fie ift e8 auch vornehmlich, die zu der ſchlimmen Halb« bildung führt, ja auf die Dauer bie Wiſſenſchaft felbit zu Grunde richten muß. Ihre Folgen find in jeder Richtung verhängnißvolle. Sie wirft antifogial, löft die gegebenen Grunbelemente ber Gejell: ſchaft auf und hält bie Entwidlung felbjtändiger und eigenartiger Individuen nieder. Unter Gleichmacherei verftche ich das Beltreben, ohne Rüdficht auf die Unterſchiede des Geſchlechts, der Inbividua- lität und des Berufs ein und dieſelbe Bildung und darum aud) einen und benjelben Bildungsgang möglichft Vielen geben ober vorſchreiben zu wollen. Was dabei herausfommt, Iehrt uns der Untergang ber antifen Wiſſenſchaft; wir haben es aber ſelbſt ſchon in ſchlimmen Erſcheinungen gefehen und werden wohl noch mehr Lehrgeld zahlen müffen. Verftändlich ſcheint «8 ja wohl, baf, nachdem viele äußere Schranken gefallen find, nur furzweg das ſcheinbar Einfachfte verjucht und womöglich Allen das Gleiche zu Teil werden fol; aber bie oberflächlichſte und verberblichfte Vor- ftellung von Bildung liegt dieſen Beftrebungen zu Grunde als

120 Das moderne Bildungstzeben.

ob fie wie ein Äußeres Ding übermittelt werben könnte, während fie doch überhaupt nur im Zufammenhang mit ber Eigenart und dem Beruf des Individuums befteht. Won ihnen abgejehen ift fie nichts als ein Firniß, ein zäher Schleim, ober vielmehr, fie ift etwas viel ſchlimmeres, ein Gift, weldes die Friſche und Geſund⸗ beit des Geiftes und ber Geele, ja oft auch bes Körpers zu zer- ftören vermag. Hier kann id) auch die moderne Frauenbewegung in manden Erjheinungen von ſchweren Vorwürfen nicht freifpredhen. Entſchuldigungen will ich gleid) voranftellen : der harte Kampf um das tägliche Brod und um einen Pla an der Sonne, das rühm- liche Streben nad wirtſchaftlicher Selbftändigfeit und wiederum das leidige Berechtigungswefen und bie Konkurrenz mit der männ- lichen Arbeit, in velde die Frauen zur Zeit oftmals treten müſſen, das find Entfhuldigungen genug. Aber wenn heute von verfdjie- denen Geiten die Parole ausgegeben wird, weil die Frau bem Manne gleichwertig fei, fo müßten ihr aud durchweg biefelben Berufe und berjelbe Bildungsgang eröffnet werden wie bem Manne, jo kann ih darin nur eine Verirrung fehen, und wenn vollends hin und her die Miene angenommen wird, als fei bie Frage „cujus generis* in Hinfiht auf Beruf und bürgerliche Stellung überhaupt eine veraltete, wenn in biefem Zufammenhange fogar an ber Ehe gerättelt wird, jo droht uns die Auflöfung. Ich nehme nichts von bem zurüd, mas id) in diefem Vortrage über das Recht ber Frauenbewegung ausgeiprohen habe; aber ich lehne die Ronfequenz ab, daß die Frauenbildung einfach nach dem Schema der Bildung des Mannes einzurichten fei und daß es ein gefunder Zuftand fei, wenn die Frau überall mit bem Manne in Konkurrenz tritt. Gleichwertigkeit ift doch nicht Gleichartigkeit; jene bleibt befiehen, ſelbſt wenn es ſich herausftellen follte, baß die Frau intelleftuel dem Manne durchſchnittlich nicht gewachſen ift. Was fid) aber längft für jeden, der fehen will, Herausgeftellt hat, ift in Bezug auf viele Berufe die körperliche Minderwertigfeit der Frau. Die ſchwierige Aufgabe der Zukunft wird darin beftehen, den rauen bie rechten Berufe abzugrenzen und innerhalb derfelben eine Orbnung ber Dinge vorzunehmen, wie fie der geiftigen und phyſiſchen Organifation der Frau angemeſſen ift. Hier find wir erft in ben Anfängen, und Opfer an gefunden Menſchenleben wirb es Toften, bis die Aufgabe gelöit ift. Unterdeſſen ift ſchon jegt

Das moberne Bilbungsitreben. 121

Torgfältig jede Gleichmacherei zu verbannen, wo bie Schäblidteit einer folchen offen zu Tage liegt. Dazu: gewiß ift die Frau nicht nur für die Che und bie Familie, aber fie ift in erfler Linie für fie zu erziehen. Der Einwurf, daß man den Mann dod) nicht in erfter Linie für biefe erziehe, jtammt bereits aus einer verfehrten Betrachtung ber Dinge. Diefe erfheint gefteigert, wenn wir heut- zutage wieder, wie einft im Mittelalter, die Frage erörtert ſehen, ob denn überhaupt die Ehe ein einer freien Perfönlichleit würbiges Verhältniß ſei. Es find nit nur frivole Weltmenſchen, welche diefe Frage aufmwerfen wenn fie aud) von ben Ueberzeugungen, bie einft zum Mönchtum geführt haben, fehr weit entfernt find. Dennod vermag id) in dieſen Erwägungen nur das Symptom einer ebenfo unevangelifhen wie antifozialen Stimmung zu erfennen, die höchſt unerfreulihe Aeußerung eines Egoismus, ber badurd) nicht wertvoller wird, daß er auch mit dem Bilbungsftreben ſich verbindet. Die ruchloſen Verfuhe aber, die Grundfeſten ber Geſellſchaft an dieſem Punkte zu ſprengen und offen bie Ehe ver- ächtlich zu machen es giebt leiber ſchon eine ganze Literatur darüber, eine „ſchöne“ Literatur, lafje ich grundfäglich beifeite.

Die gefährliche Gleichmacherei zeigt ſich indeſſen nicht etwa nur in beftimmten Erfheinungen der Frauenbewegung und bes feruellen Problems; fie ift auch fonft zu bemerken. Was man ihr entgegenzufegen hat, das will ih an ber Charakteriftit barthun, die einft Mommfen in einer munbervollen Rede von Kaiſer Wilhelm I. gegeben hat. Er jagt: „Raifer Wilhelm mar, was der redite Dann fein foll, ein Fachmann. Cine bejtimmte Disziplin beherrſchte er vollftändig ; feinem hohen Berufe entiprer hend lebte und webte er in ber Theorie mie ber Praris ber Militärwiſſenſchaft. Es werden nit Viele fein, bie ihre Jüng- lings- und Dlannesjahre mit ſolchem Ernft mie er ihrer Wifjen- ſchaft gewidmet haben. Alſo war er fein Dilettant. Er wußte fih am Schönen zu erfreuen und ift der Erörterung wiſſenſchaft⸗ licher Fragen oft und gern gefolgt.“ Hier ift bas Element genannt, welches ber Gleihmacherei entgegenzufegen ift. Fachbildung muß zuerſt geboten werden, und fie muß der Ausgangs- und Antnüp- fungspunft für alle fortfchreitende Bildung fein; in fonzentrifchen, immer weiteren Kreifen hat fie fih an jene anzufchließen. So wird der Dilettantismus, der bie Folge aller Gleimadjerei ift,

122 Das moberne Bilbungsftreben,

abgewehrt und zugleich; jene Ehrfurcht vor ber Wiſſenſchaft erzeugt, die aufgeſchloſſen unb beſcheiden zugleich; macht.

Aber noch eine dritte Gefahr ift ins Auge zu fallen, und fie entipringt aus bem befonderen Charakter des modernen Bil bungsftrebens, als eines Strebens nad; Erkenntniß bes Wirklichen. In biefem Streben liegt ein hohes Gut, aber wenn mit ihm nicht eine ftarfe fittliche Bildung verbunden iſt, jo wird es ſchädlich. Goethe fagt einmal von einem feiner Freunde, daß er mehr Talent und Willen Habe, als er nad dem Maß feiner Charatterftärte ertragen könne, und an einer anderen Stelle ſpricht er das tiefe Wort aus: „Alles, was unferen Geift befreit, ohne uns die Herr⸗ ſchaft über uns felbft zu geben, ift verderblih.” Kurz und fchlagend ift hier formuliert, worauf es antommt; bie Nufgabe aber, bie damit unjerem Bildungsbetriebe geftellt ift, ift bie ernftefte. Mir follen willen, daß wir mit allen unferen vortrefflihen Einrichtungen zur Verbreitung der Kenntniſſe und der Wiſſenſchaft nur erſt die Hälfte unferer Aufgabe, ja nicht einmal bie Hälfte, geleitet Haben. Wenn wir es nicht vermögen, auf ben ſittlichen Zuſtand berer, bie wir unterrichten, einzumwirfen, fo betreiben wir eine gefährliche Sade. Gewiß liegt in einem ernſten Wahrheitsftreben und in ber Beihäftigung mit der Wiſſenſchaft ſelbſt ſchon ein hohes fitt- liches Element, aber es muß auch hervorgeholt und dem Hörenden zur Darflellung gebracht werben. Cs iſt vor Alem bie Perföntichleit des Lehrenden ſelbſt, die von ber ſittlichen Kraft ber Wahrheit getählt fein und einen Eindrud von ihr hervorrufen muß; denn auf jeder Stufe bes Unterrichts, aud auf den höheren, ift bie Perſonlichkeit des Lehrers von entideibender Bebeutung. Lernen innen wir alles Mögliche aus Büchern und aus unperfönlichen Ueberlieferungen, gebildet werben fönnen wir nur durch Bilder, durch Perfönlichkeiten, deren Kraft und Leben uns ergreift. Daß aber in biefer Hinfiht der gegenwärtige Betrieb ber Bilbung Vieles zu wünſchen übrig läßt, wer kann bas leugnen? Zu bem heutigen Betriebe der Wiſſenſchaft muß bie volle hoffende, liebende, fittlich ftarfe, glaubende Perſönlichkeit Hinzutreten, reifer ausgebildet und lebendiger als je früher. An ihr muß es ben Schülern deutlich werben, daß alle tiefere Bildung Umbildung iſt, fchmerzliche, aber befreienbe Umbilbung:: es muß etwas Altes untergehen und etwas Neues wachſen und werben.

Das moderne Bilbungsftreben. 123

Im engften Zufammenhange damit jteht nod) ein Anderes, und es ift die Hauptfahe: alle wahre Bildung ſtrömt aus ber Quelfe einer geſchloſſenen Weltanfhauung und hat ſchließlich nur foviel Wert als fie eine folde ausbaut. Eine geſchloſſene Welt anfhauung fann aber nur eine ibealiftiiche fein, d. 5. fie muß in ber Weberzeugung wurzeln, daß der Wert bes perfönlichen Lebens und bie ſitiliche Selbftgewißheit allem bloß Naturhaften über: geordnet ift und ba wir, wie wir in Gott leben und weben, jo aud ihm Rechenſchaft ſchuldig find. Aber durchdringt eine ſolche BVeltanfhauung, d. h. ein jeiner Sache gewiſſer Glaube heute bie geifligen Führer unferes Volles? Wer kann bas behaupten? Seit dem Untergang ber Aufklärung am Anfang des 19. Jahr- bunberts Haben wir keine einheitliche, uns hebende und erhedende Weltanfhauung mehr. Weder die Neftaurationen bes kirchlichen Glaubens noch die großen ibealiftiichen Syſteme haben eine ſolche für unfer Volt zu ſchaffen vermocht. Diefer Zuftand, ber ſchon lange anhält, bie Glaubenslofigkeit ſowohl wie bie Glaubenszer- riffenheit, iſt ber tiefite Schaden in unferem heutigen Dafein; er ift die Urſache unferer Schwäche in jeder Hinfiht, unferer Schwäche aud) gegenüber dem politifchen Neligionsfyftem bes Ratholisismus. Den Materialismus haben wir als Syftem fo ziemlich überwunben ; man fann fagen, die Zeit und der heilende Einfluß ber Natur haben dieſe Krankheit geheilt; aber deshalb find wir noch lange nit gefund; denn eine folhe Heilung ſchafft feine wirkliche Geſundheit. Es ift fein Theologe, fondern ein Gegner berfelben, der Philofoph John Stuart ML, der in feiner Selbſtbiographie folgende Worte geichrieben hat: „Wenn die phifofophiichen Geifter der Welt nicht länger an ihre Religion glauben ober nur mit Mobififationen daran glauben fönnen, welde den Charakter ber felben mefentlid verändern, fo beginnt eine Webergangsperiobe ſchwacher Ueberzeugungen, gelähmter Verftandsträfte, lauer Grund» läge, die fein Ende nimmt, bis eine Erneuerung bewirkt ift, welche zur Entwicklung eines religiöfen oder rein menſchlichen Glaubens " führt. &o lange biefer Zuftand anhält, hat alles Denken und Schreiben, bas nicht auf eine ſolche Erneuerung hinarbeitet, ſehr wenig anderen als momentanen Wert." Laſſen wir „einen rein menſchlichen Glauben“, unter weldem id mir im Gegenfag zu einem religiöfen nichts vorzuftellen vermag, bei Eeite, jo hat Mill

124 Das moderne Bildungsſtreben.

den gegenwärtigen Zuftand und bas, was zu geſchehen hat, fehr richtig beſchrieben. Man erwarte ja nicht, daß der bloße Betrieb der Einzelwiſſenſchaften hier etwas ändern kann. Weber die Wiſſen⸗ haften noch die Wiſſenſchaft vermag hier etwas. Zur Einkehr in bie eigene Seele muß man die Menſchen aufrufen, bamit fie neben ben ungeheuren Wirkligfeiten, die durch die Kenntniß der Wiſſen⸗ ſchaften auf fie eindringen, die Wirklichkeit der Wirklichkeit nicht überfehen ober vergeſſen. Diefe Wirklichkeit aber find zunächſt fie felbft, ihre Seele, ihr über bie Natur erhöhtes Daſein. Das ift freilich fein Wiffen, ſondern ein Glauben, weil es nur als werbenbe und ftrebende Ueberzeugung vorhanden ift; aber es ift die Kraft alles geiftigen und ſchließlich auch alles fozialen Seins. „Das Charakteriftiihe des Glaubens ift ber Antrieb zum Schaffen, das Sharakteriftifche des Unglaubens ift bie Zerflörung der Schaffens: freubigfeit, die Leugnung bes ſchöpferiſchen Berufes, das Zurüd» werfen der Dienfchheit auf das unmittelbare Sein und den unmit- telbaren Trieb, der Ueberdruß am ber Vergeiftigung des Dafeins und endlih am Dajein ſelbſt.“ Weil nun bie heutige Wiſſenſchaft und fie kann nicht anders überall auf die Anfänge zurüd- geht und überall, der genetiihen Methode folgend, bie Dinge auf ihre primitioften Elemente und auf ben nieberen Ort, mo fie ent» ftanden zu fein deinen, zurüdführt, jo vermag fie in ber That ſchwache und Haltlofe Geifter übel zu verwirren und ſcheint folden, die an ihre eigene Wertloſigkeit ſchon fo wie fo glauben, eben diefe noch zu beftätigen. Diefer Zuſtand ift gewiß nicht unüber- windlich es wirb die Zeit fommen, da man erfennen wird, daß die Entwicdlungen in Wahrheit wie fortgefegte Schöpfungen wirken, in benen neue Größen und Werte entftehen, aber er ruft uns auf, alle unfere Kräfte anzufpannen, um ihm zu begegnen. Nirgendwo bürfen wir es geſchehen laijen, ſoweit es in unfern Kräften fteht, daß Wiſſenſchaft gelehrt und Bildung verbreitet wird, ohne daß zugleich bas fittlihe Selbftbewußtfein gefräftigt, die innere Zufammenfaffung ber Perſönlichkeit geftärft und bas Leben mit Ewigfeitsgehalt erfüllt wird. Nirgendwo dürfen wir dies geſchehen lajlen, am wenigſten aber dort, wo wir Renntniffe über den fozialen Aufbau und das foziale Leben verbreiten. Unter allen Parolen, die ausgegeben worden find, ift feine bedenflicher als die, man müſſe das ſoziale Leben vorherrſchend ober ganz

Daß moberne Bilbungsftreben. 125

ausfchließlich als wirtſchaftliches betrachten und man müſſe bas wirtſchaftliche eben nur als wirtſchaftliches ins Auge fallen. Diefe Parofe ift erſlens bedenklich, weil fie falſch ift, und fie ift ferner verhängnißvoll, weil fie blinden und trivialen Vorurteilen entgegens lommt unb ben fittlichen Aufſchwung lähmt. Die fie ausgeben in gutem Glauben, burd) diefe Betrachtung die Dinge zu vereinfachen und leichter Gehör zu finden, wiſſen nicht, was fie tHun; zum Glück werben fie felbit durch ihr eigenes Verhalten widerlegt. In der Tiefe aller großen fozialen Fragen und aller Erfenniniß- probleme ſtõöht man auf das fittliche Element und damit auf bas religiöfe. Vernachläſſigt man fie, jo ſchädigt man bie Wirklichteit der Dinge und die Menſchen. Aber auch das Hilft uns nichts, daß wir etwa das Weltbild, welches uns die Kenntniß der äußeren Dinge bietet, durch allerlei äfthetifche Gedanken aufzufiugen und zu ibealifiren verſuchen: bei ſchärfer Blidenden werden wir bamit wenig gewinnen, und das, worauf es anfommt, wird doch nicht erreicht. Dem perfönlihen Werte der Menſchenſeele und ihrem inneren Leben, aber aud) jener brüderlihen Verbindung ber Menſchen, die als Ideal vor uns liegt, entfpriht nur ber chriftliche Gottesgebanfe: Gott ift ber Herr und Er ift bie Liebe. Wie wir von ihm und zu ihm geichaffen find, fo fol auch unfre Erfenntniß und Bildung in ihm begründet bleiben. Dieſe Gefinnung erhebt uns aus dem Vergänglichen ins Dauerhafte und Emige; fie adelt auch die geringjte Arbeit und vernichtet jeden bloß ſcheinbaren Bert. In diefer Gefinnung follen wir ſchaffen und bilden.

Die fih in diefem Kongrefie zufammengefunden haben, find allefammt ber Ueberzeugung, daß dem fo fein fol und daß wir in freiem Anſchluß an die Ueberlieferungen unferer evangelifden Kirche, wie es Proteftanten gebührt, dieſe Mufgabe zu erfüllen haben. Aber wie viel ift Hier zu thun, und mie gering find Sorge, Fleiß und Anftrengung! Das moderne Bildungsftreben hat uns bas weitefte Feld geöffnet, und Niemand kann fid) damit entſchuldigen, daß er nicht auf Fels oder unter die Dornen fäen wolle. Bereitfhaft zu hören, zu lernen, auszutaufhen und zu erwägen ift vorhanden. Mit ben fozialen Problemen ift auch ber Sinn für die tiefften Fragen des Menſchenlebens lebendig; denn fie hängen aufs engfte zufammen, ja fie find eins. Unſer ift die Schuld, wenn das moderne Bildungsfireben ſchließlich an ſich felbft

126 Das moderne Bilbungsfrehen.

verzweifelt, wenn es die Nahrung nicht erhält, welche es ſucht, ober nur eine Nahrung, bie nicht mehr nährt, wenn es in Ueber druß und Sfeptizismus ausmünbet, wenn ihm bie Wirklichkeit ſchal und bie Wiſſenſchaft fruchtlos erſcheint. Dahin barf es nicht tommen. Möge aud) ber heutige Tag an feinem Teil bazu bei tragen, das Gefühl der Verantwortung unferem Volke gegenüber zu erhöhen und unſre Kraft zu flärken!

Alle Entdedungen, alles Wiſſen, im Momente fo beraufchend, wird raſch trivial und wirkungslos; wenn es aber zugleich ben inneren Sinn vertieft und belebt, ihn umbilden Hilft zu einem höheren Sein, jo hat es ewiges Leben in fid.

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Tagebuchblätter von K. 6. Graf and der Zeit der Zürider Stantöummwälzung 1798,

Die nachſtehend veröffentlichten Tagebucjblätter aus ber Zeit ber Züriher Revolution intereffiren durch die mannigfahen Eingel- beiten, bie ber Verfaijer ſelbſt beobachten konnte oder in regem Verlehr mit zahlreichen angefehenen Zürichern unmittelbar erzählen hörte, durch die überall eingeftreuten Mitteilungen über die Mei— nungen und Empfindungen, bie wechſelnden Hoffnungen und Befürchtungen bes Tages, bie ein lebendiges Stimmungsbild vor unferen Augen entrollen. Das wäre freilich noch fein zureichender Grund, dieſe Aufzeihnungen über die Staatsummälzung in einer Schweizerftabt gerade in ber „Baltiſchen Monatsſchrift“ zur Mits teilung zu bringen. Die Verehtigung dazu liegt vielmehr in der Perſonlichkeit des Verfaſſers, eines Livlänbers, zu deſſen Lebens- geihichte dieſe Blätter bereits vor einigen Jahren einen Beitrag gebracht haben *), bes Malers und Dichters Karl Gotthard Graf.

In biefen neuen Aufzeichnungen aus feinen Tagebüchern lernen wir Graß aud von einer neuen Seite fennen; er tritt un als ein begeijterter Anhänger der Freiheitsideen feiner Zeit ent⸗ gegen, mie auch bie meilten feiner Freunde Anhänger einer auf diefer Weltanfhauung aufgebauten Ordnung der Dinge waren. Er liebte die Schweiz mit aller glühenden Begeifterung eines Poeten und Künftlers; die Natur und die Menſchen waren ihm lieb in feinem „zweiten Vaterlande”. Und fo nimmt er aud) an allen politiihen Vorgängen, an ber ganzen Entwidlung ber Dinge einen fo lebendigen Anteil, als fei er ein geborener Schweizer, unb einen jo innigen, als e8 einem in ben weltbürgerlichen Ideen⸗ kreifen allgemeinen Menichentums herangewachſenen Manne jener »hilofophirenden Zeiten nur möglid; war.

*) Bol. „Balt, Monatsfcr." 1809, S. 270 fi.

128 Tagebucblätter von N. ©, Graß.

Karl Gotthard Grab war bekanntlich am 8. Dftober 1767 im Paftorat Serben geboren. Seine gymnafiale Ausbildung erhielt er auf dem Lyceum in Niga, dann bezog er 1786 bie Univerfität Jena, wo er fih für Theologie inſtribiren ließ. Aber wenn er biefes Stubium ermählte, fo geſchah es mehr, weil es ber Wunſch feiner Eltern war. Denn fon früh war im ihm, bei feiner Empfänglichkeit namentlid) für die Schönheiten der Natur, eine lebhafte Hinneigung zur Kunſt hervorgetreten. Und diefer Neigung hat er ſich ja ſchließlich auch ganz Hingegeben. Zwar wurde er, nachdem er 1791 aus Jena in die Heimat zurüdgefehrt war und einige Jahre ſich befonders mit Zeihenunterricht beſchäftigt hatte, Paſior in Sunzel. Allein nicht lange hielt es ihn hier; 1796 nimmt er feinen Abſchied und reift hinaus, nad) Zürich, um ſich ber Kunſt zu wibmen. Hierher zog ihn vornehmlich der Dialer Heß, ben er bereits von früher her fannte. Heß hatte ihn einft, als er noch Stubent in Jena war, Goethe vorgeftellt, ber ihn mit freundlichem Wohlwollen empfangen und ihn zur Fortfegung feiner Studien in ber Landihaftsmalerei ermuntert hatte. Aber aud) fonft Hatte Graß nad Züri bereits manderlei Beziehungen. Schon 1790 hatte er mit einem Freunde eine Neife in die Schweiz gemad)t und damals bei Zürid) in dem Landhauſe des Zunftmeifters Wegmann gewohnt. Der Brofeffor Faeſi, Pfarrer Eicher in Pfäf⸗— fifon und der Maler Heinrich Pfenninger waren feine Studien- freunde. Als er nun im Juli 1796 wieber in Züri) anlangte, wurde er von allen feinen alten Bekannten mit größter Herzlichkeit begrüßt. Vald lernte er aud den Natsheren Schultheß und Zavater fennen. Er lebte ſich rafd ein und begann ſich ganz heimiſch zu fühlen, obzwar auch mancherlei ihm anfangs befremdlich erfejien. „Ganz Zürich”, jhreibt er unter Anderem im Nov. 1796 in feinem Tagebuch, „gleicht, am Sonntag mwenigitens, einem Kloſter. Alles iſt ſchwarz gekleidet. Während dem Gottesbienft ift Tobtenftille ; niemand darf fih auf den Straßen fehen laſſen, ober er rislirt von einem Meibel, der dazu umhergeht, angehalten ober angegeigt zu werden. Ebenſo find die Vifiten ber Frauen: zimmer; fie gleichen geheimen Staatsaudienzen oder Beſuchen im Reiche der Schatten. Selten läßt fi aud) bei einer Vifite, bie man dem Dianne macht, die Frau des Haufes fehen. Ich wüßte feinen befjeren Ort, wenigftens für einen Fremden, Frömmigkeit,

Tagebuchblatter von N. ©. Graß. 129

Ehrbarfeit und Enthaltfamfeit jeber Art zu lernen, als Zürid. Das PBeifammenfein und Zufammentommen der Bekannten Hat beftimmte Zeiten und Orte. Man genießt aber unter Männern höchſtens ein Glas Wein und eine Pfeife Tabat. Kaffee ober eine Mahlzeit mit einander zu nehmen, erforbert ſchon außerorbent- liche Veranlaſſungen.“ Aber einer fo anfprudjslofen und fein- befaiteten Natur, wie der feinen, waren biefe Dinge nit bie Hauptſache, fondern gleichgeftimmte, befreundete Menſchen, und fo gab er ſich bald aud; mit den ungewohnten Verfehrsformen zufrieden und fühlte fi wohl.

Eine ausgedehnte Stubienreife burd bie Schweiz und Graus bünbden führte ihn auch zu längerem Aufenthalt nad) Sils zum Präfidenten v. Salis, mit deſſen Frau ihn eine ſchwärmeriſche, aber die aus dem wogenden Gefühlsüberfchwang gelegentlich einmal auftauchenden Klippen der Leidenſchaft glücklich umſchiffende Freund- ſchaft verband. Im Dezember 1797 kehrte er wieder nad) Zürich zurück. Hier nun ſetzt der Teil feines Tagebuches ein, ber ſpeziell die Zürider Ereignifje jener Tage behandelt.

Wie allenthalben in ber Schweiz, fo waren die Wirkungen der frangöfifchen Revolution aud im Kanton Züri nicht ſpurlos vorübergegangen, und manch' einer rüttelte in Wort und Gebanfen an ber alten Ordnung der politiſchen Dinge. Schroff trat ber Gegenjag zwiſchen Stadt und Land zu Tage. Dort waren alle Gewalt und politijchen Nechte konzentrirt, hier die alten verbrieften Rechte in Vergeiiengeit geraten. Seit dem 17. Jahrhundert war bie Landſchaft fein Dial mehr in öffentlichen Angelegenheiten befragt worden. Die ftäbtifhe Ariftofratie ſchien feſt gewurzelt. Und indem ber Rat „es verfchmähte, mit den Unterihanen zu beraten, fühlten fi) aud) Zuneigung und Vertrauen gegenfeitig ab. Die Herren gewöhnten fi) bald, von der Bildung der Landleute gering zu benfen, fie als eines Vormundes ober Zuchtmeifters bebürftig anzufehen unb ihre herkömmlichen Rechte fo weit als möglich zu fchmälern.”

Jept aber erwachte man wie aus dem Schlafe und man erinnerte ſich deſſen, was man verloren. Das trat namentlich in dem „Stäfner Handel“ 1795 deullich hervor. Die Leute von Stäfa (am Züricher See) forderten bie Rüdgabe und Wieberher: ftellung der alten reiheitsbriefe von 1489 und 1532. Die meiften

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180 Tagebuchblatter von K. ©. Grab.

Beſtimmungen dieſer Briefe waren freilich ſchon veraltet und ohne Schädigung der ganzen Verwaltung nicht mehr zu verwirklichen. Die Hauptpunfte waren aber auch jet noch Iebensfähig und ftimmten durchaus zu ben freiheitlichen Anfhauungen ber Zeit über bie bürgerlichen Rechte. So bas 1489 gewährte Recht, in ſchweren Fällen Bitten an bie Obrigfeit richten zu bürfen, und bie Beſtimmung von 1532, ba die Obrigkeit fein Bundniß ſchließe und feinen Krieg anfange ohne Ginwilligung der Landſchaft und daß fie überhaupt alle wichtigeren Sachen den Gemeinden vorlege. Aber ber Rat und die ftäbtifche Bürgerſchaft wollten keins ihrer Vorrechte preisgeben und bie ganze Bewegung wurde mit rüdfichts- Iofer Gewalt unterbrüdt. Eine Anzahl der einflußreichiten Stäfner wurde gefänglic) eingezogen und nicht wieder freigegeben, andere mußten ihre Perſon außerhalb des Kantons in Sicherheit bringen und durften nit wagen in bie Heimat zurüdzufehren.

Aber bas einmal entfachle Feuer glimmte unter der Aſche kräftig fort. Dazu fam bann die birefte Einmiſchung Frankreichs. In Oberitalien war eine Nepublif nad ber andern nad) dem Mufter Frankreichs und in deſſen Abhängigkeit errichtet worden, und jegt zog General Bonaparte aud die Schweiz in ben Umkreis feiner Pläne, auch fie wollte er in die Reihe ber franzöſiſchen Vaſallenſtaaten aufnehmen, melde bie „große Republik“ nad Oſten Hin zu decken beftimmt waren. Und dazu follte ihm die Einmiſchung in bie inneren Angelegenheiten des Landes bienen. Die vorhan- denen demokratiſchen Tendenzen mußten kräflig gefördert werben. „Die Schweizer Demokraten jollten ihm ihr Vaterland felbft über» fiefern.“ So fam der Stein ins Rollen. Auf einer Kundſchafts- reiſe durch die Kantone überzeugte fi der Geſchichtsſchreiber Sohannes v. Müller „von ber Leichtigkeit, die Wünſche ber frans zöſiſchen Republik ohne eine befondere Erjhütterung zu verwirklichen." Man könne nacheinander, meinte er, „die Kantone und Staͤdte demoftatifiren, ohne andere Antriebe als den allmächtigen Einfluß des Direftoriums.” Baſel machte den Anfang; hier wurde im Degember 1797 eine Kommiſſion niedergefegt, um Vorſchläge zur Gleichſtellung der Stadt: und Landbewohner auszuarbeiten.

In Züri) erinnerte man fid) im Anblid ber herannahenden Gefahr des alten Brauche der „Volksanfragen“. Die Regierung beſchloß am 17. Januar 1798 Abgeordnete in ben Kanlon zu

Togebuklätter von R. ©. Grab, 151

fenden, um dem Sanbvolf befannt zu geben, baß man allen billigen Forderungen zu entſprechen geneigt fei. Aber ſchon war es zu fpät. Im Volt drängte man nad) Ummälzung und forberte völlige Freiheit und Gleichheit. Die Maßregel vom Januar 1798 bildete ben Anfang zu dem nun raſch erfolgenden Umfturz des Alten und zur Anbahnung einer Entwidlung, bie eine ftete Mitwirfung ber Land» Schaft in politiichen Dingen ermöglichte. Am 12. April erfolgte die Proflamation ber helvetifchen Verfafjung, durch die ber Bund ber Eibgenoffen in eine helvetiſche Republik umgewandelt wurde.

* * *

Die ziemlich umfangreiden Graßſchen Aufzeichnungen Tonnten natürlid) nur in verfürgter Form wiebergegeben werben. Namentlich die zahlreich eingeffodhtenen Reflerionen und pſychologiſchen Analyfen perfönlicher Seelenftimmungen, wie fie aus ber jenem Zeitalter fo häufig eigenen Neigung zur Selbſtbeobachtung Hervorgingen, bie vielen pedantifh aus den Tageserfahrungen abftrahirten guten Zebensregeln u.ä. alles das durfte und mußte felbjtverftänblich als gänzlich belanglos fortgelafjen werben. Wir teilen das Tage buch bis zu jenem Zeitpunkte mit, wo Graß Zürich verläßt, Ende März 1798, in ber Abfiht nad Italien zu gehen. Diefer Plan wurde zumächft freilich durch bie unjicheren Werhältniffe in Italien und mande anderen Umftänbe vereitelt. Erſt 1803 fonnte er zur Ausführung gebracht werben. Graß ift darnach bauernb bort geblieben, erjt in Sizilien, das er zufammen mit bem deutſchen Schriftſteller Phil. Joſ. v. Rehfues bereifte, dann in Rom, feine Zeit unter allerlei litterariſche Arbeiten*) und Landſchaftsmalerei teilend, in freundlichem Verkehr mit Künftlern und Gelehrten, namentlich aud in bem Haufe Wilhelm v. Humbolbts. In Rom ift er dann aud 1814 geftorben, ohne feine Heimat wiebergefehen zu Haben.

*) Außer zahfreicjen, hier und da in derſchiedenen Zeitfehriften gebrudten Gebihten eins ber gelungenften bavon, „Der Aheinfall“, veröffentlichte Schiller in feiner „Thalia · Hat er unter Anderem mehrere Schriften zur Malerei und eine Sigiliice Reifcbefchreibung geſchtieben (2 Teile. Stuttg. 1815). Sein ziemlich wunfangreicher handſcheif licher Nadjlaf befindet fic) gegenwärtig in Hänben des 9. Dberlchrers 9. Diederichs in Mitau. 3”

182 Tagebuchblatter von R. ©. Grab.

Tagebud.

Den 19. Dezember 1797. Wieder in Zürih angefommen. Die Leute in Wegmanns Haufe empfingen mich freundlich Herzlich. Faefi kam Abends voll Leidenihaft in Hoffnung bes guien Gelin— gens feiner Zunftrebe über notwendige Verbindung ber regierenden Klaſſen mit dem Volke. Es behauptete auch mit Zuverfiht bie verfprohene Loslaffung der Gefangenen !). Freilich follte man es nad) der Lage ber Zeiten vermuten; doch nad meiner Menſchen⸗ tenntniß ift Fäſi der Düpe feiner Gutmütigkeit, Leidenſchaft unb Eigenliebe und glaubt zu Ienfen, wo er nur am lofer gehaltenen Zügel gelenkt wirb.

Den 20. Dezember. Ih las die vortrefflidhen Briefe von Müller 2) an Faefi über die jegige Lage ber Dinge und war wie in bie Zeiten ber Reformation verfegt. Wie klingt doch bie Sprade eines fenntnißreihen Mannes, ber hellen Kopf hat und es redlich mit feiner Sade meint, in Augenbliden einer Gefahr, oder da feine Seele ftärfer bewegt wirb, fo gewaltig.

Den 22. Dez. Lavater foll zuverläffig beim Vürgermeifter Kilchſperger für die Gefangenen gefproden haben. Anfänglich ſuchte man ihn kalt abzufertigen, aber hernach verfprah man zu fehen, was zu thun wäre. Er fagte, er begehre nicht für fich das Zutrauen, dod wenn man es ihm ſchenle, wolle er zu ben Gefangenen gehen. Er laffe fi) aber nicht vorfchreiben, was er reben folle, doch wolle er es vorher fagen. Er wolle zu Bobmer *) fagen, er fei ein Märtyrer für eine gute Sache geweſen, fein Zweck fei nun erreicht, e8 werde größere Freiheit erteilt, das müſſe ihn beruhigen und feine Leiben vergeffen machen; ob er benn aber auch nicht eine Ergebenheit gegen eine Obrigkeit fühlen fönne, bie fo billig fein wolle. Dies halte er für bie einzige Art, auf feine Ideen zu wirken. Nach einiger Zeit fragte Lavater einen ber Herren des Rates, wie's auch mit ber Loslaffung flünde. „Behüt es, Herr Pfarrer, das wäre das größte Unglück; wenn’s noch bie Rede von größeren Handelsfreiheiten wäre.” „Das ift man ihm von Rechts wegen ſchuldig“, fagte Lavater. Wie die Furcht vor

3) 6. 5. ber gefangenen Stäfner. 3) Johannes von Müler, der Gefcichtsichreiber. %) Einer der gefangenen Stäfner.

Tagebuchblatter von K. ©. Graf. 133

Frankreich ſchwindet, ſchwindet auch die Geneigtheit, die Amneftie zu erteilen. Freilich hat es Schwierigfeiten, dod) würden bie Stäfner ſelbſt mit einer Petition einfommen, im Falle man geneigt wäre.

Den 23. Dez. Ich Ins das Memorial ber Stäfner an bie acht alten Orte; trefilich geichrieben.

Sonntag ben 25. Dez. Beſuch beim jungen Arditeft Eicher. Abendgefellihaft bei Zunftmeifter Wegmann; Hoffnungen; edit bürgerliche Gefinnungen. Ih bin nicht ruhig, fagte Pfarrer Brunner, bis nicht Induſtrie frei und die Gefangenen nicht 108 find.

Den 26. Dez. Die guten Hoffnungen entſchwanden bald wieber. Wie fol man auch von alter Herrſchſucht Nachgiebigkeit erwarten. Ich Hatte es Faefi vorausgefagt, daß man es eher zum Aeußerften fommen laſſe, als fih das Dementi durch Amneſtie geben würde. Der Mut der Ariftofcaten ftieg und ſank, nachdem es von außen tönte. Bedenklich war man über bie neue Aufihrift an bas „Directoire de la Suisse“ und über ben „le peuple Suisse“. Nie hörte man mehr von edler Denkungsart, Vaterlands- liebe und Vaterlandstreue als in den Tagen bes Schreckens.

1. Januar 1798. Nachrichten aus Aarau von ben Gefund- heiten auf Tell, Schweizereinigfeit, Züri ꝛc. Komödie! bie boppelt lãcherlich ift, wern man bie Individuen und ihre Denfungsart tennt. Ebenſo lächerlich iſt's, wenn bei jedem Anlaß bie Ausbrüde Vaterlandstreue, Edelmut ꝛc. gebraucht werden und dem lieben Gott immer ein Kompliment gemacht wird. Daneben werben bie weiſen Maßregeln ber gnäbigen Herren nicht vergeffen. Welche Masten fpielen in ber menſchlichen Geſellſchaft, wie viel Zeit geht mit ben elenden Formalitäten verloren.

Den 6. Ian. Mittagefien bei Pfenninger. Abends wurde Rlat] und Bfürger] angefagt. Ich hatte babei ein eigenes Gefühl, indem id) mir das Interefje und die Unruhe einer ganzen Stabt vorftellte, ein republifanifches Gefühl.

Den 7. Ian. Ein herrliches Felt, als der würdige Zunft- meifter fam. Er Hatte ein Billet ber unruhig harrenden Frau geihrieben. Auch das mahnte mid) an alle bürgerliche Verfaſſung. Die Frau nahm ihm Mantel und Kragen ab. Die Suppe mußte warten. Der Zunftmeilter erzählte, wie beunruhigende Berichte

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über das Pays de Vaud eingelaufen, durch Erflärung bes Direc- toire, daß für jede Vergreifung an einem, ber fi) ans Directoire wenben wolle, der Magiftrat von Bern verantwortlich fein follte. Auf biefe Nachricht Hat Uri, Schwyz, Unterwalden, bie und Blut daran hatten fegen wollen, ihr Hülfsanerbieten reftringirt. Der Zunftmeifter Wegmann ging von biefem Vergleich aus, wieviel man fi in Zeiten ber Gefahr auf folde Verfiherungen zu ver Taffen. Er bäte baher ergebenjt, bemütigft und unterthänigft, wenn man wolle, daß man aud) jtrebe, ben Frieden im Inneren berzuftellen.

Es herrſchte Todtenftille; feurige Blicke fielen auf ihn. Ratsherr Mais ſprach warm und gründlich für bie Sache und bewies, baß es unentwegs ber Ehre M. G. H. (Meiner Gnädigen Herrensber Rat) zuwider fei und feinen Aufichub leide. Gerihtsherr Orell unterftügte ihn. Ein Lanbmann, ein waderer Dann, ber feine Furcht hat, ging zu Pfarrer Lavater und bat ihn, wie doch auch den armen Gefangenen zu Helfen wäre? Lavater fagte: „ia, das ift aud mein Wunſch, daß freier Handel und Einigfeit hergeftellt werde. Aber wiſſet ihr mas, ganget dahei, und wenn ich's üd) faga lo, fo fimmet inne.”

Den 8. Jan. Privatbrief aus Lieftal [Dorf bei Bafel]: Die Bauern nannten id) in der Schenke citoyens und fagten, fie wollen freie Schweiger fein. Im Baſel, ſcheint es, wird mit Duni: sipafifation der Anfang gemacht werben. Man trank mit Diengaub [dem franzöftichen Regierungsfommiffar, ber feit September 1797 in Bafel war] auf Untergang der Oligarchie, auf die Franken, das Direktorium zc.

Brief von Stapfer [einem ber verbannten Lanbleute]: Es muß uns Recht werben, nicht als Gnade, fondern als Recht. Wir haben uns an bie alten acht Orte vergebens gewandt gehabt, jegt haben wir einen Kanal zum Direltorium und man mirb müfjen, mas man nicht will.

Dean hat den Stäfnern und Seebauern fogar ftreng verboten, durchaus mit feiner Bittfchrift für die Gefangenen einzulommen. Der alte Bobmer ift fo feit, daß feine eigenen Rinder (bie nie allein zu ihm dürfen; einem Zmölfjährigen von den Sindern, das fein Liebling ift, wurde es abgefchlagen, darüber meinte der alte

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Mann) jagen, fie dürften ihm nicht unter bie Augen fommen, wenn er es wüßte, daß fie für ihn fuppliziren würden ober es gethan hätten.

In Bern hat man diejenigen, bie gegen bie Regierung geichrieben Hatten, von ber Amneftie ausgeſchloſſen. Diele find jest ihre eifrigften Gegner. Diefe Saden follen mir ein Leit faben zur Ueberficht einer merkwürdigen Zeit fein, wenn fi die Dinge entwideln werden. Meine gute Lage, in der ic) verborgener Zufchauer bin, drängt mich dazu.

Den 11. Jan. Arret bes Direltoriums an Mengaub in brei Artifeln, bei dem Kanton Bern anfragen, ob es wahr fei, baß fie Truppen marſchiren unb diejenigen arretiren laſſen, bie aus Gemeinden fi gemweigert, gegen bie franzöfiiche Republik zu fechten. Ertrablatt. Gebet der Berner Ariftofraten, anonym gebrudt. Brief von einem Vauern aus bem Baſeler Gebiet: Die Schweiz gleicht einem alten Gebäude, baran jehr fange nicht geflict ift und das man von Grund auf neu aufzubauen ſich ents ſchließen muß, es fofte, was es wolle. Gefinnung der Ariftor traten. Geiprächsweife Neuerungen, 3. B.: An einem jhabhaften Gebäude fol man nur nidt im Sturm beſſern wollen. Alles hängt zufammen. Cine Aenderung zieht unzählige und den Sturz ber Konftitution nad) fih. Auch die zu feiden meinen, follten jegt der Regierung durch Stillihweigen den Schein der Stärke leihen. Durch Abfiht auf Freiheit der Gefangenen würde fie fürchten müffen, Schwäche zu verraten und folglic Frankreich doppelt viel begehren. Die Klugen leiten die Zeit. Dan muß bie franzöfiihe Nation wie ein Individuum behandeln, feine Grobheit leiben. Erſt ift der Franzoſe höflich, dann grob, dann Herr im Haufe. Mit Ehre fterben, wenn man nicht mit Ehre leben fann. Wo ift aud Gefahr im Innern? Die Landleute find gar anhänglih an die Regierung. Kann auch ein Mohr feine Haut ändern, mag man von ben Xrijtofraten jagen. Indeſſen find fie gefährlich, weil fie fih alle Mittel erlauben. Es ift nur feine Idee von Gerechtigkeit und Recht in ihren Köpfen. Nur die alte Behaglich- feit bes Thrones hätten fie gerne.

Den 12. Jan. Bewilligung von Bern zu einer Verſammlung der Landesſtände im Pays de Vaud. Einmarſch von 15,000 Mann franzöfiiher Truppen ins Pays de Ges. Geheime Extras

136 Zagebuchblauer von R. ©. Graß.

Nachricht: Reubels!) Schwager im Elfaß reifte nad) Paris und hat vom Direktorium eine Note bewirkt bes Inhalts: die vertriebenen Stäfner follen zurücberufen und in ihre Rechte und Güter ein- gelegt werben. Mengaud hat es in Narau überreicht. Ein außer: ordentlicher geheimer Rat hatte ſchleunig Sigung.

Den 13. Jan. Es ift im geheimen Rat body zu der Frage gelommen, ob man ganze ober halbe Amneftie geben fol.

Den 14. Jan. Man muß jegt wirklich jagen, es ijt jegt Krieg der Meinung gegen Meinung. Die Franfen wollen in der allgemeinen Meinungsreform ihre Stärke und Dauer gründen. Der feurige Charakter einer Nation, die Ueberwinberin ber halben Welt geworben ift, verträgt feinen Widerftand, und wenn bie Franken die Schweiz mit Gewalt zwingen, fo iſt die Sache herbei- gezogen. Iſt einmal biefe Idee bei ihnen rege, wie es ſcheint, fo tommt Geldintereffe und Revanche gegen mihfälliges Benehmen von Bern, Freyburg, Solothurn ins Spiel.

Den 15. Ian. Eine Schrift Gefpräd zwiſchen Dufour, Mengaud, Adalaſio, worin fie fagen: „Die Dligarhen und Despoten bes braven Schweizervolfes müjjen herunter“, wurde bem Bürgermeifter Kilchſperger gegeben, der wader bie Perrüde ſchũttelte.

Privatnachricht vom See, daß man in wenigen Tagen große Dinge erwartet. Die Anverwandten wollten zu den Vertriebenen reiſen. Wir kommen zu Euch, ſchrieben ſie. Man fragte F. in Stäfa: Wann kommt Ihr wieder zu uns? In vierzehn Tagen, dann ſtoßen wir als Brüder an. Dennoch hört man von den Ariſtokraten nichts als von Verteidigung des Vaterlandes reden und daß man ſich eher unter dem Schutt begraben laſſen wolle, als bie Konſtitution ändern. Es find noch dieſelben Köpfe, bie im Zwölfer-Rrieg bie große Glocke vom Abt von St. Gallen lieber ala reelle Vorteile Haben wollten. Für ben Popanz: Ihr Onaden, Meine gnädigen Herren, die Regierung 2c. opfert man die ganze Schweiz lieber auf, risfirt außerdem innere Rache. Es ift unbe greiflich, wie, nachdem bie Franken die halbe Welt bezwungen haben, folde Ideen noch vorfommen. Wieder ein Beilpiel, wie wenig biefe Menſchen zu warnen find.

3) Rembel, Glied der franzöſiſchen Direftorialregierung.

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Den 16. Jan. Nod war id) nie in einer Gegend, bie mit Gefahr derart bedroht war und doch hat das Wort Krieg hier weniger Schredendes, denn jeder fühlt, daß es nicht lange dauern fann. Es fehlt Alles, am meiten Offiziere. Es reift Alles nad und nad). Wie die Franken ſich nähern, befommt man bas richtige Gefühl feiner Kräfte, noch ein Schritt, und man läßt ben Mut ganz finfen. Das Aendern ſcheint unmöglich, und fiehe, beim erften Schritt (z. B. Anfang in Bafel) geht's. Es ift, wie wenn ein Menſch aus dem Schlaf erwacht. Er glaubt, er fünne nicht, ohne noch länger zu fchlafen, recht munter und ftart werben, wie er heraus iſt aus dem Bett, fühlt er, daß es nicht fo ift.

Nachricht (vorläufige) von Einrichtung einer Kommiſſion, bie ben Zanbleuten bie Erfaubniß bewilligen joll, bittweife einzulommen. Haß ber Bürgerfchaft gegen ben Zunftmeifter Wegmann, weil er die Landleute unterftüge. Invidioſe Namen: franzöſiſche Partei, franzöfifche Grundfäge. Triumphiren der Ariftofraten: Sie ver- friechen fi ſchon, die ihre Meine Partei zur allgemeinen Sade madjen wollten. So wechſelt das Steigen und Sinfen bes polir tifchen Barometers. Wie die eriten Schredenseindrüde ſich ver- fieren, nimmt man Bravaden bes Unverftandes für Kraft und tehrt mit fieben neuen Teufeln in bie alte Denkungsart zurüd. Der Erfolg beitimmt bod überall die Meinung des Ganzen. Auch Leute, die feft zu fein glaubten, fangen an zu zweifeln und zuzugeben: es fann jein, daß wir ung irren.

Den 17. Jan. Nfat] und Blürgerl. Ernennung einer KRommiffion, die die Beſchwerde ber Landleute anhören fol. Man molle, wurde in ber Schrift, die die Art der Einrichtung biefer Kommiſſion enthielt, auch felbjt den Strafbaren und Schuldigen Verzeihung angebeihen lajlen, wenn fie folde aus den Händen ihrer Obrigfeit annehmen wollten. Lavater hatte hierauf einen Brief („an bie reblicften Stäfner*) geſchrieben, ben [Ratsherr] Peſtalug im Regen forttrug. Er enthält die Aufforderung, alles Unglüd zu verhüten, aber feine pofitiven Verfprechungen. Diefe Ernennung einer Kommiffion ift zwar nur eine Sache, die einen guten Schein hat und nod nichts Pofitives enthält, doch fann dadurch wancher Kopf zum Denten reifen, befonders in ber Zeit. Schrift: Gedrucktes Proflama bes ſämmtlichen Bajeler Landvolkes an bie Stadt Bafel. Kurze Erpofition der Menſchenrechte und Obrigfeits

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pfliten. Aufforderung zu einem vereinten Ausſchuß 1 von 50 aus Stadt und Land. Diejes ift wirklich bewilligt und das Land hat ben Auftrag, feinen Ausſchuß zu ernennen.

Den Anfang machte eine Schrift, von fieben unterſchrieben, die bie enthaltenen vier Punkte vor Gottes Altar beſchworen der Hauptanführer ein philojophifcher Greis, ber Orismüller genannt. Dan hatte in Liejtal bie erften zwei Deputirten forte gejagt. Natsherr Legrand, ein Demokrat, fam mit feinen zwei Bübli und wurde ehrerbietig empfangen, doch behielten die Bauern bie Hüte auf; bie Knaben präfentirten mit Stöden unb diejenigen, die Gewehre Hatten, mit Gewehren. Hierauf fangen eine Anzahl Mädchen zu Drgelgefang ein Schweizerlied: Holde Eintradt. Weld) eine Erſcheinung eines befjeren Genius, ber bie Sache Helvetiens zu beraten fommt | ber bem Genius ber Zeit brüberfich die Hanb bietet und den teuer erworbenen, vom Schutt der Arifto- fratie bedeckten Stamm ber Schweizerfreiheit in einem Nebenipröß- ling retten will, dem jener bei feinem Verdorren feine Säfte zuftrömte. Hier habe ich das Gefühl: der Geift ber eblen Alten ift nicht verſchwunden, er wird in ber Form biefes Zeitalters in einer Jugend aufblühen, die feiner früheren Kindheit würdig ift. Es werben Kraft und bieberes Gefühl, Ruhe und Harmonie ſich verbinden, und ein glückliches Volt wirb in dem Lande wohnen, wo ber Odem der Natur ftärfer und reiner wehet, als rings von feinen Bergen weg.

Den 18. Jan. Verſchwinden ber Kriegsfurdt. Cinmütiger Wille ber Landleute in den Krieg zu gehen, hauptfächlid wegen ber Greuel in Schwaben. Man würde ben tobifcjlagen, fagte mir Pfarrer Vogel, der anders dächte ober fagte, er wolle nicht gehen; einer fagte: „wenn ich dod nur einen beſſern Hauptmann hätte und daß man nur erlaubte, ein wenig aus dem Glied zu treten, daß ich recht zufchlagen könnte.“ Cs fceint, die Bauern ftellen ſich das Nriegsführen wie Korndreſchen vor. Nachricht aus Bafel von Verjtreuung ungähliger Blätter, worin die Bauern eine Vers faffung auf franzöfifhem Fuß verlangen und erflären, nur für ben Fall fih als Schweizer in allen Gefahren des Valerlandes zu betragen, wenn bie andern Rantone ihnen nicht hinderlich, ſondern beförberlich fein würden.

Kagebucblätter von a. G. Grah. 180

Den 20. Jan. Die Proffamation an das Lanbvolf ift voll Eigenruhm und fo fonditionirt „wenn es billig wenn es dem allgemeinen Beſten angemefjen ift wenn bie Strafbaren Reue bliden laſſen“, daß es eine wächſerne Nafe if. Ein Sandmann ſagte: „Auf den Wiſch tret ih!" Ein anderer hat gefragt, ob fie fchriftlich anbringen dürften. „Nein, nein !”, hatte ihn Sädelmeifter Hirzel angefahren, „nur mündlid, und von Amneſtie (der Landmann hatte auch barnad) gefragt) ift feine Zeit dermalen zu reden.“

Den 21. Jan. Zunftbefanntmahung ber Proffamation. Lavater ftill und zurüdhaltend, weil fein Sohn eine Stelle ambirt. Wichtige Nachricht aus Baſel von wirklicher Erteilung ber Freiheit bei großer Eintracht und Orbnung.

Den 22. Jan. Anfang der Rommiffion in Küßnacht. Der Pfarrer Lavater hatte feinen Bruder begleitet und hielt eine lange Rebe. Raum war fie aus, fo ſchrie Alles: Gebt unfere Gefangenen 108, gebt unfere Briefe uns zurüd, gebt freien Handel, das ift unjer aller Wille. Cine Stimme rief fogar: Gebt uns das geftohlene Geld wieber! Das Anbringen des Volkes war fürchterlich. Der Ratsher Lavater verficherte, er wolle thun was er fönne, fie follten nur Gemeinde halten und eine Deputation nad) Zürich ſchicken. „Nein, betteln gehn wir nicht, wir laflen uns nicht arretiren.“ Im Meilen wurde das Gedränge in ber Kirche nach gehaltener Rebe von Lavater fo heftig, daß der Ratsherr Lavater auf die Kanzel ſich retirirte. Das Volt wiederholte bie Forderungen der Küßnader und alles Winten half nichts, bis ein Gerber Wunberli, den man für einen Hauptanführer bes Stäfnerhanbels gehalten, fragte, ob er ungeftraft reden bürfe, indem er auf ben Taufftein aufgeftiegen war. Das Bolt wurde mausftille und er wieberholte das Begehren und fchaffte ben Herren durch das Volt Plap.

Den 23. Ian. Bericht von Wald, einer großen Gemeinde. Einftimmig und in Ordnung begehrten fie das Obige, namentlich) auch Erftattung der Bußen und verfprachen für diefen Fall Gehorfam und Treue. Auf dies Verſprechen, fagte jemand, wäre ficherer zu zählen, als auf das ber Obrigfeit.

Eindrüde biefer Tage: Freude ber demokratiſch gefinnten Partei und Beruhigung, weil e8 ein Werk der Zeit und Natur ift,

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das nur in Gang zu fommen brauchte. Stolz und Erbitterung der Ariftofraten. Indeſſen jehen doch mehrere ein, daß man wird nachgeben müffen. Die fünf Eingeber des Memorials kamen mit einem zweiten Memorial ein. Sädelmeifter Hirzel wollte es nicht abnehmen. Eicher aus dem Grabenhof fagte: es fei nichts ſicherer, als Unglüd, wenn man nicht helfe. Und dann? Dann gehen wir alle zu Grunde, war bie patriotiihe Antwort. Der Sädelmeifter Hirzel mußte endlich das Memorial abnehmen, und zwar, um e& vor bie Kommiſſion zu bringen. Bürgermeijter Wyß antwortete Lavater auf feine allpofttägigen Berichte von Leuten, bie aus bem Lande zu ihm fämen, Nuszüge aus Briefen 2c., „es feien das nur einige wenige, die die Unruhen anzettelten.” Man glaubt, bie Schwoyger wären jeben Augenblid zu Zürichs Befehl, aber nad) fiheren Berichten find fie aud) ber Dleinung: ihr müßt zuvor eure alten Rechte wieberhaben. Furcht herrſcht bei Allen, bie bei einer neuen Orbnung ber Dinge ihr Anfehen und Einkommen zu verlieren haben. Baſel: Errichtung bes Freiheitsbaumes. Zwölf ſchöne, weißgekleidete Mädchen fangen. Die Verbindung mit etwas Sinnlihem ift bei dem Revolutioniren eine Hauptſache. Die erften Gedanken zum Nevolutioniren famen ben Bafelern durch Urner, Schioyger und Glarner, die zum Truppenauszug an bie Grenze zogen und zu ihnen fagten: wir hätten das Joch längit abgemorfen. Am mehrften wirkten aber Seebauern von Zürich nad) der Geſchichte von Stäfa und bas Verfahren ber Obrigkeit ſelbſt. Als Säckel- meifter Hirzel im Jahre 95 fagte: wir haben bie alten Briefe unter die Füße getreten, mar Zunftmeifter Wegmann ber Einzige, der Bedenken äußerte, ob auch Siegel und Briefe ſich fo unter drüden laffen und ob bie Folgen nicht ausmeifen möchten, es wäre beffer gewefen, man hätte unterfucht, ob ber Nichtgebrauch ber Briefe nicht in den Umftänden lag und hätte ihnen freien Handel geftattet. Was und wie wirb’s herausfommen? Wird man mit halber Nachgiebigleit zufrieden fein? Wird man Stolz und Kaprice fouteniren wollen? Was werden bie Folgen fein? Man kann nichts vorausfehen. In Frankreich herriht eine Stille, die nichts Gutes anzeigt.

Den 26. Jan. In Horgen war das Vegehr ber Lanbleute allgemein wie oben. Ein Statthalter Hopp, ber das Bürgerrecht in Züri erhalten hat und ein Zeitungsträger ber Obrigfeit ift

Tagebuchblätter von 8. ©. Orah. 1a

unb war, wollte etwas dagegen reden, befam aber ein Paar Ohr: feigen und wurde zur Kirche Hinausgeworfen. Das Zufanmen- laufen und Deliberiven ber Leute am See wird immer ftärfer. Sie laſſen fogar ihre Arbeit liegen und haben gedroht, fie wollen bie Gefangenen holen, wenn man fie ihnen nicht gebe. Auch mehrere Bürger, Chorherren und Pfarrer find bei einigen Herren gemefen. Cie reden von der Schwierigkeit, bie Bürger zu ſtimmen, aber ohne die größte Not thun fie nichts. Brief aus Paris von Ebel. Dringende Aufforderung, fi) felbft zu reformiren und dem Geift der Zeit nachzugeben. Beſſer felbft von unten her, als durch Einwirkung fremder Macht. Aud Hofrat Müller bringt auf Regeneration der Zeit. „Ihr felbft werdet an eurem Unglüd ſchuld fein, nicht die Franzoſen.“

Den 27. Jan. Berichte beireffend die Kommiffion. In Marthalen begehrte man Freiheit und Gleichheit der Bürgerrechte. In Dur redete ein Büler von Stäfa jo rührend, daß Alles weinte und felbjt den Deputirten Thränen in bie Augen famen. Brief vom Pfarrer Deri: Sie wollen nicht bitten, fie fordern und fagen, bie Franzofen feien um ihretwillen in ber Nähe. Gemeinde in Meilen: Man wußte fi nicht recht zu fallen, mit einem Dale erſchien eine Schrift, die gefunden wurbe, wo Alles aufgefegt war. Es wurde ausdrüdlih den zwölf Deputirten eingeſchärft, nicht zu bitten.

Meine Reflerionen. Seit acht Tagen ift eine ganz andere Welt geworben. Das erſte Gefühl, daß man nur durch eigene Begriffe gebunden wird, erwacht bunfel und bie Kraft entwidelt ſich mit prägipifirender Eile. Man verliert bie Furdht vor einem Phantom bes Schredens, das aus feiner furchtbaren Höhe nieder fteigt. Man fängt an nicht nur feine Rechte, fondern aud Hab und Rache wegen eingefchränkter Rechte zu fühlen. Man wird ſtark, um das unangenehme Gefühl voriger Schwäche zu entfernen. Alles dieſes geht jo bligichnell, daß die Aeßerungen dieſer Ver änderungen ber DVorftellungen nicht anders als gewaltſam und tumultuarifch jein Tönnen. Die Sade will offenbart fein. Die erfte Form ift ihr die befte. Wenn ich mir benfe, daß man nod vor 14 Tagen von einer Gnade und Wohlthat überraſcht worden wäre und jet von diefem unterwürfigen Sinn zu dem Stolz und Trotz emporgeftiegen ijt: nicht bitten, fondern fordern zu wollen,

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fo ift in morafifher Hinfiht ein Sprung über ein halbes Sälulum gefchehen. Ale Schritte und Mafregeln bringen jegt, ba bie Menſchen nicht mehr die alten find, veränderte Maßregeln hervor. Die Obrigfeit muß Rieſenſchritte im Handeln tun, wie jene es im Denken thaten, ober fie it verloren. Wenn Naturmenfchen gewiffe unterdrüdte Gefühle herumtrugen, fo muß der erſte Funfe ein gewaltiges Feuer entzünden. Das erfte freie Wort, das einer dem andern fagen burfte, wurde das Signal. Laut machten ſich bie Herzen Luft, und das in ber Ungft gefagte Wort eines Depu- tirten (Eicher): Cure Bitten follen erfüllt werben, ihr habt ja bie Gewalt in Händen! konnte, wenn es aufgefaßt worden if, ein Gefühl begründen, das nun nichts mehr auszurotten vermag.

Die Zeitumftände und der 18. Fruktidor haben biefes alles gemacht und vereiteln Alles, was dagegen gejchehen kann. Hat Die Regierung noch ein Mittel, fie moraliſch zu binden? Wenn es nicht durch ihre eigenen Begriffe gefchieht und ſchnell, jo ift nichts zu hoffen. Sie haben gejagt: Das wollen wir und dann find wir zufrieden. Das Dal hat Lavater in prophetiihem Geiſte geredet, als er fagte, in drei Jahren giebt man die Gefangenen Heraus und das Strafgeld geht fo gewiß zurüd, als es hinein gekommen iſt.

Furchtbar kehren die Schatten der unglücklichſten Tage, da die Redlichen weinten und jammerten und das ſchon Glück und Gnade hieß, daß fein Blut vergoſſen wurde, zurück. Jene damals gegen alle Natur unterdrücten, niedergetretenen Gefühle, als bie Unſchuldigen händeringend bei ihren Henkern bitten und mit zer— Mnirfhten Herzen vor ihren Thüren winfeln mußten; als Die Eifengitter des Nathaufes geſchloſſen waren, während das Blut- gericht faß; als die gedrängten Scharen ber zu Tode geängftigten auf ber Stiege an einander bebten, während die Fühllofigfeit eines Richters jagen Tonnte: es wird ber Unterfchieb der Meinungen nicht groß fein, einige wollen das Schwert unter dem Kopf, Die Mehrheit aber doch über dem Kopf (Stadthauptmann Dit), jene Stunden fordern Rache, jene Wunden, bie das Innere wild zerriffen, werben bei dem Anblid der Befreiten wieder aufbluten. Denn die Natur läßt nichts unterdrüden. Die erftidte Thräne will abgeweint, der niedergewürgte Fluch ausgeſprochen fein. Ihr, bie ihr euch Väter nanntet, ihr waret Barbaren geworben.

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Handelten fo Eibgenoffen gegen Eidgenoffen, oder Wilde mit Unter johten! Zmeihunberttaufend Gulden Strafe! Welche Summe! Defpotengröße und Rachſucht verſchwendete und Unglüdliche zahlten. Jene 20 Dulaten, die man einen Mann, ben Sonnenwirt in Stäfa, der fie aus ber Sparbüchſe feiner Kinder brachte, um 7000 fl. zu bezahlen, mit 20 Vierbäznern zu vollen halben Louisbor machen ließ (Irminger, nachdem ber junge Sädelmeifter Hirzel fie bafür angenommen), ſchmerzte ihn mehr als bie große Summe. Die Meinen Züge, weburd man Leidende tiefer Fränfte, Haben glühenbe Narben zurüdgelaffen. Gügels von Horgen wurde baburd), daß man ihn an bie Staude zum Streihen mit Ruten ftellen wollte, zum Geftändniß gezwungen, er habe fi mit Reden gegen die Obrigkeit vergangen. Wenn dieſe größtenteils Reblichen, Unſchuldigen Sonne, Luft, Menſchen wieberfehen, ihre Henker und ihre Freunde, ihre entbehrten Käufer erbliden, wenn fie bie ver— Iorenen Jahre und Freuden überredynen, werden ihnen nicht ftatt Thränen der Freude, Thränen des Jammers über unwiederbring lichen Verluſt in die Augen ftrömen? und was werben bieje Thränen wirken? Die lange von einander gerifenen Herzen ſchlagen mwieber unter bem Himmel zufammen aber fann Liebe gegen die ftattfinden, bie fie auseinanderriffen ?

Den 28. Jan. Ih war in Lavaters Predigt. Er rebeie über 1. Bud Mojis Kap. 14, Abrahams Bitte wegen Sodom von Gott beraten. Der Schluß war merkwürdig: Jetzt laßt mid in biefen bedenklichen Zeiten, da Gefahr von innen und außen ſich mehrt, zwei, wie ich hoffe, beſcheidene Bitten wagen: Wäter bes Vaterlandes, weife, väterlich gefinnte, vergeffet das ungebührliche Betragen der Landleute gegen eure Deputirten; feineren Menden erſcheinen Yeuferungen gröberer Menſchen leicht als Boeheit. Sie haben ſich vielleicht fortreißen laſſen von Schlechteren. Als Hriftlicher Fürbitter ftehe ich hier und flche für fie: Gebt eine volllommene Amneſtie. Kann es ber Fall fein, daß um des allge meinen Wohles und um größere Gefahr abzumenben, einer geftraft oder mehrere gefangen gejegt werden, fo Tann es auch ber Fall fein, daß man um des allgemeinen Wohles felbft Schuldigen verzeihe und Gefangene loslaſſe. Entfernet das immer wachſende Mißtrauen. Er ſchloß mit einem dringenden Gebet: „Ich bitte Dich, Vater, ſchone unfere Stadt und unfer Vaterland, und wenn

1m Togebudßlätier von 8. ©. Grab.

nur fünfzig Gerechte brinnen wären !” ıc. Mir fiel wie ein Stein vom Herzen, daß das gefagt werden burfte. Diele Lanbleute waren in ber Kirche. IH ging zum Natsheren Schultheß. Frau NRatshere Schultheß mar furdtfam. Ich ſprach bezibirt. Die Begebenheiten haben entſchieden. Jetzt ift es Pflicht, freimütiger fi zu äußern. Wie bie Ideen bes Hochmuts, die nur zwiſchen Bürgern ber erften und zweiten Klaſſe eine unausfüllbare Kluft dachten, erjdreden, wenn vom Begehren einer repräfentativen Regierung die Rebe ift!

Befuc bei Lavater: Die moralifhe Maſſe geht nicht ver Toren. Die Guten werben befjer in Zeiten, wo andere verwilbern. Frage, wie follen auch die Gefangenen herausgelafjen werben ? Bobmer las bie ihm gebrachte Proflamation nicht. Er äußerte nur, bas Natürlihfte fei, da er da mit Ehre geführt werbe, wo er mit Schande gehen mußte. Wie gerne hätte man biefem ben Tod gewünſcht. Lavater fagte aber, als er die Gemächer ſchlecht fand: Um Gottes willen, daß es nicht heiße, ihr habet ihn ver giftet! Lavater wurde ungeachtet ber Würger Verlangen nicht zu ihm gelaffen. Lavater wurde wegen feiner Teilnahme fürs Volt gefaßt. Er fagte nur: will id was für mih? Freude auf das BVefreiungsfeft. Freude auf einen Beſuch nad) Stäfa. Merk: mürbige Zeit !

Den 29. Jan. Aber wird es auch morgen vorfommen, fragte man geftern, und was und wie? Wie foll man von Dienfchen, die nichts thun wollen, mit einem Male Alles erwarten? Iſt es nicht natürlicher, daß, da die Begriffe des hohen Herrſcherehrgeizes durch Handlungen begründet find, eine Unbeugſamkeit baraus erfolgen muß, bie alle Gewalthaber ins Verberben ftürgte. Sie können nur nicht mehr die Stimme bes Menfchengefühls und der fanften Weisheit hören. Wenn es nun doch geſchieht, weld ein Kampf und Ringen in den Gebanfen! Ich dachte es mir, als die Frühglode des Morgens läutete: Mit welden Gefühlen mag jegt Vürgermeifter Wyß, der bisherige König Zürichs, erwachen! Mie mag ihn ftumm knirſchende Verzweiflung auf und nieder treiben. Der wurmgerfreffene Thron ber Hoheit ift feiner Purpurdecke beraubt. Tobtengebeine und zerbrochene Feileln liegen unter dem finfenden Hohlgerüfte aber die Kraft ber Natur erhebt fih im Morgenſtrahl wie ein Engel ber Gerechtigkeit. Diefe Erfahrungen

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und Empfindungen im Alter eines Wyß oder Irminger! O! es ift ſchtecklich Was das Herz wieder tröftet, ift ber Blick auf bie, bie fo fange litten. Sie werben Sonne, Frühling und Früh— fingsblüte wiederfehen, aus ihren Gräbern erftanden.

Viele Bürger und Lanbleute ftanden vor dem Rathaufe. Algemeine Erwartung. Vorgang im Nat und Blürger)., Wyß fagte, er wolle num einmal ben Vorhang aufdeden. Die Gefahr drohe von allen Seiten und es fei die Aufforderung aller Kantone, baß man das Landvolk befriedigen müffe. Es ift nicht mehr darum zu thun, dem Nevolutionswagen ein Scheit unterzulagern. Eine Amneftie Hilft fo wenig, als wenn man weniger thäte. Dan müfje etwas, das dem Volle eine Wohlthat, damit verbinden. Er trage alfo an, um bie Grundlage der Konftitution zu erhalten: 1) auf Amneftie, 2) Nevolation, 3) Reftitution, 4) Nüdgabe ber alten Siegel und Briefe (eine Reliquie), Freiheit bes Handwerks, Zugang zu geiftlihen und militärifchen Stellen, eigene Wahl der Untervögte (mas haben wir von benen?), Eröffnung bes Bürger: rechtes, freier Handel. Nur drei wandten gegen Zurüdberufung berer, Die gejchrieben, einiges ein. 44 waren bafür. Zuletzt wurbe eine Kommiſſion ernannt, bie morgendes Tages bie Gefan— genen auf eine ehrenvolle Art entlaſſen follte. Vorläufig follte Antiftes Heß es ihnen anfündigen und fie vorbereiten. Keinen Eid der Treue, nur einen Handſchlag folle man ihnen abnehmen. Was mag bie causa movens, bas Motiv aller Motive gewefen fein? Man ſagt, ein Brief bes Directoire an Mengaud, allen ihre Rechte verlangenden Schweizern 25 taufend Mann Hülfstruppen anzubieten.

Eindrud. Viele, die viel gelitten Hatten, waren fill, als wollten fie nun einmal ausruhen. Andere lärmten durcheinander und meinten, das fei nun auch einmal eine Satisfaktion. Ich dachte, jegt erſt wird das Nachweh, unſchuldig gelitten und Rechte verloren zu haben, empfinblid und das Verbreden bes Chrgeizes fteht demasfirt. Pfarrer Lavater ſchreibt feinen Freunden: Ich fehe mit feſtem Bli einer gänzlichen Auflöfung entgegen und glaube, ohne Verabredung wird jeder Gute jegt zu den Guten ftehen. Pfarrer Brunner meinte, der erjte Einbrud werbe Freude fein, das werde drei Tage lang währen und dann werbe man fo meit fein, als man gewefen. Die Bauern am Set haben einen

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Ausſchuß von 50 und einen engeren aus biefem von 12 gemacht. Lepterer prüft bie Beratungen ber erfteren und eine Gemeinde teilt fie ſchriftlich und durch Exprefien der anderen mit.

Den 30. Jan. Dan Hatte vom vorigen Abend an die ganze Nacht Hindurd) gejubelt und gefhoffen, den ganzen See lang Hinauf. Jetzt ftrömten die Menſchen von allen Seiten zur Stabt, Freude und Zufriebenheit war lesbar auf ben Gefichtern ber Menge, nur die denfenderen fälteren Alten fagten ſich: e8 wäre beiler, es wär nicht geſchehen, und fann man aud) Schande abwaſchen? Am Abend des 29. fchon wurden alle Gefangenen zufammengelaffen. Der alte Bodmer unter ihnen fagte: „Freunde und Mitbrüber, wenn ein Vater gegen Kinder zur Güte und Schonung fid) lenkt, fo müffen Rinder aud ſich nicht ſträuben, fondern entgegengehen. Wir Haben nun ausgelitten und wollen unfrerfeits nur trachten, daß dem Vaterlande Nuhe und Frieden erhalten werde.“ Große, eble, verzeihende Chriftenfeele. Das hatte id, wie man mir Bobmers Starrfinn geſchildert, nicht erwartet. Am andern Morgen tamen die ernannten Herren zu den Gefangenen, Tündigten ihnen ihre Enllaſſung an und lafen ihnen im traulichen Erzaͤhlungoton die neue Proflamation an das Landvolk vor. Ratsherr Lavater ſchloß hierauf: „Ihr werdet euch benn doch nun aud) freuen, weil eure Wünſche nun erreicht find, und zum Zeichen ber aufrichtigen und herzlichen Ausjöhnung fommt her, lieber Bobmer, wir wollen uns umarmen.” Die andern Deputirten folgten biefem Beifpiel. Die Augen Aller waren naß, es begann Schluchzen und ftumme Szenen, und nun wurden die Verwandten Hinzugelafen. Um Auffehen zu vermeiden, gingen die Gefangenen Paar und Paar durch die Stadt. Lavaler und Helfer Gehner (der Bodmer zum Tode bereiten follte), rebeten fie liebreih und traulih auf ber Safe an und drüdten Bodmer die Hand. Diefes Alles rührte die Vefreiten fehr, und als Bodmer mir an der oberen Brüde begegnete, wifchte er fi die Augen. Herrliches, redlich frommes, humanes Gefidt. Friede und Unfhuld ftrahlte in den Leidens- zügen. Karrifaturgruppen von nachſchauenden Handwerkern. Ein Schwadtopf fagte ſogar: als Rebellen gehen fie, wie fie als Nebellen famen. Es waren Wagen von ben Freunden einger bracht, und unter Begleitung von Dragonern ging der Zug fort.

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In allen Dörfern militärifche Chrenbezeugungen. Schießen bis in bie Nacht.

Frohes Mittagefjen mit dem Herrn Zunftmeifter und Davib Vogel. Heute fonnte id} mic von ganzem Herzen freuen, mit innerem, feligem $rieben bfidte mein Auge über den See. Dort freuen ſich nun Glückliche, dort werden durch Leiden teuer erfaufte Menfchenfefte vor dem Grabe gefeiert, die man erſt jenfeits erwartete. Ein Blick veradjtenden Bemitleidens auf die, bie Heute nicht fi freuen! D, es war fein Sieg einer unterbrüdten Partei, es war ber himmliſche Triumph der Unſchuld und der guten Sache. Ih ſah Lavater aufer fi froh. Jede Unglücksfurcht war jegt abgewenbet und das geängftigte Herz fonnte nun atmen: Gottlob! nun iſt's vorüber! In ber Stunde von 7 bis g ſchrieb ich ein Lied der Mitfreude den Befreiten.

Welche Angft und Verzweiflung, Thränen, Hänberingen bei den Ariftofraten, die vom Staat lebten ober Stellen hatten, bie Rinder vom Staat verforgt glaubten. Sie fahen nichts Gewiſſeres vor fi, als ihren Untergang. Selbft bie, die durch ihr Geld noch den alten Stolz zu fouteniren gedachten, fürdten nun, daß fie ihr Eigentum verlieren könnten und fuchen Aufrichtung bei ihren Feinden.

Frage: Weldes werden nun die erjtfolgenden Begebenheiten fein? Es muß das alte Gerüft gänzlich fallen, zumal da in Aarau und felbft im Berner Gebiet bie Unruhen losbredien, da bie Franzofen 8000 Mann ftark in Laufanne find und bereits Murten (6 Stunden von Bern) aufgefordert haben, ihre Obrigkeit abzu- fegen. Ich fürchte doch, die Erbitterung der Nichtgeftraften bricht noch [08. Die Befreiten werben ruhen. Groß ift die Erbitterung gegen Ratsheren Peſtaluzz, ber einen Mann in einer Prozeßſache wieberholt und hart abwies, weil er ein Verwandter eines durch ihn Verurteilten war: „Ihr werdet mir ein faubrer Kerfi fein, einſtecken follt’ ich euch laſſen.“ Wie vieles wird nun noch zur Sprache und zum Vorfchein kommen. Wehe dem, der Ungerech— tigfeit und Härte übte. Solde Zeiten find ftärfere moraliſche Warnungsprediger, als alle Kanzelrebner zufammen. Stapfers Haus in Horgen, auf 30,000 Gulden geihäßt, wurde durch Peſtaluzz für 20,000 verfauft. Wahrfgeinlid wird es jegt an

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den Eigentümer zurück, uub Peſtaluzz, der acht Kinder hat, wird ben Käufer entſchädigen follen.

Den 31. Jan. Nat) und Blürger). Beſchluß, Truppen zur Befegung der Grenze zu ſenden, auf die Aufforderung Berns und auf die Nachricht, daß die Franzofen Murten zur Abjegung ber Obrigkeit aufgefordert. Die Wut ber Ariftofraten läßt mic) vermuten, daß bies in ihrem Plan gelegen ift und baß fie nur daher dem Volk fo viel bewilligt, um nod) einen Zufluchtsort für ihre finfende Hoffnung zu Haben. Vom See fam die Nachricht, baß die Befreiten mit Glodengeläute am ganzen See empfangen murben. Ueberall militärifhe Ehrenbezeugungen. Die Stäfner in ihren ſchwarzen Sonntagskleidern. Zwiſchen Meilen und Stäfe war ein Triumphbogen errichtet. Zwölf weißgekleidete Mädchen empfingen die Kommenden mit Blumenfträußen und ben beiger ſchriebenen Worten: „Väter und Brüder bes Baterlandes, nehmet hin aus den Händen ber Unſchuld diefe Blumenfträuße zum Zeichen ber Dankbarkeit bes Vaterlandes.” Ein Mann in Horgen meinte beim Erbliden feiner Buben: „Ach, ih bin dod lang weggeweſen, da ihr fo groß geworben ſeid!“ Die Freude war allgemein jo außerorbentlid, baf fie ſogar frank machte.

Den 1. Februar. Gottlob, aus dem Truppenmarſch wird nichts nad) aller Wahrſcheinlichkeit. Schon am legten Abend kam eine Proflamation von Mengaud, worin alle Regierungen ber Schweiz verantwortlich gemacht und alle einzelnen Perfonen und Eigentum ber Freiheitwollenden in Schuß des Direftoriums und ber franzöfiihen Armee genommen werben. Hierzu kommt bie Nachricht, daß Aarau ein Komite erwählt und das ganze Aargau aufgefordert hat, treu bie Hand zu bieten. Desgleichen von Zugern, besgleihen von Thurgau. Einige Aemter haben zu marſchiren vefüfirt. Andere fagen, fie wollen fehen, was die übrigen machen. So ift alfo ber letzte Hauptitreid der ariftofratiichen Partei fehl gefhlagen. Bürgermeifter Wyß fagte zu Peitalup, ber Sicherheit von ihm begehrte wegen ber Erbitterung, bie gegen ihn herriht: „Wir haben feine Polizei mehr, feit bie Gewalt aus unjeren Händen iſt.“ In foldren Zeiten fann man ſich felber prüfen, wie man es meine. Deine Seele war ſtill und gelafien, ohne Erhebung ober Troh. Ih dachte an Clodius Fabel: Verachte niemals deinen Feind, auch wenn er fid zu fürchten ſcheint. Das

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mar ber Fehler der ariftofratiihen Partei. O, es ift eine Zeit zur Weisheit und zur neuen NKraftäußerung, denn es kommen lauter neue Verhältniffe, bie dem Talent neue Bahnen öffnen. Indeſſen hat das Ausziehen aus bem Laufe ber alten Ideen und Gewohnheiten für alle Menfchen Schwierigkeiten und erpreßt viele Seufzer, die unmillfürlich das Herz ſchwer machen, baher freue id) mid, wenn bie Nacht fommt, die Welt zu verfchlafen.

Den 2. Februar. Eben kommt eine Nachricht, die uns erſchreckte, nämlich von einer Kanonade gegen Yarau von enragirten Bauern und Berner Offizieren. Die Nachricht vom Nichtmarſchiren⸗ wollen her Truppen beftätigt fih. Vom ganzen See waren Erfläs rungen gefommen: bie Franzoſen hätten ihnen nichts zu Leibe gethan. Gegen Bern gingen fie aud nicht, überhaupt nicht ohne gehörige Anzeige bes wie und warum, und nicht vor Wiedererfiat- tung ihrer alten Rechte. Alles biejes affisirte mid) abwechſelnd, als Jalob Wegmann in die Stube trat und fagte, in ber Mezg habe man ihm -gefagt, er, fein Vater, Gesner, Vogel und Ufteri feien bes Hochverrats angeflagt; der Komplot ber Schelme fei entbedt, mehrere fagten, fie ftänden bafür, und noch den Abenb würden alle arretirt werden. Ich erſchrak wegen bes kranken Vaters Wegmanns und fagte: „Pöbelgefhwäg”, war aber doch erſchreckt. Die Frau Zunftmeifter riß den Jakob fort, und ich ſprach rußig. „Ih fenne das hieſige Publifum“, fagte der Zunft: meifter, „das giebt ein Geſchwätz durch bie ganze Stadt. Bon Furcht ift nicht die Rede, benn ich bin unſchuldig!“ Vogel war fogleih zum Stabthauptmann und zum Bürgermeifter Wyß gegangen, und ber eine Verläumder, Doftor Balber, war aufs Rathaus gerufen und ein anderer (ein alter 77jähriger Buchbinder Faefi) durch den Stadtknecht gewarnt. Letzterer hatte Gesnern öffentlich nachgerufen: Di Schelm wird man aud) von ber Brüde werfen! Eben das mar einem Herrn Springli begegnet. Blauler aus Feuerthal war arretirt geweſen und hatte ausgefagt, Heß und Wegmann Haben über das Stäfner Urteil die Achſeln gezudt. Sogar ein paar Fremde, die das Rathaus anfhauten, arretirte man. Abends waren wir Alle wieder ruhig. Wieder eine War- nung zur Vorſicht in ber Neußerung der unbebeutendften Urteile gegen Menſchen, die fi) auf Autorität fügen. Wie froh war id), mein Lied von Mittwoch niemand gegeben zu haben. Furchtbarkeit

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bes gemeinen Pöbels, dem Argwohn für Beweis gilt und der gar Teine Ideen hat, Alles in conereto denft und fieht. Gebanfen bei ben Truppen aus zwei Quartieren, bie alle Tabakspfeifen im Maul hatten:

Um ihre Hände nit in Blut zu tauchen,

So madjen fie den menſchlich frommen Schluß:

Es wäre gut nad) jedem Schuß

Ein ruhigs Pfeifen unterdeß zu rauden.

Den 3. Febr. Nur Kriegsunruhen. Traben ber Offiziere und Noffe, Laufen der Leute. Ich mußte ben feinen Koffer für Heß hergeben. Ich konnte nicht mit Freuden malen. Neue Berichte vom Anrüden der Franzoſen. Proflamation zur Errid: tung eines Romite von Bürgern und Landleuten. Aus der Ernen- nung ber Herren dazu ſah man den Geiſt.

Den 4. Febr. Berichte vom fchlechten Betragen ber Fran— sofen im Pays de Vaud. Nachricht vom Nichtfommenmollen ber Bauern am See, welches ſich ſchon vorher bemonjtriren ließ. Das neue Gefühl des eignen Willens hängt mit ber Idee, bag man es den Franzoſen danke, zufammen. Unfluges Benehmen. Man hatte einem Thurgauer, ber erzählt hatte, Buonaparte fei durchs Thurgau geritten, 25 Prügel auf Buonapartes Geſundheit geben laffen. Dem Pöbel zu Liebe ift ein Mann aus Höngg arretirt, ber fagte: unfere Leute wollen auch nicht gehen, und fie haben Recht. Es iſt gefährlich, wenn es zu einem Erzeß irgendwo fommt. Die einzige Beruhigung if, daß jegt die Erhaltung Aller in ber Ordnung und Ruhe liegt. Nachricht von 500 Bernern an ber Grenze. Aeußerſt gefährliche Situation der Schweiz.

Den 5. Febr. Auf der geftrigen Zunft waren zwar Perfonen ernannt, von jeber Zunft zwei, zur Errichtung einer Kommiſſion, die mit Landrepräjentanten über Ausgleihung ber Rechte von Bürger und Landmann fi beraten ſollten. Gleichwohl fand Bürgermeifter Wyß für notwendig, auf freiheit und Gleichheit aller Nechte anzutragen. Doktor Ufteri nannte e8 ben Triumph der Meinung. Heute wird das größte Leichenbegängniß für Zürich gefeiert, fagte Gerichtsrat Eicher. Die Deputation von 60 Ger meinden, bie nicht marfdhiren wollen; das Beiſpiel Luzerns, Frei- burgs unb ſelbſt Berns 2c. machten es notwendig. Die alten Briefe, die ben Landleuten von Offizieren gebracht wurden, nannten

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fie unnüge Wiſche, und vor zwei Jahren waren es Heiligtümer I Diefer Tag koſtete viele Thränen. Sturmläuten im Anonauer Amt wegen Bedrohung von Schwyz. Nachrichten der Landleute, baß die Gefahr von der Grenze übertrieben worden. Id war ruhiger. Die Idee vom Krieg hatte ihre Furchtbarfeit verloren, weil wahrfcheinlich die Schweiz ſich neu organifirt, und das ſcheint Frankreichs Hauptſache zu fein, dadurch feine Feftigfeit zu ſichern und Englands Einfluß von diefer Seite zu hemmen.

Den 6. Febr. Es ift ſchwer, Tage zu ſchildern, in denen man lebt. Die interefjanten Kleinigkeiten überſieht man meiften: teils. Ich müßte mich wegdenfen, ober bloß als Menſchenbeobachter mi den Szenen um mid her nahen wollen, wenn id mit Benußtjein Alles auffallen wollte. Wie leicht man wie verwaift bafteht, wenn bie Fäben der gewöhnlichen Empfindung, an welchen das Leben gefnüpft war, hin und wieder zerriffen werben! Die alten Fragen: was werd’ ich heute thun ? find von jener verdrängt: was wird fommen? An jedem Gedanken hängt die Furcht und Zweifel.

Den 7. Febr. Die Sade des H. Zunftmeifters war von neuem unterfucht. Die Leute, bie nebjt einem Chirurgus Balber auf einer gemeinen Schente durch Verdedung ihrer Namen und durch Zutrinten allerhand dem Biumler aus Feuerthal ausgeholt und darauf ihn gepadt und mit lauter Stimme ben Zunftmeijter und Vogel bes Hochverrats beſchuldigt hatten, ſagten jept, fie jagen nicht, daß es wahr jei, fie haben es nur nadjgefagt. Es gingen fo viele Gerüchte umher, daß man wohl auf eine Spannung ber Gemüter fliegen kann. Cin paar Blätter, z. B. „Zuruf eines Freundes an die Landleute” gingen aus Hand in Hand. Beſagtes Blatt ſchloß fih: „Rommel in unfere Arme, wir geben euch den Bruberfuß.“ Ich fürdte, man wird die Landleute mit der nicht verlangten Freiheit und Gleichheit durch Spott erbittern, und fie werben einfehen, daß fie nur mit Worten gefangen genommen werben follten, während bie regierende Gewalt, welches aber unter gegenwärtigen Umftänben ebenfo gut jein mag, nur vollfommener in die Hände weniger fam unter dem Namen provijoriihe Regie— rung. Das Landvolf hat feine Köpfe, nur Worte ohne Begriff und das neue Gefühl feiner Kraft. Um fo gefährlicher kann fein Mißtrauen gereist werden. Zwei Stäfner, die die Waffen holten,

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hatten franzöſiſche Kolarde. Kaum konnten fie ber Wut bes Pöbels entgehen. Abends ging das laute Geſchwäb, bie Seeleule hätten den Franzoſen 3 Millionen verſprochen und wendeten dazu bie erhaltene Buße an. Nachricht vom Anmarſch der Frangofen in foreirten Märſchen. Die Ariftofraten reden von einem Landſturm. Fürchterliche Erbitterung über die Berner Regierung. Alles ſcheint mir durch Berns Ehrgeiz einen gefährlichen Gang zu nehmen. Die Schweizer Soldaten find Vauern in Montur, ohne Uebung ; man ſpricht von neuer Art Krieg zu führen, die notwendig wäre, weil man bie Sade felbft nicht verſteht. Drüdend ift das Geheimnißvolle ber Regierung in Zeiten einer ſolchen Gefahr. Herr Zunftmeifter Wegmann erhielt einen Brief vom Stabthaupt- mann, worin er ihm verfidhert, es fei Balbern leid, baf ein foldjes Gerücht entftanden, er habe nichts anderes von Blauler gehört, als daß ber Zunftmeifter Wegmann und Vogel um bie Sache ber Landleute wüßten.

Den 8. Febr. Nachricht von ber Deputation von einem Herrn nad) Meilen. Die Bauerrepräfentanten begehrten: 1) Anzeige einer Kriegsbeflaration, 2) daß man Deputirte nah Paris und an bie frangöfiihe Armee fende. Die Bauern glauben einmal nicht, daß Gefahr fei, zumal ba fie willen, bie Verficherungen, daß Schwyz, Luzern ꝛtc. Truppen gefanbt, feien nicht wahr. Uebrigens leben fie in finbifcher Furcht vor Weberfall, und es wird wenig gearbeitet. Das Wort proviforiiche Regierung ift ihnen burdaus unverftänblid) gewefen und fie fürdteten eine neue Falle. Abends tam bie Nachricht von angefangener Negotiation mit Bern. Ich hatte einen Koffer in die Stube genommen; das fiel unferer Magd Baba auf. Sie fragte mich, wofür id aud) fei, und meinte, ich fei mohl ein Franzos? Ich erfchrat vor dem Gebanfen, daß ein neues Geſchwätz entftehen könnte und fing an auf die Donners zu ſchimpfen. Das berufigte fie und fie fagte, das fei rechtſchaffen gedacht. So kindiſch ein ſolches Urteil ift, fo allgemein urteilt doch der Haufe nad) den groben Aeußerungen.

Den 9. Febr. Merkwürbiges Ausichreiben an bie Volls- repräfentanten nach Stäfe. Man fordert fie auf, ihre unrecht- mößige Gewalt aufguheben, damit man ihre bisherigen Schritte nachſehen könne. Der Weg zur Anardie ift gebahnt. Die Land vögte Haben nichts zu thun. Mehrere Prediger find in Gefahr, abger

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fegt zu werben. Kluges Benehmen bes Pfarrers zu Moſchwanden. Er ſchickte den Bauern zwei Taufen Wein, daß fie das Freiheits- und Gleichheitsfeſt feierten. In diefem Dorfe Herrichte große Freude. Man wollte aber nicht eine rote Kappe, ſondern ſieckte einen Hut mit einem Apfel auf ben großen Fichtenbaum. Ich habe in ganz Zürid) und bei niemand aud nur bie geringfte Spur von Freude gefehen. Liegt das an Stumpfheit ber Begriffe ober an ber Art bes Gebens oder an dem Mißtrauen, das überall gegen die Obrigkeit herrſcht? Gottlob, daß diefe acht Tage num glüdfid vorüber find; das Geſchwätz ift verhallt und Alles wieder mehr in bem alten Gleis.

Den 11. Febr., Sonntag. Pfarrer Lavater Hatte dringend in feiner Predigt gebeten, man folle aud) ben Deputirien vom Lande liebreich entgegengehen und ber Raufmannsftand ſolle nicht durch Nichtabnahme der Arbeit die armen Klaſſen der Lanbleute zur Verzweiflung treiben. Dies bezog fih auf ein Faktum.

Den 12. Febr. Die beiden Herren Vogel, Pfarrer Brunner, Nömer, Faefi, Sprüngli, Füßli waren nad) Stäfa hinaufgegangen. Die Deputirten kamen ihnen entgegen und man embrajfirte ſich mit großer Freude. Es erweift ſich glücklicher Weile, daß felte, rebfiche und verjtänbige Dlänner an der Spige ſtehen. Sie beteuern, in feiner Verbindung mit Frankreich zu ftehen. Sie verlangen, baß %/s Teil Deputirte von bem Lande gewählt werben follen und bringen auf eine Deputation nad) Paris.

‚Heute fing bie erfte Sigung ber Kommiſſion von Stabt und Land an. Dian Hat nicht das Rathaus dazu ermählt. Auch Hat der Zuruf der Lanbleute an bie Stadt nicht gebrudt werben dürfen. Alles zeigt, daß bie Negierung nur gezwungen Gchritte gethan hat. Indeſſen Tennen die Landleute das bisherige geheim: nißvolle und befpotifche Verfahren des geheimen Rates und wollen nichts mehr davon willen.

Erwachen des alten Schweizergeiftes. Man ift am See ent- ſchloſſen, Alles für Verteibigung des Vaterlandes zu wagen, wenn Alles demofratifirt fein wird. Die Kinder, die jet zur Taufe gebracht werben, erhalten Häufig alte Namen, z. B. Arnold, Werner x.

Den 13. Febr. Eine Kommiſſion mar geftern nad Stäfa gefandt. Aufterholz, Ratsherr Lavater, Doktor Rahn waren bie

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Hauptperfonen. Es ijt gut, fagten die Leute, daß fie ſolche Leute, wie ihr ſeid, geſchidt Haben, fonit wäre das erbitterte Volk nicht zu bändigen. Das legte Neffript Hatte dieſe Stimmung hervor gebraht und das legte Zutrauen entfernt. Es waren gegen 200 Deputirte verfammelt, die alle unter ſich abgemacht haben, jeber auf feine Koften, nicht auf Koften der Gemeinde ſich zu erhalten. Dan bewilligte ihnen, %/s zur Gefepfommiffion zu ſenden, jedoch wurde in Anfehung der ſchon erwählten Stabtbürger die Proportion beitimmt, obgleich bie Landleute eine Zahl von 100, daß alfo 25 aus ber Stadt fümen, für überflüffig hielten. Man fuchte das Anſuchen der Landleute wegen einer Garnifon zu hinter: treiben. Sie beharrten feft darauf, 1) wegen ber allgemeinen Ruhe und Sicherheit, 2) damit auch jeder bei ber wichtigen Gründung einer neuen Verfaſſung frei feine Meinung fagen fünne, 3) weil meuerbings einige ihrer Deputirten befchimpft waren, 4) es ſei zugleid) eine Art Ehrgeiz, ber um fo natürlicher wäre, da Zürich vor britteinhalb Jahren aud eine Garnifon zu Stäfa unterhalten habe, und fie wollen mit Ehre und Leben dafür fiehen, daß ihre Garniſon ſich beſſer betragen folle. Die Hauptperjonen ber Land- deputirten waren achtungswerte Männer, die mit Würde, Gelafjen- heit und Feſtigkeit ſprachen und ber Kommiſſion alle Ehren begeugungen erwieſen. Der Untervogt von Sehen, ein Mann in Schlotterhofen und Bauernjade, fagte unter Anderem: Sie hätten bei ſich gedacht, als fie nicht Truppen gegen bie Franzofen ſchicken wollen: 1) haben wir ihnen doch unfere Freiheit zu banken, 2) können wir hoffen, gegen eine Nation etwas auszurichten, bie bie größten Fürften vertreten hat? Werben wir uns nicht ber Nichtanerlennung deſſen, was wir ihr zu danken haben, ſchuldig maden und mürben wir in ber ſchlichten Vorausfegung ihrer Gerechtigkeit nicht weit ficherer uns befinden ? Ich fehe ein Beifpiel aus meinem Stande: Wenn id) einen jtößigen Stier habe und ich lege mic) zu Voden, jo mag er nicht weiter ftoßen.

Dan tranf Gefundheiten auf 1) die Deputirten und Bürger der Stadt Zürid, 2) Vater Bobmer, fagte Ratsherr Lavater, 3) Meine gnäbigen Herren. „Es find feine mehr!" fagte eine Stimme. Einfiimmig hatte Die Menge gerufen, als man bas Wohl meiner gnädigen Herren verfiherte: „Das glaubt niemand!" Man trank 4) Die Köpfe, die 6000 Fl. wert waren (Stapfer

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und Billeter), 5) bie Manen Unrachers und derjenigen, bie während ber Zeit geftorben find. Die Kommiſſion fam zum großen Schreden ſchon Heute wieder. Sie verfiherten einftimmig, wenn der geheime Nat nicht auf Diskretion die begehrten Sagen bemillige, jo feien morgen bie Landleute, deren Erbitterung aufs höchſte geftiegen ift, vor der Stadt. Gottlob, baf bie Landleute dieſes Mal geſcheuter find. Ihre Sache wird reipeftabel und furchtbar, fobald fi falte, ruhige Vernunft zeigt. Jebt läßt ſich wieder hoffen, ein beſſerer Geift werbe über alle Verftellung und eigenfüchtigen Pläne des Nriftofratismus fiegen, wie der Redliche über die Lift. Alles, was man erfonnen hat, Zügenberichte und Aufhetzung der Bürger, wirkte nun zurüd auf bie, die fi) dieſer ſchlechten Mittel bedient. Ihre Mutlofigfeit muß jegt aufs Höchſie fteigen, weil felbft ein Landmann zu ben Herren fagte: „Sieben Teil find gegen euch und ber Meine achte ſchlägt fi) gewiß zu ben fieben.” Es fam zu allgemeiner Freude um fieben Uhr Abends eine Deputation, daß man felber von ber Garnifon abftehe. Indeſſen war ſchon ber Kriegsrat verfammelt geweſen und es war ion von Ranonenaufpflanzen die Rede. Der Zufall hat vieleicht ein Unglüd abgewandt und die Sache ber Landleute hat immer mwieber gewonnen. been ber Einfältigen von ben ranzofen: Einer, der feinen Sohn ausrüftete, ſagte: „Aber jagt fie nun auch weit hinter Paris, daß fie nicht me da durre chomme.“ Eine Frau war wegen ihrer paar Spanferfeln in Angſt: „O ihr liebe, liebe Säuli, wenn die leiden Franzoſen euch haben jollten! und doch wär's noch beffer, als wenn id) euch meggete und fie holten das geſalzene Fleifch, dann wär auch ber Mepgerlohn verloren.”

Den 14. Zebr. Cinmal ein fehr ruhiger Tag. Morgens wurde auf ben Zünften dringend empfohlen, man folle aud) Weibern, Kindern und Mädchen einfhärfen, baß jeder liebreich fih gegen die Landdeputirten betrage. Eine Bemerkung machte ber Herr Zunftmeifter: Man lernt in folden Zeiten Menden Tennen; niemals zeigt ſich Charafterlofigfeit ober Mangel an eignem jelbit- ftändigem Denken oder Grundfägen mehr. M .. o [jo] war ein guter Menſch, ohne Wert in ftiller, einförmiger Lage. Sept, ba man gezwungen ift, an dem, mas in ber Melt vorgeht, einigen Anteil zu nehmen, fchlägt er ſich zu der Partei, die am wenigiten bentt, ſondern blind aburteilt, Ich ſah ihn mit wahrer Wehmut

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vor die Stabt Hinaus in eine Schenfe gehen, um unter ber Bopulace feine Pfeife zu rauchen. Wenn ein Kind fie fragte, was ift ein Ariſtokrat? fagte bie Frau Zunftmeifter: Ein Menſch, der mehr fein will als andere Menſchen, ein Menſch, ber nicht heilige Ehrfurdt für die Rechte und bas Gute jebes Menſchen hat, bei dem Familie mehr ift, als ber Menich, Wappen foviel als Verdienſt, Herfommen mehr als Natur und fein Ich bas Zentrum der großen Welt. Der Ariftofrat wird felten ein guter Menſch fein. In feiner Neligion ift Gott ein Gtraferefutor, ber Wlles aufzeichnet, was feinen Lieblingen zuwider geſchieht. Die ſchänd⸗ lichften Gerichte über anderer Menfchen Ehre und zur Hinberung bes guten Vernehmens kommen von Xriftotraten her.

Peftaluzz ſchrieb an Lavater aus Stäfa: „IK ſiehe unter KRraftmännern wie ein kindiſch gewordener Greis, dem man lieb: reich die Hand bietet, weil er einſt ein Mann war.” Der gute Peſtaluzgz! Seine Geiftesfräfte Haben unter dem Drud der Lage und bem übrigen Leben feiner Phantafie gelitten. Der alte Bodmer fehreibt an Lavater: „Als ih im Gefängniß mar, jagte ich ſchon vor anderthalb Jahren: unterſucht unfere Sade. Man antwortete: wartet. Ich weiß jet auch nichts anderes zu fagen, als: wartet. Und id) traue auf die Waltung der Vorſehung.“

Den 16. Febr. So ftill war es lange nicht, als feit zwei Tagen. Berichte von allen Orten jagen von Freude und größerer Serzlicfeit, mit ber ſich die Menſchen begegneten. Hier ift feine Spur. „Ich hätte doch nie geglaubt, daf man in Zürich fo ſchlecht wäre”, fagte Frau Zumftmeifter. Züge von ben Landbeputirten. Die Herren haben fid) erboten, fie zu beherbergen, wahrſcheinlich, um Einfluß zu haben. Die Landdeputirten find aber entſchloſſen, es nicht anzunehmen, um freier reden zu fönnen, außer wo es ber Fall wäre, denen Herren, bie bei ihnen waren und ſich nur freund ſchaftlich bezeugten, Gegenfreundfhaft zu beweiſen. Der Meine Mann mit fraufem Haar und Mugen Augen aus Sehen ging zum Vürgermeifter und zu vielen Herren vom Geheimen Nat und fragte fimple Antwort, ja ober nein, auf zwei Fragen: 1) Gilt es, wenn mir ausziehen, ben Bernern Hülfe zu leiften? 2) Gaben bie Fran« sofen Krieg erklärt? Bürgermeifter Kilchſperger mußte endlich fagen: „Nein“. Aber ſchriftlich wollte man es nicht geben.

ZTagebucblätter von K. ©. Grab. 1857

Es war ber Plan geweſen in ber großen Landbeputirten- Verſammlung, Deputirte nad) Paris zu ſchicken. Ein Hauptmann Nägeli meinte, es dünke ihm doch beiler, freundfchaftliher und inniger, wenn man aud bie Stabt aufforbere, Deputirte milzur fenben. Der Meine Mann von Sehen ging auf ihn zu und brüdte im die Hand: „Ja, das wollen wir tun, was in unferer Kraft steht, gute Freundſchaft mit den Stabtbürgern zu gründen und zu erhalten.” Es ift ein 82 Schuh hoher Freibeitsbaum zu Höngg aufgerichtet, das Alofter Weltingen gab Wein dazu.

Den 19. Febr. Einige Herriihgefinnte hatten fih mit bem Schwert der Errichtung bes Freiheitsbaumes zu Wald opponirt und einen Dann bleifirt. Der engere Ausſchuß der Landverſamm⸗ lung verlangte, ba bie proviſoriſche Regierung dermalen eriftire, Binlängliche Satisfaltion in Gegenwart von Perfonen des Land- fomites. Diefer Vorfall veranlafte heftige Ausfälle gegen das Unmefen am See, gegen bie Freiheitsbäume, bie man Elendsbäume, mwüfte Bäume, Faftnachtspoffen ꝛc. nannte. Der Geiſt ber Gewalt: thätigkeit guckte überall hervor. Alles ift noch wie es war und tann im Ganzen ärger werden denn zuvor. Es fann Zwieſpalt geben und Köpfe koſten. Nur Luft von außen und bie alte Gewalt fiegt.

Den 20. Febr. Es mar angeordnet, ben Deputirten vom Sande entgegen zu gehen. Sie famen ohne Begleitung. Unter den ihnen entgegengegangenen Bürgern waren felbft die, bie vor menig Tagen bie Bauern abführen wollten. Diefe liefen nun auf fie zu, fchüttelten ihnen bie Hände. Es war aber Orbre, wenn fie mit Begleitung in bie Stadt wollten, bie Falbrüden aufzu— ziehen, besgleihen die Freiheitszeichen unter dem Thor abzuthun. Sie famen aber ohne Kolarde. Indeſſen herrſcht von Seiten ber Landleute unglaubliche Furdt und Mißtrauen. Sie haben abge: rebet, in allen ihren Reden furz zu fein und nur zu fagen, mas zur Sadje gehört, übrigens die Stimmung abzuwarten und im Wirtshaufe zu logiren.

Den 21. Febr. Eid ber Deputirten und bes Volkes gegen einander, Schweizer zu bleiben, Tugend und Religion zu ehren, politifche und bürgerliche Rechte und Souveränität des Volfes zu erfennen und zu ehren; die Deputirten: auf biefem Grunbfag eine

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KRonftitution zu entwerfen; das Volk: bie Deputirten zu ftügen und zu rächen.

Erfte Sigung: Billeter verlangte Preffreiheit, was auf eine eigene Seſſion verwiefen wurde. Ein Protokoll foll alle Tage verlefen und gedrudt werden. Die Anreden waren verichieden, unter Anderem: Bürger, Bürgermeifter, liebe Herren und Freunde. Die Landdeputirten werben bei ihrem Namen genannt mit Vor fegung: Herr. Abends waren die Sandbeputirten auf ber Wage, mohin fie von einigen Bürgern eingeladen waren. Man hörte fie freimütig über allerhand Gegenftände fprehen und Leute im groben, langen Kittel wuhten bie Lage bed Pays de Vaud treffend zu fdildern und vom Mittelmeer bis an die Norbjee geograpifd zu wandern. Dan hatte Briefe aus verſchiedenen Gegenden. Die anweſenden Ariftofraten waren wie aufs Maul geichlagen.

Alfo ber erfte pofitive Schritt, der erfte Eintritt in neue Rechle. Es tut dem Herzen wohl, das zu denken und in die Gedichte der legten ſechs Wochen zurüdzugehen. Einige ariftor fratifche Damen ſchmeichein fid, wenn man nur von drantreich ber Ruhe habe, werde Alles wieder ins alte Gleis fommen; bie Herren fagen: Zeit gewonnen, Alles gewonnen. Dies Sprücwort leidet wie viele andere eine Abänderung und muß heißen: Den Genius ber Zeit gewonnen, viel, wo nicht Alles gewonnen.

Den 22. Febr. Zweite Sifung. Dan vereinigte ſich mit Widerſehung eines einzigen, ftatt ber begehrten Abſchaffung des „Geheimen und Großen Rates” als überflüffig, dem „Geheimen und Großen Rat” neue Mitglieder von Seiten der Landſchaft zuzugefellen, wie auch den Obervögten und Landvögten zwei Land- beifiger zu geben. Solothurn feien auf ihren Wunjd bie Ver- Handlungen mitzuteilen. Diefer Schritt über Erwartung der Land- deputirten machte einen fehr guten Eindrud auf fie und war von Seiten ber Regierung das Klügfte von allem Bisherigen, weil fie dadurch allein möglichſt lange ben alten Staatslörper und bie einzelnen Mitglieder beffelben erhalten können. Abends war wieder Gefellihaft auf der Waage. Es kamen auch mehrere Herren von den Stabtdepufirten und vom Geheimen Rat hin. Dan fprad) öffentlid) über das, was am folgenden Tage gebracht werben fol, namentlich über die Eidesformel. Der erfte Entwurf von Seiten

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ber Regierung bezog fi) noch auf die alten Bünde. Die Landleute wollen bie Baſeler Form.

Den 23. Febr. Die Sanbleute verlangen, aus der Eidformel bie Worte: Wir ſchwören, feinen fremden Einfluß zu geftatten, [ju ftreihen]. Sie verlangten Aufſchub, es wurde aber gemehret [> Abftimmung nad) der Mehrzahl) und die Partei der Negierung fiegte. Die Sanbleute fühlten, daß fie durd) überlegene Berechnung tournirt waren, und mißmutig und mißtrauensvoll fehrten fie zu ihren Angehörigen, weil die Woche endete.

Den 24. Febr. So freundfhaftlic General Brune die Vors fiellungen von Vern angehört hat, fo ift body ein Schreiben von Mengaud eingetroffen, worin er jagt: er habe Ordre angreifen zu laſſen, wenn die Schweiz fih nicht nad) ihrem Plan, Plan de Constitution Helvetique, organifire. Basler und Schaffhaufer Abgeordnete Haben dies Echreiben begleitet. Diefe Nachrichten find ſchon am 22. und 23. dageweſen, folglih it der Plan mit ber Eidesmehrung berechnet geweſen. Man will 24 Landdeputirte in ben Rat und als Beifiger aufnehmen, aber aus biefen bie Auswahl für den Geheimen Rat trefien. Wichtige allgemeine Angelegenheiten jollen der Nationalverfammlung vorgelegt werden. Der Vorſchlag, Deputirte nad Paris zu ſchicken, ift nicht ange nommen, bagegen aber, es den anderen Eidgenoffen zu berichten. Es müffen auf dieſe Vorfälle hin wichtige Ereigniſſe folgen.

Den 26. Febr. Es kommen eine Menge Landleute mit großen Prügeln zur Stadt. Dan fah einige zu Tells Statue auf dem Lindenhof eilen, andere umgaben das Rathaus. Alle hatten Kolarden. Der Zulauf war von allen Seiten entjeglid. Die Herren, die im Nat jaßen, waren in großer Angit, als ihre aus- geitellten Voten ihnen Verichte brachten, es fämen immer mehr. Dan hätte gerne die Thore fchliehen laſſen, allein man wagte es nicht. In der Stille aber wurde Befehl gegeben, im Zeughaus Alles zu rüften. Dan bat endlich die Landdeputirten, ihre Leute in Ruhe zu ftellen. Ein paar traten auf Steine vor dem Rathaus und riefen: „Lieben Freunde und Brüder! Der Eid foll nicht gefchworen werden; ſeid ruhig, ihr habt ja die Gewalt, ihr feib ja für fouverän erffärt!“ Und Herren, bie im Fenſter lagen, hörten zu. Verfhiebene Stabt- und Landdeputirte gingen mın herum und zerftreuten das Attrouppement ber Leute. Ein Knecht,

160 Tagebudjblätter von R. ©. Grab.

ber geichimpft Hatte, wurde von ben Lanbleuten arretirt. Der Schrecken war vorüber und man öffnete bie Läben wieber, wo man fie aus Angjt gefhloflen Hatte. Ich war die ganze Zeit über ruhig geblieben, ob es gleich Abends vorher gehießen hatte: morgen giebt es Blut. Die Metger hatten ſich vernünftig betragen und gefagt, wir nehmen an nichts teil.

Vierte Sigung. Kein Wort vom Eid. Die Landdeputirten trugen an, es folle eine öffentliche Erklärung, die fie aufgefegt Hatten, betreffend die Verleumbungen auf dem Stäfner Kongreß, gebrudt werben. Man wollte es an bie proviforiihe Regierung meifen. Die Lanbdeputirten beharrten. Cs wurde atzeptirt. Die Präparatoria im Zeughaus waren ben Deputirten zu Ohren gelommen. Sie fandten zum Bürgermeifter und fragten, was das bebeute? Man erbot fi, ihnen alle Zeugniffe zu weilen und vier Deputirte wurben bazu abgefandt. Abends hatte id) bie erfie Freiheits- und Gfeihheitsfreude. Der Präfident ber Landesver- fammlung war beim Herrn “Zunftmeifter. Ich hatte mir cher einen Feuerfopf vorgetellt, und ich fand einen falten, gejegten Mann voll Kraft und ruhiger Würde. Er charalteriſirte ſich felbft in ber Folge bes Geſpräches: „Es lag von Kindheit auf in meiner Natur, jedem Menſchen bas möglichſte Necht zugumenden. Es war fein erworbenes Verdienft, id) war bazu geboren. Ic) fah in der Folge die außerordentliche Ungleichheit der Verbältniffe und daß das Recht nicht in ber reden Hand läge. Dieſe Zeitumftände haben das Uebrige gemadt, und die Umftände gaben mir ben Beruf, nad meiner möglichen Kraft für das allgemeine Wohl zu wirken. Es war in ber Verfammlung von Wädenſchwyl, die von 1 bis 10 Uhr dauerte, wo ich trog meiner Weigerung, weil ich nicht zu der Gemeinde gehörte und nur als Deputirter da war, aufgefordert wurde, das Wort zu führen. Ich mußte es endlich übernehmen. As ih nad Meilen mit dem ermählten engeren KRomitd von 10 Männern zurüdgelehrt war, fagte man mir, bie Männer aus ber Grafihaft, die in ber großen Verfammlung waren, feien nur Spione gemwefen. In Zeit von wenigen Stunden famen gegen 24 Eptradeputirte von verſchiedenen Seiten mit der Anfrage, was fie aud) wegen des bringenden Truppenaufgebots zu thun Hätten? Sie würden unferem Rate folgen. Es war ein Augenblid, deſſen entſcheidende Wichtigfeit wir erſt nachher ganz

Tagebugblätter von R. ©. Crah. 10

erfannt haben, in welchem es Kraft brauchte, feit und ftandhaft zu bleiben. Wir ſchloſſen fo: Einmal find wir in ber Sade brin, wir fie umgeftürgt, fo ift unfer Leben ohne bas bahin, hier ift es alfo Pflicht zu fagen, wir Unterfchriebenen nehmen Alles auf unfere Köpfe, gehet nicht. Man hat uns faum unfere alten Briefe zugejtellt, nad) welden wir das Recht haben, Krieg zu beſchließen, und ſchon fendet man uns einen eigenmächtigen Aufruf zu. Seit jener Zeit führten wir ein genaues Protokoll aller unferer Verhandlungen. Jene Nacht bleibt uns unvergeßlich und jene Zeit war für die Gefundheit angreifend, aber, Gottlob, es hat gebeffert, und ich habe einen Körper, ber etwas vertragen Tann.” Ich brüdte dem Manne mit Wärme die Hand. Die Schweiz ift mein zweites Vaterland, meine Achtung ift der Dank für bie mannigfaltigen Anftrengungen ebler Männer, bie eine Standhaftigkeit bewiefen haben, die nur eine gerade gute Sache einflößen fann. Cs freute den Dann und ich fühlte im Gegen- druck, daß id ihn rührte. Das war nad) langen Unruhetagen ein Abendfeft, und ich fühlte, daß ich mitgelitten, weil ich mich von ganzem Herzen freute. Felt und beftimmt erklärte der Dann: „Aud wir fehen es fürs größte Unglüd an, wenn bie Franzofen ins Land fämen, aber es kann dem Vaterlande Gefahr bringen, wenn man bie abgegangenen Truppen nicht zurüctuft, und foll man um bes Ehrgeiges einiger Schuldbewußter eines Kantons bie gemeinfame Sade ins Unglüd bringen ?* Viele Grundfäge waren trefflich. Hier ift Verzug in der Sade Gefahr.

Den 27. Febr. Fünfte Sigung. Ging fehr unordentlich. Mehrere nahmen zugleich das Wort. Man ſprach über die Gar— nifon, bie den Landleuten anfänglid großen Schreden machte. Ueber Abftellung der Bewaffnung von ein paar enragirien Dörfern. Ueber Zurüdberufung ber Züricher Truppen, welches aber großes Feuer verurfachte.

Nahmittags lat] und Blürgerſ. Der Zunftmeifter fagte, es gefalle ihm nicht, weil man nad) dem Eſſen immer mehr erhigt fei. Eine fürchterlich ftürmifhe Sigung. Selbſt Herrn Statthalter Hirzel und Zunftmeifter Jrminger hatte die Bürgerfhaft in Feuer gejagt. Ein Haufe umringte den Bürgermeifter Wyß. Die fonft wũtendſien waren jegt die mäßigften. Es herrſchte bei vielen eine tieriſche Wut. „Einen folden Terrorismus leide ih nicht”, geate

102 Tagebuchblatter von A. ©. Graß.

Statthalter Hirzel, der gerade das terroriſtiſche Syſtem ausgeübt Hat. Amimann Heidegger wollte Kanonen auf bie untere Vruce haben. Bürgermeifter Wyß mußte die Herren bitten, nicht unter ihrer Würbe fich zu benehmen. Zulept fagte einer ganz vernünftig, er fehe garnicht ein, was man jo heftig zu bebattiren habe über etwas, was ganz natürlich ſei, daß man Maßregeln zu feiner Sicherheit treffe. Es wurde alfo eine ftarfe Bürgergarnifon auch bei Tage erfannt. Im Falle bie Landdeputirten fortgingen, follte Alles dem ganzen Lande und allen Eidgenoſſen berichtet werden. Während der Sigung famen zwei Mal Landdeputirte aufs Nathaus, wurben aber das erſte Mal abgewiefen, dann durch ben Stadtknecht wieder beichidt und unmanierlid empfangen, mit perjönlicher Verantwortung bedroht. Indeſſen ift durch dieſe unglüdlichen Faftnahtsauftritte das gute Vernehmen in das größte Mißlrauen verwanbelt worden. Die geraden Landleute fehen, daß die Schlau: heit fie überflügelt, und das Fanatifiren des Volkes ift das unglüd- liche Mittel, das Gefühie der Kraft erfepen foll. Die verhaltene Wut ergreift jeden Anlad, ins alte Gleis zurüdzufehren und bie vielen Schachſteine halten das verlorene Spiel lange auf.

Den 28. Febr. Sechſte Sigung. Die Landleute ließen ſich die Garniſon gefallen, ba man ihnen heilige Sicherheit der Perſon zugeſichert habe, weil es ſich nicht erleibe, darüber dem Vaterlande Unglüd zuzuziehen.

Den 29. Februar. Siebente Sitzung. Ende ber Wahlen. Verlangen ber obrigfeitlihen Partei zur Auflöfung des Küßnacher, ehemaligen Stäfner, Komité, weil man einen Irrefirten über Nacht gefangen behalten Hatte, ohne ihn einzuliefern.

Vormittags Nat. Berichte von Alarm im ganzen Lande, ver= anlaßt durch die getroffenen Sicherheitsmaßregeln. An einigen Orten fam es zu Thätlichfeiten. In Wepiton wurde ein Mann erfhlagen. Es find Anjtalten getroffen durch Abgeordnete und Offiziere Einrichtungen zu maden, daß auf ein gegebenes Zeichen in allen ber Obrigfeit treuen Gemeinden Sturm geläutet werde und Alles ber Stadt zu Hülfe zueile.

N. u. B. Es fahen die 24 Landdeputirten zum erften Mal. Bugtorf [Delegirter aus Bafel] ſprach fehr gut. Er fagte unter Anderem, er könne aus Erfahrung jagen, je ſchneller man die Revolution mache, defto glüdlicher und deſto früher ber Genuß

Tagebuchblatter von N. ©. Groß. 183

der Eintracht und Zufriedenheit. Er habe bie erfte Würde im Staat befleidet, aber es reue ihn jo wenig, fie unter den Umftänden niedergelegt zu haben, daß er nur bedauere, daß es nicht früher geihehen fei. Er empfahl Zürid, ſich herzlich zu demofratifiren und auch auf Bern zu wirken.

Der Vorſchlag [Bajels], Deputirte zu Brune um Verlängerung bes Waffenftillitandes zu jenden, ward nicht angenommen, weil man bereits negofiire. Diefe Nihtannahme fam mir vor, als molle man verhindern, daß die Lanbleute in die Karten guden ſollten.

Den 2. März. R. u. B. Bericht von Bern, daß die Nego— tiationen abgebrochen ſeien. Der General Brune habe ihnen erſt 24, dann 30 Stunden Frift zur Sendung ber Antwort auf folgende Punkte gelaſſen: 1) Reine, echte Demofratifirung und Berufung der Urverfemmfungen. Zurüdberufung der Truppen gegen Rück- ziehung der franzöfiihen Truppen bis auf einige Poſten. 2) Abs fegung des ganzen Berner Negierungsftabes. 3) Annahme bes Ronftitutionsplanes, bei dem Mobififationen ftattfinden. 4) Losgabe der wegen politiiher Meinungen Eingefepten. Bern wollte ſich in derfelben Nacht beraten. Brune lieh fih auf andere Kantone garnicht ein, da jeder einen Stand für ſich ausmache. Man verlangt dringend Hülfe. Desgleihen Freyburg in mehreren Schreiben. Bürgermeifter Wyß trug hierauf an, Stadt: und Landdeputirte in alle Gegenden zu fenden, die Gemüter burch alle mögliden Vers ficherungen ber völligen Demofratifirung zu berußigen und zum Truppenmarjd) zu bewegen. Cr wolle mit Freuden feine Stelle nieberlegen, und ob er wohl über jechzig fei, ſich doch willig und gerne für das Vaterland in dem gefährliditen Zeitpunkt an bie Spige ber Truppen ftellen. Es wirkte auf die Gemüter, und auch die Landdeputirten verfprahen ihr Möglichites zu thun, wiewohl bemerft wurbe, man fönne nicht dafür ftehen, daß nicht auch fie, als neue Mitglieder bes Rates, in Verdacht gelommen fein fönnten.

Den 3. März. Berns Antwort: erfiens wollen fie völlige Freiheit und Gleichheit einführen und Urverfammlungen anorbnen, ſobald die Truppen zurüdberufen feien, weldes man nicht eher Tonne, bis die franzöfiihen Truppen ſich ganz zurüdgejogen. Zweitens, eine neue Ronjtitution dürfen fie, aud wenn fie hier willig wären, ohne die übrige Eidgenofjenfchaft nicht annehmen.

184 Togebudiblätter von R. ©. Grab.

Die Regierung werbe man übrigens zu befegen fuchen mit Dännern, an beren Gefinnung Frankreich Glauben haben könne, bie aber aud dem Wohl der Stadt Bern angemeſſen wären. Einſtweilen folle eine proviforifche Negierung ftatthaben. Drittens, die Gefan- genen follen freigegeben werben, daß man auf alle Weife die Geneigtheit zur guten Harmonie zeige.

Dian Hofft ſelbſt nicht viel von diefer Erflärung. Che dieſer Bericht verlefen wurde, war Nat, und ein Beifiger aus Wiefen- bangen, einem abgelegenen Dorf, ſprach fehr beftimmt und logiſch, daß er nichts inniger wünfden fönne, als dag man aud) gerade zu Werke gehe. Die letzte geheime Abjendung der Offiziere Habe feinen guten Eindruck gemacht, da dergleichen Sicherheitsanftalten öffentlich Hätten geſchehen follen. Man entſchuldigte fi, es fei von der Landesfommilfion verfügt, Anftalten zur Beruhigung zu treffen.

Brief von Bafel, der aud vor R. und B. verlefen wurde. Mengaub verlangte Durchmarſch für franzöfifhe Truppen, im Weigerungsfall drohte er mit 6000 Dann Garnifon. Man fonnte ihn noch bewegen, es dem Direktorium zu berichten. Bafel ſchreibt, wenn mir and entſchloſſen wären, Alles fürs Vaterland aufzu- opfern, fo würde die große Nation gleichwohl über unfere Leichen zu ihrem Zweck fortichreiten. Id) Hatte mich fehr auf eine Abendgefellihaft ber Landbeputicten gefreut. Der Fanatismus mar fo groß, daß man es nicht wagen durfte. Keine Freude, fein wohltäuendes Gefühl haben die Männer, die von warmer, edler Vaterlandsliebe durchdrungen fein follten. In elenden Wirts- häufern müſſen fie ſich elend behelfen und Alles drüdt fie. Dies indignirt gegen ein Land, wo Freiheit und Gleichheit eingeführt fein und wo man über die wichligften Dinge beraten fol.

(Schluß folgt.)

le

Vie Bedeutung der alttichlihen Lehritreitigkeiten.

Ein Vortrag von Mag. A. Berendts.

Es ift heutzutage feine danfbare Aufgabe, für Güter und Werte einzutreten, die den Anſpruch erheben auch abgejehen von der Erfahrung der Gegenwart Geltung zu haben, für „objeftive” Werte und Güter.

Auch dort, mo das Gebiet erafter Forſchung, des Meßbaren und Wägbaren, aufhört, will der moderne Menſch nichts aner— fennen, was nicht feiner Erfahrung entipridt, was ihn nicht befriebigt. Die Verſchiedenheit der Erfahrung joll babei nicht Verjchiedenheit des Wertes mit ſich bringen. Jeglicher Geihmad, jegliche Weberzeugung, jeglider Glaube follen gleiches Recht auf Eriftenz haben, wenn nur der Mut da ift, diefe Normen ins Leben umjufegen, bie eigenen Jbeale, wie fie auch feien, zu verwirklichen. Bei der Beurteilung menſchlicher Beſtrebungen foll es nur auf bas „Wie“, nicht auf das „Was“ anfommen.

Da fann das Verftändniß natürlich nur gering fein für folde Zeiten, da bie Menjchen in heißem Ningen flanden um grund- legende Glaubensjäge, die für alle gelten follten, um Dogmen. In ber That, mit Unmillen und Entrüftung wenden fid) die Gebil- beten unferer Tage von jener Periode der großen öfumenilchen Konzilien ab, da Verdammung und Verfolgung denen drohten, die eine nur etwas abweichende Trinitätslehre oder Chriftologie vertraten.

Kein geringerer als Thomas Carlyle hat voller Verachtung von jenen „elenden ſyriſchen Selten“ geſprochen, „mit ihrem nid) tigen Geänf über Homoiufion und Yomoufion, ben Kopf voll wertlojen Lärms, das Herz leer und todt“ *).

*) Th. Carlyle: Ueber Helden, Heldenverehrung u. |. w., deutſche Ueber, fegung in ber Bibliothek der Gefammt-Litteratur, S. 75.

186 Alilirchliche Lehrftreitigkeiten.

Steht es wirklich fo? Iſt es nur „logiſches Wortgezänt“, ob Jeſus Chriftus mit Gott dem Vater „einweſentlich“ oder „gleich: weſentlich“ ift, ob Er feit ber Menſchwerdung „zwei Naturen“ ober eine bejigt, oder handelt es ſich bei diefen ſcheinbar jo fremb- artigen, abſtralten Formeln um das innerfte Wejen ber driftlichen Religion, um ihren Charakter als ausihliegfihe, abjolute Religion und dann wieber als ſittliche Religion ?

Diefe Frage foll uns hier befchäftigen, und zwar in ber Weiſe, daß wir den Gang jener viel verrufenen Streitigfeiten zu verfolgen fuchen, fo wie er gerade durch bie neuere Theologie Hargetellt it. Ein großer Kirchenhiſtoriker unferer Tage Hat jene Fragen für dem Wejen des Chriftentums völlig fernliegend erklärt, aber gerabe feine und feiner Schüler grundlegenden Arbeiten geben die Möglichkeit, zu einer ganz anderen Antwort zu gelangen. Die Gedichte foll uns zeigen, daß Hier noch genau biefelben Mächte im Spiel find, die wir zu unjerer Zeit in der Kirche fümpfen jehen: Wiſſenſchaft und Neligiojität, das Vedürfniß nad) einer geſchloſſenen Weltanfdauung und das Bedürfniß nad der Gewißheit der Erlöfung, beide freilich in ber befonderen Geftalt, die fie unter ben damaligen hiſloriſchen Bebingungen und unter dem Einfluß der herrfhenden Stimmung angenommen hatten.

Aus dem Kampf dieſer Mächte find die fog. Dogmen hervor- gegangen, die fo vielen Chriften unferer Zeit als ſchwer laſtende Bürde eiſcheinen, und zwar haben gerade diefe Dogmen die Neli- giofität zuerft vor ber Theologie gerettet, dann aber ihr gegen die herrſchende Stimmung der untergehenden Antife einen Schug dars geboten, der freilich zunäcjit noch wenig benupt worden ift.

Wie zu allen Zeiten, find aud damals dieſe Mächte nicht allein für fi auf dem Kampfplatz geweſen, wir finden fie ver- flochten in ein Gewirr politiiher, fultureller, nationaler Intereijen, umfpielt von einer bunten Mannigfaltigkeit perfönlicher Intriguen. Dod) nie und nimmer, und aud) damals nicht, find bieje Rleinig- feiten des Weltgetriebes entſcheidend geweſen. Cs find immer nur bie großen Mächte, bie allgemein menſchlichen Intereſſen, die bie Geſchichte fortbewegen; aud die großen Perſönlichkeiten find nur darum groß, weil in ihnen jene Mächte und Interefien ſich vers törpern und durch fie zum Ausdruck fommen. So dürfen wir

Autiechliche Lehrftreitigteiten. 167

denn von all’ dem Kleinen und Kleinlihen abjehen, das gerabe biefen Zeiten ein äußerlich fo unjnmpathiides Gepräge gegeben und ihren eigentliden Inhalt vielfad) verdedt Hat.

16

Betrachtungen voll bitteren Hohnes werden häufig darüber angeftellt, daß bie chriſtliche Kirche, eben erft von dem Drud ber Verfolgung befreit, fofort in Parteien zerfiel, die in ihrer gegen- feitigen Befehdung, in dem grimmen Haß, mit dem fie übereinander herfielen, ber Religion der Liebe ein böſes Zeugniß ausjtellten. Dan vergißt nur, daß es fic hier um eine allgemeine hiſtoriſche Erſcheinung handelt: wo nur immer ein plöglider Umſchwung, ein gewaltiger Schickſalswechſel eingetreten ift, da ift aud) die Er: icheinung zu beobachten gewefen, daß nun erſt bie in ber ſiegenden Partei mehr ober weniger verborgenen Gegenfäge, von allen deſſeln befreit, nur um fo unmittelbarer aufeinander trafen; war e& doch die große Frage der Neueinrihtung auf dem gewonnenen Boden, die fofort brennend wurde. Auch nad) dem jüngiten großen geihigtliden Umſchwung, dem Kriege von 1870-71, ift es nicht anders gegangen: NKulturfampf und foziale Frage haben die Gemüter der Sieger faſt unmittelbar nad) dem Siege in erbitterte Kämpfe geftürgt.

Garnicht anders war es zu erwarten, als das Chrijtentum von Kaifer Gonftantin durch eine raſche Folge von Mafregeln aus einer unterbrüdten zur herridenben, zur Staatsreligion erhoben wurbe. An Gegenfägen war die chriſtliche Kirche auch ſchon in der Verfolgungszeit reich gewefen: ſchwere innere Kämpfe hatte fie durchgemacht, aber dieſe Kämpfe waren großenteils noch mit geiftigen und geijtlihen Waffen geführt worden, wenn auch ſchon ber Begriff göttlichen Kirchenrechtes vielfad) miteinwirkte, wenn aud ſchon bie klrchliche Gemeinſchaft eine rechtlich geitaltete war. Nun aber zeigte ber Staat offenes Interefje an der chriſtlichen Kirche, und zwar an ihrer Einheit. Nur in diefer Einheit fah er die Gewähr und die Weihe feiner eigenen, ftarf mwanfenden Einheit. In den Stürmen ber Vürgerfriege und in Folge bes Zurüdtretens der Staatstulte Hinter den Frembreligionen hatte der römiſche Staat den Nimbus ber Heiligkeit verloren. Diefen jollte ihm das Chrijtentum wiedergeben und jolden Dienſt konnte nur ein ganz

108 Altlirchliche Lehritreitigteiten.

bejtimmtes, gejegmäßig geregeltes Chriftentum leiften. So war es der Staat, der aus geiftlihen Waffen rechtliche, weltliche machte. Aber die Kirche Hat dieſe Waffen millig ergriffen und begierig angewandt; wie follte fie nit? War ber Staat etwas Heiliges in ihren Augen, jofern er bie Kirche ſchühte, jo mußten auch bie Mittel, mit denen dieſer Schutz bewerkſtelligt wurde, Heilig eriheinen. Was dem Heiligen und alles Heilige war in ber Kirche vereinigt diente, mußte ſelbſt heilig fein; mas ihm miberjtrebte, hatte überhaupt feine Eriftenzberehtigung. An fi galt ja alles Irdiſche „die Welt“ als widergöttlich und ber Vernichtung wert. Nur im Dienſt ber Kirde konnte es Mert erlangen. Dieſe Gebanfen, welde ſchon im vierten Jahrhundert lebendig waren, erklären bereits bie Form, welde ber kirchliche Streit innerhalb bes Krijtlihen Staates annehmen mußte. Aber war benn ber Gegenftand bes Streites fo geringfügig? Blicken mir auf die Parteien, welche zur Zeit bes erften öfumenifchen Konzils, besjenigen zu Nicäa 325, fid) gegenüberftanden.

Es waren ihrer drei: bie größte unter ihnen vertrat bie Intereſſen der damaligen wiſſenſchaftlichen Theologie, jo wie fie von dem größten griechiſch·chriſtlichen Denker, Origenes, geichaffen war.

Das Streben aller Wiſſenſchaft geht dahin, die Welt zu erklären, den Zujammenhang alles Beftehenden oder Geſchehenen aufzubeden. Diefes Streben beftand damals fo gut wie heute, fo verjchieben auch bie wiſſenſchaftlichen Mittel und Methoden fein mochten. Auch das Chriftentum mußte ſich von dieſen Gefichts: punkten aus betrachten laſſen. Nicht die Gewißheit der thatfächlich geſchehenen Erlöfung follte die von ihm gebrachte Gabe fein, ſondern bie vollfommenjte Weltanschauung, die bie Fragen nach bem Grunde alles Seins und nad) dem wahren Zwede des Lebens beiler als alle bis dahin aufgefommenen philofophiichen Syſteme beantwortete. So wurde denn aud) Gott ſelbſt nicht fo fehr als Perſönlichkeit, ſondern vielmehr als das reine, eigenſchaftsloſe, unmwanbelbare, einheitliche, unteilbare, ganz und gar geiflige Sein, als Urſache alles Seienden, begriffen: zwiſchen ihm und der Welt bes Vielen, Geteilten, Wandelbaren gab es feine Beziehung ; es bedurfte, um eine ſolche Herzuftellen, eines Mittelwefens, und nichts Hoheres wußte man von dem Stifter der driftfichen Religion auszufagen, als daß ſich in Ihm dieſes Mittelmwefen ziwifchen Gott

Auttirchliche Lchrftreitigfeiten. 109

und Welt offenbart und damit dem Gott verwandten Geiftigen in ber Welt, alfo ber Seele des Menden, den Rückweg zu ihrem ewigen Uriprungsort, bie Befreiung aus dem Nichtſein, aus der Materie, dem Vielen und Geteilten, im legten Grunde dem Indi— vibuellen, eröffnet habe. Nur das Erkennen war auf diefem Stand» punkt als ber Weg der Selbfterföfung dem menſchlichen Geifte dargeboten: Chriſtus war das Prinzip aller Erfenntniß, ber Logos, die göttliche Vernunft, durd) deren Vermittelung die Welt geſchaffen war und beitand. Wer zum philofophiihen Erkennen nicht im Stande war, dem fonnte auch der volle Inhalt des Chriftentums nicht anders als in verhüllter ſymboliſcher und allegoriſcher Form zugänglich gemadjt werben. Für eine Religion der Gebilbeten trat dieſe Drigeniftiiche Partei ein, während bie Ungebildeten nur als eine Art von Chriften 2. Klaſſe angejehen wurden. Einen Konflift tonnten bie Origeniften indeß nicht herbeiführen, ba fie, wie ihr Meiſter Drigenes, ben vollen Wortlaut der kirchlichen Verkündigung unangetaftet für bie ſchlichten Gläubigen beftehen ließen und nur die Freiheit wiſſenſchaftlicher Anihauungsweile den ihrer Fähigen gewahrt willen wollten.

Die Krifis konnte nur durch diejenigen eintreten, welche bie wiſſenſchaftlichen Nefultate, jo wie fie damals verftanden wurden, in den Gemeindeglauben einführen wollten. Das aber waren Arius und feine Anhänger. Won rein origeniftiihen Gedanken aus war ſolch ein Verſuch überhaupt unmöglich: nur in ihrer Kombination mit einer ganz anbersartigen Anſchauung war bie Möglichfeit dazu gegeben, mit einer Anſchauung, die ſchon einmal mit ber Kirche feindlich zuſammengeſtoßen war und vielleicht im legten Grunde auf jüdiſch-chriſtliche Anregungen zurüdging. Paulus von Samofata und fein Schüler Lucian hatten Chriftum als den von Gott ewig vorausgefehenen, mit göttlicher Kraft aus- geftatteten Idealmenſchen aufgefaßt, der zum Lohne für feine fittliche Bewährung in völliger Willenseinheit mit Gott göttliche Würde erlangt hätte und deſſen innere Entwicelung nachzuerleben Aufgabe bes Chriften fein müſſe. Chriftus ber Idealmenſch und Chriſtus das Mittelwefen vereinigten fih nun bei Arius zu einer Geſtalt: zu einem halbgöttlihen, ſittlicher Entwicelung fähigen Weſen, das mit aller Energie Gott gegenüber auf bie Seite ber Geſchöpfe geitellt wurde.

170 Atticchliche Lehrſtreitigkeiten.

Sollte ſich die Erlöſungsgewißheit an biefen Chriftus knüpfen Tonnen? Was fonnte dieſer Chrijtus fein? nicht einmal ein Vorbild, Er war ja den Menſchen nicht gleich, noch weniger ber Führer zur rechten Gotteserfenntnig. Cr jtand fo weit von Gott ab, daß Er Gott weder vollfommen fehen, noch erfennen konnte. Mas mar Er aljo viel mehr, als die Göttergeitalten, melde bie Heiden bisher angebetet hatten und an beren Heilswirfjamfeit fie den Glauben verloren hatten ?

Der einzig fihere Weg vom wahren Gott zu ben Menſchen und von den Menfchen zu dem wahren Gott, ben die Heiden im GShriftentum gefunden, um beffentmillen fie e6 angenommen hatten, erſchien durch den Arianismus verichloffen.

So ift es nicht verwunderlid, wenn dieſe Lehre in weiten, chriſtlichen Kreiſen Entrüftung und leidenfdaftliche Gegnerſchaft erweckte. Es handelte fid nicht um theoretifche, dogmatiſche Fragen, bie nur ben Theologen angingen —- ber eigentliche Gehalt des Shriftentums ſtand auf bem Spiel.

Daß der eigentliche Grund ber Abweichung tiefer lag, daß der Arianiemus nicht Urfache, fondern Folge war, daß ber Hebel bei Drigenes ſelbſi. bei dem Ideal damaliger Theologie und Wiſſenſchaft, angefegt werben müſſe, das hatten damals nad) nur Wenige erfannt, am tiefften jener junge Diafonus von Aerandrien, Athanafius, der dann fait 50 Jahre als Biſchof diefer Stabt bie Führung im Kampfe gegen Arianer und DOrigeniften behielt.

Er fnüpfte an eine theologiſche Tradition an, die wohl im Zufammenhang mit dem religiöfen Bewußtſein ber ſchlichten Ehriften fich Hielt, befonbers derjenigen A lein-Afiens, dem wiſfenſchafilichen Intereffe der Zeit aber ſchroff entgegenftand. Denn bie Voraus: fegung diefer Tradition war die Möglichkeit und Notwendigkeit eines unmittelbaren Eingreifens Gottes in den Weltverlauf: eben: daſſelbe, was auch zu unferer Zeit der nad) einem gefchlofjenen Weltbilde jtrebenden Wiſſenſchaft ein unüberwindlihes Hinderniß erſcheint zur Anerfennung des firhlijen Chriſtentums.

Die Gründe, durd die Athanafius die Notwendigfeit ber Menſchwerdung Gottes felbit und nicht eines Mittelwejens erwies, entſprachen freilich griechiſch-orientaliſchen religiöfen Bedürfniſſen. Alhanaſius jagte: „Gott ſei Menſch geworden, bamit wir vergottet werben" und „Er offenbarte ſich in leiblicher Weile, bamit wir

Altlirchliche Lehrftreitigkeiten. 171

den Begriff des unſichtbaren Vaters erfaſſen könnten.“ Um die ſichere Gotteserkenntniß handelte es ſich und um bie Ueberwindung des Todes und der Vergänglichteit durch Mitteilung göttlichet Lebenskräfte. Indeß war bei Athanaſius der Gedanke noch lebendig, daß die Vergotiung der Menſchheit als ihre Verklärung, ala die Miederherfiellung ihrer urſprünglich guten Entwidlung aufzufaſſen ift, daß alſo Chrifti ganzes Leben eine fittlihe Er— neuerung der Menſchheit bedeutete. Aber dieſer Gebanfe iſt bald hinter dem andern zurüdgetreten, als fomme es vor Allem auf völlige Ueberwindung des Menſchlichen durd das Göttliche an. Diefer Gedanke entſprach befjer der Grundjiimmung dieſer Zeiten einer untergehenben Rulturmelt, bie an dem Wert des Menſchlichen überhaupt irre geworben war.

In dem damals auffommenden orientalifden Möndtum und der von ihm geübten Asfefe fam dieſer Umſchwung der Stimmung praktiſch zum Ausdrud: in der ältejten Kirche war der Hauptzweck der Aolkeſe die Selbjtweihe und Selbftheiligung zu Ehren Chrifti, nun aber jollte fie hauptſächlich der Abtödtung aller menſchlichen Bebürfniffe dienen. Nur außerhalb der allgemeinen menſchlichen 2ebensformen glaubte man mit Gott in Gemeinfdaft treten zu fönnen. ber fo ſehr aud bes Athanafius’ Denken griechiſch beftimmt war, fo menig er nod) dazu vorgedrungen war, in ber Aufgebung der Menſchheitsſchuld den eigentlihen und nächſten Zwed der Menfhwerbung Gottes zu fehen, er hatte es dad) veritanden, daß es eine Erlöfung nicht geben fünne, ohne daß Gott ſelbſt in die Menſchheitsgeſchichte eintrete und bie fie bejtimmenden Mächte der Sünde und bes Todes überwinde. Diefem Bebürfniß des chriſtlichen Glaubens gab vor Allem das Stichwort feiner Bartei: „Homouſios“, d. h. einweſentlich, Ausdrud.

Nicht ein Wort ftand auf dem Spiele, fondern der Anfprud) des Chrijtentums, die Neligion ber Grlöfung zu fein, nicht einer ibeellen Erlöfung, die Hätte auch ein großer Dienfchengeijt bewirken tönnen, ſondern ber reellen, in Thatſachen bejtehenden, die Gott allein und unmittelbar vollbringen mußte.

Der Kampf um das Homoufios, oder vielmehr um bie wahre Gottheit Chrifti, hat verfchiebene Phaſen durchlaufen müſſen: ber raſche Sieg des Athanafius und feiner Gefinnungsgenoffen auf dem Konzil zu Nicia 325 war verfrüht geweſen; Kaiſer Conſtantin

1m Alttitchliche Lehefteitigteiten.

hat ihn bewirkt, weil er nur bie kirchlichen Verhältniffe bes Abend- landes fannte, wo ſchon um ber Tradition willen die völlige Ein- heit des Weſens Gottes des Vaters und bes Sohnes rüdhaltlos geglaubt wurde. Als aber Gonftantin bemerfen mußte, daß er mit feiner Parteinahme in Gegenfag zur Majorität der Orientalen geraten war, richtete er fein Veftreben darauf, die Ruhe in dieſem Reichsteil, ber feine neue Nefidenz in fich ſchloß, um jeden Preis wieberherzuftellen. Die Nicäniihen Beſchlüſſe durften nicht mehr angetajlet werben, die Autorität bes Kaifers und ber Biſchöfe verbot das; aber durch weitherzige Aus: und Umbeutung wurde die volle Neftitution ihrer Gegner ermöglicht, während nun bie Vertreter ihres genauen Wortlautes als die Ruheſtörer und Fanatifer erjhienen und ſomit ber neuen Friebenspolitit zum Opfer fielen. Unter bem Sohne Conftantins, Gonftantius, und mit feiner Hülfe gelang es den vereinigten Origeniften und Arianern durd) neue Formeln, die ganz allmählich an die Stelle der Ein- weſentlichleit des Sohnes mit dem Vater eine gewiſſe ganz unbe: ftimmte Gleichheit fegten, das Nicinum ganz in Vergefienheit zu bringen und thatſächlich außer Wirkſamkeit zu fegen. Aber gerade über biefem Werke entzweiten ſich die Sieger: die Drigeniften fahen ji mit einem Dale von den entidiedeneren Arianern über: vorteilt. Der Arianismus enfprad in ihren Augen doch noch weniger ben Interefien der Wiſſenſchaft, als die Athanaſianiſche Lehre: feine inneren Widerſprüche waren unerträglich und ebenjo die Nohheit vieler feiner Vertreter. Die ſchmähliche Behandlung, die man auch ihnen angedeihen lieh, fobald fie nicht mehr Schritt hielten, das Einfhmuggeln ganz und gar Arianifcher Gedanken in die gemeinfamen Formeln, trieb fie endlich förmlich den Athana: fianern in die Arme. Sie hatten bereits, im Eifer, das Nicinum unnüg zu maden, dem Sohne Gottes fo viele göttliche Eigen- ſchaften in ihren Formeln zugeichrieben, daß fie ſchon bei dem Stihmwort Homoiufios, d. H. gleichwefentlich, angelangt waren. Von hier aus war e8 nicht mehr weit bis zu einem Kompromiß. Mit Hülfe genauerer theologifch:philofophiicher Bearbeitung und Definition ber Begriffe ift diefer Kompromiß angebahnt worden. Es waren bie fog. brei großen Kappadozier, welde ber Kirche diefen Dienft leifteten: Vaſilius von Cäfarea, Gregor von Nyſſa und Gregor von Nazianz. Ihre Aufjafjung von der Sache war

Auttirchliche Scheftreitigteiten. 13

durchaus nicht biefelbe, wie die des Athanafius: es war im Grunde die origeniftifhe. Bei allem Herrlihen, das vom Sohne Gottes ausgefagt wurde, blieb doch noch ein Abjtand zwiſchen Ihm und bem Bater beſtehen. So viel als möglich blieb die wiſſenſchaftliche Betrachtungsweiſe im damaligen Sinn gewahrt. Athanafius aber und die Seinen verſtanden ſich bennod) dazu, ein derartiges Ver: ftändniß des Nicänums für zuläffig anzufehen. Am längiten hat man im Abendlande mit ber Anerkennung diefer „Jung-Nicänifchen” Theologie gezögert. Man fühlte hier doch deutlich, daß bas Grundintereſſe ber Religion durch dieſe Nuffajfung, die im Grunde eine Abſtufung innerhalb der Gottheit zuließ, nicht feitgehalten fei. Gottes Wirken in der Welt follte alfo doch ein vermitteltes fein.

Eine Reihe von Synoden in Ronjtantinopel und Nom, zu denen auch die fog. zweite öfumenifhe von Konftantinopel 381 gehörte, führte dieſen Abſchluß des Streites herbei. Aud) bem Schwanken über die Art der Gottheit des H. Geijtes wurde bei diefer Gelegenheit ein Ende gemadt: für Athanaſius war es an biefem Punkte darauf angefommen, Gott auch im Walten bes 9. Geiftes unmittelbar wirffam fein zu laſſen. Die Origeniften haben dagegen auch den 9. Geift als den ewig vom Vater aus gehenden in eine Art von Abhängigfeit gelegt, freilich nur vom Vater, nicht aud) vom Sohne, in welcher Einſchränkung ein deut— licher Hinweis baranf Liegt, daß es für bie orientalifche Anfchauungs- weife doch nod) einer Vermittelung zwiſchen dem Gott im eigent lichen Sinne des Wortes und der Welt bedarf und daß Sohn und Geijt diefe Wermittelung bebeuten. Nur im Abendland ift die volle Einheit Gottes trog ber Dreiheit ber Perjonen banf der Theologie Auguftins gewahrt geblieben.

II.

Aber als die Theologie auf dieſe Weiſe ſich mit den ihr fremdartigen, rein religiöſen Gedanken des Athanaſius und des Nicãniſchen Bekenntniſſes ausſöhnte, da war das allgemeine Intereſſe bereits zu der weiteren Frage Hinübergeglitten: wie denn bie Menſchwerdung des Sohnes Gottes zu verftehen fei? Auch in dem nun auobrechenden Streite waren es nicht müßige Spefulationen, die die Gemüter in leidenſchaftliche Aufregung verfegten und Ihließlih ganze Landestichen zur Abtrennung brachten. Cs

11 Alutirchliche Schrftreitigkeiten.

handelte fi hier um bie menſchliche Perſonlichkeit Jeſu Chrifii, bes Gottesjohnes, e8 handelte ſich hier darum, ob Sein Leiden und Sterben eine fittliche That geweſen jei, ober bloß eine phyſiſche Ueberwindung ber Macht der Vergänglickeit durch bie Berührung mit Unvergängligem. Es ift Mar, daß hier nichts weniger auf dem Spiele ftand, als ber fittlihe Charakter ber chriſtlichen Reli: gion, wie dort im Trinitätsftreit ihr ausſchließlicher, abfoluter Charafter.

Wieder ftanden ſich Wiſſenſchaft und Neligiofität gegenüber, aber die Religiofität war nun nicht mehr einheitlich.

Im Diorgenlande war inzwiſchen bie Stimmung völlig durch- gedrungen, welde das Menſchliche nicht mehr zu würbigen ver: mochte unb bie Erlöfung nur als eine Aufjehrung des Menfclichen durch das Göttliche empfand.

Im Mbendlande dagegen war es einerfeits die Trabition, welche das menſchliche Bild Jeſu Chrifti lebendig erhielt, andrerfeits war bie ganze Frömmigfeit darauf geftimmt, Chrifti menſchliches Leben als Vorbild fittlicher Bewährung anzujehen.

Einheitlih war das Bild Chrifi nicht, das hier den Chriften vorichwebte, denn an der Gottheit Chrifti hielten fie nidt minder feit. Aber Einheitlichkeit ift das Intereife der Wiſſenſchaft, nicht der Religion, und auch bort ift fie nicht ohne Gewaltfamteit zu erreihen.

Im Orient war biefelbe Wertfhägung des menſchlichen Lebens Chriſti nur in einer theologijhen Schule vorhanden, die im Volke wenig Boden hatte, ja, bie ihren Wurzeln nad mit Paulus von Samojata und Arius zufammenhing, in ber fog- Antiohenifhen Schule. Cs war im Grunde biefelbe Geiftesrichtung wie bei jenen Häretifern, nur waren die inneren Wiberfprüde unb Rohhellen bes Arianismus aufgelöft. Die Antiochener ftanden auf dem Boden des Nicäniihen Bekenntniſſes: die Gottheit, ja die göttliche Perſönlichkeit Chrifti ließen fie unangetaftet, aber fie blieb nun wie etwas Aeußerliches über der Menſchheit, der eigentlich nur menfchlichen Perjönlichfeit Jeſu, ſchweben, höchſtens fie unter: ftügend und ihre fittlichen Fortichritte befohnend. Der ganze Ton fiel auf die fittliche Entwidelung des Menſchen Jeſus, auf Seine immer fejter und unlöslicher werdende Willenseinigung mit ber göttlichen Perfönlichfeit. Für jeden Chriften gelte es, diefe Willens:

autlirchiche Lehrfteitigfeiten. 135

einigung mit Gott in fid) felbft zu wieberhofen: Chriftus fei ihm dafür das Ideal und die Bürgſchaft für deſſen allgemeine Vers wirflihung auf einer zweiten Stufe ber Menſchheitsgeſchichte, einer Stufe der Vollendung.

Die Einheit der Perfönlichfeit Jeſu Chrifti war auf biefem Wege nicht zu wahren: es waren zwei Perjönlichkeiten zu einem Weſen vereinigt, im Grunde war freilih nur bie menſchliche wirklich erfaßt. Die Gottheit Jefu Chrifti, deren man ſich eben vergewiſſert hatte, brohte wieder zu entſchwinden und es fam bann doch wieber auf eine Eelbfterlöfung bes Menſchen heraus. Die Erlöfung war fo gut wie aufgehoben. Das gab ber entgegen gelegten Meinung ihre Kraft, die eine perfönliche Einheit in Jeſu Chrifto auf Koften Seiner menſchlichen Perſönlichkeit, ja ſchließlich Seiner Menſchheit überhaupt zu Stande bradjte.

Den erften Verſuch diefer Art unternahm nod; während der trinitariſchen Streitigfeiten ein eifriger Nicäner: Apollinaris von Laodicea. Aber Chriſtus wurde für ihn ein Miſchweſen, bas gött- lichen Geift mit menſchlicher Seele und menſchlichem Leibe ver- einigte (gemäß ber griechiſchen Dreiteilung des Dienichen). Diefe Löfung konnte nicht befriedigen, fie mußte fogar die Gemüter aufs tieffte erregen. Ihr gegenüber galt der Grundfag: mas nicht angenommen, fei auch nicht geheilt. Eine volljtändige Menſchen— natur muß ber Erlöjer an fid) genommen Haben, um bie ganze Menfchheit mit göttlien Kräften durchdringen zu können. Aber eben nur an ber Annahme ber vollen Menfchheit lag es ben damals mafgebenden Theologen, den Kappadoziern und Cyrill von Alerandrien. Das Vorhandenfein einer menſchlichen Perſönlichleit in Chrifto nad) der Menſchwerdung anzunehmen, erſchien unmöglich, denn als bas Kennzeihen menſchlichen Perfonenlebens galt ber freie Wille, damit alfo die Wandelbarfeit. Wie aber Fonnte Wandelbares neben Unwanbelbarem beftchen, ohne von ihm aufs gejehrt zu werden? So var die Menſchheit Chrifti hier nur in ber Theorie vorhanden; das aber, was Chriftus erdulden mußte, Erniedrigung, Leiden und Tod, traf weder Seine Gottheit, bie nicht leidensfähig war, nod) Seine Menſchheit, die unperſönlich gedacht wurbe, war alſo im Grunde nur Schein, oder vielmehr, es fam nur darauf an, daß gerabe das Prinzip ber Vergänglichteit,

178 Aticcfiche Sefrftetigteiten.

der Tod, durd) die Berührung mit ber Macht der Unvergänglidjfeit aufgehoben wurde.

Diefe Theologie war es, welde die Maſſen im Orient für ſich hatte, befonders in Aeghpten. Diele Mafjen waren aber ihrer Nationalität nad) vielfach Nicht-Griechen, in Aegypten Kopten. Dit ihrer Unterftügung gelang es bem Alerandrinifchen Patriarchen Cytill feinen Biſchofoſtuhl zur kirchlichen Vormacht des Orients zu erheben, mochte er jelbit aud) in der Sache des Glaubens auf dem Konzil zu Ephefus 431 und nachher nicht durchdringen, fon bern ſich zu Ronzeffionen verftehen. Sein Nachfolger Diosfur ſchwang ſich im Bunde mit dem faiferlihen Hof in Konftantinopel noch Höher: ber Biſchof von Alerandrien dien einen Augenblick felbft den von Nom an Glanz und Anfehen zu übertreffen. Auf der fog. Räuberſynode zu Epheſus 449 ſchaltete Dioskur wie ein Herr in der Rire. Seine und feines Schüplings Eutyches Lehre, der ſog. Monophyſitismus, welcher Chriſto nur eine Natur zufchrieb, d. h. Ihn nur als Gott auffahte, der äußerlich menſchliche Geftalt an fi trug, ſchien alleinige Geltung Haben zu follen. Aber ber Drient erträgt feine kirchliche, nur eine ſtaatliche Obergemwalt. Die beiden durd das Alerandriniihe Uebergewicht gefährdeten Mächte, der Hof und Rom, fanden fi alsbald zufammen. Zugleich mag wohl aud die grobe, barbarifhe Form ber Dioskuriſchen Theologie den griechiſchen Elementen unerträglich geweſen fein. Das Konzil von Chaicedon 451 machte Alerandriens Rolle als ber einer lirchlichen Führerin des Orients ein Ende. Konſtantinopel, d. 5. das Hofpatriarchat, trat endgültig an feine Stelle in kirchlich- politifchen Fragen. Den Glauben aber biftirte Leo I. von Rom, und zwar ben Ölauben bes Abendlandes: Chriſti Gottheit und Menfhheit als völlig getrennte Vefigtümer einer einheitlichen Perſon.

Das war für die meiſten Orientalen ein harter Schlag: wie ſollten fie nun deſſen gewiß werben, was ihnen innerſtes religiöfes Bebürfniß war, der Durchdringung alles Menſchlichen durch göttliche Lebensmacht? Die halcebonenfifcen Beſchlüſſe ſchienen zwiſchen Menſchheit und Gottheit eine unüberbrüdbare Riuft zu befeftigen.

Ueber zwei Jahrhunderte hat in ber orientalijchen Kirche ein erbitterter Kampf getobt um dieſe Chalcedonenfiihen Beſchlüſſe;

Altfichfice Schrftreitigkeiten. ım

ein großer Teil ber orientalifhen Chriften in Aegypten, Syrien, Armenien hat ſich überhaupt mit der Reichskirche nicht mehr vers föpnen Fonnen. Cine Reihe fog. monophyfitiicer Kirchen ift ente fanden, deren Nefte am kräftigiten in ber armeniſch-gregorianiſchen Kirche ſich noch bis auf ben heutigen Tag erhalten haben, freilich, ohne mehr ein lebendiges Gefühl für den eigentlichen Gegenftand bes Streites zu offenbaren. Es waren ja auch nationale Gegen» fäge, die zur Trennung führten und auch abgefehen von ber aus teligiöfen Urſachen ſtammenden Erbitterung es erflären, baß bie ſyriſche und befonders die ägyptiſche Bevölkerung ſich jo bereitwillig den heranrüdenden Schaaren der arabiihen Chalifen in die Arme warfen. Für ben eigentlich griechiſchen Teil bes Reiches hat aber bie Regierung Kaifer Juftinians Rettung und Feſtigung gebracht, nicht zulegt durch feine Kirdenpolitif. Cs gelang ihm, das Chal- cedonenſiſche Konzil in biefem engeren Umfreis zur unbebingten Anerkennung zu bringen, freilich nicht anders als durch eine Umbeutung feiner Befenntnißformel, bie ihr ben eigentlichen Sinn nahm. Die Menschheit Jeſu Chrifti follte weder unperfönlid fein noch eine völlig felbftändige Perfönlichkeit haben. Die göttliche Perſonlichkeit follte zugleich die der Menſchheit fein, während biefe jelbft im Grunde nur als gattungsmäßig vorhanden angenommen wurde. So fubtil das flingt, fo hat es doch einen einfachen Sinn: das Menſchliche an Chrifto ift darnach doch nur etwas Aeußerlihes, bie Summe der menſchlichen Eigenſchaften, die das göttliche Weſen annahm, um fie völlig zu überwinden, ben götts lichen zu affimiliven. Die Menschheit Chriſti war auch hiernach nur in ber Theorie vorhanden. Dennoch fonnte man von hier aus Chriſto neben ber göttlichen noch eine menſchliche Wirkungs— meife, neben dem göttlichen auch einen menſchlichen Willen zu fhreiben, und man war fehr empört, als im 7. Jahrhundert von Taiferlicher Seite ber Verfuch gemacht wurde, wenigftens auf dieſem Punkte den Monophyfiten eine Kongeffion zu machen. Den ſcharfen Ausdrud, den bie Lehre von ben zwei Energien und zwei Willen in Chrifto in ber Formel des fog. 6. öfumenifejen Konzils 68081 fand, verdankte ber Orient wiederum bem Abenblande, und zwar Rom. Aber es fam ſchon den DOrientalen nicht fo fehr viel mehr darauf an, feit die Möglichkeit feftgeftellt und durch das geßeiligte Anfehen von Konzilien gefchügt war, eine unmittelbare Berührung

178 Altlirchliche Lehrftreitigkeiten.

göttlichen und menschlichen Wefens anzunehmen. Diefe Möglichkeit begrünbete aber das Recht, in den Saframenten, ben Gebräuchen des Kultus, den Bildern, Reliquien und allerlei andern heiligen Gegenftänden die unmittelbare Berührung mit dem Göftlichen zu genießen. Um biefen unmittelbaren, geheimnißvollen Genuß gött- licher Lebensfräfte im Kultus dreht ſich feitdem das kirchliche Leben des Orients. Das Interejfe an der Ausbilbung des Dogmas war hier nur von dem Zweck der Sicherftellung dieſes Genuſſes bebingt. Dennoh war aud für den Orient durch das Chalcedonenſiſche Konzil das Bewußtfein von Chriſti Menſchheit gerettet, freilich als eine Saat auf Hoffnung, die noch nicht aufgegangen ift.

Wie aber Beides, Gottheit und Menſchheit, in einer Perfön- lichleit fi einen können, das ift aud im Abendlande nicht in befriedigender Weile erklärt worden, fo wenig wie das gegenfeitige Verhältniß der drei Perfonen innerhalb der Gottheit. Jene Dogmen haben es am allerwenigiten gelhan; von ihnen gilt mit Recht, was Auguftin von ber Trinitätslehre fagt: foweit Hier Sãbe formulirt würben, geſchehe es, nicht damit es gelagt, ſondern bamit e3 nicht verſchwiegen würde.

Es find nicht willfürlihe Spipfindigkeiten, es ift nicht graue Theorie der Theologen, bie dieſen Ausdrud gefunden hat: wir ſahen es, bie zünftige Theologie vermochte in dieſen Kämpfen nicht viel auszurichten, wenn fie nicht das religiöfe Bewußtiein hinter fich hatte und, wo fie thatſächlich mit diefem ging, wie im chriſto— logiſchen Streit die neue Alexandriniſche Schule, da war das teligiöfe Bewußtfein felbft bereits unter den Einfluß ber Gefammt- ftimmung der untergehenden antifen Welt geraten.

Nicht daß die Theologie darum etwas Neberflüffiges und Schädliches für die Neligion wäre: fie gehört notwendig zu ihr und wird überall von felbjt erwachſen, wo es Neligion giebt. Nur darf fie ſich nicht der Illuſion hingeben, als wenn fie reli- giöſes Leben ſchaffen oder es reformiren könne und folle. Was ihr unvereinbar und unmöglid; erfdeint, Tann darum für den Glauben durchaus vereinbar, ja notwendig fein. Die Theologie Hat nur die Erſcheinungen des veligiöfen Lebens zu ftudiren; es wird nicht ausbleiben, daß fie dabei unter den Einfluß ber in den übrigen Wiſſenſchaften Herrihenden Methoden und der zeitweilig für gefichert geltenden Erfenntnifle gerät; das ift zu bes Origenes

Auttirchliche Lefrftreitigkeiten, 179

Zeiten nicht anders geweſen wie heute. Damals wurbe fie nette platonifch:ibealiftiich, heute wird fie neufantifd, empiriftiich und fubjektiviftiih. Da bedarf es feiner Klagen und Anklagen, fondern der ruhigen Erfenntniß, daß die Theologie, wie alle Wiſſenſchaft, von fi aus in ber That nur bie Erſcheinungen, das Erfahbare zum Gegenjtand haben kann, daß fie feititellen kann, was bei ben Menden möglid) oder unmöglid ift, daß fie aber ftillguftehen hat bei der Frage, was bei Gott möglich oder notwendig iſt, bei dem Gebiet des Glaubens. Denn der Olaube ift feiner, ber an ben Erſcheinungen Haftet, der nicht überzeugt ift, das Weſen ber Dinge felbft zu erfaſfen. Co kann ber Glaube nicht babei Rehen bleiben, zu fagen: was Jefus Chriftus Seinem Wefen nad fei, fönne unentſchieden bleiben, nur auf den Eindrud fomme es an, ben wir von Seiner hiſtoriſchen, menſchlichen Erſcheinung haben. Hiftorifche Erſcheinungen können wohl anregen, erheben, von trüben, ja verzweiflungsvollen Stimmungen befreien, fie können aber nicht die Welt überwinden, denn fie ſtehen mitten in der Welt.

Der Glaube ftrebt aber aus biefer Welt hinaus, weil er ſich bewußt it, felbft von außerhalb biefer Welt der Sünde und bes Todes zu ftammen. Co genügt ihm denn nicht ein Gott noch fo naheftehendes Weſen, nur Gott felbjt ann ihm genügen, aber nur dann, wenn Er wirklid und wahrhaftig in dieſe Melt eingetreten ift. Die Theologie wird nur dann ihre Aufgabe in ber Kirche und für bie Kirche erfüllen Tonnen, wenn fie dieſes Bedürfniß bes Glaubens anerkennt, wenn fie den Anſpruch ber hriftlicen Reli: gion refpeftirt, nicht eine Religion unter vielen, vielleicht die relativ volltommenfte zu fein, ſondern die einzig wahre, der einzige Weg von Gott zum Menjchen, vom Menſchen zu Gott.

So hat es fi) in jenen uns jo fremd dünfenden Zeiten um diefelben Fragen gehandelt, die heute die tiefiten und ernteften Chriften bewegen. Das barf uns wohl zu größerer Achtſamkeit auf die Errungenfchaften dieſer Zeiten mahnen, das barf aber auch bie alttirchlich Gefinnten unter uns mit fefter Zuverſicht erfüllen, daß dieſe Errungenihaften, bie altkirchlichen Dogmen, nie ihre einzigartige Bedeutung für bie Hriftlihe Kirche verlieren werben.

gr

Litterärifhen.

1 Naifer Wilhelm I. und VBismard. II. Aus VBismarde VBrieftwechfel. Anhang zu den Gcdanfen und Erinnerungen von Otto Fürft von Bismard. (Derausgegeben von Horit Kohl.) Stuttgart und Berlin 1901. J. G. Cottajche Buchhandlung Nachfolger.

Diefe bereits vor bem Erſcheinen vielbeſprochene Edition von Briefen und Depeſchen ift aus ber Nnorbnung bes veremigten Fürften Bismard hervorgegangen, wonach „beftimmte Stüde aus feinem perſönlichen Briefwechſel politiſchen Inhalts als Belege und Ergänzungen feiner felbftbiograpgifhien Darftelung ber Oeffem⸗ lichfeit übergeben werben follten.“ Der Fürft felbit hat bie zu publigirenden Stüde bezeichnet und ebenfo jelbft beftimmt, welche Briefe des Kaiſers als befonders charalteriſtiſch in autographifchen Nachbilbungen hinzuzufügen feien. Korft Kohl, ber bewährte Heraus- geber bes litterariſchen Bismarcknachlaſſes, hat in ben erfien Band biefer Edition auch alle ſchon früher befannt gewordenen Stüde des Briefwechſels mit bem Naifer aufgenommen, fo daß hier nun bie gefammte Korrefpondenz vereinigt ift, wobei freilich bie Vor— enthaltung einzelner Stüde „aus höhern Rückſichten“ einftweilen nicht ausgeſchloſſen fein fann. Wir zählen 229 Briefe bes Kaiſers (mit 5 Unlagen), 129 Briefe bes Fürften (mit 7 Anlagen) und einen Dankbrief ber Fürftin an den Kaifer. Nur wenig mehr als ein Viertel davon war früher befannt. Das bezeichnet ſchon den Wert des Bandes.

Die Beziehungen Bismards zu feinem Könige und Kaijer barf man als ein leitendes Motiv feiner Gedanken und Erinne- rungen betradhten. Sie find nun in dokumentariſcher Treue von neuem bem deutſchen Volke vorgelegt und werben für alle Zeiten bie tiefe Wahrheit jenes herrlichen Nefrologes bezeugen, ben ber große Kanzler am Tobestage feines Herrn im Reichstage ſprach. Denn aus ben Briefen bes Kaiſers leuchtet das edelſte Gefühl wie von ber Würbe fo von ben Pflichten bes Herricheramies, leuchtet neben einer heldenmütigen Tapferkeit und dem vornehmften EHrgefühl demütige Frömmigkeit und tiefe Kerzensgüte, neben

Litterärifges. 181

einer hingebenden Liebe zum Vaterland echte Treue und neidlofe Danfbarfeit gegen feine und feines Staates großen Diener. Solden Eigenſchaften ftehen gegenüber in den Ranzlerbriefen bie geniale Geiftesgröße und bie eiferne Willenskraft und Treue, die ben Deutfcen das Reich gründeten durch ben Krieg und unzerjtörbar machten durch ben Frieden. So führte und leitete Bismard fein Volk und feinen König und Kaiſer. Daß bie große Verſchiedenheit der Individualität dem Herrn wie dem Diener mandjen ſchweren innern Kampf auferlegte, fteigert auch bei den Briefen unfer pſycho⸗ logiſches Intereffe und mindert keineswegs unſere Ehrfurdt. Immer fiegte auf beiden Seiten bie Treue.

Der zweite Band enthält 53 Briefe Bismards und 310 Briefe von Stantsmännern und fürftlichen Perfönlichfeiten an ihn, acht andere Briefe als Anlagen. Bon allen diefen Stüden waren früher nur ſechs gebrudt und zwar ſehr fehlerhaft. Das Schwer: gewicht das Bandes fällt mod) auf bie Frankfurter acht Jahre, zu beren ſchon befanntem Reichtum an Material wichtige Ergänzungen geboten werben, allein 67 Briefe bes Minifterpräfidenten Manteuffel. Dazwiſchen ftedt auch ein ganz unpolitiicher Brief des Grafen Alerander Keyferling, ber in liebenswürdig humoriftiiher Ausdrucks⸗ weiſe baltiſches Stillleben ber alten Zeit malt, „mo man viel beiler ohne Bureaufratie lebt.“ Aus ber Petersburger Zeit von 1859 bis 1862 liegt nichts vor, was für die Geheimhaltung ber Berichte Bismards über ben Gang der ruffiihen Politik entſchädigen könnte. Die wenigen Stüde behandeln innere deutſche Fragen, Beziehungen zu Frankreich und Perfonalien. Aus den Minifterjahren Bismards 1862—88 iſt wohl manche wichtige Beſtätigung bes Bekannten, aber nur wenig Neues geboten; bas Wenige freilich ift intereflant und wichtig genug. Sieht man aber auch in bie Fülle der übrigen Bismardlitteratur hinein, fo hat man nur zu oft zu erwägen, daß die Unvollftändigfeit des authentifchen politiſchen Materials abfchlier Hende Urteile verbietet. So enthält diefer zweite Band aus dem großen Kriegsjahre 1870— 71 nur ein Stück! Es iſt ein Brief bes Petersburger Botſchafters, des Prinzen Neuß, der, wie ſchon ein früherer Brief vom Jahre 1867, bie deutſche und antinapoleoniſche Gefinnung ber Großfürftin Helene Pawlowna bezeugt. Die Groß— fürftin vertrat diefe Gefinnung energiih gegen „alles ſchwächliche Gewinfel“ von der Barbarei bes Krieges. Intereſſant ift, wie

182 Litterärifges.

Fürft Gortſchakow 1867 Bismard in deſſen vielfahem Parlaments: ärger damit tröften läßt, daß die Minifter der Eonftitutionellen Staaten, bie auf alle Angriffe öffentlich) antworten fönnten, es doch viel leichter Hätten als andere, die man in Ermangelung eines Parlaments fiets im Dunkeln angreife, wie e8 ihm, Gortſchakow, fortwährend paffire. Ein nod früherer Brief des Prinzen Neuß bringt bie jehr bemerkenswerte Feftftellung, baß 1863 der eigentliche Grund der Einmiihung Franfreihs in bie polnifchen Angelegen- heiten ber Wunſch gewefen fei, in einem „unabhängigen“ Polen eine Handhabe zu erlangen, um zugleih auf Preußen und auf Defterreich zu brüden. Wir heben fonft hier mod) hervor die 38 Briefe des Kronprinzen Friedrih Wilhelm, die erfennen laſſen, wie aud ihn bie Größe ber Staatskunjt innerlich wandelt; die Gambelta-Epifode von 1877—78, wo bofumentarifd) bargelegt wird, daß eine Entrevue Gambettas mit Bismard wohl geplant, aber nicht ausgeführt wurde; enblih bie wichtigen Stüde zum Abſchluß der Defenfiv-Alliang mit Defterreih von 1879, ber maß— gebenden neuen Grundlage des europäifchen Friedens, die Bismard den legten ſchweren Konflift mit feinem Seren koſtete. Der Band fchließt mit ben Meldungen ber Flügeladjutanten von ber legten Krankheit des alten Kaifers und mit dem Telegramm des Hof- marſchalls über die Ankunft des todtkranken Nachfolgers, alfo mit der großen Tragik des Jahres 1888.

Die Form der Edition ift feine wiſſenſchaftliche; fortlaufende Angaben über bie Tertüberlieferung fehlen, obgleich bie Bemer— fungen zu ben Wiederholungen im zweiten Vande bie Wichtigfeit der Weberlieferungsart deutlich zeigen. Es ift aud) nicht gefagt, daß in den gegebenen Terten feine Auslaffungen geboten waren.

Die Bismardlitteratur wächſt von Jahr zu Jahr gemaltig. Aber die wahrhaft wiſſenſchaftliche Erkenntniß fteht da noch in bürftigen Anfängen. Sie wird nur zu oft durch unkritiſche oder hyperkritiſche und tendenziöſe Auffaſſung und Behandlung geſchädigt, die fortwährend über die Thatſache hinwegſehen will, daß das wirklich authentiſche Material noch ganz und gar unvollſtändig ült. Es giebt nur zu viel Bismard- Freunde und -Verehrer, die an ihm Stüpen für ihre Parteiſucht oder für ihre Eitelfeit zu finden ſuchen und burd ihn, deſſen Größe in der intuitiven Erfenntniß ber Wirklichkeit und in der Freiheit über allen Dogmen wurzelte, dem

Sitterärifges. 188

eigenen furzfichtigen Doftrinarismus zur Geltung bringen wollen. Andere wollen gar jo jharfjinnig fein, ihn, deſſen Thaten uner— reichbar über ihrem Horizont ſtehen, hinterher zu meiltern, ober ſuchen mit Behagen nachzuweiſen, daß auch biejer Große in jo vielen Dingen menſchlich ſchwach gewejen ſei. Durch ein foldes Treiben jollte man ſich den unmittelbaren Genuß an dem köſtlichen litterariihen Schage, den Bismard feinem Volk Hinterlafien hat, nicht trüben laffen. Einen folhen Genuß bietet aud) der „Anhang” zu den großen Gedanfen und Erinnerungen. 0. 8t.

Dr. 3. Jaſtrow und Dr. G. Winter. Deutfche Geſchichte im Zeitalter der dohenſtaufen (1 273). Bweiter Band (LIOO--1279). Aus: Bibliothek deuticher Geſchichte. Stutigrt 1901. I. ©. Cotiaſche Buchhandlung Racfolger.

Der erite Band biefer Abteilung bes großen populären Geſchichtswerles erſchien 1896 und iſt im 45. Bande unferer Monatsſchrift S. 265 ff. von H. D. angezeigt worden. Der jegt vorliegende zweite Band iſt bis auf feinen erjten, mit dem Tode Kaiſer Heinrichs VI. ſchließenden Abſchnitt, dem nod) ein Entwurf Jaſtrows zu Grunde liegt, bie alleinige Arbeit Winters. Er hat ben Stoff in drei Bücher gegliedert, die er als Zeitalter Innocenz' IIL., Friedrichs II. und bes rheinischen Bundes bezeichnet. Es iſt weſentlich politiſche Reichsgeſchichte: von der Machtfülle Heinrichs VL. zur Machiloſigleit Richards von Cornwallis, deifen „Bebähtniß wie ein Schall verflog”, von ber Vergeshöhe der ftaufiihen Kaiferidee zur Niederung des „großen Interregnums” und feiner Anarchie. Die Stauferzeit wird immer die anziehendſte Periode des deutſchen Mittelalters bleiben. Die Meinungen und Urteile über die in ihr herrſchenden Tendenzen werden freilid) jtets verfchieben fein. Denn das Hauptthema, die große Frage nad ben Grenzen der welt: lien und geiftlihen Gewalt, ſcheidet noch in unferer Gegenwart bie politifhen Parteien und wird ſchwerlich in abjehbarer Zukunft endgültig erſchöpft fein. Damals fand feine Behandlung Teiden- Ihaftlichfte Teilnahme und gewaltige Perfönlichfeiten als Führer im Kampf. Auf Barbaroſſa, den Herrliden Typus mittelalter- lichen Herrſchertums, und jeinen hochbegabten Sohn Heinrich folgte in Friedrich II. die ausgeprägtefte Individualität, die wir aus der Ueberlieferung des Mittelalters zu erfaſſen im Stande find. Solchen weltfien Repräfentanten jtanden in Alexander ILL, Innocenz ILL,

184 Litterärifhes.

Gregor IX. und Innocenz IV. Papftharattere bebeutendfter Art gegenüber, eine Folge, wie fie fein anderes Jahrhundert ber Papit- geſchichte aufzumeifen hat. Diefe Zeit ift reizvoll wie durch bie KRontrafte und überrafchenden Wandlungen ber großen Politik, fo durch die innere Entwidelung ber Verfaſſung, die dem Partikula—⸗ rismus ber Territorialgewalten eine entjcheidende Bedeutung ver- leiht; wie durch die gewaltige Kraftentfaltung bes deutſchen Volls— tums nad Often Hin, bie in Kolonifirung und Germanifirung Schöpfungen von weltgeſchichtlicher Bedeutung vollzieht, fo durch den Beginn einer großen wirtſchaftlichen Umwälzung, die das bare Geld zu einem entſcheidenden Kulturfaltor macht; und zufegt gewiß nicht am wenigfien durch die erfte Blüte der deutſchen National: fitteratur, die die großen Erſcheinungen der Zeit poetiſch verklärt. Schon Martin Luther beflagte „bie Unterdrüdung ber teuren Fürften Friedrichs des Erften und bes Andern durch die Päpfte* als ein nationales Unglüd, Leopold Ranke jah in ber Ungeredjtig- feit jener päpftlihen Politit den erften Grund zu bem fpäteren Abfall von der Kirche, Jakob Burkhardt bezeichnete Friedrich II. als den erften modernen Dienichen, und in ber hiſtoriſchen Litteratur der Gegenwart tritt bie Anjchauung hervor, daß bie Renaiffance- Kultur und ber moderne Inbivibualismus weniger in ber Wieder aufnahme ber Antife als vielmehr in den ſozialen und religiöfen Bewegungen bes 12. und 13. Jahrhunderts wurzeln. Andrerſeits wirft der Geift jener Päpfte bis in unſere Tage hinein gemaltig auf viele Menſchen. Hat doch die Bewunderung ihrer Politik, bie Klarheit und Zolgerictigfeit ber päpftlichen Briefe und Defre- talen aus jener Zeit noch im 19. Jahrhundert proteftantiiche Theologen und bedeutende Hiftoriter zu überzeugten Dienern Noms gemacht (einen Aug. Friedr. Gfrörer und einen Friedr. Hurter, die Biograpfen Gregors VII. und Innoceny’ III.).

Bei ber Fülle des Stoffes war für den Zeitraum von 83 Jahren aud) in einem Bande von 672 Seiten ſtarke Beihrän- tung zu üben. It auch diefe Neihsgeihichte zumeilen mehr italienifch als deutſch, ſo mußten vor ihr doch wichtige Partien ber deutſchen Volksgeſchichte zurüdtreten, da fie ein zu betaillirtes Eingehen auf die Territorialgeſchichte fordern. Die Reichspolitit ruhte eben ganz auf ber Verbindung der Staufer mit Reihsitalien

Titterärifges. 185

und dem fizilifhen Königreie; ber Norden und Often, wo bie Zukunft der Nation lag, entfrembete ihr immer mehr.

Winters Arbeit fteht auf dem feſten Grunde, den die kritiſche dorſchung der legten Jahrzehnte gelegt hat, vorzüglid auf ben NRefultaten Jul. Fiders, Ed. Winkelmanns und Paul Scheffer⸗ Boichorſts. Aber der Verfaffer läßt die zeitgenöſſiſchen Quellen auch aus eigener Anſchauung reden. Wir verweilen auf feine Charakteriftit Friedrichs II., die ein forgfältiges Studium ber Korreſpondenz bes Raifers und ber Päpfte erfennen läßt. Im ihrer maßvollen und vorſichtigen Faſſung erinnert fie uns an bie einft von Georg Wait gegebene, zeigt aber auch ben Fdortſchritt ber Forſchung. Daß „das Verhängniß feines Lebens“, bie Ablehnung ber Untermerfungsbebingungen bes lombarbif—en Bundes nad) dem Siege bei Gortenuova, bei dem genialen Staatsmann auf Rachedurſt zurüdzuführen fei, mödjten wir jedoch nicht annehmen. Die Ueberlieferung jener Verhandlungen ift unvollftändig und un- ſicher, und ber Rachedurſt als Motiv ſcheint uns hier pſychologiſch nicht zu fiimmen. Das tragiihe Geſchick Friedrichs mahnt freilid, an das Wort, das felbft ein Bismard auf ſich bezogen hat: fert unda nec regitur.

Die Stauferzeit Hat bie livländiſche Geidjichte geboren. Wer für diefe Verftändniß haben fol, muß aud die deutſche Reichs- gefhichte fennen. Das alte Livland war ein Glied bes Reiches. Standen bie Staufer felbft aud; Livland fern, ihr großer Kampf gegen bie geiftliche Gewalt hat doch die Geidhide des fernen Landes mächtig beeinflußt. Für Jahrhunderte ift diefer Kampf von ben livlãndiſchen Territoriafgewalten aufgenommen unb geführt worden. Winter Hat die Anfänge ber livländiſchen Geſchichte fehr kurz, aber in richtiger Auffaſſung in feine Darftellung aufgenommen. In größeren Darftellungen unter einer gewiſſen Ungenauigfeit ber Daten zu leiden ift freilich bie livländiſche Geſchichte gemohnt. Der Bau ber erften Kirche in Uerfüll war in bas Jahr 1184, nicht in das folgende zu fegen; bie Velehnung Biſchof Alberts durch König Philipp fand nicht „im Winter von 1205 auf 1206“, fondern 1207 zwiſchen dem 1. und dem 8. April auf dem von Binter (5. 164) beiprodenen Hoftage zu Sinzig am Nieberrhein Natt (vgl. Ed. Winkelmann in Mitteilungen d. Gel. f. Geld. und Altertumst. in Riga, Bd. 11, ©. 310 ff.); daß für die Ummand-

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fung bes deutſchen Krankenpflegerordens in Affon zum Nitierorden das Jahr 1188 ftatt 1198 angegeben wird, kann natürfih nur ein Drudfehler fein. Die Bezeichnung bes „Ordens ber Brüder der Nitterfchaft Chrifti" als des nahmaligen Schwertritter⸗ orbens Tann mißverftändlid) fein. Jene Brüber wurden von ihren Rechtsnachfolgern, den Deutihorbensbrübern, und dann überhaupt ſchon im 13. Jahrhundert Schwertbrüder genannt. Die Erhebung der rigifhen Kirche zum Erzbistum, bie Stellung des Deutſchen Ordens zu ber kirchlichen Organifation in Preußen und Livland hätten wohl nod in den Rahmen dieſes Bandes hineingepaßt. Richtig hervorgehoben ift die politiie Stellungnahme bes Deutſchen Ordens zum Kampf zwifden Kaiſer und Papſt. Die Hodmeifter nit allein Hermann von Sala (1210—39), fondern aud Zandgraf Konrad von Thüringen (1239—40) und Gottfried von Hohenlohe (1244—49) waren fehr Hervorragende Staatsmänner Friedrichs, aber fie verftanden ihre ftaufiihe und nationale Gefin- nung mit dem für ben Orben notwendigen Verhältniß zu den Papften zu vereinigen. Für bie nationale Haltung bes Ordens ſpricht aud) fein fpäterer Beitritt zum xheinifchen Bunde. Seiner Gefinnung und feiner nationalen Politik verdanfte der Orden in Deutfchland das große Anſehen und das jehr bebeutende Wachstum feiner Befigungen. Im Sommer 1237 rieten auf einem Ordens: Tapitel in Deutihland an 100 verjammelte Orbensbrüber ihrem Meifter Hermann von Sala, er möge nicht mehr an den Ber- mittelungsverfuchen bei Papſt Gregor IX. teilnehmen ; bie deutſchen Fürften fönnten ihm das verübeln. Diefe 100 waren doch wohl nur befonbers angefehene und höher geftellte Brüder. Man fieht, es war dem Kaiſer Friedrich II. gelungen, im Deutſchen Orden „eine Verbindung bes deutſchen Adels zu idealen Zweden in Gang zu fegen.“ Um 1240 flieg bie Frequenz im Orden auf 2000 Nitterbrüber, unter denen beſonders ftaufiihe Minifterialen durch militärifhes und diplomatiſches Geſchick hervorragten. Das fam aud) Livland zu ftatten. Wir empfehlen die ſchlicht und einfach, ar und deutlich geſchriebene neue Geſchichte ber Stauferzeit dem baltijhen Publitum. 0. St. Herm. Türk. Der geniale Menſch. Berlin, F. Dümmler. 5. Aufl. 1901. Intereffant iſt diefes, leider durd) große Neklame verdächtigte Bud) jedenfalls. Schon die Verfgiedenheit der Beurteilung durch

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die Krititer, von großer Anerkennung bis zu entſchiedener Ableh— nung, ermwedt das Intereffe unb zeigt, daß es fein gewöhnliches Buch, fein Durchſchnittomachwerk ift. Der Erfolg aber fünf Auflagen in fünf Jahren beweift erfreulich, daß es wieder Menſchen giebt, melde Werte mit tieferen Aufgaben in deutſcher Sprache goutiren.

Türck ftellt fi) die Wufgabe, das Wefen des Genies oder des genialen Menſchen zu ergründen. Zur Erreichung dieſes Bieles gehört eine feine pihchologiſche und fpeziell anafytifche Begabung, bie etwas dem Genie Kongeniales haben muß. Sehen wir auf das Ganze, jo haben wir nicht den Eindrud, als ob Türd feiner Aufgabe ganz gewachſen ift, obgleich im Einzelnen viele feine Züge bes Oenies angeführt und biefe leiber beftänbig wieberholt werben. Ganz abgerundet und erſchöpfend ift das Bild entſchieden nicht.

Sehen wir genauer hin. In drei einleitenden Abfchnitten unterſucht Türd das Weſen des Genies und findet es im Anſchluß an Schopenhauer und Goethe in volltommenfter Objektivität einer⸗ ſeits und in MWahrheitsliebe andererjeits. Beides vereinigt ſich zum zufammenfaffenden Urteil: dem Genialen eignet eine „ſelbſt⸗ loſe Vertiefung in die Natur der Dinge.” Nach ber Seite des Empfindens giebt e8 eine fünftlerifde Genialität; fie wird an Hamlet, Fauft und Manfred nachgewieſen. Auf das Denken gerichtet it die philofophifche Genialität. Ihre Haffiihen Vertreter Hier find merkwürdiger Weile Schopenhauer (obgleich biefer zum Glüd auch manden Wiberfprud) erfährt) und Spinoza, von bem zu viel Entzückendes gefagt wird. Wird endlich das Handeln in ben Vordergrund gerüdt, jo entjteht die praktiſche Genialität, welde zum Teil als religiößsethiiche in EHriftus und Bubdha verkörpert ift, zum Teil als „weltliches Uebermenſchentum“ in Alexander, Cäfar, Napoleon ihre Gipfelpunfte hat. Den Schluß bilden Rritifen, und zwar fehr ftrenge, aber wirklich gerechte Rritifen, über Lombroſo, den „unlogiihen, pfeudo: wiſſenſchaftlichen Phantaften“, über Niegihe, den „moraliſch Schwachſinnigen“ (Dies jedoch nur eine Seite von Niegiche), über Ijen, ben „egoiftiihen Pſeudo-Poeten“.

Im Wefen bes Genies ſcheint mir ein jehr wichtiges Stück zu fehlen, nämlid) der treue Fleiß, die hingebende Arbeitsliebe bes Genies. Cs gehört mit zu feinem Wejen, font wird es zu

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feinem eigenen Zerrbilde, zum verbummelten Genie. Dieſe Seite fommt nicht zur Geltung, wird in ber „felbftlofen Vertiefung“ nur gejtreift. Das Beite an dem ganzen Bud) find die Analyſen der Dichterwerke: Hamlet und Fauſt. Der Verfaffer iſt fehr ftolz darauf, daß biefe jeine Analyfen auf die Schaufpieltunft bahn- brechend eingewirkt haben und einer ber größten Dariteller des Hamlet, Jofef Kainz, durch fie zu einer völligen Nenderung feiner Darftellungsweife veranlagt ift.

Die ſchwächſten Partien dagegen find die theologiichen. Schon der Abſchnitt über „Gott und Welt“, der einzige unpopuläre Zeil des Ganzen, ber ſich auch felbft nur als „Anhang“ einführt, verläßt mit ber Popularität auch bie fonftige Alarheit ber Sprade, wird dunkel und myſtiſch und ermedt fortlaufend den Gebanten, daß nicht nur die Worte unklar find. Der Standpuntt it ungefähr ein fpiritualiftiiher Pantheismus, da ift etwas von Spinoza, etwas Hegel, aud) etwas Fichte drin. Aber bei aller Bemühung gelingt es nicht, dieſes Wortgefüge mit der theiſtiſch-chriſtlichen Welt: anſchauung in Einklang zu bringen.

Erſt recht deutlich wird das in dem Kapitel über Chriſtus. Die Auffafjung Jeſu als des Typus eines genialen Menſchen wird ber Einzigartigfeit des Gottmenſchen nie gerecht werden. So ift denn auch die Umbeutung der meiften Hriftlichen Begriffe, ſpeziell bes Reiches Gottes auch natürlich des Begriffes „Satan“ direkt oberflädlih. Vollends bie Analyje des Seelenlebens Jeju nad der Verſuchungs-Geſchichte, Die fi zur ernithafteften Behauptung von Selbftmorbgedanfen vor ber zweiten Verjuhung verfteigt, iſt nicht nur fehr ungenial, fondern einfach unerlaubt, um nicht zu fagen: blasphemiſch. Niemand hätte von dem Verfafjer fpezielle theologiſche Studien verlangt, Niemand ihm einen Vorwurf machen fönnen, wenn er die Berfon Jefu überhaupt aus dem Spiel gelaſſen hätte. Denn um eine fo einzigartige Erfheinung annähernd forreft zu ſchildern, dazu reichen nicht ein paar entlehnte Gebanfen über das Genie aus, dazu muß man fid) vor Allem eingehend in bie Quellen und beren Studium vertiefen. Das ift nicht Jedermanns Sade, ganz und gar nicht die Sade Hermann Türds, ber ſich damit begnügt, einzelne Säge aus einfeitigen theologifchen Werten abzuſchreiben. Er fagt: „ect iſt im Iohannes-Evangelium nur eine Stelle, Rap. 8, 1—11“ (©. 258). Ich frage: woher weiß

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er das? Die geradezu großartige „Einleitung in das Neue Teftament” von Zahn wagt er ohne Beweis „in ben Grundzügen durchaus unzureichend und verfehlt” zu nennen.

Ueberfehen wir bie 55 Seiten bes pfeubo » theologiſchen Abſchnitts, fo bleibt genug übrig, um Anregung zum Nachdenken aus biefem glatt und gut geichriebenen Buch zu ſchöpfen.

Ernst Külpe.

Adolf Schmitthenner. Neue Novellen. 1901. 437 ©.

Wenn ich gelegentlih auch Unterhaltungsleftüre in ber „Monatsfchrift” zur Anzeige bringe, jo möchte ich damit benen einen Dienft erweifen, die nicht in ber Lage find, felbft viel zur wählen oder zu prüfen, fondern gerne einen fideren Hinweis darauf haben, was etwa auch geeignet it am Familientiſch, bei herbftlicher und winterlicher Lampe gelefen zu werben. Da die Lefer ber Monatsihrift den Standpunft fennen, den id ab und zu aud) Hier zu vertreten die Möglichkeit habe, jo werben fie ja wiſſen, ob fie die von mir befprodhenen Bücher in bie Hand nehmen follen ober nicht. Ich beginne mit einigen Büchern aus dem trefflihen Grunomijchen Verlage in Leipzig. Dan kann, wenn man einem belletriſtiſchen Werk aus biefem Verlage begegnet, fiher fein, etwas Gehaltvolles und Lefenswertes zu erhalten. Natürlich) find auch Hier nicht alle Publifatienen gleichwertig, aber man fann fid) darauf verlaffen, nie etwas wirklich Schlechtes und Berwerflihes zu finden. Ich ermähne heute brei Bücher aus diefem Verlag die Ausftattung ift bei allen diefelbe anſprechende und geihmadvolle. Zunãchſt die neuen Novellen von Schmitt⸗ henner, ein durchweg unterhaltendes und erfreuendes Bud. Die Erzählungen aus dem alten Heidelberg find voll ſchöner Lebens: wahrheit und fpiegeln trefflih den Geift ber Zeit wieder, in ber fie fpielen. „Der Seehund“ ift eine ber hübſcheſten Kinbers geſchichten, bie ich fenne. Im „Cello“ maltet ein übermütiger Humor, ber nicht verfehlt, die Vereinsmeierei unferer Tage mit mandjer treffenden Spige zu berühren. Leichtere Darbietungen find die Novellen von

Hand Grunow: „Bom Wege.” (Huf der Am. Das Mannlein. dinab.) 1901. 192 ©. Doch auch fie find überall feffelnd und amüfant. Die zweite

190 eitterärifges.

Erzählung ift von einem mic) wenigitens fehr angenehm berührenden phantaftiichen Element belebt. Cin ganz eigenartiges Buch ift bie Erzählung von

Georg Stellanus: Blau und Weib. 2 Bände. 1901. 462 und 373 ©.

Der erfte Band ift jeden Lobes wert. Der Verfaſſer charat- terifirt felbft feine Schreibweife durchaus zutreffend jo (1, 206): „Das Bäcjlein unferer Erzählung ſchlängelt fid) behaglid im Flachland zwilen Wieien und niedrigem Bufcwert dahin.“ Gewiß wünſcht man der Erzählung dazwiſchen ein Iebhafteres Gefälle, aber doch habe ich ben erften Band mit ununterbrodenem Dergnügen gelefen. Cs geidieht in bem ganzen umfangreichen Bande thatjächlih nichts und dod) wird man durd) die ungewöhnlich feine, geift- und humorvolle Darftellung gefeilelt. Es ift eine Reihe von Genrebildern aus dem militärifhen und fleinbürger- lichen Leben eines beutfchen Stäbtchens; nicht felten meint man ben Altmeifter Wilhelm Raabe zu hören. Es wird durd bie Lektüre eine fortbauernde behagliche Stimmung erzeugt, bie wirklich angenehm it. Leider hat das Bud; noch einen zweiten Band. Diefer verfegt uns in die höhere Geſellſchaft einer Nefibenz, und damit beginnt eine betrüblihe Langeweile Plag zu greifen. Daß ein ganzer Band von 373 Seiten davon handelt, wie die vornehme Welt lebende Bilder und eine Quadrille im Koſtüm aufführen will, ift des Guten viel zu viel. Daß dazwiſchen ganz unmotivirte, mit ber Schlichtheit bes erften Bandes unerfreulich fontraftirende romantiſche Epifoden eingeftreut find, ein feit Jahrzehnten getrenntes Ehepaar trifft ſich wieber, ein in zarter Jugend ſchnöde verlaffenes Kind wird als tugendhafter Jüngling wiedergefunden ; für wertlofes Glas gehaltene Steine entpuppen ſich als unſchäßbare Diamanten, das Alles jteigert nur das Befremden an biefem zweiten Bande. Wem es aber feine Mittel erlauben, um des eriten Teiles willen auch den zweiten mit in den Kauf zu nehmen, dem kann die Anfdaffung nur beftens empfohlen werben.

Iſolde Kurz. Genefung. Erzählungen. Leipzig, Hermann Seemann Nachfolger. 1902. 232 ©.

Vortrefflich geichriebene Novellen. In der erfien waltet ber ganze Zauber der alten Wunderftadt Venedig. Es ift wirflih ein ſchönes Märchen, das man lieft; um fo weniger begreift ſich ber ganz unnüge Zug, daß ber Held der Erzählung ein Kind ber

Litterärifhen. 191

Sünde ift. Diefe Thatſache ift für fein Schidfal ohne jebe Bebeutung, da er felbft nichts davon ahnt. Die zweite Novelle erinnert mid an die beten Erzählungen des heutzutage viel zu wenig gefannten Ernft Theodor Amadeus Hoffmann. :Das Hinein- ragen bes Uebernatürliden in das alltägliche Leben ift meifterhaft geſchildert und es iſt echt Hoffmanniſch, daß man zulegt im Zweifel bfeiben muß, ob das grauenhafte Element, das zerftörend in das freitih nicht reine Glüd eines jungen Ehepaares eingreift, wirklich, übernatürlich ober nur unerklärlich menſchlich vermittelt ift. Die dritte Novelle ift eine geiftvolle Skizze, die allerdings unter ftarfer Unnatur leidet. Das tragiſche Moment ift, da der Held „Pelops Müller” heißt. Nun ift es gewiß nicht angenehm, wenn man von einem unvernünftigen Vater den Namen „Pelops“ erhalten hat, aber vernünftige Menſchen haben noch viel unerträglicere Namen zu erfragen gewußt.

Zum Schluß erwähne id) noch einige theologiſche Bücher, bie in weiteren Laienlreiſen Eingang zu finden durdaus geeignet find. Von dem Roman „Jörn Uhl“ hier noch zu reden, ift zwecklos. Diejes Bud) ift fo allfeitig ſchon anerkannt worden, und zwar mit vollem Recht, daß wir nur fagen können: wer es noch nicht fennt, ber laſſe es fich fofort fommen und leſe es! Aber mir wenigitens war es noch unbefannt, daß von dem Verfaſſer des fo ſchnell berühmt gewordenen Romans, Paſlor Guftav Frenſſen in Hemme, Holftein, auch Predigten im Druck erſchienen find. Dir liegt vor der erfte Band von

Guftav Frenfjens „Dorfpredigten“. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht. 1902. Dritte Auflage. 189 S.

Dieſe Predigten überrafchen durch ihre Originalität, ben Reichtum und die Tiefe der Gedanken bei großer Schlichtheit der Rebe. Aus dem Leben des Volkes ſchöpfen fie ihre Bilder und Gleichniſſe und das alltägliche Ergehen, das Arbeiten und Mühen, das Sorgen und Leiden des Bauern jtellen fie in das Ewigfeits- licht des Evangeliums, aber fo, daß jeder Stand und jeder Bil- dungsgrad aus ihnen wertvollfte Anregung entnehmen kann. Diefe Predigten feien auch unfern evangeliichen Häufern warm empfohlen.

Von dem hier ſchon mehrfach erwähnten ſchönen Frommel- Gedenkwerk ift der fünfte Band erfchienen unter dem Titel:

192 Bitterärifhen.

Emil Frommel. Segen und Troft. Reben aus dem Amt. Berlin, Nittler und Sohn. 1902. 306 ©.

Der Band enthält das, was wir Rafualreden zu nennen pflegen, geiftlihe Anſprachen bei Taufen, Ronfirmationen, Traus ungen, Beerdigungen ꝛc. Wenn der Herausgeber, Pfarrer Otto Frommel, bie Hoffnung ausipriht, dah das Bud) nicht nur Pre: digern, fondern auch Laien Vieles bieten werde, fo wirb ihn biefe Hofinung ſicher nicht täufchen. Auch biefer Band bes Werkes verbient es, ein rechtes Hausbuch bei uns zu werben.

Endlich) liegt zur Anzeige vor:

©. Burkhardt. Die Auferitchung des Herrn und feine Erfcheinungen. Zweite mohlfeile Ausgabe. Göttingen, Bandenhord und Ruprecht. 1902. 288 &. 1 M. 80 Pi.

Die Abſicht bes Verfaſſers ift eine doppelte. Die Berichte über die Erfheinungen des Auferftandenen, wie bie vier Evangelien fie bieten, find ja mannigfaltig und fägen fi nicht leiht in ein Gefammtbild. Wenn nicht anders, fo weiß man aus dem Streit, der ſich an die Veröffentlichung ber „Wolfenbüttler Fragmente“ durch Leſſing knüpfte, daß gerade bie Differenzen der evangelifchen Berihterfattung in Bezug auf bie Auferftefung Jeſu benupt worben find, die Thatfache Telbft als zweifelgaft Hinzufiellen. Der Verfaffer ſucht nun ein einheitliches Bild ber ebangeliſchen Geſchichte, die ben Zeitraum von Dftern bis Himmelfahrt umfaht, Herzuftellen. Es ift ihm wohl gelungen und es muß anerfannt werben, daf er es gethan hat, ohne zu den Künften einer gewaltfamen Apologetik zu greifen. Dann aber wollte ber Verfaller aud) „gerne zeigen, melde Fülle von erbauender Kraft zur Stärfung des Glaubens und zur Befeftigung des Wandels gerade in den Erzählungen von der Auferftehung des Herrn und von feinen Grideinungen für ben einzelnen wie für bie Gemeinde der Gläubigen liegt” (S. IV). Wenn aud) gerade die „grunblegenben Crörterungen” (&. 1—20) in Bezug auf das „Wie“ der Auferftehung an mander Unflarheit Teiden, fo bleibt das Ganze doch ein fehr lefenswertes Bud.

H. Eisenschmidt.

Gin ungedendter Aufſaß von Victor Hch

Mitgeleilt von Georg v. Sabler.

Vorbemerkung.

Die in Rachſtehendem gebrudte Meine Abhandlung Bictor dehns war bisher völfig unbekannt; fie ift fürzlich, bei Gelegenheit der Arbeiten zur Geſchichte ber heimiſchen Univerfität, im Nedjioe der epteren zu Lage geireten. Heuerlich angefehen, Hat das Manufkript den Umfang eines Bogens und ift in Heinen, rigen, regelmäßigen Federgügen, wie fie Hehn ſteis eigen waren, fauber gefdjrichen, vom Autor felbit Gier und da leicht forrigirt und verfehen mit feiner Namens, unterfchrift fowie der Zitelauficrift: „Weber ben Standpunft ber Heutigen poetifgen Literatur." ntftanden it der Auffah i. 3. 1840, und zwar als Alaufurarbeit, anlählid; des von Hehn, welder bereits den Grad eines „Kandidaten der philologiſchen Wiffenfcaften“ befaß, am 19. und 20. Rovember bes genannten Jahres noch abgelegten Eramens „für das Amt eines Oberlehrers der deutfchen und Iateinifhen Sprache“. Das Wanuſkript befindet ſich in der diesbez. Prüfungsakte, welche fpäterpin, nachdem dehn von derjelben Univerfität zum Letior der deuiſchen Sprache berufen war, auch als deffen Dienjtakte weitergeführt worden ift.

Wenn wir nun den in Rede ftehenden Aufſah, trohdem er nie für den Drud beftiment geweſen, veröffentlichen, fo geſchieht es nicht nur, weil er von Vicior Hehn geichrieben und wie Alles, was von ihm geſchrieben, an ſich jelbft drucwert iſt, ſondern weil dieſe Abhandlung im mehr als einer Hinficht noch ein befonderes Intereffe beanſpruchen darf. Sie ift das Erfte, was mir von der Geber dehns befigen aus ber Zeit nad) feiner Rüdtehr von dem für bie ganze Anfchauungs · und Denkweile biefes Mannes, wie bekannt, entſcheidend gemefenen Aufenthalt in Deutfchland und Jialien (Auguft 1898 bis Oltober 1840). At auch bie Aufzeichnung, wie bei dem äußeren Zwet und Anlah derfelben felöftverftändlich, nur in den aligemeinften Zügen entworfen eine „flüdtige Stige", wie fie der Verfaffer am Schlußz felbft genannt hat, fo trägt doch auch fie ale Eigenſchaften dehnſchen Schrifttums an id. Dier noch mehr als in den erft einige Jahre jpäter in Pernau von ifm verfaßten größeren Abhanb« lungen („Zur Charatteriftit der Römer" 1843 und „Ucher die Phufiognomie der ilalieniſchen Landſchaft“ 1844) ift der Einfluß der Hegelſchen Philofophie, welchen Hehn in Berlin auf ſich hatte wirten Laffen, deutlich ertennbar. Vom geigigtsppilofophifgen Standpunkt Hegels, welcher darauf ausgeht, „an dem als befannt vorausgefegten Inhalt die Bewegung der gie

194 Ein ungebrudter Muffak von Victor dehn.

aufzumeifen“, hat auch dehn fein Thema ongefaht, indem er zeigt, mie ber Zuftanb ber poeliſchen Litteratur Deutfchlands um 1840 aus dem früheren Cparatter derfelben mit Rotwendigfeit hervorgegangen, und verfucht «8 auf Grund biefer Entwidelung, bie zufünftige Geftaltung der deutfgen Zitteratur, menn auch nur andeutungsweife, vorausyufagen. Dont Tegterem Umftanb it bie Abhandlung in dem feit ihrer Rieberferift verfoffenen Zeitraum nicht mur wor dem Teralten bewahrt geblichen, fondern fogar um einen neuen Heiz reitfer geworben, da nun dem Sefer bie Möglichteit eines Urteils darüber gegeben Üft, ob umb inwieweit jene Borausfagung eine Beflätie gung in dem tBatläglichen Berlauf ber beutfchen Lilteraturgeicichte ſeit 1840 gelunden habe.

Hinzufügen wollen wir mur noch, bah bie Abhandlung, zufolge aus brüdfiher vemertung im betr. Prüfungsprotofoll, von dehn „ohne Hilfsmittel über daS nicht vorher mitgeleite Thema“ auf dem Zimmer des Eraminators im Deutfcien (des Letiors Raupach) angefertigt worben üft. Und fo, mie fie ft, ohne die geringfte Henderung am Tegte des Manuffripis, folge nun die Abhandlung felbit.

Ueber den Standpunkt ber heutigen poetiſchen Literatur.

Durch bie ganze Geſchichte wird ſich bie dreifache Stufen- folge von der Religion zur Kunſt, von biefer zur Wiffenfchaft als durchgreifendes Gefeg bewähren. Die noch exit unbewußte Religion ſucht fi) durd) die erwachende Kunſt zur ſinnlichen Selbſtanſchauung zu bringen; es iſt dies das Zeitalter des Symboles; die Religion entlehnt ihren Schmuck und Glanz von der kindlich dinenden Kunft und entfaltet fi durch biefe zu einer reichen Dannichfaltigfeit mythiſcher Symbolik: jo in Griechenland, fo im Mittelalter. Auf der zweiten Stufe emancipirt fi die Kunſt von der Religion und wird auf eine Weile felbftftändig; fie freut fid ihrer Schöpfungen um biefer felbft willen; fie ftellt das bloß Menſchliche, bloß Schöne bar. Aber der Gedanke, ber im Kunſtzeitaller in finnlicher Form erſchienen mar, fucht dieſe abzuftreifen und ſich felbft in feiner eigenen zu gewinnen: bie Kunſt geht über fi) hinaus; anfchauendes Bilden genügt ihr nicht mehr; ihr Ausgangspunkt wirb bie bewußte Reflerion ; fie wird hier allegoriich, dort didactiſch, dort fatyriih und fententiös. Aber was die fi auflöfende Kunſt verliert, gewinnt in eben bem Maaße die Wiffenihaft und bas reine Denlen.

Wir glauben uns nicht zu täuſchen, wenn wir unfer Zeitalter auf der lepterwähnten dritten Stufe erbliden. Es ift ber Kunft-

Ein ungebructer Kuffah von Bieter dehn. 195

thätigfeit nicht günftig; es lebt nicht mit finblihem Sinne und naiver Ummittelbarfeit in der Welt finnlicher Erſcheinung; es ift voll Neflerion und Abftraction ; die farbige Mannichfaltigfeit, bie finnlide Befonderheit der Dinge ift zur Allgemeinheit bes Dentens geworben, ein Uebergang, ber fid auf ben verfdieben- artigiten Gebieten beobachten läßt. Man vergleiche die heutige Sprache mit ber ältejten, die jo formenreih, fo anſchauungsreich war: bie heutige ift der ätheriſche Scheinleib bes immer feinern und fhärfern Gebanfens, worüber Jacob Grimm mit finnvollen Worten fo wehmüthig Magt. Dan vergleiche die Trachten: fonft Hatte jedes Lãndchen feine eigene, in Farbe, Stoff und Schnitt ſich befondernbe: jet geht Alles immer mehr in bie eine allgemeine aller Gebilbeten auf. Dan vergleiche die Sitten, bie Nedte: fie waren individuell, beſchränkt, mannichfad ; die Völker zerfplitterten fi) in unzählige particuläre Exiſtenzen; jeht verlifht alle Farbe in ber Einheit der Vernunft geſchichtsphiloſophiſch ein Fortihritt, äfihetiich ein Untergang. Am traurigften fteht es bei folder Lage der Dinge mit ber bildenden Kunft: ihr Kreis verengert ſich immer mehr. Von ber modernen Zeit unabläffig verfolgt, gehen bie Künftler ſchönen Trachten, einer finnlihen und unmittelbaren Lebengfitte in die entlegenften Gebirgsthäler nad); oft verlaffen fie Europa und wählen morgenländiihe Scenen; noch öfter flüchten fie in entfernte Zeiten zB. in bas Mittelalter. Anbere, j. B. die Münchener Schufe, nicht mehr naiv, fondern ſchon innerlich) vom Geiſt der Zeit d. h. dem Denken angeftedt, juchen Verftandes- reflerionen auf ſinnlichem Wege barzuftellen; Alles wird unter ihrer Hand zur Allegorie, und bie Allegorie, fo tieffinnig unb großartig fie jein mag, fteht doch ſchon auf ber äußerften Grenze, wo bie Profa beginnt. Denn wie das Symbol der geidichtliche Anfang der Kunſt ift, fo ijt die Allegorie ihr geſchichtliches Ende, ihre Altersſchwãche.

Den leptern Sag Fönnen wir am Goethe beftätigt finden, deſſen poetifche Laufbahn in gefepmäßiger Entwidelung zur Allegorie führte: mir meinen den zweiten Theil des Faufl, wo aller aufge: wandte Farbenzauber den fehlenden Lebenshauch nicht erfegen kann.

Die Ungunft, unter der in unferer Zeit die Kunft überhaupt zu leiden hat, trifft allerdings bie Poeſie weniger, als die bildende Kunft, da die Poeſie an ſich geiftiger ift und noch Raum Abel,

196 Ein ungedrudter Auffag von Bictor Hehn.

wo ber legtern ſchon alle Nahrung entzogen ift. Indeß wird man aud) hier fagen fönnen, ba bie Phufionomie der Zeit feine poeliſche ift. Zudem fommen noch befondere Umftände in Betracht, bie dem Gedeihen der poetiſchen Literatur zuwider find. Wir find Epigonen, um Immermanns Ausdrud zu brauden; wir haben das goldene Zeitalter Hinter uns und bas ftört unfre eigene Schöpferkraft. Wir fönnen uns von dem Mufter nicht losreißen; wir werben immer wieber drauf getrieben. So lange die Grundidee unferes Volkes, wie unferer Zeit biefelbe bleibt, können wir fie auf feine andre, feine glüdlichere Art ausfprechen, als von den Meiftern ſchon geſchehen ift. Nur wenn das allgemeine Zeitbewußtfein fich änbert, Fönnen wir ein neues poetiſches Zeitalter, große Dichter genien, ein Drama u. |. w. erwarten. Man beobachte den Gang, den die deutſche poetifde Literatur feit Schiller und Goethe genommen hat, und man wird finden, daß bie Entwidelungen, bie fie erfuhr, immer mit ber allgemeinen Geſchichtsentwickelung im genaueften Zufammenhange ſtand. Daß jene Entwidelung im Ganzen nur Unbebeutendes zu Tage brachte, lag an dem ſchwäch- lichen Gange, den bie Voltsihiejale nahmen. Die romantihe Schule fiel mit dem Zeitalter der Neftauration, ber Nüdfchr aufammen: auf fie folgte bie liberale Citeratur, auf dieſe in jüngfter Zeit die foziale: immer aber verwandelte die neue Idee nicht mit fo durchdringender allgewaltiger Macht das innerfte Herz der Zeit, baß ein zweiter gleichherrlicher Frühling der Kunft, wie jenes erſte Mal, hervorgebrochen wäre. Die romantiſche Schule mar mehr kritiſch und ihre Productionskraft gering: bie liberale Literatur belebte nur das Lied, vor Allem die Satyre, das junge Deutſchland endlid nur den Roman. Auch bei dem letzlern (und das ift bezeichnenb) überwiegt bas kritiſch reflerive Element.

Bon ben Gattungen ber Poefie Hat bie lyriſche noch am meiften Blüthen getrieben. Der deutſche Volkscharakter neigt ſich überhaupt zum Lyriſchen: fein tiefer Naturfinn, feine fubjeltive Innerlichkeit, fein idealiſtiſches, aber thatlojes Schwärmen wirb von felbjt zum Liede, zur Muſik. Bei dem Umfturz aller objef- tiven Sagung, der in unferer Zeit erfolgt if, war der Menſch ohnehin innerlid) frei geworden; feine Subjeftivität vertiefte ch, ſchöpfte aus ſich; innere Stürme regten die gewaltigften Abgründe auf, und fo mußte das ganz ſubjeltive Lied in einer Epoche

Ein ungebructer Aufſat von Pieter Hehn. 107

gebeihen, wo von einer objektiv geftaltenden Poefie faum bie Rebe fein fonnte. Wir könnten eine ganze Reihe lyriſcher Dichter ber legten 25 Jahre aufzählen, unter ihnen viele vortrefflihe, mande 3 B. Uhland und Heine vom erften Range. Die Versarten waren babei in einem merkwürdigen Uebergange begriffen; bie antifen Formen Klopftods und Voß's wichen den ſüdlichen Weiſen, ben Sonetten, Ganzonen, Terzinen u. f. m., bis Heine in dem ganz freien Liebe alle Form fortwarf. Wer fehreibt heut zu Tage nad) Herameter oder Ottawen? Beſaß bie beutfche Lyrik im Ganzen mehr Gemüth als Phantafie ein Vorwurf, der befonders bie fogenannte ſchwäbiſche Schule trifft —, jo hat in neuerer Zeit ber junge Freiligrath ihr auch phantaftiiche Farbenglut zugebracht. Defto Mäglicher liegt das Drama, bie höcjfte poetiſche Form, barnieber. Deutichland Hat feine Geſchichte und alfo fein Drama. Die ftationäre, thatlofe Zeit, der wenig objektive deutſche Sinn, der Mangel eines öffentlichen Lebens, einer Hauptjtabt, eines Helbenzeitalters Alles zufammen hat die Armuth dieſes poetifchen Gebietes verſchuldet. Schiller war eine unter uns feltene, ächt dramatiſche Organifation: mehr auf das Freifittliche, als auf die Natur, mehr auf ben Willen, der im Kampfe ringt, als auf har monifhe Befriedigung gerichtet, lebte er in ber Geſchichte, im Reiche ber Ideen und himmeljtürmenber edler Leidenſchaften. Aber er iſt einſam geblieben; ſeit Goethe bildete ſich vielmehr die entgegengefegte Denfart aus, und die ſogenannte Kunſtepoche, die vorwiegende äſthetiſche Nichtung, die mit ihr beginnt, konnte ber dramatiſchen Literatur nicht förderlich fein.

Am meiften, follte man denken, müßte ber Homan in einer ‚Zeit gebiehen fein, bie hier Freiheit hatte, das poetiſche Product ganz mit Nefferion zu durchdringen. Und in ber That ift mit ber Romanliteratur des jungen Deutfchlands eine neue Gattung aufgetreten, bie, ganz abgejehen von der befonbern jocialen Theorie, bie darin verfochten werben jollte, fortan die einzig möglicje bleiben wird. Es ift der moderne Noman, der Noman, der bie philo fophiiche Idee, verklärt im Zauberlichte der Poefie, in einer geihauten Wirklichfeit verförpert. Die Novelle der romaniſchen Völfer war nur eine interefjante Geſchichte; die bisherigen Novellen ber Deutſchen waren nur Bruchſtücke unſeres Lebens; ber Roman, wie wir ihn hier fallen und von der Zufunft Hoffen, wird unfer

108 Ein ungebrudier Auffap von Victor Hehn.

neues philofophifches Bewußtfein, all unfer Denken und Ringen in Ein großes erjdütterndes Gedicht zufammendrängen. Bisher find in den Werfen bes jungen Deutſchlands nur die erfien unvoll- tommeneu Verfuche gemacht worden. Ein Verdienſt aber, das diefer Schule immer bleiben wirb, ift ihre kurze, perlernde, förnige, unbeengte Profa.

Der Roman ift die Gattung, bie unfere Verftandesbildung wieber mit Kunft und Poeſie wird vermitteln können. Denn da wir ber finblid) poetiſchen Zeit entwachen find und es nichts helfen fann, ſich fünftlih in fie zurüdzuihrauben, fo müſſen wir muthig deu Meg nad) vorwärts verfolgen und burd das Wiſſen Hinburd) ein zweites Runftland zu erobern juden. Denfen wir uns das Wiffen auf ber höchſten Stufe, fo wird es von felbit zu einer Welt ber Anſchauung, bie es fid) ſelbſt ſchafft, wie bie Seele fid) ben Körper bildet.

Eine Wiedergeburt, ein neues goldnes Zeitalter unſerer Literatur (und damit faſſen wir den Sinn dieſer flüchtigen Skizze zuſammen) hängt äußerlid von dem Gange ber Volfsfdiciale ab, innerlid) aber von der immer allgemeinern Herrfchaft des Denkens und Willens, das in feiner erften Geftalt bie Kunſt tödtet, fie dann aber, auf feiner höchſten Stufe gedacht, zu einem zweiten,

bereicherten Leben erweden muß. Vietor Hehn.

Tagebugblätter von 8. 6. Graß aus der Zeit der Züriher Stantsummälzung 1798.

Echluß.)

Den 4. März. Auf Meldungen hin über die Lage in Bern und auf bie Nachricht, daß die Landverſammlungs-Deputirten nicht mehr nad Züri fommen mollen (einige werben von ihren Gemeinden gehindert), und auf die Nachricht vom Vorrücken der Franzoſen bei Herzogenbuchſee und von der uneinigen Stimmung der 2000 Dann Truppen, bie man in bie Stadt Bern genommen, entftanb großer Schreden. Cs murbe Nfat] und Bfürger] berufen und vor die Zünfte zu bringen aufgetragen, wie nötig es fei, ſich jett herzlich zu vereinigen, den Landleuten Alles zu bewilligen und ſich innig an die Landdeputirten anzuidließen. Won Verteidigung und von Belegung ber Grenze und von Depufirten an Mengaud, Brune zc. war faft nicht mehr die Rede. Eilig jollten Einladungen an bie Landdeputirten ergehen, daß fie ſich wieder einftellen möchten. Weld ein Wechſel von Empfindungen! Eine wahre Ebbe und Flut. Noch vor wenig Stunden eine Alles erihütternde Stim- mung unb auf einmal gemeiner Kleinmut. Kurz vorher Verachtung der Landleute und jegt Anfchliegen, kurz vorher neue geheime Anftalten zur Unterdrückung und jet Predigen ber Liebe und Eintradt. Ebenfo in Bern. Erſt Nichts, dann, als es zu jpät ift, Alles. Was kann dies Alles bei dem fimpelften Verſtand hervorbringen, als Verachtung. Man wagt es wieber, ſich umzus fehen. Cs ijt mir, als ob ich im 14. Jahrhundert unter fana- tifhen Mönden und Hierarchien gelebt Hätte. Vernunft und Mäbigung war ja Verrat. Wohin fann bie Leidenfhaft führen, wie ftürgt fie ſich jelber ins Verderben! Cs iſt mir evibenter als je, daß in acht, höchſtens 14 Tagen bie Hauptpläne der Franzojen

200 Togebuchblätter von K. ©. Graf.

erreicht find. Sie haben bie Bergpäſſe und der Landiturm bünft mid) eine Chimäre. Wie follen Menſchen, die aus ihren friedlichen Hütten kommen, gegen ben Donner ber Kanonen ohne die größte mifitärifche Machinerie anlaufen ? Aber es wird nicht ohne Unglüd ablaufen. Der Unfinn und bie Wut Einzelner ift groß und ber Ehrgeiz ergreift in ber Verzweiflung jeden Schimmer ber Vorftel- fung, die ihn mit einer Kraft täufcht, die garnicht ba ift. ber diefe Verblendung müffen viele Familien entgelten. Die Erfahrung hat mid) gelehrt, nie zu benfen: nun ift es vorüber. Cin Fehler, morin beibe Parteien in entgegengefegtem Sinn täglich gefallen find. Ehe man ſich's verfieht, ift der alte Teufel wicder ba. Die Stimmung in ber Bürgerfhaft ift bie gleiche. Wenn nur Truppen marfejiren, benft man, dann ift es gelhan.

Den 6. März. Ich arbeitete an einer aquarellirten Zeich- nung nad) einem Delbild von Heb, als ein fürdterlider Lärm entftand. Cs hieß, bie Seeleute lämen gegen die Stabt. Ver— wirrung und Schrecken, bie Mäbchen liefen fort. Ich dachte: es ift der Schreden des eriten Gerüchtes, und blieb gefaßt. In der Rlatſ und Blürger]-Berfammlung wurde dem Kriegsrat Ordre dur Verteibigungsrüftung ber Stadt erteilt, welches auch geſchah, indem Kanonen aufgeführt und Wachen und Patronillen verdoppelt wurden. Cs hieß, bie Landleute haben wirklich zu Hülfe eilen wollen an die Grenze, aber weil fie drei Offiziere verlangten und doppelte Piquette aufgeboten, traute man nicht. Auch wurde das Verlangen bes Doktor Landis um Munition verworfen, dahingegen man fie ben Gutgefinnten bewilligt.

Abends um 4 wieder R. u. B. Die Präfidenten der Land- deputirten⸗ Verſammlung und des engeren Komite Wunderlich und Ed verlangen: 1) daß man 1000 Mann Garnifon in die Stadt nehme. 2) daf bie proviſoriſche Regierung ber Landestommilfion übergeben werde. 3) daß eine neue Wahl der Glieder aus ber Stadt vor fi gehe, da die wirklich eriftirenden illegal gewählt wären. 4) Verſprechen fie dagegen Deputirte an bie Franzojen zu fenden und zu fragen, ob es blof um Unterbrüdung der Arifto: kratie zu thun jei. Im Verweigerungsfalle drohen fie vor bie Stadt zu rüden. Die Antwort war: Ein ſolches unverfhämtes Anfinnen verdiene feine Antwort, als mit dem Schwert, und das

ſogleich.

Zogebudblätter von N. G. Grab. Ey

Schrecklich neigt ſich bie Geſchichte dieſer greuelvollen Tage zu Ende. Die gute Hoffnung wird zu Grabe getragen, unabjeh- bares Elend in unzuberechnenden Folgen muß aus ber Zufunft folgen. Es thut meinem Herzen unbeſchreiblich weh, das zu erleben. Kein Funte Gefühl fürs allgemeine Wohl, feine Schonung derer, bie es reblich meinten, feine Spur von pafjender, weiſer Ueber- legung leuchtet aus jener in dieſen Zeiten unverantwortlicen Erklärung. Was mein Herz ftärkte, war der Anblid bes redlichen Zunftmeiiters Wegmann. Ic bin ruhig, fagte er, ich habe nad) Grundfägen gehandelt, und wie jegt, werden fie mid) immer fehen, fomme aud, mas da molle. Etwas früher oder fpäter, Tod ift immer das Ende. Ich fann mir’s fonft nicht denken, und ich hoffe, weil fo ſchrecklich viel Unverſtand bei ber Sache ift, bie Vorfehung werde ben Ausgang anders lenken als man benft.

Den 7. März. Am Morgen ſchien lieblich die Sonne, Alles war ſtill und geheimnißvoll. Die erfte tröftlichere Nachricht war, daß es hieß, die Seeleute hätten 24 Stunden Bebenkzeit gebeten ; nachmittags hieß es nacjgegeben. Einmal fah man eine Menge Soldaten ruhig herumgehen, rauchen ꝛc. Um Mittag hörte man, daß am See Alles ruhig fei und nirgend Anftalten zur Wehre ftattfänden. So aud von Snonau. Andere, z. B. Hergener, hatten fehr getobt und gedroht. So viel ſchien gewiß, baß jener Trotz fih auf Einverftändniß mit Mengaub gründe. Die Thore waren gefperrt.

Den 8. März. Der Statthalter Wyß berichtete von ber Kapitulirung Berns und von dem Angriff der ranzofen *), weil Berns Erklärung 6 Stunden fpäter, als die gegebene Friſt war, anlangte. Während dem Bericht kamen Nachrichten vom Vor: bringen ber Truppen von allen Seiten. Es war aber eigentlid) nur ein Korps von 700 Mann, bas der Stadt zu Hülfe zog. Gerichtsherr Eier machte, daß man dieſe Leute nicht in bie Stadt, fondern zurücgehen hieß, weil man bie Notwendigkeit zu negotiiren einfah. Bon Blutvergießenwollen war nicht mehr bie Rede, ebenjo wenig von einer Gegenwehr gegen bie Franzofen. Verſchiedene Herren maren in verfdiebene Gegenden gefandt. Wir küch waren Truppen von mehreren Seiten im Anzug. Am Tr) Die Berner wurden bei Neuened, Saupen, Fraubrunnen und im Grau - holz am 5. Märy 1708 von der franzöfifchen Uebermecht gefchlagen.

202 Tagebucblätter von X. G. Graf.

Interejjanteften war ber Bericht bes Ratsherrn Scheuchzer, ber gegen Knonau war. Bei allen einzelnen Korps, bie ihm begeg- neten, war bie bejle Orbnung. Alle haben bei ihren Köpfen bem Komite zu Meilen Verantwortlichfeit geſchworen. Einige hatten unter fi) geſchworen, fie wollen nicht eher ihre Bräute und Weiber füffen, als bis ihre Verrichtungen geendet fein. Plan war, bis nahe ber Stabt zu rüden und bann Abgeordnete zum frieblihen Negotiiren zu fenden. Der Statthalter Wyß blieb zu Meilen. Ale waren freundlich und Höflidh empfangen. Indeſſen waren bie beiben Schreiben bes Komite ins Züriher Wochenblatt gerüct und Neflerionen angehangen, worin die Xolfsrepräfentanten Volle: verführer genannt werben. Im Ganzen ein froher Tag, man tonnte wieder frei atmen.

Den 9. März. In ber legten Nacht von 11—4 Uhr Rlat) und Bürger]. Der Statthalter berichtete, wie er ſchier in Lebens gefahr gefommen fei, als man ben ihm zugefandten Brief wegen der aus bem Außeramt vorrüdenden Truppen, bie man hatte abmahnen Fönnen, aufgefangen hatte. Sie verlangten feit und beftimmt: 1) Abjegung der proviſoriſchen Regierung, 2) Garnifon von 1000 Mann oder Küßnadt zum Drt der Gigungen, 3) Regierungsbefegung nad) der Volkszahl, zwei Kanonen für jedes Quartier, 4) Satisfaftion wegen ber bem Schreiben ber Kommiffion beigefügten Belhimpfung der Bolfsrepräfentanten. Der Statthalter fagte frei, wie man gejagt: bie Negierung habe es nie reblid mit ihnen gemeint. Es hieß, die Truppen ab dem See rüden näher. Sie verlangten bis um 7 bes Morgens Ant- wort. Man hatte Verlängerung bis zum folgenden Tage verlangt. In ber ganzen Nacht Hatte man nichts weiter ausgeraten, als daß man bie Regierung nieberlegen wolle. Das Zaubern verſchlimmert. Statthalter Wyß ſagte, er habe zu Bern es gefehen, daß man fi hätte Dank verdienen können, man zauberte aber, bis das Meſſer an ber Kehle ſaß.

Der Geift ber Bürgerſchaft ſcheint etwas anders zu werben. So abgeneigt man anfänglich war, die Garnifon in die Stabt zu nehmen, fo wirkte bo bie Borftellung des Zunftmeifters Wegmann, daß durch Verlegung des Ortes ber Regierung aller Verbienft verloren gehe und auch ber legte Einfluß auf bie Regie- rung, ber bod immer der Veränderung ber Menſchen und Zeiten

Togebucblätter von N. ©. Grab. 203

unterworfen bleibe, aufhöre. Es wurde ziemlih einftimmig auf ben Zünften angenommen.

Den 10. März. Die erite Nachricht war, ber Bürgermeifter Wyß und fein Sohn jeien fort, von noch mehreren erwartete man es. Diefe Nachricht breitete ſich ſchnell, aber fill aus. Der Eindrud davon giebt in ber herrihenden Meinung mehr oder weniger ben Ausſchlag. Ih war felbft Augenzeuge, wie jet feurige Ariſto— traten umftimmen, jept die Franzojen erheben, auf bie Obrigkeit, auf Bern ꝛc. ſchimpfen. Nie fühlte ich lebhafte, welch ein Heiliges Menſchenrecht frei denfen und empfinden iſt, als feit ich gefühlt Habe, was man bei Einſchränkung diefer Art leiden kann. Mein Herz feierte biefen Tag den Triumph ber Natur und ber Vernunft. Die Deputation nad) Küßnacht.

Den 11. Mär). Das erfte Wort, das ich biefen Morgen hörte, war: La paix est faite!, welches mir der gute Herr Zunftz meifter Wegmann zu fagen fam. Id) ging in Pfarrer Lavaters Predigt. Er hatte fieben Terte und fein Thema. Die Worte: „Ich vebe nicht zu den Verruchten, bie fid) alles Böſe erlauben, damit etwas Gutes herausfomme, nicht zu eingefleiichten Satanen, bie ſich felbft vergöttern“, zeugten genug, daß fein Gerz gallebitter war, aber er wagte es nicht frei zu jagen. Indeſſen famen überall Winke und viele Sachen zum Vorſchein, die bie fehlechteften Menſchen für ſich anwenden konnten, weil er bie geichlagenen, gebemütigten ben ftolgen und dem Pöbel entgegenjegte. Am Widrigſten war mir das viele Weinen, als er am Unfinnigften fprad und dem gefräntten Ehrgeiz Del in bie Wunden goß. Die Ermahnungen zur Sanftmut waren mit gemeinen Beweggründen unterflügt : weil es Auflaurer gebe und ein Wort jetzt Mord und Unglüd nach fid) ziehen könne. Um Beſten war, was er von verlorener Arbeit bei Unreblicjkeit ſprach, aber e8 fonnte auch von ben Ariftor fraten angewandt werben. Ich glaube, bie enragirten Empfindungs- menschen ſchnappen alle am Ende über.

Uebrigens war e8 ein ziemlich ruhiger Tag. Ich war allein fpazieren und fah ben erften Freiheitsbaum in meinem Leben, der geftern in Hottingen aufgeridhtet worden ift. Er fah kläglich aus. Ein Bürger hatte auf bem Wall, als er den Zug ber Mädchen und Kinder jah, gejagt: e8 würde ihn recht gelüften, eine Kanone

204 Zagebuchblaner von R. ©. Graß.

unter ben Donnershagel abzubrennen. Ad, wie vieler ſchlechter Geiſt wird ſich noch laut und im Verborgenen äußern.

Die Züriher Truppen, etwa 1200 Mann, famen von der Grenze zurüd. Die einfältigen Leute find noch größtenteils fana- tifirt und immer der Meinung, bie Franzoſen haben fie gefürchtet und die Berner find verkauft und verraten geweſen. Die Fran zoſen aber ſchonten die Menfchen offenbar, die oft ihrem ganzen Feuer ausgelegt und an Thalorten, 5. V. bei Bern, in gebrängten Haufen ftanden. Schauenburg unterfagte beim Einzug in Bern ben Marfeiller Marſch, als er fah, daß es niederſchlug: il ne faut pas affliger les abbatus, Die Schweiz ift nun ein Schauplag ber Verwirrung und ein Gegenſtand bes Milleides und der ver- ächtlichſten Geringihägung geworben. Die Ariftofraten haben fih ſchwer an ber Menſchheit verfündigt. Das Fundament ber Ruhe und Redlichkeit, der Mehreften Glaube an ihre Borgefegten ift vernichtet und die Menſchen haben nichts an die Stelle.

Den 12. März. Punkte der Uebereinfunft zwiſchen bem Stadthalter und den Landbeputirten: 1) Garnifon von 1000 Mann. Offiziere von dem Lande, Stabsoffiziere von der Landkommiſſion ermählt. 2) Stadt und Land ift eine Gemeinde. 3) Die provir forifche Regierung wirb in bie Hände ber Sanbfommiffion nieber- gelegt. 4) Vergeſſen von beiben Geiten.

Von der Stimmung in ber Stabt bemerfe ih, daß das Volt noch an feinen alten Götzen hängt, die ihm das Denken erfparten. Tod) jtimmt einer noch ben anderen um. Einige ber Heftigften Bürger bielten um bie Freiheit an, einen Freiheitsbaum aufzu- richten, um ben Landleuten zuvorzulommen. Pfarrer Zavater hält inbefjen Abendgebetſtunden, wozu ſich Viele einfinden. Dan hörte von ben einfältigen zurüdgefehrten Soldaten viel Prahlerei von ihrem Mut, und wie fie verraten geweſen wären, Patronen, halb Kies, Halb Pulver erhalten zc. Die Offiziere aber, wenigftens welche vernünftiger find, fönnen die zitternde Angft der Leute vor dem Kriege nicht genug ſchildern und die ſchredliche Konfufion, bie überall herrſchte, fo daß man deutlich fieht, bie Leute Haben nicht bie geringfte Kenntniß vom heutigen Kriege gehabt. Neine Spur von Nationalehre.

Den 13. März. Die verfammelten Herren von R. und B. hielten ihre Abſchiedsſitzung; e8 wurde viel gemeint. Die Landleute

Tagebuchblatier von K. ©. Grab. 205

forderten noch, daß bie Stadt aus dem Stabtgemeingut bie Unfoften ber Sandbewaffnung zahlen müffe. Cs war fein anberes Mittel, als zu bewilligen. Zunftmeifter Wegmann nannte es eine gerechte Forderung, darüber gab es einige unmwillige Aeußerungen. Zweitens forderten bie Lanbleute, daß bei ber erften Sitzung die Verteilung der Kanonen vorgenommen würde.

Es war ein ſchöner Tag. Einige Bürger, und gerabe die enragirteften, hatten einen Tannenbaum geholt. Roſſe und Männer waren geſchmückt. Nachmittags wurbe er mit gelb, rot und ſchwarzen Bänden und einem blechernen Hut aufgerichtet. Es waren viele Menſchen da, aber ſichtbar fürchtete einer den andern. Ich hörte einige Lanbleute jagen, vor fünf Wochen hätte der Baum viele taufend Gulden eripart. Es ift fein Freiheitsbaum, fagte ein anderer, fondern ein , Mußbaum“. In Horgen hörte man Kanonen donnern. Die zur Stadt gezogene Miliz wanderte ab und einige Jäger vom See zogen ein. Trotz unb eine gewiſſe Verachtung gegen bie Etabt äuferte fid) in Mer Neben. Wie viel, wie viel ift der Stadt durch die Obrigfeiten geraubt worden, das bie Menſchen nur nicht fühlen! Und wie viel Moralität bei den Lands Teuten, die der Nuctorität glaubten, ift vernichtet. Die einzige gute Folge für Stadt und Land ift, daf beide Teile gezwungen find, felbft zu denfen. So führt das Vöſe das Gute herbei, und id weiß faum, auf welde andere Art dieſer Zweck ber Natur hätte erreicht werben follen. Die Lanbleute hatten heute ſchon Antwort von Mengaud aus Bafel über ihre letzte Vereinbarung. Es ift eine unbegreiflihe Orbnung und Subordination bei dieſen Menſchen geweſen, wovon man viele Heine Beifpiele gehört hat.

Den 14. März Die Stimmung im Ganzen fheint ruhiger und einmütiger zu werben. Bürger Haben heute wegen ber iller gitimen Wahlen eine Motion gemacht.

Den 15. März. Frohes Feſt in Baſſersdorf. Der Wirt, ein mwaderer Dann, ein echter Demokrat, mit uns. Alles fam mit Kofarden. Wir tranfen bie Gejundheit aller derer, die gelitten Haben und feiben werden, Wegmanns Gefunbheit und bes Wirts, Wunderli’s und Egg’s, aller freien Schweizer, die ſich nicht wieber unterbrüden laffen. Der Wirt erzählte uns, melden Schreden er in ber Stäfner Geſchichte gehabt, die er einen unaustilgbaren Schandfleck nannte, als ein Haſchier in ber Nacht zu ihm kam.

206 Tagebuchblatter von R. G. Grab.

Er war gefaßt, wenn es nur zwei wären, fein Leben zu wagen, und ſchnappie beim Einfaffen bie Thür ab, im Fall mehrere draußen wären. Der Hafdier erfundigte ſich aber nur, ob feine verdãchtigen Leute (Stäfner) da ſchliefen und ſetzte feinen Lauf fort und arrelirte an einem andern Ort einen armen Handelsmann, der vom See hergefommen und bem Bunftmeifter Fries als ver: dächtig aufgefallen war, weil er einen großen Hut Hatte, wie ihn bie Stäfner zu tragen pflegten. Er gab uns aud Nachricht von dem Verhör, wie es bei der Verſammlung in Wädenſchwyl gewefen. Auf die Frage, was aud) der Grund zur Verweigerung der Truppen fei, gab er zur Antwort: Furcht, es möchte gehen wie in ber Ctäfner Gedichte, wo es auch unbefannt war, wozu bie Truppen aufgerufen wurben.

Ale Bauern im Wirtshaufe trugen Kokarden und man ſprach freimütig genug. Der Hab gegen Zürih präbominirt in allen Vorftellungen. Cs erzählte mir ein Dann, daß jeder, ber ſich geweigert, beim Aufruf gegen Stäfa zu folgen, mit Ruten an ber Stud geſtrichen fei und fo über 100 beftraft worden wären. Auch erzählte man mir, daß von den aufgeforberten und abmarſchirten Truppen ein großer Teil angeworben und mit 7 bis 10 Aronen- thalern angefauft fei. Zu Anburg fand man unter dem Mift Flinten und Pulver verſteckt, wahrſcheinlich bamit es nicht in bie Hände ber Landleute ficle.

Welch eine Sammlung von niedrigen Nänfen mürbe man finden, wenn alles Detail ber bisherigen Regierung herausfäme. 5 war ein Glüc, baf fie gegen die Natur fämpften und daher überall zu kurz famen. Gerade die Befieren und Denkenderen ftanden zufammen und bie Not erjegte die Erfahrung, Dan befegte das Amthaus zu Tb, wo man Unterhalt für Truppen finden fonnte. Man errichtete von Seiten des Landes genaue Kommunilation und man handelte nad) einem gemeinfchaftlichen Plan, aber freilich fiedten die Wölfe auch unter denen, bie es reblid meinten, und es iſt ein Wunder, daß bei der Menge Vers räter, Schelme und erfaufter Niederträchtiger fein eigentliches Unglüd geſchehen ift. Schauberhaft iſt es, dem Kampf ber Kräfte ber Unmündigen mit ber Bosheit und Lift der bisherigen Unter: drüder zugufehen! Der Menfchenfreund zittert, bie gute Sache in der Notwendigleit zu fehen, in die Arme ber roheren, aber doch

Tagebuclätter von R. G. Grab, ar

befferen Menſchen flüchten zu müſſen. Menn bie Natur nicht Vormund ihrer verwaiften Kinder würde, verloren wären bie Wünſche und ftillen Leiden fo vieler Redlichen. Aber das Wert der Natur hört nie auf. Aus dem Verderben felbft bereiten fich bie Heilfräfte, und biejelben Mittel, bie Menſchen unterbrüden, find zur Befreiung vom Druck notwendig. Hätte man nicht fo viele Menfhen um Meinung willen leiden gemacht, das geheiligte Recht bes freien Denkens wär nicht in fo vielen Herzen in einer Slammenfchrift Hervorgetreten, bie ber Despotismus nergebens auslöfht. Hätte man nicht die Beſſern und Mürdigern von Aemtern, und namentlid) bei ber Tegten Bürgerwahl, auszufchliegen gewußt, bie gerechte Sache hätte vielleiht um fo viel weniger Verteidiger gehabt. Wären die Männer, die der Volksſache ſich annahmen, nicht entſchloſſen geweſen, fid) der Gewalt zu bemäd): figen, die im Volle nod) ohne beflimmte Richtung lag, es wäre, fie hätten es nod) fo gut meinen mögen, um bie gute Sache gefchehen geweſen. Bei Betrachtung ber Züricher Revolution muf man barauf fommen, baß bie ehemalige Regierung, fo fehr fie die Revolution aufzuhalten fuchte, doch jelbft ihren Gang ein geleitet hat. Dadurch, daß fie in das Volt einen Radjetrieb legte, wurde in ber Folge der Zeit ben Führern von felbft ein Zügel in bie Hand gelegt, durch den fie ohne große Erfahrung die Gewalt in bie Hände befamen. Durd) die Menge Schiechtigkeiten, die fie erfahren, wurde zuerſt ein ebferes Selbjtgefühl in ihnen aufgeregt unb fo verband fid) mit ber Kraft eines Naturvolfes und bem einfachen Sinn feiner Anführer die Kraft der Einfachheit guter, ebler Zwede. Die Gefchichte wird es aufbewahren, daß man es fi, ohne einen guten Grund in einer wirklid allgemeinen mora- lichen Unverdorbenheit bes Volles anzunehmen, nicht erklären Tonnte, wie es ohne Diord und Todtſchlag und Gräuel aller Art abging.

Den 16. März wanderten wir im lieblichen Morgenlichte mit Nuhe und Frohfinn im Heryen gen Nife. In Sehen fanden mir an bem Freiheitsbaum folgende Verſe:

O Schweizer, beiner Freiheit Rechte, Die deiner Väter Mut erfocht,

Die füg und werde nie zum Knechte, Wie fehr der Königsfklave pocht.

208 Togebucblätter von R. ©. Grab.

Laßt uns erneu'n den edlen Mut,

Der Alles für fein Land, nichts für ſich felber thut.

Bei jedem Haufe oder Hofe ftand fo ein Yaum mit wehenden Bändern. „Ih ſchäme mich“, fagte mein Freund, „im Lande, das die ganze Welt frei glaubte, biefe Zeichen wahrzunehmen." Für mid) hatte die Vorſiellung etwas Erheiterndes, an einen Band und Spielwert die menichlihe Freude geknüpft zu fehen, bie wie ein Sproife neuer Humanität hervorzubrechen ſcheint. Ueberall hatten bie Leute heitere Geſichter und die Kinder fagten: „Bring mir aud eine Freiheitsrofe.“ So nennen fie in ihrer malenden Naturſprache die Kolarde. Wir kamen gegen Mittag nad Nite. Ich hatte mir ein Bild von einem Untervogt gemadyt und hatte die Ueberrafhung, in einem Menden mein Bild mit einer Amts: miene zu vergefjen und zu verlieren.

Nubolf Egg. Pit unruhiger Erwartung fehnte ih mic, ben Dann zu fennen, in deſſen Händen bisher die gute Sache des Volkes lag und ber ihr vorzüglicher Lenker war. Ein einzelner Hof mit einer Sägemühle an ber raufchenden Töß, umgeben von tannenbewachſenen Hügeln, bie ein Meines, ſtilles Thal bilden, war Eggs bisherige Wohnung. Die Gegend heimelte mid) an, aud wenn mein Freund mir nichts gefagt hätte, daß er Hier feine glüdtihften Sommerftunden (ebte. Hier lebte der junge Egg feine Kindheit in abgeſchiedener Stille im Schoß des häuslichen Friedens feiner würdigen, allgemein verehrten Eltern. Jugendkraft und Unverborbenheit wurben hier außer einem Vermögen fein fchönes Erbteil. Er trat im 19. Jahr in die Stelle feines Vaters als Untervogt und erhielt ſich die Liebe und Verehrung, die feine Eltern allgemein genofjen hatten. In dieſem Verhältniß, wo er viel mit Menſchen zu thun hatte, lernte er auch das Maſchinenwerk der alten Verfaifung genauer fennen. Diefer fo von ber Natur und der menschlichen Freude erzogene Menſch jollte der Führer ber guten Sache werben. Ich ſtand im Hofe vor feinem Haufe fill. Ich ſah die Mutter nad) dem Knaben gehen, id fah ben jungen Egg mit einem Landmann ſprechen, und dachte mid auf einen Augenblid aus diefer ländlichen Stille in das verwirrende Gewühl verworrener Stadtverhäftniife. Mein ganzes Herz ging mir auf, als ich den erſten Bid in Eggs Wohnung und Wohn:

Tagebudjblätter von A. ©. Grab. 209

ſtelle gethan hatte. Mir ſprachen über bem Eſſen, und dadurch, daß ich verfchiedenes, worüber id) ſprechen wollte, aufgefchrieben hatte, ftießen wir ſchnell auf Nehnlichfeiten bes Dentens und Empfindens, wobei das angenehme Gefühl, daß die Natur zu gleichen Zielen führt, uns wecjjelfeitig überraſchte. Er hat Gefund- heit und eine Wärme ber ebleren Leidenſchaften, bie, bei der Kälte und Ueberlegung feiner Handlungsmaßnahmen, mir den Mann mit Anlagen zu einem nicht gewöhnlichen Menſchen verrät. Diefes frohe Gefühl, das mich bei dem Gebanfen ergriff, die gute Sache in der Sand und dem Herzen eines ſolchen Mannes zu willen, fonzentrirte bie Kraft meiner Seele. Ich vergaß durdaus alle Nebenrüdjicgten und ber Menſch fprad zum Menjhen und ih legte ihm die reinften Refultate aller Erfahrungen und Beobach-⸗ tungen meines Lebens, befonbers infofern fie mit der legten und jegigen Zeit im Zufammenhang waren, vor. Mit inniger Menſchen⸗ freude umarmte id) den waderen Dann und wanderte mit ruhig frohem Herzen an der Geite meines Freundes in der Dämmerung heim. Wir trafen überein: 1) Ueber Einſchränkung der Deputirten. 2) Honorableren Aufenthalt der Landdeputirten. Egg hatte ſchon frü darauf beflanden. 3) Errichtung einer Druderpreife. Afe Mühe, eine zu befommen, war durchaus vergebens und gewiß von Ariftofraten verhindert, denn fie wollten 60 Louisdor daran wenden. 4) Sammeln verfhiedener Denfenden aller Aktenftüce zur Gedichte der Zeit für ein Blatt: „Altenftüde ber Zeit und der Wahrheit.” Ein Wink verbreitet oft Ideen. 5) Hinderung der Auswanderungen. 6) Unterfudung der Nationalkaſſen, wobei vieles enthüllt werden möchte. 7) Schleifung der Feftung. 8) Forderung ber Progehaften von Stäfa. 9) Dankadreſſe an Brune, falls er nad) Zürich kommt, wozu id) einige Ideen zu entwerfen verfprad).

Den 17. März. Id hatte mit Willen, weil id) abends mübe war, nicht erſt als am Morgen an einen Entwurf einer Adreſſe denken wollen. Ich ſchrieb ſehr fchnell zuerft ein paar Worte im Namen ber Kinder, bie bie Dankadreſſe überreichen follten :

General! Ces enfants viennent au nom de leur patrie vous presenter l’adresse de leur peres. S’ils sauroient se faire comprendre ils diroient sans doute: nous avons vu les expressions de joie sur les visages de nos parents et

210 Tagebuchblauer von N. ©. Grab.

avons souhaite de voire notre bienfaiteur et de lui r&mercier. On nous a dit: il ne eomprend pas votre langue. Nous avons repondu, qu'il done regarde en nous la gratitude, qui manq de la parole.

Adreſſe an den General:

General! La reconnaissanee s’approche de grands hommes par l’instinet de la nature et la purdte de ses intentions lui serve de guide; elle peut supposer que celui, qui sait repandre des bienfaits, connoisse aussi le besoin d’en rémereier et elle n’est point decouragie par la foiblesse de es expressions, parceque’elle n’ignore. qu’avec la grandeur d’un bienfait se diminue la capacit& de l’expression du r&ce- vant. C'est notre cas, general! mais le sentiment m&me, qui nous penetre, nous est garant de votre indulgence. La posterite lira dans les annales des siecles: L’an 1798 la grand Nation Frangaise retablit la libert6 d’un peuple, auquel la nature m&me d&jä dans un temp bien réculé inspira le premier desir de la liberte et aucun temp ne saura effacer dans nos coeurs l’inseription sacre de la reconnoissance. Nous regumes de nouveau le grand bonheur, acquis par nos peres et perdu par les injures des temps, par les grands generals de la grande Nation Brune et Schauenburg.

Dies ſchnell und till und einfah, aber niedlid) ausgeführt, müßte ihn freuen und beleidigte niemand. An Mengaud müßte man apart Deputirte enden.

Den 18. März Abends im Brühl. Kontraft des Untervogts Egg und Vretſchers. Jener ruhig, fanft, nicht fürchtend, feiner Kraft bewußt; dieſer alles ſchwarz jehend, wild und auffahrend, von perfönlichem Chrgeiz beherriht. Gin Glüd iſt's, dah Egg ganz die Gabe befigt, ihn immer herumzubringen. Die Bauern find wild ungehalten über die Langſamkeit der Verhandlungen der Zandfommilfion; man hat ihnen die Kanonen verfproden und es ift umſonſt, fie bavon abzubringen. Unglüdlicher Weile verfallen viele darauf, ihren Deputivten Hochmut vorzuwerfen. Man erzählte mir, am See weinten viele Hunderte von Menſchen, als die Deputirten des Komites auseiander gingen und nannten jie „unfere Retter”. Statthalter Wyß, als er Bodmer jah, ging zu ihm, faßte feine Hand: Ich bitt Euch, verzeihet mirs, alter Bodmer,

Ingebugßlätter von R. G. Graf. a

auch ich Hab mich an Euch ſchwer verfündig. Bodmers Umriß Bing an ber Wand. Ihr feib nicht gut getroffen, fagte Statthalter Wyß. Ich wühte nicht, fagte Bobmer, daß ich jemand fo ftill gehalten Hätte, als dem Scharfrichter und bem Diog *). Dem Peſtaluzz trauen fie nit recht. Bodmer nennt ihn nur ben „Bruder Klaus“.

Den 19. März. In meiner Seele war in dieſen Tagen Kraft erwacht, die mich zu dem Entichluß brachte, nad) Italien zu gehen. Ich fühlte, daß der legte Winter meine Seele mit Gebantentraft bereichert Hat und daß aus jedem veränderten Stand» punft ber Nüdblit wohlthuend und erheiternd fein wirb und iſt. Morgen fort! war bie Lofung.

Den 20. März. Abjcied von Wegmann. Wir haben uns als Menfhen kennen gelernt und als Menſchen gebient. Sie Haben reine, humane Liebe erwiefen. Ic) freue mich biefer Schuld, die der Yumanität gehört. Man kann es nicht willen, wie bie Dinge kommen; aber gewiß geht fein wahrhaft Gutes verloren. Treue auf Leben und Tod in Glüd und Unglüd! Auf diejes umarmte id) den Dann, ber meine legten Worte wieberholte und den ich mit einem Gefühl verließ, durdy welches mir das Leben fieber und leichter ift.

Den 21. März. Die Freiheitsfahne wehte zum erjten Mal am Münfter und vor dem Rathauſe, als wir zum Grendel hinaus: fuhren. Ich fah auf Züri zurüd. Aus dem furdtbaren Zentrum der Staatsmaſchine war in meiner Vorftellung ein Haufe von Dienfhenwohnungen geworben, in welden jetzt die Stimme ber menſchlichen Natur wieder hörbar wird, anſtatt bisher der magiſche Zauber eines eingepflanzten Wahnes und das Unmiberjtehliche der tombinirten Gewalt, die alle Formen des Denkens in ben majdjinen- mäßigen Kreislauf einer Uhr geitellt hatte, an welder Despotie und durcht die großen Ziehgewichte waren. Man landete bei der Sonne in Küßnacht. Egg war ba; wir umarmten uns und es that mir wohl zu benfen: vor vierzehn Tagen noch wär es ein ſchrecklliches Verbrechen geweſen. Es mar ein Triumph fürs Herz, feine edleren Empfindungen für Freiheit und Gleichheit ben Menſchen an ben Tag gelegt haben zu bürfen. Ueberall [himmerten Frei-

*) Schweiger Maler und Rupferfteher. =

212 Togebuchblätter von N. ©. Graf.

heitsbäume. Kinder fangen am Ufer, was fie fingen gehört Hatten und es freute mid) von einem zu hören: es ift um ber Ninder millen. Auch das Grenzzeichen zwiſchen Stadt und Land, ein Haufen von Steinen, der Klaus genannt, war umgeftürzt.

Es war ſchon einbredende Nacht, als wir nad) Stäfa kamen. Dean erzäßlte uns mandjes Detail von der ausgeübten Härte ber regierenden Gewalt. Dan glaubte Szenen aus den Zeiten ber Fehmgerichte und ber reihsbürgerlichen Barbarei zu hören. IH mar jelber im Schiff mit einem Schefelberger gefahren, der um 500 fl. wegen eines Briefes gejtraft war. Zunftmeifter Wegmann mar ben Leuten im Wirtshaufe (Brentli) unvergeßlid. Cr hatte fie getröftet: Denket, daß ihr ein Kapital gut angelegt habt und baß ein Querwind fi heben fann, der die von euch Gefegelten wieber in eure Arme führt.

Den 22. März. Nachmittags langten wir in Glarus an. Salomon Ortly nahm mid) in eine politiihe Geſellſchaft feines Dörfchens Ennende mit. Dan hörte heftig gegen die Franzofen und eine neue Ronftitution eifern. Das unfinnige Volk kennt nur die Argumente der Fäufte. Die Gemäßigten varen auch hier in großer Gefahr, und nur mit Mühe brachte man es dahin, bak von ber Kanzel bie Aufforderung geſchah, es möchten biejenigen, die folde verdächtige Menſchen fennen, es bei Eid und Gewiſſen anzeigen.

Den 23. März. Abends im Wirtshaufe. Man fept fi um ben Tiih und läßt fi Wein, Brod und auch Käſe reichen. Dann wird politifirt und allerhand gefanngiefert. Es wurbe fehr gemäßigt gefprochen ; die gegenwärtigen Perfonen waren alle von der Notwendigkeit des Nachgebens und Anſchließens an die andern Kantone und des Nicht- Ueberwartens oder Verfpätens überzeugt. Die Berichte vom Landanımann Zweifel, der als ein fehr finats Huger Dann und BVoltsführer fehr geachtet wird, feinen vielen Einfluß darauf gehabt zu haben.

Den 24. März. Ich beſuchte Martys Dater*) im Adler und wurbe freundlich aufgenommen.

Den 25. März. Trümpi kam freudig gelaufen und erzählte von der neuen Einteilung in bie Rhodaniſche, Helvetiiche und Rhãtiſche Nepublit. In Anfehung ber Vergfantone Uri, Schwyg Unterwalden, Glarus, Zug erflärte General Brune, die franzöſiſche

Tagebucblätter von K. G. Graß. 218

Nation halte es ihrer unmürbig, ein friedliches, genugſam bemo- tratifirtes Berguolf in feiner Ruhe zu ftören, und überlafle es ihnen, ſich der neuen Helvetiichen Republik anzuſchließen.

Den 26. März Fortwandern aus Ennenda. Ich fühlte von neuem, daß id in Glarus nicht wohl einheimiſch werben tonnte. Das feinere, edlere Menſchenbedürfniß wird nicht gefühlt und an andern nicht verftanden.

Den 27. März. Ih trug meine Neifetafche und Zeichnungen felber von Ragaz nad Jenins. Herzlich freute man ſich dort meiner Ankunft, und auch id war herzlich froh ber Ruhe, bie in diefer friedlichen Wohnung herrſcht, wo ich von ber politiſchen Welt wenig oder nichts höre.

Politiſche Feriengedanten.

Bon R. v. DJ.

Zu Zeiten, ba die gewöhnlice Tagesarbeit ruht und ben Gedanken mehr Freiheit als ſonſt geboten wird, iſt es vielleicht nicht müffig, die Dinge, die ſonſt in Geſtalt der verſchiedenen Einzelfragen und -Aufgaben herantreten, einmal vom Gefichtspunfte der Allgemeinheit aus zu betrachten und babei ben eignen Stanb- punkt jo Hod und fo meit zu mehmen, als einem das irgend gelingen will. Die Vogelperfpeftive birgt zwar immer den Uebel+ ftand, daß das Bild mit zunehmender Weite undeutliher wird, und einem „Standpunkte auf der Höhe” lagern ſich leicht Wolken vor, bie das Erkennen erfchweren. Dennoch fann eine jolde Umſchau orientirend und für bie nachfolgende Arbeit im Thal förderlich fein. Zumal für uns Valten bürfte das zutreffen, ba das Gebiet unferes politiichen Dafeins, fo eng begrenzt es im Vergleich zum weiten Reiche unjerer Zugehörigfeit und vollends zum Umfange der Weltpolitit erſcheinen mag, doch eine beſonders reiche Fülle von Erſcheinungen aufweiſt, deren Einflang und Ver: bindung zu einem Gejammtbilde ſchwer fällt. Wie viel an Fort: entwidelung, Umgeftaltung und Veränderung hat nicht ber ver-

*) Marty der Sohn war Banquier in Riga.

214 Politiſche Feriengebanfen.

hältnigmäßig kurze Zeitraum ber legten 40 Jahre biefen Provinzen gebracht. Faſt will es uns dünfen, daß das Maß deſſen, was ein Land in gegebener Zeitipanne an Veränderungen ber Lebensformen zu ertragen im Stande ift, hier ſchon ein übervolles ift, und doch ſehen wir bie zwei Hauptmotore der Fortbewegung, das provinzielle Bebürfniß naturgemäßer Ausgeftaltung und ben ſtaatlichen Anſpruch auf Uniformität unter vollem Drud fortwirten. So heißt es denn immer noch und immer wieber: „Vorwärts!“ Diefe treibenden Kräfte aber wirken oft fo wenig in einheitlicher Nichtung, daß in der Beurteilung beffen, mas bas Staatsinterefie fordert und das provinzielle Wohl verlangt, jene alte Divergenz zu Tage tritt, die fo oft ſchon von ber einen Seite als Folge des unbeugjamen Separatismus ber Balten gekennzeichnet, von ber anderen Eeite als Ausfluß bureaufratiihen Schematismus beflagt worden ift. Je weiter aber zu Zeiten ſolche Divergenz klafft, um fo entfernter liegt ber gemeinfame Ausgangspunkt, jener Vereinigungspunft, in welchem bie ftaatliche Fürforge und das provinzielle Vebürfniß ſich in übereinftimmenber Erfenntniß bes Notwendigen und Yeilfamen finden fönnten. Das hat denn auch dieſe „Feriengedanken“ ver: anlaft, über bie konkreten Fragen der Gegenwart einmal weit hinauszuſchweifen und ſich vor bie großen, allgemeinen Probleme menſchlichen und ſtaatlichen Gemeinjchaftslebens zu ftellen. So gering auch die eigene Befähigung dazu bewertet wird, jo groß iſt doc) das Verlangen nad Verftändnig denn: ohne Verſtändniß feine Verftändigung, ohne Verftändigung fein Frieden, ohne Frieden fein Gedeihen.

Treten wir denn mit fühnem Entſchluſſe vor die Fragen: Was ift die menſchliche Gefellfhaft? Was bedeutet der Staat? Giebt es diesbezüglich ein greifbares Nefultat ber Wiſſenſchaft und ein Fazit geſchichtlicher Erfahrung ?

Die Schöpfungsgefhichte läßt im Anfange zwei menſchliche Weſen entjtehen, bie verfchieden geartet find, aus deren Vereinigung bie Menſchheit dann allmählid) in ihrer Vielzähligfeit und Diannig- faltigfeit hervorgeht. Schon Aritoteles nennt ben Menſchen ein Tuov zeheszov und bezeichnet ihn damit als ein Weſen, das des Zufammenfchluffes mit anderen feiner Art bedarf und ſich diefer Nötigung bewußt ift. Ein ftetes Sich-Vereinigen und Sich-Trennen, nur um neuen Zufammenfchluß zu ſuchen, erſcheint als der Inhalt

Politiſche Feriengebanten, 215

bes Lebensfampfes und der Menſchheitsgeſchichte. Welcher Art find nun biefe Zufammenfchlüffe und was ift das Gemeinfame in der unendlichen Fülle ihrer diverfen Erjdeinungsformen?

Heute mehr denn je müht ſich der Menſchengeiſt um bie Beantwortung diefer Frage, und mit den Naturwillenichaften parallel läuft die Sozialwiſſenſchaft. Die Erörterungen und Unter ſuchungen über Entftehung und Charakter menſchlicher Gemein- ſchaften füllen bereits Bände und bilden Bibliothefen. Mögen nun aud bie Nejultate folder Forſchungen, wie fie u. W. in dem großen, hervorragenden Werke des ehemaligen kurländiſchen Gou— verneurs, Geheimrat Paul von Lilienfeld, „Gedanken über die Sozialwiſſenſchaft der Zukunft” enthalten find, noch feine einwand- freie und abjchließende Beantwortung ber Frage fein, ob bie menſchliche Geſellſchaft ein den Organismen des Tier: und Pflanzen- reiches feinem Weſen nad gleiher, realer Organismus fei ober nicht, fo befteht doch darüber kaum mehr ein Zweifel, daß das Gemeinſchaftoleben in den diverſen menſchlichen Vereinigungen, von der Familie aufwärts bis zum Staat, weitgehende Analogien mit dem organifchen Leben der Natur aufweilt. Und wenn ein Heinrich von Treitſchle dem entgegen in feinen pofthum heraus: gegebenen Vorlefungen über „Politit” vor ber Nuffafiung des Staates als eines Organismus, ber organiſchen Gejegen folgt, warnt, weil folde Auffafung leicht zu Trägheit und zu einem laisser aller führe, fo ift diefe abweichende Stellungnahme erſichtlich mehr aus päbagogiihen als wiſſenſchaftlichen Erwägungen und Bedenken hervorgegangen. Uebrigens verficht Niemand mehr als derſelbe Patriot und Staatsrechtslehrer die Anerkennung des Staates als „Perſönlichkeit“, und dürfte denn doch biejer Begriff unter Abftraftion von organijcher Entwidelung ſchwer aufrecht zu erhalten fein.

Sehen wir num zu, ob und in wie weit die harakteriftiichen Merkmale des Organiſchen, des Lebens überhaupt, in ber Natur und in der menſchlichen Geſellſchaft übereinfiimmend zufam- mentreffen. Cine geheimnifvolle Kraft, jenes ſchöpferiſche „Es werde !”, das in Keim und Samen gelegt unter bejtimmten Bedin- gungen eine bejlimmte Entwicelung hervorruft, verbindet bie verfdiedenartigftien Stoffe und Elemente zu Einheiten, bringt die fo entjtandenen Gebilde als Drgane einer neuen Einheit

216 Politiſche Feriengedanken.

unter einander in Wechſelwirkung, in Weber: und Unter-Ordnung und ſchafft fo in allmählichem Aufbau vom Kleinen zum Größeren, vom Einfadhen zum Zufammengefegten ein lebendes Indi— vidbuum, das in vorausgefehener Geflalt und Eigen- ſchaft entfteht, ſich entwidelt, feinen Höhepunkt erreicht, für die Forteriftenz feiner Art forgt und dann nad) und nad) vergeht, d. h. fi wieder in Atome und Elemente auflöft, bie dann von anderen Organismen als notwendige Bedingungen ihres Werbens und Seins aufgenommen werben.

Nicht anders auch mit den Gebilden innerhalb der menſch⸗ lichen Geſellſchaft. Auch hier hat bie Vorfehung dafür geforgt, daß die Vorbedinguug aller organifhen Xerbindungen, bie Ver: fchiebenartigfeit der ſich ſuchenden Elemente in ber Ungfeichheit der Menden nad) Geſchlecht, Alter, förperliher und geiftiger Anlage 2c. vorhanden fei. Auch hier der Vorgang der Entitehung primärer, Heiner Gemeinſchaften, bie fid) mit anderen zu größeren Einheilen verbinden; ein Joriſchreiten vom Engen zum Meiten, vom Primitiven zum Komplizirten. Auch hier Wachſen und Ver: gehen, und wieder Erjtehen. In der Verbindung von Mann und Weib als Che ift die Urzelle aller geſellſchaftlichen Organiſation gegeben ; Ehe und Familie find theoretiſch und empirisch betrachtet ber Ausgangspunft aller Staatenbilbungen. Nun aber giebt es doch auch Unterjchiede zwiſchen den menſchlichen Vereinigungen und den Organismen bes Naturreiches, die auf den erſten Blick die ganze Parallele zu vernichten ſcheinen. Während in dem einzelnen Organismus bes Pflanzen: und Tierreihes die Teile und Organe nur in Folge des Ganzen, und nur im biejer Verbindung leben und eriftiren, haben bie Teile und Organe der menſchlichen Gefellfhaft, 6is herab zum einzelnen Menicen, neben und außer dem Gemeinichaftsleben audh ein Leben für ſich. Hier ſtehen der Gefammt individualität Teils indivibualitäten gegenüber. Ihre Zugehörigkeit zu größeren Gemein: fchaften beitcht zwar, aber aus teilweiſe freier Wahl hervorgegangen, lãßt fie die Naturnotwendigfeit und das Gefegmäßige der Zujam« menfchlüffe wenig fihtbar werden. Auf dem foziafen Gebiete Hält es ferner ſchwer, die hier vorhandenen Drganifationen als in ſich abgeichloffene, einzelne Organismen zu umgrengen',; ihr Zufammens hang mit anderen ift oft wieder ein fo enger, felbft wieber

Politiſche Feriengedanten. 27

organiſcher, daß es einen dazu führt, erft die gefammte Menihheit als ben einen, abgeſchloſſenen Orga nismus anzufehn. Vor Allem aber jehen wir ein Moment wirkſam fein, das ſcheinbar den Gegenfat von Geſetz und Naturnotwenbigfeit darftellt: es ift das der Freiheit. In fehr verſchiedenem DMahe wirft dieſer Faltor mit, aber er fehlt fait nirgends. Während bei gewiſſen menſchlichen Vereinigungen die von ber Natur gegebenen Vorausfegungen und Nötigungen vorwiegen, giebt es andere, die fait ausihlieglih auf Willensfreiheit und Selbft- beftimmung beruhen und bei denen das MWalten irgend eines Geſetzes ſchwer erfennbar wird. Cieht man aber näher zu, fo findet fi, daß wie einerfeits bei den natürlihen und notwendigen Zufammenfchlüffen doch immer Momente ber Freiheit (des Sic: 2oslöjen-Rönnens und des Zufammenbleiben-Wollens) fortbeftehen, fo andrerjeits bei den ſcheinbar ganz freien und willfürlichen Ver— einigungen hinwieberum von der Natur gegebene, durch Geburt erlangte, von Intereſſen geforderte, furzum vom Willen unabhängige Momente mitfpielen. Entzieht nun dieſes Moment ber Freiheit, das wir zugeben müſſen, nicht unferer Auffafjung über die orga- nifhe Natur des menſchlichen Gemeinfchaftslebens doch ben Boden? Wir meinen nicht! Fafen wir das uns zunächſt interejfirende foziale Gebilde, den Staat, näher ins Auge, jo fehen mir auch hier beide Faltore, Zwang und Freiheit, ineinandergreifend thätig. Sowohl die rein mechaniſche Auffaifung des Staates als eines bloß zwangweiſe zufammengefügten und zufammengehaltenen Ganzen, wie aud) biejenige eines ausſchließlich auf freier Vereinbarung beruhenden Gebildes (contrat social) find unhaitbare Standpunkte. Sind au die Staatenbildungen durch geographifche Verhältniffe veranlaßt, durch bie natürlichen Unter- ſchiede des Menſchengeſchlechtes nach Raſſen und Nationen beein flußt, und werben ſelbſt die Refultate der geſchichtlichen Entwidelung für die Gegenwart und Zufunft zu beftimmenbden und zwingenden Urfachen und Vebingungen der Fortentwidelung, jo ift doch fein bloßes Müſſen, fondern zugleich ein Wollen, fein bloß äuferes Zufammengefügtfein, fondern auch ein inneres Zufammengehören, das dem Staat erft den wahren und feſten Zujammenhalt giebt. Auf diefem Moment der Freiheit beruht ja weienllih das, was wir unter Patriotismus und Qaterlandsliebe verfiehen, und was

218 Volitiſche Feriengebanfen.

einen Staat und ein Volk erft groß und ſiark werben läßt. Wie aber rangirt num dieſe Freiheit, dieſes So und aud Anders - Können, in die Gefege organiſcher Entiwidelung ? Eines ift gewiß, es entrüdt diefen Organismus der greifbaren und fihtbaren Welt des Natur: reiches und erhebt ihn in übergeordnete Regionen, in benen aud) dasjenige, was wir hier „Freihe it“ nennen, auf VBorfehung und Gefeg beruft. Fühlen und erfennen wir es benn nicht, daß hinter jeber menſchlichen Freiheit doch immer irgend ein kategoriſcher Imperativ ficht?! Nehmen wir felbit die eigentlichſte Domaine ber Freiheit, das fittfiche und religiöfe Gebiet, wir finden bas Ideal erjt erreicht, wenn das „Wollen“ ſich mit einem „Sollen“ bedt. Auch ber Freiheit liegt aljo ein Gebot zu Grunde und die Freiheit deſteht in der inneren Aneignung folden Gebotes: das ift bie Freiheit auf fittlidem Gebiete, daß man will, was man joll. Ebenſo liegt aud dem menſchlichen Gemeinfdaftsfeben auf ſozialem, wirtfdaftlihem und politiihem Gebiete eine Vorausbeflimmung zu Grunde und bie Freiheit ber Entwidelung iſt in Wahrheit nichts anberes, als eine biefer Borausbeflimmung gemäße Entwidelung. Jener wunderbare, göttliche Urgrund alles orga- nifhen Lebens: dab es wird wie e8 werben follte ober zu Grunde geht, er befteht, trog aller meuſchlichen Freiheit, aud) für die menſchliche Geſellſchaft und für ihre Gemein ſchaftsgebilde. Auch hier geht alle Entwidelung vorausgefehenen Zielen entgegen; zwar nicht immer grablinig, fondern häufig durch Irrtum und Schuld abgelenkt, dennoch darauf hin, und darum giebt e8 innerhalb der menfchlichen Gefellfchaft wie im Naturreich eine natürlide und gefunde Entwidelung, neben einer unnatürlihen und franthaften Verbildung. Iſt dem aber fo, und mir meinen, bie Menſchheitsgeſchichte giebt dafür die ſprechenden Belege, dann dürfen uns bie freiheitlichen unb f&einbar zufälligen Diomente, die bei Begründung ber menfch- lichen Gemeinidaften mitipielen, nicht bejtimmen, ihnen die orga- niſche Natur abzufpreden. Hindert es uns body auch nicht ben einzelnen Menſchen trog feiner geiftigen und feeliihen freiheit und Selbfibeftimmung als einen Organismus anzufehn, ja, müſſen

Volitiſche Feriengebanten. 219

wir nicht fogar anerfennen, daß Seele und Geiſt felbit ungeachtet ihrer Unfterblichleit und ihrer Erhabenheit über bie blinden Naturfräfte auf Erden dennoch berjelben natürlichen Ent midelung vom Entftehen bis zum ergehen unterworfen find ! Wohl giebt e8 da ber ungelöften Nätfel und Fragen die Menge. Aber die giebt es im fihtbaren Naturreih nicht minder als im unfihtbaren Geiftesreih. Wollte doch einem Helmholtz die Grenz linie zwiſchen „Organifhem” und „Unorganiſchem“ ins Schwanfen geraten, weil er bie ausreihende Definition nicht fand. Woher aber auch eine folde nehmen, wenn doch alle weitgehenben Erfolge der Naturwiffenfchaft die Fragen nad) wie vor offen laſſen, was „Kraft“ und „Materie“, was „Leben” und „Naturgefeg“ feien, und was jene große, legte Einheit, jenes „von Ihm und zu Ihm aller Dinge“ eigentlich bedeute?!

Es muß uns in ber Sozial: wie in der Naturwiſſenſchaft daher zunãchſt genügen, daß wir dennoch das Lebende vom Tobten und das Organiſche vom Unorganiſchen zu unterfdeiden gezwungen find. Die Notwendigkeit ift immer ein Teil ber Wahrheit, und daher vergehen wir uns vielleicht nicht allzu ſchwer gegen die Anforderungen ber Wilienichaftlichfeit, wenn wir angefihts der zu Tage liegenden Analogien mit dem uns um- gebenden Reich der Natur die menfchliche Gefellihaft und in specie den Staat a Organismus betrachten und von biefem Gefihtspunfte aus ihn zu verftehen ſuchen.

Mir lernten bereits Eingangs als das weſentliche Merkmal des Drganifhen eine Einheit fennen, die etwas ganz Anderes ift als bie Homogenität unorganiichen Stoffes, eine Einheit, die fi aus Teilen zufammenfegt, benen felbft eine gewiſſe Individualität anhaftet, die felbft Einheiten, und zwar verſchieden geartete bilden, und bie alle, jebe in ihrer Art, dem einen Hauptzwede dienen, das Leben des Gefammtorganismus zu begründen und zu erhalten. Nein Organismus läßt ſich in gleide Teile teilen, fondern nur in einzelne Glieder ober Organe zerlegen, und es leuchtet ein, daß gerade dadurch bie Einheit, die der Organismus darftellt, eine viel fejtere und höherſtehende üt, als fie denjenigen Dingen innewohnt, die man beliebig, ohne ihr Wefen dadurch zu ändern,

Pr} Bolitifcie Feriengebanfen.

in Stüde zerteilen Tann. Es liegt ferner auf der Hand, daß je höher der Organismus auf ber Stufenfeiter ber Lebeweſen fteht, je mehr Aufgaben er im Gefammtreihe der Natur zu erfüllen hat, er um fo mehr in feinen Teilen bifferenzirt unb gegliebert fein muß. Cs fieht endlich feft und ift erperimentell erwiefen, daß bie Teile und Organe nur beftehen, um ber von ihnen zu verrichtenden Funktionen willen, und daß fie verfümmern und vergehen, ſobald ihnen die Möglichkeit folder Bethätigung genommen iſt (fo haben 3 8. Fiſche in Gewäſſern, da fein Licht hinzugelangen kann, feine Augen mehr u. bergl. m.). Es find alfo die Zwecke und Ziele bas Vorausgehende und Erfte, und die konkreten Lebensformen das durch erftere Bebingte und Nahfolgende

Iſt der Staat nun ein Organismus, fo müſſen bie Haupt prinzipien des Organiſchen aud auf ihn anwendbar fein. Auch für ihn wird es fi um eine Einheit handeln, bie in der rechten Gliederung befteht; aud) er wird um fo mehr verſchiedengearteter Organe bedürfen, je reichhaltiger und höherliegend die Aufgaben find, die er innerhalb bes Ganzen ber Menfchheit zu erfüllen berufen und beftrebt iſt, und aud im Staate find es die Zwecke und Bedürfniſſe des Lebens, welche bie Lebens- Formen hervorrufen und erhalten. Diele ſelbſt find daher, ſowohl was die Teile und Organe wie was ben Gefammtorganismus betrifft, weit mehr unb etwas anberes als bloß zufällige Geftaltungen und willfürlid gewählte Gefäße, in denen das Leben enthalten und eingeſchloſſen iſt, fie find vielmehr ber mit der Seele verbundene und jelbftlebende Körper. Wie nun aud) ber phnfiihe Organismus nur bis zu einem gewiſſen Grade Eingriffe von außen her verträgt und in Krankpeitsfällen gar verlangt, fo auch ber ftaatliche Körper. Mo die Lebensbebürfnifie gewachſen und ſich verändert haben, da begehren fie nad) Vermehrung und Veränderung der Lebensformen ; ſoll aber folche Veränderung Fortentwidelung und nit Umwälzung, Reform und nicht Revolution fein, dann wirb es in erfter Linie darauf anfommen, daß biejenigen Organe unverlegt bleiben, die das innere Lebensbebürfniß ſich geihaffen, deren Erhaltung, Stärkung und Emeiterung: Bedingung ber Fortentwidelung iſt, deren Schwädung und Vernichtung aber: Siechtum und Tod bebeuten.

Politiſche Ferlengedanken. 221

Welch ſchwere Kriſen, welch ſchwere Verlufte hat es ber Menſchheit allemal gekoſtet, wenu fie, vom uralten Wahngebilde der Gleichheit erfaßt, jene organiſchen Grundgeſetze verkannt und in blindem Fanatismus zerſtört Hat, was das Gemeinſchafts-⸗ leben ſich in allmählicher Entwickelung erbaut hatte. Unſer Zeit: alter als Erbe jener großen franzöſiſchen Revolution ſteht in vieler Hinfiht noch unter den direkten Nachwirkungen berjelben. Immer noch übt jenes Poftulat ber Freiheit, Gleichheit und Brübers lichfeit feinen verhängnißvollen Zauber auf die Maſſen aus, deren Augen der Erfenntniß verſchloſſen bleiben, daß dieſes Poftulat in Wahrheit foviel unvereinbare Widerſprũche als Worte enthält: Gleichheit it nur bei alleräußerftem Zwange benkbar, und biefer ift das Gegenteil von Freiheit, auf deren Grund allein die Brũderlichkeit ſich ftellen fönnte. Es Hilft nichts! Das Begehren ift einmal erwedt und ift ftärfer als die Einfiht, und mit ber Logik der äußeriten Konfequenz (die beſonders dem Deutſchen vor: behalten fcheint) und mit dem Inſtinkte der Zerftörung trachtet die Sozialdemokratie danach, auch den legten und wichtigften natür- lichen Organismus, Ehe und Familie, aufzulöfen. Aber keineswegs in biefen Auswüdjen allein, die als folde denn doch über kurz ober lang erkannt werden müffen, macht fi die beflagenswerte Verwechſelung der Begriffe „Einheit“ und „Gleichheit“ geltend, fondern wir fehen fie in gar vielen fozialen und ſiaatlichen Vers bältniffen und allemal zum Schaden feitgefügter organifcher Einheit fortwirfen.

Bliden wir zunächſt auf das Volf und Land jener großen Revolution! Fand es etwa nach berjelben ben Erjag für bie zer- ftörten Lebensformen und die erhoffte freiheit? Hat es nicht vielmehr unter Strömen Blutes zwilhen feinen Wahnideen ber Gleichheit hin und her geſchwankt, um immer wieder unter bem zroingenben Joch, jei es des welterobernden Caeſars, fei es bes aus den wechfelnden Majoritäten hervorgegangenen Volfstribunals ſich die Gemeinfhaftsformen vorjdreiben zu laſſen unb bie Freiheit ber Selbitbeftimmung einzubüßen? Wer wollte wohl diefen nun ſchon hundert Jahre dauernden Prozeß der Gährung in Frank- reich für abgeihloffen anfehn? Wahrlich niemand, ber bie fort- gefegten Parteifämpfe näher ins Auge faßt und wahrnimmt, daß feine Gleichheit in Nation, Sprade und bürgerlichen Rechten

22 Voliuiſche Ferlengebanten.

bie Einheit in Gefinnung, Intereſſen und Lebensauffaſſung verbürgt. Frankreich ift und bleibt das Volk und Land ber Gefahr für den ruhigen und gefunden Fortiepritt; feine faatliche Einheit ift durch die Form der Nepublit weit weniger gefichert als fie es durch eine monardifche Epige wäre; feine Zentralifation ber Ver— waltung, verbunden mit dem Mangel hiſtoriſch geworbener Organi- fationen und Organe, läßt immer wieber befürchten, daß Paris, jenes alte Zentrum bes Mahnes und der Leidenſchaft, das ganze Frankreich mit ſich fortreißt. Cs ift cin Beleg für das geringe ftaatliche Einheitsbenuftfein der Franzofen, dah daſſelbe fortgefegt an ber Imagination eines äußern Feindes und an den Nevandes Getüften auftecht erhalten werden muß.

Nehmen wir ein anderes Gtaatengebilde ber Neuzeit: bas neue deutſche Reid! Unter bem Ejepter bes Könige von Preußen, qua deutſchen Kaifers, find es Hauptjäclic zwei ſioatliche Drganifationen, in welden die politifhe Neihseinheit ſich verförpert: der Bundesrat und ber Reichstag. Jener aus Repräfentanten ber Eingelftaaten und ihrer Souveraine zufam- mengefeßt, biefer aus einer einheitlichen Wahl Hervorgegangen, bie auf der breiteften Baſis des allgemeinen, gleichen und geheimen Stimmredtes beruht. Man follte doch nun meinen, daß im Bundesrate der ſtaatliche Einheitsgebante in Folge divergirenber Interefien der Einzelftaaten leicht Not leiden könnte, während ber Reichstag in der Vereinigung ber Volfsvertreter aus Norb und Sid, Oft und Weit recht eigentlich berufen und befähigt ericien, bie Idee der nationalen und politifhen Einheit darzuthun. Geht ja doch wohl die allgemeine Annahme dahin, dahß Bismard biefes fo weitgehende, gleihmäßig über das ganze Reich ſich erftredende Wahlrecht nur vertrat, weil er eines ſchwerſten Gegen: gewwichtes bedurfte gegenüber der zu befürdhtenden Abneigung der deutſchen Fürften vor den Einbußen und Opfern, bie das Reichs⸗ fjepter der Ginzeljouveränität auferlegen würbe. Und heute, nachdem das deutſche Neich ein Menfchenalter beſtanden, wird kaum jemanb es anzweifeln, da es im Zuſammenſchluß feiner Fürften und im Yundesrat bie weit beifere und flärfere Gewähr feiner machtvollen Einheit befigt als im Neichstage, der in feiner Parteigerriffengeit und mit feinen Utramontanen, Polen und vater- landslofen Sozialdemokraten der zentrifugalen Elemente viel mehr

Boltifche Seriengebanten. 223

aufmeiit als ber Bundesrat. Solchen Beiipielen ließen ſich leicht noch andere anreihen. Rom als zentralifirender Weltftant ging zu Grunde und gerſchellte an bem ber ftaatlichen Einheit entbehrenden Germanentum; Nom als zentralifirte Kirche bewahrt bisher noch feine außerftaatlihe Weltmachtſtellung, wie uns dünkt, hauptſächlich baburd, daß es vom Chriftentum allmählich gelernt Hat, „ben Juden ein Jube, den Griechen ein Grieche zu fein“, d. h. ben natio- nalen Verfchiedenheiten im eigenen Intereſſe Rechnung zu tragen.

So zahlreich aud) bie fonft noch im Völker: und Staatsleben wirkenden und entfcheibenden Faktore fein mögen, das will uns doch als ein allgemeines Fazit gefhichtlicher Erfahrung erſcheinen, baf nur die reih und mannigfaltig in fi gegliederten Gemeinshaftsgebilde bie Etürme der Zeiten überdbauern, während in zur Gleich— heit aufgelöften Maffen ber dennod fort» beftehbende organifdhe Trieb nur frankhafte, ephemere und ſich gegenfeitig negirenbe Vereinigungen hervorbringt. Während bie erfieren Organismen darftellen, welchen aus ben in natürlicher Entwidelung gervorbenen und darum wiberfiandsfähigen Organen ftets neue Rebenskräfte zufließen, find unorganifirte Menſchenmaſſen ftets ein gährenbes Element, in welchem jede hineinfallende Wahnidee, jede die Niedrigfeit des Allgemeinniveaus überragende Perjönlichkeit den Anlaß zu verderbenbringenden Wucherungen aller Art geben. Nicht nur die ferne Vergangenheit, auch die nahe Gegenwart giebt dafür Belege. Je mehr DOrganifationen ber Vergangenheit ber Radilalismus einer für Kritit und Negation bejonders befähigten Neuzeit einfad) befeitigt Hat, ftatt fie wo erforderlich auszugeftalten und zu verändern (Innungen, Zünfte, Korporationen 2c.), um jo fieberhafter arbeitet e8 in ber ber feſten Struftur beraubten Menſchenmaſſe. Die den Einzelnen nahe umgebenden, ihm ver ſtändlichen Gemeinfdaftsgebilde fehlen, und es entfteht dadurch einerjeits ein jeber Gemeinfhaft feindlicher Individualismus und Egoismus, andrerjeits ein ins Unbeftimmte ſchweifender 3dealismus, der ber fahbaren Realität entbehrt. Im Wechſel und Widerſpruch ber Meinungen hat dann bie Negation erleidhterten Sieg, und Nigilismus und Anardismus treiben ihre menſchheits- und ftaatsgefährlihen Blüten. Das haben fajt alle Staaten in

2 Poltifce Geriengebanten.

erbitterten Parteifämpfen, in fozialiftiichen Arbeiterbewegungen und ähnlichen Vorgängen zu erfahren gehabt; bas bedingt die Nervofität der Zeit und jenes nicht weichende Gefühl der Unficherheit und ber Erwartung von Rataftrophen. Auch die Bewegung innerhalb der ruffifhen Stubentenfhaft gehört als Einzelerfdheinung ihrem Urſprunge und Verlaufe nad) hierher; auch fie ift weſentlich aus dem Mangel organifcher Gliederung hervorgegangen und daburd) ermöglicht worden, wie ſich das deutlid) Darin geoffenbart hat, daß fie nur dort feinen Nährboden, fondern die Schranfe fand, wo es, wie in den baltifden Provinzen, eine Forporelle Gliederung ber Studentenſchaft und damit naheliegende, der Jugend entſprechende Gemeinidaftszwede giebt.

Unfere bisherige Umfchau hat uns die Analogie des menſch- lichen Gemeinfchaftstebens mit dem organifden Leben der Natur in der Notwenbdigfeit der Gliederung vor Augen geführt. Mit berfelben Evidenz aber leuchtet uns aud) die andere Notwendigkeit, die ber in ſich geſchloſſenen Einheit jebes Organismus entgegen, und ebenſo leicht wird es fein, auch für diefes Erforderniß die Velege aus der Gedichte des Gemein: ſchaftolebens anzuführen.

Hier nun gift es den Ausgleih ſcheinbarer Gegenfäglichfeit zu finden und bas Weſen einer Einheit, die der indivibualifirten Teile ebenfo fehr bebarf wie deren feflen Zuſammenſchluſſes, zu erfaffen.

Jede organische Einheit, wie fie ſich in einer fonfreten, äußerlichen Geftalt darjtellt, beruht auf inneren, intimen Vorgängen, die in einer fielen Wechſelwirlung der Teile zum Ganzen und des Ganzen zu ben Teilen bejtehen. Die Teile find um des Ganzen willen da und das Ganze iſt nicht nur Summe der Teile, fondern ift gleichzeitig aud) Worausfegung und Bedingung für die Eriftenz der Teile, iſt aljo aud) um ihretwillen da.

Auch bei Betrachtung bes Staates nehmen wir zunãchſt feine äußere Geftalt wahr, wie dieje durch die geographiiche Abgrenzung, durch die Struktur des Verwaltungsmechanismus und durd alle das Ganze gleihmäßig umfaſſende Einrichtungen hergeftellt wird.

Aber wir erlennen alsbald, daß diefe äußere Geftalt nur bie Form eines inneren Lebens ift, eines Lebens, welches jowohl von

Politlſche Ferlengedanken. 225

ben Teilen wie von dem Ganzen, von jedem in befonderer Meife aud für fih und um feiner felbft willen beansprucht wird. Im Naturreich regelt und bejtimmt eine unbewußt wirkende Naturkraft dieſe notwendige Reziprogität. In ber höheren Weltorbnung menſch- licher Gemeinfhaft wirft das Moment der Freiheit und Selbft- beftimmung mit, und es fommt baher auf ein Erfennen und Wählen ber den inneren Bebürfniffen entipredhendften Lebensformen an. Diefe zu finden ift Aufgabe der Gtaatsfunft und Inhalt der Politil. Alle konkreten Maßnahmen berfelben werden nun ihr Abfehen entweder vorwiegend auf das Ganze, als geihloffener Einheit, oder mehr auf die Theile und bie möglichſt freie Entfaltung ber Einzel» träfte gerichtet Halten.

So bilden fih denn im Staatsleben gemiffenmaßen zwei Pole, zwiſchen denen fi die innere Politik bewegt und bie wir mit „Zentralifation” und „Dezentralifation” bezeichnen dürfen. Alle Staatenbilbung iſt, dem organifhen Wachen entfpredhend, einem MWerbegange gefolgt, ber in ber zunehmenden Aſſimilirung und Derbindung verjdicdener fleiner Gemeinſchaftsgebilde zu größeren und in dem Zufammenfügen aller zur Einheit des Staates beftanden hat, ift alfo im MWefentlichen ben Weg fortſchreitender Bentralifation gegangen. Aber die Gefchichte lehrt, daß auch biefer Weg feinen Rulminationspunft hat, bei deſſen Ueber ſchreitung bie Neaftion im Nuseinanberfallen der Teile eintritt. Die Wahrheit, pro casu der Blütezuftand ftaatlichen Lebens, liegt alfo auch hier offenbar in ber Mitte. Es fällt aber nicht leicht, diefe Mitte von ben weit auseinanberliegenben beiden Stanbpunfien aus zu beftimmen, und fällt um jo ſchwerer, als bie ftaatlihen Funttionen und Aufgaben Teineswegs in ber Richtung einer geraben Linie liegen, fondern in ben mannigfaltigften, einander kreuzenden und bebingenden Lebens- und Rraftäußerungen bejtehen, bezüglich deren bie Norm und das Maß der Zentralifation ober Dezentralis fation unmöglid; biefelben fein fönnen. Cs giebt immer Dinge, bie ihrer Natur nad nur vom ftaatlihen Zentrum aus und im Intereſſe ber Staatseinheit geregelt werben können, und es giebt andere, die ſich folder Regelung ſchlechthin entziehen. Ein großer Teil aber der Erforderniſſe und Geftaltungen des Gemeinjchafts- lebens bleibt beiden Arten der Behandlung zugänglid) und deshalb

226 Voliuiſche Feriengebanfen.

Tenngeichnen Zentralifation und Degentralifation dennoch die beiden Hauptrichtungen ber inneren Pofitit.

Die beiden Richtungen entipredhen ben beiden Hauptmomenten alles organiihen Seins: Einheit und Gliederung. Beiden Auffaffungen liegt alfo Wahrheit zu Grunde, und bie aus ber jeweiligen Einfeitigfeit bes Gefihtspunktes refultirende Divers geng wird fi) nur in dem Mafe verringern, als es gelingt, die befondere Art ftaatliher Einheit und Gliederung zu erfennen und bie rechte Unterſcheidung ber ber ftaatlicher Fürforge unterliegenben Dinge nad) obigen drei Kategorien zu machen. In dem engen Rahmen biefer Ausführungen und von bem gewählten Standpuntte ber Allgemeinheit aus wird foldes nur in weiten Umriſſen verfucht werben fönnen.

Bleiben wir zunächſt bei der Einheit. Auch der Staat bedarf einer fpezifiihen Geftalt. In ber einheitlichen Heeres- organifation, in der eine höchſte Spike erfordernden Beamten- hierarchie, in der Einheit letter, höchfter Gerichts>, Verwaltungs: und Gefepgebungsinftangen u. ſ. w. manifeftiet fi der Gefammt- ftaat als jolder. So notwendig bieje Einheit ift, aus: reichend iſt fie doch nod nicht. Es iſt erſt die Einheit des Medanismus und noch nicht die organiſche. Das fefigefügtefte Anochengerüft und Musfelfyftem fällt alsbald ausein- ander, fobald aus dem Körper der innere Trieb zum Leben, das Leben felbſt, gewichen ift. Auch im Staatsförper muß zu jener mehr formalen und äußerlichen Einheit eine innere, von innen heraus wirfende, hinzutreten.

Was ift nun im Gemeinſchaftoleben ber Menſchen das innerlich Wirkende und worin beſteht das Analogon mit jener organiſchen Naturkraft, die fortgeiegt das Zufanmengehörige verbindet, um es mit Andersgeartetem in Veziehung zu jegen und bie fo im Wege der Differenzirung und Lofalifirung den Organismus ſchafft? Nun, wir meinen, es find das zunächſt bie Vebürfniffe und Inlereſſen, das bewußte ober unbewußte Hinfireben zu den Zweden und Zielen des menſchlichen Dafeins, welche die Menſchen ſich vereinigen heißt. Bei ber unendlichen Mannigfaltigfeit folder Bedürfniſſe und Interefien aber, deren Vefriedigung in dieſer Welt ber Vegrenzungen und Velhränfungen feine vollfommene fein Tann, ftoßen fie mehrfad auf und gegeneinander, und es

Bolitifce Feriengebanten, 27

Tann ein Ausgleich folhen „Kampfes ums Dafein” immer nur in der Vereinigung zu einem mehr umfaſſenden tertium, zu einem nãchſt höher ftehenden Intereſſe ftattfinden. Es muß daher immer ein zuſammenfaſſendes Ganzes geben, bas von einem bie Einzelheiten überragenden Gefihtspunfte aus bie Wirkfamfeit der Teile regelt, und zwar fo regelt, ba bie möglicfte Rraftentfaltung im Einzelnen in richtigen, ergängendem Zufammenmwirken ber Kräfte auch dem Ganzen zu Gute fomme. Das iſt die Bedeutung des in ſich abge: fchloffenen Organismus, das auch auf fozialem Gebiet bie Bedeu: tung des Staates. In biefer Wechſelwirkung der Intereſſen und Kräfte befteht die innere Gtaatseinheit, die um fo fefter und unlösbarer ift, je mehr fie fih vom bloßen Medanismus unterfgeidet. Das aber iſt der große Unterſchied zwiſchen Mechanismus und Organismus, daß es für erfteren einer erternen, fremben Kraft bebarf, von ber alle Teile bewegt werben, einer Kraft, bie in dem Maße von außen her verftärft werben muß, als Teile ober Leiftungen Hinzufommen, und die ſich mitfammt dem Getriebe im Gebraude verbraudt, während der Orga- nismus jo viele interne Rraftquellen als funftionirende Organe befigt, deren Kraft in fteter Selbfterneuerung gerade im Gebraude wächſt und deren Vermehrung eine Stärkung der Gefammitraft bebeutet. Cs mühte baher aud für den Staat und feine Gefammfraft darauf anfommen, Drgane zu haben und zu gewinnen, die von dem inneren Lebens: bebürfniß hervorgerufen bie Kraftquellen mehren, und es wäre ihnen bie Freiheit der individuellen Kraftentwidelung in bem Maße zu gewähren, als es das ftaatlihe Gefammtintereffe zuläßt; biefes aber if, nad) innen gerichtet, doch felbft nichts anderes als die gleichmäßige, größtmöglichfte Wohlfahrt und Leiftungsfähigteit aller Zeile.

So bildet die innere GStaatseinheit gewiljermaßen einen in fi gefhloffenen Kreis fid gegenfeitig bebin- gender Intereflen und fich gegenfeitig vermehrender Kräfte.

Es ijt nun aber nit wohl möglich, von Staatseinheit zu handeln, ohne eines Faltors zu gebenfen, der namentlid) wieber im Geutigen Gemeinfjofsleben bie Hervorragenbfe Kalle fielt

228 Politiſche Feriengedanten.

das ift der nationale. Den nationalen Einheitsftaat, ben begehrt nicht nur bie heutige Menfchheit, ben verlangte fie icon in ihren Uranfängen, als fie jenen Turm zu Babel baute, deſſen Spige in ben Simmel reihen follte. Doch ba trat ber Weltenlenker mit feiner Sprahverwirrung dazwiſchen und bie Menſchen mußten auseinander unb teilten fid) in Nacen, Nationen und Sprachen, und das Licht der höchſten Gotteseinheit bricht ſich ſeitdem in dem getrübten Spiegel menſchlicher Erfenntniß in ben mannigfaltigen Farben ber verfdiedenen Religionen und Weltauf- faffungen. Iſt damit nun ber Dienfchheit jede Einheit genommen ? IH fie mit ihrem Turm zugleich in zuſammenhangoloſe Trümmer zerfallen? Doc feineswegs! In allen Völkern der Erbe, in allen jeweiligen Rulturftufen ihrer Entwidelung giebt es biefelben Grunds ideen: Gut und Böfe, Recht und Unrecht, Liebe und Haß und bie Vorſtellungen von Schöpfer und Geſchöpf. Allen den unzähligen Spraden find biefelben grammatifalifcen Grundbegriffe eigen, weil fie fammt und fonders auf ber einen und gleiden, nur dem Dienfchen verlichenen Fähigkeit beruhen, das auf ihn von außen durch die Sinne Einwirfende zur Vorftellung und zum Gedanken werben zu laffen und es dann im Wort gewifjermaßen neu zu fchaffen. Auch nad der Spradwverwirrung kann daher der Eine des Anderen Sprache erlernen, aber Seitdem ift doch einem jeben Volle feine Sprade gegeben, in ber es jene f—höp- feriiche Fähigkeit „zu ſprechen“, d. h. feinen Gedanfen eine auch Anderen und Allen wahrnehmbare Geftalt zu verleihen, in feiner Art entwideln und beihätigen fol. Am Turm zu Babel entftand mit ber Teilung in Nationen ber Begriff und die Bedeutung der Mutterfprade.

Sollten wir cs num beflagen, daß bem fo ift, oder vermögen wir ahnenb zu erfennen, baf, wie in ber gefammten Schöpfung aus der Einförmigfeit des Chaos die Vielgeftaltigleit bes Weltalls geworben it, fo aud) Hier aus dem Unifono die Harmonie bevor: gehen fol, und daß bie Menſchheit an Gejammteigentum, an geiftigen und fittlien Gütern durd) die Vielipcadigleit unendlich) mehr gewonnen hat, als cs ihr bei einem Babelſchen Volapük vorausfightlih gelungen wäre?

So leicht hiefür bie allgemeine Anerfennung zu finden fein dürfte, fo wenig Uebereinſtimmung giebt es doch über die Bedeu

Bolitifeie Feriengebanfen. 2

tung von Nation und Sprade im Gemeinjchaftsleben ber Menfchen. Bas iſt's denn nun darum?

Vom Gefihtspunfte der Menichheit als Ganzes angejehen, bedeutet ihre Scheidung in Raſſen und Nationen offenbar nichts anderes als wiederum bie organiſche Differenzirung, d. h. bie Gruppirung nad) Elementen, die, ohne jemals einander gleich zu fein, ſich doch in Analogie hemifcher Affinität ſuchen und ihre Vereinigung leichter als andere finden, weil ihnen gewiſſe Vers einigungspunfte näher als anderen liegen. Wer mollte aud) leugnen, daß bie Gleichheit in Nation, Sprahe und Religion Antrieb und Erleichterung der Verftändigung und Vereinigung it?! Und doch fehrt die Völler- und Staatengeſchichte, daß ſolche Gleichheit weber bie einzige nod bie unbedingt wirtfame Bebingung gefunden Fortſchrities und fultureller Blüte innerhalb des jtaatlihen Gemeinſchaftolebens geweſen ift. Staaten mit homogener Bevölterung find vielfach weit zurücgeblieben und von national gemifchten raſch überholt worden (4. B. China und Amerifa), und während in erfteren bie Sntereffengegenfäge zu Zerflüftungen geführt, Hat in lebteren bas flantliche Bemeinfchafts- bemußtfein ſich auch über nationale Verſchiedenheiten zu erheben vermocht. —- Keine Kultur, wie fie uns heute vorliegt, fann als das ausjchließliche und reine Produft einer beflimmten Nation angejehen werben, vielmehr ift jede die Fortfegung und Umgeftal- tung einer vorherigen, andersnationalen, und feine der heutigen Nationen felbit ſteüt eine Neinfultur, eine birefte, unmittelbare Fortentwidelung ihres Urftammes dar, fonbern ift mehr ober weniger das Probuft nationaler Miſchung. Trobdem bleibt es bei ber Unterſcheidung ber Maſſen nad) Nationen und Sprachen, und bfeibt es ferner babei, daß trop aller darauf gerichleten Neigungen und Betrebungen bie Kreije „Nation“ und „Staat“ fih nirgends in ber Welt vollfommen beden. Eine Weltorbnung vorausgefegt kann das nicht Zufall fein, fondern gehört in ihre Plan-Zwedmähigfeit. Verſuchen wir es benn ein wenig hinter die Schleier, die fie uns verhüllen, zu ſchauen, und nad) ber Bedeutung bes nationalen Momentes für Menſchheit und Staat zu fragen!

Bir fanden bereits, daß bie nationale Scheidung und Glie— derung ber Menihheit für fie als Ganzes beiradtet, bie

230 Politiſche Feriengebanten.

organifche Differenzirung barjtelle. Das Heißt aber nod nicht, daß Rafie, Volt oder Nation an fid) ſchon Organismen feien. Das find fie thatſächlich nicht, ſondern bie Einzelorganifationen innerhalb der Menſchheit find die ftaatlihen, für beren Entftehung und Fortbeſtand nod ganz andere Vorausfegungen und Yebingungen maßgebend geweſen find unb bleiben als aus- Tchließlich die nationalen. Wohl aber bebeuten Nace, Volk ober Nation organisch wirkende Kräfte, und zwar Kräfte, deren Dienft ber Gefammtheit ber Menſchheit, nit bloß Brudteilen derſelben gilt.

In der Verfennung dieſes Verhältniffes und in ber mangelnden Prözifirung der Begriffe „Nation” und „Staat“, „Organismus“ unb „organifche Kraft“ liegt unferes Erachtens nad) der Haupts grund allen nationalen Haders. Sobald man bie Bebeu- tung ber Nation ausfhließlid für ben Staat (Hatt für die Menihheit) und die Bedeutung des Staates ausfhließlid für bie Nation (ftatt für alle Staatsangehörige) in Anfprud nimmt, gelangt man zum heute wiederum fein Haupt erhebenden Natio- nalismus, beffen innerer Widerſpruch mit ſich felbft offen zu Tage liegt und der in allen national gemiſchten Staaten (wie 3. B. in Defterreih) gerade bie Staatseimheit der äußerften Gefahr ausfegt.

In ber univerfellen Auffaffung des Begriffes „Nation“ dagegen, als Borftufe und motwenbiges Durchgangsſtadium für bie Menſchheitoidee, bilbet das gefunde Nationalbewußtjein eine jener Leben erzeugenden Kräfte, erhebt das ſtaatliche Bewußt- fein zur Erkenntniß ber Bedeutung des Staates im großen Orga- nismus ber Dienichheit und wahrt ihn bamit vor jener Einfeitigfeit und inneren Verfnöcherung, beren Sinnbild bie chineſiſche Mauer darbietet. Dann aud) ahnen wir, warum wohl ber Weltenlenfer bie Kreife „Nation” und „Staat” niemals ganz zufammenfallen läßt; daß er den Staaten fomohl in ben frembnationalen Ein ſchlüſſen wie in den außen gebliebenen Volksgenoſſen Mittel und Organe gewähren will, den Zufammenhang mit feinesgleichen, b. 5. den anderen Staaten, herzuftellen, daß er dem Eingelftaate und ber Einzelnation damit die Quellen eröffnet, bie eigene Individualität durch erleichterte und vertiefte Berührung

Poliifche Zeriengebanten. 231

mit anderen zu bereidern und auszugeftalten. Treff lichen Ausbrud verleiht dieſem Gedanken Ulrich von Wilamowitz⸗ Möllendorff in einer 1898 in ber Verliner Univerfität gehaltenen Rebe zur Feier des Geburtstages Sr. Diaj. des deutſchen Kaiſers über „Boll, Staat, Sprache.“ Da Heißt es zum Schlufle Hin: „Soweit die Staaten nationale Gebilde geworben find, it der Staat Träger einer nationalen Kultur; aber in feinem Weſen als Staat liegt das nicht und er foll ſich nicht einbilden, fie beherrſchen zu können, denn er hat fie nicht gemacht, fo wenig wie die Religion, die er aud nicht beherrſchen fann. Staat, Volt, Religionsgemeinichaft find Kreiſe, die ſich vielfach ſchneiden müſſen zum Seile der Menichheit und ihrer Kultur, bie rettungslos zer⸗ fplittern würde, wenn jene Kreiſe je zufammenfielen.“

Es ift das derjelbe Grundgedanke, zu dem aud wir in unferen bisherigen Unterſuchungen geführt worden find, daß in Nation, Religion und Sprade Kräfte gegeben find, beren Wirkſamkeit von Geſetzen geregelt wird, die einer höhern und mehr umfaffenden Ordnung angehören als fie der Einzelftaat repräfentirt. Jede Nation und Religion bildet und wandelt die Kultur, jebe Kultur beeinflußt und bereichert die andere, und da die Gejammtentwidelung ber Menſchheit trotz aller zeitweifen Schwankungen eine fortihreitende und aufwärts bewegte it, muß jede höher ftehende, nicht fchon im Nüdfchritt begriffene Kultur die mod) jüngere und zurüdjtehende fid) nachziehn und führen. Diefen organiichen Prozeß können Zwangsmaßregeln wohl jtören und aufhalten, nicht aber in feinem Wejen ändern. So naturgemäß und felbftverftändlih es auch ift, daß Staaten, deren überwiegende Mehrheit der Angehörigen einer und berjelben Nation find, ihre Individualität aud) in nationaler Beziehung ausprägen, z. B. eine bejtimmle Sprache als bie Staatsiprade, d. h. als diejenige fennzeihnen, in welder ber Staat als Einheit mit feinen Gliedern und Teilen verkehrt, fo ſicher ift es, daß die andersnationalen Teile ihr Veſtes für das Ganze nur thun und geben fönnen in möglicjit freier Entfaltung ihrer natürlichen Kräfte. Auch in diefer Hinficht wird die innere Gtantseinheit, die bie Vorausfegung ber äußeren iſt, an Stärke und Probuftivität in dem Maße gewinnen, als in ben Teilen und Organen bas Bewußtfein erwect und erhalten wird, daß es der Staatsorganismus

232 Politijche Feriengedanten.

ift, ber aud) ihr Einzeldajein gewährleiftet und fördert. Nationale Verſchiedenheiten innerhalb eines Staatsganzen brauden daher ihrer Natur nad die Staatseinheit nicht zu ftören. Das lehrt die Gefgichte, das jehen wir auch heute noch. Nehmen wir z. B. ben Schweizer: er ift Deutſcher, Franzofe ober Italiener, aber immer zugleid durdaus Schweizer. Gleicherweiſe verhält es fid) mit den fonfeffionellen Verſchiedenheiten, vorausgefegt daß die Kirchen, foweit fie irdiſche Inftiturionen find, nicht außerhalb bes Staates, ſondern innerhalb feiner Organifation Stehen.

Liegen jomit Nationalität und Religion nicht eigentlid) „im Weſen des Staates“, fo fann biejes Moment troß feiner hohen Bedeutſamkeit doc) feinen beftimmenden Einfluß auf bie Art ftaat- licher Lebensverwaltung und auf bie Frage „Sentralifation” oder „Dezentralifation“ ausüben. Wir dürfen daher zu dieſem unferem eigentlihen Thema zurüdfehren und verſuchen, das Fazit unferer bisherigen Wahrnehmungen in einigen allgemeinen Sägen zu firiren.

Der Staat als organifhe Einheit hat nah außen hin die Bebeutung und Aufgabe, eine Individualität, eine Perfönlichfeit mit eignem, jelbftbewußtem Willen darzuftellen und bedarf dazu der Macht, bie nur in zentraliſtiſcher Zuſammenfaſſung ber Eingelträfte und in einheitlicher Struftur ber Glieder gegeben und begrünbet werben fann. Das gelammte Gebiet der äußeren Politit wird fomit Gegenftand der ausjchliehlid zentralen Negelung des Staates fein und bleiben.

Nah innen gilt es zwar gleichfalls bie Einheit zu wahren, aber eben jene wahrhaft organifde, bie ihrem innerften Weſen nad) von ber bloß mechaniſchen unter fchieben ift. Kant definirt den Begriff bes Rechtes als die Summe ber Bedingungen, unter benen die Freiheit jedes Einzelnen fi mit ber Frei— heit Aller verträgt. Sofern nun „Politif” auch „Sta tuirung von Recht“ bedeutet, kann der Kantifhe Sag auch auf fie angewandt werben. Es heißt dann für die innere Politif bie Summe ber Bedingungen auf dem Gefeggebungswege zu firiren und fie durd die rechte Verwaltungsorganifation wirffam zu madjen, unter benen ſich bie Freiheit der Entwidelung der Teile

Polttifche Feriengebanten. 233

und Organe mit ber freiheit der Entwicelung der Gefammtheit verträgt.

Diejes Normalverhältnig kann aber nur eintreten, wenn im inneren Staatsleben bie fontrolirende, leitende, ausgleichende und eventuell jtrafende Gewalt von der fortgefegt arbeitenden, ſchaffenden und geftaltenden Kraft unterſchieden wird. Wie eritere der Zentralifation und bamit einer Beamienmelt bebarf, fo letztere der Organe, die aus den Bedürfniſſen hervorgegangen, in engfier Fühlung mit diefen ſtehen und bie lokalen Lebensquellen Tennen. Im ftaatlihen Organismus haben bie örtlichen Organe eine Doppelaufgabe; fie follen bie Ranäle fein, durd) die das ftnatliche Gemeinſchaftsbewußtſein bis in die Tiefe aller Volkoſchichten bringt, und fie follen Saugwurzeln fein, durch die der Staat aus allen Eingelquellen die Kräfte und Säfte gewinnt, bie vereint feine Geſammtkraft barftellen.

Darin liegt die Bedeutung aller in geſchichtlicher Entwidelung gewordenen Stände und Berufsflaffen, wie Bauerſchaft, Adel, BVürgerfhaft 2c., darin auch Anlaf und Nötigung, gewifle Funf- tionen des ftaatlihen und fozialen Lebens, die eine Beamtenwelt, und wäre fie noch fo groß und gemandt, mangels örtlicher Ver— trautheit und direkten Intereſſes zu erfüllen außer Stande ift, in Form von Selbftverwaltungen zu bezentralifiren.

Das ift bas „Divide et impera“ in orgar nifdem Sinne

Mit der Negierungsform des Staates, ob dieſe monarchiſch ober republifanifh, ob abſolutiſtiſch oder Tonftitutionell ift, haben „Zentralifation” ober „Dezentralifation“ bireft nichts zu thun. Auch eine bemofcatiihe Republif fann im äußerften Maße zentra- liſirt fein, mährend bie abjolute Monarchie der Dezentralifation weiten Spielraum zu geben vermag. Endlich dürfen auch nicht die Begriffe „parlamentarijches Regime“ mit „Selbftverwaltung“ verwechſelt werden. Auch das find Dinge, die zunächſt ganz unabhängig von einander daftehen. Hängt es doc) ſchon ganz von ber Art der Zufammenfegung jebes Parlamentes ab, ob und in wie weit bas „Selbſt“ ber einzelnen Intereffengruppen babei zur Geltung zu fommen vermag oder nicht.

234 Bolitifäe Feriengebanfen.

Am Schluſſe meiner „Jeriengebanfen“ angelangt, bitte ich meine freundlichen Leſer um gütige Nachſicht! Zumal diejenigen unter ihnen, die als rechte Nealpolitifer gewohnt find, den Fon: treten Dingen und ragen direkt ins Antlig zu fchauen, werben auf ber von mir gewählten „Höhe der Allgemeinheit” etwas von bes „Gebanfens Bläſſe“ unliebjam verfpürt haben.

Livland und die Shlaht bei Tannenberg.

Die epochemachende Bebeutung der Schlacht bei Tannenberg findet man in allen Geſchichtsbüchern hervorgehoben und gefenn- zeichnet. Wie ſtark der Eindrud war, den die Schlaht auf bie Zeitgenoffen von ben Pyrenäen bis zum Ural hin machte, erfennt man aus vielen Chronifen ihrer Zeit. Die Spätern haben ihr bie völlige Umgeftaltung ber politiſchen Macjtverhäftniffe im norb- öftfichen Europa zugefchrieben. „Es war ein Umſchwung ber nationalen und damit zugleich der Rulturverhältniffe jener Regionen bis tief in die Neuzeit hinein“ 1)Y. Man fieht in dem Tage von ZTannenberg den Sieg der nationalen Elemente über die univerfalen Tendenzen bes abendländiſchen Mittelalters, den Sieg der Maſſen über das romantifhe Nittertum, die Zurüddrängung ber deutſchen Rolonifation und der Germanifirung des Dftens und ben Beginn eines im Oſten maßgebenden Staatslebens ber ſlaviſchen Völker. Natürlich kann, zumal für Kulturſtaaten, eine einzige Schlacht, mag fie noch fo furdtbar erſcheinen, nie die eigentlide Urſache großer politifher Entwidelungen fein. Durch fie tritt nur offen zu Tage, was ſchon lange vorher angebahnt ift, aber bisher nad) geſchwankt Hat und vor ben Zeitgenofjen durch die Gewohnheit bes Früheren, durch die Nachwirkung älterer Thatfahen und Ent: widelungen verhüllt worden ift. Nun erft fangen fie an, bie Aenderung ber politiichen Verhältniſſe zu erfennen und zu begreifen. Debenfalls ſank nad) diefer Nieberlage das Aniehen des Deutſchen Ordens und feines Staates bei ben andern Nationen und Staaten gewaltig. Der Orbensftaat aber bedurfte zu feiner Weitereriftenz des äußern Anjehens mehr als andere Staaten. Das traf in

) Hanke, Weltgeſchichte o, S. 172. Vgl. aud) in dieſer Monatsicrift Bd. 33 ©. 677: W. vergengrun, Die Schlagt bei Tannenberg und der Hodr meifter Heinrid) von Plauen.

236 Libland und bie Schlacht bei Tannenberg.

eriter Linie Preußen. Aber auch Livfand litt darunter, und von ſchwer wiegenbder Bedeutung war, daß Livlanb ſich nun viel ftärfer als bisher von Preußen und vom Römiſchen Reid) beuticher Nation gefchieben und auf ein Sonberleben angewiefen fah. Xor furgem noch war in Livland bie innere Entwidelung zum Einheitsftaat, wie fie fi im 14. Jahrhundert naturgemäß zu vollziehen ſchien, zum Teil gerade mit Nüdfiht auf bie notwendige Verbindung mit Preußen geftört und gehemmt morben. Nun war Preußen aufs ſtärkſte geſchwächt, die Verbindung mit ihm erft recht gefährdet, in Livland aber war die innere Schwäche geblieben. Sie beichränfte das Lond fortan allen Nahbarftaaten gegenüber auf eine vorfichtige Defenfive.

Die Hat fi Livland zur „Schlacht bei Tannenberg“ ver- halten, welches ift der kauſale Zufammenhang ber lioländiſchen Politik vor und nad der Kataſtrophe? Dieſe Frage ift in ben Darftellungen ber livländifhen Gefchichte fehr unzureichend beant- wortet. Man hat aus allgemeinen Erwägungen auf unbefannte Einzelheiten gefchloffen und ift zu unbeutlichen ober faljchen Bildern gefommen. Gewiß ift die zeitgenöffiiche Ueberlieferung dürftig, aber fie ift noch lange nicht vollftändig verwertet worben. Im Nachſtehenden foll nad einem zum Teil neuen urkundlichen Material erzählt werben, welche Einzelheiten uns wirklich überliefert find, wie fie den befannten internationalen Beziehungen entſprechen und mas baraus geichloffen werben darf. Die Erzählung geidieht im Anſchluß an die im vorigen Bande dieſer Monatsichrift veröffent- lichte Arbeit „Der Kampf des Deutfchen Ordens in Livland um den liofändif—hen Einheitsftant im 14. Jahrhundert.”

Die politifden Greigniffe von 1398 bis 1405.

Am 15. Juli 1397 hatten bie livländiſchen Orbensgebietiger mit dem Stift Dorpat einen Frieden fließen müffen, der für bie bisher mit Erfolg angeftrebte Unterordnung ber livländiſchen Bis— tümer unter den Deutfchen Orben ein ſchweres Hinbernig mar. Es mar gefchehen, um dem Deutichen Orden in Preußen bie Freiheit ber Aktion gegen feine auswärtigen Feinde zu fihern. Gegen zwei Verbindungen mußte er ſich wenden: gegen bie Polens und Litauens unb gegen bie ber drei ſtandinaviſchen Reiche, bie Union von Kalmar. Im Frühjahr 1398 ging ber Kodmeifter

Moland und die Schlacht bei Tannenberg. 2337

Konrad von Jungingen ans Werk. Die Infel Gotland wurde ben Mecklenburgern und ihren Verbündeten, ben Vitalienbrübern, ent» riffen und vom Orden in Befig genommen. Bei diefer Erpedition, die einen für jene Zeit bedeutenden militäriihen Aufwand erforberte, zeigte fich bie Leiftungsfähigfeit ber preußifchen Flotte und bes preußiſchen Heeres in glängender Weife als prompt und eralt. Das Anfehen des Ordens ftieg überall. Scheinbar handelte es ſich dabei ausſchließlich um bie Niederwerfung des Seeraubes auf der Oftfee. In Wirklichleit war es noch mehr ein aggreffiver Schritt gegen Dänemark und bie falmarifde Union. Der Befig Gotlands follte dem Orden das politifche Uebergewicht auf ber Oſtſee geben; in Verbindung mit der Herrihaft der Deutſchen in den ſchwediſchen Städten follte er die Union der norbifchen Reiche zu nichte machen. Für Dänemark hing die dauernde Verbindung mit Schweben von bem Befig der Hauptitabt Stodholm ab !). Stodholm aber hatten feit 1395 in Pfandbeſitz fieben Hanfeftäbte, unter benen vier, Thorn, Elbing, Danzig und Neval, Städte bes Hochmeiſters waren. Wir können nit daran zweifeln, daß der

1) Damit verhielt es ſich folgendermafien. König Albrecht, ber medien. burgiſche Herzog, der ſeit 1363 in Schweden herrſchte, mar 1359 von ber Aönigim Margarete befiegt und gefangen worden. Seine Hauptftadt aber, das von deutfchen Kaufleuten regierte Stodholm, behauptete ſich gegen die Dänen. Zur Befreiung des Königs und zum Schuhe Stodholms führten die medlenburgifchen Herzöge und Landesitände Arieg gegen Dänemark. Sie verbündeten fid mit den Piraten, und diefe bemächtigten ſich 1302 der Infel Gotland und machten fie unter der nominelfen Herrſchaſt der Meclenburger zum Zentrum des Setraudes. Da vermittelten 1305 endiich der Dochmeiſtet und übel mit andern Städten einen dreijährigen Frieden zwiſchen Dänemark und Medlenburg, der Hochmeiſter in antibänifcher, Lübet in antipreußiicer Gefinnung. König Albrecht wurde freigelaffen, und fieben Städte bürgten dafür, dab er nach brei Jahren entmeber fich der Königin wieder zur Gefangenfchaft ftelle oder ihr 60,000 Mark Silber able ober iht Stodholm überliefere. Deshalb erhielten die ſieben Städte Stod« Holm zum Pfanbbefig. Es mar aber dem Hochmeiſter nicht gelungen, Lübed von der Teilnahme am Pfandbeſitz auszuicliehen, und nad; Ablauf der drei Jahre fepte Lübed die Ucbergabe der Stadt durch. Der alte Gegenſatz zwiſchen Dänemark und dem Orden Hatte ſich ſehe bald, nachdem der Orden das dänifche Eſtland getauft Hatte, wieder verfchärft, noch mehr unter der Königin Margarete. Sie unterjtüßte im Geheimen die Feinde des Ordens, und in dieſem zweifelle man nicht, dab die offene Veanſpruchung feiner eſtniſchen Landesteile für bie Königin nur eine Machifrage jei und erfolgen werde, ſobald bie innere Union der Reiche durchgeführt jei.

238 2ioland und bie Schlacht bei Tannenberg.

Hochmeiſter, der 1395 Alles aufgeboten hatte, feinen Gtäbten minbejtens bas Uebergewicht beim Pfandbeſihe Stockholms zu ver- ſchaffen, und felbft recht erheblih an den Koften der Beſehung beteiligt war, bei ber Eroberung Gotlands auch ben mitielbaren ober unmittelbaren Befig Stodholms im Auge hatte. Da fann es nur als ein Zurückweichen auf dem vorgezeichneten Wege aufs gefaßt werden, daß er nach einem halben Jahre, im Herbſt 1398, dem Drängen ber lübiſchen Politit nachgab und die Uebergabe Stockholmo an die Rönigin Margarete zulieh, die focben erflärt hatte, daß fie als Herrin Schwebens unbedingt auch Gotland beanfprudie. Daburd war wieder für den Orden auf ber Oftfee Alles in Frage geftellt.

Im Herbft 1398 geſchah nun auch nach ber andern Seite hin ein jehr wichtiger Schritt: am 12. Oktober ſchloß ber Deutiche Orden in Preußen und Livfand mit dem Groffürften Witowt von Litauen auf dem Sallinwerber einen „ewigen“ Frieden. Diefer Friede ging aus ben feit 1396 erneuerten Waffenſtillſtänden hervor, hatte aber noc eine befondere Bedeutung. Als Jagiello 1386 die polnifche Königstochter und mit ihr die Krone Polens erwarb, hatte er feiner Gemahlin litauiſche Landesteile zur Morgengabe verfhrieben. Das war weiter nicht beachtet worden, vor Furgem erſt Hatte bie Königin Hebmwig Witowt aufgefordert, als Beweis feiner Unterifanentreue von den ihr verfchriebenen Ländern einen jährligen Zins zu zahlen. Witowt hatte darauf „Die Beiten der Lande Reufen und Litauen” verfammelt und ihnen die Forderung ber Königin mit der Frage vorgelegt, ob fie Unterthanen Polens fein und den jährlichen Zins geben wollten. Zoll Empörung hatten „die Beten“ erflärt, fie jeien freie Männer, fold ein Zins fei nie gezahlt worden und dürfe aud in Zufunft nie gezahlt werden. Darauf war fogleid) mit dem Orden über einen ewigen Frieden verhandelt worden, und nad) deſſen Abſchluß riefen die verfammelten Bojaren noch im Beiſein der Orbensgebietiger Witorot zum König von Litauen und Reußen aus. Einen folhen Titel hielt zwar Witowt jelbft offiziell noch nicht für zeitgemäß, aber ber von ihm in der Friebensurfunde geführte, supremus dux Lituaniae et Russiae, war doch auch ein folder, ben zu führen König Wladislaw Jagiello ausfcließlic, ſich felbſt vorber halten hatte. Man fieht alfo deutlich, welch eine Spige ber Friede

2ioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 239

gegen Polen richtete 1). Eine dauernde Trennung Litauens von Polen war für den Orden von allergröfter Wichtigkeit. Aber auch fonft war der Inhalt der Friedensurkunde höchſt bedeutiam. Danach follte ganz Samaiten, das fo lange umjtrittene Grenzland zwiſchen Preußen und Livland, von num an auf immer bem Deutfchen Orben gehören. Ferner follten in jebem Falle, von wem aud bie Länder erobert würden, Nowgorod an Litauen, Pleokau an den Deutſchen Orden fallen. Diefe Beftimmung deutet an, baf der Orben mit ben großen Eroberungsplänen Witowts, die über Mosfan hinaus und bis ans Schwarze Dieer reichten, einveritanden war. In ihnen fah er eine Garantie gegen bie Herrſchaft Polens über Litauen und für eine dauernde Feſthaltung Witowts im Often.

Auf dem Sallinwerber waren neben dem Hochmeifter und

9) Ban muß, fich Hierbei an bie früheren Wandlungen in den Beziehungen Mitomis zu Wladisfaw-Jagiello und dem Orden erinnern, um einen Mapitab für bie Zuoerläffigfeit feiner Verträge zu haben. 1382 Hatte Jagiello den Kynftut, feinen Ofeim und Rivalen um das litauiſche Grobfürftentum, erdroſſeln und deffen Gemahlin ertränfen Iaffen. Witomt, der Cohn ber Getöbteten, floh aus dem Gefangniß zum Orden nad) Preufen, wo er Aufnahme und Schutz fand. Er ſcwur das Heidentum ab und wurde römijchtatpolifcher Cprift. Ais Vaſell des Ordens focht er mit deſſen Hülfe gegen den Mörder feiner Eltern. Aber 1384 folgte er den Sodungen und Verſprechungen Jagiellos und verriet den Orden zum erften Mal. Er brannte die ihm anvertrauten Burgen nieder, erſchlug deren deutiche Veſabungen oder jehleppte fie in die litauiſche Gefangenfchaft und ieh ſich nach geiecifchefatgofiicen Nitus nochmals taufen. Dodı Jagiello über: wachte ihn mihtranifch und gab ihm nur einen Teil des väterlichen Erbes. Als Jagiello 1386 römifctatpoliicier Chrift und König von Polen wurde, lich Mitomt ſich von neuem römiſch taufen und ſcwwur dem Detter Treue. Allein die litauiſche Großfüritenwürde unter Jagiellos Oberhofeit erhielt nicht ex, ſondern des Königs Bruder Stirgiello. Dieſen befämpfte Witomt zuerft allein; 1390 floh er wieder nach Preußen. Der Orden nahm ihn zum zweiten Mal auf und ließ ſich die gebrodienen Schwüre von neuem fdwören. it feiner Hulfe brachte Witomt dann einen großen Zeil Litauens unter jeine Gewalt. Aber 1302 ver- riet er den Orden zum zweiten Mol und erhielt dafür von Zagiello nun wirklich das vãꝛerliche Erbe und die Grohfürftenwürde, wobei er von neuem ber Ober. Hobeit des Königlichen Vetters Treue {hwor. Nun begann für Witont die Zeit des großen Ehrgeiges. Den ganzen Dften Europas umfahten feine Pläne; ja, „er Hei vernehmen, daß er zur Weitherrichaft befimmt jei.” 1395 gewann er das Fürtentum Smolenst, 1397 trat er mit feinen Abfichten auf Grob: Rowgorod hervor und erfütterte dadurch die Freundſchaft mit feinem Schwiegerjohn Wafiiti Dmirrijewitſch von Mostau.

20 Lioland und die Schlacht bei Tannenberg.

feinen preußifchen Gebietigern aud ber livländiſche Meiſter Wennemar von Bruggenoye und der Landmarſchall Bernt Hevelman erſchienen. Cie ftanden zu ben Verhandlungen fehr ſleptiſch. Gewiß legten auch fie auf ben Erwerb von Samaiten unb bie Trennung Litauens von Polen bas größte Gewicht; aber fie fanden die Garantien unzureihend und wollten ihren alten Anfprühen auf das nowgorodiſche Watland nur fehe ungern entfagen. In ber Zuficherung Plesfaus für Livfand fürdteten fie ein Danaergeichent, durch dus Witowt fie in einen ihnen unge Tegenen Krieg mit ben Ruſſen verwideln wolle. Schließlich befiegelten auch fie wohl den Frieden, aber der innere Gegenfag im Orden wurbe boch wieder verihärft. Schon auf ber Heimreife burd) Litauen gerieten bie Livlänber mit Witowt in einen Konflikt, ben ber Hocdmeifter nur mit Mühe ausgleihen konnte.

Witowt ging nun an ein gewaltiges Unternehmen. Toktamiſch, ber von dem furchtbaren NWelteroberer Timur Beg 1395 befiegte und verjagte Chan von Kiptſchak (der goldenen Horde), war bei ihm als Flüchtling erſchienen. Ihn wollte Witowt wieber in Kiptſchal einfegen und bafür bie Oberherrihaft über Moskau und alle ruſſiſchen Fürftentümer empfangen '). Im Juli 1399 brad er mit großer Heeresmaſſe nad) dem Süboften auf. Der Hochmeiſter hatte ihm 12 Nitterbrüber mit 300 Gewappneten mitgegeben. Aber an der Worskla brachten ihm am 12. Auguft bie von Edegu geführten Tataren eine vernichtende Niederlage bei?), unb damit waren feine großen Pläne zunächſt geſcheitert und er felbft wieder heftigen Angriffen feiner innern Widerſacher ausgefegt. Das führte ihn wieder in bie Arme des Vetters. Am 18. Januar 1401 fam es in Wilna zu der erften urkundlich bejtätigten Union zwiſchen Polen und Litauen. Witowt ſchwor mit ben litauiſchen Großen dem Könige und dem Reiche Polen Treue und erhielt dafür auf Lebenszeit das Großfürftentum Litauen zugefihert ; die Polen gelobten, ohne Willen und Rat ber Zitauer fünftig feinen König zu wählen. Daß bamit ber Friede auf dem Sallinwerder für Witowt feinen Wert mehr hatte, follte der Orben bald erfahren.

%) Toftamifch foll Witowt auch die Grmerbung von Polen, Preufen und Lioland zugeiiciert haben, was durchaus glaubfich Üt.

3) Yon der OrbenSmonnfcjaft ferien nur 10 Mann zurlid, darunler drei Nitterbrüder,

Libland und bie Schlacht Sei Tannenberg. 21

Die Heibnifchen Samaiten hatten Witowt jedes Recht, fie dem Orden zu überliefern, abgeſprochen. Deshalb waren fie von preußifhen und livländiſchen Orbensheeren in ben Jahren 1399 und 1400 aufs ftärkite heimgefucht worden, und Witowt hatte ſich dabei dem Orden angefhloffen. Nah zwei Jahren ſchien man enblid am Ziel zu fein: die Samaiten gelobten Unterwerfung und fiellten Geifeln. Ein Orbensvogt übernahm die Verwaltung des Landes und unter ihm traten anbere Beamte in Funktion. Orbensburgen erhoben fih im Lande, und zur Verpflegung ber durch den Krieg erſchöpften neuen Unterthanen gingen große Züge mit Lebens: und Belleibungsmitteln aus Preußen ab. Das wirkte. Im Januar 1401 erſchienen die angefehenften Bojaren in ber Marienburg zur Tuufe und zum Empfang beifelben Rechtes, das die nationalen Preußen im Ordenslande hatten, unter Anerfennung ihrer alten Standesverhältnifie dur den Orden. Kaum aber waren fie, begleitet von Prieftern und Dlönden zur Taufe bes niebern Volfes, Heimgezogen, als bie Orbensbeamten aus Samaiten berichteten, daß Witowts Agenten im Sande gegen ben Orden mirften. Während man in Preußen voller Freude bie famaitifchen Häuptlinge taufte, hatte Witowt die Union mit Polen vollzogen und bereits alles zum Kampf gegen ben Orben vorbereitet. Zur Rebe geitellt, hielt der ſchlaue Litauer die preußiſchen Gefanbten hin, bis ganz Samaiten ſich wieber gegen ben Orben erhoben Hatte. Schon im März waren die Orbensburgen gebrochen, ihre Befagungen mie bie Beamten und Priejter gefangen ober verjagt, und an der Spige bes aufjtändifhen Landes fland ein Hauptmann Witowts. Das war der britte Verrat, wie bie Gebietiger fagten. Natürlich herrſchte wieder ber Kriegszuftand. Preußiſche und livländiſche Gebietiger verwüfteten weithin litauiſche Landſchaften, Witowt revandirte fi durch Nieberbrennung Diemels und Eroberung Dünaburgs, wo er im Frühjahr 1403 ben Komtur mit ber Befagung gefangen nahm. Unterdeſſen kämpfte ber Orden mit Polen einen äußerſi erbitterten diplomatiihen Kampf. Die Polen waren außer fih, als zu allen früheren Enttäufhungen in ihren Anfprüden auf Pommerellen und das Kulmer Land wie auf das feit 1392 dem Orden verpfändete Herzogtum Dobrzyn ber Hoc: meifter 1402 aud die brandenburgiihe Neumark in Pfandbefig übernahm. Er war dazu gezwungen, ba ber hödjt gelbbebürftige

22 Lioland und bie Schlacht bei Tanrıenberg.

Zuremburger Sigismund, ber Markgraf von Brandenburg und König von Ungarn, das Land fonft unbedingt an Polen verpfändet hätte und der Orden dann vom deutſchen Reich volltommen abger ſchnilten geweſen wäre. Auch auf neumärkiſche Landesteile hatten bie Polen eine unabfehbare Reihe von fehr fragwürdigen Anſprüchen. Bei allen weitlihen Fürftenhöfen begegneten ſich nun die polnifchen und preußiſchen Klagefhriften, vor allem bei der Römiſchen Kurie. Die Polen behaupteten, daß der Orden durch feine Ariege bie itauer, die übrigens alle getauft feien, nicht dem Chriftentum und der Römifchen Kirche zuwende, fondern fie im Gegenteil entweder ins Heidentum zurüd ober ben ſchiomatiſchen Ruſſen zutreibe. Wirklich erreichten die polnifhen lagen, daß der Bapit dem Drden bei Strafe des Bannes jeben ferneren Angriff auf bie Litauer und deſſen Bewohner verbot. Entrüftet proteftirte aber ber Hodjmeifter gegen biefe „mit Unterbrüdung jeder Wahrheit erſchlichene“ Bulle: er zählte viele Verbrechen Witonts und Jagiellos auf und erflärte als unzweifelfaft, daf die Litauer mit ganz geringen Ausnahmen Schismatifer oder wie alle Samaiten reine Heiden feien und der Kampf des Ordens das einzige Mittel fei, fie für die Römiſche Kirche zu gewinnen; Polen aber fei jtets im Bunde mit ben Schismatitern und ben Heiden gegen ben Orden unb die Römiſche Kirche.

Trotz alledem fam es fchon im Juli 1403 zwiſchen Witomt und dem Orden zu einem Maffenftillftande, deſſen mehrmalige Verlängerung die Polen vermittelten. Fürs näcfte Frühjahr wurden definitive Friebensverhandlungen feitgefegt. In Polen ſcheule man noch einen großen Krieg mit dem Orden und hoffte gerade durch einen gemeinfamen Friebensfhluß die Union mit Litauen ftärfer zu konſolidiren. Witowt war zum Frieden geneigt, weil ber Orden für ihn fehr gefährlide Verbindungen mit feinen innern Feinden angelnüpft Hatte, der Orben endlich war foeben mit ber Königin Margarete in Krieg geraten. Die Königin Hatte Golland überfallen und bis auf die Hauptftadt Wisby erobert. Der Orden muhte wieber eine grofe Expedition dorthin ausrüten. Sie ging im März 1404 von Danzig ab und Ende Jumi war die Infel zurühgewonnen und der größte Teil ber daniſchen Flotte vernichtet. Am 1. Juli vermittelten Lübeck und andere Hanfeftädte einen einjährigen Waffenftillftand, ber päter verlängert wurde.

Lioland und die Schlacht bei Tannenberg. 213

Unterbeffen war am 22. und 23. Mai 1404 zu Raciaz an ber Weichſel der Friede mit Polen und Litauen geſchloſſen worden. Zwiſchen dem Orden und Polen wurde feierlich ber Friebe von 1343 zu Kaliſch erneuert, in dem Polen jeden Anſpruch auf Pom- merellen und das Kulmer Land aufgegeben hatte; das Herzogtum Dobrzyn gab der Orden gegen Bezahlung ber Pfandfumme zurüd, und die nenmärkifchen Streitigkeiten behielt man einer freundlichen Schlichtung vor. Witowt und der Hochmeiſier beftätigten darauf einander die Friedensurfunden vom Gallinwerber, wobei fich aber Witowt nicht mehr supremus dux, fondern nur magnus dux nannte. Dann flog der Hochmeifter genau bdenfelben Frieden, aber ohne Erwähnung Witowts, nochmals mit dem König Wladiſlaw- Jagiello und deſſen katholiſchen Nachfolgern in Polen als ben oberften Herrn von Litauen. Er ftellte fi alfo felbft urkundlich auf den Boden ber Union von 1401; Polen aber hatte nun auch feinerfeits Samaiten abgetreten und bie Veftimmungen über Now: gorod und Plesfau als redhtsverbindlid) anerfannt. Cs folgten noch zwei fehr harafteriftiiche Urkunden. In der einen verpflichtet ſich Witowt, innerhalb eines Jahres zu bewirken, daß bie Samaiten dem Orden Hulbigten, zu dieſem Zwete ben Verkehr zwifchen Samaiten und Litauen ganz zu fperren und, wenn bas nidjt genüge, in jeber Weife, bie ber Hochmeifter beftimme, die Samaiten dur Unterwerfung unter den Orden zu zwingen, wibrigenfalls der Orden gegen ihn felbft Gewaltmaßregeln anwenden bürfe, ohne dadurd) den Frieden mit Polen zu bredien. In einer zweiten Urkunde beftätigt das Wladislaw-Jagiello und verpflichtet ſich, Witowt zur Ausführung feiner Verpflichtungen anzuhalten und dem Orben gegen ihn, eventuell aud mit Gewaltmaßregeln, zu helfen. Man fieht, wie groß das Mißtrauen bes Orbens war und mie von ber andern Seite alles aufgeboten wurbe, es zu befeitigen. Dennod muß man im Hinblid auf bie Erfahrungen, die ber Orden in früheren Jahren mit diefen Paciszenten gemacht hatte, über fein Vertrauen auf Urkunden und Siegel ftaunen. Aber der Hochmeiſter begnügte ſich damit nicht.

Nachdem ſich in den folgenden Monaten gezeigt Hatte, daß Witowt ehr eifrig am die Ausführung feiner Verpflichtungen in Samaiten ging und dem Orden dort in jeder Weife entgegenfam, ſchloß Konrad von Fungingen im Auguft in Kowno mit elta

24 Lioland und bie Sqhlactt bei Tannenberg.

ein förmfiches Bündniß: fie gelobten einander Beiſtand gegen alle, bie fie ihres Friedens megen angreifen würden, mit Ausnahme bes Römiſchen Reiches, der Römiſchen Kirche und bes Reiches Polen. Den Wert diefes von Polen nicht beftätigten Bündniſſes bedeichnet uns einigermaßen bie Thatſache, dab Witomwt wenige Wochen fpäter dem Könige von Polen eine Urkunde ausftellte, in der er alle feine Verbindungen und Verpflichtungen für null und nichtig erflärte, wenn fie der polnifhen Krone nachteilig jeien.

Livländifhe Vertreter waren in Naciaz nicht anweſend und haben auch fpäter die Friedensurfunden nicht mitbefiegelt. Vielleicht entfprah das der Auffaſſung, daß Livland mit Polen nichte zu hun habe. Aber jedenfalls zeigen bie fpätern Ereigniſſe deutlich, daß biefer Friede und das auf ihm folgende Vündniß mit ben politiſchen Auffajfungen und Wünſchen der Livländer ganz und gar nicht übereinftimmten und ihre Unzufriedenheit mit ber preußiſchen Polilik fteigerten. Hatte der Friede auf bem Sallinwerder eine Trennung Litauens von Polen bebeutet, fo dienten bie Verträge von Racioz nur zur Vefefigung ber bem Deuiſchen Orden fo überaus gefährlichen Union. Auf eine „freundliche Schlichtung” ber neumärfijchen Streitigfeiten und ber Hinter ihnen ftehenden mweitern polnifchen Anſprüche burfte eine befonnene Realpolitik kaum rechnen.

Wir müfen nun in Kürze ber lidländiſchen innern Verhält- niffe gebenfen. Nach den Danziger Friebensverträgen vom Juli 1397 waren bie Beziehungen bes rigiichen Erzbiſchoſs und Deutich- orbensbrubers Johann Wallenrode zu den livländiihen Gebietigern immer [hlehter geworben. Im Herbſt 1401 war ber Meifter Bruggenoye geftorben und Konrad von Vitinghofe, bisher Komtur zu Sellin, fein Nachfolger geworden. Es war ein im Lande ſehr beliebter Gebietiger und ein ausgelprodener Gegner der obers deutſchen Ritterpolitit in Preußen. Dem Erzbiſchof wurde ſchließlich Die firenge Ueberwachung durch die Gebietiger, ganz unerträglid. Gegen Ende bes Sommers 1403 verließ er Livland und trat draußen in ben diplomatiſchen Dienjt des Römiſchen Königs Ruprecht. Da er aber auch dort Beziehungen zu den orbenofeind- lichen Agitationen der flüchtigen rigiſchen Domherrn hatte, blieben feine Einfünfte aus dem Erzfift aus. Um fid) darüber zu bes ſchweren, erſchien er im Juli 1404 in Preußen beim Hochmeifter.

Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 25

Unter deſſen Vermittlung verhandelte er zuerft mit ben zum Generaltapitel bes Ordens belegirten livländiſchen Gebietigern, baranf gleih mad) Meihnachten mit dem felbft in Preußen anweſenden Dieifter. Man einigte fih auf ein Schiedsgericht, hatte aber dann im Hinblid auf die frühern Erfahrungen body fein befonberes Vertrauen dazu. Zuletzt entſchloß ſich Wallenrobe, dem es vor allem auf bares Geld anfam, im Februar mit dem Meifter zufammen nad) Livland zurüdzureifen. Hier fam mit Zuftimmung ber erzitiftiihen Vaſallen ein Vertrag zu Stande. Der Erzbiſchof ernannte ben Meiſter und ben Deuti—en Orden in Ziofand auf 12 Jahre zum Vormunde und vollmächtigen Vitar des ganzen Gröftiftes, mit alleiniger Ausnahme ber Cchlöffer Zennewarben und Rreugburg. Dafür erhielt er eine feite Jahres: rente zugefihert. Er hat fie thatſächlich draußen bis zum 19. Juli 1417 bezogen. Livland verließ er im Sommer 1405, um nie mehr zurüdzufehren. Der Orden hatte alfo aus ber Inkorporation zunächſt eine Pachtung gemacht. Wallenrobe hatte ſich auch ver⸗ pflichtet, mit den flüchtigen Domherrn einen Vertrag zu Stande zu bringen, und kam dieſer Pflicht bald nach. Die Domherrn ſollten feſte Leibrenten erhalten und dafür die ber rigiſchen Kirche entführten Reliquien und Kleinodien zurückgeben. Aber die vom Orden gebotenen Summen waren, wie es ſcheint, dem zähen geiſt⸗ lichen Herrn zu gering; ber Verirag wurde wohl gefhloffen, trat aber nicht in Kraft. Sonit fah es in den livländifhen Bistümern für ben Orden reiht günftig aus. In Dorpat hatte der alte Intrigant Dietrid) Damerom im J. 1400 völlig Banferott gemacht und war durch ben dem Orden fehr genehmen Heinrich von Wrangele erjegt worden; in Defel regierte ber orbensfreunbliche Winrid) von Kniprode. Man konnte aljo wohl hoffen, durch eine ruhige Entwidelung und Befeftigung der innern Landesverwaltung die Danziger Konzeffionen unſchädlich zu machen.

Der Deifter Konrad von Vitinghofe wird gewiß in Preußen im Januar und Februar 1405 jehr eingehend über die Konſequenzen ber neuen Verträge mit Witowt für Livfand verhandelt haben. Gerade damals fanden Witowt und ber preußiihe Marſchall mit Heeresmadt in Samaiten und bradjten wieder einen Teil bes Landes zur Unterwerfung unter ben Orden. Wir müflen annehmen, daß ber Meijter nad) feiner Rückkehr dem livländiihen Orbens-

216 Lioland und die Schlacht bei Tannenberg.

Tapitel die Anſchauungen und Wünſche bes Hochmeifters über ein gemeinfames Vorgehen der Livländer und Witowis gegen die Ruſſen vorgelegt hat. Die Majorität ber livländiſchen Gebietiger muß aber gegen jede Kooperation mit dem Litauer gewejen fein. Sie ſah offenbar in einer Beſihnahme Nowgorods durch Witomt eine große Gefahr für Livland und glaubte nicht, daß die litauiſche Konzeffion Plestaus an den Orden diefe Gefahr aufwwiegen werde. Vor allem aber war man überzeugt, daß die Ausführung ber Pläne Witowts den livländiiheruffiigen Handel, auf bem ber Wohlſtand der livländifhen Städte begründet war und an dem auch ber Orden ſelbſt wie viele Vaſallen materiell ſtark intereffirt war, aufs tieffte erſchüttern, vielleicht völlig ruiniven würde. Daran ift nicht zu zweifeln, daß die Ablehnung eines mit Litauen zuſammen zu führenden ruffifchen Krieges ben Wünſchen ber liv- länbifchen Stände entiprah und daß bejonders die Städte vom Meifter eine ſolche Haltung verlangten.

Da eridien, etwa Anfang April, bei dem Meifter ein Gefandter Witowts und verlangte im Namen feines Herrn, dab ber Meiſter die Beitimmungen des zwiſchen Litauen und dem Deutfhen Orden beitehenden Friedens offiziell Nowgorod und Pleskau mitteile, damit bie Ruſſen nicht daran zweifelten, wer Witorot angreife, fei aud ein Feind des Ordens, wie umgefehrt ein Feind Witowts fei, wer ben Orden angreife. Der Meiſter antwortete, dag ber Orden in Livland mit ben Ruſſen einen Frieden, ber mit goldenen Siegeln befiegelt fei, nun ſchon etwa 150 Jahre lang eingehalten habe !); den wolle er auch jegt nicht auffagen oder bredien. Da ſprach der litauifche Bote: „Einen ſolchen Frieden könnte ja au) mein Herr mit den Ruſſen liegen. Aber ihr werdet euren Frieden mit ihnen bod) über furz ober lang fünbigen müſſen; benn wo wollt ihr ſonſt Gelegenheit zu Kriegs— zügen finden, wenn die Samaiten demnächſt mit meines Herrn Hülfe eurem Orden unterworfen fein werden? Was werdet ihr fagen, wenn mein Herr, fpäter von euch gegen die Ruſſen zu Hülfe gerufen, ebenfo fpredien wird, wie ihr es jetzt thut?“ Darauf hatte der Meijter nur bie furzen Worte: „Dein Herr forge für

+) Der Meiſter meinte wohl den ärieden von 1270, der auf der Grund» lage des Friedens von 1224 geſchloſſen wurde. Die ſpätern Striege og er als vorübergehende Unterbregungen des Friedenszuſtandes nicht in Betracht.

Lidland und die Schlacht bei Tannenberg- 27

ſich, wir werben für ung forgen.” Wohl mit Rückſicht auf Preußen ließ er Witowt dann doch fagen, daß er, falls der Großfürit weitere Verhandlungen wünide, ben Lanbmaridall oder einen andern Gebietiger zu ihm ſchicken wolle. Aber Witort wandte fi) fofort an den Hodmeifter mit den bitterften Beſchwerden über die Livländer. Schon am 5. Mai bat der Hochmeiſter ihm drin- gend, die Antwort, mit ber ſich bie Livländer vergeſſen hätten, nicht weiter übelzunehmen; benn er jei mit feinen Gebietigern darin völlig einig, da der Orden dem Großfürften getreufich Beiftand leiften müſſe; ber livländiſche Landmarſchall und andere von den älteften livländiſchen Gebietigern würden binnen furzem in Kowno vor bem Großfürſten erſcheinen und fid) wegen ber „unbehaglichen” Antwort entidjulbigen. Am felben Tage ging aud ein Brief des Hocdmeifters an ben oberſten Gebietiger in Livland ab, der unter Wahrung aller höflichen Formen ber liv— ländifhen Politik ſcharf entgegentrat : ber Hodjmeifter habe mit dem größten Teil feiner Gebietiger die Antwort erwogen, die der livlãndiſche Meifter dem Großfürften Witowt gegeben habe; auch fie müßten darin etwas wie eine Abfage erkennen, jedenfalls ſtehe die Antwort im Widerfprudy zu dem vom Orden in Livland mits befiegelten Zrieden auf dem Sallinwerder und entiprehe nicht der Ehre und Redlichkeit des ganzen Ordens; wenn ſich in Witowt die Ueberzeugung feitige, daß im Orden Zwietracht herrſche, feien ſchlimme Folgen unvermeidlid ; daher begehre ber Hodmeifter mit allen preußiſchen Gebietigern, daß der livländiſche Meifter fofort feinen Landmarſchall und andere Gebietiger zu dem neuen Ver— Handlungstage nad Kowno ſchicke; deren Vollmachten mühten endgültige fein und dürften in feinem Gegenfage ftehen zu den Vollmachten, die der Hodmeijter feinen Geſandten dorthin mit- geben werde. In der That wurde Witort zu Anfang Juni dieſes Jahres in Kowno durch livfändifhe und preußiſche Gebietiger zufriedengeftellt. Geſandte des Hodmeijters gingen dann wiederholt im Sommer und Herbjt nad) Nowgorod und Pleskau, um dort „nach dem Begehren des Großfürſten“ zu verhandeln. Ob auch Konrad von Vitinghofe den Ruſſen die von Witowt verlangte Mitteilung machen mußte, erfahren wir nicht. Aber zu einem gewiſſen Vorgehen gegen Nomgorob hat er ſich jebenfalls entſchließen müſſen. In der zweiten Hälfte des Ceptember

218 Lioland und die Schlacht bei Tannenberg.

erſchienen feine Geſandten gleichzeitig mit den Gefandten Witomts in Nowgorod. Während ber Litauer bie Nowgoroder bebrohte, weil fie bem von ihm vor furzem zum zweiten Dial vertriebenen Fürften von Smolenst Aufnahme gewährt Hätten‘), forderte ber Meifter die Nüdgabe des Gutes, das Nowgorod einem gemiljen Petricius genommen habe). Der Meifter hatte zugleich bie fio- ländifden Städte und die deutſchen Kaufleute in Nowgorob warnen laſſen, fie möchten ſich vor den Ruſſen in Acht nehmen, ber Orden merde in ber Sache bes Patrieius nicht nachgeben. Aber Non: gorod wollte durchaus den Krieg vermeiben: «6 veranlafte ben Smolensker Fürften nah Moskau abzuziehn und verfprady wegen des geforderten Gutes fofort Gefandte an ben Meifter zu ſchicken.

Gerade in biefer Zeit bemerfen wir, baf in Livland immer häufiger Orbensgebietiger rheinländiſcher Abftammung auftreten. Wir fönnen nicht umhin, das mit ben politifchen Divergenzen in Verbindung zu bringen. Der befannte Gegenfag zwiſchen Weitfalen und Nheinländern in Livland reicht in bie zweite Hälfte bes 14. Jahrhunderts zurüd. Aber zu den fozialen Verſchiedenheiten tamen jegt viel ſtärker als früher bie pofitiichen Hinzu. Die Aheinländer, bie in ihrem Weſen und ihren Lebensgemwohnheiten zu den Oberdeutſchen gehörten, traten auch für bie Politik ber oberbeutfcen Orbensgebietiger in Preußen ein. Offenbar ſchickte ber Hodmeijter gerabe jegt mod mehr als früher rheinländiſche Ordensbrüder nad) Livland und wirkte mit allen Mitteln für ihre Beförderung zu ben obern livländifchen Ordensämtern. Durd fie follte die Uebereinftimmung in der auswärtigen Politif und damit der Gehorſam Livlanbs gefihert werden. „Während zu Ende bes 14. Jahrhunderts die Weftfalen noch durdaus in der Majorität im innern Rat des Deutſchen Ordens in Livland waren, haben fie in ben erften Jahren der Negierungszeit Meifter Konrad von

1) Die Rowgoroder hatten dem Juri Swidtoſiawitſch von Smolenst 13 Städte zur Verwaltung übergeben und mit ihm ein „ewiges Bündnif gegen alle Fremdftämmigen“ geſchloſſen. Nach den ruffiihen Chroniken fandte Witort ihnen darauffin eine Ariegserlläcung, wie er e8 fchon 1809 nach dem Frieden auf dem Salfinwerber getan halte,

%) Es war wohl ber Kaufmann Patricius Spbenwirt aus Breslau, den König Wenzel von Vöhmen 1403 nach) Sioland fhidte, um „etliche Dinge und Geräte" für den König zu faufen. Gr ſcheim fpäter in die Dienfle des Ordens getreten zu fein.

Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 29

Vitinghofe nur nod eine Stimme mehr” '). Die Schwanfung der Majorität im innern Nat tritt im Jahre 1405 zum erfien Mal ftärfer hervor und erklärt die Nadjgiebigkeit der Livlänber.

Der ruffiide Krieg 1406-1409.

Witowts ruſſiſcher Kriegsplan ſchien anfangs in erfter Linie gegen Nowgorod gerichtet zu fein. ber im November 1405 erhielt ber Dleijter, ben Nomwgorob unterdeſſen wegen bes Petricius befriebigt zu haben ſcheint, die offizielle Mitteilung, daß der Groß⸗ fürft gegen Plesfau ziehen werbe und eine Kooperation bes Ordens beitimmt erwarte, da dieſem ja in Zufunft Pleskau gehören jolle. Sofort ließ der Meifter wieder die livländiſchen Städte und ben gemeinen deutſchen Kaufmann warnen: Witowt wolle die Plesfauer mit Krieg übergiehn, unb der Deutiche Orden in Zioland könne veranlaßt fein, fih ihm anzufchließen. Das dem Orden befonders nahe ftehende Neval bat darauf ben Meifter dringend, die Hufen menigftens nicht früher anzugreifen, bevor die in Rußland befind- lichen deutſchen Kaufleute mit ihren Gütern in Sicherheit gebracht feien. Witowt fiel in der That im Februar 1406 mit Heeres macht ins Plesfaufche Gebiet ein. Der Deifter Hatte gerüftet, unternahm aber nichts. Die livländiſchen Städte hatten ihre Vorſichtsmaßregeln ergriffen und in Plesfau und Nomwgorob ange fragt, wie man ſich dort während eines Krieges mit dem Orden gegen ben beutfhen Kaufmann verhalten wolle. Beide Städte hatten geantwortet, fie wollten unbeſchadet bes Krieges ben Handel fortfegen. Trotzdem arrejtirte Plesfau fchon beim litauiſchen Einfall die anweſenden deutſchen Kaufleute mit ihren Gütern. Nowgorod ſchickte Plesfau ein Heer gegen Witowt zu Hülfe. Bei befien Ankunft waren aber bie Litauer ſchon abgezogen, und nun wollte Plestau fofort einen Vergeltungszug unternehmen. Doch die now: gorodiihen Feldhauptleute meigerten ji, an ihm teilzunehmen, erflärten ſich dagegen bereit, fofort die Deutichen in Livland zu überfallen. Da ſchickten die Plesfauer fie zurüd und vermwüfteten allein das polozlifche Gebiet Witowts. Nowgorod aber fdidte

1) 2. Arbuſow, Die im Deutſchen Orden in Sioland vertretenen Geſchlechler, im Jahrbuch für Genealogie 18M, Mitau 1901, S. 37. Cine für die Grfenntnig der innern Orbenöverhältnifie höchtt wichtige Arbeit.

250 Kioland und die Schlacht bei Tannenberg.

unterbeifen eine feierliche Gefandtihaft an den Meifter und erklärte eine firenge Neutralität. Dem gemeinen beutf en Kaufmann ftelfte es für den nächſten Sommer ein für alle Kriegsfälle giltiges Sichereitsgeleit aus. on den fortgefegten Verhandlungen bes Drbens in Livland mit Witowt erfahren wir nidts. ber aus dem am 2. Jufi 1406 unter den Aufpizien des Weiters und Wilowis geſchloſſenen Hanbelsvertrage zwifcen Niga und Poloyf fehen wir, daß man ſich in Zivland, den preußiicen Forderungen nachgebend, dem Litauer näher angeſchloſſen hat.

Wegen feines Angriffe auf Plestau hatte Witowt Die Kriegs- erklärung feines Schwiegerfohnes, des Großfürften Waſſili Dmitri- jewitſch von Moskau, erhalten!) und darauf jeinerfeits alle Moskowiter geächtet. Sein Bruch mit Moskau hallte in ganz Litauen wieder: hatten die mit Witowts Gewaltherrſchaft und der polniſch-litauiſchen Union unzufriedenen Weißruſſen und Eitauer früher beim Deutſchen Orden Hülfe geſucht, fo wurde jet „das rechtgläubige“ Moskau ihr Aſhie). Im Juli 1406 zog Witowt mit einem großen Heere gegen Mosfau. Für den Orden war bamit ber im Vertrage vom 18. Yuguft 1404 vorgefehene easus foederis eingetreten, um fo mehr, als mittlerweile mit der eifrigen Hülfe Witowts ganz Samaiten zur Unterwerfung gebracht war. Wieder walteten dort Ordensbrüber, und wieder ſchien die Chriftianifirung des Landes einen guten Fortgang zu haben. Deshalb nahmen nun auch drei preußiſche Gebietiger mit einer ftarfen Ordensmadt an dem Feld⸗ zuge gegen Moskau teil. Dabei beging aber der Orden einen ſehr argen Mißgriff; ober richtiger gelagt, er fiel in eine ihm von Witowt gelegte Falle. Auf deijen Bitte wurden nämlid zu den gegen Mosfau beftimmten Orbenstruppen aud) 1000 Gamaiten ausgehoben, und zwar mußten „die Velten des Landes“ mitreiten. Unter ihnen herrſchte damals fehr erflärlicher Weile eine ungeheure Erbitterung gegen Witowt; fie erklärten, fie wollten gern mit den Deutfchen reiten, fo weit man wünſche, aber nur nicht mit dem Herzog Witomt. Es war umfonft, fie mußten mit Witowt ziehn.

9) Mostaus Einfluß war in Blestau infolge der beſtändigen Streitigfeiten Nomgorods mit Plestau fehr geitiegen. Seit 1399 empfing Pleslau willig feine Sürften aus der Yand des moslaufcen Grohfüriten.

9) M. Sfolomjew, Geſchichte Rudlands (eufj.), IV, 1, ©. 1088.

Livland und die Schlacht bei Tannenberg. 31

Die Folge war, daß fid) die Erbitterung im Lande wieder mehr gegen ben Orden fehrte.

Um Witowt den Rüden zu beden, mußten jegt aud) bie Livländer gegen die Nuffen vorgehen. Am 22. Auguſt unternahm Konrad von Vitinghofe einen Einfall ins Plesfaufche. Zwei Wochen fang heerte er um Jsborst und Oſtrow, ohne größern Widerſtand zu finden; bann zog er heimwärts. Zu biefem deldzuge waren aud das Stift Dorpat und die kurländiſchen Gebiete aufgeboten worden. Als die Kunde von ihm nad Nowgorob kam, hielten die deutſchen Kaufleute es für geboten, bie dem Kontor gehörigen Wertſachen wie das Ardiv und die Siegel Gt. Peters fofort nad) Neval wegzuſchicken. Doch Nowgorod hielt den Handel mit ben Deutſchen und feine Neutralität aufrecht und ſchlug alle Bitten Plesfaus um Hülfe ab. Der Teufel, meinen bie pleslauſchen Shroniften, gab ihm den Gedanken ein, mit Litauen und ben Deutſchen Freundihaft zu Halten. Diefer Teufel war bie Furcht vor Moskau, ber Daß gegen Plestau, das bie moskowitiſche Ober- hoheit ber Nowgorods vorzog, und ber Gewinn im deutfchen Handel. Nowgorob mußte den Krieg zu beffern Handelsbebingungen für fich aus. Cs fteigerte bie Preife ber eigenen Waaren und forderte für die Importartifel vollere Maße und Gewichte. Das führte freilich zu bittern Gtreitigfeiten mit dem deutſchen Kontor unb ben livländifhen Städten. Witowt aber fdien nad) der Niederlage an ber Morskla die Luft zu großen Schlachten verloren zu haben: nachdem ſich die Heere im Tulafchen einige Tage gegenübergeftanden hatten, ſchloß er im Eeptember mit Waffili einen Stilftand bis zum nãchſten Frühjahr.

Im Dftober erfuhr Livland die Vergeltung ber Plestauer. Sie drangen im Stift Dorpat bis Kirrumpä vor und ſchlugen zwei Mal fleinere ihnen entgegengeworfene Abteilungen zurüd ; aber von Kirrumpä fehrten fie fon nad) einem Tage mit der Beute in ihr Land zurüd, bevor der Meifter mit größerer Macht herangezogen war. Darauf ruhte ber Krieg bis Ende Juni des nädften Jahres. Da fielen die Plesfauer über bie Narowa in Allentaden ein, verheerten dort „viele Pagaften“ !) und kehrten mit großer Beute heim. Der Meifter war in Preußen, wo am

3) Horoers, Dorfbeyirt ; ins Leitiſche übergegangen,

252 Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg.

26. Juni 1407 Ulrid) von Jungingen, bisher Oberfter Marſchall, zum Nachfolger feines Bruders, des am 30. März geftorbenen Hochmeifters Konrad, gewählt wurde. Nach feiner Rückkehr im Juli rüftete Vitinghofe fofort zu einem Vergeltungszuge. Mitte Auguft brad) er mit einem noch größern Heere als im vorigen Jahre auf. Alle überdüniihen und kurländiſchen Gebiete waren mit aufgeboten. Diesmal rüdte das Orbensheer bireft gegen Pleskau vor. Jenſeits Ishorsks ſtieß es auf das pleskauſche Heer, das ihm eine Flußfurt verlegte. Vier Tage fand man ſich gegen- über und jcharmügelte. Am 21. Auguft zogen die Livländer auf dem Wege nad) Jeborst ab und ſchlugen nahmittags auf einem Felde bei dem Dorfe Logoſowitſchi ihr Lager auf. Da erfchienen plötzlich die Plesfauer und überfielen fie. Allein bas livländiſche Heer war ſchnell zur Schlacht bereit, und bald hatten die Plesfauer eine große Niederlage erlitten. Es fielen drei ihrer Poſſadniki mit vielen Bojaren ; im Ganzen zählten fie 700 Todte. Viele ertranfen bei der Flucht über den Fluß. Doch aud bie Livländer jollen ftarfe Verlufte gehabt haben, jo daß der Meiſter auf eine Auss nugung bes Sieges verzichtete und ben Feldzug aufgab. Der plestaufche Ehronift meint, dieſe Schlacht fei fo gewaltig geweſen, daß man fie den beiden berühmten Schlachten auf dem Eiſe bes Peipus (Sieg des Alexander Newſti 1242) und bei Weſenberg (Sieg ber Ruſſen 1268) gleidjitellen bürfe. Zur felben Zeit war eine anbere plesfaufche Heeresabteilung zu Schiff auf dem Peipus ausgefahren, um bas, wie man meinte, jegt ungeſchütte Eſtland jenfeits der Naroma zu verwüften. Aber eine livländiihe Kriegs- flotte erwartete bie Nuffen auf dem Peipus. Beim Bufammen- treffen mußten bie Plesfauer ans Ufer flüchten und ihre Schiffe im Stich laſſeni). Zu Fuß eilten fie heimmärts und fanden ihre Stadt in Kummer und Betrübniß.

Auch diefe Kämpfe kamen Witowt zu gut, ber im Herbft ben Mostowitern in den Grenzgebieten von Smolenst und Kaluga gegenüberftand, aber auch diesmal ohne größern Kampf einen Stillftand bis zum nächſten Sommer ſchloß.

®) Wahrſcheinlich Hatten die böſen „Schneden", von denen ber Chronift fpricht (d. 9. snicken, Heine Kriegsigiffe), ben Huffen in ber fämalen Verbin, dung zwilcen dem Heinen und dem großen Peipus aufgelauert. Die Bepeidhr mung des Ortes #1 Ocarıh iſt mir unbefannt.

Moland und die Schlacht bei Tannenberg. 258

Bevor mir bie meitern Ereigniſſe verfolgen, müſſen mir nod einen Blid auf den Negierungswecjjel in Preußen werfen. Die 13 Jahre und vier Monate der Negierung Konrabs von Jungingen gehören in ber Gefdichte des Deutihen Ordens zu ben folgenſchwerſien. Als Konrad die Regierung übernahm, ftand ber Orden auf ber Höhe feiner Macht. Er galt überall als der ftärfite Staat des norböftlihen Europas, und man erwartete und fürdtete von ihm die Nieberwerfung ber Litauer, die Zurücbräns gung der Polen und die Entfcheidung ber Dinge auf der Oftfee. Am Ende der Regierung war in ber That das Territorium des Drbensftantes fehr bebeutend erweitert: Gotland, Samaiten und die Neumark waren Orbensländer geworden. Aber diefe Erober- ungen führten nicht zu einer wirklichen Kräftigung bes Ordens ftaates. Namentlich die beiden legten und wichtigften ruhten nicht auf fraftvollen Thaten, fondern auf ſchwächlichen Verträgen. Sie ſchienen unentbehrlich zu fein und waren doch eine Quelle ber größten Gefahren. Gewiß hatte der Orden unter der Ungunft ber allgemeinen politifhen Verhältnifje zu leiden. Unabhängig von ihm vollzogen fi in ben Nachbarſtaaten nationale und ftaat- liche Entwidelungen, die fih Schließlich gegen ihn richten mußten. Aber aud der Fortihritt der innern Feftigung des Staates war in Preußen bedroht. Konrad von Jungingen hat nicht zu Hindern vermodt, daß bie eigene Sanbelsthätigfeit des Drbens große Gegenfäge zwiſchen der Staatsregierung und den Städten ſchuf. Er hat auch nicht erkannt, wie gefährlich die zunächſt im Kulmer Lande auflommenden Sympathien der Ordensvaſallen für Polen und deſſen „ablige Freiheit“ waren. Ihm mißlang in Samaiten bie innere Annerion bes fulturlofen Landes volllommen. Freilich mar es nicht feine Schuld, da dort das wichtigite Element zum Gelingen fehlte: bie Zeit war vorüber, wo ber beutiche Bauer oſtwãrts weiter vordrang, und unter den wilden Heiden Samaitens wollten weber Bürger Städte gründen nod) Männer von Nitterart Sand zu Zehn empfangen. Gerade beshalb fiel es dem Orden fo ſchwer, das Sand zu bezwingen und zu behaupten. Möglich märe es nur geweſen, wenn nad) einer rüdfihtslofen Entfernung aller einheimiſchen Bojarenfamilien deutſche Anfiedlungen unter dem Schuge jtarfer Orbensburgen mit fchlagfertigen Beſatzungen begründet worden wären. Dazu wäre die ftrengite Fernhaltung

254 Livland und die Schlacht bei Tannenberg.

aller Einmifhungen Witowts in Samaiten unbedingt geboten gewefen. Der Hochmeiſter aber duldete diefe Einmiſchungen nicht nur, fondern veranlaßte fie felbft und verfiel immer wieder ben Täufchungen bes fchlauen und hinterliftiigen Litauers. Gerade ihm und dem Rolenfönig gegenüber zeigte ſich bei der preußifchen Regierung der Mangel an Energie am beutlichften. Von dieſen Gegnern, für deren Unzuverläffigfeit und Unverföhnlichkeit fo viele Erfahrungen fpraden, lieh fi Konrad von Jungingen immer wieder in eine Politit der Verhandlungen und Verträge, des Temporifirens und Verzettelns hineinziehn, flatt die günftige Gelegenheit zu einer wirklihen Entfheidung zu ſuchen und zu ergreifen. Auch gegen bie Inremburgifche Politit des Länder ſchachers wie gegen die lübiſch hanfiſche bes engen Raufmannsgeiftes vermochte er nicht ſich glücklich zu behaupten.

Die Lüfternheit nad) dem Gelbe und ben Befigtümern bes Ordens ftieg überall. Es ſchien leicht, ihn zu betrügen. Je länger er ben Krieg vermied, deſto dreifter und zahlreicher erhoben fi) die Anfprüce an ihn. Konrad von Jungingen war eine ireniihe Natur, für fromme Rückſichten und Sentimentalitäten ſtets zugänglid) und doch erfüllt von allen Jdealen des romantijhen Nittertums. „In allen feinen Geschäften war er gar gebuldig und bämpfte alles fo, daß fein Aergerniß entſtand.“ Seine Regierung hat die Zukunft bes Orbdensftaates untergraben. Ganz im Gegenfag zu ihm foll ja fein Bruder und Nachfolger Ulrich ein Mann der fühnen That gewefen fein. Aber der richtige Dann für den Orden und deſſen Nöte war er doch ganz und gar nicht. Ihn unterſchied vom Bruber vor allem das Temperament. Das mochte ihn wohl in ber kriegeriſchen Vergangenheit, die Hinter ihm lag, zu mander harten That fortgeriffen Haben. Die Polen und die Litauer hahien ihn grimmig, und er erwiderte den Haß, weil er fie für unver« föhnliche Feinde hielt, mit denen der NKrieg unvermeidlich fei. Aber diefe Erkenntniß allein half nichts; als Staatsmann ftand er nod hinter dem Bruder zurüd, und ein Feldherr war er ebenſo wenig wie jener. Auf dem Schlachtfelde würdig zu jterben, hätte gewiß auch der fromme Konrad veritanden. In ber preußiſchen Politik waltete übrigens zunächſt noch deſſen Geiſt fort, ein Geiſt des Friedens und der Sühne, wie Johannes Voigt, der Lobrebner aller Hodmeifter, meint, ein Geift bes falſchen Vertrauens und

Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 265

des unfchlüffigen Hinausſchiebens, wie wir urteilen. Unter Ulrich, ber doch überzeugt war, daß der Bruch mit Witowt und bem Polenfönig nur eine Frage der Zeit fei, iſt dieſer Geift noch ſchwerer als unter Konrad zu verftehen.

Die erfte That bes neuen Hochmeifters war bie Anerfennung eines durch Lübeck focben vermittelten Vertrages mit dem ffandi- navifhen Unionsfönige Erich, wonach der Drden Gotland gegen eine unbebeutende Geldentſchädigung abtrat!). Das war ber end» gültige Verzicht auf eine große maritime Politik.

Darauf mußte fih der dochmeiſter ganz den polnifch-litau- iſchen Dingen zuwenden. Die neumärkiſchen Streitigkeiten wurden immer bösartiger. Die Vaſallen ber Neumark waren ein völlig verborbenes Geſchlecht, das in feinen Lehnsverhältnifien ben Begriff der Treue verloren hatte. Sie fehnten ſich nad) der adligen Freis heit ihrer großpolniſchen Nachbarn und wollten von ber ftaatlichen Auffiht und Zucht des Ordens nichts willen. Ihr belicbteftes Spiel war ſchon Tange vor ber Ordensherrſchaft der eigenmächtige Wechfel des Lehnsheren gewejen, was bei ben vielfach ſich kreu—⸗ zenden Anfprüchen auf das Land feicht gefchehen war uad immer verwirrtere Zuftände hervorgerufen hatte. In Polen aber kam die Leitung der Politit immer mehr in die Hände ber groß- polnifhen Magnaten, die nicht allein „die Häufer und Städte” ber Neumark als ihr Erbteil betrachteten, fondern ihren König immer dringender daran mahnten, daß er in der Wahlfapitulation gelobt habe, alle Polen „entfremdeten“ Befigtümer, aljo vor allem Pommerellen und das Kulmer Land, wieder für das Neid) zu erwerben.

Die polnishen Bemühungen, den Orden bei ben freinden Höfen anzullagen und herabzufegen, hatten auch nad) dem Frieden von Naciaz nicht aufgehört. In Rom verfuhten Gefandte des

3) Der Orden Hatte nad) der Eroberung der Inſel dem Erksnig Albrecht von Sämeen 10,000 Nobel gezahlt, wofür diefer ihm für den Zall einer Küd gabe ber Jufel die Summe von 30,000 Nobel zuſicherle (im Metallwerte etwa 400,000 Neichsmarth. Jet war ber Hochmeifter mit 9000 Nobel zufrichen, bie im September 1408 bei der Abgabe der Jnfel gezahlt wurden. Gefoftel hatte Gotland dem Orden jehr viel mehr als 30,000 Nobel. Achnlich ſchlecte Geſchäfte Hatte Konrad mit dem Herzogtum Dobrzyn und an andern Stellen gemacht. Man kann das doch kaum „eine bürgerliche, gewinnſüchtig diplomatifirende Politit” nennen, wie Jatob Caro in feiner Gejdichte Polens thut.

258 Libland und bie Schlacht bei Tannenberg.

Königs und Witorts gerade im Jahre 1407 durd) „große Präfente und Gaben“ vom Papit einen Ablaß und eine Gnade für alle Fürften und Heren, Ritter und Knechte zu erwerben, die um Gottes und der Ehre willen nad) Litauen zum Kampf gegen bie benachbarten Ruſſen und Heiden kämen. Nach der damaligen Anfchauung wäre dadurch die MWeitereriftenz des Deutſchen Orbens in Preußen und Livland für überflüffig erklärt worden. Rom nahm bie Präfente und Gaben der Polen freundlich entgegen und ließ fi dann die Ablehnung ihrer frommen Wünſche vom Orden mit ſchwerem Gelbe bezahlen. Zu gleicher Zeit kamen an alle geift: lichen und weltlichen Fürften des Römiſchen Reiches deutſcher Nation Alageigriften der Samaiten. Diefe „Freunde ber Chriftenheit” klagten in vortrefflich jtilifirtem polnifhen Latein in herzzerreißender Weife über bie graufamen Verbrechen, die ber Deutſche Orden fortgefegt an ihnen verübe. Gerade damals that ber Orden alles, um die Wünfde feiner Unterthanen in Samaiten zu erfüllen, und glaubte, daß fie mit feiner Herrſchaft ganz einverftanden feien. Unter folchen Umftänden vermittelte Witowt eine perfönliche Zufammenfunft des Königs mit dem Hochmeiſter. Sie fand in feiner Gegenwart Anfang Januar 1408 in Kowno ftatt. Auch Konrad von Vitinghofe erſchien dort mit mehreren feiner Gebieliger. Dean machte Witowt zum Schiedsrichter in ber wichtigſten neus märfifchen Streitfrage wegen bes Befiges ber Grenzburg Driefen. Er erflärte, baf die polniſchen Anſpruche berechtigt fein, er aber damit feinen Rechtsſpruch, fondern nur einen Vorſchlag zu gũtlichem Vergleich thun wolle. Das lehnte ber Hodmeifter freundlich) ab, und es ſchien dann wieber nichts anderes übrig zu bleiben, als diefe Sache wie alle andern Streitfragen auf befjere Zeiten zu verjchieben. Dagegen einigten ſich Witowt und der Livländiiche Meiſter zu einem neuen Feldzuge gegen Pleskau. Der Kochmeifter verſprach, dazu bie Livländer mit Geld und Gefdüg zu unter fügen. Er hat es aud) thatfählih gethan. Sonft „brachte diejer Tag zu Kowno wenig ein, nur baß bie Herrn bes Ordens bort einiges erfuhren, was fie vorher nicht wuhten.“ Das waren wohl noch bejondere Feindſeligkeiten der polnifchen Politif und bie intereffante Thatſache, daß Witowt die Klagefhriften der Samaiten veranlaßt Hatte,

Schon am 11. Februar rückte ber Meifter wieder über bie

Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 37

plesfaufche Grenze. Litauiſche Hülfstruppen ftießen zu ihm, und mei Wochen lang heerte man ftarf. Die plesfaufhen Chroniften erzählen, baß der Meifter diesmal auch ein Stüd bes benachbarten nowgorobijchen Gebietes verwültet habe, die Nowgorober aber felbft dagegen in feiner Weife reagirt hätten. Im Mai ftatteten Liv: länder und Plesfauer einander noch ein paar kurze Vifiten ab. Don weitern Unternehmungen wollten offenbar bie Livländer nichts wiſſen. Im März hatte Witowt vorgeſchlagen, daß der Hochmeiſter felbft oder wenigftens der Oberſte Marihall mit einem größern preußifhen Heer und ftarfem Geſchütz gegen bie hartnädigen Plestauer zu Felde ziehe. Mit überfließender Höflichkeit war das abgelehnt worden, weil die Verpflegung des preußifchen Heeres zu ſchwierig wäre. Im Juni fragte darauf Witowt treuherzig beim Hocmeifter an, ob es nicht angezeigt fei, bie Plesfauer dadurch mürbe zu maden, daß man ihnen einen litauifhen Bojaren zum zeitweiligen Oberhaupt fege. Der Hochmeiſter antwortete, er wiſſe von den plesfaufchen Verhältniffen zu wenig, um ſich darüber äußern zu fönnen, bevor er deswegen mit dem oberften Gebieliger von Livland korreſpondirt habe. Diefe Korrefpondenz, bie uns nicht überliefert ift, ftand wohl in ber Beurteilung ber litauiſchen Politik ſchon in einem ftarfen Gegenfag zu ben Freundfdaftsver: ficherungen, die der Hochmeilter nod) immer mit Witowt austaufchte. Im Herbft Schloß Meiſter Konrad von Vitinghofe mit Pleskau einen Waffenftillftand bis zum nächſten Januar. Das hing wohl mit den Beziehungen Witorts zu Moskau zufammen. In diefem Jahr waren Swibrigiello, ein Bruber des polniſchen Königs und der gefährlichfte innere Gegner Witowts, und mehrere anbere litauiſch⸗ ruſſiſche Fürften mit vielen Bojaren zu Waffili von Moskau übergegangen, ber fie aufs liebreichſte aufgenommen hatte. Bon beiben Seiten war nun aufs ftärkite gerüftet worden, und im September ftanden Witowt, dem auch der Hodmeifler wieder Hülfstruppen ’) gefandt Hatte, und Waſſili, zu dem viele Tataren geftoßen waren, einander am Grenzfluß Ugra gegenüber. Man beobachtete einander und wid) jorgfältig jedem größern Zufammen-

1) Unter ihnen follen aud Diesmal Samaiten in größerer Zahl gemejen fein. Webertreibend meldet ein preubifcher Chronift, dafı die Drdensmannfchaften auf dem Küdzuge infolge der ſchlechten Wege außer vielem Geigüg und andern Waffen mehr als 1500 Pferde derloren Hätten.

258 Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg.

floß aus. Dann begannen Verhandlungen, die diesmal zu einem feſten Frieden führten. Witowt verföhnte ſich aud mit feinem Velter Swibrigiello, um ihn bei ſich zu Haufe überwachen und gelegentlich vernichten zu fönnen. An der Ugra wurde bereits ein Friede Witowts auch mit Plesfau vorausbeftimmt. Trogbem fand nad) dem Ablauf des livländiſchen Stillftandes nod ein Einfall ins Plesfaufhe ftatt. Am 5. Februar erſchien ber Meifter „mit der ganzen deutſchen Macht und mit Litauen“, wie ber pfesfauf—e Chronift erzählt, und heerte eine Mode lang aufs ftärkte. Wieder wurde aud) nowgorodiſches Gebiet nicht verfhont, und wieder that Nomwgorob nichts dagegen, obgleich die Pleskauer in demütiger Weife um Hülfe baten. Das war bie lepte militärifhe Unternehmung, von ber wir in diefem Kriege Livlands mit Plesfau hören. Man Lönnte annehmen, daß der Orden in Livland den Krieg überhaupt nur nod in ber Art der litauiſchen Stoßreifen zu führen verftand, an die er feit mehr als einem Jahrhundert gewöhnt war. Aber wir Haben aud) allen Grund zu glauben, da Konrad von Vitinghofe im Mihtrauen gegen Witowt mit Abfiht allen Unternehmungen größern Stiles aus dem Wege ging.

Weihnachten 1408 begann die politifche Lage deutlicher zu werden. Witowt und der polniihe König hatten in Nowogorodet eine Zufammenkunft, und cs ift nicht daran zu zweifeln, daß bereits hier der große Krieg gegen den Deulſchen Orden beſchloſſen wurde. Der großpolniſche Adel verlangte aufs bringendite ein energifches Vorgehen, nachdem ber Hochmeifter im September bie Burg und große Herricjaft Driefen endgültig gelauft und ale unmittelbaren Orbensbefig neben andern Burgen, die aud von Polen beanſprucht wurden, jtarf befegt hatte!), Witowt glaubte

1) Die Burg, Stadt und Herrfiaft Driefen war 1317 vom Markgrafen Waldemar von Brandenburg alS ein echtes brondendurgiſches Erdlehn an zwei Nitter von der Dft verlichen worden. 1905 waren die Inhaber des Lchns, vier Yrüder von der Oft, wegen eines Streites mit dem Markgrafen Otto dem Faulen zum Polenfönig übergegangen, hatten fich aber 5 Jahre jpäler wieder ihrem rechtmäßigen derrn unterworfen. Der Nitter nirich von der Dit, von dem der Gochmeilter jept daS Zehn gegen eine fehr bedeutende Geldſumme abgelöft Hatte, war bereit zwei Mal für Driefen bei dem Polenlönig zu Schn gegangen, Hatte es aber feierlich al8 „aus jugendlicher Unmwiffenpeit und ohne Zuftimmung feiner Agnaten geſchehen · widerrufen,

Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 259

feinerfeits, num nicht mehr länger zulaffen zu bürfen, baß ber Orden fortfahre, ih in Samaiten feitzufegen und zu ſichern. Seine inneren Gegner hatten aus ber Webergabe ber Samaiten an ben Orden einen gefährlichen Vorwurf gegen ihn gemadt, und er füchtete felbit, daß die Samaiten bald fo weit gebracht fein fönnten, den Aufreizungen zum Aufftande fein Gehör mehr zu geben. Zugleich hielten aber er und bie Polen es für burdaus notwendig, bie Schuld am Kriege dem Orden zugufchieben und biefen bei der Nömif—en Kurie und allen fremben Höfen ins Unrecht zu fegen. Die abenbländifche Chriſtenheit mußte überzeugt werben, daß fie an dem Beſtande des Ordensftantes fein Intereſſe mehr habe. Daher follte die Täufhung des Ordens bis zum legten Augenblick fortgefegt werben. Daß dabei beide Teile, Litauer wie Polen, innerlich feſt entidlojlen waren, einander mög- fichft wenig vom Kaufpreis zu gönnen, ift gewiß ficher.

Die urkundlichen Zeugniffe über ben weitern Verlauf ber Dinge in Samaiten zeigen eine faſt unbegreiflich ſchwache Haltung der preußiicen Regierung. Die zahlreichen Spione des Orbens in Litauen und Polen berichten von ben feindlichen Plänen. Der Vogt von Samaiten meldet feit dem Dezember 1408 bem Hoch⸗ meifter fortwährend gefährliche Erſcheinungen und neue Schwierig: feiten, beren Zufammenhang mit feindlichen Abſichten Witowis unverfennbar ſei. „Litauer, Ruſſen und Tataren“, alles Unter: thanen Witorts, ziehen im Lande umher, fjmähen ben Orden und verüben Gewaltthaten. Daß der Vogt fie ausweilt, bei Witowt klagt und fortan nur benen, die eine offizielle Legitimation Witowts vorweilen, Eintritt ins Land gewähren will, Hilft gar nichts. Der Hochmeifter will von energiihen Maßregeln nichts willen; er ?orrefpondirt über dieſe Dinge mit Witowt in freundſchaftlicher Weiſe und alzeptirt alle Ausreden und Freundicaftsbetenerungen. Endlich jendet er im April den Komtur von Brandenburg Markward von Salzbach, den beften Renner Witowts und der litauiſchen Verhãltniſſe, mit dem Vogt von Camaiten Michael Kuchmeifter zu einer Ausſprache zum Großfüriten. Bei einer zu groben Aus: rede bes Litauers vermag ber tapfere Marfvard nicht mehr an ſich zu halten: er fragt, ob der Großfürft fi bewußt fei, den Orden bereits dreimal verraten zu haben, ob er jet wirtlid ben vierten Verrat vorbereite. Entrüftet weiſt Witowt eine fo empörenbe Sl

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gung zurüd und klagt fofort über fie aufs bitterfte beim Hoch- meifter. Umgehend wird Markward dedavouirt und MWitomt um Entſchuldigung gebeten. So geht es weiter, bis am 31. Mai Kuchmeiſter meldet, daß bekannte Hauptleute Witowts im Lande feien und die Samaiten zum Ungehorfam gegen bie Orbensbeamten aufriefen. Bevor dieſer Bericht den Hochmeifter erreicht hat, ift bereits in einem Teile Samaitens der Aufitand offen losgebrochen. Ulrich von Jungingen aber erklärt noch am 10. Juni einer pol: nifchen Geſandtſchaft, die mit ihm in Elbing über die neumärkifchen Dinge verhandelt, daß er von ber Unſchuld Witowts an dem Aufitande der Samaiten überzeugt ſei. Dann folgen doch Lange Verhandlungen im innern Ordensrate, und am 15. Juni wird eine an den König von Polen abgehende Orbensgefandtigaft inſtruirt: wenn der Großfürft Witowt wirklich, wie glaubhaft berichtet werde, in Samaiten einen Hauptmann eingejegt habe, müfle ber Hodmeifter annehmen, daß der Verrat und Abfall mit Witowts Willen geſchehen jei; er vertraue darauf, da der König ſich als hriftlicher Fürft von einem fo abſcheutichen Verrat fern: Halten und gemäß ben Beftimmungen des Friedens zu Raciaz verfahren werde; der Orden müſſe aber jept eine feſte Erklärung verlangen, daß der König weder die Samaiten noch diejenigen, auf deren Hinterlijtigen Antrieb jene fid zum Aufſtande erhoben hätten, in irgend einer Weife unterſtühen werde. Erfolge darauf nit die gewünſchte Antwort, fo jollten fi die Gefandten an bie Herren, Nitter und Knechte des Königs wenden und fie ermahnen, daß fie ihrem König von jeder Teilnahme an dem Verrate in Samaiten abrieten und ihm jeben Beiitand verweigerten, falls er andern Ratſchlägen folge. Das waren bie ritterliden Formen bes Weſtens. In Polen fah man in ihnen wohl nur die Schwäche und Natlofigfeit des Ordens. Die preußiihen Komture mußten fih mit der Antwort begnügen, daß ber König zuerſt feinen Reichsrat verfammeln müſſe, bevor er dem Verlangen des Hoch- meifters nachlommen fönne.

In Samaiten verbreitete ſich der Aufitand mittlerweile immer meiter. Witowts Hauptleute ergriffen förmlich Befig vom Lande und geboten feierlih, daß jedermann fid) gegen die Deutfchen im Sande zu wehren und zu einem großen Nriegszuge bereit zu madhen habe ; fobald das Getreide reif fei, wolle Witowt gegen Königsberg

Liofand und bie Schlacht bei Tannenberg. 261

ziehen und alle Deutfchen mit Feuer und Schwert in bie See treiben, baß fie ſich ſelbſt erfäuften. Daß ber Orben unter biefen Umftänden nicht ſchon längft in Samaiten mit größerer Heeresmadht eingegriffen, die fremden Litauer hinausgeworfen und bie Infurrek: tion in ihren Anfängen erſtict hatte, iſt nur dadurch zu erflären, daß man in der Marienburg beſchloſſen hatte, alle Kräfte zum Schlage gegen Polen bereit zu halten und in Samaiten und gegen Witowt nichts zu tun, bevor man bie erwartete Antwort bes Königs erhalten habe. Es bürfte wohl faum möglich, fein, biefen Beſchluh vom Orbensftanbpunfte aus zu rechtfertigen und zu billigen, aud wenn man bamit rechnet, daß Witowt bie Ordenstruppen in Samaiten länger feithalten fonnte, um einen polnischen Einbruch in Weitpreußen zu erleichtern. Die beiben wichtigen Orbensburgen in Samaiten blieben ſchwach befegt, und ihre Verbindung mit den preußiſchen Gebieten war äußerft gefährdet. Diefe Lage hatte Anfang Juni einen livländiihen Zug nad Samaiten, wohl mehr eine größere Neognoszirung, veranlaßt. Auch da fehlte jeder nachhaltige Erfolg. Man verwüftete zwei Londſchaften und zog dann vor ben von ber preußifchen Grenze herbeieilenden Samaiten zurüd.

Schon im April hatte Witowt mit Plesfau einen „ewigen Frieden“ gefchloflen, wie er an der Ugra vorausbejtimmt war. Von ben livlänbifchen Bundesgenoffen war babei nur infofern bie Rede, als Witowt alles aufbot, die Pleskauer zur Fortiegung des Krieges gegen Livland zu bewegen. Aber Plesfau folgte nicht ihm, fondern feinen Handelsintereffen und eröffnete bald darauf aud) mit dem Meiſter Friebensverhanblungen. Die livlänbif—en Stäbte hatten erklärt, daß fie auf feinen neuen Raufmannsfrieen eingehen würben, bevor Plesfau ſich mit dem Orben geeinigt habe. Am 27. Juli 1409 floh Konrad von Vitinghofe in Kirrumpä mit den plesfaufhen Vertretern ab, und zwar, wie es ſcheint, in Anweſenheit der Gefanbten Nowgorods. Der pleskauſche Chroniſi ergähft: „Dan nahm den Frieden nad) dem Willen Plestaus mit ber folgenden Zuftimmung Rowgorods. Vor dieſem Frieden Hatten Nowgorod und Plestau einen gemeinfamen Frieden mit den Deutſchen, aber jegt hat Pleskau von biejem 27. Juli an einen Frieden ohne Nowgorob, weil bie Nowgoroder Pleslau gegen bie Deutſchen nicht halfen.” Von litauifcher Seite Hören wir, daß der

262 Livland und bie Schlacht bei Tannenberg.

Friede auch mit Moskau geſchloſſen, d. h. wohl durch den Groß fürften von Moskau beftätigt worden fei, und man ſich gelobt habe, fünftige Feindſeligkeiten immer erſt vier Wochen nad) einer Friedens aufjage zu beginnen). Nach keiner Richtung Hat der ruſſiſche Krieg von 1406—1409 Livland genügt. Das Verhäftni zu den ruſſiſchen Nachbarftanten Nomgorod und Pleskau ift durch ihn nur infofern beeinflußt worden, als die Gefühle des Mißtrauens und der Abneigung auf beiden Seiten gefteigert wurden. Die Ver ſchärfung des Gegenfages zwiſchen ben beiden Republiken fam nicht Livland, fondern nur Moskau zu gut. Der livländiſche Handel litt duch den Krieg erhebliche Verlufte. Am ſchlimmſten war, daß bie Beziehungen zu Preußen ſich immer mehr verſchlech⸗ terten. Die Unzufriedenheit über ben ruſſiſchen Krieg richtete ſich in erfter Linie gegen bie preußiiche Politif, bie Livland in ihn Hineingezogen hatte. Die lioländiſchen Stände werben aber gewiß nicht verfäumt haben, ihre Mißſtimmung auch bie einheimifchen Gebietiger fühlen zu laſſen. Das mußte die innern Gegenfäge im Orben verſchärfen. Wie es fdeint, fand bamit eine Zurüde drängung ber rheinländifchen Gebietiger in Livfand im Zufammen: Hang. Die Sage der Dinge in Samaiten gefährdete auch bie liv- ländiihen Orbensgrengen fehr ſtark, und man fürdtete, durch die Schwäche und Unbefonnenheit der preußiiden Regierung unvor⸗ bereitet in einen neuen unb viel gefährlicheren Krieg hineingezogen zu werden. Das wollte man auf jeden Fall verhindern. Nachdem der zu Anfang Juni nad) Samaiten unternommene Zug gezeigt hatte, wie ſchwach dort die Grundlagen der preußiſchen Orbenss herrſchaft waren, fcheinen ber Meiſter und das livländiſche Ordens: fapitel die Aufnahme von Verhandlungen mit Witowt und den litauiſchen Machthabern an ben Livländifhen Grenzen beſchloſſen zu haben. Das Rejultat war ein Vertrag, deſſen Inhalt uns in den Urkunden bes folgenden Jahres in überraſchender Weile ent- gegentritt. Er lautete: wenn es num doch zum Kriege zwiſchen dem Deutſchen Orden und dem Großfürftentum Litauen kommen follte, fo geloben aud) für diefen Fall der Deutſche Orden in Liv land und ber Großfürſt Witowt mit feinen Großen, die Feindfelig-

2) In den lioländiſchen Geſchichtsdarſtellungen wird der Friede von Kirrumpä infolge ber verwirrien Chronologie der ruifiiden Chronifen ins Jahr 1410, alfo hinter bie Schlacht von Tannenberg geitellt.

Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 283

feiten wider einander nicht früher zu beginnen als drei Monate nad) dem Empfange der Friebensauffage. Es iſt wahrſcheinlich, daß der Meifter und die litauiſchen Großen von ber Grenze ſich befondere Garantien für bie Einhaltung biejes Vertrages gegeben haben. Daß der Hochmeifter von einer jo wigtigen Abmachung zu einer Zeit, wo Witowt eben ein Orbensland infurgirte und mit feinen Hauptleuten befegte, wo zugleich ein großer Krieg mit Polen jeden Augenblid ausbrechen fonnte, nichts erfahren haben follte, Tonnen wir ſchon im Hinblid auf die xheinlänbiihen Gebietiger des livländiſchen Orbensrates nicht annehmen. Seine Ueberraſchung im nädjften Jahr wird alfo der Auffaſſung gelten müſſen, daß ber Vertrag aud) für den Fall eines großen litauiſchen Angriffes auf Preußen Kraft Haben folle ?).

In Preußen wartete man unterdeiien auf die polniſche Ants wort. Der König fchrieb mehrmals und bat um Geduld, bie gewünſchte Erflärung werde durch eine große Geſandtſchaft übers bracht werden. Ende Juli erſt zogen die Gejanbten, bie ihre Inſtruktionen auf dem polniſchen Reichstage erhalten hatten, langjam heran und fonnten am 1. Auguft vom Hochmeifter in der Darien- burg auf einem dazu berufenen Hoftage empfangen werben. Ihr Führer war der Erzbifchof von Gnefen. Die Erklärung lautete: „Der König und das Neid) Polen erbieten ſich wegen aller eins zelnen Schäden, die zwilchen ihnen und bem Orden oder biefem und dem Großfüriten Witowt entjtanden find, zu Necht und Billige feit ober zum Austrage vor freundichaftlichen Friedensvermittlern ; fie verlangen aber, daß der Orden bis zur Aus— gleihung diefer Shäben gegen bie Samaiten Frieden Halte; in dieſem Falle haben die gegenwärtigen Geſandten Vollmacht, dem Großfürſten Witowt im Namen des Königs zu fchreiben, daß er feine Hauptleute aus Samaiten abberufe und fi dort nicht einmiſche.“ Darauf erwiderte ber Hochmeiſter: aud er erbiete fi, wie er es ftets gethan habe, dem König und dem Groffürften in allen Schadenklagen, bie fie gegen ben Orben hätten, zu Necht zu ftehen, wie er auch auf jede von ihnen vorgeſchlagene Vermittelung gern eingehe; die Samaiten

2) Es ift möglich, dab ſolch ein Vertrag ſchon in den Jahren 1403—1406 zwiſchen Vitinghofe und Witowt geſchloſſen wurde. 1409 muß er aber dann mad) alem, was wir Jehen, erneuert worden jein.

264 Livland und die Schlacht bei Tannenberg.

aber jeien dem Orden zugeiproden, und weber ber König noch der Großfürjt befäßen an ihnen irgend welches Recht; baher müſſe der König geftatten, daß aud in Zukunft nur der Orben allein darüber entjcheide, ob und warn er die Samaiten zum Gehorfam zu zwingen Babe ober nit. Da fagten bie polniſchen Voten: „Greift ber Orben die Samaiten an, bevor die erwähnten Schäden ausgeglichen find, fo wird der Orben des eigenen Landes nicht ſicher fein; es ift zu befürdten, baf der König ſich dann mit den Samaiten verbindet.” Jetzt bat ber Hochmeiſter alle Anmwefenden, die vielen Nitter und Knechte, die Gölbnerführer, bie Vertreter ber gemeinen Städte bes Landes und feinen und ber Gebietiger ganzen Hof genau aufzumerfen und redete dann zum Erzbiſchof: „Lieber Herr, wir wollen uns allein auf euer Wort verlafen. Wagt ihr uns zuzuſichern, daß wir, ohne Gefahr vom Reiche Polen auszujtehen, bie Samaiten, unfere erflärten Feinde, für ihre Miſſethaten züchtigen können? Mir wollen geloben, bem Groß: fürften Witowt und feinen Unterthanen feinen Schaden zujufügen, wenn fie fih ber Samaiten in feiner Weife annehmen.” Der Ersbiichof aber befannte offen, baf er nicht in ber Lage fei, dem Hochmeifter irgend etwas berartiges zuzuſichern; ziehe ber Hoch- meifter gegen bie Samaiten, jo folle er darauf gefaßt fein, daß der König intervenire und vielleiht in das Land zu Preußen ziehe. Da rief der Hodmeifter: „Ihr lieben Ritter, Knete, Städte und alle, die ihr Hier verfammelt feib, ihr habt es nun gehört! Sept erfennen wir, daß unfer Schabe (der Verrat in Samaiten) von niemand anders als vom König zu Polen unb beffen Anfchlägen berührt.“

Noch einmal wandte er fi dann an die Gefandten: „Der Orden befigt Burgen in Samaiten zum Schutze bes Chriftentums. Will der König den Orden foweit vor den Samaiten ficherftellen, baß die Orbensburgen ohne Kampf verproviantirt werben können ?“ Die Gefandten erklärten, baß fie barüber nichts zu Tagen hätten. Da meinte der Hodmeifter, der Orden werde alfo wohl jene Burgen einem Häglichen Verderben ausfegen müflen, da der König fie nicht fierftellen wolle oder könne und ber Orden fie des Königs wegen gewaltſam nicht verpflegen dürfe. Dann ließ er den Brief vers lefen, in dem er bem König gefchrieben Hatte, daß bes Königs Boten eine endgültig und unzweideutig feite Antwort bringen

Sioland und die Schlacht bei Tannenberg.

müßten. Die Boten aber erflärten nod einmal, baß fie feine mweitern Aufträge hätten, und wurden fo verabſchiedet ). Nun mußte man in Preußen endlich, was alle Verträge und Gelübbe von Raciaz wert waren. Noch fünf Tage vergingen, bis ber Hochmeiſter am 6. Auguft bie NKriegserflärung des Deutjchen Ordens an ben Rönig und das Neid; Polen befiegelte.

(Sötuh folgt.)

%) Dohannes Dlugoh, ber Kratauer Kanonitus, der 1455-1480 als Herold des polniſchen Ruhmes eine große Geſchichte Polens ſchrieb, hat die Ber- handlungeſzene in der Marienburg vom 1. Auguſt 1409 höchſt tendenpiös ober vielmehr wahrheitswidrig bargeftelt. Danach gebieten dem Ränig die Blutsver« wandiſchaft umd das Gtantsredt, ſich Litauens anzunehmen; aber er will alle Rechte des Drdens refpeftiren und als Herr Litauens allen Streit gütlich beir legen. In herausfordernder Weiſe ertlart darauf der dochmeiſter, er werde unter allen Umftänden fofort an ganz Litauen Race üben. Da fpricht der Erzbiſchof: Höre auf, Litauen zu drogen; denn deſſen Feinde find auch Polens Feinde, und wenn Du gen Litauen ziefft, zieht unfer König gen Preuken.“ In wilder Freude ruft ulrich von Jungingen nun: „Habe Dank für diefe Worte! Run will ich Lieber gleich das Saupt als bie Glieder ſaſſen und licher das reiche Polen als das elende Litauen Geimfucen.“ Es ift ein erftaunficher Grfolg des Diugob, dab die deutfchen Geſchichtgfchreiber Joh. Voigt und Jaf. Caro nur feine Darftelkung wiedergeben, obgleid) beide den fclict und ungefehidt geidirier benen gleichzeitigen Bericht im Königsberger Stantsardio gefannt haben. Wir entnehmen dem Diugo nur, dab die polniſchen Gefandten und befonders der Grgbifchof nach der Rüctehe in die Heimat Vorwürfen ausgefept waren, weil fie nicht verftanden hätten, den leichtgläubigen Orden troß der polnifchen Antwort noch länger Ginzupalten.

Litterärijdes.

Karl Lamprecht. Zur jüngiten deutſchen Vergangenheit. Bd. 1. Berlin, Gaertner. 1002.

Karl Lamprecht Hat die „deutſche Gedichte” geichrieben, 6 Bände bavon find fehon erfdienen, fie führen bis ins 16. Jahı- hundert. Da macht er nun eine Paufe und überfpringt ben Abſchnitt von zwei Jahrhunderten, um biefen „Erzählungsband” herauszugeben, ber bas 19. Jahrhundert behandelt.

Lamprecht will Geſchichte fchreiben in großem Stil, nicht Geſchichten, fondern Geſchichte. Was Curtius für die griechiſche, Mommſen für bie römiſche, Ranke für die allgemeine Gedichte, das will er offenbar für bie deutſche Geſchichte leiften. Dabei hat er aber feine befonbere, über bie genannten großen Hijtorifer hinausgehende Methode. Er will nicht Thatſachen mühſam fuhen und gewifjenhaft aufipeichern, um ein genau gefichtetes Material zu bieten, er will gruppiren, vergleichen, beurteilen, will bie trei- benden „großen“ Gedanken nadweifen und den Zufammenhang ſowohl als bie Entwicelung im Geſchehenen aufzeigen. Cine große und fchwierige, aber zugleich feſſelnde Aufgabe. Sie hat in der Art, wie Lamprecht fie durchführte, nad) feinen erften Bänden eine ganze Flut von kritiſchen Schriften hervorgerufen, welche zufammen mit feinen Gegenſchriften eine interefjante itteratur zur Methode der Geſchichtſchreibung Bilden. Es war die hödjfte Zeit, daß die Hittorifer wieber einmal den umfaſſenden Gefihtspunft gelten ließen und nicht bloß Methode der hiſtoriſchen For ſchung und peinlich genaue Kleinarbeit betrieben, ſondern enblid wieder aus dem Vollen ſchöpften und ins Große arbeiteten, höchſte Zeit, daß enbli die Klagen eines Lorenz und Brückner gehört wurden und in die Gefhiht-Schreibung Methode fam. In biefem Sinne allein ſchon war Lampredhts großes Wert mit Freuden zu begrüßen.

Der vorliegende Band, ber ganz getrennt für ſich lesbar ift, giebt die innere Gedichte des 19. Jahrhunderts, bie Gefchichte bes Geifteslebens. Won äußeren Vorgängen, von Staatengeſchichte

Litterärifhes. 2367

und Politik feine Spur. Die Kunft und die Weltanſchauung ziehen an unjerem Nuge vorüber: die Tonkunft (S. 6—68) weit ausholend von den Anfängen deutſcher Muſik bis auf Wagner, den jehr ernſt und tief genommenen Schöpfer der „Mufit der Zukunft“. Die bildende Kunſt (©. 69—303) haupt⸗ fähfid) die Malerei wird ebenfalls bis auf ihren Urfprung Hin verfolgt und findet ihren Ausläufer in den verfdiedenen Spiel- arten bes Impreffionismus. Die Betradtung der Dichtung (S. 207—375) wirb nicht fo weit zuüdgeführt, fie tritt mitten hinein in die Gegenwart mit ihrem wachſenden Sinn für die Wirklichkeit, nachgewieſen in Lyrif, Roman, Drama. Im legten Abſchniit (S. 379-471), „Weltanihauung“ betitelt, wird in großen furzen Sprüngen bie neueſte Philofophie, hauptſächlich Ethik und Pſychologie vorgeführt, die Neligion und Theologie nur geftreift, obgleich gerabe hier ein Zeitalter wachſender Neligiofität angefünbigt wird als notwendige Neaktion gegen bie platte Ver- münftigfeit der 50er bis 70er Jahre.

Diefe Meine Neberficht mag zum Lefen anregen. Auf jeder Seite wird man felbftändige Urteile, originelle Auffaffungen ent- beten. Aber zum Widerſpruch, mindeftens zu kritiſchen Fragezeichen it Anlaß in Menge geboten. Wer in fo erponirter Stellung ficht und ſich in feinen Urteilen fo fräftig ins Zeug legt, ber muß gefaßt fein, daß man viele Blößen bemerkt.

Lamprecht kämpft gegen bie Vorurteile ber bisherigen Gefchichtsbarfteller, befonders Nantes. Er felbit ift ganz befangen in einem Dogma, dem Entwidelungs:Dogma. Gewiß, bieles ift mobern, es liegt noch in ber Zuft, aber man hat ſchon viele Züden darin gefunden und beginnt ftarf zu zweifeln, ob es wirklich zur Erffärung bes Lebens und ber Geſchichte vollſtändig ausreicht und ben Thatfahen lüdenlos geredit wirb. Ja, in Lamprechts eigener Darftellung zeigen ſich folde Lüden. Durch das ganze Buch zieht fi) der Gedanke, daß die Zeit bes 19. Jahrhunderts eine Periode ber „Reizſamkeit“ genannt werben könne, bie aufe fallend an die Urzeit erinnere. Namentlich in ber Kunſt weiß er Belege für diefe Auffaſſung zu finden. Aber erjtens erhebt ſich die Frage, ob dann, wenn er Recht haben follte, von einer ftufen- weifen Entwidelung, wie er fie behauptet, bie Rede fein fann, ba diefe Erſcheinung zunächſt als Rüdbildung erſcheint. Zweitens

268 Litterärifges.

macht biefe Behauptung einen durchweg aprioriftiihen Eindrud, die Beweife find fehr dürftig, fie find nadhträglih zufammen- getragen, find nicht eine aus ber Geſammtbetrachtung ſich ergebende Grundlage für feine Hypotheſe, fondern einzelne, dem fertigen Bau ober gar Luftſchloß untergefhobene Steine, ein ſchwaches Fundament.

So ift Vieles noch „gemacht“ in dem Bud. In die Augen fällt auch bie Art, wie 2. fid) bei mandjen Erzeugniffen mobernfter Litteratur, etwa bei Sudermann, bie gerade ethiſche Probleme behandeln, eines ethiſchen Urteils enthält, während er fonft um Urteile, und ſcharfe Urteile nicht verlegen ift.

Schließlich die Sprade des Buches. Nach den Vorjägen des Verfaſſers, einen großen Blick in das Werden ber Geſchichte zu thun, hatte id) eine größere, klarere Sprade erwartet. Ich mar enttäufcht. Wohl bemüht ſich die Sprade, echt deutſch zu fein, und geht Fremdwörtern aus dem Wege. Aber die beutjche Trodenheit ift wieder da (ganz anders Mommfen, Ranfe und ber in der Sprache oft faszinirende Houfton Chamberlain) und neue Wortbildungen, die ans Unzuläffige ftreifen, fehlen nit. ©. 65: „gegengewogen“, ©. 466: „bie vergefellijaftete menſchliche Seele”. Das ift feine Bereicherung ber deutihen Sprade.

Ernst Külpe. Morit Heyne. Zünf Vücer deutſcher Hausaltertümer von den älteften Zeiten bis zum 16. Jafrjundert, Band IT: Das deuiſche Nahrungs wefen. Leipgig, Verlag von S. Hirgel. 12 M.

War ſchon ber erfte, die beutichen Wohnungsverhältnijie behandelnde Band bes trefflihen Heyneſchen Werkes von großer tuiturgeſchichtlicher Vebeutung, fo nimmt ber vorliegende zweite, ebenfo gründlid) und forgfältig gearbeitete Band nody mehr das allgemeine Intereffe in Anſpruch. Werden doch in ihm bie länd- lichen Beſchäftigungen und die Nahrungsverhältnifie der deutſchen Vorzeit eingehend bargeftellt und befproden. Da ift es vor Allem ber Aderbau, der ausführlich behandelt wird, wobei auch ber Pflug nad) feiner urſprünglichen Geftalt und allmählichen Entwidelung Berückſichtigung findet, und ebenſo werden die in Deutſchland von Alters her ſich findenden Getreibearten aufgeführt und beſprochen. Weiter fommt ber Garten mit feinen Küchenpflanzen und Frucht: bäumen, unter denen ber Npfelbaum bie erjie Stelle einnimmt,

Litterärifges. 209

zur Darftellung, woran ſich eine Schilderung der Obſtlultur fchlicht. Befonberes Intereffe erwedt bas Iehrreiche Kapitel über den Wein- bau. Darauf wird ber ben Germanen ſiets fo teuere Wald und feine Bäume von Heyne mit Liebe gejhildert. Dann wird der Viehzucht nad) allen Richtungen forglame Behandlung zu Teil, und im Zufammenhange mit ihr die Bienenzucht beſchrieben, deren hohe Bedeutung im Mittelalter uns hier fo recht entgegentrilt; waren doch Honig und Wachs damals unentbehrlice Dinge. Sehr angiehend ijt ber Abſchnitt über bie beiden gewöhnlichen Haustiere, Hund und Kage; dieſe fommt, wenn auch viel fpäter als jener, doch Schon im frühen Mittelalter vor.

Es gewährt einen bejonderen Reiz, V. Hehns klaſſiſches Buch über die Kulturpflanzen und Haustiere zur Vergleichung mit den bier gegebenen Schilderungen heranzuziehen. M. Heyne nimmt aud darauf mehrfach Bezug, doch fönnte das wohl nod) häufiger geihehen. Die Hauptbefhäftigung des freien Mannes ber Vorzeit, bie Jagd, wird nad) allen ihren Arten geſchildert und im Anſchluß an fie der Fiſchfang. Das Baden, Kochen und Braten der Vorzeit fernen wir hier genau fennen und erhalten dann ausführlichen und anziehenben Bericht über die Tiere und Pflanzen, melde im Mittelalter hauptſächlich genofien wurden. Die Schilderung ber altbeutf hen Milgwirtichaft bildet hierauf den Webergang zur Beſchreibung der Getränfe, unter denen natürlich der Wein, deſſen Kelterung und Gebrauch [ehrreich beiproden werben, die wichtigſte Stelle einnimmt; über ben aud) bei uns einjt häufig vorfommenden „Claret“ findet fi) hier genaue Auskunft. Der Tert wird durch 75 fleine, aber wohlausgewählte Abbildungen erläutert und vers deutlicht. Was uns Hier geboten wird, ift ein Stüd echter deutſcher Kulturgeſchichte, von der Hand eines das ſprachliche Gebiet volls tommen beherrſchenden Forſchers, der aud mit den geſchichtlichen Quellen wohl vertraut iſt. Wir ſehen dem dritten, abſchließenden Bande bes vorzüglichen Werkes mit lebhaftem Verlangen entgegen.

Gottfried Kögel. Rudolf Kögel, fein Werden und Wirken. Band II. Berlin, Ernft Siegfried Wiuler und Sohn. 6 N.

Hatte der erite Band diefer inhaltreichen, das Interefie weiter Kreife in Anſpruch nehmenden Biographie uns das Werden Kögels nad) feinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen anſchaulich vor—

270 Litterärifches.

geführt, fo ſchildert ber vorliegende zweite Band die erften 17 Jahre feines geiftlihen Wirfens. Seine Amtsthätigfeit beginnt unſcheinbar genug mit der Berufung in das Pfarramt zu Nafel, einem Heinen Städtchen in der Nähe von Bromberg, in entlegenflem Teile der Provinz Pofen im Jahre 1854. Es war ein trüber und ſchwerer Anfang für den begabten, geiftig fo angeregten Mann. Er ſchildert ſelbſt ſehr lebendig die Milhung vom Judentum, Polentum und Deutſchtum in Nafel; bie kirchlichen Zujtände im Städtden waren elend und troftlos, Alles in tiefem Verfalle. Kögel hatte heife Kämpfe mit Indolenz und Vosheit durchzumachen und ſchwere Arbeit zu thun, Bis es einigermaßen zur Herſtellung georbneter kirchlicher Verhältniſſe Fam. Im Auguft 1855 verheiratete er ſich mit Marie Müller, der Tochter des berühmten Theologen in Halle, und burd) bas num begründete eigene Heim fühlte er fi in feiner Wirkjamkeit geftärkt. Daß Kögels Arbeit in Natel feine vergebliche gewefen, bewies das banfbare Gebächtniß, das viele feiner Gemeinbeglieber ihm bis zu feinem Tobe bewahrten. Durch bes Dberhofpredigers Snethlage Empfehlung erhielt Kögel im Jahre 1857 den Nuf als Pajtor der beutich:evangelifden Gemeinde im Haag und nahm ihn an. Ein größerer Kontraſt als ber zwiſchen dem weltentlegenen Poſenſchen Städichen und ber Nefidenz bes Königs der Niederlande ließ ſich faum benfen. Im Hang hatte Rögel nicht mit dem Uebelwollen und Unverftande feiner Gemeinde- glieber zu kämpfen, aber an angejtrengter Arbeit fehlte es auch hier nicht; außer Predigten, Vibelftunden, der Seelforge nahm auch die deutſche Schule feine Thätigkeit in Anſpruch. Ein befonderes Verbienft erwarb er ſich durch die von ihm durchgefegte Erbauung einer eigenen Kirche. Der Verkehr mit hochgebildeten deutſchen Perſonlichteiten wie mit berühmten Hollänhern, fo Groen van Prinfterer und den beiden dichteriſchen Brüdern Capabofe, dem hochverdienten Heldring und andern gaben ihm reiche Ans regung, vielfahe Reifen Erholung. Der Aufenthalt im Haag hat Kogels geiftigen Geſichtskreis jehr erweitert und jeine kirchen— politiichen Anjhauungen weſentlich geklärt. Vorzugsweiſe durch die Bemühungen des Miniſters von Vlühler erfolgte 1863 Kögels Berufung als Hofe und Domprediger nad) Berlin. Ehe er das neue chrenvolle Amt antreten fonnte, wurde er aber von einem ſchweren Halsleiden betroffen, das ihn fait ein Jahr lang jeder

Litterärifges. a1

Thätigfeit zu entfagen nötigte. So wurde er denn erft 1864 als vierter Hofprediger feierlich eingeführt. Seine geiftvollen, aus ber Tiefe geihöpften, formvollendeten Predigten machten ihn bald zum gefeiertften Prediger Berlins, Taufende verfammelten fih im Dome, um ihn zu hören. Ihm wurde das feltene Glück zu Teil, alle großen Ereigniffe der neueren preußiihen Geſchichte von 1864 bis 1871 mit feinen Predigten begleiten zu dürfen, bem Dank gegen Gott und der Siegesfreube berebten Ausdrud zu geben wie zur Buße und Demut zu mahnen. Die vielen im Buche mitger teilten gehaltvollen Briefe Kögels enthalten zahlreiche, meiſt ſehr trefflihe Bemerkungen über litteräriſche Erſcheinungen ber Zeit, aud) viele anziehende Schilderungen von Erlebniſſen und Perſönlich- feiten, benen er auf feinen vielen Reifen begegnete. Kögel war ein königstreuer Dann durch und durch, aber von Byzantinismus war nidts in ihm. Daß von feinen bedeutendjten Predigten in bem Buche Auszüge gegeben werben, ift ganz ſachgemäß, aber es geidjieht darin des Guten doch wohl etwas zu viel und ber Ver— faſſer hätte ſich wohl etwas beſchränken können. Bon ben Anlagen find die erfte: der Geiftlihe und fein Verhältniß zur modernen Bildung und die vierte: die Unwiſſenheit in hriftlichen Dingen in ihrer Bedeutung für die Jrreligiofität der Gegenwart befonders lejenswert. Der dritte Band, der uns Kögel in feiner tiefein- greifenden und einflußreihen Thätigfeit als Oberhofprediger, als Führer der pofitiven Union und als hervorragenden Kirchenpolitifer, fowie in feinen nahen Beziehungen zu Kaiſer Wilhelm J. ſchildern mird, fol im Herbſt bes nächſten Jahres erſcheinen; man wird ihm in weiten Kreifen mit Spannung entgegenfehen. —s

Rotij.

Wenn die „Valtiſche Monatsichrift“ immer meht auch eine Chronit des baluiſ chen Sehens geworden üt, fo erfheint es geboten, in ihr darauf hinzudeiſen, dafı dieſes Jahr ung ein Novum im baltifchrfirchlicien Leben gebracht hat. Ein Höchft umerfreufiches Novum. Denn bisher war «8 bei ung nicht üblich, dab cin Teilnehmer an einer baltifchen Spnode diefelbe Synode, deren Verhandlungen deiwohnen zu dürfen er die Ehre Hatte, öffentlich in einem politiicen Tagesblatt Blofzujtellen jid bemüht. Soldjes üft aber jeht geidkhen, und zwar im der „Büna » Zeitung“ vom 13. September 1902 Nr. 208. Hier wird in einer

am Rotin

anonpmen Zufcrift berichtet, dah Here Paſtor Fegerabend»Dubene auf ber diesjährigen furländifcen Provinzial,Spnode in einem 2/sftünbigen Bortrage „mit großer Wärme und in unvergleichlid klarer und eingehender Weife” die Grundzüge der modernen Theologie dargelegt habe, um der Synode „das Unzu« treffende" eines im vorigen Jahr gefälten „Botums“ „vorzubalten“. Dann heißt 8: „Pater Feyerabend hatte nachgewieſen, dah durd die fogenannte moderne Theologie das Zentrum des Heils in Chriſto in feiner Weiſe erſchauert ober angegriffen werde, daß fic vielmehr das reine Evangelium ohne dogmeliſches Veiwert zur Geltung bringe. Man ſolle doch nur eingehend prüfen.“ Alfo Pajtor Zegerabend Hatte nahgemwiefen. Nicht eiwa nachzumweiſen verfudt ober nadhzumeifen fid zur Aufgabe geitelt, ſondern Gier heißt es klipp und Har: ex Hatte nachgewiefen. Daraus fann dann mur folgen, dah, mer ſich gegen jenen Rachwe ia verfchlicht, entweber des nötigen Mahes an Berftändnif; ermangelt ‚oder nicht den nötigen guten Willen mitbringt, ſolchem Nachweis gerecht zu werden. Und welches ift mun die gemichtige Mutorität, auf deren Zeugnik fin wie 68 glauben follen, dafs Paftor Feyerabend wirklich etwas fo überaus Ein ſchneidendes und Bedeutungsvolfea „nachgewiefen" hat? Der Aruttel in der „Büna-Ztg.“ iſt unterzeihnet: „Ein Teilnehmer der Synode“ Benn irgendwo, fo mußten wir hier den noffen Namen des Einſenders erwarten. Umfomehr, als fofort der Sap folgt: „Allein, daß man das „Prüfe Alcs“, welches bei der Eröffnung der Synode Allen ans Herz gelegt wurde, in der Thei ernſt nehmen und in Xusführung bringen wolle, wenn auch nicht fofort, fo doch überhaupt, fam in feiner Weife zum Ausdrud.“ Ueber den Inhalt biefes Sahes werbe ich Tein Wort verlieren, mur will ich zum Augen fünftiger Zeiten Gier ein Doppelte „regiteiren“, einmal, daß biefe bisher unerhörte Art der Berichterftattung über eine Synode in unfern Sanden von einem Vertreter der modernen Theologie ausgegangen ift, und ferner, dafı das Blatt, welches diefer eigentümlicen Zulhrift feine Spalten öffnete, die „Düna-Zeitung“ üt. Hat am Ende der „Zeilnehmer der Synode“ den Wunſch. dab die moderne Theologie wie von allem „dogmatifcen Beiwerk", jo aud; von allen eihiſchen Momenten gereinigt erfceine ?

Der Teilnehmer ber Synode flieht feine Zufcrift mit den Morten: „Da doch die Redaktion der „Mitteilungen und Nachrichten" ſich endlich ent» icjliehen möchte, ber Kontroderſe über dieſe Materie ihre Spalten gu öffnen! Da wir zur Klarheit fommen, thut uns bitter mot, ſo ſeht, wie bem Qungrigen das tägliche Brot." Der ununterrichtete Leſer der „Düna«Zig." muß diefem emphatifchen Rotſchrei entnehmen, daß ſich die „Mitteilungen und Nadjeiditen“ bisßer engherzig gegen Meuferungen aus dem Lager ber modernen Theologie verjchloſſen haben. Wenn der „Teilnehmer der Synode“ ſich die Mühe genommen Hätte, die Tepten Jahrgänge der „Witteilungen“ burdyufehen, fo mürde er gefunden Haben, dab, um nur eim Beilpiel anzuführen, die durchaus Yarnadfreunblicen Auseinanderjegungen von Paitor Walter-Ermes anſtandslos in den „Mitteilungen“ aufgenommen worben find. Soll denn fünftighin Sadtenntni auch als zu bejeitigendes „dogmatifches Veierl” gelten ? H. Eisenschmidt.

Riga, den 17. September 1902,

Lord Byron alö Dramatiter*).

Von Dr. Eduard Edharbt.

Es ift eine eigentümlide Erſcheinung, daß England, bas Land, das einen Shakeſpeare hervorgebracht und in ber Zeit ber Nenaiffance die üppigfte Blüte des Dramas gezeitigt hat, gegen wärtig unter ben großen Rulturländern auf bramatifhem Gebiete am unfruchtbarften ift. Sheridan war ber legte unter ben bedeu- tenderen engliſchen Dramatifern. Von den Urſachen, bie zum jegigen völligen Niedergang der dramatijchen Dichtung in England beigetragen haben, will ih nur zwei kurz anbeuten: 1) Das englijhe Drama hat fi von den ſchweren Schlägen, die ber Puritanismus ihm in der englifhen Revolution gefchlagen, nie wieber völlig erholen können. Der puritanifche Geift, ber auch heute noch unter den Bewohnern Britanniens keineswegs erftorben it, hemmt bie freie Entwidelung der vorhandenen künſtleriſchen Keime, wirft ungünftig auf die Entfaltung etwa auftauchenber dramatifcher Talente. Der Puritanismus ift hauptſächlich ſchuld daran, daß die funftfrohen Engländer der Renaiffancezeit, mit all ihrer überfprudelnden naiven Lebensfreude, ſich zu einem Volke entwidelt haben, das ben barftellenden Künften einen beſonders dürren Boden barbietet. 2) Einen wichtigen Grund für ben gegenwärtigen Tiefftanb der englifhen Dramatik bilden aud bie heutigen Theaterverhältniffe in England. Die englifhen Theater find Privatanjtalten, ohne jede ſtaatliche oder ftäbtifche Unterftügung. Unter ſolchen Umftänden wird die Auswahl der aufzuführenden Stüde felbft an den Theatern höheren Ranges nicht dur fünfte leriſche Gefihtspunkte, ſondern durch die Rückſicht auf den Kaffen-

*) Der Hier abgedrudte Vortrag wurde am 20./16. Juli 1002 vor ber philoſophiſhen Fakultät der Univerfität Freiburg i. Dr. zum Yiwcd ber Yabilitation gehalten. A

a Korb Byron als Dramatiter.

erfolg beftimmt. Faſt alle gegenwärtigen engliihen Theater dienen feinem höheren Zweck als dem ber bloßen Unterhaltung, bes flüchtigen Zeitvertreibs.

Aus derartigen Verhältniffen erklärt es ſich leicht, daß fein- fühligere Dichternaturen fid) in England noch weit eher als in andern Ländern bavor geſcheut haben, ihre bramatifchen Werke bem unkünſtleriſchen Urteil einnahmelüfterner Theaterleiter preis zugeben, und um ben Beifall einer verjtänbnißlofen Menge zu werben. Manche Dramen ber Neuzeit waren von vornherein gar nicht für die Bühne beftimmt; bei einigen biefer Dramen würbe die Aufführung, wenn fie trogbem verfucht werben follte, auch techniſch unmöglich fein. Die neuere engliſche Literatur ift befonbers reich an derartigen Bud» oder Lefebramen, d. h. an Dichtungen, bie zwar in bramatiicher Form abgefaßt find, aber im Gegenfag zu den Bühnendramen, nidt als Dramen, im vollen Sinne gelten fönnen, weil fie nit für bie Bühne geichrieben, ober gar, im äuferften alle, überhaupt nicht aufs führbar find.

Der größte bichteriihe Genius Englands nad) Shatefpeare, Byron, hat fi) aud auf dem Gebiete des Dramas bethätigt. Er bat in den Jahren 1817—1822 acht Dramen geichrieben, deren hronologifche Reihenfolge bie folgende ift: Manfred, Marino Faliero, Sardanapalus, The Two Foscari (Die beiden Foscari), 'The Deformed Transformed (Der umgeftaltete Mißgeſtaltete), Cain, Heaven and Earth (Himmel und Erbe) und Werner, or The Inheritance (Werner, ober bie Erbſchaft). 1821 war für Byrons Dramatik ein befonders fruchtbares Jahr; in diefem Jahr entitanden fünf von feinen acht Dramen. Von Byrons Stüden ift allein „The Deformed Transformed“ in unvollenbeter Geftalt auf uns gefommen, Wegen ihrer dramatiſchen Form wäre ferner nod die Heine Satire „The Blues“ (Die Blauen) hier zu erwähnen.

Bon Byrons Dramen ift nur ein Teil zu den Buchdramen zu rechnen; einige von ihnen find, obwohl Byron felbjt immer wieder feierlich verfichert, er ſchreibe nicht für die Bühne, fehr wohl aufführbar, fo „Marino Faliero“, „Die beiden Foscari“, „Sarbanapal” und „Werner“. Lepteres Stüd hat aud unter allen Dramen Byrons bie meiften Aufführungen erlebt. Dichteriſch wertvoller find aber bezeichnender Weife gerade Byrons Buchdramen

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„Manfreb” fowie „Simmel und Erbe”, während „Gain“, ein Stüd, das auch burdaus als Buchdrama zu gelten hat, alle andern Dramen des Dichters an Tiefe und Wucht der Gebanfen und philoſophiſchem Gehalt übertrifft. Was für bühnentechniſche Schwierigkeiten dieſe Stüde einem etwaigen Verſuch, fie aufzur führen, bieten würben, geht fchon daraus hervor, baf eine Ezene in „Danfred“ auf bem Gipfel der Jungfrau fpielt, am Schluß von „Himmel und Erde” das Hereinbreden ber Sintflut vorgeführt wird, und in „Gain“ gar zu Beginn bes zweiten Aftes ber Titel- held, von Lucifer geleitet, im unendlichen Weltenraum einherſchwebt, fo weit von ber Erbe entfernt, daß biefe nur noch als eine ganz Meine Scheibe erſcheint.

Drei von Byrons Dramen knüpfen an bie Geſchichte an: „Sarbanapal”, ferner die zwei Stüde, deren Stoff ber Gefdichte der Republik Venedig entnommen ift: „Marino Faliero“ und „Die beiden Foscari”. „Werner“ ift die Dramatifirung einer zur Zeit des breißigjährigen Krieges fpielenden Novelle und hat Deutſch- land zum Scauplag. Phantaftiihe Stoffe behandeln „Manfred“ und „Der umgeftaltete Mißgeitaltete”, dieſes Stück freilih mit lofer Anlehnung an geichichtliche Ereigniffe. Die bibliſche graue Vorzeit, die in „Cain“ und „Himmel und Erbe“ geſchildert wird, bot ber überftrömenden Phantafie bes Dichters ebenfalls einen weiten Tummelplag.

So reich aud) befonders bie Buchdramen Byrons an poetiſchen Schönheiten find, fo läßt ſich dod) im Allgemeinen fagen, baß ber Dichter in feinen Dramen nicht auf ber vollen Höhe feiner dich teriſchen Fähigkeiten fteht, auf ber wir ihn in ben beiben legten Gefängen von „Childe Harold“, einzelnen Teilen von „Don Juan“ und einigen lyriſchen Gedichten erbliden. Byron war ein durchaus fubjeftiv empfindenber Dichter. Seine fo ſcharf Hevortretende Sub- jeftivität machte ihn zum Dramatifer von vorn herein ungeeignet. Der Mangel einer eigentlich dramatiihen Beanlagung Byrons zeigt fi) aud) darin, daß ihm in feinen Stüden Monologe bejonders gut gelingen, eher als die Wechfelvede mehrerer Perfonen. Wie wundervoll ift 3. 3. ber Monolog bes Patriziers Lioni in ber 1. Szene des 4. Altes von „Marino Faliero” beim Anblick ber vor feinem Fenfter in nächtlichem Frieden ruhenden mondbeglänzten Lagunenftadt. Byron ergreift aud) gern die Gelegenheit, um triſche

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Stellen in feine dramatiſchen Dichtungen einzuftreuen, und es ift augenfällig, daß er ſich hier eher in feinem Element fühlt als im eigentlichen Drama. Poetiſche Schönheit und dramatiſche Kraft befinden ſich bei Byron meift im Widerſtreit mit einander, während bei einem echten Dramatifer dod ein harmoniſches Verhältniß zwiſchen beiden zu bejtehen pflegt. „Manfred“ und „Bimmel und Erde”, die an Wohllaut der Sprache, Erhabenheit des Stoffes und feiner Behandlung und poetiſchem Schwung unter Byrons Stüden obenan ftehen, find als Dramen verfehlt. Die Charafteriftit von Byrons Dramengeftalten ift recht einförmig. Die eigenartige Perſonlichkeit des Dichters ſelbſt fommt in den Helden feiner Stüde, ebenfo wie in benen feiner epifhen Dichtungen, immer wieber zum Vorſchein. Die Zeichnung von Charakteren, bie ſeinem eigenen Weſen unähnlih waren, erſcheint uns mitunter matt ober ver hwommen. Cine Charakterentwidelung der Perfonen tritt innerhalb des einzelnen Dramas, außer in „Sardanapal“, faum hervor.

Aud) in der Anwendung ber für das Drama üblichen äußeren Kunftmittel zeigt fi) Byron, der doch die verwidelte Spenſerſtrophe mit fo vollfommener Meiſterſchaft, fait jpielend zu Handhaben wußte, vielfach ungeſchickt. Cr felbft erflärte einmal, der Blanfvers (der fünffüßige reimloſe Jambus) fei das ſchwierigſte aller Versmaße. Er it aud) in ber That biefer Schwierigkeiten niemals gang Herr geworben. Seine Blankverje find oft recht holprig; ein befonders häufiger Mangel im Bau diefer Verje liegt darin, daß fo überaus oft die Iegte Hebung aus Formmörtern, nämlich Konjunktionen, Präpofitionen u. dgl. befteht, die fo, ftatt, wie ſich gehört, in ber Senkung zu ftehen, mit einem ganz ungebührlichen miftönenben Nachdruck geſprochen werben müſſen.

Eigentümlich iſt Byrons Stellung zu Shakeſpeare. Byron ſelbſt ſagt von dieſem ſeinem größeren Vorgänger: „J look upon him to be the worst of models, though the most extraordinary of writers“ (id) betrachte ihn als das ſchlimmſte Vorbild, wenn auch als ben außerordentlichſten Dichter), Mit einer gewillen Berechtigung läßt ſich freilich von jeder wahrhaft genialen Dichter- und überhaupt Künftlerindivibualität fagen, daß fie zum Vorbild ſchlecht geeignet ſei. Weber Shafefpeare noch Goethe nod Schiller haben eine Schule Hinterlaffen. In diefem Sinne ift aber Byrons

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Urteil über Shafefpeare nicht gemeint; er urteilt hier offenbar vom Standpuntt des franzöfiihen Pſeudoklaſſizismus aus, ber Shaleſpeare als ein regellofes Genie zu betrachten gemohnt war. Byron war fein Leben lang ein ſehr eifriger Verehrer Popes, ber als der bebeutenbite Vertreter des franzöfiicen Meuboflaffizismus in ber engliſchen Zitteratur zu gelten Hat. Dieſe Vorliebe Byrons für Pope iſt um fo auffälliger, als Byron in ber Wahl feiner poetifhen Stoffe und in deren Ausgeftaltung im Grunde Roman tifer und fomit auf dem Gebiete der Dichtung Popes Antipode war. Dei näherem Zufehen erfennen wir aber doch, daß Byrons Verhältnig zu Pope ſchon in feinen Fugenbeindrüden, und aud) in feinem Charakter begründet liegt. In der Schule zu Harrom wurden ihm bie pfeuboflaffiziftiiche Nefthetit der Franzoſen und Pope als Mufter Hingeftellt ; ſpäter beharrte der Dichter in den Anjchau ungen, bie er in der Schulzeit gewonnen hatte, teils aus Eigenfinn und Luft am Widerſpruch gegen bie herrſchende Meinung, aus Feindſchaft gegen bie Seefcjule *), befonders gegen Southey, beijen erbitterter Gegner Byron zeitlebens geblieben ift, teils auch weil Vopes Perfönlichkeit, weniger deſſen Dichtung **), ber feinigen in mancher Beziehung weſensverwandt war. Elze hat in feinem treff- Tichen Leben Vyrons mit Recht darauf Hingewiefen, baf zu Byrons Vorliebe für Pope jedenfalls aud der Umſiand beigetragen hat, dah er als Dichter biefen weitaus überragte und fid) deſſen aud) bewußt war. Aus derſelben Wurzel entiproß aud) Byrons oft hervortretende Abneigung gegen Shafeipenre: er empfand deſſen bichterifche Ueberlegenheit als eine Demütigung feiner ſelbſt, und fuchte diefe Empfindung zu verſcheuchen, indem er Shakeſpeare tadelt.

Den ihm durch Pope vermittelten franzöſiſchen Pſeudoklaſſi- zismus verehrte Vyron nicht nur rein theoretiſch; er gewährte ihm auch einen verhängnißvollen Einfluß auf manche feiner Dramen, in benen er fi) bemüht, die von der pfeuboflaffiziftihen Aeſthetik der Franzoſen verlangten brei Einheiten burdzuführen. Dies Streben zeigt ſich in ben beiden venetianifden Stüden und in

*) Unter „Seejcjule" verftcht die Eitteratutgeſchichte die Bereinigung der Digter Wordswortg, Coleridge und Southen, bie längere Zeit zufammen an der See von Weitmoreland und Cumberland Tebten.

**) In der Dichtung ift Pope und Bpron nur die Borliebe für poetifce Satire gemeinfam.

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„Sarbanapal“ ; in „Werner“, feinem legten Drama, hat Byron die Einheiten außer Acht gelaffen, und erſt recht in feinen übrigen mehr phantaftiihen Stüden. In „Marino Faliero“ und in ben „Zwei Foscari“ entitehen durch die Beobachtung der drei Einheiten große dramatiſche Mängel. In jenem Stüd giebt die Beleidigung Stenos dem Zorn bes Dogen nur ben legten Anſtoß; alle die vielen Kränfungen, die ihm ſchon lange vorher von ben Patriziern wiberfahren waren und ihn erſt allmählich in die fchließliche grimmige Erbitterung gegen ſeine Stanbesgenoffen hineingetrieben Hatten, werden ben drei Einheiten zu Liebe nur kurz angebeutet. So erſcheint Falieros maßlofe Wut gegen bie Patrigier ganz ungenügend motivirt, ein Fehler, der hätte vermieden werben fönnen, wenn ber Dichter auf die Durdführung der Einheiten verzichtet Hätte.

Im ähnlicher Weife opfert Byron auch in den „Zwei Foscari” eine eingehende pſychologiſche Motivirung feiner grillenhaften Bor liebe für die drei Einheiten. Statt ben jüngeren Foscari noch in der Verbannung, fi) in Sehnfucht nach feiner ſchoöͤnen Vaterftabt Venedig verzehrend, vorzuführen, bringt ihn Byron erſt auf bie Bühne, nahdem diefe Sehnſucht ihn zur unerlaubten Rückkehr nach ber Heimat getrieben und dieſer eigenmächtige Schritt ihm Gefängniß und Folter eingetragen hat. Daß er trogdem die Stätte feiner Leiden ber ſchönen Infel im Mittelmeer vorzieht, bie fein Vers bannungsort gewejen war, fieht mehr wie eine Verrüdtheit aus, als wie das natürliche Gefühl eines vernünftigen Menfchen.

Bei ber Beſprechung der einzelnen Stüde Byrons, zu ber id) nun übergehe, fol nicht die zeitliche Neihenfolge, die body im Grunde etwas bloß Zufälliges ift, Tondern die innere Zufammen- gehörigfeit der maßgebende Gefichtspunft bei der Anorbnung fein.

Betrachten wir zunähit bie Dramen Byrons, die auf geihigtliher Grundlage beruhen, und von biefen wuerft „Marino Faliero“. Diefes Trauerfpiel, der Abfaſ- fungszeit nach das zweite Drama bes Dichters, ſchrieb Byron zu Ravenna vom April bis zum Juli 1820. Nach Mrs. Shelley, ber Gattin bes Dichters Shelley, notirte fih Byron immer abſichtlich an, wann er ein Werk begonnen, und wann er es vollendet Hatte, um gegebenen Falls zu zeigen, wie ſchnell er arbeiten Fonnte, und weil er ben übrigens völlig ungerechten Vorwurf langfamen Arbeitens, der ihm gemacht worben war, fürdtete. Am Ende bes

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Jahres 1820 wurde bas Stück gedrudt, und zu Beginn bes Jahres 1821 fehr gegen ben Willen feines Verfafjers im Drury » Laner Theater zu London aufgeführt. Byron giebt, wie auc) fonft vielfach, feloft feine Quelle an, in dieſem Falle venetianifhe Chroniken, befonders die Lebensbejchreibungen der Dogen von Marin Sanuto. Auch dies that er aus beleidigter Empfindlichfeit: er war einmal thörichter Weife des Plagiats beſchuldigt worden, und will durch feine Quellenangabe dem Lejer Gelegenheit geben, das Verhältniß zwiſchen feinen Werfen und deren Quellen ſelbſt zu prüfen. Das Stüd behandelt die Verſchwörung des Dogen Marino Falieri (nit Faliero, wie Byron ihn nennt) gegen die Nepublit Venedig im Jahre 1355, alfo einen Stoff, ber uns aud) aus Ernſt Theodor Amadeus Hoffmanns Novelle „Doge und Dogareſſa“ bekannt ift. Byrons Drama fand fat durchweg eine ungünftige Aufnahme, unb zwar nidt mit Unrecht. Es ift mit ben fait 3500 Berfen, die es umfaßt, bas längſte aller Dramen Byrons. Diefe Länge wirft ermübend. Die barin gefdilberte Verſchwörung hat für uns tein höheres Intereſſe; denn es handelt fi) hierbei nicht um bie Befreiung ber Republik von ber Tyrannenherrſchaft der Patrizier, überhaupt nit um einen ibealen Zwed, fondern nur um bie Befriedigung rein perfönlicher Rache. Anfangs wollte Byron felbit nicht gekränkten Stolz, jondern Eiferfudt zum Hauptmotiv des Titelhelden machen, ber ala Greis ein junges, bilbihönes Mädchen geheiratet hatte. Eiferſucht wäre als bie treibende Kraft im Drama auch gewiß wirtfamer und natürlicher gewefen. Byron gab aber jenen Plan chlieglih auf, und zwar nur deshalb, weil Falieros Eiferſucht ungeſchichtlich geweſen wäre. In Byrons Bemühen, fi fireng an die Geſchichte zu halten, liegt ein völliges Verlennen der Aufgaben eines Dichters, der bei der poetiſchen Bearbeitung eines gefdjichtlichen Stoffes nicht nur berechtigt, ſondern fogar verpflichtet ift, alles poetifch Unfruchtbare auszufcheiben, aus feiner Vorlage nur das zu verwerten, was auch für die Dichtkunft einen wertvollen Vorwurf bietet. In dem unbändigen Stolz des Dogen, feinem das Innerfte feines Herzens aufwühlenden Groll über bie erlittene ſchwere Kränkung erfennen wir ein Stüd von Byrons eigenem Ich, Stimmungen, in denen ſich aud; ber Dichter ſelbſt oft befunden hat. Dieſe Motive tehren daher aud) fonjt vielfach in Byrons Merten wieder.

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Wülfers Bemerkung, Byron habe durd „Marino Faliero” und die „Zwei Foscari” Italien an feine alte Größe mahnen und es antreiben wollen, bie Fremdherrſchaft abzufdütteln, gehört zu den fehlerhaften Behauptungen, an benen feine „Geihihte ber engliſchen Litteratur” nicht ganz arm ift. Eine ſolche Tendenz täßt ſich fon deswegen nicht aus unjerem Drama herausleſen, weil, wie ſchon erwähnt wurde, bie Verihwörung des Dogen nit ber Freiheit ber Vaterſtadt gilt, fondern rein perſönlichen Interefien bient.

Auf „Die zwei Foscari” paßt Müllers Behauptung nod) viel weniger: bier fommt nit einmal eine Verſchwörung vor, fonbern es wird dargeſtellt, wie Jaropo Foscari, der Sohn des regierenden Dogen, den Ungehorfam gegen eine tyranniſche Gefeggebung aufs ſchwerſte büßen muß, als er zum zweiten Dial in bie Verbannung gehen joll, an gebrodenem Herzen ftirbt und durch feinen Tod aud) den alten Vater mit ins Grab hinabzieht. Dies Trauerfpiel, der Zeit nad) das vierte Stüd Byrons, wurde in weniger als einem Monat um die Mitte des Jahres 1821 in Ravenna verfaßt und zufammen mit „Sardanapalus“ zu Ende beifelben Jahres gedrudt. Als Quelle benupte Byron Gefchichts: werfe über die Nepublit Venedig. Auch in diefem Stüde klammert er ſich wieder allzu ſehr an die geſchichtliche Ueberlieferung. Jaropo Foscaris Schickſale werben ftreng hiſtoriſch gefdildert, fönnen uns aber gerade deswegen kaum fefjeln, ba dieſe mit ihrem Urbild in der Wirklichkeit allzu genau übereinftimmende Perfönlichteit ihrem Unglüd gegenüber ſich gar zu paffiv verhält, als Held ſich nur im Leiden, nicht in trogigem Wagemut erweiſt. Unfere Sympathien verfcherzt Jaropo auch ſchon von vornherein dadurch, daß er Verrat heuchelt, nur um fid) die Gelegenheit zur Nüdfehr aus der Ver bannung nad) Venedig zu verfhaffen. In Jaropos Gattin Marina dagegen erfennen wir wieder einen Lieblingstypus Byrons: fie zeigt ſich als ein Seitenftüd zu Marino Faliero in ihrem fait mãnnlichen Trog und ihrer leidenſchaftlichen Entrüftung, womit fie ſich immer wieder gegen das Unrecht aufbäumt, das ihrem Gemahl wiberfahren ift.

An der Tragödie „Sardanapalus“, der Zeit nad Byrons brittem Drama, arbeitete der Dichter zu Ravenna über 4/2 Monate lang zu Anfang bes Jahres 1821; gedrudt wurde

2ord Byron als Dramatiter. 31

das Stüd, wie ſchon ermäßnt, zufammen mit den „Zwei Foscari” im Dezember 1821. Byron hat feinen „Sarbanapal” in fehr ſchmeichelhaften Worten Goethe gewidmet, feinem Lehnsheren, wie er ſich ausdrüdt. Schon „Marino Faliero” follte Goethe gewidmet werden, deſſen Lob „Manfreds“ Byron fehr erfreut hatte; dieſe Widmung wurde aber nie gedrudt, und Goethe erfuhr von Byrons Abficht erft lange nad) deffen Tode, im Jahre 1831. „Sardanapal“ war zwar nicht für die Bühne beftimmt, ift aber doch bühnenwirkfam und als Drama jedenfalls die gelungenfte Schöpfung Byrons. Es fand aud) allgemeine Anerkennung. Als feine Quellen nennt Byron felbjt Diodorus Sieulus und den 9. Band von Mitfords „Greece“. Den Inhalt des Stüdes bildet die befannte Geſchichte vom legten Aſſyrerkönig, ber, nad einem in Schmelgerei und Ausfchweifungen vergeudeten Leben, einer gegen jeinen Thron gerichteten Verfhmwörung unterliegt, und ſchließlich in freiwilliger Selbjtverbrennung als ein Held zu Grunde geht. In Sarbanapal, dem liebenswürdigen, gutmütigen, garnicht ftolzen Wüftling bringt Byron einen in feinen Werfen völlig neuen Charakter zum Vor- ſchein; indem er dieſen Schwächling in ber Stunde der höchſten Bedrängniß fi zum Heldentum durchringen läßt, bietet er uns auch eine vereinzelte Probe von bramatiicher Entwidelung eines Charakters. Der Heldentod des Aiyrerfönigs hat etwas Erhebendes, Befreiendes; das Drama erhält badurd einen viel padenderen Schluß, als ihn die beiden venetianifhen Dramen aufzuweiſen haben. ud) die übrigen Geftalten des Stüdes werden mit einer für Byron ungewöhnlichen Lebhaftigkeit und Schärfe harakterifirt. Unter ihnen ragen befonders der rauhe feinem König treu ergebene Krieger Salamenes und die griechiſche SHavin Myrrha hervor, eine merkwürdige Geftalt, in deren Bruft die Liebe zu Sardanapal und das Bewußtjein mit einander ftreiten, baß fie fih als Griechin durd) die Liebe zu einem Barbaren, und nod) dazu einem Dianne, den fie nicht einmal achten fann, erniebrige. Am Schluß opfert fie ſich gemeinfam mit dem Geliebten im Feuertode. Im vor- liegenden Drama jpiegeli ſich Byrons eigenes Leben mehrfad) wieber. Bei ber Charakteriftit des ſich in ſinnlichen Genüffen vergehrenden königlichen Wüftlings mögen bem Dichter reuige Erinnerungen an fein eigenes wüſtes Leben zu Venedig nad) ber Trennung von feiner Gattin vorgefchwebt haben. Das heldenhafte

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Ende des ſich ſchließlich aufraffenden Königs, wodurch biefer feine Vergangenheit fühnt, mag aud Byron ſelbſt fhon damals, als er das vorliegende Stüd jchrieb, als Ideal für fein eigenes Leben erſchienen fein, ein Ideal, das in Byrons Heldentode im griechiichen Freiheitsfampfe für den Dichter ſchon fo bald darauf zur Wirklich: feit werben follte*). In der Griehin Myrrha erkennen wir Byrons Freundin, die Gräfin Therefe Guiccioli wieber, während Zarina, die rehtmäßige Gattin des Königs, ber Lady Byron ungefähr entſpricht. Gegenüber ben bebeutenben Worzügen bes Stüdes fallen kleine Schniger, wie 5.8. daß Niniveh vom Dichter an ben Euphrat ftatt an ben Tigris verlegt wird, daß Byron den altorientalifhen König wegen feines Doppelverhältnifies zu Zarina und Myrrha Gewiflensbifie empfinden läßt, faum ins Gewicht.

Das legte und ſchwächſte aller Dramen Byrons ift das Trauerjpiel „Werner, ober die Erbſchaft“. Es wurde um bie Jahreswende 1821/1822 in einem Monat zu Piſa abgefaßt und erihien Ende 1822. Auch dies Stüd hat Byron dem von ihm fehr bemunderten Goethe gewidmet. Seine Quelle wer „The German’s Tale (bes Deutſchen Erzählung), Kruitzner“, in ber Sammlung „Canterbury Tales“ (Canterbury = Gefhichten) der Schweftern Lee. Byron hat fi vet genau an feine Quelle gehalten, nur geringfügige Aenderungen daran vorgenommen. Daß dies Stüd von Byrons Dramen den größten Bühnenerfolg davongeiragen hat, ift ein Beweis für den ſchlechten Geſchmack bes engliſchen Theaterpublitums: es ift faum mehr als ein dramatifirter KRolportageroman. Was einen fo bedeutenden Dichter wie Byron an biefem recht minberwertigen Stoffe angezogen haben mag, ift ſchwer zu fagen. Höchſtens könnte die Geftalt Ulrics ihn intereffirt haben. Ulrie gehört bemfelben Charaftertypus an wie ber Giaour, Conrad im „Gorfaren“, Zara, Figuren, die uns aus Byrons epiſchen Dichtungen befannt find. Ulric ift ein Mann von dunkler Vergangenheit, die durch fchwere Verbrechen, über die wir aber nichts Genaueres erfahren, bejledt ward. Das Stüd ift ganz unpoetiſch und ohne jeden tieferen Ideengehalt; feine Blankverſe zeigen einen noch mangelhafteren Bau als bie der anderen Stüde Byrons.

*) Die Parallele zwiſchen Sardanapal und Byron ſelbſt verdanfe ich Wülfer, dem id) alfo in diefem Punkte nur beiftimmen fann.

Lord Byron als Dramatifer. 288

Zwifchen den hiſtoriſchen Stüden unferes Dichters und den Dramen, in benen er feiner Phantafie einen freien Spielraum gewährt, fieht in ber Mitte „Der ungeftaltete Mißr geftaltete”. Dies Stüd wurbe 1821 zu Pila begonnen und in feiner unvollendeten Form erft im Januar 1824 veröffentlicht. Als feine Quellen nennt Byron felbft teils eine Novelle „The Three Brothers“ (Die drei Brüder) von Joſhua Pirkersgill, teils Goethes „Fauft”. Das Stüd beginnt mit einer Gene, in ber bittere Erinnerungen an Vyrons eigene Kindheit hervortreten: wie Bertha ihrem budligen Sohne Arnold, dem Titelhelden von Byrons Drama, jeine Mißgeftalt vorwirft, fo hat aud Byrons eigene Mutter ihren Sohn wegen feiner Lahmheit mitunter fchroff zurüd- gemwiefen und geradezu Widerwillen gegen ihn geäußert, um im Augenblid darauf zu leidenſchaftlichen Liebkojungen ihres Kindes überzugehen. Daß Arnold in der Stunde der Verzweiflung vom Teufel am Selbfimord verhindert wird, und biefer ihn unter ver- ſchiedenen Geftalten des Altertums eine ausfuchen läßt, mit der er die eigene Mißgeftalt vertaufchen könnte, ijt als ein undeutlicher Anklang an Goethes Fauit zu erkennen. Byrons Teufel erinnert als cynifcher Spötter an Goethes Mephiſto. In ber zweiten Szene erbliden wir Arnold in der Geftalt bes Achilles und ben Teufel in Arnolds früherer Geftalt vor ben Wällen Noms: Arnold unter ftügt den Gonnetable Charles von Bourbon bei der Belagerung der Stadt im Jahre 1527. Im Strafenfampf befreit Arnold Dlimpia, eine edle Römerin, aus ben Händen roher Soldaten. Am Schluß werden auf einem Schloß in ben Appeninen Vor— bereitungen zu einer Hochzeit getroffen, offenbar Arnolds und Dlimpias. Hier bricht das Stüd ab. Wie Arnolds Verhältniß zum Teufel enden follte, ift nicht erfihtlich.

Das ältefte aller Dramen Byrons ift ber 1817 verfaßte „Manfred“, ben Byron felbft als bramatifches Gedicht bezeichnet. Der Helb dieſes merkwürdigen Dramas, beilen Inhalt ſich nicht in kurzen Worten wiebergeben läßt, iſt ein Menfchenverächter und Peſſimiſt im höchſten Grade. Er Hat allen Verkehr mit ben Mengen aufgegeben und lebt ein einfames Leben, das nur ber Grinnerung an bas Wefen geweiht ift, welches er einft geliebt hat. Wie Fauft befigt er Macht über die Geifter, die er wie biejer beichwört; während aber Fauft mit Hilfe ber Geifter die Schranfen,

23 Lord Byron als Dramatifer.

die der Menſchennatur gejegt find, in übermenſchlichem Drange zu durchbrechen ftrebt, ijt Manfred nur von dem Wunſche befeelt, von ben Geiltern die Gabe der Selbſtvergeſſenheit zu erlangen. Die Geifler find aber nicht im Stande, ihm biefen Wunſch zu erfüllen ; benn fie find unfterblih, und können nur das gewähren, mas im Bereid) ihrer eigenen Natur liegt. Sie hinterlaifen ihm nur ben Fluch, daß der Tob ihm ftets nahe fein, ihn aber nicht treffen folle. Diefer Fluch zeigt feine Kraft ſchon in der nächſten Szene: gerabe als Dianfred fid) von ber Jungfrau in den Abgrund ftürzen will, verhindert ein Gemfenjäger ihn am Selbjtmord und nimmt ihn in feiner Hütte gaſtlich auf. Später finden wir Manfreb an einem Waſſerfall in ben Alpen wieber; er verfucht durch bie Nymphe der Berge in ber Ginfamfeit ber erhabenen Alpenwelt den verlorenen Geelenfrieden wieder zu erlangen, verzichtet aber darauf, als die Nymphe ihm die Gewährung feines Wunſches nur um ben Preis der Unterwerfung unter ihren Willen in Ausfiht ftellt. In feiner heißen Sehnſucht nad) der Ruhe wunſchloſer Vergefjenheit wagt Manfred fi) jogar vor den Thron Ahrimans, des Herrſchers der Unterwelt. Auf fein Verlangen ruft Nemefis hier den Geift ber Aftarte, feiner Geliebten, herbei. Manfred bemüht fi, von biefer Vergebung für die furdtbare Schuld zu empfangen, bie er burd) ein an ihr verübtes Verbrechen auf fih geladen hat. Doc auch diesmal bittet er vergebens ; ber Geift ber abgeſchiedenen Aſtarte weiljagt ihm nur, daß am nächſten Tage feine irdifen Qualen enden würden. Am Schluß treffen wir Manfred in dem Schloffe feiner Väter. Der Abt des Klofters von St. Morit verfucht immer wieder, den Gottlojen von feiner Zauberei abzubringen und in die geöffneten Arme ber Kirche zurüdzuführen; aber Alles ift umfonft, Manfred bleibt unbeugſam. Selbft den hölliſchen Geiftern, die erigeinen, um bie ihrer Macht verfallene Seele des Sterbenden abzuholen, will Manfred ſich nicht unterwerfen. Nur den Tod erfennt er als eine über ihm ftehenbe Macht an, der fi zu ergeben er bereit ijt. Die Geijter ver- ſchwinden ohne die erhoffte Beute, und Manfred ftirbt in ben Armen des Abtes, deſſen Worte „Er iſt dahin fein Geift entfloh ber Erde Wohin? ic) denf’s mit Graun! dod) er ift fin!”

den Epilog bes Gtüdes bilden.

Lord Bgron als Dramatifer. 25

„Manfred“ ift reih an großartigen Naturfgilberungen, in denen bie mächtigen Einbrüde, die Byron beim Beſuch ber Berner Alpen empfangen hatte, einen glänzenden poetifchen Nusdrud fanden. Als Drama ift „Manfred“ aber völlig verfehlt; feine Szenen zer⸗ fließen zu bloßen Stimmungsbilbern, denen freilich Erhabenheit nicht abzuſprechen iſt. Die Anlage des ganzen Stüdes ift nur ſtiggenhaft; manches erfcheint als zu wenig ausgearbeitet. Die Flügtigfeit des bloßen Entwurfes erflärt wohl aud) den Miber- ſpruch zwifchen dem Fluch der Geifter im erften Alt, wonad Manfred fi in beftändiger Todesgefahr befinden und doch nie ſterben folle, und ber Weiſſagung von Aſtartens Geift am Schluß des zweiten Altes, die ihm für ben folgenden Tag bas Ende feiner Qualen verfündet. Aehnlich wie in Byrons Epos „Lara” begegnen auch in „Manfred“ zahlreiche geheimnißvolle Anfpielungen auf eine frühere ſchwere Schuld des Helden, hier gegenüber feiner Geliebten Aftarte. Worin dieſe Schuld beftanden hat, wird nicht erwähnt. Gewöhnlich nimmt man jet an, daß Byron mit Dans freds furchtbarer Schuld Blutſchande gemeint hat, daß alſo Manfreb und Aſtarte als Geſchwiſter gedacht find. Die engliſchen Lefer waren gewöhnt, aus Byrons Geftalten Züge feines eigenen Wefens berauszulefen. Dazu famen bie vielen unglaublihen Gerüchte, zu denen Lady Byrons plötzliche Trennung von ihrem Gatten Anlaß gegeben hatte. So kann es uns aud) nicht Wunder nehmen, daf man aud) diefe Blutſchande, auf die in Manfreb leife hingedeutet zu werden jcheint, auf Byrons eigenes Leben bezog, wie man aud) die Geftalt des Lara in Byrons gleihnamigem Epos böswilliger Weiſe mit ihm felbft identifizirt hatte. Cs war freilih aud) Byrons eigene Schuld, daß man ihm felbjt alle Schlechtigkeiten feiner dicpterifchen Geflalten zuſchrieb, da er gern mit einem geheim: nißvollen Schuldbewußtiein fofettirte, das, wie er oft anbeutet, ihn ſelbſt erfülle. Daß aber in diefem Falle Byron burd) eine völlige Hentifizirung mit dem blutſchänderiſchen Manfreb großes Unrecht geidjehen würde, braucht wohl kaum bejonbers betont zu werden. Dan hat aud) verjuht, für das Motiv der Blutſchande, das im „Danfreb” gemeint zu fein ſcheint, ein litterarifcjes Vorbild aus- findig zu maden. Gillardon hat in einer Heidelberger Differtation von 1898 in einem Jugendroman Shelleys „St. Irvyne; or, the Roseerucian“ (St. Irvin, ober der Roſenkreuzer) eine Quelle für

288 Korb Byron als Dramatiker.

obiges Motiv in „Manfred“ nachweiſen wollen. Kürzlich Hat Koppel in Band 30 ber „Englifchen Studien” ſich bemüht, in einer Erzählung Chateaubriands, die diefer mit feinem Roman „Atala” äußerlich verknüpft hat, ein Urbild für Aitarte, Manfreds Geliebte, feitzuftellen. Ueber einige ungefähre Uebereinftimmungen, die, wie auch Röppel felbft bereitwillig zugiebt, feineswegs zur Annahme eines unmittelbaren Zufammenhanges zwingen, kommt aber in beiden Fällen bie Beweisführung nicht hinaus. Es ſcheint mir feineswegs notwendig, bah für das in „Manfred“ verhüllt auf tretende Motiv der Blutſchande durchaus eine litterariſche Quelle angenommen werben muß. Byrons üppige Einbildungstraft, bie ſich mitunter auch gern auf abfonderliden Wegen erging, genügt allein ſchon, um das Vorkommen eines berartigen Zuges zu erflären. Byron felbft giebt an, daf fein „Manfred“ durch den „Brometheus” bes Aeſchylus beeinflußt worben fei; dies ift aber nur in beichränftern Sinne in Bezug auf die Charakteriftit des Titelhelden, nicht auch in Bezug auf ben Gang ber Handlung zuzugeben. Zwiſchen Goethes „Fauft“ und „Manfred“ befteht auch nur eine allgemeine Aehnlichkeit; auf einen wichtigen Unterſchied zwiſchen beiden hat icon Gottſchall aufmerffam gemadht: „Manfred ergiebt fid) dem Teufel nicht, im Gegenfag zu Fauft, fondern fteht ihm, von feiner eigenen Geiftesfraft getragen, unübermwunben gegenüber.” In feinem tropigen Unabhängigfeitsgefühl ift Manfreb alfo noch mehr Uebermenfeh als Fauft; in dem Ziel, bem er zuftrebt, kann dagegen nur Fauft, nit Manfred, als Uebermenfch gelten.

In viel Marerer, ſchärferer Zeichnung als in „Manfred“ kehrt ber Typus ber trogigen Titanen in Byrons „Cain“ wieber. Dies Stüd, ber Zeit nad) bas ſechſte unter feinen Dramen, wurde im dritten Viertel des Jahres 1821 zu Navenna gefchrieben, im Degember bes gleichen Jahres zufammen mit „Sarbanapal“ und ben „Zwei $oscari” gebrudt, und Walter Scott gewidmet. Byron nennt bas Drama ein „Mpfterium*, anfnüpfenb an bie für bie bibliſchen Dramen bes Mittelalters üblich) gewordene Bezeichnung. As ein Mofterum ift „Cain“ freilich nur zu befragten, wenn man allein bie äußere Hülle des Stüdes berüdfihtigt. Diefe hat Byron bazu benugt, um bamit tiefjinnige philofophiiche Gebanfen zu umleiden, ein Verfahren, das den alten Myſteriendichtern durchaus fremd war. Seinem Inhalt nad würde „Cain“ eher

Lord Byron als Dromfatifer. 2

bie Bezeichnung eines metaphyfiihen Dramas verdienen. Die biblische Handlung, felbft Abels Ermordung, wird zur Nebenfache ; ber Schwerpunkt bes Stüdes liegt in ben philofophifen Erörter- ungen Cains mit bem Teufel. Cain ift Fauſt nod; näher verwandt als Manfred, ein Himmelftürmer des fühnen, rüdjihtslofen Denkens, der auch vor ben äußerften Konfequenzen nicht zurück- ſchredt, bas Wiſſen bem Glüd vorzieht, und ſich weber vor Gott noch vor dem Teufel beugen will. Cains furdtlofe Kritit bes irdifchen Lebens gilt befonbers der Frage vom Urfprung des Böfen und von ber Erbſünde. Die höchſten Fragen ber Menſchheit werben in biefem Stücke aufgeworfen, in einer Sprache, bie ber Erhabenheit des Gegenſtandes angepaßt ift und nichts von trockener Lehrhaftigfeit an ſich Hat. Der Fortſchritt ber dramatiſchen Hand⸗ tung fommt allerbings bei dem vielen Philoſophiren zu kurz. Daß Byron ſich Cains zum Sprachrohr für feinen eigenen Sfeptis zismus bedient, ift unverfennbar. Dies haben feine Landsleute auch herausgefühlt; Byron wurde wegen dieſes Gtüdes von allen Seiten aufs ſchärfſte angegriffen, ja es erfchien fogar eine beſondere Gegenfhrift gegen bie angebliche Gottlofigteit feines Werkes. Aus Abneigung gegen ben Dichter ging man aber wieder in ber Identifizirung Cains mit Byron felbft viel zu weit. Die Blas— phemien, bie allerdings in Gains und Lucifers Worten enthalten find, pafjen doch durchaus zu beren Wejen. Byron verteidigte ſich auch felbft gegen die Vorwürfe, bie ihm biefes Stüdes wegen gemacht wurden, burd ben Hinweis darauf, Lucifer fönne doch nicht wie ein Geiftlicher bei bergleichen Gelegenheiten ſprechen, auch bei Milton, dem frommen Dichter, fämen plasphemifche Neben von ähnlicher Art vor, er ſei in feinem religiöfen Zart- gefühl fogar noch weiter gegangen als Milton, da er, im Gegenſatz zu biefem, Gott in eigener Perfon nirgends auftreten laſſe. Byron hat Gain feineswegs als einen ſchlechten Charakter Hingeftellt : Cain liebt feine Gattin und Schwefter Adah aufs zärtlicfte, und die Szene, worin er fein ſchlummerndes Söhnchen Enoch herzt, zeigt, daß er auch zarter Gemütsregungen fähig ift. Seinen Bruder Abel töbtet er nur in einer plötzlichen Zornesaufmwallung, die allerdings ſchon durch Lucifers anſtachelnde Reden und Cains dauernd büftere Gemütsftimmung vorbereitet worden war. Nach ber That empfindet er ſchreckliche Gewiſſensbiſſe. Byron gefteht

288 Lord Byron als Dramatifer,

im Vorwort zu „Cain“, er Habe feit feinem zwanzigſten Jahre Milton nicht mehr gelefen, aber freilid vorher ſehr oft. Eine größtenteils unbewußte Beeinfluffung obigen Dramas durch Miltons „Verlorenes Paradies” dürfen wir aljo wohl annehmen.

Ein bibliſcher Stoff liegt aud) dem gleichfalls als „Myiterium” bezeichneten Drama „Himmel und Erde“ zu Grunde. Das Stüd, der Zeit nad) das fiebente, entftand im Dftober 1821 zu Navenna, und wurde 1822 gebrudt. Sein Grundthema ift die in ber Genefis erwähnte Liebe der Eöhne Gottes zu den Töchtern ber Denen, aljo ein Stoff, den aud Thomas Moore etwas fpäter, 1823, in feinem Igriihen Epos „Loves of the Angels“ (Liebe ber Engel) behandelt hat. Das vorliegende Stüd ift mur der erfte Teil des ganzen Dramas, der jedoch als ein in ſich abgefchlofjenes Ganzes eriheint; den geplanten zweiten Teil hat Byron aber nie geſchrieben. Das Stüc ift fat rein lyriſch gehalten und von einer büfteren Stimmung übergofien, die auf das am Schluß hereinbrechende Unheil vorbereitet. Nur ein wahrhaft großer Dichter, ein Geift erjten Ranges, durfte es wagen, einen Stoff von höchſter Erhabenheit, der den Untergang einer ganzen Welt zum Gegenftand hat, zu behandeln. Ein mittelmäßiger Dichter wäre beim Verſuch, dieje Aufgabe zu Löfen, nur zu leicht in Lãcherlichkeit verfallen. Byron aber hat in wenigen einfachen Zügen eine Reihe großartiger poetiiher Bilder entworfen. Von den Gharafteren des Stüdes feſſein uns befonders die beiden ſchönen Töchter aus Gains Geflecht, Anah und Aholibamah, an denen bie Söhne Gottes Wohlgefallen gefunden Haben. Cie bilden einen wirkungsvollen Gegenſatz zu einander: Anah ift weich, unter: würfig, edit weiblich, Aholibamah eine Art weiblicher Cain, ftolz, heigblütig, herriſch, alfo eine der Marina in den „Zwei Foscari” verwandte Geftalt.

Anhangsweile erwähne ich am Schluß noch flüchtig den Heinen dramatiſchen Scherz Byrons „Die Blauen“, der 1820 entfland und in Leigh Hunts Zeitfhrift „The Liberal“ (Der Liberale) veröffentlicht wurde. „Die Blauen“ find eine ziemlid) gutmütige Satire gegen verichiedene Krititer und Schriftfteller. Natürlich bleibt die Seeſchule bei diefer Gelegenheit nicht ungerupft: Worbsworth wird als „Wordswords“ (Worte Worte) und Southey als „Mouthey” (Dann mit dem Munde) veripottet. Das Ganze

Lord Byron als Dramatiker. 289

ift in dem übermütig leichten Ton gehalten, den wir auch in Byrons Epen „Beppo“ unb „Don Juan“ wieberfinden. Dem Inhalte nach erfcheinen die „Blauen” als eine Art Forfepung von Byrons poetiicher Satire „English Bards and Scotch Reviewers“ Engliſche Barden und ſchottiſche Kritiker).

Die ſchönſten dramatiſchen Schöpfungen Byrons find freilich bloße Buchdramen. Wer aber wollte ihre großen poetiſchen Schön— heiten, deren eigentümlicher Zauber gerade damit zufammenhängt, daß fie ohne jede Rückſicht auf die Bühne geſchrieben worden find, mit Szenen vertauſchen, die den Anforderungen ber Bühnentechnik beffer genügen.

der Kaufmann in der ergählenden Roche.

Ein Portrag von weiland Dr. phil. Eduard Schneider (Dorpat).

Wie fommt's, mein Freund, da Riemand mit bem 2008, Das ihm, ſeis num des Scyidjals Schluß, entgegenmwarf, Sers daß er felber ſichs erfor nad) eigner Wahl, Zufrieden führt das Leben, dab er glüdlid) preift

Den, der auf andern Bahnen ſucht das Glüd?!

So lauten die Anfangsworte des erften Gedichts, mit welchem gegen den Anfang unſrer Zeitrechnung ein junger, aber bereits in den glänzendſten Kreifen bes weltbeherrichenden Roms gefeierter Dichter vor das große Publifum trat. Unzufriedenheit mit bem eignen Zoofe! Nranffeit und Qual des Menfhen, diuch, der ihn niebermwärts zieht, fobald er von bem Boden ber urjprüngliden Natürlichkeit ſich erhebt, feinen Zlug nimmt in die Bahnen, in die ihn des Geiftes Mefenheit fortreißt! Oder follen wir vielleicht die Untuft, welde den Sterblichen fein Genüge finden läßt an dem Gemwonnenen und Beftehenden, für ein zur eigenften Natur feines Geiftes gehöriges Merkmal, für einen fördernden Sporn eradten, ber ben Einzelnen antreibt zur allfeitigen Ausbeutung feiner Kräfte, für feine wertvolle Diitgift, die dem Menſchengeſchlechte eine Bürg- ſchaft ift, daß es tro aller Hemmniſſe fiegreid vordringen muß und wird zu feinem Ziele, der wahrhaftigen unb vollendeten Freiheit? Das Tann nicht beftehen vor bem befonnen ſcheidenden

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20 Der aaufmann in ber eryäßfenben Poefle

Urteil. Der eble Trieb des Menſchen, der ihn nicht ruhen läßt auf dem erreichten Standpunkt, ber ihn vorwärts brängt zu immer volltommnerer Leiftung, der ihn hinunter fteigen heißt von ber Oberfläche, um in ber Tiefe nachzufpüren ben Gründen der Dinge, deren Gejammtheit in ihrer taufendfachen Verfettung und Ver— fchlingung feine Welt ausmacht, bie er beherrſchen will; dieſes bie höchſte Luft, die reinfte Freude des Daſeins bereitende Suden und Finden ift in Grund und Weſen und Wirkung verjdieden von jener ftets als geiftige Krankheit empfundenen, unfre beften Kräfte lähmenden, die Freude am eignen Dafein verfümmernden, bie freudige Gemeinihaft bes Lebens und Strebens mit unferm Nãchſten fiörenden, aus Schwacherzigfeit und Selbitfucht hervor⸗ feimenden Unzufriedenheit mit ber eignen Lage, mit dem Lebens: berufe, in ben uns Gottes unendliche Weisheit und Güte gewieſen zum eignen Seile, zu Nug und Frommen bes Nächſten. Und doch kranken wir Ale! Die meiften Sterblichen werden wohl ein: flimmen in bes Dichters Wort : Das Beff'se erlenn ich und ſchatz ich, jage dem Schlect'ren doch nad.

Iſt es doch eben mit ber Zufriedenheit, die das Dafein zur Wonne madt, wie mit allen Hohen geiftigen Gütern bes Lebens. Nur wenigen Hochbegnabigten fallen fie zu, unmittelbar aus ber Götter Schoße; fie wollen eigenfräftig erworben fein in fauren Kämpfen. Erliegen würden wir, gewahrten mir nicht, wie bei redlichem Streben allmählih die Hinderniſſe fih mindern, das Gefürdtete feine Schreden verliert, leicht wird, was uns ſchwer dãuchte, wie die Ausfichten freier werben, das Gelingen die Kraft färkt, die Luft wedt zu raftlofem Streben. Und fo gelingt es denn auch fierlih dem aufrichtig und redlich Bemühten feine Stellung in ber Welt, feine Aufgabe für Zeit und Ewigkeit zu begreifen, richtig zu meſſen bie eigne Kraft, nad) ihrer Mürde zu fhägen Denfhen und Dinge, mit Harer Erfenntniß ſich dienftbar zu machen das Fördernde, und aus feinen Kreifen zu ftoßen, mas fein wahres Wohl Hindert. Mag er dann aud einmal im Zorn aufwallen, wenn Unverftand oder Bosheit fein Streben lähmen, er ift doch feiner gewiß, er hat ſich doch feine eigne Melt erobert, die ihm nicht eriheint „in Wahrheit {hal und unerquicklich“, weil er in ihr waltet mit „freiem Thun, dem einzig Schägenswerten, das hervordringt aus dem eignen Vuſen“, Feines Lohnes begehrt,

Der Kaufmann in der ergähfenben Poefie. a1

meil er ben Lohn in ſich felber trägt, das Bewußtſein ber erfüllten P licht, die Grundlage ber Rufe und bes Jriebens der Seele. Ein ſchönes Bild, das eines Menſchen, es fei Mann oder Weib, der Hohen ober Niebrigen einer, dem ber Kampf mit fi ſelbſt, mit der Welt, bie Frucht getragen, daß er ſich felber hat, daß er ſich zu beicheiben weiß. Von dem alſo Gefegneten frömt Segen in die Nähe und Ferne.

Aber Täufchungen fonder Zahl umflattern ber Sterbligen Sinn.

So mwähnen wir auch wohl ſchon Frieden zu haben, wenn des Herzens leidenſchaftliche Wünſche ſchweigen, wir unangefohten von des Lebens Not und Feindichaft ruhig des Dafeins genichen. Aber doch ſchafft ein ſolches verftänbiges, im vollen Sinne beſchei⸗ benes Xeben noch Feine wahre Befriedigung. Friede und Freund: ſchaft halten mit Jedermann, fein Haus nad) Maßgabe bes Erworbenen freundlich ausihmüden, das Leben, von welchem ber Dichter fagt:

Tages Arbeit, Abends Gäfte, Saure Wochen, frohe Fefte, wen ſchiene das nicht begehrenswert Es befriedigt aud), fo lange wir gehoben und getragen bahin gleiten auf dem fanft rinnenden Sirome des Lebens, jo lange ber Wellen leichtes Gekräufel uns nichts ift, als eine anmutige Wandlung bes einförmigen Bildes ber Fläde. Wenn aber des Schidjals Stürme Heranbraufen, aufwühlen ben tiefften uns felbft verborgenen Grund ber eignen Seele, wenn das Leben um uns wogt und brandet, ein Damm nad) dem andern reißt, hinter dem wir unfer ftilles, friedliches GtüE geborgen glaubten, ba werden wir mit Schreden inne, da wir unfer Leben auf trüglichem Grunde erbaut, daß wir es mit gebrechlichen Stügen gefigert, ungenügend ummallt und umfriedigt. Möchte fo rauhe Nötigung, bie Haltbarkeit der Fundamente unfres Dafeins und Glücks zu prüfen, nie an uns herantreten, möchte aber auch die gewonnene Erfenntniß fi dadurch an uns fruchtbar erweilen, daß wir in dem ruhigen Gange des Lebens, deffen wir jegt uns jegt erfreuen, alle dem Raum Laffen, feine gebührende Macht gönnen, was uns bazu Hilft, uns aufrecht zu halten in Drangfalen, uns zu löſen aus der Botmäßigkeit des Zufalls, Wert und Bedeutung zu feihen dem Kleinen und Geringen, umzuftürgen die Hohfen Cögen, nad) benen die Toren gan, auf ben Thron

2 Der Kaufmann im ber erzaͤhlenden Poefie.

zu fepen, wem er gebühret, das Bleibende und Unvergängliche, was Verheißung hat aud für die Zufunft, aud) hinaus über bie Schranken des irdiſchen Dafeins.

Fürchten Sie nicht, daß ich den verfehlten Verſuch machen will, Sie mit volltönenden Worten mit mir, dem Luftichiffer gleich, Hinaufgureißen in ätherifche Regionen, von denen aus bie Erde als ein unintereffantes mathematiihes Pünktchen ericheint. Wir wollen die Mutter Erde, das wirkliche, feibhaftige Leben nicht aus ben Augen verlieren, aber in einer anderen Beleuchtung, beren Strahlen von oben hereinfalen, möchte ih Ihnen ein befanntes Stüd Leben zeigen, mit bem Wunfche, daß Ihnen das Belannte, wenn auch nur auf furze Weile, in einem ſchönen, wohlthuenden Lichte erſcheine.

Wie bie Dichter, und zwar bie erzählenden, die Perfon des Kaufmanns in ihren Schöpfungen verwertet und behandelt, ift das Thema ber fih bier anfchliefenden Abhandlung. Cs liegt nicht in meiner Abſicht, das poetifche des Kaufmannsberufes überhaupt darzulegen, obgleich ich mic) der Anſicht, daß bas Leben des Kauf manns ganz und gar Profa, bie nüchternfte, Herbfte Profa bes Zebens fei, nur bedingungsweile anſchließe. Das kaufmänniſche Leben, wie es fi von Tag zu Tag abipinnt, das Geſchäft, deſſen klingende und glänzende Erfolge fo manden bfenden, ift wirklich und wahrhaftig proſaiſch. Es genügt aber nicht, dieſe Behauptung fo kurzweg aufzuftellen. Die Notwendigfeit tritt an uns heran, bas Wort „proſaiſch“ auszubeuten, näher zu beftimmen. Vielleicht kommen wir babei auf eine Hauptquelle der Unzufriedenheit, von ber ich ausgegangen, weil fie, foweit meine Erfahrung reicht, blei- ſchwer gerade auf ben Häuſern ber größeren Kaufleute laflet. Wer nur immer feinen Lebensberuf als proſaiſch bezeichnet, der will fiherlidh damit ausdrüden, daß fein Veruf ihn nicht vollftändig befriebigt, in ihm eine Leere zurückläßt. Welde Erfüllung fehlt denn nun ber Wirkſamkeit des Kaufmanns? Wollte ich fagen:: bes Kaufmanns Leben und Streben gehe auf in der Sorge um untergeorbnete Heinfiche Dinge, fo würde ic dadurch einen Sturm ber Entrüftung entfeijeln, hat doch jeder Vertreter bes Raufmannsftandes das Bewußtſein von ber Wichtigkeit und hohen Bedeutung feines Berufes: den Erzeugnijfen dee Natur, ben Produkten der menſchlichen Tätigkeit daburch Wert zu verleigen,

Der Kaufmann in ber erzähfenben Roefie. 293

daß er biefelben an ben rechten Ort bringe. Weiß er aber nun wirklich um diefe Bedeutung, denkt er daran, welchen Segen feine Thätigfeit der Welt bringt, dann ift er auch über ben niedrigen Standpunft ber Auffaſſung menſchlicher Dinge hinaus, dem nur das Sicht- und Greifbare als wahr und gewiß, nur das Fühl- und Genießbare als begehrenswert erfeint; aus ben engen Schranken eines jelbftlüchtigen Egoismus ift er hinausgetreten in eine Welt, wo die idealen Forderungen ber Sittlichkeit gebieteriſch gelten, wo er das Gute nicht bloß mehr paſſiv dulden, fondern es aus Prinzip in energifcher Thätigkeit auch innerhalb ber Grenzen feines Berufes wollen muß; dann hat der Stand feine Würde, feine Ehre gefunden, eine reiche Quelle der Zufriedenheit hat ſich erſchloſſen.

Aber fie verſiegt, wendet man ein, in ber reizloſen Einöbe des alltäglichen Gefchäftglebens.

Reizlos? fomit unintereffant? Wäre das etwa die übel berufene Proſa des faufmännifchen Lebens? Ich denke, man fönnte fh eher darüber beſchweren, daß ber Beruf des Kaufmanns zu viel beffen bietet, was reist und intereffiet. Den alltäglichen Verlauf des Geſchãftslebens durchbrechen täglich im bunteften Wechſel von dem Gewöhnlichen abweichende Fälle, deren Beurteilung ben Geiſt in fteter Negiamfeit erhält, die ftilen Komptoirftuben, die von Verkehrsgewũhl furrenden Waarenlager nicht werben läßt zu unz intereffanten Werfftätten eines handwerlsmãßigen Medanismus. —- Führt alfo den denfenden Kaufmann ſchon der natürliche Stolz dazu, die Bedeutung feines Thuns für die Weltordnung, für ben Staat zu ermeifen; hat bie Erfenntniß von der Bedeutung des Berufs die Anerkennung einer Reihe von fittlihen Ideen zur unmittelbaren Folge; fieht er von feinem Komptoirpult aus ein weites Bildungsgebiet fid) eröffnet; hält die intereffante Mannig- faltigfeit des Geſchäftslebens feinen Geift rege und mad, ihn ſelbſt in fteter Verbindung mit dem ganzen frifchen, vollen Leben: fo hat er wahrlich fein Recht, über feinen Beruf als einen ber Ideen baaren, ben Geift leer laſſenden, unintereffanten Klage zu erheben. Der Dangel, die Leere, welde man anführt, wenn man ben Beruf bes Kaufmanns profaiih nennt, ift überhaupt notwendig und haratteriftiich für jede reale Geftaltung des Lebens. Proſaiſch ift der Beruf des Stantsmannes wie ber bes Feldherrn,

2 Der Kaufmann in der ergähfenben Porfie.

des Rechtsgelehrten wie ber des Geiftlihen und bes Lehrers. Jeder Beruf ift gebunden an eiferne, umabänderliche, aus ber Natur bes Verufs ſich ergebende, vom Verftande biftirte, durd) bie Pragis bewährte Gefege, welche neben fich fein anderes Geſetz dulden, wenn nicht das zunächſt liegende Intereije geihädigt und mit dem einen zugleich die Orbnung ber Melt gefährbet werben fol. Auch das von einem Kaufmann an ausgezeichneter Stelle geiprochene, mehr durch fede Kürze frappirenbe, als durch Tiefe bebeutende Wort: „in Geldfachen Hört die Gemütlichkeit auf“, läßt ſich auf jede berufsmäßige Thätigfeit übertragen. Keine nimmt ihre Regeln von dem Gemüte, vom Herzen. Aber aud) feine, richtig geübt, ftört ben vollen, freien Pulsſchlag des Herzens, ertöbtet die Negungen, bie wir gemütlich nennen. Denn fein Menſchentind gebt ganz auf in feinem Berufe, ſchon das Sireben danach ſchafft widerwärtige Zerrbilder, im beiten Falle lächerliche Pedanten. Aber aud wenn wir dem Herzen fein volles Recht wahren, darum bfeibt unfer ganzes Leben immer nod) profaifd. Rechtthun und Wohlthun im vollften Sinne bes Wortes füllen no) nicht die Seere, bie wir fühlen; wenn wir uns aud) nur als Bürger diefer Welt betrachten, immer fehlt unferm irdiſchen Daſein eine Erfüllung, nad) ber mir ben feine wahre Menſchen- bejtimmung nicht ahnenden Praftifer bald mit rührender, bald mit komiſcher Naivität trachten fehen, ohne die auch dem unter Ideen fi beugenden und von been gehobnen Manne das Leben falt und farblos erfdeint, nad) der wir ung fehnen, wenn wir aud) in die Mitte bes reizendſten, zerſtreuendſten Lebens gejtellt find. Wenn wir unfer Leben, unfern Beruf als proſaiſch anklagen, fo wollen wir damit fagen, nicht daß es ihm an Bedeutung und Interefje fehle, ſondern daß bie Idee des Schönen in ihm feinen Ausdruck findet, daß er uns durch feine Eigentümlichfeit hindere, das Leben ſchön zu bilden oder bafjelbe in ſchöner Form und Geſtaltung in die Erſcheinung treten zu laffen. Jedes Menſchen⸗ find hat einen Zug nad) dem Schönen; nur daß nad dem Grabe der Bildung dies Verlangen bald trüber, bald fauterer, mit mehr oder weniger Bewußtfein fi regen wird. Es kann aud nicht anders fein. Wir Alle tragen von dem Augenblid an, wo wir uns der Welt gegenüber benfenb verhalten, mit uns herum bas Gefühl von der Unvollkommenheit alles Irdiſchen, Endlichen.

Der Kaufınann in der erjäplenden Poeſie. 295

Selten find die Silberblide des Lebens, in denen mir, ber Mangelhaftigleit und Vergänglichfeit vergeſſend, gleichſam über uns felbjt durd bes Zufalls Gunſt erhoben, in ber beiten Welt zu mweilen wähnen.

Endlos, wie eine reizloje Wüſte, dehnt fi) gemeinhin vor uns bas Leben, und wir möchten es doch fo gerne in einem Blicke zu einem begrenzten, überfhauliden Bilde zufammen- faſſen. Gleich einem dunklen Wirrfal erſcheint uns bas Leben mit feinen taufend ſich kreuzenden und widerſprechenden Intereffen. Und wenn wir auch durch bes Geiftes Kraft in dem ſcheinbar engen Kreife, in den der Einzelne gejtellt ift, Orbnung und Regel geihafft, wenn wir aud die Idee gefunden, bie leitend das Getriebe beherricht und bewegt, fo entichlüpft uns doch taufendmal wieber der Teitende Faden, und bie bunte, wirre Mannigfaltigfeit des Lebens will fih uns nimmer zum einheitliden Bilde geitalten. Und träten wir aud) hinein in bie in nimmer endender Fehde ftehenden Gegenfäge des Lebens mit dem feiteften Mute, und beteiligten wir uns mit ber ftärfjten Kraft des fittlichen Willens am Kampfe bes Lebens, um, foviel an uns, dem Guten den Sieg zu gewinnen, gar bald finfen unfre Arme ermattet von dem nie endenden Rampfe, müde erfennen wir, daß aud der Mille nicht vermag, das Leben zum Verſöhnung atmenden, friedlichen Bilde zu formen. Und erhöben wir uns enblid) mit des Geiftes Niefenfraft ausgerüftet als Philoſophen zu ber Höhe, wo im reinen Licht des Gedankens alle Gegenfäge ver- ſchwunden, Idee und Wirklichkeit unauflöslich vermählt find, ad, wir würben inne werden, daß alle Höhen alt find; ber Philoſoph gewinnt ein reines Bild, aber die Fülle und driſche und Wärme des Lebens hat es verloren. Und troß alledem fuchen mir mit ungeftillter Sehnſucht in unfern guten Stunden immer und immer bie Schönheit in diefem unvollfommnen Leben, bes unerſchütterten Glaubens, daß hier fie zu finden. Denn wir fühlen, wir wiſſen, daß wir ausgerüftet find mit einer wunderbaren Kraft des Geiſtes, was an ſich enblos iſt, Welt und Leben, in überſchauliche Grenzen zu bannen, die verworrene Diannigfaltigkeit deſſen, was eriflirt und geſchieht, nicht bloß als der Zwedmäßigfeit dienend, vereinzelt als Urſache und Wirkung zu begreifen, fondern fie aud in einheitliche, im Einzelnen das Ganze reffeftirende, wohlgefüllige Bilder

296 Der Kaufmann in ber ergähfenben Poeſie.

zuſammenzufaſſen, das Gute, mo wir es aud) im Leben gemwahren, frei von ber allem Irdiſchen anhaftenden Mangelhaftigfeit, los— gelöft von irdiſcher Echlade, im reinen Glanze zu ſchauen, bas Böſe, foweit es des Guten Folie ift, als Verkehrtheit und Thor heit, die die Welt nicht vernichten wird, zu belädeln. Die Phanz tafie ift es, die wunderthätige, die ben Schein der Schönheit, wenn aud) nur für kurze Stunden, über die Welt gleiten läßt, die Kunſt ift es, melde bie in ber Welt wahr und wirklich eriftirende Schönheit frei macht und in individuellen, wahren, lebensfriſchen Bildern ben ſchönen Schein eines vollfommnen Lebens in uns erzeugt. Nicht bloß im Einzelnen intereffant ift das Leben, wo man’s auch padt, fondern auch reih an Schönheit für den Geweihten, ber fie mit reinem Auge befchaut, der volle Born, aus bem bes Rünftlers Genius Nahrung und Kraft zieht zu ewigen Werten, bie uns im vergängliden Stoff barftellen das Unver— gänglide, die uns in dies unvollfommene Dafein eine volltommene Welt Hineinftellen, regiert und beftimmt von eignen Gefegen. Freilih im natürlihen Leben wirken dieſe Geſetze niemals zuſammen, und e8 wäre ein mahnmigiges, verberblidies Streben, fie in das wirkliche, tägliche Leben einführen zu wollen; aber fie freudig anerkennen, da wo fie gelten, in ihrem Bereiche, bas vermag uns aud mit unfrer ſinnlichen, unvolltommnen Welt zu verföhnen.

Ich hoffe, mein flüchtiger Umriß ift ſcharf und beftimmt genug, um daraus zu erfennen, baß alles wirkliche Leben proſaiſch fein muß, alſo aud) der Beruf bes Kaufmanns. In die Welt ber Dichtung müſſen wir uns flüchten, wenn wir fein Schönes in individueller, lebendiger Geftaltung anzufhauen bie Sehnfucht empfinden.

Ob wir finden werden, was wir ſuchen? Die Orientirung ſchon in dem Geleifteten, ber Ueberblid über die des Kaufmanns Thun und Treiben barftellenden Dichtungen eröffnet uns intereffante Gefihtspunfte. Gering an Zahl ift das Gebotene; denn fpröbe ift der Stoff für den Dichter feiner Natur nad. Der Krieger, der fein Leben einfegt für feinen und des Vaterlandes Ruhm, der Staatsmann, deſſen Stirn Sorgen furden, weil das Wohl und Wehe von Millionen abhängt vom Zug feiner Feder, der Rünftler, welcher ber Menfchheit Leid und Weh in feiner Bruft durchkämpft,

Der Kaufmann in ber ergähfenben Poeſie. a

um ihr in feinen Schöpfungen den verlornen Frieden wieberzugeben: fie alle find Vertreter großer, erhabner Ibeen. Des Kaufmanns Polarjtern ift ber eigne Vorteil, und wenn an fein Schiff das Gute fi anfnüpft, fo iſt es darnach nicht, daß er fteuert. Und die Art feines Thuns? Rechnen und markten, Rolli figniren, Ladungen klariren, endoffiren und akkordiren, baran fann fi die Vhantafie des Dichters nicht entzünden. Der zwiſchen feinen Saaten wanbelnde Landmann, ber mit bem tobenden Meere ringende Schiffer, der von ben Großen feines Reichs umringte Fürft find ſtrahlendere, anſchaulichere Bilder.

Fragen wir uns aber nad dem poetiſchen Wert und ber Vollendung ber einfhlagenden Dichtungen, das bleibend Schöne Hat bie Vorzeit geichaffen. Das bunte Hanbeftreiben der Gegen- wart, in welcher der Kaufmann fein Bud) führt nad) doppelt itafienifcher Weiſe, in welcher die Banquiers zugleich den Produkten⸗ marft tyranniliren, mit des gebuldigen Schafes Wolle uns wärmen, des Höferweibes Morgenkaffee verfüßen, dies ganze, ſcheinbar wenigjtens vom Zufall beherrichte trübe Drängen und Treiben muß erjt wieber ſich klären, einfach erfcheinen, ehe es ber Dichtung lichten und würdigen Stoff giebt. Doch bas Lebende hat Recht, und ungebulbig ift das Verlangen, aud) bie Gegenmart als ſchön zu genießen. So lodt denn bie Bedeutung, ber Reiz des Handelslebens den Dichter auch an den unfertigen Stoff. In ber die große Menge anſprechenden, aber am menigiten burdgeijteten Form, dem Roman, legt er ihn nieder.

In den legten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, in denen die von ber Philofophie mit Tonzentrirter Geiftestraft neu aufges nommene Nrbeit, ber Idee und der Wirklichteit, jeber ihr gebüh- rendes Recht zuzuweiſen in der Wifjenfchaft, im Leben und in der Dichtkunft ihre Frucht bald zu tragen begann, bichtete als gereifter, auf ber Höhe des Dichterruhms ſtehender Dann, der Frankfurter Bürgerfohn Goethe feinen für die Geiftesftrömung ber Zeit harakteriftiihen Noman Wilhelm Meifter. Er, ber als Rnabe am liebjten an ben vom Handelsgewühl belebten Ufern bes Main finnend gewandelt, dem als Jüngling eine intime Verbin- dung mit einem glängenden Raufmannshaufe nad) furgem, hohem Glüc tiefes und langes Leid brachte, verfünbet zwar in den ein» leitenden Kapiteln feines Wilhelm Meifter beredter und klarer als

208 Der Kaufmann in ber erzählenden Poefie.

der Späteren Einer die Bedeutung bes Interefanten des kaufmän— niſchen Lebens, aber fein nad) Verwirklichung bes Schönen im Leben ſuchender und jtrebender junger Kaufmann Wilhelm Meiſter kehrt unbefriedigt feinem Stande den Rüden, und felbft als ihn des Lebens Erfahrung von ber Vergeblicjfeit feiner Irrfahrt über: zeugt hat, wendet er fid) demfelben nicht wieder zu, ſondern zieht es vor, ala Wundarzt ber Dienfchheit zu nügen. Nehmen wir nun nod) Hinzu, daß Goethe in feiner fpäteren Dichtung Hermann und Dorothea in feine anmutige Vürgermelt ben einzigen Schatten aus einem Raufmannshaufe her fallen laͤt, daß er die in diefem Haufe herrſchende niedrige Gefinnung und Herzlofigfeit gerade dadurch grell markirt, daß er fie bei einer ben Sonntag Nachmittag verichönenden mufifaliichen Lorftellung hervorbredien läßt, fo werben wir zu der Annahme beredjtigt, daß ber Tichter Goethe das Raufmannshaus für feine Heimat, ja nit einmal für eine fichere Herberge des Schönen hielt. Der Mißverſtand fönnte meinen, es liege darin aud) von Goethes Seite eine Ab- leugnung bes bem Boden des Handelslebens eignen Guten. Auf fallend wenigfiens ift es, daß gerade vier Jahre jpäter, als Goethe der mitten im Drange ber revolutionären Zeit angſtvoll ſchwebenden deutfchen Welt fein Ruhe und Frieden haudjendes, aber Keime eines neuen, friichen Lebens in fich fchließendes Joy Herrmann und Dorothea zum Troft hingeftellt hatte, ber alternde, einer abgelebten Bildungsepoche angehörende 3. J. Engel mit feinem Raufmannsroman Lorenz Stark ber beutfchen Litteratur fein Abſchiedsgeſchenk machte. Für uns ift es immerhin bemerkenswert, daß gerade an ber Schwelle bes Jahrhunderts eine Dichtung aufs taucht, die uns in das Leben eines beutihen Kaufmann shaufes bineinführt, fih getraut, unfer Intereffe zu fpannen, ohne bie bürgerliche Sphäre von Juden, Schaufpielern, Baronen durch— kreuzen zu lafjen.

Aber die nüchterne, ftets den nächſten Zwed im Auge behaltende Verftändigfeit, die uns im Leben das Raufmannshaus als eine Stätte fihern Glüds erideinen läßt, bie Treue und Neblihleit, die fih aus dem Geſchäftsleben in ein Wohlwollen und Edelmut atmendes, reines Familienleben hineinziehen, reihen an und für ſich mod) nicht aus zur Kompoſition eines Kunſtwerks. Engels Lorenz Stark ift ein treues Ronterfei eines bürgerlichen,

Der Kaufmann in der erzähfenden Poefie. 209

ober, weil es von feinen Ideen gehoben und durchwärmt wirb, richtiger gefagt, fpiehbürgerfichen Jamilienlebens. Wie Schiller fagt, „es herrſcht darin die Leichtigkeit des Xeeren, nicht des Schönen.“

Daß die die erjten Jahrzehnte dieſes Jahrhunderts beherr- ſchende romantiſche Dichtung mit ihrer ber mittelalterlihen Ver— gangenheit zugefehrten, in myſtiſchem Helldunkel ſchwärmenden Liebe nicht geneigt war, ihre Stoffe aus der nüchternen Realität des Hanbelslebens zu nehmen, daß bie Phantafie ber unter fremder Herrſchaft gefnechteten, dann von dem Neubau des politiſchen und Sozialen Lebens in Anfprud genommenen Deutſchen ſich lieber in höhere Regionen flüchtete, läßt fi erwarten. Aber ſtill und unvermerft iſt indefjen im Schutze eines langen Friedens, bem Drange ber Notwenbigfeit folgend, der Handel ſammt ber Induftrie allmãhlich eine Weltmacht geworben, bie ſich in beredhtigtem Anſpruch neben andere, das Leben regelnde Mächte hinſieilt und im fiegreihen Kampfe um Geltung oft bämonifd in andre Lebenss gebiete hineinbricht. Damit muß aud die Stellung des einzelnen Kaufmanns in ber Gegenwart eine ſelbſtbewußtere, ftolzere werben. Der ſonſt fo friebfame, bemütige Hanbelsbürger tritt in den Kampf der Anerkennung mit benen, die ihn ehebem hödftens in ihren Vorzimmern herablajjend empfingen. Es fann uns nit wundern, daß die Romandichtung fid) des die Gemüter lebhaft bewegenden Konflikts alsbald bemächtigt, ebenſo iſt es begreiflih, daß es ihr nicht gelingt die Elemente, welche in der Wirklicjfeit nod) in bittrer Feindſchaft liegen, in reiner Kunſtform verjöhnt uns vorzuführen.

In IJmmermanns Epigonen vom Jahre 1834 erfcheint diefer Kampf zwiſchen dem ideal und hiſtoriſch berechtigten Adel und dem mit realer Notwendigleit in jedem Staatswejen geforderten Hanbelsftande zum erften Male in bedeutender dichterr iſcher Darjtellung. Arbeit und Kapital treten hier mit ſchonungs⸗ loſer Unbarmberzigfeit in die Schranken gegen den mit arglofer, träumerifcher Sicherheit in ben Neminifzenzen der Vorzeit ſich wiegenben abligen Grundherrn. „Dan muß das Land benen entreißen, bie es nicht durch Arbeit zum Nuhen der Menfchheit ausbeuten wollen“, ijt des Kaufmanns und Induftriefönigs Devife. Unerbittlihe Rache läßt ihn vernichtende Streihe auf die Häupter derer führen, bie die Fäulniß der inneren Entfittlihung unter der

300 Der Kaufmann in der erzähfenben Poefie,

Form täufchender Schönheit verbergend, in das Innerſte bes Bürgerhaufes ſich ſchleichen und durch ihre anftetende Berührung die Grumbpfeiler feines Beftehens, die unter Arbeit erftarkte Eitte und Tugend, umſtürzen. Gegen ſolche Angriffe wappnet ber Dichter feine Herzoge und Grafen nur mit machtloſer Verachtung, mit unthätigem Stolze, der hervorgeht aus dem Bewußtfein, daB doch noch andere Mächte das Leben geftalten, als Geld, Vorteil und Nugen. Scheint es demnach, als ob der bürgerliche Dichter, aller Gerechtigkeit vergeifend, den Abel reitungslos finfen laſſen muß, fo mahnt uns doch der unmotivrte Schluß der Epigonen, ber uns bie ftaunenswerten Werke bes Induſtriellen in ihrem Verfall, ben Grund feiner Familie als morid und hohl barftellt, wohin den Dichter, den in der Romantik befangenen Dichter, feine perfönfiche Sympathie zieht. Auf die Seite des Adels, in deſſen Leben noch Ideen ſich geltend machen, die die Bruft wärmen, in deſſen reifen das Leben noch ſchön ſich geitalte. Des Kauf: manns Haus wird dem Dichter regiert durch Stunde und Glocke, Schönheit und Anmut haben barin feine Stätte. „DaB die Natur feinem Menſchen irgend eine zum Ganzen ber Geele notwendige Richtung verfagt”, daß auch das Kaufmannsherz einen Zug hat nad) der Schönheit, erfahren wir nebenbei. Bon feinem gewaltigen Fabrikherrn kann auch der fundigfte Landidaftsgärtner Ternen. Die vom feinften Sinn getragene Neigung für bie Pflanzen und Liebe zu feiner Familie find bie einzigen ſchönen menſchlichen Eigenfhaften, mit denen er den merfwürdigen Mann ausflattet.

Es it nit bloh der Mangel an Nufe und Verföhnung ber Gegenfäge, ber es hinderte, daß die Epigonen ein Lieblingsbuch ber deutſchen Leſewelt wurden. Diefes Glück ift in vollem Maße zugefallen Freytags zwanzig Jahre nad) den Epigonen eridienenem Roman „Soll und Haben“. Ob aber bie Gunſt des Publikums ein Beweis ift, daß es Freytag gelungen iſt, wie das anfprudsvolle Motto es verheißt: „uns das deutſche Volk da, wo es tüdhtig ift, bei feiner Arbeit zu zeigen“, und zwar, wie man es von bem Dichter erwartet, in poetiſcher Verklärung ?

Wiederum ift es der Kampf zwiſchen Kaufmann und Abel, ben ber beliebte Roman uns entwidelt. Aber an bie Stelle des charalterfeſten, aus Prinzip, und weil er durch ihn gelitten, ben

Der Aaufmann in ber erzähfenben Poefle. 301

Abel verfolgenden Induftriefürften der Epigonen ift in Soll und Haben bie gemeine und hähfiche Figur des nur von Habfuct getriebenen Veitel Ihig getreten, an Stelle des aud) in ber Ent: artung noch immer von der Idee feines Standes gefragnen Immermannſchen hohen Adels ein ſpekulirender Freiherr, charakter⸗ und energiefos, ein moraliiher Schwächling. Was den Charakteren, der Handlung an Gehalt und Würde abgeht, müſſen geſchickt ein- geflochtene, Hübihe Genrebilder aus dem Jubenhaufe unb ben Abelsfalons erfegen. Und als ob der pifanten Gegenfäge nicht ſchon genug wären, verpflanzt ber Dichter bie ſchleſiſche Freiherrn⸗ familie noch in das von Aufruhr durchtobte Polen, um zur Ber friebigung des deutſchen romanfefenden Publitums deutſche Ordnung, deutichen Fleiß, deutſche Treue auf dem trüben flavifhen Grunde noch heller auffeuchten zu laſſen. Nur loſe verbunden fpielt fich neben ber Haupthanblung ein allerdings ſehr anmutiges Idyll in einem beutfchen Raufmannshaufe ab, welches uns bas flille, behäbige Glüd eines aller höheren Lebensintereſſen baren, aber mit treuem Fleiß in angeftammter Vürgertugend ber Pflicht lebenden Tauf- männifchen Hausſtandes ſchildert. Hätte nur Freytag den ber friedigenden Eindrud, den biefes gegen jüdiſche Gemeinheit und ablige Hohlheit gleich abgeſchloſſene Stillleben zurückläht, nicht dadurch aufgehoben, ba er mit glängenben Farben eine Figur hineingeichnet, die, mehr Junfer als Kaufmann, ironiſch und überlegen über der Heinen Welt ſchwebt und aus dem Kaufmanns: haufe einen Voten zur Rettung ber bem Ruin zueilenden Adels- familie entfendet, der in jeiner perſönlichen Unbebeutenbheit mit feiner aufopfernden treuen Liebe ſich tragi-komiſch in ber erflufiven Abelswelt ausnimmt. Aud) in Freytags Poeſie tritt der folibe Kaufmann felbft gegen ben Heruntergefommenen Abel in Schatten.

Mühen wir nun nad) allem diefem zugeben, baf feiner ber bebeutenden beutihen Romane, die das kaufmännische Leben zum Mittelpunft Haben, das äſthetiſch gebildete Urteil befriedigt, fo zeigt uns glüclicher Weife der befannte Roman des Englänbers Charles Didens, „Dombey und Sohn“, welch fruchtbaren Stoff die Raufmannswelt dem redten Romandichter bietet. Ein feindlicher Gegenjag zwiſchen Adel und Bürger, von dem der moberne deutſche Roman zehrt, kann in England übers

302 Der Kaufmann in ber erzähfenben Poeſie.

Haupt nicht eriftiren und intereffiren, aud vertragen die Kreife ber englifcen Gefellfhaft, für bie ein Dichter wie Didens fehreibt, feine Freytagihen Veitel Ipig und Löbel Pinkus; das engliſche Kaufmannshaus bietet ihm des reichſten Stoffes bie Fülle zu einem Tebensvollen, die Phantafie feilelnden, durch Schönheit befriedigenden Kunſtwerk. Freilid ein des Kaufmanns Eitelkeit ſchmeichelndes Lebensgemälde entrollt Didens vor unjern Augen nicht, auch fein auf Effekt berecjnetes, aber ein treues, in gerechter Verteilung von Licht und Schatten warnendes und verjöhnendes. Es ift bie im Raufmannsftande jo häufige Ueberhebung, ber Trop auf bes Geldes vermeinte Allmacht, ber ungemeffene Stolz auf ber Firma Bedeutung, der in feinen unheilvollen Folgen für das Fomilienglüd uns bargeftellt wird. Cin großartiger Handelsherr ift Herr Dombey, dabei das Muſter eines Gentleman, aber ſtolz auf fein und feines Hauſes Macht bis zum Wahnfinn. Liebe für die Seinen, wie fie font in jeder Dichtung als verföhnende Bei— gabe auch dem verhärteljten Raufmannscharakter zugeſprochen wird, wohnt in feiner Bruft nicht. Kalt fteht er an der Gattin Sterber lager, nachdem fie ihre Pflicht erfüllt, der Firma einen Sohn und Nachfolger geboren, mit eifiger Kälte ftöht er die Tochter von fich, bie für die Firma feine Bedeutung hat; nicht Vaterliebe, ſondern Angit um ben Nachfolger läßt ihm über bes einzigen Sohnes Leben und Entwicklung ſorgſam wachen. Treue, Ergebenheit, Freundſchaft darf an feine Hohlheit fi) nicht wagen, er fennt nur bezahlte Pflichterfüllung, bemütige Bewunderung feiner kaufherrlichen Größe. Unheimlich ſchweigſam geht feine finftre Geftalt durch die freubenleeren Räume feines prächtigen Haufes. Des Sohnes Tod, der zweiten Gattin Verrat, bes bevorzugten Dieners Untreue macht ihn nur härter, bis endlich fein thönernes Gößenbild, das Haus ohne Gleihen, „Dombey und Sohn“, zufammenbricht, er aus feinem Palafte hinaus muß, unbellagt, ein gleichgiltig Schaufpiel für die, von denen er ſtlaviſche Verehrung erzwungen. Und noch dunkler wird dieſes Bild, indem es der gerechte, patriotiſche Dichter Hineingeftellt Hat in das helle Licht der dem englifhen Haufe eigentümlicen tiefen Innigkeit und Treue, bie in bes böfen Dannes Sohn und Tochter gerade am herrlichiten aufblühen und zulegt Fluch und Verzweiflung abwenden von dem ſchuldbeladnen Haupte bes verblendeten Diannes.

Der Raufmann In der erzähfenben Poefle. s08

Reicht nun auch an dieſes Dichtwerk in unfrer Zeit fein in bes Raufmanns Haufe fpielender beuticher Roman heran, jo braucht doch darum die deutſche Poeſie ihr Haupt nicht in Scham und Verzweiflung zu verhüllen. Aus alter Zeit, aus ber Mitte des 13. Jahrhunderts, ragt in bie verfünftelte Gegenwart eine beutfche Dichtung herein, in der die Geftalt eines Kaufmanns den Mittel: punkt bildet, in fo reiner, einfacher, vollendeter Schönheit, daß feoft unfer an pifante Reipmittel gewöhnter, durch moncherlei Unnatur verwöhnter Gefchmad vor ber edlen, harmonifden Schöp: fung des alten Rudolf von Ems betroffen, ich glaube aud, mit Wohlgefallen verweilen wird. Ich fann es nicht unterlaffen, bier eine Skitzze der Dichtung, der poetiihen Erzählung „Der gute Gerhard“ zu entwerfen.

Der an Mürde reiche, gewaltige Kaiſer Otto der Grohe hat in pflichtgetreuer Erfüllung feines faiferlihen Berufs die Grenze bes Alters erreiht. Da gründet er auf Betrieb feiner um das Seelenheil des Gatten beforgten Gemahlin, eingedenf des Spruches: „Wie das Waller ein brennend Feuer löſcht, fo tilget das Almofen die Sünde“, mit faiferliher Freigebigfeit zum Wohle der Armut das Etzſtift Magdeburg. Aber das ob ber kaiſerlichen That ihm reichlich geipenbete Lob wird feiner Seele zum Yallitrid, fein Herz überhebt fid feiner Verdienfte, und im einfamen Gebet im Münfter bittet er Gott, er möge ihn hineinſchauen lailen in fein Geheimniß, ihm fagen, welcher Lohn ihm betimmt fei für das, was er zu Gottes Ehren gethan. Mit jtrafender Rede naht ſich ihm Gottes Engel: was er um bes Ruhmes willen gethan, bafür Habe er ben Sohn bahin, bie Krone bes Himmelreichs habe er verwirkt; er hätte To handeln müſſen wie ber gute Kaufmann Gerharb von Cöln, bes Name um feiner Almofen willen gejchrieben ftehe im Buch ber Lebendigen. Der Kaifer, um bie Thaten des Mannes, ber, obgleich ihn fein Fürftenname ziert, fo hoch fteht bei Gott, aus beffen eignem Munde zu vernehmen, reitet mit geringem Gefolge nad Cöln. Angelangt beruft er durch den Biſchof die gefammte Bürgerſchaft zu Hofe. Verlangend läßt er fein Auge durch bie Verſammelten ſchweifen, ob er ben herausfinde, um beijentwillen er gefommen. Da gewahrt er alsbald einen, dem Alle, als wäre er der Höchſte und Erite, Ehre erweiſen. Es war ein Mann bei gutem Alter, doch kräftig und mohlgeftaltet. Sein lockiges Haupt

304 Der Kaufmann in ber erzahlenden Poeſie.

und Barthaar, mit Sorgfalt georbnet, war grau wie Eis. Ein Diantel mit Zobel befegt, mit Hermelin gefüttert, fällt über ein ſcharlachrotes Gewand. Ein reid) befepter Gürtel ſchlang fi) um bie Hüfte, Fingerreif und Bruftfpange glänten von eblem Geftein. Würdevoller Ernſt, Zucht und Milde drüden ſich aus in feinem Weſen. Der gute Gerhard ift es, ber fofort von den Bürgern, benen ber Kaiſer vorgiebt, er habe fie berufen, um in wichtiger Sache ihren Nat zu vernehmen, von allen als ber befte Berater bezeichnet wird. In bes Kaiſers Gemach zu einem Zwiegeſpräche erfgienen, bittet ihn jener, er möchte ihm erflären, warum man ihn ben „guten Gerhard“ nenne. Mit Klugheit ſucht er ber Antwort auszuweichen, endlich aber giebt er mit Seelenangſt dem entſchiedenen Befehle des Kaifers nad), zu Gott flehend, daß er es ihm nicht als eitle Ruhmredigleit anrechnen möge. Cs beginnt fein Bericht.

In dem Wunfche das ererbte Vermögen vergrößert feinem Sohne zu binterlaffen, zieht er in jungen Jahren mit feiner bisponiblen Baarſchaft, 50,000 Mark Goldes und reicher Ladung zu Schiffe nad) den Küften von Preußen, Livland und Rußland, um Bernftein und Pelzwerf einzutauſchen. Die gewonnene Fracht fegt er in Damaskus aufs vorteilhaftefte gegen koſtbare Seiden- ſtoffe um, für die er das Zweifache des Kaufpreifes Hofft. Uns günftige Winde verfchlagen ihn auf der Nüdfahrt in einen Hafen Marokkos. Seine Vertrauen erwedende Perfönlichkeit und kluge Rebe gewinnen ihm in dem driftenfeinblichen Lande die Huld des töniglichen Statthalter. Der bietet ihm einen Waarentauſch für feine ganze Ladung an. Zur Vefihtigung des Gebotenen in den Palaſt geführt, bringt ihn der Statthalter zuerft in ein Gemach, in bem zwölf eble junge Männer gefeilelt und in Kummer vers gangen verweilen. Hat ber traurige Anblid ihn ergriffen, fo wird fein Herz aufs tiefite erfhüttert, als er in einem zweiten Saale zwölf Greiſe in traurigfter Verkommenheit erihaut. Des Jammers hat er genug gefehen, aber noch mehr ift iym vorbehalten. Fünfzehn edle Jungfrauen von erlejener Schönheit ſchmachten in einem dritten Gemade in jammervollter Gefangenſchaft. Das iſt das von Stranmur, dem Statthalter, ihm zum Taufde gebotene Gut. Engländifhe Nitter und Jungfrauen find es, die mit ihrem König Willehalm nach Norweg gefahren waren, als er um König Reimunds

Der Kaufmann in ber erzäßfenben Poeſie. 305

Tochter freite. Auf ber Rückkeht aus Norwegen Hat ein Sturm die beiden Schiffe, die das Gefolge tragen, getrennt. Die königliche Braut mit ihren zwei norwegifhen Fräufein und den englif—en Nittern und Damen wird vom Sturm nad) Marokko getrieben, von bem zweiten Schiffe, das ben König Willehalm unb bas anbre Gefolge trug, iſt jede Kunde verloren. Die Ausfiht auf reihen Gewinn, welche der Statthalter ihm von ber Auslöfung macht, Tann ben erfahrenen Kaufmann nicht täuſchen; es dünkt ihm eine wunberlide Zumutung, fein ganzes großes Gut an einen Wahn zu fegen. Doc) bittet er um Bedenkzeit bis morgen. Unruhevoll ſchwankt während der Nacht fein Geift zwiſchen beiden Entichlüffen ; bald erjdeint ihm der Kauf als fromme That, bald als Thorheit. Da wedt den in Unruhe Entſchlafnen ein Eingel und erinnert ihn an das Wort: „Mas ihr gethan Habt einem unter meinen geringiten Brüdern, das Habt ihr mir geihan.“ Nun fteht fein Entihluß feſt. Echt kaufmänniſch ug ertlärt er am folgenden Diorgen dem Statthalter, mod) fei er nicht feit entidieden. Einmal jei ber Preis ihm zu hoch, dann müfje er vorher willen, ob ber Handel bem Willen der Gefangenen entiprede. Nachdem Stranmur biefen auf feinen Wunſch die deſeln abgenommen und Gerharbs Herz fih daran erfreut hat, wie die Gefangenen nad) jahrelanger Trennung fich wieberfehen, teilt er biefen und auch der gefangenen Fürftin feinen Emſchluß mit. Cs wird ihm gebanft als gottgefanbtem Erretter. Nachdem er fein kaufmänniſch Recht, um den Preis zu Dingen, zum Vorteil ber Gefangenen geltend gemadit, indem er Nüdgabe ihrer Habe erwirft, nachdem von dem eblen Gtatthalter beibe Schiffe fegelfertig gemacht und mit Munbvorrat reichlich, verjehen find, beginnt unter gegenfeitigen Segenswünfden die Heimfahrt. Glücklich auf der Höhe von Utrecht angelangt, wo ſich die Seewege nach Deutihland und England ſcheiden, entläßt er ohne alles Unterpfand als ihr Wort bie engiüſchen Nitter und Frauen in ihre Heimat, er felbft fährt mit der Rönigstochter und ihren zwei Begleiterinnen in den Nhein. In der Nähe von Cöln angelangt, fendet er Boten voraus mit der Meldung, daß er mit reihem Gute fomme. Frau und Sohn, bie gefammte Bürgerfchaft erwarten am Lanbungsort ben fange Entbehrten. Aber die Freude bes Wiederſehns wird bei der freuen Gattin getrübt, als ftatt der erwarteten Reichtümer fi Sand und Steine als Ladung ermweifen, 8

508 Der Kaufmann In ber erzähfenben Poeſie.

als die Muge Hausfrau den ruhigen Gang ihres bürgerlichen Haushalts durch ben Zutritt einer Aönigstochter gefährdet fieht. Mit ruhiger Würde meift der Gatte auf fein unbedingtes Ver- fügungsredht hin, und der dem Vater gleihe Sohn, gerührt durch bie bewegliche, rüdfihtsvolle Bitte der Fürftin, fie ziehen zu laſſen, appellivt an die bewährte Herzensgüte ber Mutter, die das Wort des Unmuts zurücnimmt und die Verlaffene willtommen heißt. Und die Königstochter bringt Segen in das Bürgerhaus durch ihr holdes Weſen und reichen Vorteil, indem fie die deutfchen Jungfrauen in Fünftliher Golbftiderei untermeift. Wie ein liebes Kind weilt fie im Haufe. Aber in langer Frift fommt weber aus England Kunde von ben gelöften Nittern und bem Bräutigam, noch aus Norwegen von dem Vater der Fürftin. Hoffnungslofes Hinfehmen will aber der Fuge und gute Gerharb nicht bulden ; ein neues Lebensglück fol ber Verwaiſten gegrünbet werden, indem fie als Gattin des einzigen Sohnes als Glied in das Bürgerhaus eintritt. Des Sohnes Herz kennt ber Vater, mit vollitem Ver: trauen willigt die königliche Jungfrau in den Borſchlag. Aber noch ein Jahr will bie Treue warten, ob inbefien Kunde füme vom erften Verlobten. Zum fröhlichen Pfingitfeft foll des hoch⸗ gefinnten Kaufmanns Sohn durch des Biſchofs Huld den Nitter- ſchlag empfangen, daran das Feſt der Vermählung fid) reihen. Der feftliche Tag ift da. Auf des geehrten Mannes Ladung ericeinen von nah und fern die erften ber Nitter zum Feſte in Eöln. Der Kaufmannsfohn fteht den jungen Edeln, bie zugleich mit ihm die Rittermeihe empfangen follen, an ritterliher Kunft und Anftand nicht nad. Bon bes Biſchofs Hand empfängt er die Nitterweihe. Das Feltmahl Hebt an. In unvergleichlicher Schön: heit prangt rei gefchmüdt die Braut zur Seite des Biſchofs. Da gewahrt ber fdarfblidende Gerhard am Eingangspfeiler des Feſtſaales eine Hohe, aber elend gefleidete Männergeflalt, deren Blide freublos, gramvoll an der jtrahlenden Braut hängen. An biefem Tage der Freude foll fein Kummer ungeftillt bleiben. Mit Herzlihen Worten gewinnt Gerhard in gefondertem Zwier gefpräch des Armen Vertrauen. König Willchalm iſt's, der jept bie zufällig wiedergefundene Braut zum zweiten Mal verlieren foll. Und nun erglänzt bie Bürgertugend, des Kaufmanns erhabner Sinn im vollften Lichte. Durch fremden Jammer will Gerhard

Der Kaufmann in ber erfähfenben Poefle. 307

feinem Haufe feine Ehre zuwenden, auf eines Andern Unglüd ber vergweifelnde Sohn fein Sebensglüd nicht gründen. Bald wird mit öniglicer Pracht cin neues Felt gerüftet, burd) des Kaufmanns Edelmut König und Königin nad langer Trennung vereint.

Aber der Edle tHut nichts Halb. Auf eignem Schiff geleitet er bie Vermählten nad England. Dort raft Bürgerkrieg in dem Jahre lang des Herrſchers beraubten Lande. Chen find bie Großen des Reichs zur Wahl eines neuen Königs verfammelt. Keiner iſt da, auf den fi die Stimmen vereinen. Da tritt reich geihmüdt ber fremde Kaufmann in der Großen Rat; er fünne den rechten König ihnen bringen, erklärt er. Da erkennen bie Verfammelten, eben bie von Gerhard aus ber Knechtſchaft befreiten Ritter, ihren Erretter. Er jelber ift der von Gott gefandte König; jubelnd heben fie ihn auf ihre Schultern, tragen ben Widerftrebenben hinaus und verfünden ihn ber mit Jubelruf zujauchgenden Menge als den Gewählten. Wie die Erzählung fchließt, brauche ich nicht weiter zu berichten. „Gott hat durch mid eine Gutthat verrichtet an benen, bie ihm lieb waren, ihm allein fei Preis und Ehre!”, fo ſchliehi des guten Gerhards Bericht an den Raifer. Und ſchwei⸗ gend faß dieſer und erwog mit tiefem Ernft, was er vernommen. In feinem Herzen wuchs der Schmerz der Reue groß, und reichliche Thrãnen rannen ihm auf Bart und Bruft. Wie in Nichts verſchwand jegt fein ruhmrebig Wert neben ber beiceidenen erzensgüte biefes Kaufmanns, und in tieffter Gelbftverwerfung neigte ſich fein Herz vor der Tugend biefes [lichten Menſchen, der das Schwerjte volls bracht hatte um feinen andern Lohn als das Wohlgefallen Gottes.

Sehen wir hier, wie die ſchöpferiſche Dichterphantafie bie vereingelten reinen Strahlen, welche das faufmännifche Leben aus— fenbet, aufzufangen und zu einem verflärten, aber bod treuen und frifchen Bilde faufmännifcher Erhabenheit zu geftalten vermag, fo könnten wir, bei ber Geneigtheit ber Menſchen, lieber das Lächerliche als das Erhabne im Leben zu Juden, glauben, das Hanbelsleben müßte, weil es ein Boden ift, auf dem bie Saat des Vöfen, Verkehrlen, Befepränkten doch aud) reiht üppig wuchert, dem für das Komifche begabten Dichter eine erwünſchte reiche Fundgrube zu heitren Produftionen geworden fein. Der Chamiſſoſche Banquier, der mit wohlgefälligem Selbitgefühl feine Herzensmeinung dahin verlauten läßt, „daß doch jeder, der nicht eine alien

808 Dar Kaufmann in ber erzäßfenden Poeſie.

wenigſtens befigt, ein rechler Schuft fei”, verdiente es ebenfo in einem komiſchen Nomane zu figuriren wie Auerbachs Onfel Veitel, der es nicht begreift, wie fein poetiſch geſtimmter Neffe Ephraim Kuh eine Gegend ſchön finden kann, welche fremden Leuten gehört. Liebe ſich doch auch ein ins Komiſche gefehrter Dombey fehr wohl benfen. Leiber aber ift uns bie Freube felten gegönnt, des Kauf: manns Thorheit von ber heiter lächelnden Mufe der Komik ergötzlich in befonderer Dichtung verarbeitet zu jehen. Meine befchränfte Kenntnif wenigftens findet feine hier auszuzeichnende rein Lomifche deutſche Darftellung des faufmännifhen Lebens.

Doch ich würde meine heutige Aufgabe verfennen, wollte ich Sie noch weiter nötigen, den wenn auch Heinen Kreis der bas KRaufmannsleben barjtellenden Romane zu durchmeſſen. Ich befreie Sie davon, Hadländers ibeenarmes Genrebild „Handel und Wandel”, das mir nur darin originell ericheint, daß es eine Frau als Chef eines Geichäfts auffühet, ja auch Auerbachs gebanfen- reiches, aber burd) feinen Titel täuſchendes, vorwiegend bie Kon-⸗ flifte des Jubentums mit der Geſellſchaft barftellendes und in ber Form wenig burchgearbeitetes Wert „Dichter und Kaufmann“ von mir beiprechen zu hören.

Werfen wir jegt einen Blick zurück, fo fehen wir, daß erfreu- licher Weife gerade in neuerer Zeit der faufmännifde Beruf häufiger von den Dichtern zum Vorwurf genommen wird, und wir können uns ber Hoffnung Dingeben, daß mit der zunehmenden Erlennlniß von des Handeis Bedeutung der Stoff, ben z. B. die Gefdjichte der großen Handelsgeſchlechter, der Medici und ber Fugger, das traurige Schidjal des edlen, patriotiſchen Zeitgenofien Friedrichs des Großen, Goczlowifi, in neuerer Zeit Peabodys großartige Werke reinfter Menſchenliebe liefern, daß alles Erhabne und Läcjerlide, weldes in dem Handelsleben der Gegenwart vorkommt, begabte Dichter zu immer vollfommnerer, wahrhaft poetifcher Darftellung anloden werde. Haben vergangene Jahr: hunderte im Kaufmann von Venedig, in Nathan dem Weiſen dem Raufmann unvergänglice Ehrendentmäler gegründet, wer wollte meinen, daß in unfern ober zufünftigen Tagen fein großer Dichter erftehen önnte, der das endloje Einerlei des Hanbeltreibens zum begrenzten, überſchaulichen Bilde zu geftalten, die in dem unaufhör— lichen Fluten und Wogen des Handelsiebens leicht vergeffene Idee

Der Kaufmann in der erzähfenden Poeſie. 309

im einheitlichen Bilde zu Ehren zu bringen, Idee und Wirklichkeit, zwifchen denen gerade ber faufmännijche Beruf fcheinbar eine unausfüllbare Kluft reift, im Kunſtwerk in friedevoller Verföhnung zu zeigen und dem überſchaulichen, einheitlichen, ideenreichen, fried- lichen Bilde den friihen, warmen Haud) des Lebens einzuatmen vermödhte. Wie überhaupt das Leben, fo ift auch das kaufmänniſche Leben mit all’ jeiner Proſa ein Stoff, in dem, der Erwedung harrend, ſchlummert das reine Gold vollendete Schönheit, aus dem der echte Dichter Werke Hervorzaubert, unvergänglider als die, melde das Gold gründet, welches ohne Wahl durd) reine und ſchmutzige Hand, bald fegenipendend, bald fluchbringend, dahinrollt. Bezeugen vereinzelte Veiſpiele von Kaufleuten, bie bie

Wiſſenſchaften nicht bloß gelicht, ſondern in vorderfter Neihe gefördert, daß wiſſenſchaftliche Beſtrebungen ſich fehr wohl mit praktiſcher Tüchtigkeit paaren, jo darf fi in uns nod weniger die Befürdtung regen, daß weiler Genuß des Schönen, wie es uns in den Schöpfungen jeglicher Kunjt in ſichrer Geftaltung entgegentritt, uns untauglich machen werde zu praftiichem Wirken und Schaffen. Im Gegenteil, bie liebevolle Hingabe an bas Schöne, wo wir es finden, wird ihre Frucht auch im praftiichen Leben tragen. Konzentration aller Geiftesfraft auf den Beruf, beim Kaufmann auf den Erwerb, vermag wohl ftaunenswerte Refultate, hin und wieder der Welt Segen zu jdaffen; aber das Individuum, der Einzelne, lebt ein volles, ganzes, zufriedenes Leben nur dann, wenn er alle Kräfte feines Geiftes gleichmäßig übt, fein wahres Bedürfniß feiner Seele gewaltfam zurüddrängt. Und ein ſolches Bebürfnig Hat unfre Seele unter anderem auch nad) der Schönheit, wie fie uns die Pocfie bietet.

Den Glüdlien kann es an nichts gebrechen,

Der dies Geſchent mit filler Seele nimmt:

Aus Morgenduft gewebt und Sonnentlarheit,

Der Dichtung Schleier aus der Yand der Wahrheit.

Und wenn 8 dir und deinen Sreumden fchmüle

Am Mittag wird, jo wirf ihn in die Quft:

Sogleich umjäujelt Abendwindestügle,

Umbaucht eud) Blumen-Würzgerud) und Duft ;

Es fehmweigt das Wehen banger Erbgefühle, Zum Boltenbette wandelt fid, die Gruft;

Velünftiget wird jede Lebenswelle, Der Tag wird Keblich und bie Nacht wird helfe.

Libland und die Ehladt bei Zannenberg.

Der Große Krieg!) 1409 Auguſt 15. bis 1411 Februar 1.

Am 15. Auguſt wurde die Kriegserklärung des Deutſchen Ordens in Krakau dem König von Polen überreicht. An demſelben Tage überfchritten die Orbenstruppen die polniichen Grenzen. Der Hauptjtoß traf vom Kulmer Lande her bas polnifche Herzogtum Dobrzyn. Schon in ber dritten Woche lag dies Land mit allen Burgen und Städten zu Fühen des Hodmeifters. Kleinere Ordens: ſcharen waren aus Dftpreußen in Mafovien, aus Pommerellen in ARujavien und das Land an ber Nepe, aus ber Neumark in das benachbarte Großpolen eingedrungen. Es zeigte fih, daß die pol- nifhen Rüftungen ganz unzureihend waren. Ueberall hatte ber Orden bie beiten Erfolge. Preußiihes Land traf nur ein furger polnifcher Streifzug, auf dem bie Stadt Soldau und einige Dörfer niebergebrannt wurden. Um jo fhmwerer ift zu verftehn, daß nicht allein gegen Witowt nidts unternommen murbe, fondern aud) für die äuferft gefährdeten Orbensburgen in Samaiten nichts geichah. Infolgebefien konnte Witowt an der Spige der Samaiten Ende Auguft oder Anfang September bie Frebeburg, die Hauptvefte bes Drbens im Innern, nehmen und zerſtören; bald barauf mußte ber DOrbensvogt die Burg an der Dubiffa ſelbſt niederbrennen und dann das ganze Land dem Feinde überlaſſen. Die Samaiten durften fogar Heine Einfälle in die preußiſchen Grenzlandſchaften wagen. Ein ſolches Verhalten des Ordens fönnen bie Rranfheiten allein faum erflären, bie damals in ben preußifcen Burgen an

1) Den „Großen Krieg“ nennen die Zeitgenofjen eigentlid) nur den Krieg von 1410.

ioland und bie Schlacht bei Tannenberg. su

der litauifhen Grenze geherricht haben follen!). Aber aud in Polen ließ ſich der Orden bald wieder durch Verhandlungen in feinen Erfolgen aufhalten. Der Erzbiſchof von Onejen erſchien im Lager des Hohmeifters und führte nun, um einen Stilftand nachſuchend, eine andere Sprade als in ber Diarienburg am erfien Auguft. Der Hochmeifter war bereit zum Stillftande, wenn Polen ſich zur Neutralität im Kampfe des Ordens mit Litauen verpflichte und dafür Garantien ftelle. Ein Tag zu Thorn wurde deshalb feftgefegt, aber von ben Polen nicht eingehalten. Dadurch gewannen fie Zeit. König Wladislaw war erft Anfang September aus Krakau aufgebroden, und zwar recht ungulänglic, gerüftet. Aus Litauen war ihm die Kunde gefommen, daB ein großes Tataren: heer mit dem vertriebenen Fürften von Smolenst ins ſüdöſtliche Litauen eingefallen fei und Witowt aud) innere Erhebungen gegen feine Herrichaft befürchte, daß aljo auf ben erwarteten litauiſchen Zugug jegt nicht zu rechnen fei. Veſſere Chancen zum Entchei: bungsfampf durfte ber Orden nicht erwarten. Witowt war zurüd- gehalten, ber eine der mafovijchen Herzöge war bes Königs Feind, bie unguverläffigen pommerichen Herzöge ftanden, durch neue Sold⸗ verträge mit bem Orben verbunden, im Lager des Hochmeiſters. Der König Sigismund von Ungarn war bereit, ein Bündniß mit bem Orden zu fchließen und Polen im Nüden zu bedrohen, ber König Wenzel von Böhmen war foeben mit Polen zerfallen und deshalb orbensfreunblid; gefinnt. Der Orden felbft war in voller Nüftung unb gebot über eine bebeutende Zahl von Söldnern. Fiel jegt der große Schlag gegen Polen, jo ftand vorausſichtlich einer entſchei— denden Abrechnung mit Witowt und dem endgültigen Wiebergewinn Samaitens nichts mehr im Wege. Aber die preußiſche Ordens- tegierung glaubte, daß auch ſchon ihre legten Kriegsleiftungen genügen Tönnten unb fie daher ihre Friedfertigfeit und ihren trag allem Vorhergegangenen noch ungerjtörten Glauben an bie Eide und Siegel der Feinde aufs neue beweijen dürfe.

Wladislaw war, die polniſchen Aufgebote von allen Seiten zu ſich Heranziehend, langfam vorgerüdt und ſiand Ende September vor ber jtarken Feitung Bromberg, die ber Orden erobert und

1) Es it möglich, dah der Orden Grund hatte, den Ausbruch innerer

Aufftände gegen Witowt zu erwarten, und glaubte, cine feindlide Inuafion könne die Bemühungen der innern Feinde Witowis jtören.

312 2iofand und bie Schlacht bei Tannenberg.

gut befeßt Hatte. Dorthin wendete ſich auch der Hochmeiſter mit dem Orbensheere. Unterwegs aber erſchienen bei ihm am 1. Oftober böhmifche Boten, die ankündigten, daß eine große Gefandtihaft ihres Königs Wenzel im polnifhen Lager weile, um ben Krieg gũtlich beizulegen: König Wladislaw habe [don im Prinzip zuger ſtimmt, und daher möge ber Hodmeifter innehalten, bamit die Gefandten zu ihm fommen fünnten. Wirklich gebot Ulrich dem deere Stilland. Die Verhandlungen, bie nun begannen, wurben dadurch nicht geflört, daß die Polen die Belagerung Brombergs energifch fortfegten. Der Kommandant der Feftung, ein preußiſcher Nitterbruder, wurde dabei erſchoſſen, und die führerlofen Söldner übergaben, als fie feinen Erfag fahen, ben wichtigen Play dem König. Polniſche Scharen waren aud) über die Brahe vorge: drungen unb Hatten den dort zum Entjage Brombergs bereit ftehenben Komtur von Schweh, Heinrid) von Blauen, zurücgedrängt. Das war dem Hochmeiſter dod zu viel; er lieh fein Heer bis zur Brahe vorgehen und bie polnifhen Abteilungen zurüctreiben. Vier Tage ftand man fih am Fluß gegenüber. Da war den Böhmen das Friedenswerk gelungen. Der Deutfche Orden fchloß mit Polen am 8. Oftober 1409 einen Waffenſtillſiand bis zum 24. Juni 1410.

Für biefe Zeit wurde nad) Maßgabe des uti possidetis der Friede zu Nalifch von 1343 wieder in Kraft gelegt. Der Orden behielt alfo zunächſt alle Eroberungen des legten Feldzuges. Wladislaw-Jagiello gelobte mit feinem koniguchen Wort, dah er den Samaiten wie allen andern Undriften und ihren Helfern teinerlei Nat, Hülfe und Beiftand gewähren und in feinerlei Weile fi ihrer annehmen werde, ba fie alle von dem Stillſtande völlig und unbedingt ausgeſchloſſen feien. Ale Streitigfeiten aber zwiſchen bem Reiche Polen und dem Deutſchen Orden follten vom König Wengel von Böhmen und von denjenigen, bie er hinzugiehen werde, bis zum 9. Februar 1410 endgültig entſchieden werden, Beide paciözirenden Teile gelobten feierfih der König wieder „bei unferm königlichen Worte", den Schiedoſpruch Wenzels anzunehmen und fid ihm in allen Stüden, Punkten und Artikeln gu ewigen Zeiten unbebingt zu unterwerfen. Won polniidjer Seite verbürgten und verjiegelten ben Vertrag neben bem König ber Ergbifchof von Gnefen und act der vornehmflen Magnaten.

Livland und die Schlacht bei Tannenberg. 318

Beide Teile fellten außer den Haupturkunden des Waffenftillftandes für den König Wenzel befondere Urkunden aus, in denen fie das Gelöbniß der Unterwerfung unter den Schiedsiprud „ohne jeben Widerſpruch in Wort oder That“ wiederholten ).

Die Polen hatten aljo jegt viel mehr zugeftanden, als ber Hochmeifter am erften Auguft verlangt Hatte. Nicht allein Samaiten, fondern auch Witowt und ganz Litauen waren von dem Stillftande und dem fünftigen Frieden ausgeſchloſſen. Die polniſchen Lanbes- teile, die in ber Gewalt bes Ordens bficben, fonnten als Garantie dafür gelten. Cs werben da doch wohl faum andere Motive bes Königs und ber polniſchen Großen anzunehmen fein, als bie Furcht vor größern Niederlagen bei einer fofortigen Fortfegung bes Krieges. Dem widerſpricht nicht, was wir von ben polniſchen Nüftungen hören und annehmen dürfen.

ALS der Hochmeiſter in den erjten Oftobertagen bei Schwetz ftand, erfchienen bei ihm geheime Gefandte Smibrigiellos, des litauiſchen Nebenbuhfers Witowis. Mit ihnen wurde ein Bündniß erneuert, das ber Orben jchon im Jahre 1402 nad) bem britten Verrat Witowis geſchloſſen hatte, das aber durch ben Frieden von Racioz Hinfällig geworben war. Swidrigiello verfprad) jet, heimlich nad) Preußen zu kommen und barauf mit einem Orbensheere gegen

1) Das Driginal der polniſchen Haupturfunde und ein von König Wergel ausgeſtelites Driginaltransfumpt der zweiten polniſchen Urkunde find im Staats, archiv zu Königsberg erhalten. Es it auffallend, daß bie neuern polniſchen Edinonen diefe benfivürbigen Stüde nicht in extenso wiebergeben, fonbern mr das erfte kurz regüftriren. Nur im Codex diplomaticus Lituaniae ift die zweite Urfunde abgedrudt, aber ſeht fehlerhaft. Joh. Diugoß weih natürlich nichts von den wirtlichen Bedingungen bes Waffenftilftandes. Rach ihm rät ſchon vor der Ankunft der bögmifchen Vermittler im polniſchen Ariegsrat eine Minorität zum Afgluf eines Stilftandes, um im nachſten Jahr den Krieg unter befiern Aufpigien gu erneuern. Infolge der flehentlicen Witten der Böhmen entfcheibet ſich König Wadislam für die Minorität und erlaubt, dafı Wenzel verfuce, einen ewigen Frieden zu Stande zu bringen. „Im Hinbfid auf die große deeresmecht des Königs ſchien der Stilfitand ſchimpſlich zu fein; aber er pafte in bie Zeit vergäftniffe Sinein." Der gemeine Mann in Polen habe freitich geglaubt, daß der Orden bie Rate des Königs Mladislam beftochen habe. Aber ifre Wahigung fei nicht der Furcht ober dem Angebot des Ordens, fondern nur der Borfcht entfprungen. Die Worte des Diugoß drängen den, der die echten Dofumente tennt, zu ber Annahme, da; in Polen ſchon gleich beim Abſchluß des Stillſtandes die feite Abficht beitand, troh aller Gelöbnifje den Orden um den Vorteil der gegenwärtigen Sage zu betrügen.

314 Sioland und bie Schlacht bei Tannenberg.

Witowt zu ziehn. Cr redinete auf einen großen Abfall der Litauer von Witowt und der Union mit Polen. Aber diefe Pläne blieben Witowt nicht verborgen. Cr hatte ſich eben aud) deshalb von jeber größern Unternehmung außer Landes zurücgehalten. Im November nahm er Swibrigiello feft und hielt ihn nun bis 1418 in Banden. Um dieſe Zeit zogen zwei preußifche Komture nad) Ofen zum König Sigismund von Ungarn. Der Hochmeifter wollte ſich für alle Fälle mit dieſem Nachbarn feiner gefährlihen Nachbarn einigen. Zwiſchen Sigismund und Wladislaw:Jagiello bejtand eine alte Nivalität, die 1396 nad) der Niederlage Sigismunds bei Nifopolis gegen bie Türken durch einen I6jährigen Frieden nur notdürftig verbedt war. Die Ungarn Hatten alte Anfprüche auf Rotrußland, Podolien und die Lehnshoheit über die Moldau; fie waren darin den Polen unterlegen, gedachten aber nicht dabei zu bleiben. Um den jtets gefbbebürftigen Sigismund ganz zu gewinnen, lieh ihm ber Hochmeifter eine bedeutende Erhöhung ber Pfandjumme für die Neumark auszahlen und für den Fall eines gemeinfamen Krieges gegen Polen und Litauen große Subfidiengahlungen in Ausfiht jtellen. Wie es ſcheint, leiſtete der Orben fogar gleich barauf eine Anzahlung von 40,000 ungar. Gulden. Infolgebeſſen fertigte Sigismund fon am 20. Dezember 1409 die Bündnif- urkunde für den Orden aus, in ber freilich) feiner der ungariſchen Magnaten als Bürge oder Zeuge genannt wird; ber Hodmeilter verſchob feinerfeits die Vollgiehung der Urkunde und die genaue Feſtſetzung der Subfidien bis zum nächſten Frühjahr. Auch für den König Wenzel von Böhmen find im Jahre 1409 60,000 ungar. Gulden „gelobtes Geld“ in den Finanz-Etat des Ordens aufgenommen worden. Die Hälfte der Summe ift im nächſten Jahr noch vor der Schlacht bei Tannenberg ausgezahlt worden. Es wird nicht gejagt, wofür Wenzel das Geld erhalten follte. Volnifcherfeits hat man fpäter darin eine Beſtechung des Echiel richters gefehen; es iſt aber viel wahrſcheinlicher als eine Ent— Thädigung für die Unfoften ber freundfhaftlihen Vermittelung Wenzels im Dftober 1409 aufzufaffen, durch die fid) der Orden bie gute Oefinnung des Königs erhalten wollte. Man barf nicht vergeffen, ba damals für den „reihen“ Orben niemand etwas umfonft thun wollte, am wenigſten die Luxemburger, und daß die Zeitgenoffen in Geldverehrungen folder Art durchaus nichts

Lioland und die Schlacht bei Tannenberg. 315

Bedenkliches ſahen. Aus Ungarn zogen bie Orbensgefandten nad) Brag, wo aud; die polnifchen Bevollmächtigten zum Schiedsgericht eintrafen. Mehrere Wochen prüften Wenzel und feine Räte die ihnen von beiden Geiten vorgelegten Schriften und Urkunden.

Am 8. Februar 1410 wurde darauf ber Schiebsiprud in Gegenwart ber preußifhen und polniſchen Geſandten vor einer jahfreichen Verfammfung verfünbigt. Danad) follte zwiſchen Polen und bem Deutfchen Orben ber status quo ante bellum nad Maßgabe der Befigurfunden wieberhergeftellt werden, und zwar follten einerfeits das Land Dobrzyn mit allen andern Eroberungen des Drbens von 1409, andrerfeits das Land Samaiten einem VBevollmägtigten König Wenzels zur Rüdgabe an die rechtmäßigen Eigentümer übergeben werden. Alle Gefangenen aus dem legten Kriege waren ohne Löſegeld freizugeben. Beide Teile wurden verpflichtet, „Ungläubigen und Unchriſſen“ in feiner Weiſe wider einander beizuftehen oder zu helfen; insbefondere dürfe der König von Polen niemand unterftügen, der ben Orden am Befig Samaitens in irgend einer Weife hindere ober ftöre. Weber Driefen und bie andern neumärfifchen Teile entſchied Wenzel nichts Befonderes, weil „das dem König Eigismund angehöret”. Das bedeutete bie Anertennung des brandenburgiſchen Eigentumsrechtes und fomit bie Abweifung ber polnifhen Anfprüde. Ueber den Bruch bes ewigen Friedens, beffen beide Teile einander angeklagt hatten, wie über alle daraus folgenden Einzelſchäden und die Klagen bes Herzogs Johann von Majovien wollte Wenzel noch genauere Unter- ſuchungen an Ort und Stelle vornehmen lajjen und dann zu Pfingſten oder fpäteftens bis zum 1. Juni alle vorliegenden Streit: fahen entjheiden. Dann follten aud beide Teile ben ewigen Frieden von 1343 erneuern und vom Papſt und bem Nömijchen König beitätigen laſſen. Die Waffenftillftandsbedingungen waren unter allen Umjtänden bis zum 24. Juni einzuhalten.

Der Schiedsiprud Wenzels entiprad alſo im Wefentlichen ganz den durch bie Friedensſchlüſſe von Kaliſch, vom Sallinwerber und von Raciaz geſchaffenen ftaatsrechtlihen Grundlagen und hielt fi) im übrigen ftreng an die echten Urkunden und Siegel. Daß die Gefandten Witomts, die bie Polen nad) Prag begleitet hatten, mit ihren Ansprüchen und Klagen zurüdgewiejen wurden, mußte nad) den Bedingungen des Waffenfiillitandes ſelbſtoerſtändlich fein.

316 Livland und die Schlacht bei Tannenberg.

Im Namen bes Hodmeifters nahmen nun die preußiſchen Gefandten den Schiedsſpruch voll und unbedingt an. Die Polen aber erflärten, daß fie den Spruch nur ad referendum entgegennähmen. Dabei blieben fie aud), als Wenzel die Urfunbe verlefen ließ, durch bie ber polnifche König bie unbedingte Unterwerfung unter ben Schiedsſpruch Wenzels gelobt hatte. ntrüftet rief darauf Wenzel aus, er fehe wohl, daß nicht Wladislaw, ſondern bie polniſchen Magnaten bie wahren Könige von Polen fein; er aber und fein Bruder Sigismund würden dem Orden gegen fie mit aller Macht beiftehen !).

Noch vor dem Schiedoſpruch zu Prag hatte Witont im Ei verfländniß mit König Wladislaw unb ber großpolnif—en Kriet partei in der ungariihen Stadt Käsmark eine Zufammenfunft mit

%) Mas Diugof von dem Shhiedsſpruche Werhzels erzäßlt, iſt cbenſo unmahe wie tenbenziös. Zuerft bißfrebitirt er Wenzel als einen felten nüchternen Wenfiien, dem jebe ernfte Beicäftigung ein Etel geweſen fei. Bon einer eigenen Prüfung der preufifch-polnifcen Streitigfeiten habe er nichts wiſſen wollen. Um ſich aber nicht völig zu blamiren und dem Gelbe des Ordens Redmung zu tragen, habe er die Abfaffung des Schiedeſpruches dem Markgrafen Jabit von Währen übertragen, einem erklärten Zeinde der Polen. Daher ſei fchon die Prüfung der Beweismittel von offenkundigiter Ungerecligfeit gemefen. Die polnifejen Geſandien wären gewarnt worden und hätten deshalb daS abjolute Berfprechen ihre8 Königs, fic dem Schiedsiprucde zu unterwerfen, daS ihnen mügegeben war, zurüdgehaften unb nur ein beichränftes und unvolfftänbiges Veriprechen dem Schiedsgericht vorgelegt. Als dann bie Verleſung des Schieber fpruches im beutfcher Sprache begonnen Gabe, feien bie polnifden Gefandten, obgleich mehrere von ihnen des Deutfchen volltommen mächtig waren, aus dem Scal forigegangen. Dem König Wemel, der ihnen derficert hatte, daß man den Schiebsfpruc; aus) in böhmifcper Sprache verlefen werde, die doch jebem Polen verftändlich fei, hätten fie vol Ironie erwidert, dal; Polen und Böhmen einander durchaus nicht verftehen fönnten. Wengel Habe ifnen darauf das Urteil unter feinem Giegel zugeididt. Um bie lacherliche Ungerectigteit und Thorheit de Sprucheß zu fennpeichnen, genügten ſchon Die beiden folgenden Artifel aus ihm: eritens follte das Land Dobrzyn Wengel übergeben werden, damit er Binnen Jaßresfrift beftimme, wem 8 in Zukunft gehören folle; zweitens bürfe das Neic) Polen in Zukunft feinen König nie mehr aus Litauen oder ben andern öftfich gelegenen Ländern, fonbern nur aus ben Füriten des Abendlandes wählen. Ein Vergleich mit dem uns überlieferten Wortlaut des Schiedöfpruces zeigt, dab Diugoß, dem der Wortlaut höchſt wahrfcheinlich befannt war, feci erfindet und die Wahrheit verichmeigt. Mafigebend war jedenfalls der Lateinifche Text, der aud) gemi zuerft verfefen worden ift. Der deutfche Wortlaut ift im 8. Bande von Luias Davids Preuf. Chronit S. S. 189-196 gebrudt.

Livland und bie Schlacht bei Tannenberg. 317

Sigismund von Ungarn. Cr follte diefen vom Bündniß mit dem Orden abziehn und dadurch die kleinpolniſchen Magnaten zum Kriege gegen den Orden bereitwilliger machen; denn ihnen war es in erfter Linie um den ſichern Beſiß Rotrußlands und Podoliens zu thun. Aber Sigismund war durch das Gelb bes Ordens gefeftigt worden und fol feinerfeits die Zufammenkunft zu dem Verfuhe benugt haben, dadurd einen Neil zwiſchen Polen und Litauen einzutreiben, daß er als Vikar des Römiſchen Reiches) Witowt gleihlam als Erjag für Samaiten eine unabhängige litauiſche Königskrone anbot. Der Krafauer Kanonifus meint, Witowt Habe das Angebot wohl zurüdgewiefen unb bavon Wladislaw fofort Mitteilung gemacht, aber das ihm hier einge träufelte Gift habe fpäter doch teufliſch nachgewirkt.

Schon feit längerer Zeit meldeten die beim Hochmeiſter eins laufenden Berichte, da der polnifde König den Waffenftillitand zu großen Nüftungen benuge und durch Gerolde mit offenen befiegelten Briefen und Gefanbte mit ausführlichen Anklageſchriften das Anſehn und den Ruf des Deutſchen Ordens bei allen Fürften der abendländiihen Chriftenheit untergrabe.. Wohl traten bie Ordensagenten folden Madinationen nad) Kräften entgegen und fanden auch an manchen Stellen, wie 3. B. beim König Heinrich IV. von England, volles Verftändnif; für die Lage des Orbens, aber das semper aliquid haeret blieb doch aud) nicht aus. Schlimmer war, daß ber Hochmeifter fid) noch immer durch die Verfiherungen der beiden luxemburgiſchen Könige, fie würden Polen zum Frieden wingen, wenn der Orden mur ruhig bleibe, abhalten ließ, mit voller Energie zu rüſten und noch während des polniſchen Still ftandes mit Witowwt abzurednen. Der eine Zug, ber gegen biefen unternommen wurde, hatte feinen nachhaltigen Erfolg, Witowt war, wie es ſcheint, eben aus Käsmark nad) Grodno zurüdgefehrt, als ber Oberfte Daricjall plöplid in „Ruffiih-Bryst“, das Land zwiſchen Grobno und Bialyjtof, einbrad, um womöglich des ſchlauen Litauers perſönlich habhaft zu werden. Mit genauer Not entrann Witowt in bie Wildniß. Der Marfchall zog nad

1) Sigismund war bazu 1108 von feinem Bruder, bem Römifcien gönige Wenzel, ernannt worden und führte diefen Titel auch nach der Abfegung Wenzel und der Wahl Huprespts von der Pfalz weiter, wie ja auch Wengel fortfuhr, fih) Nömifer König zu nennen.

s18 Llbland unb bie Sqhlacht Bei Tannenderg.

farfer Verwüftung des Landes mit großer Beute an Menfchen, Roſſen und Vieh Heimmärts. Der litauifche Gegenzug fiel diesmal aus; Witowt rüftete von nun an ſyſtematiſch für den großen Zuzug zum polnischen Heer.

Am 31. März vollzog ber Hochmeiſter fein Bündniß mit Sigismund. Danach verpflichteten fih der Deutihe Orden und bas Neid) Ungarn für alle Zeiten, einander in jedem Kriege gegen Polen zu helfen und feinen Vertrag mit dieſem Neiche zu Schließen, der ihr Bündniß ſchädigen könnte; insbefondere folle man einander mit ganzer Heeresmacht beiftchn, ſobald Polen die Litauer, Ruſſen oder Tataren zum Kriege heranziehe. In einem Geheimvertrage verpflichtete fich der Hochmeiſter, dem König Sigismund für den Kriegsbeiftend eine Subfidie von 375,000 ungar. Gulden binnen zwei Jahren zu zahlen. Bereits in Käsmark hatte Sigismund erklärt, daß er perfönlich eine Vermittelung zwiſchen dem Orden und Polen⸗Litauen vornehmen wolle. Am 27. April ftellte Wla— dislaw für ihn und ein Gefolge von 1500 Pferden einen Gelcits- brief durch Polen nad) Thorn aus, und Sigismund zeigte darauf dem Hodmeijter an, dab er mit dem Könige von Polen und dem Großfürſten von Litauen am 17. Juni in Thorn erideinen werde und einen endgültigen Ausgleich ficher zu bewirken hoffe.

Am 11. Mai erfdienen, den Beftimmungen MWenzels entfprechend, die Gejandten des Hochmeiſters in Breslau vor ben zum zweiten Schiedstage verfammelten böhmifchen Räten. Aber vergeblidh wartete man auf bie polniihen Geſandten. Am 14. Mai ließen fih die Preußen darüber ein Notariats: inftrument ausftellen und zogen dann nad Prag zu König Wenzel. Diefer ftellte am 4. Juni urkundlich feit, daß König Wladislaw von Polen und feine Bürgen das unbedingte Verſprechen und königliche Wort, ſich dem Scjiebsfpruche zu unterwerfen, ge brochen hätten und infofgebefien nun auch der hochmeiſter und ber Deutjhe Orden nicht mehr an den Schiedeiprud) gebunden jeien. Ein Eilbote benachrichtigte davon den Hochmeiſter und meldete, daß die Polen auf die Vermittelung durch König Sigismund nur zu weiterer Täufdung des Ordens eingingen; ihre in Prag vor kurzem (zu Werbungszweden !) anwejenden Gejandten Hätten öffentlich erklärt, daß der Orden im vorigen Jahr nur durch

Libland und die Schlacht bei Tannenberg. 319

König Menzel gerettet worden fei, daß fie fi) aber nun durch niemand abhalten laſſen würben, an dem Orben endgültig Rache zu nehmen. Zugleich meldeten andere Berichte, daß bie Aufgebote der ruffiihen Provinzen und von dem polenfreunblihen Tataren- horden bereits auf dem Marſche zur Weichſel begriffen feien. Seit Anfang Mai hatte aud) ber Hodmeifter die Söldner- werbungen in Deutſchland vermehrt und beicleunigt und im Lande felbft die nötigen Maßregeln zur Wiederaufnahme des Krieges getroffen. Am 20. Mai hatte er fih mit einem Zirkularfchreiben an bie Fürften in Deutfchland, Frankreich, England und Dänemark gewandt. Im furzer Ueberficht beridtete er, wie ihm Samaiten gegen alle beſchworenen Verträge entriffen und er zum Kriege gegen Polen gegwunden worben fei, unb wie dann der König von Polen das beim Waffenftillftande feierlich gegebene und verbürgte Wort ſchmãhlich gebrochen Habe; der Orben fei aber noch immer zu jedem friedlichen Austrage bereit, der ber Gerechtigkeit feines Befigftandes und ſeiner chriſtlichen Ehre entiprede; in dem Kampf aber, zu bem feine Feinde ihn nun doch zwängen, werde es fid) nicht bloß um die Eriftenz des Deutfhen Ordens in Preußen, fondern um bie wichtigften Intereffen der abendländiſchen Chriftenheit Handeln, die durch das Verhalten ber Polen und Litaner und befonders durch deren Verbindung mit den Ruſſen und Tataren gegen ben Orben aufs ſchwerſte gefährdet ſeien; daher follten bie Fürften dem Zuzuge chriſtlicher Streitkräfte zum Orden nad) Preußen foörderlich und günftig fein. Sechs Tage nad) dem Datum diefes würbig und wahrheitsgetreu gehaltenen Schreibens befiegelte der Hochmeiſter ein Pergament, bei deſſen Anblit man feinen Augen nit trauen möchte. Cs war ein MWaffenftillitand mit Witowt vom 26. Mai bis zum 24. Juni, alfo für die legten vier Wochen des polniſchen Stillſtandesl Was bedeutete die kurze Ruhe an der litauifchen Grenze gegen die Witowt baburd) zugeftandene Sicherheit für feinen Zuzug zum polnifchen Heer? Bielleiht war der Stillftand noch eine Folge der Ratihläge Sigismunds und ber Anfündigung feines Rommens. Wenige Tage ſpäter muß der Hochmeiſter ſchon gewußt haben, daß Eigiomund für eine perlönliche Vermittelung nicht mehr zu haben war. Am 18. Mai war ber Römiſche König Ruprecht geftorben, und das Trachten und Sinnen des Ungarnfönigs war nun der Nachfolge im Neid) zugewandt. Außerdem erwies es fidh,

320 Liobland und bie Schlacht bei Tannenderg.

baß bie mafigebenden ungarifcen Magnaten durchaus nicht gemillt waren, im Bunde mit dem Deutidien Orden einen Krieg gegen Polen zu führen. Da die Polen das wuhten, waren alle Bermit- telungen Sigismunds ausjihtslos. Seine Gefandten verhandelten im Juni vergeblich zuerſt in Krafau mit Wladislaw, dann in Thorn mit dem Hodmeifter. Erſt am 26. Juni, alfo nad) Ablauf des Waften- ſtillſtandes, als die eindfeligfeiten bereits eröffnet worden waren, gelang es ihnen, einen neuen MWaffenftillitand bis zum Abend des 4. Juli zu bewirken. Sie leifteten damit dem polniſchen König einen großen Dienit, denn nun fonnte er am 30. Juni ungefährbet unweit von Ploczt den Uebergang über die Meichfel und die Vereinigung mit bem foeben angefommenen litauiſchen Heere Witowts vollzichn. An ben beiden folgenden Tagen erfdienen bie großpolniſchen Aufgebote und das Heer ber Herzöge von Mafovien, von denen ber eine ſich vor furzem mit dem König ausgeföhnt hatte. Erft am 12. Juli, als das polniich:litauifche Heer ſchon längft auf preußiſchem Boden ftand, richteten die Ungarn ihren legten Auftrag aus: fie überreichten dem König Wladislaw eine Kriegserflärung Sigiomunde aber nicht etwa bie bes Ungarnfönigs, fondern bloß die bes Generalvifars des heiligen Römiſchen Reichs. Was das zu bedeuten hatte, wußten die Polen fehr genau. Der Deutice Orden aber war wieder einmal betrogen worden.

Von der Politit des Deutſchen Ordens in Livland liegen vom Sommer 1409 bis zum Mai 1410 gar feine direkten Nad): richten vor. Aber cs laſſen ih, abgejehen von den argumenta ex silentio, aus den zahlreichen Urkunden, die wir den Handels: begiehungen ber Städte verbanfen, Schluſſe auf fie gewinnen. Im Sommer 1409 waren in Polozf rigifche, in Riga poloztiſche Kaufleute mit ihren Waaren arreftirt worden, was mit Witowts viertem Verrat am Deutjchen Orden zufammenhängen kann. Anfang Auguft, nachdem wohl vor Furzem jener verhängnißvolle Friedensvertrag mit breimonatlicher Kündigungsfrift zwifchen Litauen unb dem Orden in Livland geſchloſſen war, verhandelten in Niga Gefanbte Witowts und ber Polozker mit dem Meiſter und dem rigiſchen Nat. Man Hob auf beiden Seiten den Arreft auf und gewährte den Kaufleuten freien Abzug. Offenbar verbürgte man damals einander die Beftimmung bes Handelsvertrages vom 2. Juli 1406, wonad) ein Krieg zwiſchen dem Deutjchen Orden und Witowt

Liofand und bie Schlacht bei Tanmenberg. 321

den Handel Nigas mit Polozk nicht ftören follte. Im Oftober forrefpondirte ber Großfürit in durchaus freundſchaftlicher Weife mit dem rigiſchen Nat wegen ber Privatllage eines feiner Unter: thanen gegen einen rigiihen Bürger und ſchickle einen Vertreter zur Mitwirkung bei der Urteilsfällung nach Riga. Solchen Hanbis- beziehungen werben bie politifchen damals entiprochen haben. Man hielt an ihnen um fo mehr feft, als die livländiſchen Bezies dungen zu Nowgorod und Pleskau zu größter Vorſicht mahnten. Der Friede mit Pleskau ſtand auf bloß vierwöchentlicher Kündigung, und noch mehr als dort war in Nowgorod der Einfluß ber litaus iſchen Partei ſtark gewachſen. Die Nomgorober hatten dem von Witowt zu ihnen gefhieten Fürften Simeon-Lugwenna mehrere ihrer Beiftädte überwiefen. Dan fürdtete in Livland nit ohne Grund, daß hinter bem allen Verträge Witowts mit Moskau und einem Teil ber Tataren ftänden. Bei jedem Kriege ſchien Livland von einer großen ruffifch:litauifc:tatariichen Invafion bedroht zu fein. Gelang es aber, ben Frieden zu wahren, fo gab es damals für ben Handel die beten Ausfichten. Die fivländifchen Stäbte waren im Begriff, die volle Herrſchaft über das deutſche Hanbels: tontor in Nowgorob und ben dortigen Markt an ſich zu nehmen. Sie benugten den großen Niedergang bes lübiſchen Handels, ber eine Folge der lübiſchen Revolution von 1407 war. Das alte Haupt der Hanfe hatte alle Autorität verloren, und bie Stäbte dachten daran, ein anderes Oberhaupt zu wählen !). Cs ift nicht zu bezweifeln, ba bie fivfänbifden Stäbte alles aufboten, den Deutfchen Orden in Livfand vom Kriege mit Litauen und Polen fernzuhalten. Ihre Mugen und erfahrenen Vertreter, namentlich, die Herrn von Reval, die in ber Livlänbiihen Finanzverwaltung des Ordens eine fehr wichtige Nolle fpielten, wurden ſchon feit langem von der livlänbijhen Ordensregierung bei politiihen Ent: ſchlüſſen zu Rate gezogen. Daß die livländifhen Vaſallen ben fGweren Zeiftungen für einen großen Krieg gegen Litauen Höchft abgeneigt waren, unterliegt auch feinem Zweifel. Dazu fam, daß bie Gerüchte von däniſchen Abfihten auf Harrien-Wirland und Reval durchaus nicht grundlos zu fein fehienen, und der Orben

1) Am 21. Januar 1410 wurde über Lübet bie Reichsacht verhängt. Der Hanfetag zu Hamburg vom 20. April 1410 übertrug vorläufig ber Stadt Hamburg bie Leitung der hanſiſchen Geſchäfte. 4

322 Libland und bie Schlacht bei Tannenberg.

auf eine fehr zuverläffige Haltung ber harrifch-wirifchen Vaſallen und ber Städte Dorpat und Niga nicht rechnen durfte. Im Orben felbft waren bie Weitfalen feit 1397 mit der preußiſchen Volitit immer unzufriedener geworden. Da kann es uns nicht wunder nehmen, daß man beſchloß, ſich aud) um Samaitens willen in feinen großen Krieg hineinziehn zu laifen. Gewiß werben bie rheinlãndiſchen Gebietiger nicht verfehlt haben, einer folden Haltung aufs ftärkfte zu wiberfprechen und darzulegen, daß von dem Beſitz Samaitens die ganze Zufunft des Ordens in Preußen und Livland ebhänge. Aber der Meifter hörte nad) den Erfahrungen, bie feine Nachgiebigkeit während des ruffiihen Krieges gemacht hatte, nicht mehr auf fie).

Mit dem Mai 1410 beginnt wieder die uns erhaltene liv⸗ lãndiſche Korreſpondenz bes Hodmeifters, und wir können nun bie Greigniffe in Preußen mehr vom livländifhen Standpunkte aus verfolgen.

Am 13. Mai teilte ber Hochmeiſter ben livländiihen Biſchöfen lurz die Sadjlage mit: man dürfe nicht mehr daran zweifeln, daß der König von Polen und ber Großfürit Witowt ben Deuticen Orden in Preußen endgültig verderben wollten; er wiſſe ficher, baf Witowt mit feiner ganzen Heeresmadht bem polnifhen Könige zuziehe und fein ganzes Land bis auf zwei Häufer unbemannt zurücklaſſe; daher bitte er die Biſchöfe dringend, auf den erflen Ruf des oberjten Gebietigers in Livland foviel Ritter und Anechte, als fie nur aufzubringen vermöchten, nad) Preußen zu ſchicken; groiefältig werbe er es vergelten. Sicher wurden folhe Schreiben mutatis mutandis aud an bie ftiftiihen und harriſch-wiriſchen Vaſallen und an die livländifhen Städte gerichtet. Am 15. Mai unterrichtete barauf der Hochmeiſter gewiß nicht zum erften Dal in diefem Jahr den Meifter von dem Stande ber politischen Entwidelung und verlangte unbedingt, daß der Meiſter fofort dem Großfürften Witowt ben Frieden kündige und, fobald er bie Nachricht von dem Scheitern ber Friebensverhandlungen zu Thorn

1) Es tann nur als wahrſcheinlich gelten, dal ſich im Innern Ordensrat au Lioland in den Jahren 1409-1411 der Meifter und drei Gebietiger als Weitfalen und der Sandmorfhall (cin uns unbelannter Nacfolger des Meitjalen Bernd Hevelman) und. zwei Gebietiger (Reval und Golbingen) als Rheinländer gegenüberflanben.

Sioland und bie Schlacht Bei Tannenberg. 323

am 17. Juni erhalten Habe, ohne jebe Zögerung mit ftarfen Streitfräften in Litauen einfalle, um die Vereinigung des litau—⸗ iſchen Heeres mit dem polnifchen zu verhindern, was außerdem in Livland an Mannfhaften übrig fei, müſſe fofort nah Preußen abgehen. Dies Schreiben erhielt ber Meifter am 28. Mai. Fünf Tage fpäter antwortete er folgendermaßen: „Wir wollen euer Würden gehorchen bis in den Tod, wenn wir barüber aud ganz Lioland einbühen follten. Wir haben Witowt fofort nad) Empfang eures Briefes geſchrieben, daß für den Fall des Scheiterns eurer Friedensverhandlungen mit ben Polen unfer Friede mit ihm drei Monate nad) dem Tage, an bem er unfern Brief erhält, aufgefagt ift. Das haben wir gethan, weil wir früher eine folde brei- monatliche Frift für jede Kündigung bes Friedens mit ihm abge- macht haben, und aud) damit wir bie begonnene Ausbefferung der an ber Düna gelegenen Schlöſſer möglichft beendigen Tonnen. Wir bitten euer Würden, uns nicht zu verdenken, daß mir nicht nad) eurem Wunſche zwei Gebietiger zu bem Verhandlungstage !) geididt haben. Euer Brief fam dazu zu fpät an, wie überhaupt eure Briefe jept jehr langlam zum livländiſchen Gebiet fommen ; auf unferer Seite wird für bie ſchnellſte Beförderung gefargt 2). Wir erfuhen euer Ehren, uns ausführlih mitzuteilen, welchen Ausgang eure Verhandlungen mit dem König von Polen nehmen.” Wenige Tage fpäter, wohl nad) weiterer Beratung der livländiſchen Gebietiger, ging ein zweiter Brief an ben Hochmeiſter, in bem ber Meifter erklärte, es fei ihm nicht möglid, Mannſchaften nach Preußen zu ſchicken. Auf beide Briefe antwortete ein undatirt überliefertes, aber etwa auf ben 15. Juni anzufegendes Schreiben bes Hochmeifters voll bitterer Nefignation:: „Lieber Herr Gebietiger! Eure beiden Briefe haben wir befommen. Damit ift uns wahrlich fehr wenig geholfen, daß ihr mit einer Friſt von drei Monaten Witowt den Frieden aufgefagt habt. Wir hatten gehofft, ihr werbet fofort beim Ablauf unferes Waffenftillftandes ein Heer in

1) 65 fan ber Berhandlungstag mit Witowt gemeint fein, ber zu bem Stilftande vom 20. Mai führte,

2) Auf alen Ordensfhlöffen wurden Menſchen und Pferde zur ſchnellen Beförderung der amtliden Sorrejpondenzen gehalten. Yon Wenden bis zur Worienburg i. Pr. tonnte ein Brief in 5-7 Zagen gelangen. Der oben Seatmorete Brief des dochneiſters mar aber 13 Tape untemegß.

324 Sioland und bie Schlacht Bei Tannenberg.

fein Land jchiden. Das hätte uns großen Nugen gebradt. Ueber ben Stand unferer Dinge miffen wir euch nichts amberes zu berichten, als daß ber König von Polen unbedingt den Krieg gegen uns führen will und uns verficert wird, Witomt wolle ihm fo ftark, als er vermag, zu Hülfe ziehn. Wir felbft find bereits dem König entgegengezogen. Ihr könnt alfo feine Leute für uns entbehren? Ihr habt aber doch brei Donate Zeit gegen Witowt, binnen welcher Zeit eure Leute ja ebenfo gut wie feine zurüdgefehrt fein Fönnten! Da wir aljo Troft und Hülfe von euch nicht haben können, fo bitten und begehren wir ernſtlich, daß ihr mwenigftens unfer Gefhüg, das wir euch (1408 gegen bie Ruſſen) mit großen Koften gefandt Haben, und bas Geld, das wir euch (damals) gelichen Haben und nun für unfere Söldner braudyen, unverzüglich zurückſchickt.“ Ob bas letzte fofort gefhah, willen wir nit. Ein anderer Brief bes Hodjmeifters, von dem uns nichts überliefert ift, muß Schon etwas früher den Meifter von dem Nichtkommen Sigismunds zur perfönlihen Vermittelung unterrichtet haben.

Schon am 26. Januar 1410 hatte ber livländiſche Stäbletag zu Walk ausdrücklich beſchloſſen, daß das nächſte Ordenskapitel, bas im März zu erwarten war, von jeder Stadt mit zwei Rats— ſendeboten zu befdiden fei. Doch das Kapitel war weber im März nod) in den beiden folgenden Monaten zu Stande gelommen. Da ſchrieb Mitte Juni Neval an Riga, da es nunmehr bie Aus: führung des Walter Beſchluſſes für unnüg halte, weil der Meifter fo fchwer erfranft fei und aud) andere Gründe, über bie man nicht ſchreiben fönne, bagegen ſprächen; es werbe alfo feine Ratsfendes boten zum Kapitel ſchicken. Was ben fürmlichen Beſchluß der Städte!) zur Beſendung des Kapitels, zu ber fie zwar nicht eo ipso verpflichtet waren, die aber menigitens für Riga und Reval meiſt als ſelbſtverſtändlich galt, veranlaßt hatte, erfahren wir ebenfo wenig, als wir bie „andern Gründe” für bie Nicht beſendung fennen, über bie Reval ſich nicht äußern will. Im erften Fall fönnen der beutjche Handel in Nowgorod und Plestau, ben

1) Die Stäbte oder „bie livländiſchen Städte" find zunächſt immer nur die drei großen Städte Riga, Dorpat, Reval, Auf den Stäbtetagen hatten bie Vertreter der Heinen Städte wohl aud Sig und Stimme, aber nad auswärts handellen und entſchieden nur bie drei großen Städte.

Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 3235

Witowt beftändig zu untergraben bemüht war, ober bie Komplika— tionen, bie fih aus ber über Lübeck verhängten Neichsacht ergaben, oder der Handelsvertrag, über ben ber Hochmeiſter damals mit England verhandelt Hatte, bie Veranlajjung bazu gegeben haben; im zweiten Fall, bei der Nichtbefendung, mag Neval eine Erör- terung ber Forderung bes Hochmeifters, daß auch bie livländiſchen Städte, insbejondere Neval, eine Stadt des Hodmeifters, Gelb und Mannihaften zur Verteidigung Preußens hergäben, haben vermeiben wollen. Die Forderung war um fo unangenehmer, ba der Meifter am Kapitel nicht teilnehmen konnte und fein Stell vertreter, der Landmarihall, ein NHeinländer war, der gewiß aufs f&härffte für den Hodmeifter eintreten wollte. Wie es ſcheim— fürgtete man, daß ber Meifter fterben werbe und fein Nachfolger ein Aheinländer fein könne. Warum aber hatte Konrad von Vitinghofe das Kapitel, auf dem dod über bie Gtellung zur preußifchen Politif, über die Forderungen bes Hochmeiſters end: gültig zu entſcheiden war, fo lange hinausgefhoben, warum hatte er fich bei der Beantwortung ber Briefe des Hodjmeiflers offenbar nur mit Gebietigern feiner Wahl beraten? Hatte er ben Kampf mit den Rheinländern im Kapitel vermeiden wollen? Wir dürfen es nur vermuten. Jetzt lag er ſchwer frank banieder, und nun erft um bie Mitte bes Juni war das Kapitel berufen worden, doch wohl von feinem Stellvertreter, dem Landmarſchall. Es ift dann aud) nicht gleich, fondern erft zwiſchen dem 25. Juni und bem 25. Juli abgehalten worden, wie wir aus den rigiſchen Rämmerei- tehnungen erjehen, bie für biefe Zeit die Ausgaben ber rigiſchen Ratsfendeboten zum Kapitel in Wenden verzeichnen. Wir werden uns den Gang ber Dinge folgendermaßen zu benfen haben. Meifter Konrad von Vitinghofe hatte fi, geftügt auf bie weftfäfifche Majorität im Orden zu Livland wie auf bie allgemeine Forderung ber livländiſchen Landesftände, dazu entſchloſſen, bie Verwidelung Livlands in einen preußiid:polnifhen Krieg zunächſt mit allen Ditteln zu verhindern. Dan erwartete übrigens offenbar in Livland, baf es den luremburgiſchen Vermittelungen gelingen werbe, ben Krieg mindeſtens hinauszuidieben, ober daß es im fhlimmiten Fale fein Krieg mit rafcen Entfcjeibungen fein und man noch Zeit genug zu Interventionen haben werde; man recjnete wohl aud) ſchon jegt mit einer Entzweiung der Litauer und Polen.

326 Lioland und die Schlacht bei Tannenberg.

Da erkrankte in ber erften Hälfte des Juni ber Meiſter ſchwer, und aus Preußen fam die Nachricht, daß König Sigismund die perſönliche Vermittelung aufgegeben habe, König Wladislaw aber alle polnifhen Streitkräfte und viele auswärtige Söldner zur Weichſel nad) Kujavien dirigire und Witowt die gefammte litauiſche und weißruffiihe Macht wie auch tatarische Hülfsvölfer zum Zuzuge am Narew fonzentrire. Unter dem Eindrud dieſer Nachrichten berief der Landmarſchall als Stellvertreter des Meiſters das Orbensfapitel zu einem Termin, wo man Nadrichten von den erften Ereigniffen nad) dem Ablauf des preußiſchen Woffenft ftandes haben mußte, alfo eiwa zum 10. Juli. Cs fam dann bie Meldung, daß ber Krieg wirklih am 25. Juni begonnen habe, die ungariichen Gejandten aber am folgenden Tage noch einen legten Stillftand bis zum Abend bes 4. Juli bewirkt hätten; es folgte wohl auch ſchon die Nachricht, daß Witowts Heer an ber Weichfel angelangt fei und fih am 30. Juni mit den Polen ver« einigt Habe. In biefer Zeit iſt das lvländiſche Orbensfapitel abgehalten worden. Es beſchloß, daß ein livländiiches Heer zum Zuge nad; Preußen fofort ausgerüftet werden müſſe. Diefen Beſchluß entnehmen wir ber Thatſache, daß König Wladislaw am 7. Auguft vor der Marienburg i. Pr. die Meldung hatte, die Zivländer hätten gerüftet und würden demnächſt über bas kuriſche Haff nad) Königsberg kommen. Die livländiſche Nüftung wird aber noch nicht vollendet gewejen fein, als etwa am 25. Juli bie ſchreckliche Kunde von der Schlacht bei Tannenberg in Livland eintraf.

Durd) die bis zum letzten Augenblid fortgejegten Verhand— tungen Hatte ſich der Dochmeiſter in eine für ben Orden Hödhft nachteifige Defenfive drängen laſſen. Statt fofort am 25. Juni dem aus dem Süben zwiſchen Weichſel und Warte Heranziehenden Heer bes Königs in Kujavien entgegenzurüden und vor deſſen Uebergang über die Weichſel und der Ankunft ber Litauer einen Kampf zu erzwingen, deſſen Ausgang kaum zweifelhaft geweſen wäre, hatte der Hodmeifter die Eroberungen vom vorigen Jahr aufgegeben und war auf eine 1Otägige Verlängerung des Still: ftandes eingegangen, die dem Feinde Zeit gab, alle feine Kräfte zu vereinigen, die zum Einbruch in Preußen geeignetite Stelle zu wählen und ungeftört zu ihr vorzurüden. Er felbft begnügte

Libland und die Schlacht bei Tannenberg. 327

fi damit, im Kulmer Lande bei der Engelsburg alle verfügbaren Aufgebote des Landes und bie bisher aus Deutichland angelom- menen Söldner und fremden Ritter an ſich zu ziehen.

Zum Schutze Pommerellens blieb Heinrich) von Plauen, ber Komtur von Schweg, mit einer ziemlich ſiarken Mannſchaft links von ber Meichiel jtehen; er jollte die Söldner und Nitter wie die Mannſchaften bes Deutjcmeifters aufnehmen, die noch aus Deutſch⸗ land unterwegs waren. Weiter im Weften ſtand das neumärkiſche Aufgebot unter dem Vogt Kuchmeiſter. Im Oſten hatten die Hut der litauifhen und maſoviſchen Grenze die Komture von Memel, Ragnit und Nhein. Als nun gemeldet wurde, daß das feindliche Heer bie Grenze des öftlihen Kulmer Landes überſchreite und offenbar über die Dremenz fegen wolle, führte ber Hodmeifter fein Heer an biefen Fluß und befefligte die Uebergänge bei Kavernik aufs ſtärkſte. In größter Eile wurde dazu das ſchwere Geihüg aus der Marienburg und andern Schlöffern herbeigeſchafft. In der That erſchien aud) der Feind vor Kavernif. Als er aber bie Stärfe ber preußiſchen Stellung erkannt hatte, trat er fofort den Nüdzug an, um fid) dann öſtlich von ber Stabt Lautenburg wieber nad) Norben zur Umgehung ber Drewenzitellung zu wenden. Bei Sautenburg überreichten die ungariihen Gefandten am 12. Juli dem polnischen König die famoje Kriegserklärung Sigismunds, bes Röomiſchen Reichsvilars. Wie es ſcheint, Hat der Hochmeifter auch noch das Refultat diefer Komödie in refervirter Haltung abwarten wollen. Er war, ber Wendung des Feindes entſprechend, von Kavernif norboftwärts nad) Löbau gezogen. Hier erreichte ihn am 14. Juli die Kunde, daß ber Feind bie von ber geflüchteten Landbevölferung überfüllte Stabt Gilgenburg genommen Habe und Litauer und Tataren die gefammten Inſaſſen ohne jedes Anfehen von Alter und Geſchlecht in greuelvolliter Weiſe hingefchlachtet hätten. Von Zorneswut entbrannt, beſchloß der preußiſche Kriegsrat nun, fofort den Feind aufzuſuchen. Am 15. brach man mit Tagesanbrud auf und legte im Eilmarjd drei Meilen ojtwärts zurüd. Bei den Dörfern Grünfelde und Tannenberg wurde man des Feindes anfihtig. Polen und Litauer zogen durch ein hügeliges und mit Wald beftandenes Terrain heran. Zwiſchen biefem und ben Dörfern erftredte fid) ein weites Feld. Im Hinblid auf bie Schwierigkeiten jenes Terrains und die Ermüdung des eigenen

328 Lioland und die Schlacht bei Tannenberg.

‚Heeres durch ben Eilmarſch unterließ der Hochmeifter einen fofor- tigen Angriff, obgleich bie Feinde offenbar auf eine fo raſche Begegnung ganz unvorbereitet waren. Das Orbensheer fammelte fi) und hielt länger als drei Stunden im Angefiht des langſam vorrücenben Feindes. on den überlieferten Angaben über bie Stärke der beiberfeitigen Heere, bie nur ungeheuerliche Nebertreibung erfennen laffen, müffen wir ganz abiehen. Mir fönnen aber annähernd mit großer Wahrſcheinlichkeit das polnifg-litauifche Heer auf 85,000, bas Ordensheer auf 40,000 Diann ſchätzen. An eigener ſchwergerüſteter Neiterei war ber Orden überlegen, bei den Polen überwog wohl bie Zahl der fampfgeübten Söldner. Sein ſchweres Geſchütz hat der Orden gewiß nur zum kleinſten Teil heranbringen können, von einem folden war aber aud) auf ber feindlichen Seite nicht die Nebe. Die Qualität der Infanterie und ber leichten Reiter war, abgejehen von ben Göldnern, auf des Ordens Seite eine bedeutend beſſere, jo ungleich aud) bie Zahl war.

Die polniihe Schladhtleitung ließ ihren rechten Flügel, der, an Zahl ben linfen überwiegend, aus Litauern, Weigruffen unb Tataren beftand, zuerit auf das Feld vorrüden. Während deſſen überbradhten zwei vom Oberjten Orbensmarfchall gefandte Herolde bem polniſchen König zwei bloße Schwerter als rittermäßige Auf forderung, aus dem Walde auf das Feld Hervorzufommen, wo der Orden ihn erwarte. Gleich darauf es war ſchon gegen Mittag erfolgte ber Zuſammenſtoß ber „Heiden und Irrgläubigen“ mit bem linfen Orbensflügel, auf bem unter dem Banner des heiligen Georg bie fremden Nitter und Söldner des Ordens neben preu— Bilden Bannern fochten. Es gab eine raſche Entſcheidung. In wilder Flucht löſten ſich die feindlichen Maſſen auf und wurden mit hihiger Erbitterung verfolgt. Unterbeffen war auch der rechte Flügel des Feindes, die Polen, auf bas Feld gerüdt. Auf ihn warf fid) der Hochmeifter mit bem Kern feines Heeres, ber ſchweren Drbengreiterei. Aufs härtejte entbrannte dort ber Kampf. Die führenden Gebietiger, der Hohmeifter an der Spitze, ſchlugen ſich dreimal mit folder Macht durch die feindlichen Reihen, daß zulegt die Polen wien. Schon eridallte der Siegesfang des Orbens: „Chriſt iſt eritanden.“ Da fahen ſich die vom furdtbaren Kampf ermüdeten Sieger auf beiden Seiten aufs neue angegriffen: auf ber einen Flanke von hen bisher noch nicht im Treffen geweſenen

Liobland und bie Schlacht bei Tannenberg. 329

„Gäſten und Sölbnern des Königs”, Böhmen, Mähren, Schlefiern und Ungarn, unter benen gewiß; auch beutfche Ritter und Rnechte nicht fehlten, auf der andern von auf der Flucht gefammelten und wieber zurücdgeführten, vielleicht auch noch in Referve gehaltenen Titauifchen, weißruſſiſchen und tatariihen Scharen Witowts. Wohl waren verjchiedene Abteilungen bes auf der Verfolgung zerftreuten linfen Orbensflügels zurüdgefehrt, um fih am Kampf des rechten Flügels zu beteiligen. Dafür griffen aber aud) die zurückkehrenden Volen von neuem an. Enticeidend ſcheim gemefen zu fein, ba& im kritiſchſten Moment die Neferven bes Ordens verfagten. „Einige Böfewichte, Ritter und Knechte des Landes Kulm, unter brüdten das kulmiſche Banner!) und aud) andere Banner, die da flüchtig wurden.” Die Hejerve flüchtete, ftatt jet mit allen Kräften ben verzweifelt gegen bie Uebermadit ringenden Scharen des Hodjmeifters und der Gebietiger Luft zu machen. Es folgte bie Kataſtrophe. „Die Feinde Hatten es vor allem auf bie Orbens- brüber und deren Roffe abgefehen.“ Mit Ulrich von Jungingen fielen ber Großfomtur Runo von Lichtenftein, der Oberſte Marſchall Friedrich von Wallenrobe, der Oberfte Trapier Albrecht Graf von Schwarzburg, ber Oberſte Tresler Thomas von Merheim, elf Komture und zwei Wögte Preußens, im Ganzen aber 203 Nitter- brüber Deutſches Ordens. Die beiden Hauptfahnen Preußens, die bes Hochmeifters und bie des gefammten Deutichen Orbens, fanten in den Staub. So lragiſch mußte bie perfänliche Tapferkeit der Gebietiger Preußens den Mangel an ftaatsmänniihem und ſtrategiſchem Geſchick ſühnen. Nur ein einziger Gebietiger, und zwar ber tapferften einer, murbe lebend gefangen genommen: Markward von Salzbach, der Komtur vom Schloſſe Brandenburg, ben Witowt einft feinen beiten Freund genannt, bann vergeblich, zum Verrat am Orden gelodt Hatte und nun tödtlich haßte, weil Markwarb ihm in öffentlicher Werfammlung ins Geficht gejagt hatte, da er ein vielfadher Verräter am Orben fei. König Wladislaw ließ ben Gefangenen fofort Witowt übergeben, und dieſer überlieferte ihn mit der Gefinnungsbrutalität eines echten Barbaren noch auf dem Schlahtfelde bem Henker. Nur brei

9) Dies führte Nitolaus von Renys, Mitglied des Nitterbundes ber Eidechſengeſellſ haft. Der Hodmeifter Deinrich von Plauen ließ ihn 1411 nad) dem Sprud) einer Ritterban in Graudenz hinrichten

330 Sioland und bie Schlacht bei Tannenberg.

Gebietiger retteten fih durch bie Flucht: ber alte Werner von Tettingen, Oberfter Spittler, Friedrich Graf von Zollern, Komtur zu ber Balge, und Johann von Schönfeld, Komtur von Danzig. Ein Teil ber Flüchtigen leiſtete noch einen furzen verzweifelten Widerftand in der Wagenburg des Ordenslagers. Dann ergoffen ſich die Greuel ber Verfolgung, Mord und verwüftende Plünderung, vom Schlachtfelde in die weitere Umgebung. Eine ungezählte Menge erlag der feindlichen Wut auf ber Flucht ohne Gegenmehr. Aber der Verrat in der Schlaht und die Panik der Flucht verblaßt vor dem treulofen Abfall nad) ber Schlacht. „Ein großer Iammer ging über al das Sand zu Preußen, da Nitter und Nnechte und bie größten Stäbte des Landes zum König von Polen übertraten. Gie trieben die Ordensbrüder von den Weiten und überlieferten biefe bem König, dem fie für Briefe, Gefübde und Gaben Mannſchaft und Treue ſchwuren. Don fo großer Untreue, von fo ſchnellem Verrat iſt in feinem Sande je gehört worden.“ Das gewiß fehr begründete Entjegen vor ben unmenſchlichen Greuelthaten der „Heiben“ reiht lange nit aus, einen berartigen Abfall zu erklären; aber aud ber entſchuldigende Hinweis ber Spätern, daß die Ordensregierung durch ihre Fehlgriffe die Treue ihrer Untertanen felbft untergraben habe, fann uns nicht davon abhalten, mit bem zeitgenöffiichen Orbenschroniften bie ganze Abſcheulichteit einer fo Fraß und jäh offenbarten Untreue zu empfinden. Auf Seiten ber Polen war es eine feine Berechnung, der Wut litauiſcher und tatariſcher Graufamfeit nur bort Grenzen zu ziehn, wo der Abfall und Uebertritt zum König von Polen förmlich vollgogen wurde. Sie wollten ſich dadurch für die Zufunft das Land möglichft weit vor litauiſchen Anfprüchen fihern. Man beeilte fi), dem König zu Huldigen, um ben Anfprüden des Heiden ober böfen Ehriften Witomt zu entgehen. Dan glaubte aber auch, je raſcher und freiwilliger man den Abfall vollziehe, bejto größer würden die materiellen Vorteile fein, die der König in feinen überall Hin verfandten Aufrufen freigebig verſprach. Der ſchmahlichſte Verrat war der von Elbing und Danzig verübte, die beide nicht unmittelbar bedroht waren und ben ftärfiten Widerftand leiften tonnten. Die Glbinger vertrieben ben alten Tettingen mit ber Befagung der Burg und nahmen bie aus Schloß Valge gefandte Verftärfung gefangen; in Danzig trieb ber Pöbel bie dort

Lioland und die Schlacht bei Tannenberg. 331

erſchienenen Flüchtlinge und Perwundeten von Tannenberg aus der Stabt und ermordete viele von ihnen. Am 10. Auguft hielten Thorn, Elbing, Braunsberg und Danzig als geſchworene Städte des polniſchen Königs in deſſen Lager vor der Marienburg einen Städtetag und bettelten um Vermehrung ihrer Privilegien. Die geiftlihen Herrn famen unter ber eifrigen Führung bes ermlän- diſchen Biſchofs den Stäbten noch zuvor. Schon am 27. Juli hatten ſich alle vier Biihöfe!) mit ihren Domtapiteln und jämmt- lichen Unterthanen dem König unterworfen. Sie Huldigten perfönfih und urfundeten darüber. Unter ben Vafallen gingen natürlich die des Kulmer Landes voraus, bei denen in Erjehnung der „abeligen Freiheit“ Polens ſchon längit der Verrat geiponnen war. Es folgten bie von Pomefanien, Pogefanien und ben pom⸗ merelliſchen Gebieten an der Weichſel. Aber auch in ben Gebieten von Vraunsberg, ber Balge, Allenftein, Naftenburg und andern nieberländifchen gab es im Auguft ſchon Vaſallen, die fih von den borthin gefanbten Agenten Witowis gewinnen ließen. Denn dieſem hatte der König das noch nicht eroberte Oftpreußen zumeifen müffen, obgleid) die polniſchen Magnaten entſchloſſen waren, alles aufzubieten, um fpäter aud dies Land zu Polen zu fchlagen. Zunachſt war aber nod) der gute Wille Witorts zum Rriege zu erhalten. Unter ben Orbensbrübern felbit fehlte es leider auch nicht an folgen, die von Schreden getrieben ihre Burgen dem Feinde ohne Kampf überliefen. Aus bem Verrat und Nbfall, der Panik und Dlutlofigkeit erhob ſich nur eime Helbengeflalt. Heinrich von Plauen, der Komtur von Schweg, erkannte fofort, als die Schredenskunde von Tannenberg ihn ereilte, daß es ſich jett vor allem um bie Rettung der Marienburg handeln müſſe. Fiel aud) diefe, jo war nad menſchlichem Ermeſſen die Ordens- berrihaft in Preußen verloren. Der Mut und bie Energie, womit Heinrich von Plauen nun ans Werk ging, haben ihm für alle Zeiten einen Ehrenplag in ber Gedichte ber beutjchen Nation, des Landes und des Ordens gefihert. Er hatte das Glüd, einen Dann von fühnem Mute und langjähriger Kriegserfahrung neben ſich zu Haben, feinen Vetter Heinrich den eltern, Herrn zu Plauen, der dem Orden zu Hülfe gezogen, aber für Tannenberg zu ſpät

3) Dit Ausnahme des Ermländers und feines Kapitels waren fie wie alle ihre Domheren Brüder des Deutihen Ordens.

332 Livland und die Schlacht bei Tannenberg.

angefommen war. Mit ifm unb einer fleinen Kernſchar feiner pommerelliichen Mannſchaften kam der Komtur am 18. Auguft in der Marienburg an. Zur Verteibigung ber großen Burg fehlten Mannſchaften, Geihüge und Proviant). Trog alles Abfalles unb Verrates brachten die beiden Heinriche es fertig, in fieben Tagen die Burg mit allem Nötigen auszurüften. Die anweſenden Nitterbrüber ermählten darauf den Komtur von Schwetz zum Statthalter des Hodmeifters. Als am 25. Juli Wladislaw und Witowt mit ihrer ganzen Heeresmacht anlangten, fanden fie bie rauchenden Trümmer ber niedergebrannten Stadt, die Marienburg ſelbſt aber zu fchärfiter Gegenwehr gerüftet. Cie war num ber einzige Felſen im Lande, ber den ringsum brandenden Wogen ber jeinblicjen Heerſcharen wiberitand.

Das waren die Ereignifie, beren Kunde feit dem 25. Juli mit allen Webertreibungen und Verzerrungen ber Furcht und bes Schredens von Preußen her, bes triumphirenden Deutfchen- und DOrbenshaffes von Polen und Litauen her nach Livland kamen. Sie mußten dort auf alle Deutſche einen tiefen Eindruck maden, in den Orbenskreifen aber die größte Aufregung hervarbringen. Die Gewiffen der livländiſchen Ordensbrüder waren vor eine ſchwere Verantwortung geitellt, denn fie traf bie Frage, in mieweit ihr Ungehorfam gegen die Befehle des Hodmeifters mit zu ber furchtbaren Rataftrophe in Preußen beigetragen Hatte. Damit verband fid) die zweite Frage: war Livland gegen einen Feind wie Polen⸗Litauen überhaupt noch haltbar, wenn biefer Feind Preußen erobert und zu feinem feften Befig gemacht hatte? Da fonnte aud bei ben Wetfalen die Antwort nur lauten: „mir müfjen von Preußen retten, was noch zu reiten irgenb möglich ift.“ Freilich mußte man in Livland jegt mehr als je auf bie Sicherheit bes eigenen Landes bedacht fein. Hatten der polnifhe König und Witowt ſich doch Schon bisher die größte Mühe gegeben, Livland in einen neuen ruffichen Krieg zu verwideln. Drohte ein folder, fo waren aud bänifhe Einmiſchungen zu erwarten. Bor allem aber lief in ben erften Tagen des September die dreimonatliche

1) Ufrid) von Jungingen hatte daS ſchwere Geihüß und viel Proviant nad) Navernit bringen laffen, wo alfeß den Polen in die Hände gefallen mar. Die Bolen Hatten mun zur Belogerung der Marienburg einen Ucberfluß an Geſchut.

Lioland und die Schlacht bei Tannenberg. 388

Kündigungsfrift gegen Litauen ab, und man mußte bann auf Angriffe von borther gefaßt fein. In Preußen aber fonnte nur noch mit einer größern Heeresmacht geholfen werden. Daher mußte ſchleunigſt die Rüftung bedeutend ermeitert werben. Die livlãndiſchen Schlöffer waren mittlerweile befeftigt und ausgerüftet worden; man that nun aud) Schritte, um für die Zeit ber Abwefenheit bes livländiſchen Heeres eine genügende Zahl von Söldnern ins Land zu ziehn. Die Führung bes Hülfsheeres übernahmen ber Landmarſchall und ber Komtur von Goldingen !). Die Stellvertretung bes Meiſters, deſſen allmähliche Genefung nun doch erwartet wurde, ging an Dietrich Torf über, ben Komtur zu Sellin. Wie wir annehmen müſſen, erfolgte der Aufbruch) nad) Preußen um ben 15. Auguſt von einem Sammelplag in Gebiet Grobin aus. Um ben 25. Auguft jpäteftens müfjen bie ioländer in Königsberg angelangt fein. Cine Störung ihres Marſches durch ben Feind erfolgte nicht, obgleich König Wladislaw ſchon am 7. Auguft Maßnahmen zu treffen gebachte, um „Die Schifffahrt der Bewaffneten aus Livland beim Hafen Diemel, durch den fie zum Schutze bes Schlojjes Königsberg kommen wollen, zu hindern.” Dagegen erhielten fie in Preußen, wohl nod vor ihrer Ankunft in Königsberg, Briefe bes polnifhen Könige unb MWitowts. Was der König ihnen vorſchlug oder wie er ihnen drohte, willen wir nicht; Witowt aber ſprach ihnen fein Erftaunen über ihren Zug aus, da doc) zwiſchen feinen in Litauen und Nuß- land zurüdgelaijenen Qauptleuten unb ben livländifhen Ordens:

1) Es ift bisher nicht gelungen, die Namen ber beiden Gebietiger, bie in dieſem Jahr eine für die Goſchichte Liolands und Preubens wichtige Rolle gefpielt Haben, zu eruiren. Dlagoh erzählt, dafı der livlandiſche Meifter felbft ſcon jept nad Preußen gefommen fei, und nenut ihn „Hermannus de Wintkinszend”. Auf diefe Konfufion fönnte man bie Vermutung gründen, daß der Sandmarfchalt Hermann Binde hieh. Er wäre mit dem Ordensvogt dieſes Namens zu ibentis figiren, der uns 1301 zu Wefenberg, 1308-99 zu Jerwen begegnet, dann aber verfhmindet. Seine weitfälifche Abftammung braucht bie rheinfändijgpreußifche Parteiſtellung nicht auszufcliehen. Früher hat man ben alten Landmarſchall Bernd Hevelman, defjen Name 1404 zum lehien Mal erſcheint, für den Führer des lioländifchen Heeres im Jahre 1410 gefalten. Das fcheint mie in Ueberein. ftimmung mit den Unterſuchungen Arbuſows nicht mehr möglich zu fein. Eher mürde ich in dem Komtur von Goldingen den ſchon 1307—89 für Gofbingen genannten Meinhard Grafen von Eberftein fehen. Ein feeinbar in die Zwiſchen zeit fallender „Komtur Jakob“ ift wohl recht apokryph.

334 Libland und die Schlacht bet Tannenberg.

gebictigern ein fefter Friede auf 10 Wochen abgeſchloſſen fei; er verlange, bah fie fi dieſem Frieden gemäß; verhielten. Die beiden Gebietiger ſchrieben zunächſt an ben Biſchof Heinrich von Ermland, den Dann, der fpäter vom Orben als der gefähr- lichſte „Erzverräter” bezeichnet wird, unb baten, der Biſchof möge eine Zufammentunft zwiſchen ihnen und dem polnifchen Könige und Witowt vermitteln. Zur felben Zeit meldete man ihnen, daß Witowt mit dem litauiſchen Heere von der Marienburg gegen fie aufgebroden jei. Am 4. September fchrieben fie darauf aus Königsberg mit großer Höflichfeit und Beſcheidenheit bireft an Witowt: der 10wöchentliche Friede, von dem ber Großfürſt ſchreibe, könne nur nad) ihrem Abzuge aus Livland geſchloſſen fein, da fie von ihm nichts wüßten; fie hätten des Großfürſten Brief Tofort an ihren Meifter nad) Livland geſchickt und erwarteten deſſen Befehle; ber Großfürft möge entſchuldigen, daß fie inzwifchen in Preußen nad) ihrem Gehorſam hanbelten, da fie doch „deilelben“ Ordens feien; mit ganzer Demut bäten fie den Großfürſten, barmherzig zu fein und das arme Land nicht fo ganz zu befchädigen und den Orden nicht völlig zu verderben, ſondern fieber auf gute bequeme Mittel zu benfen, wofür ihm gewiß Gottes Lohn zu teil werden würbe; fie hätten ſchon längit dem König und dem Großs fürften geantwortet, wenn fie nicht gehofft Hätten, mit beiden mündlich verhandeln zu können.

Die Ankunft der Livländer wirkte in Dftpreußen mächtig. „Daburd) gewannen die Niederlande ein Herz und Mannheit und warfen fih zu Hauf wider bie Feinde.“ Dem Treiben der im Lande umbherziehenden polniſchen und litauifhen Agenten wurde ein Ende gemacht, und man begann überall energifc den Wider: ſtand zu organifiren. Neben bie livländiſchen Führer traten bie Komture von der Balge und von Nagnit, Friedrich von Zollern und Eberhard von Wallenfels. Man zog die Nefte ber preußiichen Streitkräfte zufammen und bewaffnete die zuverläfiige Bevölkerung. Nachdem der Brief an Witowt abgegangen war, fonnte man mit ftarfer Macht den Litauern entgegenziehn, Diefe hatten aber ſchon an ber Paſſarge Halt gemacht. „Der Biſchof von Ermland Hatte Witowt vor dem Weiterziehn gewarnt." Es fam zu feinem Kampf. Am 8. September ſchloß Witowt auf einer Zuſammen- kunft mit dem Komtur von Goldingen in der Nähe von Barten

Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 335

einen I4ägigen Waffenftillftand ab. Er übernahm dabei, einen Brief bes Komturs an den Hocdmeifter-Statthalter fofort nad ber Darienburg zu fenden. Der am Abend beifelben Tages „im Heere zu Bardyn“ gefchriebene Brief lautet: „Willet, daß mir heute mit dem Großfürſten Witowt einen feften Frieden auf 14 Tage geſchloſſen haben. Er gift für ben König, den Groß— fürften und die Herzöge von Mafovien einerjeits, für die Lande Elbing, Chriftburg, Oſterode), Balge, Brandenburg, Königsberg und Samland mit allen Hinter- und Niederlanden andrerfeits. Ausgenommen find aljo Marienburg und das Oberland ®). Die Gebietiger von ber Valge, der Landmorſchall, wir felbſt unb andere, mit deren aller Nat und Willen der Friebe geſchloſſen ift, haben zu einer Zufammenfunft mit euch in der Marienburg für breihundert Pferde Geleit erhalten und wollen am 14. September bei euch fein.“ Witowt zog num mit feinem Heere zur Marienburg zurüd, und ber König beftätigte den Stillitand. Die Zufammen- tunft der Gebietiger in der Marienburg fand ftatt, wobei natürlich auch weitere Verhandlungen mit Wladislaw und Witowt geführt wurden. Bon diefen Verhandlungen der Gebietiger unter einander wie mit den Feinden ift uns aber nichts irgendwie Glaubhaftes überliefert worden. Sicher ifl, ba es mit ben Polen zu feiner Verftändigung kam. Die Thatfachen reden weiter. leid) nachdem die Gebietiger die Marienburg verfajlen Hatten, ſpäteſtens am 17. September, zog Witowt mit der ganzen litauifchen Heeresmacht ab, um durch Mafovien in die Heimat zurüczufehren. Zwei Tage fpäter zogen aud die mafovifchen Herzöge mit ihren Scharen Heimmärts. Der polnifhe Kanonikus jagt, alle Bitten und Ver: ſprechungen bes Königs feien nun bei Witowt vergeblich gewefen ; er habe behauptet, nicht zulaffen zu dürfen, daß fein ganzes Heer durch bie herrſchende Dysenterie zu Grunde gerichtet werde; in Wirklichkeit aber fei er abgezogen, weil die Hinterliftigen Lioländer das ihm Schon von Sigismund in Käsmark eingeträufelte Gift jeßt fo teuffifch vermehrten; fie Hätten ihm nämlich ben Befik Samaitens für alle Fälle zugefihert und ihn fürchten gemacht, da die Fortfegung des Krieges nur zu einer ausfhlichlicen Ver-

9) Diefe drei Gebiete waren im Beſitz der Polen. 2) Aljo Bommerellen, alle Gebiete an der Weichſel und das Rulmer Land.

836 Lioland und die Schlacht bei Tannenberg.

größerung ber polnifhen Macht und zur äuferften Gefährdung feiner Stellung in Litauen führen werbe.

Es ift felbftverftänblih, baf die Helbenmütigen Verteidiger ber Diarienburg fid) gegen die foviel kleinere Feindesmacht mit der fihern Ausfiht auf Entfag nad Ablauf des furzen Etillftandes jegt erft recht aufs entſchloſſenſte hielten. Die Livländer hatten fie, wie Diugoß fagt, fo Hartnädig, arrogant und eklig gemacht, daß fie von allen Friedensbedingungen, um bie fie früher doch felbit gebeten hätten, nichts mehr willen wollten. Die Stellung des Königs vor ber Dlarienburg wurde von Tag zu Tag bebenflicyer. In feinem eigenen Heere wüteten Krantheiten, und nahm bie Disziplinlofigfeit beftändig zu. Im gangen Oſten wurde aufs eifrigfte gegen ihn meitergerüftet, und im Meften zog Michael Kuchmeiſter, ber Vogt der Neumark, mit verftärfter Mannſchaft heran ; dort fammelten ſich überall Ritter und Göldner aus Deutſchland, bie jegt weniger die Not des Ordens als der in reihem Maße verheijene und immer mehr gefidert ericheinende Lohn Herbeirief. Unter folhen Umftänden fonnte bem König bei längerm Zögern nur zu leicht der Rückzug abgeſchnitten werben. Eine zweite Hauptſchlacht konnte ihm dann biefelbe Vernichtung bringen, mit ber er ben Orden bei Tannenberg getroffen hatte. Darauf wollten Wladislaw und fein polnifder Rriegsrat es nicht ankommen laſſen, zumal jegt aud die Drohungen Sigismunds von Ungarn ernfter zu nehmen waren. Am 22. September, an dem Tage, an bem ber Waffenftillitand mit ben Livländern und öftlicen Preußen ablief, brach aud der Polenfönig mit feinem ganzen Heer zur Heimat auf, vieti magis quam vietoris in patriam referens formam, wie der polniſche Kanonikus voller Grimm Hogt. Die ftolge Marienburg war wieder frei.

Litteräriigen.

TH. Lindner, Weltgeicichte feit der Wölferwanderung. Zweiter Band. Stuttgart und Berlin. Cotta Nachfolger.

Der zweite Band*) ber Weltgeſchichte umfaßt ben Zeitraum von c. 900 bis c. 1230, ohne daß biefe Grenzen genau inne gehalten werben; er enthält ben „Niedergang ber italieniſchen und byzantinifhen Kultur“ und die „Bilbung der europäiſchen Staaten“. Es find alfo in ihm auch die Kreugzüge und die Geſchichte Nuflands bis zur Mongolenherrſchaft enthalten. Natürlich war es ſchwierig, biefer gewaltigen Aufgabe auf 467 Seiten geredht zu werben, und die Eingeldarftellung hat bier fait noch mehr als im erften Bande zurüdtreten müſſen. Indeſſen hat fih dod Raum gefunden, wichtigeren Vorgängen und Perfönlichleiten etmas mehr lag einzuräumen. Vefonbers gelungen ift die glänzende Schil- derung ber Individualität Friedrichs I. (S. 370), aber auch den PVäpften erften Ranges, namentlich Innocenz III. ift ber Verfaſſer volllommen gerecht geworden, wie er benn überhaupt ben unver meidlichen Konflift von Kirche und Staat (Abſchn. 15, 16) fehr anſchaulich motivirt und dabei ausdrücklich betont Hat, daß Dtto I. weſentlich zur fpäteren Ueberhebung bes SPapittums beigetragen hat. Gleich im erften Abſchnitt ergeht ſich der Verfaſſer in einer berebten, ja begeifterten Verherrlihung ber arabichen Bildung und Xeiftung während ber Blütezeit biefes Volfsftammes; aber auch die viel geſchmähte byzantiniſche Kultur findet ihre Rechtfertigung und Anerfennung. Der großen Bewegung, welche Yunberttaufende in das gelobte Land und nur allzu oft ins Verderben getrieben hat, fteht ber Verfaſſer fühl gegenüber und fieht das Scheitern biefer verworrenen Strömung ſchon in ihrer Entftehung begründet ; zumal bie beiden Gemalten, denen hauptſächlich am Gelingen ber Kreuszüge hätte gelegen fein müſſen, Kaiſer und Papft, nur allzu oft ſich geflifentlicd) entgegengearbeitet haben. Die legten Abſchnitte (18—20) behandeln den ftandinavifhen Norben und die Nusger

*) Der erſte Band nehft der „Geſchichtsphiloſophien deffelben Verfaſſers iſt angegeigt in dieſen Heften 1902, ®. 59, ©. 197.

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838 Aitterärifhes,

ftaftung ber Staaten England und Franfreih bis ins 13. Jahrs hundert Binein. Den Schluß bilden, nad) einem Nüdblid, wie im erften Bande, Litteraturangaben und ein Perfonen- und Orts: verzeichniß.

Je weiter biefe Gefhichtsbarftellung vorrüdt, deſto fumma> riſcher wird fie ſich fafen müffen, wenn der projeftirte Umfang von 9 Bänden eingehalten werden foll; die Anforderungen an ben Leſer fteigern fid) alfo, wenn er durch bie Neflerion hindurch ſich die geſchichtlichen Thatſachen ftets gegemvärtig halten will. Indeſſen unterftügt die klare, fließende Sprache das Verftändniß bedeutend. Nur wären hier, wie ſchon zum erften Bande bemerft wurde, häufiger Jahreszahlen zur Orientirung erwünfdt, bie, an ben Rand verwiefen, in feiner Meile ftören, wohl aber bas Zurecht⸗ finden erleichtern würden. Bon gemwiffen in ber Beſprechung ber „Geſchichtophiloſophie“ (Bd. 52 ©. 138 diefer Hefte) beanftandeten Ausbrüden ſcheint ber Verfaſſer bereits zurüdgefommen zu fein; wenigftens fagt er ©. 318: „doch thut man gut, diefe („national“) und anbere moderne zu Schlagwörtern geworbene Bezeihnungen für jene Zeiten nicht in Anwendung zu bringen, weil fie wohl voll Mingen, doch falſche Vorftellungen hervorrufen.” Man begegnet daher auch feinen (terminis technieis) „darwiniftiicher Provenienz“ weiter. Mit geipanntem Intereſſe muß man, nad bem Gelingen ber erften beiden Teile, dem Inhalte bes britten, beſonders aber des vierten entgegenfehen.

W. Nenrath. Gemeinverftändlice nationalöfonomifde Vorträge. Heraus: gegeben von Prof. Dr. Edm. von Lippmann. Braunfcweig. 1902. Bieweg und Sohn. 3,60 Matt.

Vorliegendes Merk enthält zuvörberft eine „Gedenkrede“ auf den früh verftorbenen Verfaſſer von feinem Nachfolger an ber Wiener Univerfität 9. v. Schullern; die originale Denfweile, bie verbienftlihen Leiftungen und die beſcheidene, pflichttreue Perſön— lihfeit Neuraths werben in warmen Worten gerühmt. Zwölf Vorlefungen bilden ben eigentlichen Inhalt; fie behandeln lauter wichtige Fragen volkswiriſchaftlicher Art, z. V. „Eigentum und Gerechtigkeit”, „das Recht auf Arbeit”, „das Sittlihe in der Vollowirtſchaft“, „Moral und Politik“, „Ueberprobuftion”, „Wirte ſchaftskriſen und das Kartellweſen“ u. |. w. Allen gemeinfam ift ein ibealiftifcher Zug, vermöge beijen neben der herfömmlichen

Litteräriihes. 839

materiellen Behandlungsweie folder Fragen immer wieder das Erforniß fittlider Grundlagen, ethiſcher Ingrebienzien betont wird; jo verjegt Neurath dieſe leider meift nur vom finanziellen Stand: punfte aus oft recht einfeitig fultivirten Probleme auf einen moralifchen Boden, auf dem allein fie in Zufunft gedeihlich werben gelöft werben können. Im Bunde mit biefem Idealismus ſieht Heuraths geidhichtliche Auffaſſungoweiſe; mit mafvoll fonferativem Sinne, der nötigen und zwedmäßigen Veränderungen Teineswegs abgeneigt ift, verwertet er feine gründlichen geſchichtlichen For— dungen, . um vor allen gewaltjamen, namentlich kosmopolitiſchen Tendenzen zu warnen, bie unter dem vagen Scheine, allen Menſchen gerecht zu werden, den Einzelnen nur allzu oft einengen oder gar beeinträgtigen. Die Vorlefungen find vor einem Publikum gehalten, welches „nationalökonomiſcher Belehrung bedurfte und nad ihr verlangte”, vor „Fabrilanten, Technikern, Ingenieuren, Chemifern Raufleuten u. |. w.“ im Saale bes „Wiener kaufmänniſchen Vers eins". Die Anzeige des Verlegers fagt nicht zu viel, wenn fie biefe Vorträge als „allgemeinverftändlid und im beften Sinne populär” anfündigt. Im ber That „bieten fie vielfeitigites Intereffe für alle von ber großen Wichtigkeit wirtſchaftlicher Nenntniffe burgdrungenen reife.“ In ihrer geſchickt redigirten Form werden fie jeden Gebildeten anſprechen fönnen.

Ed. von der Helfen. Goethes Briefe. Band 2. 1780-83. Stuttgart und Berlin, I. ©. Cotta Radfolger.

Was zur Empfehlung des erften Bandes diefer Goetheſchrift in biefer Zeitihrift (1902, ©. 61) gejagt iſt, gilt in vollem Maße aud) vom zweiten. Ausſtattung und Einrichtung ift ebenfo lobenswert und zwedmäßig. Und die Auswahl biejes Bandes darafterifirt die für Goethes Entwidlung jo hochwichtigen achtziger Jahre. Die Ans merfungen geben über bie in ben Briefen angebeuteten Verhältniſſe und Dichtungen angemefjene Auskunft. Doch ift vielleicht der Wunſch erlaubt, daß bei gewiſſen Briefen auf allbefannte Gebichte, bie aus ber Stimmung, die in ben bezügfichen Briefen herrſcht, notorifc) hervorgegangen find, ausdrüdlic) aufmerffam gemacht Folgende Fälle mögen als Beiſpiele dienen. Brief Nr. 236, 3b. 1, p. 277 enthält das Motiv zum „Fiſcher“; darauf weift bie

310 Sitterärifgen.

Anmerkung hin. Aber aus berjelben Situation refultirt befanntlid, aud das Motiv zum Liede „An den Monb“, deffen urfprünglice Form Schoell (Briefe an Frau v. Stein, 1, p. 155) biefem Briefe angefügt Hatte. Man vermißt ungern einen Hinweis auf biefe Thatfache. Der Brief vom 6. September 1780 (Nr. 288, Ub. 1, p. 29) ift gleichzeitig mit „Ueber allen Gipfeln“ auf dem Gidel- Hahn geſchrieben und liefert bie Folie zu biefem Liebe, ja ber Wortlaut des Briefes brängt auf bie Erwähnung hin. Zu ber Epiftel an Herders Frau vom 17. Juli 1782 (Nr. 353, Bd. 2, P. 113) ift die Erklärung gegeben, e8 handle ſich um eine Ein- ladung zur Aufführung ber „Fiſcherin“, in welcher Volkslieder aus Herders Sammlung vorfommen. Nicht hinzugefügt aber ift die Notiz, daß bie „Fiſcherin“ mit dem „Erlkönig“ begann, trogdem die Worte bes Briefes „dem feuchten Reid) bes Erlkönigs“ biefelbe hätten veranlafjen können. Endlich fei noch eine Bemerkung zu dem Briefe Nr. 366 (Bb. 2, p. 126) geftattet. Es heißt ba: „Ih Habe große Luft, in meinem Roman auch einen Juben anzu— bringen.” Warum fol in With. Meifter auch ein Jude vor tommen? Cs war in namhaften, allgemein gelejenen Romanen jener Zeit zuweilen ein ZJube aufgetreten, 5. ®. in Gelerts „Schwediſcher Gräfin”, in Hermes’ „Sophiens Reife von Memel nad Sachſen.“ Diefer Typus war in Mofes Mendelfion perfoni- figiet, im Nathan Leffings hatte er feinen Höhepunft erreicht. Goethe aber, der am „Juden Ephraim“ eben „das Bedeutende der Judenheit“ ſtudirt hat, fheint geneigt zu fein, aud feinen Roman mit einem folden Typus auszuftatten. Ober wollte er vielmehr im Gegenfag dazu mit bem Juben feinen „Spaß“ treiben? Jedenfalls wird ber Einfall auf eine Stelle des Wilh. Meifter eingewirt haben. Nach bem eriten Liebe bes Sarfenfpielers (Bud 2, Rap. 11), von dem Wilhelm hingeriſſen ift, während e& „bie Uebrigen” wenig erbaut hat, machten diefe Uebrigen „halblaut einige alberne Anmerkungen und ftritten, ob es ein Pfaffe ober ein Jude fe.”

Dod muß zugegeben werben, daß derartige Erweiterungen ben Anmerkungen, in benen ftrengfiens Mah gehalten werben ſollte, wohl einen bedeutend größeren Umfang eingeräumt hätten. Auf alle Fälle ift diefe handliche Auswahl gewiß jedem Intereffenten befonders zum praktiſchen Gebrauche ſehr willfommen.

Litterärifhes. 341

Nicolaus Lenau's jämmtliche Merk. Mit einer biographiſchen Einleir tung von ©. Zr. Genfiden und dem Bildnihz des Dichters. Stuttg. und Leipzig. Deutfche Verlagsanitalt. 2 Mark,

Diefe neuefte Gefammtausgabe von Lenaus Werken empfiehlt ſich zunächft durch ihre fehr anfprehende Ausftattung, hat aber noch andere, bedeutendere Vorzüge. Dazu gehört vor Allem der Umftand, daß am Schluß die „Tagebüder und Briefe” haben aufgenommen werben können, welche bisher nur in der Sonderausgabe von Franfl zugänglid; waren. Gie find aber für die Beurteilung bes Menſchen und Dichters von unger meinem Wert; enthüllen fie doch das verhängnißvolle Verhältniß Lenaus zu Sophie Löwenthal mit einer Deutlichfeit, melde die Bemerkungen Frankl's entbehrlid) macht. Ferner zeichnet ſich biefe Ausgabe durch eine umſichtige, eindringende, überall von richtigem Urteil geleitete Tebensbeihreibung aus, melde durch eine jehr gefällige Form noch gehoben wird. Endlich ift der Band im Verhältniß zu feinem fchägenswerten Inhalt und feinem geihmadvollen Aeußern (auch das Bildniß Lenaus ift vorzüglich wiebergegeben) überrafhend billig. Im Gegenjag zu der abfälligen Beurteilung, welche in biefen Heften (Ub. 53 ©. 357) eine Wiener Biographie Lenaus erfahren mußte, ift es ein Ver: gnügen, auf biefe befte Ausgabe von Lenau alle gebildeten Leer aufmerffam maden zu fönnen.

N. Weltrich. Wilhelm Herh. Zu feinem Anbenten, mei fitteratur geſchichtüche und äfthetifch.fritifche Abhandlungen. Stuttgart und Zerlin. 1902. Gotta Nachfolger.

Das Bändchen enthält einen Nekrolog und eine kri— tifhe Studie über Bruder Raufd. Ein Klofter- märden. Die Abſicht bes Verfaſſers, „mitzuhelfen, baf ber Dichter, von dem die Abhandlungen reben, noch viel mehr in bas Volt eindringen, als es bis jegt geſchehen if“, fann nur gebilligt werben. Freilich fragt es fi, was er unter „Volt“ verfteht; populär wird MW. Hertz nie werben, dazu ift der Dichter felbft in feiner gangen Sinnesart zu vornehm und fein Gebiet (das romantifche Epos des Mittelalters) zu entlegen. Aber „immerhin verdienen diefe Epen nicht vergeilen zu werden. Herg übertrifft Scheffel an Fülle des Inhalts und Geſchmeidigkeit der Form; er überragt I. Wolff meit durch reichere Bildung und forgfältigere Aug:

342 Litterärifges.

arbeitung.” Der nicht eben fehr umfangreihe Nelrolog ent Hält eine Ueberfiht von Herß' Wirkjamfeit; merkwürdiger Weiſe folgt eine kurze Schilderung feines Lebensganges erſt am Schluß, während der Anfang von jenen „Münchenern“ (Geibel, Heyie, Lingg 2c.) handelt, unter welche Herk 1859 mit 23 Jahren trat. Das Ganze kann faum als erſchöpfend gelten; am wenigſten wird man bem Urteil über die lyriſchen Gedichte zuitimmen mögen; Her ift als Lyriler nicht naio genug, aud) nicht fingbar.

Die zweite Abhandlung ift nidt neu; fie ift gefürgt wieberhoft aus ber Münchener „Sübbeutihen Preffe vom 17. bis 28. Mai 1884.” Sie beginnt mit der Schilderung bes Eindrudes, den „Bruder Rauſch“ auf den Münchener Dichterverein gemadjt hat, als Herk bemfelben bie erften 5 Gefänge, bas eigentliche „Rlojtermärden“ vorgelejen Hat (April 1881). „Es war eine apolliniſche Stunde”, ſchließt der Bericht. Recht ihägbar ift die Ueberfiht über das dichteriſche Sujet bes Bruder Raufd in Bearbeitungen bes 15. und 16. Jahrhunderts. Dod hat bieje Eage dem Dichter eben mur „ben Rohſtoff gegeben“. „Denn etwa bie Hälfte feiner 10 Gefänge ift aus völlig frei ſchaffender Vhantafie hervorgegangen und auch das Uebrige ift in jeder Zeile fein geiftiges Eigentum.“ Cs folgt dann eine fehr eingehende Analyfe ber ganzen Dichtung mit Probeabignitten aus berjelben. Im Ganzen hätte man bie erfte Abhandlung geordneter und aus« führlier, bie zweite dagegen noch mehr verfürzt Haben mögen. ebenfalls verdienen die Umdichtungen von „Triſtan und Iſolde“, „Parzival“, „Hugdietrichs Brautfahrt” und von „Lanzelot und Ginevra“ weit eher eine umfangreiche Würdigung; benn hier hat ſich die Neprobuftionsfraft bes Dichters glänzender, großartiger bewährt, als in dem in feinen Teilen ungleihwertigen „Slofters märden”.

€. Wormd. Die Stilen im Sande. Drei Erzäflungen aus bem Winkel. Stuttg. uud Berlin. 1902. Cotta Nachfolger. 3 Bart.

Der Titel ift nit glüdlicd gewählt, er muß die Erwartung des Leſers irre führen; zumal mit dem bejtimmten Artikel ift der Ausdrud „Stille im Lande” typifc geworben für jene geiftfich erwedten Kreiſe, welde in der Stille ſich eng zuſammenſchließen und in ber Abjonderung nad) ihrem Seelenheit traten. Stille in dieſem Sinne find aber weder ber etwas verbilene Private

Altterärifches. 33

gefehrte ber erflen, noch ber troſtloſe Pole ber zweiten, noch gar ber aus allen Himmeln in ben Winfel fi rettende „Sonnen bruber” ber dritten Erzählung. Beſſer bezeichnet das „aus dem Winfel“ wenigfiens die Schaupläge, abgelegene Drte Rurlands. Der Wert ber Erzählungen ift ungleid); gemeinfam haben fie jedoch neben dem anerkannten techniſchen Geſchick des Verfaſſers einen gewifien Humor, ber zumal in ber erſten recht ſympathiſch berührt. Im Uebrigen läßt fih nicht leugnen: ber Wert der drei Ctüde geht ber Reihe nad) abwärts. Im erſſen tritt doch ein verföhnendes Moment zwiſchen die Gegenläge und ber Humor vermag alle ſchroffen Eden abzufchleifen. Aber ſchon im „Finis Poloniae* läßt fi die obwaltende Disharmonie nicht mehr ausgleichen, fondern veranlagt endlich mit gewaltſamem DMißklang ein grelles Finale. Durchaus unberechenbat endlich verlaufen bie Bahnen ber „Sonnenbrüber”, in denen aud) eine weniger vornehme Sprache bisweilen unfanft berührt. Freilich, Kurland muß ja bekanntlich feit With. Wolfſchild manche dichterifche Zumutung über fi) ergehen laſſen. F. 8.

Notiz

Der Notiz im vorigen Hefte dieſer Zeitihrift (S. 271) it ergänzend Hinzuzufügen der Name des „Zeilmehmers der Synode" : Water D. Rofenfelbt: Selburg. Hinzupufügen it ferner, dab die „Norbliof, Zig.“ die in Rede ſiehende Austaffung Paftor Rofenfeldts reproduzirt Hat und daß die „Hevaliche ig.“ fih mit dem blofen Miederabbrud nicht begnügt Hat, fonbern e& überbies für gut Befunden Hat, im bem Sat, ber von bem angeblich ungutreffenden Votum ber turlandiſchen Synode Handelt, daS Wort „unzutrefiend“ gefperet drucen zu Taffen, offenbar um ihre freudige Uchereinftimmung mit biefem Urteil dadurch Fenntlich du machen Die Bolme in dem edlen Weitftrit, unferer Sirdje und ihren Ber tretern etwas anzuhängen, gebührt indefien unftreitig der jüdiſch- freifi „Büna-äig.“ in Higa, die vom 19. September bis zum 22. Oftober d der Zertbeilage zu ihren Inferaten eine gange Neiße zumeift tirdjenfeinblicher guſchriften über das Thema Garnad und die kurlandiſ he Synode hebracht hat. &8 wäre aber ungerecht, wollte man den Chefredatteur dieſer Bertung, Dr. Ernft Serapim, dafür verantwortlich machen, denn er fteht Längft, mit jeder Cinger weißte weiß, wegen unheilbarer Direttionslofigteit unter lüterärifher Auratel. Verantwortlich erſcheinen bloß feine drei wohlbekannten Auratoren, zwei in Kiga,

34 Notiz

einer in Mitau. Diefe Männer find alle drei barin einig, dab unfere Tagespreffe Geute weniger denn je der geeignete Drt ift, mo Fragen wie bie von dem Harnadjcen Weſen des Chriftentums u. &. ſich behandeln laffen, am. aller, menigften in einem der modernen Theologie freundlichen Sinne. Zrogdem dulden fie 8, daß die „Dünasdtg.” feit eiwa drei Jahren fyftematifch für eine unferer Landeslirche feinbfiche Richtung Propaganda magit, und Haben feiner Zeit keinen Einſpruch erhoben, als bie Nebaftion der „Dünastg.” erpreß zu biefem Hier einen negativen Theologen aus Petersburg, den Dagifter E, v. Schrend, Tommen lich, der munmehe neben dem Zioniften Rabbi Rurod, dem nädjten und einfluhreichſten Mitarbeiter Dr. Serapfims, als ftändiger Rollaborator in theologieis fungiet. Aber nicht nur über das Ungehörige und Unpuläffige einer fofen Behandlung religiöfer und kirchlicher Zragen in der „Dünasdig.“ find die drei Nedaktionsfuratoren einer Meinung. Sie Haben alle längft einges fehen, da auch die Behandlung anderer Fragen von einiger Tragweite abfeiten Dr. Serapbims vom baltiichen Geſichtspuntt betrachtet pernigiös ift und daß die „Dünasgtg." auf die Dauer geradezu Gefinnungslofigteit güchtet. Nictsdeftos weniger faffen fie rubig ihrem unverbefferlien Pflegbefopfenen völlig freie Hand. Wie ift das zu erklären ?

Ad vocom „Düna-ätg.” ſei hier der Kuriofität halber noch erwähnt, daf Dr. Seraphim feine Leſer zum jüdifgen Neujahrsfeit in einer Ertrabeilage (Rt. 212 vom 18. September 1902 oder 5663 feit Erſchaffung der Welt) mit einem hebraiſchen Gruß in hebräiſchet Sprache und hebräiſchen Schriftzeichen erfreut gat.

Drudtfchlerberichtigung. In dem Aetifel „Politiice Feriengedanfen“ S. 229 Zeile 11 von unten Mies: Menſchen jtatt Maſſen.

Im der Chront dieſes Heftes ift auf Seite 152 durch ein Berfehen, das wir zu eniſchuldigen bitten, ein Senatsutas in unrichtiger und ſchlechter Ueber- ſehung wiedergegeben worden. Am Schluß der Chronik im nächften deft wird biefer Senatsufas in forrefter Ueberſehung nodmals abgebrudt werden.

Briefkaften.

B. in Peersburg. Ihre Beichwerde über unpünttfige Lieferung bitten

wir on bie Buchhandlung zu richten, bei der Sie abonnirt daden Hat das

feinen Erfolg, fo beſtellen Sie gefäligit die „Dalt. Monatsfarift" vom nächte Jahr ab direkt bei uns.

Monaisſchr.“ Pa

Der Verlag der „Val Riga, Nifol

Anti-Tolkoi.

Raum ein Name ift in ben letzten Jahrzehnten innerhalb ber gebildeten und, wenigftens in Rußland, auch in der ungebilbeten Welt fo viel genannt worden wie der Name des Grafen Leo Tolftoi. In allen Schaufenftern in: und ausländifcher Buchhandlungen fieht man feine Werfe ausliegen, in allen Tagesblättern findet man genaue, aber nur zum Teil richtige Daten über feine Gefundeit, über feine tägliche Befchäftigung, über neue Arbeiten, bie bemnächft erſcheinen follen, ja mehr: man mißbraudt wieder einmal das große Wort „Gemeinde“, indem man ben Kreis feiner Anhänger oder DVerehrec mit diefem Namen zufammenfaßt.

Da iſt es begreiflich, daß unfere vielichreibende Generation ſich auch in ganzen Zeitungsartifeln, Interviews, Journalauffägen und Broihüren diefer interefjanten Tagesgröße bemächtigt hat und daß die Tolftoi-Litteratur immer umfangreicher wird. Drei bedeu- tendere Monographien in deutſcher Sprade find diefem Danne gerwibmet, von Zömenfeld, von Zabel und von Eugen Schmin, fegtere preift gar bie Weltanfhauung des Grafen in ben über- ſchwänglichſten Wendungen als die Weltanfhauung ber Zukunft.

Unter folhen Umftänden ift es angebracht, die Bedeutung Tolftois näher ins Auge zu fallen und fich die Frage zu flellen: verdient er ſolche Beachtung und Hat er thatſächlich einen jo hohen Wert für unfer ganzes Zeitalter, wie von feinen glühenben Anhängern behauptet wird ?

Diefe Aufgabe ftellt ſich ein foeben erjchienenes Bud):

AntirTolftoi - von 9. von Samfon-dimmelftierna. Berlin 190%. Hermann Walther 183 ©

An den Gedanfengang biefes Buches wollen wir antnüpfen,. was wir zu dem geitellten Thema zu fagen haben, wollen nur fofort hervorheben, daf wir von dem kritiſch-analytiſchen Teil bes Buches viel haben lernen fönnen, während wir von ben pofitiven Anfichten des Verfafjers ziemlich Alles abweiſen müſſen.

846 Anti»Tolitoi.

v. Samfon teift fein Bud) in verihiebene Abſchnitte, je nad) den verihiebenen Seiten ber fehriftfielleriihen Thätigfeit feines Helden. Das ift ſehr praktiſch; darum machen auch wir einige Abjchnitte:

Tolftoi als Künitler.

v. Samfon erkennt die Größe ber fünftlerifhen Gaben des weltbefannten Dichters willig an. Cs find nad) feiner Meinung die unbebingte Wahrhaftigkeit ſich felbjt und Anderen gegenüber und bie ungewöhnliche poetiſche Geftaltungs- und Darftellungskraft, welche Tolftoi in bie erfte Neihe ber modernen Schriftiteller rüden. Belonders in ben drei großen Nomanen „Krieg und Friede”, „Anna Karenina” und „Auferftehung“ treten diefe bedeutenden Gaben auf das Glänzendfte hervor: er verfteht es, ben Leſer Binzureißen, ihn zum Nochempfinden der Stimmungen und Gefühle zu veranlaffen, bie er in ihm erweden will, er faszinirt und blendet durch photographiſch getreue Schilderungen des Alltags: Tebens und durch plajtifches Herausarbeiten feiner einzelnen Figuren. Darin läht er eine Art fuggeftiver Kraft wirten, bie ihm in hohem Mahe eigen ift und bie feine riefigen Erfolge begreiflich macht. Dazu fommt noch eins: Tolftoi hat e8 in feinen Nomanen meijter- haft verftanden, die Stimmungen unferes Zeitafters wiederzugeben, die Strömungen um die Wende bes Jahrhunderts vorzuführen, bie Sehnſucht und das Suchen, bie praftifhe und bie romantiſche Seite bes modernen Menſchen zu beſchreiben. So wie feine ‚Helben, jo fühlten, dachten, handelten Taufende feiner Zeitgenojien, man erfennt fid) in feinen Berfonen und feinen Sienen wieder. Das macht immer Eindrud und ſpricht eine beredte Sprache. Wodurch konnte er das? Nicht bloß durch genauefte Beobachtung der Vorgänge des täglichen Lebens und durch forgfältigites Studium im Geelenleben feiner Umgebung, nein, haupiſächlich burd) vollftändige und zum Teil fhonungslofe Ehrlichkeit in der Scil- berung feines eigenen inneren Erlebens, feiner Kämpfe, feiner zeitweiligen Haltlofigfeit, feines öben Dafeins, feines Ningens nad) Wahrheit und Güte. Man merlt es feinen Büchern an: fie find perſoönlich erlebt. Darum wirken fie jo mächtig, wie das unmittelbar geſchaute Leben einer leidenfhaftlihen, ftarten Natur.

Die genannten brei großen Werke hätten genügt, ihrem Verfaſſer den bleibenden Ruhm eines großen Dichters zu fihern.

Anti Tolftoi. 37

Dabei überjehe ich nicht, daß das letzte, bie „Auferftehung”, große Schwächen aufweilt: einerfeits geht es in unnüger Ausführlichkeit unb peinlicher, fehr peinliher Genauigfeit bei Darſtellung neben: fähficher, ja aud) fhlüpfriger und wiberwärtiger Vorgänge zu weit; andererfeits wirft es in ber aufbringfichen Pſychologie, deren Herausfchälung ruhig dem Lefer überlaiien werben fonnte, fo breit und ermübend, daß man ſich des Eindruds ber Greifenhaftigfeit bei diefer letzten, trogbem auch großen Arbeit nicht erwehren fann.

Geradezu tragiih aber ift die ſelbſtquäleriſche Stimmung des alternden Grafen zu nennen, die ihn ſchon vor Abfaſſung der „Auferſtehung“ überfam, in ber er feine eigenen künſtleriſchen Arbeiten verachtet und verwirft, weil er ihre Entftehung auf Eitelfeit und Ruhmſucht zurüdführt und einer rein fünftleriichen Thätigkeit, wenn fie als Selbftzwed betrieben wird, alle Daſeins- berechtigung abfpricht. Ein Rritifer ber „Auferftehung“ Hat Hecht, wenn er fagt, man merke den Einfluß dieſer Stimmung dem Roman deutlid an: in den rein beihreibenden Partien erhebe er fich gu der alten Höhe Fünftlerifcher Vollendung, von Zeit zu Zeit aber ſcheine er fich ſelbſt auf biefer Abweichung von feinem neuen kunſtfeindlichen Prinzip zu ertappen und verfalle dann in moralis firende Tendenzmade, die ermüdend und jtörend wirken müfle. Das it tragifh.

2. Zolftoi als Theologe und Philofoph.

Es ift, als ob ber Lorbeer des Dichters dem Grafen Tolſloi nicht genügte, er mufte Moralift, Theologe, Polititer, Weltver- befferer und Prophet werden, und in allen diefen Beziehungen hat er längjt nicht die gleiche Höhe erreicht, fondern ba ift er das geblieben, was er bleiben mußte, durd) und durd ein Dilettant, ber fid) über bie Weite feines Gefihtsfreifes in vollite Täuſchung einwiegt und die Stihhaltigfeit feiner Gründe in offenfundiger Selbftverblendung weit überfhägt. v. Samfon nimmt dieje Eigen: tümfichfeit viel ſchwerer und ficht viel ſchwärzer. ©. 19: „Tolftois KRunftverachtung läht mehr als geiftige Unpählichfeit erfennen, fie beruht auf ſchwerer phyfiiher Erkrankung, auf progreffiver Paralyſe, die fih in folie raisonnante, in einfeitig blinder Verftandess thätigfeit äußert.” N

38 AntirTolftol

Abgeſehen davon, daß diefes Urteil in feiner Schärfe und Schroffheit fraglos über das Ziel hinausihießt und deshalb dem beabfichtigten Eindruck nicht erwecken wird, ſchätzt der ſcharfe Kri— tifer den echt moraliſchen Anlaß ber Umwandlung in den Anſchau— ungen bes Grafen nicht gerecht ein. Tolſtoi hat eine innere Wandlung erlebt. Er hat die volle Oede feines Lebens erkannt, da er nur Offizier oder wohlhabender Gutsbefiger und berühmter Schriftſteller war, hat diefer Dede entfagt und in eifrigem Bemühen nad) einem feiten und guten Halt für fein Leben, für feine Welt- anfhauung geſucht. Auf feine Art hat er in der Religion bie Löfung bes Nätjels des Lebens zu finden gemeint und giebt num in feinen theologiſchen und moraliſchen Schriften die Aufklärung für fein verändertes Urteil. Zugleich fühlt er ſich begreiflicer Weife genötigt, das, was er als wahr und gut erfannt hat, Anderen als einziges Nettungsmittel aus der Dede bes Dafeins anzupreifen und in ber Konſequenz feiner Anfhauung ein Welt verbeiferer zu werden. Daran if nichts Auffallendes und Krank- haftes, er macht den Eindrud des Wahrheitsfanatifers, der mit Entſchiedenheit nad) feinen Grundfägen leben und feinen Ueber- zeugungen Anhänger gewinnen will.

Aber und in diefem Aber liegt allerdings ber Schwer— punkt: in allen dieſen Veftrebungen, in allen oft wiſſenſchaftlich tlingenden Ausführungen zeigt fi, daß Tolſtoi abjolut fein Mann ber Wiſſenſchaft iſt, zeigt ſich der Künjtler, ber echte ber eine Idee liebgewinnt und fie energiſch, aber natürlid) einfeitig durchführt, wobei er die umfaffende Begründung und alljeitige Beleuchtung außer Acht läft. So bleibt er als Philoſoph und Theolog thatſächlich Dilettant; und wenn er aud) jeine pfeudos exegetiſchen Betrachtungen mit griechiſchen, ja jogar mit hebräiſchen Broden ausihmüdt, die dem „Laien“ leicht imponiren, er beweift nichts Anderes, als daß er felbjt ein Laie iſt, ber feine vorgefaßte Meinung nacjträglid) belegen will. Zudem wimmelt es hier von Widerſprüchen, Unklarheiten und einfeitigen Urteilen, einfach, weil die folide Schulung des Denkens durd wiſſenſchaftliche Durd- bildung fehlt.

In diefem Stüd zeigt fi) aber aud) die volle Unzulänglichfeit ber Kritit v. Samfons. Diejer wird der Neligion überhaupt nicht gerecht, weil er im Verſchwinden aller Religion, ein „Diesfeitertum“,

AntirTolftoi. 39

wie er es nennt, das Ziel feiner Wünſche ficht; deshalb ift er auf diefem Punkt, wie die meiften Neligionslofen, blind und vermag auch die Eigentümlichleit Tolſtoiſcher Neligiofität nicht zu erfailen. Er fieht die Hauptgefahr der Tolftoifchen Lehren in einer Mieder- befebung der Religion, nimmt dabei die Religion des Grafen viel zu ernft und durchſchaut nidt, wie wenig Grund Tolſtoi hat, feinen „Olauben“ wirtlid mit biefem großen Namen zu begeichnen. Gehen wir darum auf biefen Punkt ein.

Tolſtoi ftellt es als einen Hauptgrundfag feiner Weltan- ſchauumg hin: „Die Forderungen meines erftandes find forreft und außerhalb ihrer fann id) nichts verftehen.“ Das Hingt ja recht deutlich nad) Nationalismus, ift aud) fo gemeint, denn er fritfirt nach dieſem Grundſatz fo ernftzreligiöfe Dinge wie bie Saframente und das Leben nad) dem Tobe. v. Samfon pflichtet diefem Grunbjag volljtändig bei und fügt nur hinzu, daß man deshalb über bie Grenzen des Verjtandes hinaus nichts annehmen, auch nichts fragen dürfe. Solche Fragen, beren Eriftenz er aller- dings nicht leugnet, müſſen unbeantwortet bleiben, meint er, es dürfe daher auch feine Religion geben. So hat v. Samfon wenigftens einen fonjequenten Agnoftizismus vertreten, während Tolftoi diefe Konſequenz nicht befigt. Denn er geht nun weiter und fpricht trog jenes Grundfages davon, daß ein Gott die Welt und den Menſchen geichaffen Habe, fann ſich aber zu einem perfön- lichen Oottesbegriff feineswegs erheben. Das AI und bie unendliche Melt, das find die Phraſen, bie er für Gott braudt. Wie ſoll man nun dieſe brei verjdiedenen, ja einander ausſchließenden Gedankenreihen in einer Weltanſchauung zujammenfafien: eritens Nationalismus, zweitens Theismus, brittens Pantheismus? old) eine Zuſammenfaſſung logijch zu Stande bringen, hiehe baffelbe Kunftftüd ausführen wie: drei parallele Linien in einem Punkte ſich ſchneiden zu lajlen. Die Forderungen bes Verftandes, die Tolftoi ſcheinbar zum Maßitabe für alle Dinge macht, werden ihn nie und nimmer zur Neligion bringen, und das All und bie unendliche Welt fünnen niemals Schöpfer der Welt und des Menfchen werden, Nationalismus und Glaube, Bantheismus und Schöpferglaube, ſolche heterogene Begriffe laſſen ſich nun einmal nad ben logiſchen „Folgerungen bes Verftandes“ nicht vereinigen. Da haben wir denn aud in Toljtois "Religionsfyftem

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die vollendete Konfufion. Nach den verſchiedenſten Konfequenzen, die er zieht, ſcheint uns aber feine Weltauffaſſung, foweit fie fih verfolgen unb ermitteln läßt, einfad) Pamheiomus zu fein, wie er dem natürliden Künſtlergeiſte vielfach konform ift.

Sold ein Pantheismus Tann fi mit einer myftiihen Ver: fenfung in das All und mit zeitweiligen frommen Gefühlen paaren, darf aber durchaus nicht mit dem Ehrennamen „Religion“ benannt werben, darf fi aber ebenjo wenig auf bie Forderungen des Verftandes ftügen wollen. Wir fehen alfo den logiſchen Banferott Tolſtoiſcher Theofophie nad) allen Richtungen hin.

Der jtärkte Beweis gegen bie Neligiofität jeber Art von Pantheismus ift die Unmöglihfeit des Gebets bei pantheiſtiſchen Vorausfegungen. Der PBantheift kann nicht beten, wenn er nicht Phraſen macht. Nun, die Säge, in denen Toljtoi über das Gebet ſpricht, ſpeziell die Säge, die er als Auslegung des Vaterunjers giebt, find ſchlimmer als Phraſen, find einfach plutte Blasphemie! Bei ſolchen Anfihten kann von einem Glauben an Jeſus nicht die Rede fein, da ift er mwenigitens vorfidtig, er vermeidet ben Ausdrud und fagt: „der Glaube an die Lehre Jeſu“, vergißt dabei nur wieder, dab das Fürrichtighalten ber Lehre Jeſu mit dem bibliſchen Inhalt bes Wortes „Glaube“ nichts zu hun hat.

Nun, genug ber Verfehrtheit und des Unfinns! Ich denke, wer nur einigermaßen Mar fieht, wird nicht daran benfen, allen Ernites die „Religion“ Tolftois als folche zu befämpfen, geihweige denn anzunehmen. Gine Wieberbelebung ber Neligion, wie fie von Samſon als eine Gefahr folder Anſchauungen vorſchwebt (S. 54), ift von diefen durch und durch verworrenen Gedanfen- geipinnften nicht zu erwarten. Daran ändern nichts feine im Einzelnen guten Grundſätze ber Nächſtenliebe, der Gelbftverleug- nung, des Gottesdienjtes der That u. |. w.

Hand in Hand mit diefer derſchwommenen Grundanſchauung geht dann Tolftois buchſtãbliche, mechaniſche, geifttöbtende Auffaſſung der Bergprebigt, melde direkt zu Abjurditäten führt, wie jedes buchſtabenſtechende Preſſen Heiliger und in Form der Gleichnißrede zugefpigter Worte. Es ift ausgeſchloſſen, daß die ernjte Wiſſenſchaft neuteftamentlicer Forſchung aud) nur in einem einzigen Stüd durch die Tolſioiſchen Wortklaubereien fid) kann irremadyen laſſen, ausgefchloffen, dafı man nach einzelnen heransgeriffenen Wörtern

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ber Bergprebigt das Verbot der Wehrpflicht, bes gerichtlichen Schwörens, des Gerichts, des Staates u. N. als Verbote Jeſu hinftellen wird. Solde Auswüchſe find zu durchſichtig, gerade fo wie bie Verwertung der Stelle: „Ihr follt dem Uebel nicht wider: ſtreben!“ Diefe Stelle macht Tolſtoi zum Mittelpunkt feiner ganzen Moral und löſt fie wieder gewaltfam aus dem Zufammen- hang. Die Folge davon ift, daß er das ganze Ehriftentum zu einer falz: und fraftlofen Lehre herabwürdigt, welde durch Geſchehenlaſſen jeglichen Webels, jedes Unrechts dieſes geradezu fördert. Derfelbe Jeſus, der bie VBergpredigt gefprochen hat, hat im Tempel bie Geißel geichwungen und hat nad; Matth. 23 in ſechsfachem Wehe bie Pharifäer als Heuchler entlarot. Der Miß- verſtand Tolfteiiher Schriftausfegung liegt Mar zu Tage. Er giebt der Schriftforigung eine ungeſunde Richtung und weiſt ber Berg: predigt und bamit Jeſus felbft eine ganz falihe Stellung an. Gewiß bleibt das Verhältniß der Bergpredigt zur modernen Kultur ein Problem, das uns beichäftigt und beichäftigen foll, das bei dem Ginzelnen aud) einen Stachel hinterläßt, aber durch Zer- hauen wirb der Knoten nicht wirklich gelöft und durch ungefchidtes Herumgerren wirb er nicht Lofer, fondern feiter.

Es ift unmöglich, daß die fogenannten Glaubensfäge Toljtois einen dauernden Einfluß behaupten, geſchweige denn bie MWelt- anſchauung der Zufunft begründen fünnten. Hin und her werden unflare Köpfe dadurch in Verwirrung geraten, bald aber wird man barüber zur Tagesordnung übergehen.

3. Tolſtoi als Moralphilofoph.

Einen befonderen Blid werfen wir nod) auf Tolſtois Schriftchen „Religion und Moral“, welches von Samjon am Schluß feiner Brofdüre wörtlid) ins Deutſche überträgt. Nebenbei gejagt: bie Ueberfegung ift durdjichnittlich gelungen, bis auf wenige Auss nahmen, 5. 3. ©. 156 Punkt 32 muß polofhenije nicht mit „Lagen“, fondern mit „Theſen“ überfegt werben, und im legten Sag ber Ueberjegung darf wſegdaſchni nicht „immermwährende”, Sondern muß „jeweilige“ heißen.

In diefem Aufiag ſchlägt Tolftoi wirklich ernftere Töne an, befonbers da, mo er die Meinung des „Rufturpöbels“ (jehr gut überjegt!), daß die Neligion aus ber Furcht vor den Naturerſchei⸗

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nungen hervorgegangen jei, hübſch widerlegt, auch ba, wo er bie Offenbarung als Grunblage für die Religion Hinftellt und wo er den engiten Zufammenhang zwiſchen Religion und Moral richtig hervorhebt. Aber wieder findet man ſich von wirklicher Religion abgelenkt, fobald er ben Begriff ber Religion befinirt und fagt: „Unter Religion verjtehe id) die vom Menſchen zwiſchen fih und der ewigen unendlichen Welt oder ihrem Prinzip hergeftellte beftimmte Beziehung.” Die Religion iſt alfo boh vom Menſchen bergeitellt“, beruht folglih nicht auf Offenbarung, und diefe „Beziehung“ (wohl richtiger „das Verhältniß” zu überiegen!) befteht jroifhen dem Menden und der „unendlihen Welt”. Da haben wir wieder bie alte Phraje, mit der wir uns anjtatt eines perſön— lichen Gottesbegriffs begnügen follen. Deshalb it e8 and) nicht erfindlich, wie das Weſen der Gittlichfeit darin geiehen werden joll, daß man dieſem „Gott“ dient. Wieder fehen wir jchlecht verhüllte Widerfprüde. Gut jedoch find dann wieder die Säge, in benen Toljtoi die Haltlofigfeit der religionslofen Moral nach— weift, denn das zeigt ji) in ber That befonbers bei ben modernen Ethitern wie Wundt und Paulfen: zu einem wirklich fittlichen Grundpeingip führen fie nicht, und ihre Moral gelangt nicht in die Tiefe ber unerreichten chriſtlichen Eittlichfeit, was an ihnen Gutes ift, find die Entlehnungen aus biefer.

Seinerfeits fuht nun v. Samfon dem Tolſtoiſchen Sittlich- feitspringip: „gut fein Heißt Gott dienen” ein eigenes, gar nicht auf Religion bafirtes gegenüberzuftellen. Cr fieht diefes in der Rindesliebe (S. 72), welde, „wenn fie mit bewußter Abſichtlichleit gepflegt wird, nicht nur in der Familie, jondern auch in Geſellſchaft und Staat zu den Zielen der Dioral, zu Friede und Freiheit Hinfühet, indem fie jedem bas Seine gewährt.” Das ift nun wirklich naiv gedacht. Erſtens müßte er von feinen Grunbjägen aus nachweiſen, daß Kindesliebe etwas wirflid Gutes, moraliſch Wertvolles ift, denn alles Naturgemäße ift nod) nicht gut. Dazu müßte er aber einen höheren Maßſtab für die Sittlichkeit haben, den er jebod ablehnt. So fommen wir durch bloße Behauptungen nicht weiter. Zweitens ift die Kindesliche Feines- wegs etwas Konjtantes, überall ſich gleihmähig Aeußerndes, bas überall nur Gutes hervorbringt. Erſt dort, wo dieſes formale Prinzip (über welches eine religionsloie Ethit kaum hinausführen

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fann) von einem wirklich fittlihen Inhalt erfüllt und auf eine fittliche Bafis gegründet wird, erſt da kann es verjittlihend wirken. Im entgegengejegten Falle kann auch bie Kindesliebe Arges, Unſittliches zur Folge haben. Den „wirklich fittlichen Inhalt“ vermag aber nur der Wille Gottes oder ſubjektiv gewandt die Religion zu bieten.

Schließlich ſei noch auf eine Eigentümlichkeit des v. Samſon⸗ ſchen Buches Hingewiejen, die wir lieber gleich als Spleen bezeichnen wollen. Es iſt die unter beſtändigen Wiederholungen bis zum Ueberdruß ſich aufdrängende Betonung der Höhe chineſiſcher Kultur, die in Religionsloſigkeit und praktiſcher Moralität unerreicht daſtehe und als Muſier für Europa gelten müſſe. Solche Plattheiten verleiden in hohem Maße die Lektüre des an manchen Stellen geiftooll geichriebenen Buches. Einer Wiederlegung bedarf biefer Spleen nicht, er drüdt dem Verfailer den Stempel bes Sonderlings auf und raubt feinem Buch viel von Genießbarkeit und Eindrude- Fähigkeit.

In Bezug auf Tolftei gäbe es nod eine Schluhfrage: wie lebt er nad) dieſen feinen Grundfägen? Die Ehrlichten feines Strebens in Ehren, aber die Bauerntracht macht wirklich noch nicht den fittlihen Mann. Daß er aber allen Ernites verſichert, durch den Verzicht auf Kaffee, Thee, Tabat und Alkohol ben Staat, deſſen Gegner er üft, ſchädigen zu wollen, baf er Eigen: tumslofigfeit fordert und darum fein Vermögen nicht etwa den Armen gegeben, fondern feiner Gemahlin übertragen hat, bei welcher er ſich als Penfionär aufhält, das macht ihn uns nicht ehrwürbiger, denn Lächerlichkeit ift eine böfe Eigenſchaft bei einem Propheten.

Faſſen wir zufammen: es ift Zeit, daß man auf bie offen: fundigen Schwächen und die widerſpruchsvolle Oberflächlichkeit Tolftoiicher Gebanfengänge hinweiſt, benn es ift nötig, vor der Verwirrung zu warnen, bie der „Einfiebler“ durd fein Talent, durd) feinen Einfluß und fpeziell durch feine faszinirende Schreib: weiſe in refigiöfen und moralifhen Fragen anrichten fann. Der intereffante geniale Verfaſſer von poetiſchen Werfen wird er immer bleiben, mehr follte er ſelbſt nicht wollen, zum Philofophen, Theologen, Propheten eignet er ſich nicht.

Ernst Külpe.

Ueber den angebligen Verrat Johann von Blantenfelds.

Ertuts zu der Abhandlung „Johann von Blanfenfeld, Erzbiſchof von Riga, Biſchof von Dorpat und Heval."

Es möchte geftattet fein, die Gründe für bie im Terte („Balt. Monateſchr.“ Bd. 54, ©. 56) vorgetragene Vermutung, wenn aud) in Kürze, darzulegen. Freilich fann die Sadje endgültig nur auf Grund umfaflender Archivſiudien entſchieden werben, bennod) dürfte es nicht unnüg fein, aud) nur das zufammen- zuftellen, was ſich auf Grund des bereits veröffentlichten Materials ergiebt. Vielleicht werden ſich die Anfnüpfungspunfte für weitere Forſchungen dann beutlicher zeigen.

Die neueren Darfteller dieſer Zeit (Th. Schiemann und €. Seraphim) nehmen es als erwiefen an, daß Blantenfeld mit Nomwgorod und Plestau, ja mit Moskau ſelbſt Unterhandlungen angefnüpft habe zwecks Abjchluffes eines Bündniſſes gegen ben Orden (bei. Schiemann, Rußland, Polen und Livland II, ©. 216; etwas weniger beftimmt Seraphim, Geſchichte Liv, Eſt- und Kur: fands I, ©. 295). Vorſichtiger hatte ſich v. Richter ausgedrüdt Geſchichte der Dftfeeprovingen I, 2, S. 267): ber Empfang einer ruffifcen Geſandiſchaft und ein Brief an den Biſchof von Wilna fei Grund genug geweien, um den Biſchof „eines heimlichen Verftändniffes mit Ruſſen und Litauern zu bezüchtigen“ (ebenio W. Bradmann in ben Mittel. der Geſ. für Geld. V, ©. 79). Daß Blanfenfeld mit den Nuffen und Polen in Unterhandlung geftanden hat, jteht feit: er hatte nicht lange vorher eine ruſſiſche Geſandtſchaft auf feinem Schloß Neuhaufen empfangen und fie beſchenti ebenfo Hatte er an den Bilchof von Wilna einen Brief gerichtet, der Klagen gegen die Nigaer und Dorpater enthielt.

Außerdem wurde ihm noch vorgeworfen: er Habe bieje Geſandtſchaft, wie noch andere „anſehnliche Botſchaften“ an andern

Dohann von Blantenfelds angeblicer Verrat. 355

Orten, allein, ohne Zugiehung feiner Räte und Stände, empfangen, was ben Landesrechten nicht entjprad) !) (Inſtruktion für die aus Eſtland zum Landtage nad) Wolmar Deputirten an bie Nitterichaft der Stifter Riga und Dorpat, 1526 März, Reval, bei C. Rußwurm: Nachrichten über das Geſchlecht Stael von Holftein, Neval 1877, ©. 21), er habe auch mit dem König von Polen forrefpondirt (Inſtruktion für die Deputirten nad Wolmar an den Orbens- meijter, 1526 März, Reval, Rußwurm a. a. O. ©. 19), er habe einen Paſtor aus Neuhaufen Heimlid) nach Rußland, von ba nad Pleslau, über Polozt an den Biſchof von Wilna, zulegt an ben Herzog von Preußen und den König von Polen gefdicdt, von wo aus biefer verräteriiche Pfaffe feinem Herrn in unverſtändlichen Briefen Bericht erjtattet habe (Inſtruktion an bie Nitterfchaften, Nußwurm a. a. D. ©. 20).

Daß es ſich dabei um ein Angriffsbündniß gegen den Orden gehandelt habe, fonnte nur durch Gerüchte geftügt werden, melde aus Rußland gefommene Perjonen mitgebradht hatten (Rußwurm a. a. 0.©. 21 f. und ©. 28 f.)2).

1) 8. Bergmann, Magazin für Rußlands Geſchichte, Band II, Heft 2, S. 26 f. formulirt die Antlagen not) ander8: DI. habe mit ben zeriſchen Befehlshabern Umgang gepflogen, fie in feinen Schlöffern umhergefüßrt, fie mit den dortigen Gegenden und Wegen befannt gemacht; er follte bie Landesver - faffung Haben ändern, durch fremde Truppen fein eigenes Anſehen fügen wollen (wohl aus der unten zu erwähnenden Wahrhaftigen Hiftorie).

2) Auch in Plettenbergs feinem Gejandten Heinrich von Galen an den Herzog von Preußen erteilter Inſtruktion (Monumenta Livoniae antiquao, Band V, S. IV—VIL, Riga und Leipzig 1847) vom 2. Januar 1526 ift im Grunde nur von Gerüchten die Rede: dem Meifter feien eine Zeit lang bieberor und jept tägfid) viele Zeitungen, mündliche aud) ſchriftliche Warnungen aus allen Orten zugetragen worden, wie ber Biihof zu Riga durch mannigfaltige Bot: haften und Schriften, aud in eigener Perfon, mit dem Großſürſten in ber Wostau und feinen Statthaltern zu Pleskau hin und wieder gehandelt, damit die Ruffen diefe Sande im Ernſt anzugreifen und zu überziehen erwedt und ſich mit Geſchütz und allerlei Kriegänotdurft in großer Verſammlung des Boltes darzuthun erboten.

Wir erfahren aus diefer Inftruftion, dab jdon auf dem Pandtage von 1525 Blankenfeld deshalb von etlichen Ständen beihuldigt worden ift, „und nun abermals“ vom Meiſter; damals habe ſich der Bilhof „mit hohem Fleiß““ verteidigt. AS Grund der gegenwärtigen Nataftrophe wird angegeben, dal; die Sache jegt MHarer am den Tag gelommen fei. Nähere Angaben werden babei nit gemacht.

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Blantenfeld ſelbſt erflärte, daß ber Brief an den Biſchof von Wilna nur eine Bitte um Nat in den Angelegenheiten feiner bebrängten Kirchen bedeutet habe, daß andrerſeits von Bünbniß- verhandlungen mit den Nuffen feine Rede habe fein fünnen, ba fie bei größerer Rraftentfaltung ihm ſelbſt gefährlich gemorben müren, bei geringerer feinen Nuhen hätten bringen fönnen. Die Geſandtſchaft Hätte ihm allerdings Hülfe angeboten, er habe fie aber ausgeichlagen, weil Livland feiner Hülfe bedürfe, ſondern ſolche vielmehr allein vom Meiſter und ben Ständen zu erwarten fei. Daß er die Geſandten beſchenkt Habe, das fei allein Livland zur Sicherung gefhehen und um den Großfürſten zu guter Nach- barfchaft zu bewegen. (Brachmann a. a. D. ©. 79 f. nad) bem Schreiben eines Anonymus an einen ber preußiſchen Gefandten in Niga, 1526, vgl. Napierskys Inder Nr. 2946, vgl. auch Blanken— felbs Brief an bie preußiſchen Oefandten, Ronneburg, 28. März 1526, Inder Nr. 2937, und die „Waͤhrhaflig Hifteri*, Inder Nr. 3154; 0gl. B. Bergmann: Magazin für Rußlands Geſchichte 3b. UI, Mitau 1826, Heft 2, ©. 27 f.)

Die Verhandlungen auf dem Landtag zu Wolmar (1526, Frühjahr) haben, wie es ſcheint, fein unmittelbar belaſtendes Material ergeben. Es war ſchliehlich zwiſchen den Bevoilmäch- tigten Blanfenfelds, 18 Vertretern der erzftiftifchen Ritterihaft, und einem engeren Rate, zu dem aber bad) Angehörige aller Stände erwählt wurden, dod noch zu einer „freunblidien Handlung” gefommen: das war freilich Blankenfeld nicht zugeitanden worden, daß die Beſchuldigungen nicht öffentfid) gelefen werden folten, doch nur um zu vermeiden, daß ber Meiſter und die Etänbe beſchuldigt würden, als hätten jie die Beſchuldigungen erbichtet und erfunden.

Die „freundliche Handlung“ iſt unter Vermittelung des Robert Stael und amberer harriſch- wieriſcher Nitter geführt worden. Bon ihrem Inhalt ift fait michts befannt geworden, denn der Bericht Staels und feiner Genofien über ifre Unter rebungen mit ben erzbiſchöflichen Bevollmächtigten iſt auf Antrag bes Meiſters nur vom engeren Nate vernommen worden, weil „etliche Handlungen und Sadjen vorlägen, an denen Gebeih oder Verberb Leibes und Gutes gelegen” Die Mitglieder des engeren Nates haben dann in der That über das in biefer Sitzung

Johann von Blantenfelbs angeblicher Verrat, 357

Beiprohene Schweigen gehalten (Bunges Archiv, Bd. II, S. 119; Rußwurm: Geſchlecht Stael von Holſtein, ©. 29). Nur foviel wiffen wir, daß die geheimen Verhandlungen fid nur auf ben Erſatz der von den Ständen durd) die Rüſtung erlittenen Unkoſten und auf die Beſetzung der Grenzſchlöſſer durch ben Orben beziehen follten, weil der Erzbifchof „Lovelos“ (d. H. glaublos, unzuverläffig) fei (Archiv II, ©. 117). Doc) find bei der Verhandlung zwifchen Robert Stael und den Erzſtiftiſchen, wie es ſcheint, auch Zeugen: ausfagen vernommen worden, doch nur folde, die nicht viel mehr als bloße Gerüchte enthielten (Archiv IL, ©. 188 f. und Rußwurm 0.0.0.8. 28 f.).

Nobert Stael hat fpäter mit zwei Sekretären des Meifters und den Natsfefretären von Riga und Dorpat zufammen bie Beſchuldigung und Anklage gegen den Erzbiſchof aufgefegt. Doch wird biefe von der bisher veröffentlichten Quelle nicht mitgeteilt (Archiv S. 119, Rußwurm S. 29; es ift ja nur der Vericht der Natsjendeboten der drei Städte, den wir hier erhalten).

Soviel iſt ſicher: nach dieſer Verhandlung ift gegen Blanken- feld perfönfich nichts mehr geſchehen, aud als der Exzbilchof die Zuſage feiner Bevollmächtigten gar nicht hielt und ſich nicht per ſönlich ftellte. Die erzitiftiiche Nitterfchaft hat ſich nicht einmal von ihm losgefagt; freilich, fie hatte ihm zuvor das Zeugniß gegeben, er babe fid „von Jugend auf bei PBapit, Raifer, Rur- fürften, Füriten und allermänniglic) nicht anders als ehrlich und aufrihtig gehalten“, fei „auch nicht anders als für aufrichtig erfannt worden“, es fei „ihnen aud nicht bemußt, welches bie Bezihtigung und Beſchuldigung wäre” (Ardiv I, S. 197; Ruß? wurm ©. 126). Aber auch die Dörptice Nitterihaft erklärte: es fei ihr des Erzbiihofs Schuld oder Unſchuld unbewußt (Archiv ©. 106).

Wie follte alfo wohl etwas Sicheres gegen ben Erzbiſchof in Betreff feiner Hinneigung zum Großfürften erbradjt worben fein?

Nichts, was feine Schuld in dieſer Beziehung Harjtelte, ift aud durch das Verhör zu Tage gekommen, das kurz vor Schluß bes Landtags mit den nädjiten Natgebern des Erzbiſchofs, dem Stiftsoogt von Dorpat Peter Stadelberg und dem Laurentius Fölferfahm angeftellt worden, und zwar auf Antreiben der erz⸗ ſtiftiſchen Ritterſchaft und der Bevollmächtigten des Biſchofs. Die

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Verhörten follten bie Beweiſe ihrer Unſchuld beibringen fönnen (Archiv IL, ©. 127 f.).

Peter Stadelberg und Fölferfahm Haben dem Empfang der ruſſiſchen Botſchaft beigewohnt. Eriterer hat aber damals nur das baran zu tadeln gefunden, daß folder Empfang „gegen die alten Gewohnheiten und gemeinen Gebräuche“ veritoße. Nur daher erwartete er für fich und die andern Anweſenden „merkliche Gefahr”, er hielt es daher für möglid, den Erzbiſchof zu bitten, er möchte „das Gewerbe” der betr. Votſchaft, um Verdacht zu meiben, bem Sofgefinde und benen, bie fonit zur Stelle feien, öffentlid; vortragen und aufdecken.

Der Erzbiihof hatte freilich auf biefes Begehren erwidert: „Ad, lieber Herr, wir hätten nie gemeint, ein ſolch' verzagtes Herz in fold) breiter Bruft ſpüren zu mühen I”

Daß alfo etwas im Spiele war, was dem Willen und Intereſſe der andern Mitftände des Landes entgegen war, fdeint aus biefer Neußerung hervorzugehen; wenn es fid) aber um ein Bündnih mit den Auffen gegen den Orden gehandelt hätte, wäre es Stadelberg unmöglich geweien, bloß die Anhörung der Gejandt- ſchaft bedenklich zu finden und eine Veröffentlihung des Ver: handelten zu verlangen. Fölkerſahm Hat die Geftändnifie, die er im Gefängniß niedergefchrieben, anerfannt. Cs ift möglid, daß fie durch die Folter erpreßt waren (Bergmann, Magazin, IL, 2, S. 27, ob auf Grund der oben erwähnten Quellen ?). Um fo mehr bedeutet es, daß ſchließlich beide Verhörten auf freien Fuß gefegt wurden, freilic mit Vorbehalt der eigentlichen Entiheidung und bis zur Zeit, da aud) der Erzbifchof fi) verantworten würde.

Nach derſelben Nichtung weijen aud) die Vermittelungsvor: ſchläge der andern Prälaten (Archiv IL, ©. 125 f.): die Nitter: ſchaft von Riga folle, da dem Erzbiſchof wenig Glauben gegeben werde, das Stift in guter Acht und Bewahrung halten (von Dorpat und den Grenzſchlöſſern ift nicht die Rede); jonjt aber wird nur verlangt, fie jolle ihren Herrn dahin bringen, fid) aller auswärtigen Nehtshülfe zu begeben, Alles abzuftellen, was bereits an päbftlihen und faiferlihen Höfen und Negimenten ober bei ſonſtwelchen Herrn und Fürften außer Landes vielleicht vorge: nommen fei, alle Feindjeligfeit wegen des Geſchehenen, der Vezüchtigung und Gefangennefmung, zu unterlaffen und bie Sache

Yohann von Blanfenfelbs angeblicher Verrat. 350

laut ber „freundlichen Handlung” im Lande zur Entſcheidung zu Stellen.

Wie follte unter „den Herrn und Fürften außer Landes” ber ruſſiſche Großfürft verftanden gewefen fein? Cin Hülfegeſuch bei biefem (beſonders gegen ben Orben) fiel unter eine ganz andere Kategorie, als jegliche andere politiiche Verbindung.

Auch in der Antwort ber Stände auf biefe Vorſchläge iſt nur fehr allgemein von „Schreiben und Hülfeſuchen außer Landes” bie Nebe, obwohl ber Erzbiſchof durchaus noch nicht von „fo viel: fältiger und ſchuldvoller Bezüchtigung“ frei erachtet wird (Archiv ©. 126).

Die angeführten Gründe berechtigen wohl zu ber Annahme, daß das unzweifelhaft vorliegende Vergehen des Erzbiſchofs nicht als ein Bündniß mit Rußland gegen den Orden oder das Land überhaupt aufzufalien fein bürfte. Verhandlungen find aber in Neuhauſen unzweifelhaft geführt worden und, daß es fich dabei nit um eine Zurüdweifung ruffiiher Bündnigantäge und um Austaufh von Höflichteiten gehandelt hat, wie Blankenfeld jelbit vorgiebt, darf wohl auch als ficher angejehen werben.

Läßt fid) irgend etwas auf Grund des bisher veröffentlichten Materials über den Inhalt und die Tendenz diefer Verhandlungen vermuten? Wie es fdeint, ift es wohl möglid, wenn man bie übrigen gegen ben Erzbiſchof gerichteten Anflagen und bie allges meine Situation ins Auge fat.

Wir fahen, daß Blankenfeld aud noch angeflagt war, 1) einen Brief an den Biſchof von Wilna gejandt zu haben, deſſen Inhalt ſchwerlich fo harmlos geweſen fein wird, wie er felbft vorgiebt, 2) mit dem König von Polen Forrefpondirt und 3) einen Gejandten an den Biihof von Wilna, an den Herzog von Preußen und ben König von Polen gefandt, mit biefem Gefanbten aber in geheimnißvollem Verkehr geftanden zu haben.

Die Beziehungen zu Albrecht von Brandenburg find in der That nie erlojhen, wie ſchon im erſten Vortrag gezeigt worden ift (S. 425). Noch im Jahre 1525, nachdem ſchon in Preußen bie Veränderung vorgegangen war, hat Blankenfeld den Hochmeifter wegen der Verfolgungen durd) den Orden um guten Rat erfuden laſſen (Napiersty, Inder Nr. 2924, vom 15. Mai und 6. Juni 1525) und wahrſcheinlich in eben berfelben Zeit hat er bei dem

200 Johann von Dlanfenfelbs angeblicher Verrat.

Herzog eine Schuld von 3000 Mark aufgenommen (am 27. März 1526 wird er daran von ben preußiichen Gefandten gemahnt, Inder Nr. 2936, und ftellt am 28. März d. J. ein Schulddofument darüber aus, Inder Nr. 2937). Albrecht ift dann auch fehr warm für den Erzbiſchof eingetreten. Er erinnerte ben Serrmeifter an bie großen Dienfte, die Blankenfeld dem Orden (als Prokuraior) geleiftet hatte (Brachmann in Mitt. V, &. 81 f.; Inder Nr. 2933).

Nicht weniger rege jcheinen die Beziehungen Blanfenfelds zum polnifchen König geweſen zu fein: das läßt fih vor Allem aus ber lebendigen Anteilnahme erſchließen, die Eigismund I. an dem Schickſal Vlantenfelds nahm. Er beeilte ſich eine Gefandt: ſchaft zu dem Landtag, der Blankenfelds Sache vornehmen follte, abzufertigen, und verlangte, daß nichts darauf Bezügliches geſchehe, bis die Föniglihen Geſandten in Livland anfümen. (Gadebufch: Livländiihe Jahrbucher 1, S. 329—33 nad) Dogiel: Codex diplomatieus Poloniae V, Nr. CIV, CV, CVI). Zwar war «8 die Heligionsfrage, weldhe Sigismund als Grund feines Ein: greifens vorihügte, es war fein Nedt als Schützer der rigiſchen und dorpatiſchen Kirche, auf das er ſich berief (ebenda), dennod bliden wir in einen durch dieſes allein nicht motivirten regen Verkehr hinein, wenn wir von erzbiihöflihen Voten hören, die den König über die dem Etzbiſchof widerfahrenen Widermärtige feiten unterrihteten (Gadebuſch a. a. D., ©. 330). Beſonders aber ſcheint der Brief Sigismunds an Blanfenfeld jelbit (Gadebuſch, &. 328 f, Dogiel, Codex diplomaticus Regni Poloniae, Tom V, Vilnae 1759, Nr. CIIL, fol. 185 seq.) geradezu den Schlüſſel zu den Machenſchaften darzubieten, die die eigentliche Schuld DVlanfenfelds ausmachten. Der König hat von der Reife Blanken- felds nad) Nom erfahren und trägt ihm die Vertretung feiner Intereifen beim Papſi auf, aber aud) „ſonſt allenthalben.“ In diefem Zufammenhang erwähnt ber König einen Rat, ben ihm der Erzbiſchof in Betreff des mit Mosfau abzuſchließenden Waffen fillftandes gegeben ; diefer Nat jei dem König willkommen (gratum) und er würde ihn feinen Unterhändfern zulommen laſſen. Es läßt ſich wohl die Vermutung wagen, da Biankenfelds Verhandlungen mit den ruſſiſchen Gefandten und Vefehlshabern fih aud um dieſen Waffenjtillitand bewegt haben, vielleiht im Anſchluß an das alte Freundſchaftsverhäliniß Aibrechts mit dem Groffürften, an

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deſſen Pflege Blankenfeld ja felbft als Profurator teilgenommen hat (ſ. oben ©. 421). Wie anders follte Blanfenfeld in bie polnifd;;preußifchen Pläne ſoweit eingeweiht worden jein, um einen Rat in dieſer Beziehung geben zu fönnen? Die Ausdrudsmeife in dem Briefe Sigismunds ift fo vorfidtig gewählt, daß man wohl ſchließen Tann, es habe ſich eigentlich um mehr als einen Nat von Seiten Blanfenfelds gehanbelt.

Daß aber ein Waffenftilftand zwiihen Polen und Nußland fowohl dem König wie dem Erzbiſchof willkommen fein mußte, laſſen bie bisher freilich nod) recht wenig erforichten politiichen Verhältniffe in Nordofteuropa unmittelbar nad} ber Gäfularifation Preußens erraten.

Schon vor biefem entideidenden Schritte war am Hofe Plettenbergs und des Deutichmeifters die größte Abneigung dagegen merfbar geworden (Joachim: Politik Albrechts von Brandenburg, II, S. 92 f. und 101; I. Voigt: Geſchichte des deutſchen Nitter- ordens in Deutſchland, Berlin 1859, Band IL, S. 3 und 19). Daß befonders die Balleien des Orbens in Deuticland, beren einige direft vom Hochmeifter abhingen, durd die Säfularifation Preußens arg in Verwirrung gerieten, war verftändlid. Als bie Unruhen des Bauernkrieges worüber waren, ift man hier in ber That zur Beratung von Mafregeln gegen Herzog Albrecht geihritten (Voigt a. a. D. ©. 18 fi). Es gingen fogar Gerüchte von Nüftungen gegen ihn. Freilich war es Albrecht wohl befannt, daß eine ernjte Gefahr von biefer Seite nicht drohte (Voigt a. a. ©. ©. 18 und Anm. 2); ganz anders ftand aber die Sade, wenn Plettenberg an biefen Maßregeln fid) beteiligte, und daß die Vers handlungen in Deutihland mit Wiſſen Plettenbergs geſchahen, Hatte Albrecht allerdings hören müſſen (Inftruktion für feine Gefandten an ben Meifter vom 16. Februar 1526, Inder Nr. 2933, Brach-⸗ mann a. a. D. ©. 81). Jedenfalls ſcheint Plettenberg ſchon 1525 darauf eingegangen zu fein, mit bem Deutf—meifter zuſammen feierlich vor Maifer und Papſt Verwahrung einzulegen (Noigt a. a. O. ©. 19 f. und S. 20 Anm. 1), Wichtiger aber war es, daß thatſächlich in derfelben Zeit in Livland Rüftungen ftattfanden, angeblich um den drohenden Einfall der Auffen abzuwehren (Inſtruktion für Heinrich v. Galen, Monumenta V, ©. V ff. vom 2. Januar 1526), Rüftungen aber, die ſowohl ——— als

862 dohann von Blanfenfelds angeblicher Verrat.

dem König von Polen aufs äußerſte verdächtig vorfamen (Ander Nr. 2934). Der Herzog entſchloß fid) zu einer offenbar feindfihen Moßregel: er verweigerte den aus Deutfchland herbeigerufenen Gbelleuten (aus ber „Freunbf—aft” und den „Wlutsverwanbten“, vgl. Inftruftion für Galen, S. VI) den Durchzug durch fein Land (Inder Nr. 2938). Zugleich ließen ber Herzog und ber König direft bei Plettenberg wegen ber Bebeutung biefer Rüftungen anfragen und empfingen erſt im Juli 1526 beruhigende Ver— fierungen (Inder Nr. 2941 und 2942), Sie müſſen alfo bie gegen Blanfenfeld gerichteten Maßregeln als auch für fie ſelbſt feindlid empfunden haben. Daran ändert au nichts, daß ſowohl Albrecht bei Plettenberg wie Plettenberg bei Albrecht um Hülfe nachſuchte (Inder Nr. 2933 und Inftruftion für Galen a. a. O. S. VIf). Das waren bloß zum Verbeden der eigentlihen Abfihten geeignete Schachzüge.

Weſſen man fih in Livland von Seiten Preußens und Polens zu verjehen Hatte, beweijen nicht nur die Bemühungen Albrehts um Riga, bie Plettenberg veranlaßten, die Alleinherrichaft über bie Stadt wiber den Kirchholmer Vertrag anzunehmen (Brief Lohmüllers an Polentz bei Taubenheim: Aus bem Leben Joh. Lohmüllers, ©. 13; vgl. Richter, Gedichte der Oftfeeprovinzen L, 2, ©. 265 f. nad) der Inftruftion für die Abgeorbneten auf ben Wolmarer Landtag von 1525, Inder Nr. 2929, dem Brief Loh— müllers an Friedrich von Heideck, Inder Nr. 2928 b, und bem Brief bes Biſchofs Poleng an Lohmüller, ebenda Nr. 2928 c, ausführlicher referirt v. Schiemann, Rußland, Polen und Livland II, S. 214 f.). Hierher ſcheim mir aber aud ein zuerft vom Chro- niften Grefenthal berichtetes Ereigniß zu gehören: Die Rigaer Domherren hatten die Stadt ihrer Treue und Freundſchaft vers fiert und ſich verfauten laffen, fie wollten ben Teil ber Stadt, ben fie mit ihren Wohnungen inne hatten, auf ihre Unfojten befeftigen und bewachen. Jnsgeheim aber hatten fie das Ihre allmählich aus der Stadt geflüchtet, ſich felbit davon geſchlichen, aber auch das Geihüg und die Munition von ben Mauern und Thürmen wegzubringen gefucht. Als der Nat bas erfuhr, ließ er alle ihre Häufer, Mühlen, Vorwerke und um die Stadt gelegenen Güter befegen und verteilte fie unter die Bürger zum Nießbrauch und Beftellung, ben betreffenden Teil der Stadt aber ließ er mit

Johann von Vlantenfelbs angeblicher Berrat. 303

Ball und Graben befefiigen. Den Domherren blieb nur erlaubt, in ber Stadt zu Hantirung und Gewerbe ein- und auszugehen ober bei den Vürgern zur Herberge zu bleiben. Grefenthal fügt ausbrüdlih Hinzu: „Ueber folchen der Stadt Riga Beginnen ift der Erzbiſchof Johann Blankenfeldt heftig ergrimmet” (Grefenthals Chronik in Monumenta Livoniae antiquae, Bb. V, ©. 51 f.). Ueberhaupt deutet Grefenthal dirett darauf hin, daß Plettenbergs Haltung Riga gegenüber den Erzbiſchof veranlaßt habe, ihm „mit allerlei Lift und Praftifen zu miderftehen.” Darüber fei dann eine „gemeine Sage und Gefchrei” im Lande erchollen von bem Bündniß des Erzbifchofs mit Moskau. Pier fdjeint noch eine Darftellung hindurch, die in den Quellen Grefenthals jedenfalls viel deutlicher vorgefegen haben wird und eben bafjelbe darbietet, mas biefer Erfurs nachzuweiſen fuchte.

Blankenfelds Vergehen befand aljo darin, daß er mit pol nifcher und preußiſcher Hülfe feine bedrohte Stellung in Livland zu feftigen ſuchte. Um Polen freie Hand nad Rußland hin zu geben, fuchte er einen NMaffenjtillitand zwiſchen biefen beiden Mächten zu vermitteln. Plettenberg hat nun, um diefen gefähr- lichen Widerfacher unſchädlich zu machen und zugleid alle Stände von ihm abjubringen, das Gerücht einer Verbindung zwiſchen Blankenfeld und den Nuffen, das ſchon längere Zeit im Lande umging, aufgegriffen und auf biefe Weile in ber That auf das allerwirffamfte das ganze Intriguengewebe zerriffen. Denn die Gefahr von Dften her war das einzige Mittel, um bie Stände zu fräftigem Vorgehen zu veranfaffen. Sobald biejes Ziel erreicht mar und zugleid, fid zeigte, daß eine Neigung, dem Ordensmeifter für alle Zeit die Führung im Lande aud in rechtlichen Formen zu übertragen, nur bei einem Teil ber Stände vorhanden war, beſchloß er, ben tief gebemütigten Gegner wieder von ſich aus emporzuheben, ihn nun aber feſter an feine Perſon zu fetten, jedenfalls feine Selbftänbigfeit bem Orden gegenüber zu bredien. Daß das auf die Dauer nicht möglid war, hat Plettenberg leider nicht zu erfennen vermocht. Es bedurfte bloß bes Hineinfpielens der fürjtlihen Hauspolitik in bie livländiſchen Verhäftniffe, um Blantenfelds Veftrebungen in viel gefährlicherer Weiſe aufleben zu laffen. Für Blanfenfeld ift die Verbindung mit dem lutheriſchen

364 Johann von Vlantenfelds angeblicer Verrat.

Herzog ſehr charakteriſtiſch: die religiöfen Motive traten bei ihm zurück, fobald der weltliche Vorteil auf dem Spiele ftand.

Mit dem beutjden Teil des Ordens ſcheinen in Folge des Zurüdtretens Plettenbergs von einer gemeinfamen Aftion gegen Albrecht Mifverhältniffe eingetreten zu fein: Blankenfeld jelbft war auserfehen, die Auseinanderfegung mit dem Deutſchmeiſter und feinen Komturen zu führen (Mitteilungen aus dem Gebiete 2c. IL, ©. 505, Brief Plettenbergs an Blanfenfeld vom 6. Juli 1527 ; Blantenfelds Bemühungen in Nom und Deutfchland hatten übrigens auch Albrechts Interefjen im Auge; er fuchte dem ehemaligen Hochmeiſter die Schmad einer förmlichen Abſehung zu eriparen, ſ. Voigt, Gefdichte des Deutſchen Ordens in Deutſchland, IL,

A. Berendts. Beren: he

1) Leider war die umfichtige und forgfältige Zufammenftellung der für Blanfenfelds Leben befannten Daten, die 2, Arbufom im „Jahebud) für Genca Togie, Heraldit und Sphragiflit“ 1900 (Mita 1902) in ber Arbeit über „ivlands Seiftlicfeit vom Ende des 12. bis ins 10. Jahrhundert“, S. 40 f. gieit, mir zur Zeit ber Druclegung der in Heft © und 7 veröffentlichten Vorträge noch nicht befannt. Yufer einigen weniger wefentlichen Nachträgen enthält diefe Meberficht eine gerade für die im Erfurs behandelte Frage wichtige Vervolfitänt« digung des Jtinerars Blanfenfelds nad) feinem Scheiden auS Finland: e8 ermeift fich, daß er (vgl. S. 59 Anm. 4) ſich zunächſt nad) Wilna gewandt hat, wo er im Auguft 1520 nachweisbar ift. Das jheint mir die Vermutung zu beftätigen, daß feine Intereffen ihn zunächit nad) Litauen in die Nähe der zuffihen Grenze wiefen. Ob er Damals crft oder fejon früher den betreffenden Nat gegeben hat, Taf ſich auf Grund des mie belannten Materials nicht fgen. Den König Sigismund feheint Blanfenfeld auf dieſer Neife nicht geichen zu Haben; denn diefer äußert id) (f. 0. S. 360) am 7. September dahin, dad er won der Rom. zeife des Erzbiſchoſs bloß gehört Habe. Dahı BI. überhaupt erft bamals vom den Waffenflilfiondsverfandlungen erfahren Haben jollte, ſcheint mir barum unmöglich, weil man ihn in Mina ſchwerlich in fie fo tief eingeweiht hätte, wenn er nicht fchon von vornherein daran beteiligt gemejen märe. Naddem er in der Gefangenfcjaft von dem auswärtigen Verkehr fo ziemlich vollſtändig abge» f@nitten gewefen fein wird, muß er da Vedürfnik gehabt Haben, fi) über den Fortgang der von ihm miteingeleiteten UngelegenGeiten zu informiren.

Aus früßerer Zeit it bejonders intereffant zu erfaßren, ba Blantenſeld von 1509-1512 Affeffor am Reichsfammergericht zu Worms gemefen ift (vom Kurbranbenburg präfentirt), ogl. Arbufow a. a. D. S. 80.

Libland und die Sthlacht bei Zannenderg. (Säluß)

Werfen wir noch einen Blick zurüd auf die geheimnißvollen Beziehungen der fivfändiichen Ordensgebietiger zu Witot und feinen fitauifden Orofen. Da liegt eine diplomatifche Kampagne vor, die ganz gewiß ſchon vor dem Aufbruch des livländiſchen Heeres nad Preußen zwiſchen den livländiichen Ordensgebietigern und ben litauischen Großen eingeleitet und wohlüberlegt war. Witowt war fofort benachrichtigt worden und hatte bie Abmachungen feiner Hauptfeute in der Heimat beftätigt und die Grundlagen zu weitern Verhandlungen angenommen. Diefe Grundlagen waren in der That fo, wie Dlugoß fie erfannt und diesmal einigermaßen aufrihtig ausgefproden hat: bie Pivländer garantirten Witomt für feine Lebenszeit den Befig Samaitens, und er verſprach bafür die aftive Beteiligung am Kriege gegen ben Orden aufjugeben. Weiterhin wurde ein Friede mit Polen ohne Gebietsabtretungen feitens des Ordens in Ausficht genommen. Das wurde in geheimen Verhandlungen bei Varten und vor ber Marienburg feftgeftellt und hatte den fofortigen Abzug Witowts zur Folge. Vor den Polen fpielten Witowt und die Livländer eine Komöbie, die auch in ihren Korrejpondengen unter einander aufrecht gehalten wurde. Der Großfürft hatte gewiß allen Grund zu einem foldien Ver: halten. Dan hatte ihm polniſcherſeits beim Beginn des Feldzuges verfproden, da in allen eroberten Gebieten bem Könige und ihm gehuldigt werden folle. In Weſtpreußen hatten aber alle Einwohner ſich geweigert, bem Heiden oder böfen Chriften Witowt zu Huldigen, und die Bolen Hatten dieſe Weigerung begünftigt und geförbert und die ansichliehlihe Huldigung für den König ange- nommen. Witowt hatte man darauf dns nach nicht eroberte Oſt- preufen überwiefen; aber er jah deutlich, daß mit ihm auch dort

366 iofand und die Schlacht bei Tannenberg.

daſſelbe Epiel gefpielt werden follte. Er wuhte ſehr genau, daß je mächtiger Polen wurde, deſto größere Anſprüche auf feine Unter= ordnung unter Polen folgen würden. Bei feinen Zitauern aber war ſchon das Maß feiner bisherigen Unterorbnung höchſt verhaßt, und die Anhänger des in Banden gehaltenen Swidrigiello warteten nur auf den Wugenblid, wo biefer Haß fi gegen ihn felbit wenden würbe. Die Litauer haften wohl bie Deuti—en und ben Drben, aber ebenjo haßten fie aud) die Polen. Lieber jahen fie die Herrichaft der Dentfchen in Preußen weiterbeftehen, als daß fie das Land ben Polen gönnten. Diefe Verhältnifie, die ben liv— lãndiſchen Orbensgebietigern fehr wohl befannt waren, gaben ihnen bie Möglichkeit zu einem dipiomatiſchen Feldzuge gegen Polen, der ſehr geidjikt durchgeführt wurbe und einen vollen Erfolg hatte. Freilich war das ftarfe militärifhe Auftreten der Livfänder in Dftpreußen eine notwendige Vorausfegung für ben diplomatiſchen Erfolg. Crwägt man, daß nad) den eigenen Worten Heinrichs von. Plauen die Diarienburg unmöglid) noch lange zu halten war, daß auf eine ausreihende Hülfe von Meften Her nicht zu rechnen war und ber Abfall im Lande bis zum Ericheinen der Livländer immer weiter vordrang, fo wird man nicht in Abrede ftellen önnen, daß das Eingreifen ber Livländer den Ordensftaat in Preußen gerettet hat. Gewiß wären fie ohne bie helbenmütige Behauptung ber Marienburg zu ſpät gefommen, aber ebenfo gewiß hätte ohne fie die Marienburg trog aller Tapferkeit ihrer Befagung fallen müffen. Auf den Trümmern des preußiſchen Ordensftaates hätten dann wohl bald Polen und Litauer auf einander los= geſchlagen.

Die Marienburg war frei, aber damit war das von den Polen eroberte Land noch lange nicht zurüctgewonnen. Der König hatte bei feinem Abzuge die gewonnenen Burgen und ummauerten Städte befeftigen und ausrüften laſſen. Ueberall waren zuverläffige polniſche Mannſchaften Hineingelegt; man Hatte Die Parole aus« gegeben, da der König binnen furzer Zeit mit einem noch viel größern Heer zurüdfehren und bie ihm bemiefene Treue reich Iohnen, den Abfall von feiner Herricaft furchtbar trafen werde. Beim Nüdzuge durch das Kulmer Land hatte ſich dem polniiden Heer bie bis dahin von 15 alten Ordensrittern tapfer gehaltene große Burg Rheden, die ftärffte im Kulmer Sande, ergeben müſſen.

Sioland und bie Schlacht bei Tannenberg. 387

Aus Litauen fandte Witowt trotz ber geheimen Abmachung mit den Livländern viele Briefe nach Preußen, in denen er allen, bie fi gegen bie graufamen Kreuzritter halten wollten, Hülfe und Beiſtand verſprach; mer fi aber nicht bie zu feiner Rückkehr nad) Preußen dort behaupten könne, folle nur zu ihm fommen, um mit reichen litauiſchen Gütern belohnt zu werben. Je geſchwächter der Orden in Preußen mweiterbeftand, befto ſicherer war Witowt Samaiten. In ber That war das Bleiben im Lande jegt gar mandem Preufen unheimlich geworben. An ber Spide ber vor dem Orden Fliehenden jtand der ermländifche Erzverräter, ber Biſchof Heinric) Heilsberg von Vogelfang. Die großen welt: preußiſchen Städte wollten fid) durchaus nicht freiwillig und ohne weiteres dem Orden wieder unterwerfen. Danzig verlangte, der Orden folle zunächjit alle neuen Privilegien, bie der polniſche König ber Stadt verliehen hatte, beftätigen , bie Thorner ſchickten Gefandte nad) Polen und baten dringend um Hülfe gegen ben Orden. Auch Elbing war zum Wiberftande gerüftet.

Mit dem Ablauf bes Stillftandes ging der Landmarſchall, der im Ginverfiändniß mit dem Hodmeifter : Statthalter bie Führung der öftlihen Orbenstruppen beibehielt), unverzüglich an bie Wiebereroberung bes Landes. Schon nad) wenigen Tagen hatte er das Land ſüdlich vom Friſchen Haff gewonnen und ſtand vor Elbing. Nach kurzem Miberftande mußten Stabt und Burg ſich ergeben; die polniſche Beſatzung erhielt freien Abzug. Dann mwanbte ſich der Landmarſchall ſüdwärts. Durch lange Belagerungen der von den Polen befegten großen Schlöfer durfte er fi) nicht aufhalten laſſen. Zu deren Zernirung blieben untergeorbnete Gebietiger zurüd, benen ſich bie Velen bald ergeben mußten. So fielen Preußiſch-Holland, Preußiih- Mark und Chriftburg; das widtige Stuhm zwang Heinrich von Plauen wohl jelbft zur Erge- bung. Dabei wird der Orbenschronift der polniichen Tapferkeit gerecht: „Die Polen wehrten fih wie fromme Leute und hielten Stuhm drei ganze Woden, bis man ihnen mit ihrer gefammten Habe freien Abzug gewährte; die Unfern aber hatten Stuhm über geben wie Böſewichte und Schandmenſchen, bie des Nitternamens nicht wert find, wie fie es auch felbft von ben Feinden hören 9 Neben ihm ftand der zum jtellvertretenden Oberften Morſchall ernannte Komtur zur Balge-

308 Lioland und bie Schlacht bei Tannenberg.

mußten.” Von großer Bebeutung war bie Miedereroberung des Kulmer Landes. König Wladislaw, der mit dem polniſchen Heere in Rujavien teen geblieben war, ſuchte fie nach Möglichkeit zu hindern. Trogdem jtand der Landmarſchall ſchon am 11. Oktober vor Thorn und konnte dem Hodmeifter-Statthalter berichten laſſen, daß das Kulmer Land bis auf die Schlöffer Nheben, Straßburg, Thorn und die Stadt Thorn wieber dem Orden gehöre; am nächſten Tage wolle er die Burg Thorn ftürmen. Der Sturm gelang nicht, da die Stadt nicht, wie man erwartet hatte, zur Treue zurüdchrte und der König die Burg aufs ſtärkſte bemannt hatte, der Lands marſchall aber beftändig vor Neberfällen der in der Nähe ſtehenden polnifchen Heerhaufen auf der Hut fein mußte. Schon vorher waren bie oͤſtlichen Gebiete von Ofterode und Neibenburg wieber- gewonnen worben. Dort hatten ſich die Orbensvafallen doch auf ihre Ehre befonnen und die polnifhen Befagungen verjagt. Bon dem Strafen des Verrates und Abfalles aber mußte der Orden zunächſt ganz abfehen. Dan nahm die Entſchuldigungen der zur Treue Zurückchrenden ohne Disfuffion an und mußte ſich fogar entſchliehen, ben beiden großen Städten Thorn und Danzig bis zur befinitiven Beendigung des Krieges eine neutrale Stellung zuzugeftehn. Ihre gewaltfame Unterwerfung wäre zu langwierig gewefen; bei der Nähe des Feindes durfte man es darauf nicht anfommen lafjen. Aud) im Weſten ber Weichſel war die Rüd- eroberung des Landes gut von flatten gegangen. Die dortigen Vaſallen ftellten fid wieder den Ordensherrn zur Verfügung und nahmen die Schlöffer Sobowig, Dirſchau und Mewe wieder ein. Bei bem Vogt Kuchmeiſter erfchienen „viele gute Nitter und Knechte aus Deutfchland und Ungarn, ein Teil um Gottes willen, bie meiften aber doch bes Soldes wegen.” Cie eroberten Stabt und Burg Tuchel zurüd und unternahmen dann einen Einfall ins polnifche Land. Als fie aber dort am 10. Dftober um Polniſch⸗ Krone herum plünberten, wurben fie plöhlich von ftarfen polniſchen Streitfräften überfallen und erlitten bedeutende Verlufte. Die Polen nahmen zu ihrer Freube dabei den Vogt Kuchmeiſter jelbit, „ber dem Königreiche viel Schaden gethan hatte”, gefangen. Später, Anfang November, machten die Polen einen größern Einfall in die Gebiete von Schweg und Tuchel. Bei Tuchel fam es zu einem Treffen, bei dem die Orbenstruppen geichlagen wurden

Libland und die Schladit bei Tannenberg. 309

und wieder ziemlich ſtarle Verluſte hatten. Aber die Schlöffer widerftanden, und die Polen mußten bald abziehn. Sie behielten fints von der Weichfel nur Neifau (gegenüber Thorn) und Vütom (an der pommerſchen Grenze).

Eine unbedingte Notwendigkeit war aber nun die Neorgani- fation des Ordens in Preußen. Die ganze Orbensregierung und verwaltung mußte neu befegt werden. Die oberften Gebietiger waren ja alle bis auf den alten Tettingen tobt, die meiften Kom— tureien, Vogteien und Pflegerämter nur notdürftig mit jtelver- tretenden Nitterbrübern befegt. Die Finanzverwaltung war in ber größten Verwirrung, die Kaffen überall leer. Deshalb hatte der Statthalter Heinrich von Plauen gleich nad feiner Befreiung an bie Meifter in Deutſchland und Livland und an bie deuifchen Zandfomture geſchrieben und fie dringend aufgefordert, zu einem großen Drdensfapitel und der Hochmeiſterwahl nad Preußen zu kommen. In Livfand mußte der unterbeilen glücklich genefene Meifter Konrad von Vitinghofe ſich aud) in livländiſchen Intereſſen zum Zuge nad) Preußen rüften. Denn es galt jegt, eine lang- wierige Fortfegung des Krieges zu verhindern und den Frieden auf Grundlage der mit Witowt getroffenen Vereinbarungen herbeis zuführen. Das durfte nicht dem zur rheinländiſchen Partei gehörenden tapfern Landmarſchall überlajjen bleiben. Am 10. Oktober beant- wortete Meifter Konrad ben vom 26. September batirten Brief des Statthalters. Cr gratulirte herzlich zur Befreiung und ſprach feine Freude aus, daß es den Seinen jo glüdlih und gar wohl in Preußen ergangen fei; er jelbft fei jehr frank gemefen, aber nun wieder einigermaßen auf die Beine gebracht, jo daß er hoffen bürfe, am 7. November in Memel zu fein, er wolle mit nur 30 Pferden fommen und bitte, dab man ihm ein bequemes Schiff zur Fahrt übers Haff bereit halte, da er mit feiner Gefundheit noch vorfihtig fein müſſe; in Lioland jteht es ſonſt „redlich genug“, nur mit den Rufen ſiehe man „auf ioſem Grunde“ und müffe täglid) auf eine Kündigung des Friedens gefaßt fein, woran Witomt aufs härtefte arbeite. Wir wiſſen nidt, ob der Dieifter feine Dispofitionen nad) Abgang des Briefes geändert hat oder ob elwa die Anmeldung mit nur 30 Pferden nad) Diemel zum 7. November zur eventuellen Jrreführung der Litauer am Wilden Strande, denen man nie trauen durfte, geſchrieben war. Jedenfalls traf

30 Lioland und die Schlacht bei Tannenberg.

Konrad von Vitinghofe fhon vor dem 1. November in Preußen ein und zwar mit einer zahlreichen Veritärfung bes livländiſchen Heeres, wie von anbdrer Seite gemeldet wird unb bdurdaus glaubhaft if. Denn je ftärfer er auftrat, deſto nachdrücklicher fonnte er für den Frieden wirken. Um dieſelbe Zeit trafen dort aus dem Weiten ber Deutſchmeiſter Konrad von Egloffjtein und die Landkomture von Deftreih und von der Etſch mit „vielen Brüdern und Gäften“ ein. Am 9. November fand bie Hoch— meiſterwahl ftatt. Wie nicht anders zu erwarten war, fiel fie auf Heinrich von Plauen, ben eriten Netter in ber größten Not, den Helden von ber Marienburg, Er ernannte darauf die neuen Gebieliger. Hermann Gans wurde Großfomtur, ber nod) gefangene Nuchmeifter Oberfter Marſchall, Albrecht von Tonna Oberfter Trapier, Boemund Brendel Oberfter Tresler, Albrecht von ber Dube Vogt ber Neumark u. ſ. w. Teltingen blieb Epittler, ber Graf von Zollern Komtur zur Balge. Der Zuzug nad Preußen wurde num immer größer. Neben manden weltlichen Fürften und Herm erſchienen aud) zwei geiftliche, Johann von Wallenrobe, ber Erz- Bifcjof von Riga, und Johann von Egloffitein, Bifchof von Würz- burg. Wallenrode war feit dem Tode König Nuprechts ohne Dient und auch fonft iſolirt, weil er noch im Gehorſam Gregors XIL. ftand. Er fann, wie er möglihft vorteilhaft in ben Dienſt Sigismunds, bes tommenden Kern’), und in den Gehoriam Johanns XXI. übergehn folle. In Preußen wollte er jetzt die Gelegenheit benugen, aus feinem vermieteten Erzbistum Riga mehr ale bisher herauszuichlagen. Zu dem Zwede war er bereit, allen gefällig zu fein: Sigismund zur Fortfegung des Krieges, die biefer tebhaft wünfchte, dem Meifter in Livland zum Friedensſchluß, dem

4) Diefer war am 20. September 1410 in zunachſt ungültiger Weife zum Romiſchen König germäßlt worden. Am 1. Dftober war in gültiger Weife Jobſt von Mähren gewählt, und bald darauf war aud Wenzel von Böhmen als attioer Nöm. König aufgetreten. ber es ıwar voraußgufehen, dafı nur Sigismund ſich behaupten werde. Nachdem Jobit am 18. Januar geitorben mar, vollyog man am 21. Juli 1411 eine gültige Wahl Sigismunds, und Wenzel trat zu Gunſten des Bruders wieder in die Jnaftivität zurüd. Die Chriſtenheit Hatte damals befanntlich drei Päpfte: Johann NNIH. in Rom, Benebitt XIII. in Avignon und Gregor XIL,, der von Gaeta und anbern italienifcen Orten aus die Welt regierte. Ruprecht hatte noch an Gregor XIT. fefigehalten, jept war aber Deutfchland und namentlich der ganze Often im Gehorſam Johanns RXIII.

Livbland und die Schlacht bei Tannenberg. am

neuen Hochmeiſter wieder zur Yinderung bes Friedens. Der gewandte Diplomat und Orbensbruber war für jeden zu haben, der nur zahlte. In Kujavien beim König Wladislaw war unter deſſen aud Witowt mit einigen litauif hen Truppen wieder erſchienen. Er erklärte öffentlich, daß er bereit fei, zum zweiten Mal Tod und Verberben nad) Preußen zu tragen. Der Orbenschronift meint, „ber große Mord Tonute auf beiden Seiten wieder los— gehen; hätte der Orden nicht wieder bie Handlungen und Tage aufgenommen, fo modjte man dem König wohl manden Ritt und Uebermut angethan haben.” Auf „Nitte und Uebermut“ gegen den Feind fam es aber nun freilich dem neuen Hochmeiſier nicht an. Er wollte einen Krieg im großen Stil, eine Nieberwerfung Polens ein für alle Mal. Es wird nicht in Abrede zu ftellen fein, daß an und für ſich ein raſcher Krieg mit großen Erfolgen gewiß das befte Mittel war, den Orbensftaat nad) außen zur alten Höhe emmporzuheben und nad) innen ſichere Ruhe zur Heilung aller Schäden zu gewinnen. Daß das Verhältniß zwiſchen Witowt und ben Polen ein ſehr fragliches war, daß bie Litauer feine Luft zum Kriege „für Polen“ Hatten, da Wiadislaw fid) vergeblich mühte, größere polniſche Streitfräfte gegen ben Drden mobil zu machen, und einen Teil feiner Söldner aus Geldmangel hatte entlaſſen müſſen !), alles das war Heinrich von Plauen mwohlbefannt. Nach der Richtung waren die Chancen ohne Zweifel gut. Auch war nad den frühern Erfahrungen wohl anzunehmen, daß jeder Friede ohne große Erfolge nur ein fauler fein werde, den bie Polen bei der nãchſten günftigen Gelegenheit wieder breden würden. Aber wie jah es mit ben eigenen Dlitteln bes Ordens aus, wie mit der Einigfeit und Zuverläffigfeit in feinem eigenen Lager? Söldner freilich konnte ber Orden wieder in Ueberfluß haben, aber nur zu mindeſtens 24 Gulden monatlih auf den Spieß und häufig von fehr zweifelhafter Güte. Da hatte man z. B. ſchon zahlreiche

1) Seit Ludwig dem Grohen fonnte ein polniſcher Aönig mit polnifcen Zeuppen auferhalb Polens nur Arieg führen, wenn er alle Koften und Schäden erfete, bie jeber einzelne pofnifcie Edelmann im Kriege erlitt. Jeden Gefangenen mußte er aus eigenen Mitteln Iostaufen. Da iſt es fehr erflärlic, dab trop der preubiichen Beute dem König jeht das Geld ausgegangen war. Gr hatte bereits unzählige Verſchreibungen und Anmeifungen auf Einfünfte aus Länige lien Gütern ausftellen müffen. Caro, Gejdihte Polens, 3. 347 fi.

372 Sioland und die Schlacht bei Tannenberg-

Schleſier, die „ihren Sold gar übel verdienten; denn fie wollten den Fuchs nicht beißen!) und thaten zu feinen Dingen redlich.“ Andere ftellten vor dem Losfchlagen plöplic Bedingungen: man folle fie zuerſt gegen jeden Schaden figeritellen, ober: diesmal lohne es fi) nicht, fie wollten vorteilhaftere Gelegenheiten abwarten. Sole, wie die Schiffsfinder (Matrofen) aus Schonen, bie bei den Nusfällen aus der Marienburg allen Nittern und Knechten ein leuchtenbes Vorbild der Tapferkeit gewefen waren, mit denen ber livlãndiſche Landmarſchall am liebſten alle preußiihen Schlöffer bemannt hätte, waren nicht zahlreich zu haben. Die Hauptſache war Geld und immer wieder von neuem Geld. Danach verlangten aud) mit wenigen Ausnahmen bie vornehmen Fürften, Grafen ®) und Herrn, die dem Orden zur Hülfe bereits da waren oder nad) tommen wollten. Ja, ſelbſt den Gebietigern und Ordensbrüdern aus den beutfchen Balleien und allen ihren Leuten mußte der regelmäßige Sold gezahlt werben, ebenfo den Mannſchaften ber Biſchöfe?). Dabei mußte fid) der Hochmeiſter noch immer „vor feinen eigenen Mannen” und vor den Städten Thorn und Danzig hüten. Es gab noch mande Böſewichte im Lande, die im Solde des Königs von Polen fpionirten. Beſſer ſtand es, wie uns fcheint, mit der Zuverfäffigfeit bes gemeinen Candvolfes, das Unfägliches vom Feinde erlitten hatte und nun doch wieder willig unter die Fahnen des Ordens trat ober troß feiner äußerften Not zinfte. Unter den eigenen preußifhen Nitterbrübern waren nod) immer viele, deren Trachten nur danad) ging, den Orden und fein Gut zu genießen, bie aber fehr abgeneigt warn, Leben und Gut in einem neuen großen Kriege für Hohe Ziele einzujegen. Zum „Ritt und Uebermut“, d. h. zu Stoßreifen, wie fie einftweilen wieder auf beiden Seiten, von Deutſchen und Polen, unternommen wurden, waren fie allenfalls zu gebrauchen, barüber Hinauszugehen

3) Eine zarte Umſchreibung des Drbenschroniften für „fie waren feige Hunde."

2) In Preußen anweſend oder auf dem Zuge dorthin begriffen waren u.a. ein Marfgraf von Vaden, ein Herzog von Schlefien-Wünfterburg, bie Grafen von Henneberg, Koſtelen (Gaftell?), Reuenlirchen; angemelbet waren Herzöge von Sachſen, von Pommern-Wolgaft und Pommern-Stettin (der von Bommern-Gtolp focht auf polnifcer Seite), von Braunſchweig und viele andere.

3) Die bifchöflichen Priefterbrüder von Kulm, Pomefanien und Samland waren wieder zur Ordenstreue Zurüdgefehrt.

Livland und bie Schlacht bei Tannenberg. 373

hatten fie feine Luft. Die ganze Finanzverwaltung bes Ordens, früher gerade feine Hauptſtärke, Tag, wie ſchon erwähnt, in Trüms mern und fonnte ſich nur jehr allmählich erholen. Der fruchtbarite und reichte Teil des Landes mar vom Feinde fo ausgeraubt worden, daß man in vielen Gehöften „Leinen Steden mehr fand, geidjweige denn ein Pferd oder Rind.” Mit größter Not und Mühe befchaffte man, was für die Armirung und Verproviantirung ber Schlöffer und für bie Anfprüce der Gäfte und Söldner erfor: derlich war. Von dieſen Verhäftniffen konnte ſich DMeifter Konrad von Vitinghofe genan überzeugen, als er nad) Beendigung des großen Orbensfapitels feiner Förperlichen Schwäche wegen in der Marienburg blieb, während der Hochmeiſter und bie andern Gebietiger gegen den Feind und im Lande thätig waren. Er vertrat, wie es ſcheint, auf der Burg den Hochmeifier und nahm die von allen Seiten einlaufenden Berichte für ihn entgegen. Gleich nad) dem Kapitel begannen aber auch die Unterhandlungen mit Wladiolaw und Witowt. Veranlafjung dazu gab der König ſelbſt. Am 9. November erließ er ein Senbichreiben an alle Herzöge, Grafen, Barone u. ſ. w, die dem Orden zu Hülfe gezogen feien. Er gab darin feinem Erſtaunen Ausdrud, daß fo weife und tapfere Männer feine gerechte Sache verfennen und dem Orden helfen fönnten; er fei ja dod) vom Orden gegen alle Verträge und päbftlihe und faijerliche Urkunden überfallen und zum Kriege gepwungen worden; der Orben Ichne alle Vorſchläge zum Frieden ab, während ber König gern die fremden Fürften zu Schiedsrichtern machen wolle; das werde er ihnen fofort beweifen, wenn fie zwei Wertrauensmänner aus ihrer Mitte zu ihm enden ober zwei feiner Großen bei fid empfangen wollten. Da bie Adreſſaten dieſes famofen Schreibens ſich mittlerweile überzeugt hatten, daß der Orden nicht im Stande war, auf die Dauer große Solbjummen aufzubringen, erffärten fie dem Hodmeifter und ben Gebietigern, daß es ihnen bei jo gut gemeinten unb ehrlichen Erbietungen des Königs ſchwer fallen müffe, gegen ihn zu Kämpfen. Heinrich) von Plauen konnte fih unter folden Umftänden der Aufnahme von Verhandlungen mit dem Feinde nicht entziehen. Nac) manden Unterbrehungen und Zwiſchenfällen ) führten fie

?) Diugob eräflt u. a. noch von einer großen Niederlage, die ſpeziell bie Lioländer zwifen dem 29, November und 8, Dezember bei Golub an ber

37 Lloland und bie Schlacht bei Tannenberg.

zum Abſchluß eines Maffenftillftandes vom 14. Dezember bis zum 11. Januar 1411. Während deſſen follten beide Teile ihren augenblicklichen Befigftand behalten. Den Polen wurde ber freie Verkehr mit ben fünf Burgen, die fie noch in Preußen beſetzt hielten, und deren Verproviantirung zugeftanden. Kurz vor dem Beginn bes Stillftandes fand eine Zufammenkunft bes Hochmeiſters mit dem Könige jtatt. Man nahm beiderfeits ein Schiedogericht für den definitiven Frieden an, aber als es fih um bie Wahl des entfcheibenden Obmannes handelte, wies ber König jeden dazu Vorgeſchlagenen zurüd, foviel Fürften und Herrn der Hochmeifter aud nannte. Am 14. Dezember erlich Heinrich von Plauen ein Birkularfdjreiben an bie abendländiſchen Herrſcher und Fürften, in dem er ihnen wieder eine Ueberſicht über die Geſchichte bes Krieges gab und über den Waffenftillitand und feine Zufammenfunft mit dem Sönige eingehend berichtete; er nennt an ber Spitze ber jenigen, bie ihm dringend zum Stillitande geraten, ben Erzbiſchof von Riga, die Bifhöfe von Würzburg und Pomeſanien, die Grafen von Henneberg und von Koftelen, die Gebieliger von deutſchen und wälſchen Landen und viele andere; er erzähft, wie ber König von Polen bei all den Herrn, bie bem Orden zu Dülfe gezogen feien, „feine eigene Schuld mit Erbietungen und ſchönen Farben zu bemänteln und zu verdeden, die Unſchuld des Orbens aber zu berüchtigen, zu bezichtigen und zu beſchuldigen“ verſiehe, und erklärt wieber, daß es fi) weniger um ben Orden, als vielmehr um höchſt wichtige allgemeine Jutereſſen der abendländilchen Chriftenheit handele; er will allen Nittern und Knechten, die zu ihm kommen, den üblichen Monatsſold, gerechnet vom „Tage ihrer Nusfahrt aus ihrem Haufe“, zahlen, und bittet bie Fürften, feiner Werbung günftig und förderlich zu fein. In dieſen Tagen ſchickte Konrad von Vitinghofe feinen Landmarſchall in die Heimat zurüd. Am 15. Dezember fchrieb er an den Nevaler Rat: der Landmarſchall übernehme wieder feine Vertretung in Livland, ba er felbft noch

Grenge des Aufmer Landes durch eine viermal Heinere pofnifche Truppenmacht erlüten hätten. Dabei fein auch viele Cursones (Rurländer), Menfien von berüchtigter Untreue, gefangen worden. Dieſer Dichtung fann mur ein ganz unbebewtenber Vorgang zu Grunde Liegen, Mir haben gerade aus diefen Tagen Briefe des Meifters, des Landmarfchalls und preufilder Gebietiger, bie vom Aricge erzäßen, aber nict8 von einer folgen Niederlage wiſſen.

Liofand und bie Schlacht bei Tannenberg. 375

einige Zeit draußen bleiben müſſe, um bie Sachen bes Ordens in Preußen wieber in ben alten Stand zu bringen; es gehe bamit gut, denn man habe ſoviel gute Leute (zum Kriege), daß man fie kaum erhalten könne; der Rat möge dem Landmarſchall beiftehn und beijen Schriften Folge leiften. Während ber Hochmeiſter alles that, die Wiederaufnahme des Krieges vorzubereiten, wirkten ber Gioländifche Meifter gegen ihn, der fitauifche Grohfürft gegen bie polniſche Ariegspartei für den Frieden. Der Stillitand wurde zuletzt um zwei Tage verlängert, dann folgten einige Meine Stoß: reifen und Scharmügel, vom 22. Januar aber wieder für vier Tage Waffenruhe. Am 15. Januar hatte der Hodmeilter ein zweites Rundſchreiben an die abendländiſchen Fürften erlaſſen und mitgeteilt, daß König Wladislaw ſich im Widerſpruch zu feinen Verſprechungen wieder mit den Heiden und Irrgläubigen verbunden habe und im Begriff fei, mit ihnen Preußen ganz zu Grunde zu richten. In der That Hatte Witowt litauiſche Verjtärkungen an die Weichfel berufen und ließ es an Drohungen gegen ben Orden nicht fehlen. Das konnte feine Stellung für den Friedensſchluß nur verftärken. Gr torrefponbirte mit bem Hochmeiſter, bem er einen Geleitsbruch gegen polnifche Ritter, ein graufames Verfahren mit abgefaflenen Ordensunterthanen, eine unbillige Haltung bei den Sriebensverhandlungen und den Wieberbeginn des Brennens und Heerens im polnijhen Lande vorwarf; er klagte über bie Siolänber, bie ihm gegenüber den Frieden gebrochen hätten; wenn fie dem Hochmeiſter gejagt hätten, daß fie ſich besiegen wohl vor Witowt zu verantworten gebächten, fei ja bas ganz ſchön, er bleibe aber dabei, daß die Livländer gegen ihn unreblid) gehandelt hätten. Es fält f—hwer, in dem unvollfländigen Material diefen Schlichen unb Liſten zu folgen.

Am 24. Januar trat endlid) auf einer Weichfelinfel bei Thorn eine endgültige Friedensfommilfion zufammen. Ihre Zufammen- feßung zeigte fon, daß auf beiden Seiten die Friedenspartei gefiegt habe. Denn an ber Spite ber Rommifjare ſtanden ber Großfürft Witowt unb der übländiſche Meifter Konrab von Vitinghofe. Neben Witort jtanden ſechs polniſche Räte, neben dem Meifter der Biſchof von Würzburg und der Edle Herr Heinrich ber Neltere zu Plauen. Sie ſchloſſen den berühmten erften Frieden von Thorn, der fpäter vielen Geſchichtsforſchern als ein hiſtoriſches

376 Livland und die Schlacht bei Tanmenberg.

Nätfel gegolten hat, weil in ihm ber Deutfche Orben fo billigen Kaufes bavongelommen fei. Am 1. Februar nahmen ihn alle Beteiligten feierlich) an, worauf ſofort die Ausftellung und der Austauſch der Urkunden erfolgte. Danach haben ſich der König Wladislaw und der Grohfürft Witorot für alle ihre Länder und Vefigungen mit dem Hochmeiſter und dem Deutfden Orden in Preußen und Liv: land wie für alle feine fonitigen Vefigungen unter Einſchluß der beiberjeitigen Bundesgenofien und Helfer zu „einem ewigen Frieden und unverlegbaren Bündniß“ geeinigt. Der beiderfeitige Beſitz- ftand wird bergeftellt, wie er vor Beginn des Krieges im Jahre 1409 war, mit Ausnahme Samaitens, weldes Land Wladislaw und Witorwt für ihre Lebenszeit: befigen follen. Durch befondere Urkunden foll feitgeitellt werben, ba nach ihrem Tode der Orben ohne jedes Hinderniß von Samaiten Beſit ergreifen darf gemäß den Urkunden, die ihm früher dies Land zum Eigentum zuge— fprohen haben. Die maſoviſche Landihaft Zakıze, die dem Orden verpfänbet ift, fällt ohne Zahlung der Pfanbjumme an den Herzog Semowit von Viafovien zurüd. Alle Ordensunterthanen, bie im Rriege dem Könige oder dem Großfüriten gepulbigt haben, find vom Könige und vom Groffürften ihrer Eide entbunden. Ale Gefangenen folen freigegeben werden, alle Forderungen an fie oder ihre Vürgen follen ungültig fein; alle Flüchtigen dürfen unangefochten zu ihrem frühern Beſitz zurüctehren. Der Biſchof von Ermland hat freies Geleit in fein Land, und der Hochmeiſier darf ihn nur auf dem Rechtswege verfolgen. Ueber den Belik der neumärkiſchen Burgen Driefen und Zantok wie über alle fonftigen Orenzitreitigleiten enticheiden Scjiedsgerichte, bie der König und ber dochmeiſter mit je ſechs Männern befehen; können fie ſich nicht einigen, fo entſcheidet der Papft als Oberjdjiebsrichter. Beide Teile find verpflichtet, in ihren Ländern alle Ungläubigen zu befepren. Den benachbarten Ungläubigen ſollen beide Teile ihre Ginigung mitteilen und fie zur Annahme des wahren Chriften- tums ermahnen; wenn fie verweigert wird, follen die Paciszenten einander bei ber gewaltjamen Vekehrung diefer Ungläubigen unter- ftügen, nachdem fie fi) über die Art und Weihe ihres Vorgehens verftändigt haben. Die dabei eroberten Länder follen beide Teile jo unter einander teilen, wie es die frühern Urkunden beftimmen. Der Hochmeiſter ſoll den König von Ungarn auffordern, dieſem

Siolanb und die Schlacht bei Tannenderg. am

feinem Frieden mit Polen und Litauen beizutreten; bis ber König geantwortet hat, foll er von polniſch-litauiſcher Seite nicht anges griffen werben.

Das war der Inhalt der am 1. Februar vorläufig befiegelter und ausgetauſchten Urkunden. Denfelben Wortlaut hatten die beſonders feierlich ausgeftatteten Pergamente, die die Paciszenten einander ſpäter (am 10. Mai 1411) übergaben. An fie waren neben die großen Majeſtätsſiegel des Königs, des Großfürſten und des Hochmeiſters die beim Friebensichluß beftimmten Siegel beider⸗ feitiger Prälaten, der Meifter in Deutſchland und in Livland, preußifcher Gebietiger, polnifher und litauiſcher Magnaten, pol⸗ niſcher Städte und preußifcher Sandesritter und Städte gehängt. Auferdem waren aber die Friedensfommiffare „nach dem Kate der Fürften und Herrn, die fih zur Zeit beim Hochmeifter auf⸗ hielten“, übereingefommen, daß der Deutfche Orden in Preußen dem König von Polen für die Freilaſſung ber Gefangenen wie für die Raͤumung der vier preußiſchen Burgen !) die Summe von 100,000 Schock böhmiſcher Groſchen ratenweife inneıhalb eines Zahres auszuzahlen Habe. Infolgedeſſen mußte ber Hochmeiſter dem König am 1. Februar eine entfpredende Obligation nebit vereinbarten Bürgſchaften übergeben. „Er wuhte wohl, daß es ihm gar ſchwer fallen werbe, eine jo unmäßige Summe *) aufzu= bringen, aber die Herrn Rommilfare, die der Orben ſelbſt gewählt hatte, hatten fie bewilligt.“ So heißt es fpäter in einer Inftruf: tion, die der Hochmeiſter einem feiner Gefandten mitgiebt. Noch

1) Thorn, Rheden, Strasburg und Reſſau. Pütom war noch zuleht vom Orden zurücerobert worden, wobei der Herzog von Pommern-Stolp eine Rieder Tage erlitten Hatte.

3) An und für ſich tan man die 100,000 Schot böhm. Grofchen, bie ,000 unger. Gulden entfpredjen (im Metallwert ungefähr 17/, Million Reichs: mart), faum eine unmähige Summe nennen, wenn man berüdfictigt, daß der Orden dem König Sigismund im vorfergefenden Jahr 375,000 ungar. Gulden als Kriegsfubfibie verfeprieben Hatte und dieſe Veriejreibung im J. 1412 ernenerte. Bei dem frühen Stande ber Ordensfinangen hätte man gemi bie 100,000 Schod ohne große Schwierigfeiten zahlen fönmen. Jeht ftand der Orden mit feinen Tecren Naffen und den geſchwächten Steuerfräften des Landes grofen Gold forderungen gegenüber, und zugleich hielt ber Yocmeiiter neue Nüftungen in weitem Umfange für durhaus notwendig. Da it c& ſeht erflärlich, dab die 100,000 Schod unerfcmwinglich zu fein (dienen,

3

878 Livland und bie Schlacht bei Tannenberg.

mehr als gegen biefe Zahlung mag fid) Heinrich von Plauen gegen bie Beſtimmungen über Samaiten gejträubt haben. Die geheimen Abmachungen zwiſchen Witowt und den Livländern führten ba fchließlich zu einem unglücklichen Kompromiß. Witowt mußte ben Anſpruch auf das Eigentumsredt an Samaiten fallen laſſen und ſich mit dem Iebenslänglihen Befigredhte begnügen. Aus dem ſtaatsrechtlichen Verhältniß Litauens zu Polen ergab ſich die Not: menbigfeit, bem König das gleiche Beſitzrecht zuzuſprechen. Dem Orden blieb das Cigentumsrecht vorbehalten, wie es ihm bie Friebensurfunden vom Gallinwerder und von Naciaz zuerkannt hatten. Nach dem Tode ihrer gegenwärtigen Herricher ober bei beren freiwilligem Verzicht (!) follten Polen und Litauen ben Orden in feiner Weife hindern dürfen, ben Vefig Samaitens wieder anzu— treten. König Wladisla wurde verpflichtet, bem Orden darüber eine befondere Verfchreibung zu geben, jobald die 100,000 Schock bezahlt feien. Diefe Beſtimmungen machten von vornherein ben Thorner Frieden zu einem unfihern Waffenitillitand. Sie mußten in Sitauen wie in Polen bie Feindfhaft gegen ben Orden aftio erhalten und mehren und die von ihm angeftrebte Trennung Litauens von Polen in hohem Grade erfchweren. Cine definitive Abtretung bes Landes wäre für ihm weniger ſchädlich geweſen. Es war Mar, daß gerade die ſamaitenſche Frage jebesmaf bie polniſchen Anfprüce auf Weftpreußen um jo heftiger hervor— rufen werde.

Die frühern Beftimmungen über das Verhäftnig ber Paciszenten zu Nomgorod und Plesfau wurden im Thorner Frieden erneuert, nur vermieb man diesmal, die Namen der „benachbarten Ungläubigen” zu nennen. Wir müflen annehmen, daß man in Livland nad den Erfahrungen bes legten ruſſiſchen Krieges mit dieſem Friebensartifel noch unzufriedener war als in den Jahren 1398 und 1404. Den Polen und Litauern war dadurch bie Möglichkeit gegeben, ſich beftändig in die livländiſch- ruſſiſchen Beziehungen einzumifchen, und es lag auf der Hand, daß ſolche Interventionen nie den livländifchen Intereſſen entſprechen würden. Offenbar Hat Konrad von Vitinghofe die Aufnahme diefes Artikels zu verhindern gefucht, aber bie Polen und Litauer behaupteten ihn, um ſich aud) gerade dadurch als cifrige Vertreter ber römiſch- tirchlichen Intereſſen erweiſen zu können.

Sioland und bie Schlacht bei Tannenberz. 3”

Die Polen Haben bei pätern Verhandlungen (im Jahre 1422) eine Menge Zeugen vor einem Bevollmächtigten bes Papſtes ausfagen lafien, daß fie den Frieden von Thorn im Jahre 1411 nur ber Ungarn wegen geſchloſſen hätten, „die damals das polnifche Reich zu Gunjten der Orbensbrüber in Preußen angegriffen hätten.“ In ber That hatte König Sigismund im Dezember 1410 von Ungarn aus ein Meines Heer in Polen einfallen laſſen. Seine Abſicht war, dadurch einen Friedensihluß zwiiden Preußen und Polen zu verhindern, den Krieg dort im die Länge zu ziehm. Ihm war der Orden flets nur eine Oeldquelle und ein Mittel zur Schwächung Polens. Aber fein Einfall war höchſt ſchwächlich und von gar Feiner nach- haltigen Wirkung. Sein Meines Heer beftand aus Gölbnern, bie er als Röm. König oder „auf Privatrechnung“ geworben hatte; das Heid) Ungarn war nicht beteiligt. Die Polen fannten bie thatjächliche Bedeutung feiner Unternehmung gegen fie fehr genau; eine Gefahr von der Geite fonnte bei ihren Motiven zum Friedens: ſchluß mit Preußen faum in Betracht kommen. Bisher Hatte Sigismund feine Bündnißpfliht gegen ben Orden in gröblider Weife verfäumt ; jegt wollte er wenigftens einen Schein der Pflicht erfüllung retten und dadurch zugleich ben Hochmeiſter und bie preußifche Kriegspartei in ihrem Widerftande gegen einen definitiven Frieden ermuntern und ftärfen. Gerade gegen feinen Einfluß wendete fi Konrad von Vitinghofe aufs nachdrücklichſte. Die Majorität ber preußifchen Gebietiger ging mit dem livländifchen DMeifter und ſchob ihn zum Friedensihluß an bie erfte entf—eibende Stelle. Jene polniſchen Zeugenausfagen im Jahre 1422 follten ben wahren Orund bes Thorner Friedens, den Zwieſpalt zwiſchen Polen und Litauen, verdeden und den Eindrud hervorrufen, daß die Widerftandskraft des Ordens 1411 völlig gebrochen geweſen fei !).

1) Diugob fagt, dal der ſchimpfliche und verderbliche Friedensvertrag au Thorn im J. 1411 mur durch die Bemühungen Witowts zuſtonde gelommen fi. In geradezu lächerficher Weife habe er dem Reiche Polen gar keinen, Litauen dagegen einen fehr großen Vorteil gebracht. Die mifitäriice Intervention Sigis . munds iſt auch nad) Dlugob völlig bedeutungsloS, weil die Ungarn ihres eigen und unantaftbaren Bundes mit Polen eingeben geweſen jeien und ſich von Sigismund zur Teilnahme am Sriege weder zwingen noch überreden lichen. Den S. 252 Mnmerbung abe ih Bemert, db die Dtähgenung ber rlflden

‚880, Mioland und bie Schlacht bei Tannenberg.

Bevor wir ſchliehen, fei nod) hervorgehoben, daß bie Politil Konrads von Vitinghofe und ber weſtfäliſch-livländiſchen Ordens gebietiger das war, mas man heute Nealpolitit nennt: fie hielt fi ftreng an das praftifche Bedürfniß ihres Landes, Livlands, und rechnete barüber hinaus nur mit ben thatſächlichen Macht- verhältnifien. Livland brauchte ben Frieden und fonnte ſich auf die Dauer an feinem auswärtigen Kriege beteiligen, ohne auf allen Seiten unüberwinblihen Gefahren zu begegnen. Preußen war für den Orden nur nod) durch das Nufgeben Samaitens zu reiten gewefen, durch einen Verzicht, deſſen ſchwerwiegende Bedeutung man gewiß auch in Livfand würdigte. Aber man war bort davon überzeugt, daß die notwendigen Bedingungen für eine erfolgreide Fortfegung des Krieges einftweilen weder in Preußen nod außer: balb beijelben vorhanden waren. Mißerfolge konnten leicht den völligen Untergang des preußiihen Ordensftaates zur Folge haben, und in ihm fonnte dann aud) Livland hineingejogen werben. Gewiß waren die Ziele der friegerifchen Zdealpolitit Heinrichs von Plauen ebenfo ſympathiſch wie der Mut und die Tapferkeit feiner Perſonlichteit. Aber ihm fehlten im Orden felbft wie tm ganzen Sande die unentbehrlihen Stügen und Mittel. Cs war eine Frage der Zukunft, ob fi) der preußiſche Ordensitant innerlich, wieder zu den Kräften erheben werbe, die für ein energifches Vorgehen gegen Polen und Litauen notwendig waren. Die weitere Entwidelung Hat diefe Frage verneint. Eigener Zwieſpalt und innere Uneinigfeit haben den Orden und das Deutſchtum an ber Dftfee im 15. Jahrhundert feit bem Tage von Tannenberg weiter abwärts geführt.

Ehronil „an Ocarırh* mir unbefannt ſei. Mittlerweile hat Here P. v. Yaller, Bibtiothefar ber Gelehrten Ejtn. Gefellfgaft in Dorpat, die Güte geabt, mir Zolgendes mitzuteilen: „Gegenüber der Mündung des Orenzfluffes Bümfe oder Pimpe in den Peipus, nafe vom Flegen WöbS, liegt die zu Livlanb gehörige Infel Sallo. Tiefer gegenüber liegt auf der ingermanlänbifcjen Seite eine größere Halbinfel und auf derfelben cin Kirchdorf oder dlecen Offotma, deutlich bezeichnet auf der ruffifcen Generalftabstarte." Mit ift dies Gtüd der Generalftabstarte angenblidlich nicht zugänglich. Unter den für die obige Arbeit benuften Dar ftelungen möchte ich eine vortreffliche Aönigsberger Differlation hervorfeben : Frany Thunert, Der Grofe Arieg zwilden Polen und dem Deuticien Orden 1410 5is 1. Februer 1411. Danpig 1580. Sie korrigiert und erweitert in vielem die Darftellungen Caros und Voigts.

Livland und die Schlacht bei Tannenderg. 881

Gleich nad) dem Friedensſchluß kehrte Konrad von Vitinghofe in die Heimat zurück. Der Hochmeiſter mußte ihm verſprechen, ihn über alle politiſchen Vorgänge und namentlich über ſeine Beziehungen zu König Sigismund aufs genaueſte zu unterrichten. Der Erzbiſchff Johann von Wallenrode, der durchaus „eine endgültige Schlichtung der Gtreitigfeiten zwiſchen dem Orden in Livland und ber Kirche von Niga“ verlangte, wurde mit ber Ausficht auf zufünftige Verhandlungen vertröftet, wenn er in den Gehorfam des rehtmähigen Papftes aufgenommen fein werbe. Aud das war gewiſſermaßen Nealpolitif. Der Erzbiſchof konnte erſt dann darauf redinen, mehr Geld vom Orden zu beziehen, wenn er bei der Kurie ober in Deutſchland wieder eine einflußs reiche politifhe Stellung hatte.

Oskar Stavenhagen.

re

Alerander von Deltingens Dogmatit *).

Es iſt mir eine befondere Freude, daß id nun an biefer Stelle, an ber id bie beiden erften Bände ber Dettingeniden Dogmatit beſprochen habe, aud) den Schlußband des großen Werkes ben Leſern der Monatsfhrift zur Anzeige bringen fann. Cs it uns Allen eine Freube, daß es unjerem verehrten Lehrer vergönnt geweſen ift, dieſe reifite Frucht feiner Lebensarbeit zum Abſchluß gebracht zu fehen; es iſt uns eine Freude, daß unferer Kirche und unferem Sande dieſes Bud) nun als abgerunbetes Ganze geſchenkt it. und wir hoffen es zuverfihtlid, dah Dettingeus Dogmatit uns mit dazu helfen wird, in ben immer bewegteren dogmatiſchen Kämpfen ber Gegenwart bie rechte, Mare Stellung zu behaupten, treu bem, mas uns aus ber Urzeit der Kirche überliefert ift, was uns in den Tagen ber Neformation neu erſchloſſen wurbe, biejes Ererbte aber aud; mit allen Kräften und Mitteln ber geiftigen Strömungen unferer Zeit neu erfaſſend, barjtellend und dem Bewußtſein ber Kinder unferer Zeit nahe bringend. Zu folhem Zwede Allen, welde das evangelifch-lutheriihe Bekenntniß wert und teuer halten, Handreichung zu leiften, ift Oettingens Dogmatif in hervorragender Meife geeignet. Wie ſchon bei der Beſprechung des zweiten Bandes weile ich aud) hier auf die Anlage des Werkes hin, deſſen vorliegender Schlußband die wichtigiten Abſchnitte der Glaubenslehre enthält, die Lehre von Chrijti Perjon und Wert, von ber Kirde, von der Heilsaneignung und von der ewigen Vollendung.

Jeder Glaubensjag wird zunächſt pofitiv dargelegt und eins ‚gehend erörtert, und Hier iſt e& der große Vorzug der Dettingenfchen Arbeit, daß gerade dieſe Ausführungen jo gehaften find, daß fie

*) Dr. theol. Alerander von Dettingen. Lutheriſche Dopmatif. weiter Band. Syſtem der deichitlichen Heilswahrgeit. Zweiter Zeil: Die Heilsverwirt. ficpung. München 190%. Bed. 752 ©. 12 Marl 50.

. v. Dettingens: Dogmatit. 388

auch dem gebilbeten Nidhttheologen zugänglid find. Dabei wird es durchaus nicht vermieden, bie Schwierigleit und Tiefe ber zu erörternden Probleme aufzuweiſen; nirgends wird populäre Ober: fäcjligpteit erftrebt. Ich Tann es aus eigener Erfahrung ans ipredien, daß hier aud) Frauen, natürlid nicht immer ganz ohne Mühe, folgen Tonnen. Cs follte uns aber bod) heutzutage, wo religiöfe Fragen jo vielfach befprochen werden und bie Gegenfäge immer deutlicher hervortreten, nicht um ernfte Denfarbeit und Mühe leid thun, wenn wir baburd) in ber Gewißheit feſter gegründet werden fünnen, daß unjer „alter Glaube“ ſich immer noch getroft auf dem Felde ber Wiſſenſchaft zeigen fann und daß es nichts mit dem beliebten Gerede ift, nur nod) bie, melde ablehnend ober feindlich ben Bilbungselementen unferer Zeit gegen: überftehen, vermöchten an dem Velenntniß der apoftoliihen und reformatoriſchen Zeit feitzuhalten. Es liegt nahe, Dettingens Arbeit mit der Frankſchen Dogmatik zu vergleichen. Nun glaube ich wohl, daß in Bezug auf ſtraffe Gefchloiienheit bes Gedankenfortſchritles, ſcharfe Beftimmung und Abmeſſung der Begriffe Frank noch für geraume Zeit den erſten Play einnehmen wirb, aber es ift doch aud) nicht zu verfennen, daß uns aus Frank oft die eifige Oletichere luft abftratter Gedanfenarbeit entgegenweht. Schon die Weber: ſchriften der Hauptteile in Franks „Syſtem ber chriſtlichen Wahrheit”: „Prinzip des Werdens, Vollzug des Werdens und Biel des Werbens“ erinnern doch ftart an degelſche Philofopheme. Wie wohltäuend iſt es dagegen in Dettingens Wert dem „Heil in Chriſto“ überall als dem Mittelpuntt wie der chriſtlichen Erfahrung jo auch der dogmatiſchen Lehrentwicdlung zu begegnen. Weberichtiften wie die ber ſechs Hauptabfehnitte bes Buches: „Die Heitsfähigfeit des Menfhen mit Beziehung auf Gott und Welt, die Heifsbebürftigfeit des fündigen Menſchen, die Heilsbefimmung ber jündigen Menſchheit auf Grund göttlichen Heilswillens, bie Heilsvermittlung in Chrifto, die Heilsaneignung durch ben heiligen Geift, die Heilsvollendung“, verfegen ben Leſer jofort in das Zentrum alles chriſtlichen Olaubens, Lebens und Denkens.

An die pofitive Lehrentwicklung fehließen fich, durch Heineren Drud abgegrenzt, je drei befondere Ausführungen. Vor Allem die Vegründung ber bogmatijchen Pofition aus ber heiligen Schrift. Sehr erfreulich it «8, dab wir hier durchaus nicht bloß eine

384 A. v. Dettingens Dogmatik.

Sammlung von Schriftitellen finden, welde als klaſſiſche Belege für die einzelnen Lehrjäge bienen follen. Vielmehr ift es eine zufammenhängende Darlegung deſſen, was bie Schrift in allen ihren Teilen in Bezug auf bie Realitäten des Heils ausfagt. Mit voller Beherrſchung bes Stoffes verbindet ſich feinfühlendes Ver- ftändniß für den Fortſchritt göttlicher Offenbarung, und mit ebenfo großer Klarheit wird hier gezeigt, wie es der Eine Geijt iſt, welder alle bibliihen Schriften durchwaltet, wie aud) ber eigen- tümtijen inbivibuellen Ausprägung ber Einen Heilswahrheit, die fi) bei den einzelnen Verfaſſern der bibliihen Bücher findet, volle Gerechtigkeit zu Teil wird. Es folgt dann eine Darlegung ber Kirchenlehre. Hier finden fi) notwendig knapp gefahte, aber fehr überfihtliche dogmengeſchichtliche Erkurſe, welche zeigen, wie fid) unter vielfahem Schwanfen und Kämpfen die Kirchenlehre zulegt feit ausgeftaltet hat. Auch hier wird man bem verehrten Verfailer nirgends altlutheriſche Befangenheit vorwerfen dürfen. Bei allem freubigen Velenntniß zu bem „Erbe ber Wäter“ verſchweigi Dettingen es nirgends, wo es ausgeſprochen werben muß, baß unfere alten Dogmatifer dazwiſchen die Glaubensrcolitäten zu mechaniſch, ftarr und unlebendig, nicht aufgefaßt, wohl aber dargeftellt und dem Verſtändniß zu vermitteln geſucht haben. Immerhin ift es ſehr erfrifhend, wieder einmal in die ftrenge logiſche Gedanfenarbeit unfrer alten Dogmatifer eingeführt zu werden, in der That erfrijchend, wenn man von den nebelhaften, ſchillernden, nirgends einen feften Boben oder ein feites Nefultat bietenden Ausführungen moderner Theologie herfommt. Ein britter Abſchnitt bei Dettingen beihäftigt fi dann eingehend mit dem Gegenſatz gegen bie biblifh-firchlid;e Lehre. Auch diefen Abſchnitt wird der Laie mit großem Nugen durchſtudiren fönnen. Daß hier 3 B. Harnads Vorlefungen über „das Weſen des Chriftentums” häufig berührt werden, verfteht ſich wohl von jelbit. Aber auch hier ift es nicht nur die Abwehr vereinzelter Angriffe gegen das bibliſche und kirchliche Chriftentum, fondern eine zufammenhängende geſchichtliche Ausführung, wie ſich je und je von der außerchriſtlichen Weltauſchauung aus der Gegenfag gejtaltet hat. Gerade hier haben wir aufs Neue Gelegenheit, bie umfaſſende Veleſenheit des Verfaſſers zu bewundern, uns an ber geiftvollen Zeichnung der eingelnen unfirdhlichen Geiftesftrömungen zu erfreuen und anzu:

A. o. Dettingens Dogmatif, 835

erfennen, wie gerecht und bejonnen überall das Urteil it. Denn es wird forgfältig hervorgehoben, was fi in dem Gegenfag an Wahrheitsmomenten findet und inwiefern aud) ber Gegenſatz fördernd auf die Entwidlung der kirchlichen Lehre eingewirft hat, und aud) wo das ſchließliche Urteil entſchieden ablehnend lauten muß, iſt es nie verletzend.

Natürlich muß ich es mir an dieſer Stelle verſagen, auf Einzelheiten einzugehen oder in die Diskuſſion dogmatiſcher Fragen einzutreten. Nur einige allgemeine Erörlerungen mögen mir noch erlaubt ſein, um auszuſprechen, warum ich in dem Oettingenſchen Buche nicht nur eine hervorragende wiſſenſchaftliche Leiſtung, ſondern ein Gefchenk an unſere Kirche und unſer Land erblicke.

Ms ic) in den ſiebziger Jahren in Dorpat Theologie itudirte, war es eigentlich jelbjtverftändlih, daß man nicht zum Eramen „vorging“, ehe man, abgejehen von ben „Heften“ und dem Luthhardtſchen Kompendium der Dogmatit, doch noch Martenjen, Thomaſius und Philippi, wenn auch nicht ganz, aber doch in ausgewählten Teilen burdgearbeitet hatte. Dancer fand auch die Zeit, fi mit Schleiermadyers Glaubenslehre befannt zu madjen. Franks großes Syſtem der hriftlihen Wahrheit war damals noch nicht erſchienen. Won fompetenter Seite it mir mitgeteilt worden, daß in ben legten Jahren die dogmatiſchen Kenntniffe unferer jungen Theologen recht viel zu wünſchen übrig laffen. Und das ift fehr zu bedauern. Denn gerade weil wir als evangelifche Chriften nichts von einem blinden und gebanfenfofen Herübernehmen über: lieferter Lehren willen wollen, ſondern eine freie, auf eigener Erfenntniß beruhende Glaubensgewißheit verlangen, gerade weil wir mit aller Entfchiebenheit für das Recht freier Jorſchung und felbftändiger Prüfung eintreten, müſſen wir e8 doch fordern, daß ber, welder zu lehren berufen ift, nicht eher über „alten“ und „neuen“ Glauben entſcheidet, als bis er beide gründlich kennen gelernt hat. Es ift ein jcwermiegender Mangel, wenn Jemand, der auch nicht ein einziges Mal das Konkordienbuch von Anfang bis zu Ende durchgelefen Hat, über das Belenntniß unferer Kirche wiffenfhaftlid ein Urteil fällen will oder weit über unfere alten Dogmatifer hinausgefgritten zu fein meint, ohne genau darüber informirt zu fein, was fie nun eigentlich gefagt Haben gerade wie ich es nicht für fahgemäß halten fann, wenn Jemand,

386 A. o. Dettingens Dogmatik,

ber fein Hebräiſch veriteht, über die ſchwierigſten altteſtamentlichen Probleme aburteilt und etwa die Wellhaufeniche Theorie als allein giltige proffamirt. Wir müflen dafür Sorge zu tragen ſuchen, daß unſere junge Theologengeneration auch dogmatiſch tüchtig durchgebildet iſt, nur dann wird ſie befähigt ſein, den Gemeinden die nötige Handreichung zu leiflen, wenn bogmatiice Zweifel und Fragen ganz ſicher in nad) größerem Umfange als bisher auch die weiteren Kreiſe ber Kirche bewegen werben. Und wenn bann bie moberne Theologie wirklich noch mehr Boden als bisher bei uns gewinnen follte, was ich für ſehr wahrſcheinlich Halte, dann werben wir an gründlich geſchulten Dogmatifern wenigſtens bie Freude haben, dab fie uns Mare und zujammenhängende Darftellungen von bem geben, was fie einmal als Wahrheit erfaßt zu haben meinen, unb wir werben befteit fein von bem fo ermübenben haltloſen Gerede, bas mit ganz unfaßbaren, weil ganz unbeftimmten Begriffen operirt und barum nur in immer größere Unflarheit hineinführt. Der Lefer braucht nicht zu fürchten, daß ich hier eine Disfuffion über das Harnackſche „Wejen des Chriſtentums“ ein- ſchmuggeln will. Ic) will nur ein befonders fignififantes Beiſpiel für das, was id) meine, anführen. Harnack ſchreibt (Pag. 91 der zweiten Auflage): „Es ijt feine Paradorie und wiederum auch nicht „Rationafismus*, ſondern der einfache Ausdrud des That: beitandes, wie er in den Evangelien vorliegt: „Nicht der Sohn, jondern allein ber Bater gehört in bas Evangelium, wie es Jefus verfündigt hat, hinein.“ Diefer Sag hal vielen und großen Anſtoß gegeben. Ich habe ihn geradezu als befreiendes Wort empfunden. Denn bier war doch einmal mit aller wünjdhenswerten Klarheit ausge ſprochen, um mas es ſich in ber modernen Theologie handelt. Dan follte denfen, daß an einem folden Sag nicht gedreht und nicht gebeutet werben fann. Umfomehr als Harnad, ber doch wohl erfahren haben wird, welde Erregung fein Satz hervorgerufen hat, ihn nie zurüdgenommen hat, obwohl jein Buch Auflage nah Auflage erlebte. Aber doch verſuchen mande feiner Anhänger nachzuweiſen, daß Harnad garnicht das gemeint hat, was er doch ganz deutlich gejagt hat, und was aud) in das ganze Gefüge feines Weſens des Chriftentums trefflich hineinpaßt. Ich fann es ja verftehen, ba Jemand, der mit dankbarer Verehrung zu

X. o. Dettingens Dogmatif. 387

Harnack hinaufblidt, ſich ſchmerzlich von fol einem Sage berührt fühlt, aber ift es denn nicht viel beſſer, auch das ſchmerzhafte Licht ber Rlarheit zu ertragen, als fid in nebelhaft fchwanfenden Ausdrüden zu bewegen? Dogmatiihe Schulung würbe von bem Verſuch zurücgehalten haben, Harnads Sag feinem eigenen Weſen entfremden zu wollen.

In einem in lepter Zeit vielbefprodenen Vortrage wurde uns verſichert, daß die Dogmen tobt jeien und nicht wieder lebendig gemadht werden fönnten. Auch fold eine Behauptung beruft einfach auf dogmatiſcher Unflarheit. Denn die Dogmen find nicht nur nicht todt, fondern fönnen auch gar nicht jterben, weit fie einmal ber befenntnigmäßige Ausdrud für das find, mas eine Kirche und ihre Glieder als Yeilswahrheit erfahren und erkannt zu haben glauben. Sogar ein jo unzweifelhaft faljches Dogma wie das von der Unfehlbarkeit des Papſtes fann man bad) nit todt nennen, da es im taufenden von frommen katho— liſchen Herzen lebt und eine jehr wirkliche und wirkungs- thätige Geiftesmadht barftelt. Jebe Glaubensübergeugung, wenn fie irgend einen Ausdrud finden will, wird ſich dogmatiſch äußern. Iſt nicht ber oben angeführte Say Harnads —- ob nun wahr ober falſch ein Dogma vom reinften Waijer? Warum alfo ber irreführende Ausbrud: die Dogmen find tobt? Warum nicht lieber das allein zutreffende Urteil: neue Dogmen ringen danach, die alten Dogmen zu befeitigen und fid an ihre Stelle zu fegen ober mwenigftens bie herrſchende Stellung einzunehmen, da e8 nun einmal ganz ausgeichloffen it, daß die alten Dogmen ausfterben. Und dann bie wirklich erſchreckende Unklarheit dort, wo vom ben Vers tretern der modernen Theologie in unfern Landen den Dogmen das „Evangelium“ entgegengefegt wird. Keiner von ihnen fann oder will es jagen, was er mun ceigentlid unter „Evangelium“ verjteht. Die Worte erklingen und niemand weiß fie zu deuten. Da hat die alte Dogmatit fiherlid) einen unleugbaren Vorzug: fie weiß, was fie jagen will, und jagt es fo, daß man fie nicht mißverftehen fann. Dogmatiiche Kämpfe fönnen und jollen uns nicht erfpart bleiben, aber damit fie möglidjt loyal auogefochten werben, dazu müſſen wir nach möglichſter Klarheit ftreben, und ich tann es mit voller Weberzeugung ausipreden, daß Dettingens Dogmatik in hervorragender Weiſe geeignet if, dem Lernenden

388 A. v. Dettingens Dogmatif.

und Lehrenden nicht nur das nötige dogmatiſche Wiſſensmaterial darzureichen, fondern ihnen aud) bie feſten Nidhtlinien zu bieten, auf welden ſich die bogmatijche Weiterarbeit, wenn fie aufbauend unb nicht zerjtörend mirfen will, zu bewegen haben wird. In einer burdaus würdig gehaltenen Anzeige ber Oettingenſchen Dogmatif las ich neulich die Anficht ausgefprohen, das Bud tomme eigentlich zu fpät. Die heutige Zeit fei fchon über den Standpunkt dieſer Olaubenslehre Hinausgefgritten. Nur die, weldje einft Dettingens akademiſche Schüler geweſen, würden noch febendige Teilnahme für das Werk empfinden. Ich bin beſſerer Zuverfiht. Ich glaube, Dettingens Dogmatik ift gerade zu rechter ‚Zeit erſchienen, zu rechter Zeit gerade auch für unfere Landesfirche. Es ift ja leider und ber Verfaſſer bedauert es felbit in der Vorrebe zum zweiten Bande ein ſehr umfangreiches und in Folge befien „teures" Buch geworben. Nicht jeber einzelne Theologe wird in der Lage fein, es ſich anzuſchaffen. Aber es wird doch die Möglichkeit vorhanden fein müſſen, e8 den jungen Theologen auf ber Univerfität ober im jogenannten Probejahr zugänglich zu machen, und fie werden darin ein überaus Wichtiges überall ſich ausſprechen fehen: Pietät gegen die Bibel, Pietät gegen bie Geiftesarbeit der Kirche, verbunden mit ernfter Wiſſenſchaftlichkeit und Wahrheitsliebe. Wo aber diefes zuſammen ſich findet, da ift rechtes evangelifches Welen: da ift man frei und gebunden zugleich, da ift man ein Kind feiner Zeit und dod getragen und burd: drungen von ben Gedanken der Ewigfeit. H. Eisenschmidt.

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In memoriam vigiliae exaltationis erueis anno salutis millesimo quingentesimo secundo.

In den Herbft 1902 ift die vierte Zentenarfeier eines altlivländifhen Gedenktages gefallen. Wir meinen den Abend Kreuzerhöhung, ben 13. September. Vor 400 Jahren fand an dem Tage ummeit der Grenzen Livlands bei dem plesfaufchen See Smolina eine Schlacht jtatt. Walter von ‘Plettenberg, der größte der Dieifter Dentjches Ordens in Livland, gewann einen Sieg, deſſen befenfive Rraft und moralifche Wirkung für unfere Landes geſchichte viel bedeuten. An Legendenbildung hat es auch nad) diefem Ereigniß nicht gefehlt. Die kritiſche Geſchichtsforſchung Hat die Legenden bei Seite geſchoben und ein Bild der Wirklichkeit bergejtellt. Im nädjiten Jahr wird der zweite Band ber zweiten Serie unferes Urkundenbuches bie dokumentariſchen Grundlagen des Bildes veröffentlichen. Es wird dann leichter fein, ſchärfere Konturen zu ziehn.

Lioland war in einen ruſſiſchen Krieg hineingezwungen worben nicht mehr wie früher mandes Mal gegen Nowgorod oder Pleskau oder gegen beide zufammen, nein, diesmal ftand ihm das große Rußland gegenüber, Mosfau, das damals gerade die ftärkiten jentrifugalen Rräfte feines Volfstums zerftörte und zum erften Mal zielbewußt einen großen Plag an ber Dftfee zu gewinnen verſuchte. Jetzt galt es, die Freiheit und bie Kultur Livlands vor ber Vernichtung zu retten. Noch vor wenigen Jahren hatte ein fehwerer Bürgerkrieg bem Lande tiefe Wunden gefhlagen. Unterdeifen war die Gefahr im Dften immer drohender empors geftiegen. Was Half der zehnjährige Friede, der 1493 nad) langen Verhandlungen geſchloſſen wurde, da doch fein Jahr ohne Friedens- bruch verging? Unerfüllbare Forderungen, bie Zerftörung bes deutſchen Handelsfontors in Nomgorod, die Gefangennahme ber beutjchen Kaufleute und livländiſcher Gejandten, beitändige Grenz. verlegungen ſprachen dem Frieden Hohn. Vorjtellungen und Be: ſchwerden wurden mit Schmähungen und Drohungen beantwortet,

890 Zum 13. September 1902.

Mit Peitichen, hieß cs mohl, werde Moskaus Großfürſt bie Deutſchen aus feinem Vatererbe in bie See jagen. An ber Unvermeiblichfeit eines Krieges war nicht zu zweifeln. Sieben Jahre hatte Plettenberg bereits als Deijter unermüblic) in ſchwerſier Arbeit im Innern verföhnt, geeinigt, geftärkt und gerüftet, draußen die Gemeinfamfeit ber abendländiſchen Intereſſen und bie Not- wenbigfeit, Livland zu Helfen, nachgewiefen und um Bundes— genofjen geworben. Die Nejultate waren fehr zweifelhafte: drinnen bhemmten die alten Erbfünden der Deutfden, Uneinigfeit und ftändifche Selbftfucht, draußen gab es nur Worte, nicht Thaten der Hülfe.

1501, im legten Moment, als bie feindliche Heeresfammlung die Grenzen bereits aufs jhwerfte bedrohte, mußten ſich der Meifter und ber lioländifche Landtag zum Bündniß mit Litauen entichließen, mit Litauen, deſſen Unzuverläffigfeit Livland ſchon oft erfahren hatte. Doch Litauen lag im Kampfe mit Moskau, war jelbit in Not und verſprach und verfiegelte alles. Moskau aber nannte das Bündniß, in das es jelbft Livland hineintrieb, einen Friedens: bruch, ben es vernichtend ftrafen werde !

So war die Lage, als Plettenberg im Auguft 1501 zum eriten Dial dem heranrüdenden Feinde entgegenzog. Gleich an bei Grenze jenfeit des dörptſchen Neuhaufen an einem Bade Seripa erfolgt der Zuſammenſtoß. Das Geſchütz und die 4000 ſchweren Reiter Plettenbergs zeriprengen die feindlichen Maſſen und laſſen fie das Weite fuchen. Von einem litauiſchen Heere, deſſen Erſcheinen beſtimmt verfproden ift, fieht und hört man nid)ts. Allein muß Plettenberg den Feldzug fortfegen. Wald zwingt ihn der Ausbruch einer bösartigen Epidemie zur Umkehr. Die Krank: beit wirft ihn ſelbſt nieder; aber feine Fraftvolle Natur überwindet fie, und er fährt fort, das Land zu jhügen. Dem feindlichen Einfall, der das Stift Dorpat und einen Teil des nörbliden DOrbenslandes trifft, zieht er ſchnell Grenzen. Moskau fpricht dem Meiſter nun wohl vom Frieden, aber der Croßfürit von Sitauen, der mittlerweile auch König von Polen geworden ift, entſchuldigt das Ausbleiben feines Heeres und beichwört die Livländer, am Bündniß feitzuhalten, wonad fein Teil ohne den andern Frieden schließen foll. Plettenberg ift die Bündnißpflicht Heilig, Nach manchen Heinern Zügen und Kämpfen an den Örenzen zieht er im

Zum 18. September 1902. 39

Herbft 1502 vor Plesfau, wo bie Litauer nun ganz fiher zu ihm ftoßen follen. Doch wieder bleiben fie aus, wohl erſcheint aber ein mosfowitiihes Heer, jo überlegen an Zahl, daß feine Führer fi) vermeffen, den Meifter mit allen Livländern ohne Schwertichlag zu fangen, zu feſſeln und vor ben Nichterftugl des Großfürften in Mosfau zu jtellen. Plettenberg wankt trogdem nicht, obgleich) er diesmal außer dem Fußvolk, das der Uebermacht ganz und gar nicht gewachſen it, über nur 2000 gewappnete Reiter verfügt. Südlich von Plesfau, wo ſich bei einem Meinen See ein weites Feld erſtreckt, wählt er die Schlachtſtätte und befiehlt ſich und bie Seinen dem allmädhtigen Gott. Bald ift er dort von allen Seiten vom Feinde umſchloſſen. Schon ift ein Teil feines Troſſes ver- nichtet, und das Fußvolk Hält alles für verloren, als es ficht, wie ſich der Meifter und feine Reifigen auf ben Feind werfen und bald in ben dichten Mengen verfchwunden find. Aber Plettenberg hat feine Reiter zum Siege, nicht zum Untergange geführt. Dreimal ſchlãgt er fid) mit furchtbarer Gewalt durd) die ruffiichen Maffen, und um ihn breitet ſich Tod und Verderben, bis endlich bie ungeheure Webermacht in milder Flucht auseinanderbricht. Wohl macht die eigene Erfhöpfung wie das Ausbleiben der Litauer eine Ausnugung des Sieges unmöglih. Doch Moskau ift die Luft zu weiterm Kampf genommen, Livland vor ſchredlicher Verheerung gerettet.

Nah ben fernern Früchten bes Sieges greifen bald die Litauer und die Polen. Sie, die nur Niederlagen zu verzeichnen Haben, ſchließen in Moskau Frieden; die livländiſchen Gefandten werben babei in ſchnöder Weife von ihnen im Stich gelaffen und zu einem ifolirten Friedensſchluß nad) Nowgorod und Plesfau ver: wieſen. Ja, wäre Plettenberg geſchlagen worden, dann wären wohl litauiſche und polniſche Heere erſchienen, um Livland für ſich zu retten. Jetzt muß das ber Zufunft vorbehalten bleiben. Die Nahe für das treuloſe Verhalten ift freilich nicht ausgeblieben, wenn fie auch viel ſpäter fam und nicht ex ossibus Livonicis.

In Nowgorod und Plesfau mußte Livland bamals einen Stilftend auf ſechs Jahre entgegennehmen, wie Moskau ihn bewilligte. Die ſchwere Drohung und Gefahr blieb beftehen.

Aber der Sieg des Meiſters hat für Livland doch nachgewirlt: der Stilfftand wurde erneuert und 55 Jahre gehalten. Dem

32 Zum 18. September 1002.

Siege Plettenbergs und feiner meitern ftaatsmännifhen Arbeit verdanken bie baltifhen Lande die Friedenszeit von 1503 bis 1558 und alles, was in ihr beichloffen liegt. Das ift die Neformation ber Kirche, bie Livland jelbftänbig ſich zu eigen machen durfte, die humaniftifche Bildung, deren Grundlagen in biefer Zeit gelegt murben, und ein Fortihritt und Ausbau der Selbitverwaltung, ber ftarf genug war, die fommenden Stürme zu überbauern. Das find die geiftigen Waffen, die feitbem das Land ftatt ber Nitterrüftung und des Nitterfchwertes, ftatt der Göldner und Landoknechte, weit ſtärler als der römiſche Krummftab, in der Erhaltung feiner eigenartigen Exiſtenz geidhügt haben. Ohne Plettenbergs Sieg hätten wir dieſe Waffen nicht, dann wären nicht erft in der zweiten Hälfte, fondern ſchon zu Anfang bes fechehnten Jahrhunderts Fremde des Landes mächtig geworben. Eine livlandiſche Geſchichte hätte es kaum mehr geben können. Für unfere ſtärkſten Faktoren, für die baltischen Ritterſchaften und Städte, find die 55 Jahre von wichtigiter Bedeutung. Ohne fie tät fid) insbefondere eine kurländiſche Nitterihaft nicht denten. Der Erzbifchoj von Riga Michael Hildebrand, ber jelbjt an der Schlacht teilnahm, hat fpäter verordnet, daß Livland fortan zum Andenken an den wunderbaren Sieg ben Tag der Kreuzerhöhung mit der Oftermeffe und den Oſterhymnen feiern folle. Wir thun das nicht mehr. Wohl aber ziemt es uns, nachdem fid) nad} jener Begebenheit num vier Jahrhunderte eıfüllt Haben, dem Andenfen bes um dies Land fo verdienten Meifters Gedanken und Worte der Dankbarkeit zu wibmen. 0. St.

Litterärifden.

Johannes Rehmte. Die Seele des Menſchen. („Aus Natur und Geifteswelt“. Sammlung wiſſenſchaf lich· gemeinverftändlicher Darftel- lungen aus allen Gebieten des Wiffens.) 36. Vändchen. Leipzig 1902. 8. G. Teubner. Geb. M. 1.25.

Der Verfaſſer, jeit längerer Zeit als Profeſſor der Philofophie in Greifswald thätig, zeichnet ſich durch gründliche Beherrſchung feines Gebietes und die Gabe klarer und überſichtlicher Darftellung aus. Der Nicht-Jahmann unter den Leſern wird ſich allerdings in feine bejondere Terminologie erft etwas hineinlefen müſſen. Dbige Schrift, die zugleich) als Einführung zu des Verfailers aus— führlicherem „Lehrbuch der allgemeinen Pſychologie“ (1894) dienen Toll, giebt eine Darlegung der wichtigften pfydofogifchen Orundfäge und geht von ber Annahme aus, daß alles der Erfahrung Gegebene entweder Einzelweſen oder Beftimmtheit fei (früher fagte man anſtatt deſſen: Subftanz oder Alzidenz). Die Seele ſelbſt fei Einzelwefen, und zwar, wie gelegentlich ausgeführt wird, it Seele Bewußtſein; eine Seele ohne Bewußtſein iſt ein Selbſt— widerſpruch. Die Beftimmtheiten der Seele find gegenſtändlich (&. h. Vorftellungen), zuftändlic (d. h. Gefühle) und ſchliehlich it die Seele, als Wille, urſächliches Bewußtſein. Die Beftimmt- heiten find als abitrafte Allgemeinbegriffe natürlich) unveränderlid) (d. 5. der Begriff des Noten wirb mie felbft zum Begriff des Blauen); aber fie find nicht unvergänglid, fie wechſeln an den Einzelweſen.

Auf dieſer Grundlage bietet der Verfaſſer eine Moſaik von ſubſtamiviſchen Begriffen, um das Weſen und Leben der Seele zu erklären; während 3. B. Hermann Loge (in feiner „Metaphyſik“) die Frage aufwirft, was denn noch ein Eingehvefen ſei und bebeute, Sobald man fid) ſämmtliche Beſtimmtheiten davon wegdenfe? und ob es fi nicht vielmehr zu völligem Nictfein auflöfen mühe? Ale Beftimmtheiten müſſen nad ihm als Thätigfeiten und

894 Litterärifches.

Wirkungsäußerungen gefaßt werden; das ruhende Sein als ein Unding müßte fi in ein immermwährendes Geſchehen auflöfen, wenn man nicht der Verſuchung unterliegen foll, welder der Ver: faffer umferer Schrift auf Schritt und Tritt unterlegen ift: nämfid) das Einzelwefen an fi) (alfo noch ohne alle Beitimmtheiten) ſich ſchon fo verhalten zu laſſen, als ob es noch Beftimmtheiten hätte, und andrerjeits bei ber Behandlung ber Veltimmtheiten zu vergeflen, baß fie feine Einzelweſen find.

Was foll e8 5. B. heißen, daß auf ©. 65 gefagt wird, ber Wille fei feine Bewußtfeinsbeftimmtheit, fondern ein Bewußtfeins- beziehung ? Alles Gegebene ift ja entweder Einzelweſen ober Beſtimmtheit; tertium non datur! Alles, was von einem Einzels wefen Befonderes ausgefagt werben kann (alfo 5. B. dab es wolle ober Willen Habe), ift ja immer eine Beſtimmtheit dieſes Einzel: wefens; fomit barf nicht eine neue Kategorie auftreten, welde „Beziehung“ und nicht „Beftimmtheit” Heißt.

Daß die Seele alfo nad) Obigem nur bewußt aufgefaßt wird, während dod unzählige Thatſachen darauf Hinweilen, ein wie wichtiger Teil des Seelenfebens unbewußt verläuft, läßt eine Menge naheliegender Fragen unbeantwortet liegen bleiben und führt fchliegficd gegen Ende bes Werfes bei der Unterſcheidung von Trieb und Wille zu einem Filz von unentwirrbaren MWideriprüchen : das Wollen foll von der Seele als Eingelweien, der Trieb dagegen von einer Bejlimmtheit ber Seele (und zwar von einer zuftänd- lichen, alfo von einem Gefühle) ausgehen. Das wäre richtig in bem Kantiſchen Sinne, daß das ganz reine fittlihe Wollen nur bie praftifhe Vernunft und nie ein Gefühl zur Triebfeder Hat; aber nach der von dem Verfaſſer gebotenen Baſis, die überhaupt noch nicht an bie Ethik anfnüpft, ift ja der Umftand, die Fähigkeit ober Eigentümlichkeit der Seele, daß fie will, nichts anderes, als eben eine Beftimmtheit der Seele; und daß fie einen Trieb äußert, ift natürlich ganz ebenfo eine Beftimmtheit der Seele. Das wird offenbar vom Verſaſſer überjehen, jo daß als ein Zwiſchenſtück zwiſchen die Seele und ihre Triebe eine „Biftimmtheit” eingeſchoben wird, bie damit ganz und gar ben Charakter eines mit ber Seele verbundenen Einzelwejens erhält; und fo weiß man gar nicht mehr, was es bebeuten foll, daß eine Seelenregung bald von ber Seele ſelbſt, bald durch Vermittelung einer Beflimmtheit ausgehen foll.

Altterärifgen. 395

Denn bie Beftimmtheiten werben bald als unveränberlihe abftratte Begriffe behandelt, bald als Zentren beftimmter Thätigfeiten : alſo ſelbſt tätig, fomit auch fi) verändernd. Darnach fann man ſich nur ein ganz verworrenes Bild machen von bem, was ber Verfaffer mit dieſer letzten Grörterung eigentlich meint.

Denn mehr als eine in höherem ober geringerem Grabe adãquate, bildliche, inmbolifche Darftellung von dem wahren Wefen der Seele vermag doch wohl feine Pſychologie zu bieten; feine ſollte daher aud Höheren Anfprud erheben, als, wie Lotze es ausbrüdt: „ein Traum zu fein, ber vor andern Träumen ben Vorzug hat, der Wirklichkeit nicht zu widerſprechen.“

Anregend zum Denken ift die Arbeit bes Verfafjers jebenfalls, und bie empirifhen Thatſachen des Seelenlebens find ihm mohl- befannt; er berüdfichtigt fie, hat fi wohl auch bei der Ausbildung feiner Theorie mitunter und öfter von ihnen leiten (affen. Wenn er fi) aber ben Anſchein giebt, neben fehr wenigen thatſächlichen Vorausjegungen alles Uebrige rein logiſch aus feiner Theorie zu folgern, jo macht das hin und wieder den Eindrud der Spielerei, weil man mit berfelben Willfür aus benfelben Theorien auch oft ganz anderes und fogar das Entgegengefegte folgern könnte.

Polemiſch verhält fi) ber Verfafler eigentlich nur gegen Herbart; und aud die Veranlaffungen zu fo vielen Ausfällen gegen den großen Philoſophen find ſchwer zu verſtehen; denn jept, wo man zu ahnen beginnt, daß Pſychologie und Dioral ein unzerz trennbares Ganzes bilden, wird doch ſchwerlich jemand Herbarts Syſtem, fo wertvoll es feinerzeit war, für ben einzigen Ausgangs- punkt halten, von dem man hoffen darf, die Piychologie noch weiter zu entwideln.

Ich kann daher auch nicht die Grundlage, die ber Verfaſſer hier der Pſychologie gegeben hat (unbejchabet ihrer Vorzüge im Einzelnen), als für künftige wirliche Leiftungen auf pſychologiſchem Gebiet fruchtbar anfehen; fie bleibt, wenn fie auch meift in fehr gewandten Wendungen mit ben befannten Daten ber Wirklichkeit ſcheinbar logiſch zuſammentrifft, doch nicht viel mehr als Begriffs: dicjfung. Undergleichlich brauchbarer f—heint mir 3. 8. W. Wundts

pſychologiſches Syſtem. G. v. Glasenapp.

a

486 Ritterärifhes.

E. Häckel. Kunftjormen der Natur. Lief. 6, 7. Bibliogaph. Inſtitut. geipgig und Wien. AI M. Etwas langfamer, wie «8 jheint, als bie erften fünf Hefte (ber erſie Band) und als man wünſchen möchte, erfheint bie Fort: ſetzung der „Runftformen“, von der Lieferung 6 und 7 vorliegen. In ihnen geht der Herausgeber ſchon zu höheren Pflanzen» und Tierformen über; 3. B. finden ſich von jenen Farne und Pilze, von biefen Infetten, Fröfhe und Flebermäufe neben Nachträgen zu ber nieberjten Zebewelt, wie fie im erjten Bande vorherrichte. Bei dem gleichen billigen Preife find biefe Hefte (Tafel 51--70 des ganzen Werkes) ebenfo vorzüglich ausgejtattet wie bie eriten fünf; fie verdienen alfo diefelbe Anerkennung und Anempfehlung, wie fie in biefen Blättern (1900, Bd. 51, S. 66) bereits rühmend ausgeſprochen it. So weit uns bekannt geworben, find aber dieſe unvergleichlichen Runftvorlagen noch viel zu wenig verbreitet. Die Anregung für Hausinduftrie jeder Art, welde daraus geſchöpft werben fann, ift unermeßlich. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß ſich bei dem Reichtum und der Mannigfaltigkeit der Naturphantaſie noch zahlloſe Schäte finden laſſen, welche wert find, dieſer Muſter— ſammlung von ſchönen Naturbildungen eingereiht zu werden. Beſonders anziehend wird man finden die Radiolarien auf der erften (51.) Tafel, die wundervollen Krebſe (Taf. 56), zarte Schmet- terfinge (ftark vergrößert, auf Taf. 58), phantaftiiche Staatsquallen (Tafel 59), wiederum zierliche Nabiofarien (Taf. 61), wunderliche Kilgformen (Tafel 63) und höchſt eigentümlihe Schlangenfterne (Taf. 70), während die feltjamen Gefichtsbildungen der Fledermäufe (Taf. 67) und bie kaum weniger auffallenden Körperbildungen der Froſche (Taf. 68) durch bizarre Laune erfegen, was ihnen an Schönheit abgeht. F. 8. F. ©. Keußtler. Feſtrede zur NigasFeier in der , Deutſchen Gejelfcaft" zu ©t. Petersburg am 8. Mai 1901. St. Pelershurg, Eggers u. Co. 1901. 2 ©.

Inhaltlich ift an dem Vortrag garnichts auszufegen. Da iſt alles richtig und zuverläffig; ber DVerfafier ift ja jeit langem als forgfältiger und peinlich genauer Forſcher befannt. Aber die Form ift ſchwunglos und troden wie Wüftenfand. Und fo ift denn ber Eindrud, den die Lektüre des Schriftchens Hinterläßt, fein folder, wie man ihn von einer „Feſt rede“ erwarten darf.

Bon der Redaktion.

Als im Jahre 1865 nad) der Publikation des neuen ruſſiſchen, aud für die Oftfeeprovinzen gültigen Preßgefeges von ben drei Nedakteuren der „Baltifhen Donatsfchrift” zwei zurüdtraten, erflärte der dritte, Georg Berlholz, aud) er ſei Anfangs ernftlich damit umgegangen, die „Valtiſche Monatsihrift” ganz fallen zu laſſen (9. M. Vd. 12, ©. 504). Wenn er es nicht geihan Habe, fo jei das lediglich in der Ueberzeugung gejchehen, daB es un: Patriotifch wäre, fid) eines Organs ber inneren Verftändigung und Fortbilbung zu berauben, jo lange fein Beſtehen nicht zu einer finangiellen oder fonjt äußeren Unmögfichfeit geworden ſei. on bem Nupen einer unter jo eigentümlid;e Bedingungen geitellten Publizität Hätte er feine überjpannten Vorftellungen. Dan müſſe ſich indeffen mit der Hoffnung eines wenigftens gelegentlichen Nugens begnügen. Auch unter den neuen publiziftiihen Eriftenz- bedingungen ließe fid) immer nod Vieles jagen, was zu fagen fromme. Freilich) fiege die Gefahr nahe, dah bie Artifel, die ber direften provinziafpolitiicen Beziehung ermangeln, immer mehr das Mebergewidt gewinnen. Diefer Gefahr Hat die „Baltiihe Monatsfhrift“ nicht entrinnen fönnen. Schon nad) drei Jahren tonftatirt Berkhoig in feinem Abfchiebswort an die Leſer (Bd. 18, S. 486) einen ſichtlichen Verfall der Donatsfchrift in Folge der angeführten äußeren Umftände. Dennod werde Niemand jagen wollen, dab die „Valt. Dion.” ganz vergeblid, dageweſen fei. Er, Verkholz, hätte ſich auch nicht entichloffen, das „Ämmerhin noch einigermafen gemeinnügige Unternehmen“ aufzu: geben, wenn nicht eine jüngere Kraft, Ernft Baron von der Brüggen, den Mut gehabt hätte, auch unter den gegebenen Vers hältniffen die Mongisſchrift fortzuführen. Nad) weiteren drei Jahren verläßt dann auch Berkholz' Nachfolger, Varon von der Brüggen, die Redaktion unter Darlegung jeiner Anſchauungen über die allgemeine Lage unferer Preſſe, der „oft in einem Teil unferes Publifums das notdürftigfte Intereife für ihre Eriſtenz und „die unbefangene thatfräjtige Unterftügung durd aftive Beteiligung” fehle. Weiter Heißt es in dem Abſchiedswort Baron

398 Bon ber Rebaftion.

v. b. Brüggens (Bb. 21, ©. 604): „Ich habe als Nebakteur nicht in dem Maße direkt an ber Tagesarbeit mid; beteiligen können, wie ich es wünfchte, und ich glaube, daß diefes Befenntniß feinem Nebakteur eripart bleiben wird, ber bei uns heute bie Leitung eines politiichen Blattes nieberzulegen im Begriffe ift. Nichte: beftomeniger wird aber Jeder ſich jagen, daß bie Arbeit aud) in fo unvolltommener Weife, als e8 geidhieht, gemacht werden muß, und To hoffe auch ich, immerhin nicht nußlos thätig geweſen zu fein. Denn wenn id) weiter nichts anführen fönnte, fo bürfte ich doch mit einigem Recht barauf hinweiſen, daß biefen Provinzen ein eigenes Organ brei Fahre lang erhalten worden it, weldes es möglid macht, baltiiche Dinge von gewiſſer Tragweite im Lande felbft zu befprechen. Ich halte diejes allein jchon für genügend, um bei einem nad den Verhältniſſen beſcheidenen Inhalt einer folchen Zeitſchrift ihren Fortbeſiand zu rechtfertigen und wünſchens— wert zu machen.“

Ohne ihren Urjprung als politiihes Organ zu verleugnen, tonnte die Monatsfhrift ben Schwerpunkt bereits unter ber Leitung Baron v. d. Brüggens nidt mehr in bie Politik zurüdverlegen. In ben nädjiten brei Jahren, 1873 bis 1875, gelangen dann unter ber Redaktion von Theodor Hermann Pantenius fait ausſchließlich folde Artikel zur Publikation, bie der direkten provinzialpolitiihen Beziehung ermangeln. Die „Balt. Monatsfhr.” muß fi darauf beichränfen, durch Nufjäge provin- zialgeſchichtlichen oder biographiichen Inhalts dazu beizutragen, das hiſtoriſche Selbftbewußtfein des Landes lebendig zu erhalten, und im Uebrigen verſchiedene Themata allgemein-menschlichen Intereſſes zu behandeln. Ende 1875 fehen ſich bie Verleger ber Monatefrift genötigt zu erflären, daß bie Fortführung bes Journals nur bei regerer Beteiligung an der Mitarbeit und am Nbonnement in Ausficht geftellt werben fann. Das Erſcheinen ber einzelnen Hefte (damals nur ſechs im Jahr) wird nun immer unregelmäßiger, die Hefte werben immer dünner, und es mehren fi) die Stimmen, die die Möglichkeit und Notwendigkeit einer weiteren Lebensfriftung der Monatsichrift leugnen. Zwei Belebungsverfuche mißglüden vollftändig:: der eine 1877/78, unternommen von Guſtav Keuchel, deffen Programm in diejen Heften abgedrudt zu finden man nur bebauern kann; ber andere 1878/79 von Edmund Baron Heyfing.

Bon ber Nedattion. 399

Bald darauf lag die Monatsfgrift in ben legten Zügen, als fie Dr. $r. Bienemann sen. übernahm und nad) Reval rettete. Von einer völligen Gefundung Eonnte freilich nicht mehr bie Rede fein, und ganz auf eigenen Füßen hat feitdem die Monatsfchrift bis auf den heutigen Tag nicht mehr ftehen können.

Den Hauptgrund ihrer Lähmung, der unter allen Unmftänden irreparabel fei, fah Dr. Bienemann in dem Umſchwung ber Jour⸗ nafiftit, ber fi in den Jahren 1860—1880 vollzogen hatte. „Die weite Verbreitung und Ausgeftaltung ber Tagesblätter Hat das Publikum an eine leicht faßliche, überfihtlihe, Inappe Behandlungs⸗ weiſe der Themata gewöhnt, berart daß es zum fehr großen Teil der gewandten Darftellung ein Gewicht beizulegen pflegt, welches dem ſachlichen Interefje nicht gerade Vorſchub leitet. Die Sicherheit Beachtung zu finden und fomit dem Gegenftand, deſſen Erwägung man anzuregen wünſchte, zu dienen, hat dazu geführt, auch Fragen, die um ihrer komplizirteren Geftalt und Beſchaffenheit willen eine forg- fältigere Drapirung erfordern, in das kurzgeſchürzte leichte Gewand zu leiden, in welchem allein fie dem erholungsbebürfligen Leſer ber Zeitung fid) präfentiren fönnen. Und durch die Wirkung feuilletoniſtiſcher Schreibweife verleitet, mag nad) und nad) manche Feder fi) immer mehr ber Zeitung zus und ber Monatsihrift abgewandt haben...” Indeſſen lag der Hauptgrund des Verfalls der Monatsihrift damals nicht fo fehr in der Wirkung des Preß- gejeges von 1865 und im geſchilderten Umſchwung ber Journa— liſtik, als vielmehr in dem Hartnädigen Bemühen der Redaktion, noch zu Ende der fiebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts trotz der völlig veränderten Zeitumftände die Fahne des Liberalismus hochzuhalten. Dr. $r. Bienemann sen. leitete die Monatsichrift in das ihren Lebensbebingungen allein entſprechende Tonfervative Fahrwaſſer, und fo erlebte fie unter feiner Redaktion wieber eine Vlütezeit, die allerdings nicht von langer Dauer war.

Als 1885 die „Reformen“ begannen, die falt alles Baltiſche zu befeitigen drohten, ſchien auch das Schidjal des Monatsfhrift endgültig befiegelt zu fein. Noch drei Jahre blieb Dr. Bienemann auf feinem Poften, dann verlieh er (1888) bie Redaktion und bie Heimat. Und nun lag unfere Zeitſchrift zum zweiten Male völlig barnieder. Immer häufiger und dringender wurden bie Bitten der Nebation und des Verlegers um größere Beteiligung an der

400 Bon der Rebaftion.

Mitarbeit und am Abonnement, und immer häufiger mußten Artitel von geringerer Qualität, als ſich eigentlic, ziemte, aufge: nommen werben. Ende 1889 ſah ſich aud) ber Nachfolger Dr. Biene» manns, Heinrich- Hollander, veranlaft, die Redaktion nieberzulegen und bereits im Herbft 1891 zog ſich aud) deſſen Nachfolger Nikolai Garlberg von ber Leitung ber Monatsfhrift zurüd.

Trog aller Zeitbedrängniß ift es dann doch gelungen, bas Wrack der „Balt. Monatsſchr.“ länger als ein Dezennium über Waſſer zu halten. Das Verdienft hieran gebührt einigen treuen Mitarbeitern und furchtloſen Patrioten altbaltiſchen Schlages. Ihnen ift e8 zu verdanken, daß das Intereſſe des Publifums an der Zeitſchrift im Vergleich zu früher entſchieden reger geworden iſt und daß unfere DMonatsihrift immer nod als „einigermaßen gemeinnüpiges Unternehmen“ bezeichnet merben darf. Freilich, ihrer Hauptaufgabe: wirkſam einzutreten für bie Unantaftbarfeit der Grundlagen unferer Exiſtenz und der mit diefen untrennbar verbundenen Lebensformen, foweit fie nod nicht volljtändig und für immer zerftört find, hat die Dionatsfhrift nur in ſehr unvolltommener Weiſe gerecht werden fönnen. Wer aber ein Urteil über bie Monatsfchrift fällt, wird billiger Weile das Wort im Auge behalten müſſen: rara temporum felicitas, ubi sentire, quae velis et quae sentias dicere licet. Er wird aud) nicht vergeffen dürfen, daß zu all den angeführten, von Jahr zu Jahr wachſenden Schwierigkeiten, mit denen die Monatsfärift unausgefegt zu kämfen hat, nod) hinzugefommen iſt, daß fehr viele unferer älteren Literaten der Heimat den Rücken gelehrt haben und für die Dionatsichrift verloren find, daß unter den Neueren das fchriftftelleriiche Talent rar ift und endlich daß bie Neueften, unfere „Modernen“, die ftolz barauf find feinen biftorifchen Sinn zu befigen, als Mitarbeiter füglich nicht in Betracht tommen Tonnen. Das Mles mag ein wenig zur Enticjuldigung der vielen und großen Mängel dienen, die ben legten Jahrgängen der Monatsſchrift anhaften.

Fortan wird Dr. Friedrich Vienemann jun. als alleiniger Herausgeber und allein verantwortlicher Redakteur der „Laltifchen Monatsfchrift” zeichnen. Arnold v. Tidehöhl.

Riga, Ende November 1902,

Die Redaktenre der „Balt. Monatsſchrift“.

Theodor Yötticher und Alexander Faltin 1859-1861 (Bd. I—4).

Georg Berkholz (bis 1865 gemeinſam mit Vötticher und Faltin) 1362--1869 (Bd. 5—18).

Ernjt Yaron v. d. Brüggen 1870—1872 (Bd. 19-21).

Theodor Hermann Pantenius 1873—1875 (Bd. 22-24).

Guſtav Keuchel 1877/78 (Bd. 25).

Edmund Baron Heyking 1878/79 (Bd. 26).

Friedrich Bienemann sen. 1880-1888 (Bd. 27--35).

Heinrich Hollander 1889 (Bd. 36).

Nitolai Carlberg 1890/91 (Bb. 37, 38).

Arnold v. Tideböhl 1892—1902 (Bb. 39-51).

Friedrich Bienemann jun. 1903 ff.

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Abonnements-Einladung.

Um Störungen in der regelmäßigen Zufendung zu vermeiben, bitten wir das Abonnement auf die „Baltifhe Monatsihrift” womöglich noch vor Weihnachten erneuern zu wollen.

Dos einmal gegebene Programm der Monatsfchrift barf als hinlãnglich befannt vorausgefegt werben.

Auf dem Boden der Heimat erwachſen, wird fie bas Heimats- bewußtfein allewege zu pflegen und zu fördern, den Lebensintereffen der Heimat ohne Unterlaß zu dienen ſich angelegen fein laſſen, nad) wie vor auch unter neuer Leitung.

Abonnements nehmen alle deutſchen Buchhandlungen ſowie der unterzeichnete Verlag entgegen. Der Preis beträgt 8 Rbl. jährlich, bei direller Zufendung unter Kreuzband 9 Rbl.

Der Verlag der „Baltifhen Monatsihrift*.

Dr. Fr. Bienemann jun. Riga, Nitolaiftrahe 27.

Baltifhe Chronik.

Sechſter Jahrgang.

September 1901 bis September 1902.

Baltifge Chronik,

September 1901 September 1902.

Wit der Nachricht von der bevorftehenden Einführung einer ftart mobir figisten Sandicpaftsverfoffung in 13 Gouvernements des Weit: und Rordweſ- gebietS taucht wieder dad Gerüdt von der beabfihtigten Ausdehnung dieſer Verfaffung auf die Oſtſeeprobinzen in der Preffe auf. Dieſes Gerücht Üt under gründet, im Hinbfict auf das allgemeine Intereffe aber, daS die Anficht eines fo einflufreichen Staatsmannes wie der Finanzminifter Witte beanfpruchen darf, folgt hier ein Referat über eine umfafiende Dentſchrift S. 3. Wittes aus dem Jahre 1890, die das Verhälinitz zwiſchen den Sandichaften und der Negierung befandelt. Die Dentjchift Tonftatiet einen prinzipiellen Gegenſatz zwiſchen Tofaler Seibftverwaltung und Staatsbürcaufratie, ber einen normalen Gang der Geſchäfte unmöglich mache. Daher betrachte eine ſtatke Bentralregierung die Organe der örtlichen Selbftvermaltung ſtets mit Miptrauen und ſuche deren Zfätigfeit eins zuſchranten. Im jehr objettiver Weile giebt ©. J. Witte zum Veweiſe deſſen eine hiſtoriſche Ueberficht über bie Geſchick der Landſchaften, indem er ihre Fehler wenig beachtend, haupiſachtich auf das violente Vorgehen der Regierung hinweiſt.

Das aljtändifche Prinzip, fagt der Minifter, erſchien in umferen Inſtitu⸗ tionen plöglich, ohne einen ihm vorausgehenden langen hiſtoriſchen Progeh, der die gefeljchaftlichen und ftändifchen Unterfcjiebe fcrittmeife ausgeglidien hätte. Der politifce Bau des Reiches, der fo lange auf der ſtandiſchen Drganifation und ber dierarchie der örtlichen Gejelficjaften gerubt Hatte, fand fi Auge in Auge dem alftändiichen Prinzip gegenübergeftellt, man mußte das Syftem ber örtli—en Verwaltung radital ändern. Die liberalen Ideen und der Konflitur tionafismus waren damals fo ftart, da jogar Aatkom die Berufung einer aliruffiicen Sandjgjaftsverfammfung zur Organifirung der öffentlichen Meinung befürwortete. Unter den Männern, die das Gefeg über die Organifation ber Landſchaſten vorbereiteten, waren viele, die mit dem Führer in dieſer Sache, Witutin, meinten, daß bie Einführung einer Ronjtitution verfrüht, aber pringipiell zu wůnſchen ſei.

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2 Baltife Chronit 1901.

In dem die Sanbfefaftsinftitutionen anfündenben Manifeit vom 31. März 1863 bezeichnete Alerander IT. die vernünftige Ordnung der örtlichen Selbft« verwaltung als die Grundlage des gefammten gefeicaftlichen Baues. Weiter bieh es: Indem wir biefe Einrichtungen bewahren, behalten wir ung vor, wenn fie durch die Praris erprobt fein werden, an ihre weitere Entwicelung nad) Maßgabe des nad Zeit und Ort Nötigen zu gehen.“ Und in einer Depeſche vom 14. April beffelben Jahres an den ruſſiſchen Botſchafler in London ſagie der Reichstonzler Fürft Gotidafow: „Das von unſerem Allerhöchſten Herrn angenommene Syſtem enthält in fid) den Keim, der durch Zeit und Erfahrung entroidelt werden foll. Es Hat die Beſtimmung, auf Grund provinzieller und munizipaler Eineichtungen, die in England der Ausgangspunkt und die Grund» Tage für Größe und Wohlitand geweſen find, zur abminiftrativen Autonomie au führen" oo.

In der Kommiffion, bie das Landſchaftsgeſetz außarbeitete, präfidirte ein fo tonftitutionelf benfender Mann wie Milutin, und arbeitete man im Geift und in den Formen fonftitutionellen Lebens. Uber ſehr bald erftarfte neben der iberolen Strömung das Mihtrauen, die Furcht vor dem SHeformeifer. Der neue Minifter des Innern, Walujem, übernahm an Stelle Milutins den Vorſig in der Kommiffion und man begann in ihr zu lapiren, pwiſchen den beiden Peingipien Ausgleihie zu ſuchen Die Selbfländigfeit ber Landicaften murde nicht mehe das Mare Ziel der Arbeiten, ſondern die ohne Gefährdung der ftaats lichen Autorität mögliche Vefriedigung ber hoch gelpannten Erwartungen ber liberalen Menge. Das Sandichaftögefeg befam den unbeftummten Charalter, ber des Ergebnis des Veftrebens war, ſowohl die Anhänger al die Gegner der Reform zufrieden zu ftelfen: die erflen werden mit der Bufunft vertröftet, die anderen bamit beichwichtigt, dafı Die Kompetenzen ber Sandichaften äuferft elftifch beftimmt wurden. Insbejonbere unterlich man, die Zelle des Gemebes, bie allftändijche Gemeinde, zu ſchaffen. Im Ganzen blieb die geiepgebende Gemalt des Staates unangelaftet, fine verwaltende Macht aber wurde flarf zu Gunflen der neuen Iandigaftlichen Jnititute eingefcränft, als der zepräfentativen Organe der örtlichen Beoölferung. Die Negierungsgewalt fpaltete fi und mußte gum Antagonismus führen. Von den criten Jahren des Veitchens der Sands jchaſten an machte ſich diefer Antagonismus bemerkbar. Auf Seiten der Hegier zung war die Macht und die Landicaften waren deshalb zur Erfolglofigfeit verurteilt, Die äufere Erſcheinung dieſer veziehungen in diefe: von der einen Seite unterdrüdt das geuvernenentale Prinzip mehr und mehr das Iandfchaftliche, anbrerfeits firebt die Sandfchaft darnad, aus dem engen Rahmen, den man ihr gegeben hatte, Jerauszufommen, zu einer realen Macht zu werden, ſich ausr führende Organe zu ſwaffen und Teilnahme an der Zentraloermaltung zu erlangen. Diefer Kampf in nicht zufällig. feine piycologiiche Berirrung, fondern din Peingipienfampf.

Die Selbftändigfeit der Sanbiejaften war ſchon durch das Grundgefch von 1884 beicpränft. Manche ibrer Bejchlüffe fonnten vom Gouverneur oder dom Minifter des Innern inhibiet werden, wenn fie den Geſeben oder dem allgemeinen Rugen des Staates widerfprachen. Der elaſtiſche Begriff des ftaate

Baltife Chronit 1901. 8

lichen Rufens ermöglichte eine immer fortfchreitenbe Unterwerfung ber Sande ſchaften unter die Macht und Auffict des Gounerneurs. Durch Scnatserläuterung vom 16. Dezember 1808 wurde den Gouverneuren das giecht eingeräumt, jeder von den Sandfchaften erwählten Perſon die Veitätigung wegen mangelnder Wobl. gefinntgeit gu verweigern. Im folgenden Jahre wurde bie Disyiplinargewalt der Vorfigenden der Landfchaftsverlammlungen (Adelsmarſchalle) ftart vermehrt, Diefe Verfammfungen Tamen dadurch ganz in bie Hände der fänbifchen vor. figenden und des Gouverneurs. Im Jahre 1879 erfielten die Governeure das Recht, Iandfehaftliche Beamte wegen mangelnder Wohlgejinntheit zu entfernen. Durd) verfchiedene Verordnungen wurden die Iandfcaftlichen Aerzte und Mpothefer abhängig gemacht von den ftaatlichen Mebiyinalbehärden und den Gouverneuren, die Sculfuratoren von den ftaatlichen Schulräten, Die Lehrer von den taatlichen Infpettoren u. f. w., woraus hervorgeht, dafs die Regierung die Tandfehaftliche Scibftändigfeit einzufchränten, die Sanbfchaften felbit aus felbitänbigen, nur unter der Kontrole der Regierung ftehenben Organen allmählic) auf die Stufe burcanı« trauſcher dem Willen des Gouverneurs geforfamer Behörden, Gerabzufegen firehte.

Damit parallel ging ſtufenweiſe eine Vecränfung ber Tandfcaftlichen Kompetenz. Durd) Gejeh vom 21. November 1868 wurde das Rech der Lanb- ſchaften. die Handels: und Jnduftricanftalten zu befteuern, eingelcränft. Aber der erniteften Einfcpränfung unterlag die Sandfejaft auf dem Gebiet des Voits. unterricht. In den eriten Jahren war der Landichaft eine ſeht weite Teilnahme an der Fürforge für das volisſchuiweſen auf Grund des Geſebes von 1804 eingeräumt worden, fo dafı tHatfächlid) die Landichaft fait volle derrſchaft über bie Voltsſchute gewann. Seit Graf D. Tolftoi Minifter der Bollsauftlärung geworden war, folgte eine Reihe von Mafiregeln, die den gwen hatten, die Landſchaft von der tHatfächlichen Leitung der volisſchale zu befeitigen und fie bIo8 auf die öonomifden Jntereffen zu beichränfen. Jim Jahre 1869 wurden ftaatliche Inſpeltore freirt, die 1871 daS Rech erhielten, Vollsſchullehter wegen mangelnder Wohlgefinntfeit zu entfernen und Beihlüffe der Schufräte zu infir Diren. Im Jahre 1874 wurden die Adelsmorſchälle zu Vorfigenden in den Sigulräten gemacht, die Kompetenz der Schufräte wurde auf blohe Formen Herabgefegt und die ganze Verwaltung der Schulen in Wirtlicheit in die Hände ftaatlicher Direktoren gelegt.

Auf den anderen Gebieten ber Selbftvermaltung, wie Medizinalweſen. Wegebau u. ſ. w. fonfurrirten die Landſchaften mit den in den Gubernien noch eraftenen entfpredienden ftaatlichen Organen; „in diefer fonfurricenden Tpätigleit gewährte die Staatsregierung foftematijch alle Vorzüge diefen lepteren, die fie als die ihrigen anfah, und überlich der Sandihaft nur eine untergeordnete Role. Diefe Bevorzugung äußerte fi) fogar in den unweientlichiten Fragen, einſchlehuch der beicheidenen Angelegenheiten ber Wegereparaturen."

So wurde bie Gelbitändigfeit und die Rompeteng ber Landſchaſten von der Regierung foitematifd) eingeengt. Das Miütrauen derfelben zeigte fih in befonderem Mafe in ihrem erhalten zu ben Geſuchen der Sanbfhaft um Schaffung eines unterjten fleinen Berwaltungstörpers der Tandfgaften Kommun, um cine Wereinpeitlihung ihrer

4 Baltifde Chronit 1901.

Thätigkeit und um Erlah biefer oder jener allgemein ftaatligen Gefege, die fämmtlih erfolglos blieben.

Angefichts des Mißtrauens der Hegierung der alfeitigen Beengung, der Unmöglichfeit, die Entwürfe der Iandfhaftlichen Berfommlungen in dem nötigen Mohe zur Ausführung zu bringen, erfalteten viele ber beften Leute für bie Sache der Landfchajt, und in dem Mahe, als fie ſich von der landſchafilicen Tgätigteit zurüdzogen, gingen bie Wahlen mehr und mehr in bie Hände einer befonberen Aafje von ſich beraufarbeitenden Madern über, die auf das Lande faftliche Budget als die Quelle guter Gehälter ſahen. In der Tätigkeit der Landſcheften zeigten ſich ſolche Mängel und dunfle Seiten, die aud ihre eifrigiten Anhänger nicht leugnen fönnen. „Bedrängt” fagt Witle „von gouvernes mentafer Reglementirung, unfertig in ifrer Organilation, wurde die Landſcheft one Zweifel ein ſeht ſchleches Werkzeug der Verwaltung.“ . . .

Wahrend des Minifteriums Loris + Melitow plante man eine Befferung durch eine Erweiterung der alftänbiicen Werfaffung, aber Alerander IIL. ent fchfoß fih umgufebren zu dem anderen Mege: zur Kräftigung dee Selbſtherrſcheft durch Errichtung einer ftarfen Hegierungsgemalt. Im Jahre 1882 erſchien das. Sefep, wodure) daS Sandfchaftögefeh von 1864 umgeftaftet wurde. Es vernidete nicht daS alftänbifche Prinzip, fügte aber eine ftändifche Färbung Hinzu; «8 lich Woßlämter beftehen, erflärte aber ben Dienft in ihnen für Stanisbienit; es maghte bie Iandfchaftlichen Aeiuter nicht zu Stantöbeförben, aber vermehrte ihre Beoormundung durch den Gonverneur. Yon der Yauptmaffe der Sandbenöfferung, den Bauern, wurde die Sandfchaft välfig getrennt. Bwildien beide murbe durch das Gefet; von 1880 die Gewalt der Sandpauptleute gefeht, die mit den Lande fjaften nicht8 gemein haben.

Dennod wurden die Sanpfchaften nicht gehoriame Werkzeuge der Regier rung. Mon fann immer nad) S. J. Mitte geradegu behaupten, dal Die gemünfchte Bereinheitlichung ihrer und der ftaatlichen Tyätigfeit folange nicht erreicht werden wird, fo lange die Sandichaften in ven ftaatlichen Zentralbehörden etwas ihnen Gegenfählices fehen werben, fo lange nicht Grwäßlte aus den Londſchaften aftiven Anteil an ihrer Tpätigfeit nehmen, fo lange bie Gefehe nicht als Ergebniffe ber Bejgpfüffe diefer Erwählten erfheinen werden. Andrerr jeit8 wird das Wibtrauen der Regierung nicht vericwinden, fo lange ſich auch ur ein Schatten von Selbitändigfeit bei den lanbfeaftlicen Inftitutionen erhalten wird. ...

Was fol geſchehen, den Zwieſpalt aufzuföfen? Es fol, fügt Mitte, Teinerlei Grweiterung der Thätigfeit der Sanbichaften erlanbt werden, «8 foll ihr eine Hare Grenze gezogen werben, bie jie unter feinem Vorwande überfchreiten darf. Zugleich aber jo jo fchleunig als möglich eine pwedmähige Organijation der flaatlicen Aominiftration vorgenommen werden in dem Bermußtjein, daß unver der Wirt im Sande ift, aud) der Wirt in der Adminiftration fein fol.”

Die in diejer Dentichrift dargelegien Erwägungen werden wohl für die Entwidelung der Lenbfhaftsfrage in der mäditen Zeit mahgebend bleiben. Auf ihre Teitenden Geficjtspunfte it auch das Gefep vom 12. Juni 1900 durüczufüßren, nad) dem die jäßeliche Tanbicaftliche Immobilienfteue die

Baltife Chronit 1901. 6

hauptſachliche Einnahmequelle der Landſchaft um nicht mehr al 8 pCt. erhöht werben darf.

Eine ausführlichere Beſprechung hat diefer Dentigrift E. von der Brüggen

in den „Örenzboten“ (1901, III) angedeihen laſſen; ihr iſt dieſes Referat entnommen.

1. und 2. Sept. Austellung des Wendauſchen landwirtſchaftlichen

Vereins beim Pajtorat Wendau, die nad) dem Zeugniß bes Präfidenten des Vereins Paſtor Warres ber Einigkeit zwi- ſchen Groß: und Kleingrundbefigern einen ſchönen Erfolg verdankt. Beſonders wird das ausgejtellte Vieh (54 Pferde und 76 Stüd Rindvieh) gelobt. Der Beſuch zählte nad) mehreren taufend Perfonen.

. Sept. Riga. Die Mädchengewerbeſchule des Jungfrauenvereins

feiert ihr 25jähriges Beſtehen und bezieht ihr neues Gebäude am Puſchkinboulevard, zu dem die Stadt ben Grundplatz geſchenkt und ber Arditeft Dohnberg die Pläne unentgeltlid} geliefert hat.

Zurje (Dorpat). Die Univerfität führt die Gt. Peters: burger Zeit ein.

Die Auffiht über die Erploitation ber Zufuhrbahnen in ben Gouvernements Ejtland, Livland, Kurland, Kowno und Wilna wird bem neu gefchaffenen Amt eines Kronsin- fpeftors übertragen. (Gefegfammlung Nr. 85.)

. Sept. Niga. Die Jubiläums:Ansftellung wird gefhloffen. Die

Ausftellung auf der Esplanade ift von 366,942 Perſonen befucht worden, Alt-Riga von 98,673, die Vogelwieſe von 303,548; auf ausmwärtig verfaufte Chefs find außerdem 37,741 Befudye zu rechnen, fo daß ſich eine Geſammtfrequenz von 806,904 Perfonen ergiebt. Die legte Gewerbeausftel: lung in Riga (1883) war an 71 Tagen von über 300,000 Perſonen befud)t worden ; dem gegenüber hat die 94 Tage geöffnete Jubiläums-Ausftellung, wenn man von den beiden Vergnügungsftätten abfieht, feine ftärfere Anziehungskraft bewiejen. Die Urteile über den Geſammteindruck, ben bie Ausftellung Hinterlaffen hat, find ſehr günftig. Das Geſchick und die Ausdauer der Leiter, die trog ber ſchwierigen Lage von Indujtrie und Gewerbe einen ſchönen Erfolg erzielt haben, wird allgemein anerfannt.

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Valtiſche Chronit 1901.

2. Sept. Windau. Der Biſchof Agathangel weiht eine neue grie⸗

chiſchorthodoxe Kirche ein. Zum Schmuck derſelben hat bie örtliche ruſſiſche Geſellſchaft nicht wenig Mühe aufge wandt, nicht wenig Haben aud Anbersgläubige beigefteuert und auch Jrembftäbter, berichtet ber „Rh. Weſtn.“

8. Sept. Riga. Stadtverordnetenverſammlung. Das Protokoll

einer Stadtamtsſitzung in Sachen der Stadt-Realſchule wird verleſen. Das Schulkollegium ber Stadt-Nealſchule Hatte ſich nad einem Schreiben ber Lehrbezirlsverwaltug vom 21. Auguft c. nad Relation mit bem Stadtamt bis zum 5. Sept. gegen die genannte Verwaltung darüber zu äußern, welde Abweihungen von den Allerhöhiten Befehlen d. d. 11. und 18. Juni d. I. für die Stadt-Realſchule erwünſcht feien. Cs mar hinzugefügt, daß die Allerhöchfien Befehle im vollen Maße auf die Realſchule angewandt werden würben, wenn dem Miniſterium der Voltsaufflärung etwaige Wünſche bis zum 15. Sept. nicht vorgeftellt wären. Das Stabtamt hat ſich mit dem Schuͤltollegium dahin geeinigt, daß für den Unterricht in der deutſchen Sprache die deutſch ſprechenden Schüler von den undeutſchen geſchieden werden. Ferner ſoll der franzöfiihe und deutſche Sprachunter- richt in den oberften Klaſſen durch die Lektüre von Rlaffitern, durch eine Ueberfiht über bie Literaturgeſchichte und durd) feichte Auflagübungen verftärkt werden, dagegen von Hand- arbeitsftunden vorläufig Abltand genommen werden. Die Stadtverwaltung behält fih,auf Grund ber Anmerk. 2 zum Projelt der Grundregeln für bie allgemeinbildende Dlittel: ſchule vor, weitere Abweihungen von ben allgemeinen Lehrplänen für die Stadtrealſchule vorzuihlagen, wenn Erfahrungen vorliegen. Die Stadtverorbnetenverfamm- lung bejgjfießt ferner unter gewiſſen Bebingungen den Bau eines Zentralgefängniffes in Niga durch Hergabe eines Platzes an der Peripherie der Stadt und durd) eine Subjidie von 44,840 Rbl. zu unterftügen. Hinſichtlich der im Niga- ſchen Patrimonialgebiet gelegenen und bisher von der Stadt unterhaltenen Streden ber Engelhartshöfichen und Mitauer Chaufiee foll dem Gouverneur auf eine Anfrage erwidert

Baltifche Chronit 1901. 7

werben, daß bie Stadtverwaltung auf die Erhebung ber Chauffgegebühren nicht verzichten Tann, folange die Stadt den Unterhalt ber Chaufjsen beftreiten muß, und daß fie es ebenfo lange für unmöglid) erachtet, die Verwaltung dieſer Chauffseftreden den Ingenieuren der Gouvernements Seſſion für Wegebau zu übertragen.

3.—10. Sept. Neval. Sihungen bes Ritterſchaftlichen Ausfchufes. Der Ausihuß beſchloß, dab ber nächte Landtag am 22. Januar 1902 eröffnet werde. Die Verteilung der Reichs— grundfteuer für Eſtland ſoll durch eine Nepartition pro Haken ausgeführt werben. —— Der Antrag des Volloſchul direftors für Eſtland vom 7. Juli c. auf Bewilligung von Mitteln zur Erhöhung des Gehalts der Volksſchullehrer auf minbeftens 150 N6l. jüprtich wird abgelehnt mit Hinweis auf die geſebliche Firirung der Höhe diefer Gehalte und bie Quellen, aus denen fie bejtritten werden. Der Ausihuß nahm ein Schreiben des Eftländiihen Gouverneurs zur Kenntniß, worin er mitteilt, welde Maßnahmen er zur Unterftügung bes von der Nitterjchaft angeftellten Lepraarztes Kupffer bei der Ermittelung uud Iſolirung von Lepröfen angeordnet habe. Jede Lepraerfranfung ift dem genannten Arzt zu melden und ber Kranke zum Eintritt in das Kudaſche Leproforium zu überreden. Wenn das nicht gelingt, jo ift der Kranke zu Haufe zu ifoliren und unter ärztliche Aufficht zu Stellen. Millelloſe Lepröfe dürfen nicht von Bauerge⸗ meindegliebern abwechſelnd verpflegt werden. Lokalitäten, wo ſich Lepröfe aufgehalten, und Gegenftände, bie fie berührt haben, find zu besinfiziren.

5. Sept. Die baltifhe Domänenverwaltung publizirt in der „Livl. Gouv.gZig.“, dab durd ein am 8. Juni c. Allerhöchſt bejtätigten Reichratsgutachten die Aemter eines Kronsichied- richters und Schriftführers beim Kurländiſchen Ober Schiedsgericht aufgehoben worben find. Wenn fchiebsrid)- terlihe Entſcheidungen in Zufunft erforderlich find, fo wird auf Grund bes allegirten Geſetzes vom Domänenhof aus feinen Beamten ein Schiedsrichter ernannt, während bie Scpriflführung einem vom Gouverneur beftimmten Veamten übertragen wird.

8 Valtiſche Chronif 1901.

5. Sept. Die Gemeinden Pürfeln und Eichenangern find unter dem Namen ber erften zu einer vereinigt worben (I, 151.) (Eivl. Gouv.-Ztg.)

6. Sept. Reval. Zweite Jahresſihung bes Eſtländiſchen Landwirt-

ſchaftlichen Vereins. Die Juni - Ausftellung des Vereins in

Neval hat einen Neingeminn erzielt und gröfere Abidhrei: bungen für die Erhaltung und Vervollkommnung ber Anlagen auf dem Ausftellungsplag Fonnten ausgeführt werden. Statt der alljägrlichen Wiederwahl des Ausftellungspräfidiums wird ein breijähriger Turnus angenommen.

NReval. Der Nevaler Verein zur Förderung der Pferde

zucht und Rennen befchlieft feine Auflöfung.

Ein Zirulär des Minifters des Innern ſchreibt den Gouverneuren vor, bis zum 1. April 1902 ein genaues Lereichniß; aller in den ihnen anvertrauten Gouvernements befindlichen Altertümer und Denkmäler ein: aufenden; das Minifterium mole erforderlichen Falles für die Erhaltung derfelben forgen. Da die Angaben genau fein follen, fo fhreibt das Birkuläe vor, fid nicht mit denen ber Polizei zu begnügen, fondern auch andere Inftitutionen und Privatperfonen zu befragen. Stadtverorbnetenverfammlung. Auf diſchen Vollsſchulendireltors beichlieht die Verſammlung zu antworten. daß die Eröffnung einer niederen techniſchen Schule durch bie Regierung zur Fort: bildung ber Abfolventen der Stadtſchulen und ber unteren Klaſſen der Realſchule erwünſcht wäre; daß die Zahl der Schüler ſchwer zu beftimmen, aber wahrideinlih eine beträchtliche fein werde; daß die Stadt bei der großen Belaſtung durd die Bequartirung des Militärs (19,000 NEL.) und infolge ber Verringerung ber Einnahmen um 14,000 Rbl. durch die Einführung des Branntweinmonopols eine Gewerbeſchule nicht fubventioniren Tönne ; falls aber die Stadt in Zukunft über bie erforderlichen Mittel verfügen würbe, jo würde fie biefelben nur dann ber projeftirten Schule bewilligen, wenn ihr ein Einfluß auf die Leitung ber Anjtalt eingeräumt werde.

Den Kurorten Ruflands, darunter auch Kemmern, follen alle ihre Einnahmen vom Minifterium der Landwirthſchaft und Domänen als Spezialmittel zur Verfügung geſtellt werden. Außerdem follen zu ihrer Melioration 52,000 Abl. jährlich ausgeworfen werden.

Valtiſche Ehronif 1901. 9

6. Sept. Der bänifche Viſchof Sthyr trifft in Riga ein, um hier und in Libau die Bedingungen für eine daniſche Scemannsmiffion zu unterfucen.

. Sept. Neval. Feierliche Grundfteinlegung zum Denkmal für die Offiziere und Maunſchaften des am 7. Sept. 1893 verunglücten Küftenpanzers „Nuffalfa“ am Katharinenthal⸗ ſchen Strande.

. Sept. Reval. Die Generalverfammlung bes Eſtländiſchen Vereins von Liebhabern der Jagd biidt auf das 10 jährige Befichen des Vereins zurüd. Der Verein hat fi um bie Verbreitung ber Kenntniß der Jagdgefege, um die Verfolgung des MWildfrevels und den Wildihug große Verdienſte erwors ben. Im Jahre 1900 betrug die Zahl der vom Verein gesahlten Prämien für Kraähen, Elitern und Nußhäher 60,000, für bie übrigen Naubvögel ca. 1000, für Haarraub- zeug ca. 400 ; die lepteren werben nur vom 1. Mai bis 1. September gezahlt, wo das Fell nichts taugt. An ber Jagdgejepgebung wurde der Verein durd die Berufung feines Präfes in die Allerhöchit zur Nevifion der Jagdge— fege eingefegten Kommiffion beteiligt. Gerr v. Rech, ber dem Verein feit feiner Gründung vorfteht, wurde auf der Verſammlung durd) die Erteilung des lebenslänglichen Jagd: rechts auf dem Grund und Boden der Mitglieder des Vereins ausgezeichnet und fundirte feinerfeits eine Etiftung zu Ehren der bem Verein angehörenden Damen, aus ber im Dienft verunglücte Jagdbeamte von Gliebern des Vereins, refp. ihre Hinterbleibenen unterftügt werden follen. Das Vermögen des Vereins beläuft fih auf ca. 11,000 Rbl., Einnahmen und Ausgaben balanciren pro 1900/1901 mit 14,419 Nbl.

» Der Branntwein- und Spiritusfonfum auf Oeſel hat nad Angaben des „Arensb. Wocjenblattes“ im erften Jahre des Monopols 13,000 Wedro betragen, während im Vor— jahre 20,000 Webro abgejept worden waren. Der Prozent Sag pro Kopf ber Bevölkerung fiel von 0,33 auf 0,22 Mebro und betrug für Arensburg 1,8, für das flache Land 0,08 Wedro. Diefe Abnahme des Branntweinkfonfums wird durch die Verminderung der früheren 67 Berfaufftellen auf 6 Kronsbuden erflärt. Die günftige Beeinfluſſung der

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10 Baltifche Chronit 1901.

Volfsnücternheit, die dem Monopol hier [heinbar zu danfen ift, wird erft dann für fonftatirt angefehen werden können, wenn ber Umfang des auf den livländiſchen Inſeln ſehr verbreiteten Schmuggelhandels mit preußiſchem Spiritus für die fraglichen Zeiträume ſich feiiftellen ließe.

8. Sept. Fellin. Vom Kreis + Viäßigfeits: Kuratorium wird ein Theehaus eröffnet.

Bon dem Lefegimmer deſſelben glaubt der „gel. Ang." kaum, dab

„bie nad) offiziellem Sortiment außgelegten ruifiiden und eftnifchen Beitungen und Zeitfepriften dem doch in eriter Linie in Frage fommenden Sandmann bie der Nachfrage und dem Bedarf entjpredjende chüre bieten werben.“

”" » Jurjew (Dorpat). Cand. hist. Arnold Hajjelblatt, Chef⸗ redalteur der „Nordf. Zig.“, begeht fein 2öjähriges Jubiläum als baltiiher Journalift an der „Neuen Dörptſchen“ fpäter „Nordlivländiſchen Zeitung.”

„nm Mitau. Einweihung des Neubaus des Mädchengymnafiums durch einen Gottesdienft in ber neuen griediihen Yausfapelle der Anftalt unter Teilnadıne des Gouverneurs, Vizegou: verneurs, Bezivkinfpeftors Popow u. j. w.

8. und 9. Sept. Werro. Ausjtellung der vereinigten eſtniſchen landwirtſchaftlichen Vereine unter Leitung des Kern von Samfon = Velgen. Der „Poſt“. bezeichnet fie als durdaus gelungen, bei regem Beſuch.

9. Sept. Der ftellv. livländifche Gouverneur Generalmajor M. A. Paſchkow trifft in Niga ein und übernimmt die Verwaltung bes Gouvernements. Am 11. September empfängt ber neue Gouverneur die Beamten des Reſſorts des Miniſte— riums bes Innern, am 12., 14. und 15. Eept. bie Perſonen, die fi ihm vorfiellen wollen. Etwas Bemerfenswertes wird auf diefen Empfängen nicht geſprochen.

„„ Neval. Das Revaler Marine-Stafino feiert fein 50jähriges Beſiehen.

10. Sept. Die Gemeinden Koddiak und Zarnau im Wolmarſchem Kreiſe find unter dem Namen der erfteren zu einer ver— ſchmotzen worben. (I, 151) (Livl. Gouv. Ztg.)

#0 Ein Moment für die Scjulreform. Aus dem Rechenichaftsbericht ber Reformirten Kirchenſchule in St. Petersburg iſt zu eriehen, daß es im verfloffenen Lehrjahre nur 174 Schultage gegeben hat. Die Erholung

Valtiſche Chronit 1901. 1

Hat alfo länger als ein halbes Jahr gedauert, die Arbeit weniger als ein folhes,

11. Sept. Ihre Majeitäten ber Kaifer und bie Kaiſerin Tehren

von der Reife nad) Dänemark, Deutſchland (Danzig) und Franfreih (Compiegne) zurüd und nehmen in Epala Aufenthalt.

„Zuwiſchen ben lettiſchen Blättern „Balß“ und „Balt. Weſmeſis fpielt ſich eine heftige Fehde über das Verhalten des (egteren zur Subiläumsfeier Nigas ab.

Insbefondere greift der Redakteur des „Balls“, vereibigter Rechtsanwalt Weber der fonfequent bei dem von der Allgemeinheit der Setten gefapten Befchluß geblieben üft, daß das Jubiläum nicht nur als eine Angelegenheit der Deutfchen, fondern auch als eine der Letien anzufehen und zu feiern ift die ſchwankende und zweibeutige Stellung des Chefredalteurs des anderen Vlatted, Rechtsanwalts Weinberg, auf das Schächte an. Im Verlauf der Polemit wirft Weber dem Weinberg u. A. wiſſentlich falſche Verichterftattung und „Anwendung von Aniffdhen vor, die wohl von Winfeladvofaten, aber nicht von gebildeten Necptsgelefrten geübt werden." Er meint ferner, es fei ſchon in einem gewiffen Teil der tettifchen Zeitungspreffe üblic geworben, alle möglichen Mittelchen und Kuiffchen, gerechte [?] und ungerechte, anzumenden, wenn es gilt, den Gegner zu befämpfen, dagegen mit verblüffender Blindheit geſchlagen zu fein, wenn Vöſes und Ungehöriges im eigenen Lager geichieht. In einer Erwiderung deS „Valt. Weitn.” heibt «8, daß bie „Balls“ in ihrem Angeiffsartifel fon „beinafe” die Grenze des Erlaubten überſchritten Habe nnd nur mit Rüdjicht auf das feüßere gute Verhäliniß einer Antwort gemürbigt werde. Zur Erklärung des vom „Balj6“ gerügten ſchwankenden Verhaltens Weinbergs führt die „Valt. Weftn.“ im Welentlicen aus, es fehle Weber an Kenntnib des „praftüfcen" Lebens: Weinberg habe einfach als „Healpolititer“ [1] den jeweiligen Umſtänden Rechnung getragen.

12. Sept. Den jüngeren Ingenieuren für den Wegebau find von

der befonderen Seſſion ber livländiſchen Gouvernementss regierung für Wegebau die Städte Niga, Walt, Jurjew (Dorpat) und Pernau als Wohnfig angewiefen worden. Der Diſtrilt eines jeden entipriht einem ber livländiſchen Doppelkreife, der Deſelſche Kreis ift dem Ingenieur bes Kiga: Wolmarſchen Kreiſes zugeteilt. (Liv. Gouv. Ztg.)

Witau. Die Stadtverordnetenverfammlung beſchließt über die feitens des Finanzminifteriums erfolgte Weigerung für die Bequartierung von Untermilitärs in den Jahren 1897 und 1898 faut dem Geſetz vom 14. März 1894 eine Er-

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Battifche Chronit 1901.

gänzungszahlung von 9999 NL. 78 Kop. zu leiften, beim 1. Departement des Senats Beſchwerde zu führen.

Sept. Dem Finangminiter wird das Necht erteilt, Bevollmädjtigte des Finangminifteriumg bei den ruffijgen Agrarbanken zu ernennen.

Der erfte direkte Zug der Mosfau-Mindau:Rybinster Eifenbahn trifft aus Moskau in Niga ein.

Sept. Den eſtniſchen Blättern zufolge Haben bie Rreispolizeien die Gemeinde: und Gutspoligeien zirfulariter aufgefordert, die Mühlen, Schmieben und geſchloſſeuen Krüge auf ben Geheimhandel mit Spirituofen zu beobachten. Das Landvolt wird aufgefordert, alle Fälle von geheimem Ausoſchank von Vier und Brauntwein zur Anzeige zu bringen.

. Sept. Niga. Der unter dem Proteftorat der Großfürſtin

Darin Parolowna ftehende Gartenbauverein feiert fein 25 jähriges Betehen.

w Der vom Miniſterium der Vollsaufffärung feiner Zeit aud in dem Rigaſchen Lehrbegirt verwandte Beamte Wladimir Wiarlowitſch Araufe, der 1898 wegen unfittliger Yandlungen zur Bmangsarbeit verfcict wurde, iſt nach den „Nomojti” auf Sfadhalin geſtorben. Sept. In Libau hat fih eine eſtniſche lutheriſche Gemeinde gebildet, zu deren Prediger der Neligionslehrer cand. theol. Graß gewählt wird.

Sept. Rach der „St. Pet. Big.” Hat der Stodlfauptmann von St. Peters: burg dem dortigen Stadtamt die Mitteifung gemacht, dab in Folge einer Vorftelung des Minifters des Innern, betreffend bie Rotwendigfeit einer Abänderung des Beftandes und der Wahlen der St. Petersburger Stadt: werordneten, ſowie die Abänderung einiger Artitel der Städteorbmung im ihrer Anwendung auf die Nefidenz, Ällerhöchſt befohlen worden üft, die Vorbereitungen zu ben auf den 26. Nov. angefegten Stadtverordnetens wahlen einzuftellen und bie Vollmachten der gegenmärtigeu Gtabts verordneten und aller Wahlbeamten bis zur Ausarbeitung neuer Beftims mungen zu verlängern.

Es furfirt das Gerücht, die Stabtverfaffung folle dahin geändert werden, dab das Gtadthaupt und die Glieder des Stadtamis von der Regierung ernannt und bie Stadwerordneien nur zur Bastıng des Budgets einberufen werden.

w Der General der Infanterie, Alexander Witentjewiſch Gurtfcin, wird zum Kommandirenden der Truppen des Wilnafchen Militärbegists ernannt. Das mit diefem Nommando bisher verbundene Amt eines General gouverneurs für Wilno, Kowno und Grodno wird nicht bejet.

Valtiſche Chronik 1901. 18

20. Sept. In Anlaß einer Beihwerde des St. Peteröburger Stabthauptes erläutert der Senat die befichenden Beſtim— mungen ber Städleordnung ($ 105, 106) dahin, daß bie techniſchen Beamten der Unterorgane bes Stabtamtes von dem Stadtamt, die Beamten für die Gefdäftsführung und bie Ranzeleibeamten allein vom Stadthaupt anzuftellen und zu entlaſſen find. Durch dieſen Anftellungsmobus foll die Unterordnung der Erefutivorgane unter das Stadtamt zum Ausdrud gebracht werden. Die Senatsentſcheidung wird auch ben baltii—hen Stadtverwaltungen zur Nachachtung mitgeteilt, deren Geiäftsordnung den Beſtimmungen derfelben im Großen und Ganzen bereits entfpricht.

21. Sept. Grundfteinlegung zu einem Vethaus ber Hebräerge: meinde in Jurjew, (Dorpat). Die Juden dürfen ſich feit 1866 in Jurjew (Dorpat) niederlaffen; gegenwärtig befteht die Gemeinde aus über 200 Familien.

”» » Der „Bafnizas Weſin.“ berichtet über zwei 1696 im Kreife Kansk des Gouvernements Jeniſſeisk gegründete lettijche Kolonien Dearienburg und Ramenef, die zu einer leidlich geficherten Eriftenz gelangt find, obwohl fie in den erften Jahren mit den ſchwierigſien Verhältniſſen in Sunpf und Urwald zu kämpfen hatten. Jcpt werden die Kolonien den ummohnenden unter befferen Bedingungen angeficbelten ruſſiſchen Koloniſten als Vorbild hingeftellt. Ein befanntes Bild! Das genannte Blatt betont in biefem Bericht, das nur wer die Mittel zum Hausbau und zur vollen Ein: richtung aus der Heimat mitbringt, fih eine Eriftenz in Sibirien gründen fann. Veiläufig ſpricht für die ſchlechten Ausfihten ber Auswanderung nad) Eibirien, daß fogar nad) den von Minifterium des Innern im „Reg. Anz.” publigieten Daten in ber Zeit vom 1. Januar bis 7. Sept. 1901 nad Sibirien 77,774 Anfiedler ausgewandert und 19,728 von da zurüdgefehrt find, d. h. 25 pCt.! Die fog. Kundſchafter find von diefen Zahlen ausgenommen.

”" » Der Bau ber Minifteriumefchule in Nappin im Werroſchen Kreife, geht, jo ſchreibt der „Olewit“, feiner Vollendung entgegen, er wird der Gemeinde 1012000 Rbl. koſten. Der frügere Lehrer an der Schule Nätfep Hat

1 Baltije Chronit 1901.

nad) einjähriger Thätigfeit feinen Abichied genommen. An feiner Stelle ift ein griechiſch-orthodorer Lehrer ernannt, obwol die Statuten der Schule dahin Lauten, daß der Schul: lehrer ſiets ein Lutheraner fein fol. Die Gefindeväter wollen deshalb ihre Kinder nicht in die Mi riumsicule ſchicken. In einem Anfall von Begriffsverwirrung nennt der „Prib. Krai“ das „religiöſe Unduldſamkeit.“

21. Sept. Die Navigationsfhule in Magnushof bei Riga feiert ihr 25jähriges Beſtehen und Staatsrath Joh. Breitih fein 25jähriges Jubiläum als Leiter derſelben.

24. Sept. Das Minifterium der Vollsauftlärung Hat, nach der „Düna-dig.“, geitattet, daß in den pädagogiicen Kurſen für angehende Volksſchullehrer in Ddeffa die aus den Nolonien gebürtigen Deutfejen Unterricht in ber evangeliſch lutheriſchen Glaubenslehre und in der deutſchen Sprache, aber nur in zwwei Wochenſtunden, erhalten.

26. Sept. Riga. Auf der Micaelisverfammlung der Großen Gilde wird der Rechenſchaftsbericht des Theaterkomites ber

fon 1900/1901 vorgelegt. Zur Dedung bes Defizits von 12,531 Nbl. 91 Kop. jollen die Garanten mit 28 pCt. ihrer Zeichnungen herangezogen werden. Cs ift dies die erite Sailon nad) Erlaß der Verordnung des DMinifters des Innern nicht des heiligen Dirigirenden Synode über die Feier von allgemein—-chriſtlichen und griehiid-orthodoren Zeiten, durch die aud dem beutichen Theater an ca. 20 Abenden bie Vorftellungen verboten wer: ben, mas ſich matürfid bei dem finanziellen Nejultate bemerkbar macht.

26.—28. Sept. Wolmar. Die 67. Livländiſche Provinzialiynode, im Auftrage des Livl. Konfiftoriums an Stelle des feit längerer Zeit kranken Generaljuperintendenten einberufen und geleitet von dem Konfiftorialafieffor und Rigaſchen Sadt: propft Bähtgens. Faft 100 Teilnehmer haben fid) eingefunden, unter den Gäften ber kurländiſche General: ralfuperintendent O. Band. Obwolder Jahresbericht bes Generalfuperintendenten, alle Kaſſen berichte und eine Reihe anderer Verichte ausfielen, war das Programm der Synode ein veihhaftiges. Im Intereffe der Stellung ber Kir— Henvormünder wurde nad) Verlefung der Sprengelsvoten

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beſchloſſen, die Gouvernementsregierung durch das Konſiſto— rium zu erſuchen, Anordnung dahin zu treffen, daß den Kirchenvormündern, die ihnen vegulativmähig zufommenben Emofumente nicht vorenthalten werben. Nach einem Vortrag von after 3. Hörfchelmann: ſirt die Synode ihre Stellung zu der durch Adolf Harnads Buch über das Wefen des Chriftentums aufgeworfenen Frage nad) einer wegen mangelnder Zeit leider nur kurzen Beſprechung wenigitens dahin, daß fie unter volffter Wahrung ihres auf der heiligen Schrift und dem Betenntniß; der Mutherifhen Kirche feit gegründeten Stand: punlts alle zu Klärung diefer Frage dienlichen Erörterungen in Rede und Schrift mit Freuden begrüßen wolle. Den Bericht über bie Anftalten der innern Miſſion in Liofand ftattete Paſior Yillner Kokenhuſen ab. Ueber die Frage nad) bem peojeftirten Inftitut zur Ausbildung von Küfter: Organiften (IV, 231) eritattete den Kommiſſionsbericht Paftor Hollmann » St. Marien : Diagdalenen und ein Glied diefer Kommiſſion Paſtor Pawaſſar-Aahof Hielt einen Vortrag über kirchliche Mufikpflege. Der letztere wies auf bie Notwendigkeit einer Nevifion des muſikaliſchen Teils ber lettiichen Liturgie hin, der bei der Zufammenftellung ber neuen Agende nicht umgearbeitet worden war; die Synode wählte eine Kommiſſion, der diefe Umarbeitung übertragen wurde. Die Frage der Ausbildung der Organiflen wurbe noch) nicht fpruchreif gefunden. Einen injtruktiven Bericht der Kommillion, die von der vorigen Synode zur Ermittelung von genauen Daten über bie Stellung der Küfter an ben futherifchen Sandkirchen niebergejept worben war, erftattete Paſtor Falk: Rannapäh ; die Vorichläge der Kommiſſion wurden zur Beratung an bie Eprengel gewiefen. Bon ben übrigen Verhandlungen feien die Nekrologe für den Gene ralfuperintenbenten Friebrid) Hollmann und ben Probit Nudolf Guleke erwähnt, exjterer vom Präfes ber Synode, Tegterer vom Paſtor Döbner » Ralzenau gehalten. 26. Sept. Für die Uebertritte von der lutherischen zur griechiſch— orthodoren Kirche und für die Mifchehen zwifchen Lutheranern und Griediih » Orthodoren laſſen fih nad) ben offiziellen

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Valtiſche Chronit 1901.

Angaben der Paſtoren für Livland folgende Zahlen zuſam— menftellen.

Uebertritte: Miſchehen: Norde Süd Nord» Sid,

Liofand Summe iolond® Summe 1801-208 7702385 108 222 390 18992 1 92 288 182 138 315 1803-238 111 310 107 1790348 1804-0093 38 211 187 308 1805 891 91 482 37200 636 10-7 m 361 207 258 515 1807 23 100 358 258 311 569 1808 2500 204 as 337 615 1809 23 84 817 22 338020 mo 210 132 312 soo 322 622 101/110 63 108 162 199 301

Die auffallend höheren Zahlen für die Mebertritte im eftni- ſchen Livland laſſen ſich nicht genügend erklären. Die bejonders hohe Ziffer im Jahre 1895 ift wol ber befannten Agitation des Sagnitzſchen Stationsicefs zuzuſchreiben. Daß die Zahfen in den legten Jahren immer mehr fteigen, iſt vielleicht eine Folge forgfältigerer Ermittelungen ſeitens der Pajtoren (efr. IV, 169).

27. Sept. Niga. Die vier deutſchen Gefangvereine bringen, von

der fadeltragenden Freiwilligen Feuerwehr begleitet, dem neuen Gouverneur im Schloß zum Willkommen eine Serenade. Es wurden dabei folgende Lieder gefungen: „Das ift der Tag des Herin!", „Kennft Du das Land?" und „Erhebt in jubelnden Afforden I”

27. Sept. Wall. Vor der 2, Kriminalabteilung bes Rigaſchen

Bezirfsgerihts wird eine Klage gegen den Buchhändier Edgar Rudolff in Walk wegen Eröffnung einer unfonzeflios nirten „Schule” verhandelt. Der Thatbejtand ift, daß N. feinem Sohn und feiner Tochter von zwei Lehrerinnen häuslichen Unterricht erteilen ließ, an dem ein Neffe des N. und vier Kinder feiner Bekaunten im Alter von 7 bis 9 Jahren teilnahmen. Herr N. erklärte, er habe jeinen Sohn wegen zarter Gefundfeit zu Haufe unterrichten Laffen und die andern Kinnder hinzugenommen, um den Gang des Unterrichts zu beleben. Troh dieſes Thatbejtandes wurde

Valtiſche Chronil 1901. 17

R. der Gröffnung einer unkonzeſſionirten „Schule“ ſchuldig befunden und zu einer Gelbitrafe von 25 Nbl. verurteilt. Außerdem foll feine Schule geichlofien werden. Diejes war aber ſchon vor einem Jahr auf adminiſtrative Verfügung des Gouverneurs gefchehen.

29. Sept. Fellin. Die beiden Monopolbuden haben im erften Jahr vom Juli 1900 bis ebendahin 1901 77,379 Nbl. einge nommen. Deshalb plant das Afzifereffort die Eröffnung einer dritten jtädtifchen Bude und die von drei weiteren im der Umgegend ber Stadt.

Der „Bell, Anz.” demerft dazu: „Es hält in der That jchwer, dieſe im fisfafifchen Intereffe ſicherlich gercctfertigten Vahnahmen mit den Tendenzen in Einklang zu bringen, welde bei der Einführung des Monopolausihants im Hinblid auf die Vollsnüchternheit allenthalben die Wege ebnen follten.”

» » Im Petersburger Appellhof gelangt die gegen die Uni: verfität Jurjew erhobene Forderung auf Herausgabe ber Statue des „Vater Rhein“ zur Verhandlung. Aus formalen Gründen, weil die Klage verjährt jei, werben bie Kläger abgewieſen.

30. Sept. Rappel in Harrien. Einweihung der neuerbauten lutheriſchen Kirche durch den Generalſuperintendenten und Introduktion des Paſtors H. Girgenſohn. 11 auswärtige Paſtoren und eine gewaltige Volksmenge, darunter ca. 1000 Nevalenfer, nehmen an der Feier Teil. Die örtlichen Sängerhöre fangen unter ber Leitung ihres früheren beliebten Dirigenten, Oberbauergerichtspräfidenten Djafonow (jegt in Reval). Das an Etelle der aus der Dänenzeit ftammenden St. Marien-Magdalenenfirche erbaute Gotteshaus, projeftirt von X. v. Howen und gebaut von K. R. Waldes, ähnelt ber Karlskirche in Rebal, faßt ca. 3000 Perfonen und foftet 50,00 Rbl.

1. Oftober. Aus den Verhandlungen ber vom 29. Auguft bis zum 3. Sept. in Libau tagenden kurländiſchen Provinzial fynode, die von 89 Synodalen und 6 Gäjten bejucht und vom Generalfuperintendenten D. Band geleitet worden war. Ueber das äußere Kirchenweſen berichtet der Generalfuper: intendent, daß die Kirchen zu Neugut, Nerdattan und

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Battifce Chronit 1901.

‚Goldingen im Bau begriffen feien und eine Kollefte für

eine neue Kirche ber lettiihen Stadtgemeinde in Mitau geftattet worden fei; von der Gemeinde Tauroggen ift Georgenburg als befonderes Kirchſpiel abgeteilt, in Libau üit eine zweite lettijhe und eine zweite deutſche Gemeinde begründet worden. Einer Teilung bedürfen noch die fehr großen Gemeinden Doblen, Tudum und Struſchan-Stirnian. Raftor G. Seefemann:Grünhof hielt einen Vortrag über „Evangelifation und Gemeinfhaftspflege” und Paftor Kluge: Libau gab ein Korreferat dazu. Paſtor Bernewitz ſprach über die Frage des Veitritts zur Petersburger Emeritalfaile. Propit 9. Seeſemann-Grenzhof verlas einen Beitrag zur rechten Würdigung des Jacobus:Briefes. Eschatologiſche Fragen werden von Paflor Schilling-Edwahlen und Paitor Lichtenftein-Golbingen behandelt. Auf Grund der anſchlie⸗ ßenden Debatte veröffentlicht der Generalfuperintendent im Auftrage der Synode eine Erklärung zu den im legten Jahre erſchienenen Schriften: „Das Kommen des Meſſias“ ꝛc. von Paul W. U. van B. und „Dein Neid) komme!“ von 3. van Beuningen. Die Synode hält die Verſuche, Verftändniß der eschatologiichen Weifjagungen zu finden, für berechtigt, ift aber ber Anficht, daß alle ſolche Verfuche ivrig fein fönnen und daher nicht zum Gegenftand der evangeliichen Verfündi- gung vor ber Gemeinde gemacht werden dürfen u. |. w. Daher bedauert und mißbilligt die Synode, daß ein Synodale unternommen hat, bie Nefultate apolalypliſcher Zahlenbered): nungen als „gottgeihenkte Enthüllung“ in die Gemeinde zu bringen. Hinfihtlic Av. Harnads: Weſen des Chriften- tums, ftellt die Synode nad) einem Neferat Paſtor Beders- Frauenburg feit, daß bei aller nerfenming einzelner Harnachſſcher Darlegungen dennoch eine Verftändigung mit bem Glauben der Kirche nicht möglich fei; Vermittelungs: verfuche würden nur Verwirrung anrichten. Die im vorigen Jahr beichlofiene Enquete über die Lage der Orga: niften und Küfter wird einer Kommilfion überwiefen. Außerdem wurden die üblichen Berichte erftattet, darunter der des Schulrats Paſtor Vernewig- Neuenburg ; darnach bejuchten die Landvoltsihulen 24,596 Rinder, darunter

Baltifche Chronit 1901. 19

Anaben Mädchen Zuſammen

erftwintiige . . . 4248 3913 8156 zweitwintrige . . . 3969 8457 7426 drittwintrige . .. 3410 2681 6091 mehr als 3 Winter. 2185 738 2936 Sommerihulen . . 2185 1225 3364

Bei der Aufnahme verftanden nicht zu leſen 264 Kinder,

laſen fhleht . . 1124 Anaben und 956 Mädchen, nur medaniih 18852 „1911 P \ı) Ge :) U

konnten lefen und fchreiben 344 313 tonnten auch ruffifch leſen und ſchreiben 111 Rnaben” und 66 Mädchen.

Die Abnahme der Theologie Stubirenden in Jurjew (Dorpat) macht fid) für Kurland fehr bemerkbar; bie fur: lãndiſchen Letten hören ganz auf Theologie zu ftudiren, Die Deutfhen weiſen aud immer geringere Zahlen auf. In Tegter Zeit haben mehrfad) deutiche Theologen ihr Stubium aufgegeben, weil fie angeblich die Wiſſenſchaft mit ber fpäteren praftiihen Thätigfeit nicht in Einklang bringen konnten. Der Fehler wird wohl in der mangelhaften Bor: bildung liegen, der Idealismus einer wahrhaft humaniftifchen Bildung fehlt.

1. DE. Der Verein zur Bekämpfung ber Lepra in Kurland hat 1900 eine Einnahme von 8865 Rbl. 39 Kop. gehabt, denen an Ausgaben 8633 Rbl. 63 Kop. gegenüberfiehen. Das Vermögen beitand zum 1. Januar 1901 aus 16,846 Rbl. 63 Kop. in Wertpapieren und einem jhuldenfreien Gefinbe. Das Afyl in Taljen verpflegte 32 Kranke, von denen brei ftarben, und die Filiale bei Tudum 22, von benen vier ſtarben; der Rranfenbeftand am 1. Januar 1901 war 26 reſp. 18.

» m Riga. Auf dem Völkerkommers der Polytechnifer:Rorpo: rationen zum Stiftungstage des Polytechnifums, an dem aud) der Gouverneur Pafchtom teilnimmt, wird bem nad) 3sjähriger Wirkfamkeit von der Hochſchule fheidenden Pro— feier Lovis von ber banfbaren Stubentenfaft eine erhebende

Huldigung dargebracht. ur

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Prof. Lovis betont In einer Darlegung des Entwickelungsganges ber dochſchule, daß Liebe zur ſtudirenden Jugend, ernftes Streben, Achtung vor felbftgegebenen Geſehen, gegenfeitiges Vertrauen und Freiheit in ber Behandlung und Aneignung der Willen: Ähpaft ihre Früchte getragen und bie einft fo Meine nur auf fich felbit geitellte Vochſchule grob und blühend gemadt und taufenbe ihrer cher mafigen Jünger aud og me ſtaatliche Rede zu wichtigen und einflußreichen Stellungen in Heimat und Fremde geführt hätten. Einen weſentlichen Faltor hierbei habe die forporatio organifirte Studentenfchaft gebildet, mit der über wichtige ragen des afademifchen Lebens zu ver handeln ftets Leicht und angenehm gemefen fei.

1. Oft. Im Folge ber Trodenheit des Sommers und Herbites herrſcht überall in den Oftfeeprovinzen großer Waffermangel. In Jurjew (Dorpat) haben die größeren Paſſagierdampfer ihre

Fahrten auf dem Embach wegen bes niedrigen Wafferftandes

einftellen müffen; auf dem Lande wird das Wafjer für das

Vieh oft werfteweit angeführt; wegen des Futtermangels

verkaufen viele Bauern ihr Vieh.

Die orthobore baltiſche Bratſtwo begeht in Et. Peters: burg im Saal des Miniſteriumg des Innern ihre Jahres: verfammlung.

Der Präfident M. N. Gallin-Wraſſti führt in Erinnerung an das

im vorigen Jahr begangene Jubiläum der Rigaſchen Epardjie folgende

Daten an: Bei der im Jahre 1850 erfolgten Begründung der Epardiie

belief ſich die Zahl der orthodogen Rirchen in ihr auf 109 mit 13,317

Gemeindemitgliebern. Rach 50 Jahren befanden fich in demfelben Rayon

bereit 243 orthodore Kirchen mit ungefähr 270,000 Gemeindemitglicbern.

Wit der religiössfittlichen Aufklärung beichäftigen ſich ca. 250 vom State

materiell ficher geitcllte Priefter nebit Diafonen und Plalmfängern. In

den 484 orthoboren Schulen des Gebiets werden 17,500 Anaben und bis zu 05 Mädejen unterrichtet. Neben der Drthoboren Baltifcen

Bruberfchaft arbeiten in den Ditferprovinzen noch neun felbftänbige

örtliche vruderſchaſten und 11 Filialen der Petershurger Vruderſchaft.

AS auf ein beſonders freudiges Ereignif im Leben der Braiſtwo mies

der Präfident auf die zum erften Mol erfolgte Weberführung des örtlichen

Heiligtums, des Jalobitädtifgen Muttergottesbildes

aus Jatobftadt nach Mitau und von dort in die weibliche Spafjo-Preobrar

fgensti,Einfiebelei, darauf nach Riga und zurüd nach) Jatobftadt, hin.

Diefes Ereigniß. fagt er, vollzog fich zu Anfang des verfloffenen Mai

und mar von einer ganzen Reihe firdlicher Feiern von hervorragender

Bebeutung begleitet, mit einem nach der Erzählung der örtlichen Zeitungen

aufergewöhnlichen Aufigwung der religiöfen Stimmung in der ortpodoren

Bevölferung. Das erklärt ſich cben durd) das Erſcheinen eines wunder

Baltifie Chronit 1901. a

wirkenden Bildes inmitten ber Bevölferung, das in Wahrhaftige feit ſchon jeit dem XVII. Jahrjundert unter feinem heiligen Schatten jomogf die Origoboren als auch die Andersgläubigen bes Landes angezogen hat. Zu Eprenmitgliedern werden der Aurator A. N. Schwarz, der Gouverneur Paſchton und der Metropolit Feognoit von Kiew gemählt.

1. Of. Riga. Das orthobore geiftlihe Seminar feiert fein

50jähriges VBeltehen mit einem Feſtalt, zu dem außer ber biefigen orthoboren Geiftlichfeit der Bilhof Joalim von Grodno, früher Neftor des Seminars, der Gouverneur, ber Kurator, die orthodoren Direktoren ber hiefigen Gymnafien, der Leiter des jog. Walkſchen Volksſchullehrerſeminars in Thorensberg und andere Freunde des Inſtituts erſcheinen. Es wurben Anſprachen gehalten, bie Seminariften trugen Chorgefänge vor und dann wurde eine Nusftellung ihrer Reiftungen in der Wialerei und Buchbinderei beſichtigt. Feierliche Gottesdienfte waren bereits feit dem 29. Gept. in der Seminarfiche abgehalten worden, wohin aud) das wunberthätige Muttergottesbild „Umilenije” aus Pleskau gebracht wurde, das ſich wie alljährlich um dieſe Zeit in Niga aufhält. Sonft fand am 1. Oft. ein Feſtmahl beim Biſchof von Riga ftatt und am 2. ein muſikaliſch-litteräriſcher Abend ber Seminariften im Gefellihaftshaus „Ulei“.

Aus der Zeitrede des Reltors Protohierei Ariſtow über die Geſchichte des Seminars: Es iſt befannt, dab in ben 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts ſich ein Vafienübertritt von Bauern des baltiſchen Gebiets, Letten und Ejten, zur Drthodorie vollzog. Diejes Ereigniß überrafchte die Verwaltung der orthodoren Kirdie volljtändig. Es wurden gar aus den Neuangeglicberten Gemeinden gebildet, man begann Kirchen du bauen, aber e8 gab feine Priejter der orthodorxen Kirche, die die ört« ficyen Sprachen verftanden. Zwar ſchrieb man ausgemäßlten älteren Bögfingen des Pleslauſchen Seminars vor, eſtniſch oder ietiiſch zu Lernen, aber bie nötige Aneignung der fremden Sprache gelang ben reifen Züng« lingen nicht mehr. Der Biſchof Philaret I. begann daher Leute zu Prieſtern zu weihen, die feine geüftliche Ausbildung genoffen hatten, aber von guten Gitten waren unb ben Kirchenbienft und die Landesſprachen tannien. Auch folder waren wenige zu finden und natürlich fonnten fie ſich nicht mit den Paftoren meſſen. Biſchof Philaret fam deshalb der Sedante, in Riga eine befondere geiftliche Schule zu gründen, that die nötigen Schritte und am 11. Februar 18465 wurde das Statut vom geiſer Nitolai I. beitätigt. Die Schule follte 5 Klaſſen mit je Sjährigem Kurſus erhalten und den Lehrplan ber Gemeinde und Kreisſchulen und der Seminare umfaflen, dod) trat an Stelle des Griechiſchen und Hebräiſchen

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und einiger anderer Seminarfächer bie deutſche Sprache für alle Zöglinge und für die Letten und Eften ihre Mutterſprache bie ruſſiſchen Böglinge folften zur einen Hälfte leitiſch, zur anderen eftnifd lernen. Der erite Rurſus jollte aus 10 Setten, 10 Efteu und 10 Kinder ber örtlichen Geiſtlichteit beſtehen und immer nad) zwei Jahren eine neue höhere Alaffe eröffnet werden, jo dah die Schule nach acht Jahren fomplet wäre. Die Auswahl der geeigneten Seiten, und Eftenfnaben im Alter von 11 bis 18 Jahren wurbe dem örtlichen Geiftlichen im Einverftändnif; mit der Zivil: obrigteit anfeimgeftellt, doch ſollten fie Waifen oder armer Seute Kinder ein, gefunb umd fähig. Die Krone bejtritt den vollftändigen Unterhalt der Böglinge.

Am 1. Sept. 1847 wurde bie Rigaſche ejto / lettiſche Schule eröffnet. Die Gründung dieſet Schule wurde von ben örtlichen Lertretern der Obrigfeit nicht ganz ipmpathiich begrüßt. Sie bemühten ſich das Gerücht gu verbreiten, dah dieſe Schule eine Rantoniftenfcule jei. Diejes Gerücht Hatte auch feine Wirkung: in gang Lioland tonnte man nicht 10 fettifche Anaben zur Aufnahme in biefe Schule aufgreifen. Auch fonft ſuchten fie das Wert zu hindern. Die Wahl der Bauerfinder für die Scyule war den Ordnungsrictern anfeimgeitellt. Und fiche, das Rigaſche Drdnungsgericht fand in feinem Gebiet mit einen zum Eintritt in die Schule geeigneten Knaben von 11 bis 13 Jahren, außer einem tauben, wovon aud) der Hochwürdige Pfilaret I. iu Kenntnif gefept wurde. Nachher erwarb ſich die Schule Vertrauen bei den Bauern; die Wahl der Knaben wurde in der Foigezeit den Prieftern übertragen. Nach der Begründung der Nigajchen Eporchie 1850 wurde die Schule in ein Seminar umbenannt.

Der Umſtand, dab die Zöglinge erft die ruififche Sprache lernen mußten, hatte zur Folge, dab der Nurfus des Higafchen Seminars niebriger ftand, als der anderer. Durch Programmänderungen juchte man die in den örtlichen Verhäftniffen begründeten Schwierigfeiten zu überwinden und endlich gelang es auch 1857 dem Nachfolger Pyifareis, dern Viſchof Platon, durd Eröffnung einer 6. Kaffe und Einführung des Unterrichts im Griechiſchen, Franzöſiſchen und Hebräiſchen den voll, ftändigen Sehrplan ber Seminare in Riga zu erreichen,

Den örtlichen Bedürfniffen Hatte man nur in ber Spradenfrage Rechnung getragen, nicht bei der Kuswahl des Lehrſtoffs. In Iehterer Hinficht hat der Biihof Joann von Woborg, Nettor der Petersburger Madeniie, Wandel geichaffen, der daS Seminar 1865 revibirte. In feinem Vericht verlangt er u. A: Berftärkung des polemiſchen Teils gegen das Luthertum in der Theologie; Verſartung des Unterrichts in der heit. Schrift, befonders deshalb, weil die Kenniniß der Heil. Schrift bei den Sutheranern von außerordentlich großem Gewicht it; Unterricht im tutherifchen Kirchenrecht und dem Provinzialredit; beim Unterricht in der ruſfiſchen Geſchichte umftändliche Auslegung ber Gejchidjte der Seiten und Gjten, um die Herkunft, bie Verhälimiſſe und den Charafter ihres

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Voltstums mehr aufzuhellen und in ihnen durch ihre Rirdhfpielsr priefter ein nationales Bewuhtfein zu entwieln, das fie noch mehr zu ftaatlicher und geiftlicer Einigung mit den Ruffen geneigt machen muß; gelegentliche Gelebrirung von Gottesdieniten in der Geminarfirce in den örtlichen Sprachen. Wuherdem wünfcte Biihof Joan, daß geborene Leiten und Eiten wieder in einer betimmten, ziemlich bedeutenden Zahl aufgenommen würden; es war nämlich inzwiſchen den Kindern von Geiftlicpen ein Vorzugsrecht zugeftanden worden, wie an alfen Seminaren. Den Unterricht in der Mebiin, Sanbwirtfchaft, Raturgefcjichte und neu iübifhen Lehre hielt er für überflüfig. Ale diele Anfichten Joanne wurden gebilligt, bis auf die Einführung des Unterrichts im lutheriſchen Nirchenrecht und die Einſchränkung des Unterrichts im Deutſchen, die er zu Gunften des Lettiſchen und Eſtuiſchen gefordert hatte; da deutſch die Sprache der Npminiftration war, durfte fie nicht vernachläffigt werben.

Schon im Jahre 1807 wurde ein neues allgemeines Statut mit tloſſi chem Charatter beftätigt und auch am Rigafchen Seminar eingeführt. Der Unterricht in den alten Sprachen wurde verjtärft und eine Meberficht über die philoſophiſchen Lehren und die Urtheologie in den Lehrplan aufgenommen. 1876 wurden itatt der Klaffen mit zmeijäßrigem Aurfus Iahresttafien eingeführt.

Aus den Berichten einiger Lehrer iſt erfictlich, dal aud) bei dem neuen Statut die Ideen Joanns nicht vergefien wurden, befonders fruct« bringend aber erwiefen ſich dieſe Jdeen bei Einführung des Statuls von 1884. Damals beicloß die Direftion des Seminars mit Hüdfiht auf die örtlichen Vebürfnifie und in Abweichung vom allgemeinen Pro« gramm: 3) daS Programın der Kircjengefcichte an Gegeuftänden, bie im Allgemeinen und insbefoudere für das baftifche Gebiet feine große Beden. tung Haben, zu fügen, dagegen, um dem zufünftigen Priefter bie volle Nüftung zum Nampfe gegen das Luthertum zu geben, an Gegenjländen zu erpeitern, die im Hinblid auf das Lutpertum ein befondered Autereffe haben, und in daS Programm eine möglicit genaue Gefdhichte der Orthos dogie, des Satholigismus und des Luthertums im Gebiet aufzunehn b) das Programm der Liturgif zu andern und zu ergänzen im Hinblicd auf die Pflege der Airchlicfeit bei den Schülern und die Mitteilung von notwendigen Nenntnifien für den Kampf mit dem Luthertum auf liture güichem Boden; c) das Programm für den Unterricht in der praftifchen Anfeitung für Priefter durd) Unterweifungen derart zu erweitern, dah der zutünftige Priefter nicht nur theoretijd mit den riefterpfliditen und fireplicgen Beftimmungen befannt fei, jondern and) die praftiichen Bejonderfeiten des geiftligen Dienites im baliiſchen Gebiet fenne; ) das Programm ber Homiletit zu ergänzen und zu veränbern im Hinbfiet auf die Stellung der priefterlicen Predigt im Gebiet als eines Gegengewichtes zu der Iutherifchen Predigt; ©) das Programm der ver« gleicenden Theologie zu Lürgen bei der Wiverlegung 3. 8. des Wuhame . danismus und anderer Verirrungen, die eine jpegielle Vegichung zu den

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Umftänden des geiftlicen Dienftes im Gebiet nicht Gaben, und eine befonber8 bevorzugte Stelle der Widerlegung des Luthertums zu geben; P) den Unterricht in der eftnifcpen und fetifchen Sprache und im Kirchen» gelang derart neu anzulegen, dab die das Seminar verlafienden Zöglinge ißre Pflicten bei Abgaltung des Gottesdienftes und in Hinficht des Prebigens frei erfebigen umb den Sircpengelang iu ifren Gemeinden Leiten fönnen; g) die Erlernung der deutfchen Sprade für alle Schüler obliga - torifch zu machen im Hinblid auf ben Nuyen für einen Priefter der Kirche im batiihen Gebiet, diefe Sprache gu fennen. Auf Grund biefer Geficjtspunfte wurden von den Lehrern des Seminars Speyialı programme ausgearbeitet, dic am 16. März 1885 den Danf und bie Betätigung des Viichofs Donat erhielten. 1888 wurde ein Schrituhl für Geicichte und Widerlegung des Raslols gefgaffen, wobei man eben, falls auf die Bebürfniffe des Gebiets Rüdficht nahın.

Seitvem find Feine Aenderungen am Programm mehr vorgenommen worden: der Charakter des Seminars iſt den örtlichen Erforberniffen völlig angepaft.

Den Aurfus des Seminars haben 497 Zöglinge beendet; von ihmen hat e8 einer bis zum Viſchof, einer 6i8 zum Seminarreftor und einer 6iS zum Ligebirefior im Departement für direfte Steuern und wirtlichen Staatsrath gebracht. Gegenwärtig zählt das Inflitut 167 Schüler und 19 Sehrende.

1. Oft. Ein anonymer Artifel der „Rig. Epardial-Ztg.”, von

einem orthodoren Geiftlihen verfaßt, beſchäftigt ſich mit ber feftirerifchen Bewegung ber „Leſer“ im Pernaufchen Kreiſe.

Die „Leer“, die ſehr zahlreich find und bei der Mehrheit der Vevölferung in hohem Anſehen then, verfammeln ſich, nad) dieſem Bericht, in Betfälen oder Privatbäufern zum Leſen und Erläutern der Vibel und zum Gebet, fordern einen heiligen Lebenswandel und verwerfen Trumt, Tabafrauden, Feiertagsarbeit, Tanz und dergl. Ihr Benehmen bei den Verſammlungen wird als rüßrjelig geſchilderi. ihre Gebete und Aufpracpen, die immer frei gehalten werden, find volfstümlid, und wirken nich ſowol durch Logit und Veredſamkeit als durd) die innere Kraft der Verfönlicpfeit, die gefühlt wird und ſich die jhmwäceren aud) ohne Worte unterwirft. Aus dem Inhalt der Predigten der „Lofer“ fönnte man als dem Luthertum widerſprechend nur die Behauptung bezeichnen, daß fie Heilige wären und unter Einwirkung des Heil. Geiſtes ſprächen, fowie Hauptächlich das Veitehen auf den guten Werten. Genährt wird dieſe Vewegung durch Führer, bie teils wirklich aus ehrlicher Meberzeugung, zum größeren Teil aber aus Eitelfeit oder um materieller Vorteile willen ihre Rolle fpielen. Die „Leer“ refrutiren ſich aus Lutheranern und Orthodoren, ie befennen ſich aber zum Lutherium und befuchen regel: ie lutheriſche Kirche; die Orthodoren von ihnen tommen in die rujfi ſche Kirche nur zum Abendmahl und zu Amtshandlungen. Die „Rejer" find der Crthodorie überhaupt feinblich und verhindern Webertritte

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zu ihr und Miſchehen. Ihre diesbezügliche Haltung wird charalteriſirt durch eine Bittichrift eines ortpodoren „Lejers" auf den Namen der Herrin und Kaiferin Alerandra Feodorowna, dafı man ihm erlaube, ſein Kind, das ſchon von einen Laien getauft worden fei, beim Suthertum au laſſen, und durch eine andere eines zweiten orthodoren „Lefers“, ebenfalls auf den Namen der Kaiſerin, worin er felbit um die Erlaubniß zum Uebertritt zum Luthertum bittet. „Dieje Geſuche bilden gleichſam jwei Probefugeln; ihnen werden, wenn fie befriedigt werben, viele andere derjelben Art folgen. Wenn die Geſuche nicht befriedigt werben, fo laun fich eine offene Bewegung in der bezeichneten Richtung nicht weiter ent« wideln, aber der Geift, der von den „Lejern“ im Bolt ausgefät worden Üt und zu den genannten Geſuchen geführt hat, wird bleiben und ſich weiter außbreiten

Fruher verhielten die Paitore ſich ſeindlich gegen die „Lefer.“ Wegen diejer Abneigung gegen die Orthodorie aber wagt der geiftliche Verfafer des Aufſabes in der „Eprßtg.” zu behaupten begünftigen die Paftoren fie jept. „Der Paftor veranftaltet, zu Zeiten „Bibelitunden“, in denen die Heil, Schrift ertlärt wird. Zu dieſen Stunden verlammeln fid) die Häupter der „Ceſer“, jeder von ihnen hat eine Bibel in der Hand, kann feine Weimung über die zu erflärende Stelle jagen und fört bie Erläuterungen des Paftors. Zit das nigt ein Mittel, durch das ben „gefern“ jur Verbreitung unter dem Bolt folge Gedanten mitgeteilt werden, die bie Paftore nidt offen vor Jedermann auszufpreden wagen, und durd das die „eier“ gelehrt, gedrillt und inftrwirt werden?“ Und ein Beweis für eine ſolche Unteritelfung wird nirgends erbracht in dem gangen Aufſab, nicht einmal verfucht, wenn ber Verfaſſer nicht bei folgender Stelle auch auf die lutheriſchen Prediger zielt: „Manchmal fpreden die „Leier“ Gedanken aus, bie fie fidh nicht nur nicht felbit Haben ausdenten können, fondern die fie nicht einmal völlig faffen fönnen, wie 3. 8, daß der orthobore Glaube nicıt ein Glaube der Freifeit üt, oder daß viele orthodore Gebräuche feinen Sinn baben, ober dab es in ber orthodoren Kirche feine Entiwicelung des Glaubens giebt u. drgl.”

In Wahrheit ſuchen die Paſtore die Hier im Allge- meinen richtig geſchilderten lutheriſchen „Leſer“ (Iugijad) von ihren Ertravaganzen zu einem Leben in der Kirchen- gemeinde ohne geiftliche Selbſtüberhebung zurüdzuführen, reſp. fie in ber Kirhengemeinihaft zu erhalten. Je nad) dem, mie die Bewegung auftritt, und je nad) ber perſönlichen Erfahrung richtet ſich das Verhalten der Paftore zu ben „Leſern“; es ift daher nicht überall gleid, nirgends aber wird biejes Verhalten von dem Wunſche bejtimmt, „Gedanken zu verbreiten, die ber Pajtor nicht wagt offen auszufprechen,“

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2. Dt. Ueber eine Rede des Adelsmarſchalls von Drel, M. A. Stachowiiſch.

die auf dem Miſſionskongrehß von Orel gehalten worden ift, ſchreiben bie „Most. Web.“

Nach Anhörung der Debatten des Miſſionskongreſſes ertlärte der Adelsmarſchall von Trel, indem er den ſchwierigen Arbeiten des Kon grefies große Lobeserhebungen zu Teil werden ließ daß in ihm, Stacho- wire), trogdem noch ein gewiſſer „Zweifel“ übrig geblichen jei.

„Diefer mein Zweifel iſt folgender: Zit nicht bei biefem Vielen dasjenige vergeffen worden, das mir, bem uneingeweihten Laien, al jenes Eine erfcheint, welches allein mot thut. Habt Ihr, Ih kundigen Baur meifter, nicht zufällig oder umillfürlid, den Edftein vergefien? Ganz von jelbjt eritand vor mir daS in dem ungeheuren Programm ausgelafiene, fein Mal während der jeurigen, vieffeitigen und aufrichtigen Debatten ausgefprochene uralte Wort: die Gewiffensfreigeit."

Nachdem ſich dann Siachowitſch des Längeren über die Gewiſſens ireiheit ausgelaffen, ertlärt er:

Man wird mich fragen: „Was wollen Sie benn? Wollen dab man nicht nur ungeitraft von der Orthodorie abfallen könne, jondern auch das Recht erhalte, ungeitraft feinen Glauben zu befennen, d. b. Andere zu verführen? Zit da s unter der Gewiſſensfreiheit zu derſteher Mit befonberer Zuverjicht antwortete ich unter Euch, den Wiffionaren: Nur das heiht Gewiffensfreifeit. . ."

„Das bürgerliche Gefey", ertlärte er weiter, „zerfept nur bie geiflige Ganzheit der Kirche, ftatt fie zu ſchüten. Wenn die Airche an ihre innere geiftliche Kraft glaubt, fo bedarf fie nicht des Beiftandes der indiſchen Gewalt. .. Wer hat die Gewiſſensfreiheit in Rußland verboten, und wer ftraft fie? Sieht man ſich in den Geſehen um, fo erweiſt es ſich, daß beide, die bürgerliche Gewalt und die geiftlice, das Strafamt üben. .. Nachdem die bürgerliche Gewalt das Gebiet des Geiſtes unter ihre Vormundſchaft genommen und ftrenge Strafen in Glaubensangelegen: heiten feftgefegt, hat fie die ſittliche WVerantwortlichfeit der geiſtlichen Gewalt auferlegt... Niemand in Rußland Hat in höherem Mabe als der Niffionstongeeh die Pflicht, die Notwendigkeit der Geriffensfreiheit zu verfünden, die Notwendigkeit der Abſchaffung jeder Ariminalftrafe für den Abfall von der Oethodorie und für die Annahme und das Vetenniniß eines anderen Glaubens. Und ic ſchlage vor, daß ſich der Miſſions tongreb von Drel fo auch ausſpreche und in geeigneter Weife dieſes Geſuch vorbringe! . . ." Der Antrag Stadjowitfd wird vom Wiffionstongreh abgelehnt.

Bei einem Allerhöchſten Neffript aus Spala wird der Generalleutnant Victor d. Wahl zum Gouverneur von Wilna ernannt. Nach der Ernen. mung des hervorragenden Abminiftrators auf diefen Pojten fein Die MWiedereinfehung eines Generafgouverneurs für Wilno, Komme und Grodno nicht mehr beabfichtigt.

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3. Of. Dim. Waiſengerichtsſekretär Dr. phil. Anton Buchholtz

Fin Niga, 53 I. alt. Seine wertvollen Sammlungen, unter denen die von baltifhen Münzen und von Portraits hervorragen, hat ber jarfjihtige und unermüdliche Forſcher auf allen Gebieten der baltischen Gefhichte der Gefellichaft für Gedichte und Altertumskunde der Dftjeeprovinzen teftirt.

. DE. Das gegen Paſtor Plamſch-Marienburg vom Rigaſchen Bezirksgericht gefüllte Urteil auf Nemotion vom Amt wird vom St. Petersburger Appellhof bejtätigt.

. Oft. Unter Roffora im Jurjewſchen (Dörptihen) Kreije wird eine zweiflaffige Miniſteriumsſchule in Gegenwart zweier Bauerkommiſſare, des Volksfchulinfpeftors u. A. eingeweiht.

. DM. Riga. Stabtverorbneten-Verjammlung. Ein Senatsulas vom 21. Augujt wird mitgeteilt, nad) dem die Stadt ebenjo wie die fiol. Ritterſchaft nicht mehr verpflichtet find, zur Beheizung der Gouverneurswohnung beizutragen. Dieje Entfeidung ift auf eine Beſchwerde der Stadt und der Nitterſchaft erfolgt, die nad) ber neuen Präftandenordnung zu diefer Zeiftung nicht mehr verpflichtet zu fein glaubten. Das Kriegsminifterium ift bereit, der Stadt die Esplanade im Austauſch gegen zwei entlegenere Ererzirpläge zu über: laffen, wenn auf ihr außer einem Dufeumsgebäude nur noch die Kommerzſchule bes Vörſenkomités errichtet und in ber Mitte des fonft zu bepflanzenben Terrains ein Platz für Kirchenparaden hergeftellt werde. Mit der durch bas Entgegentommen des Kriegsminifters ermöglichten Ummwand- lung biefer mitten in der Stadt gelegenen Sandwüſte in Gartenanlagen wird ein langgehegter Wunſch der Stadt: verwaltung erfüllt. Der Zubiläumsausftellung überweilt die Stadt ihre Garantiefumme von 15,000 Nbl. in vollem Betrage als Subfidie, um die übrigen Garanten bei der Dedung des Defizits von ca. 70,000 Rbl. zu entlajten. Ein von einer Kommiffion ausgearbeitetes Programm für das Etadtgymnafium wird angenommen und foll dem Minifter der Volksaufklärung vorgelegt werden. Tas Gymnaſium bleibt danach Humaniftiih, die Verfegungs- eramina follen bis auf etwaige Nacheramina abgeihajit werben, bei den Maturitätsprüfungen fünnen auf Grund

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guter Urteile für die bisherigen Leiftungen Dispenjationen eintreten. In den unteren Klaſſen foll der Unterriht in der Naturgeichichte wieder eingeführt werden. Das erjte halbe Schuljahr jol von Mitte Auguſt bis Mitte Dezember reichen, das zweite vom 7. Januar bis Mitte Juni. Statt des jegt unter dem Vorfig des Direftors aus zwei Stadt- verordneten und zwei Lehrern beftehenden Schulfollegiums wünſcht bie Verfammfung ein Kollegium analog dem ber Stadt-Realſchule, unter dem Vorſitz des Stadthaupts und zufammengejegt aus einem Stadtrat, zwei Stabtverorbneten, dem Direftor und zwei Lehrern; dieſes Schulfollegium ſoll den Direktor, Inſpeltor und alle Lehrer des Gymnaſiums wählen und dem Nurator zur Veftätigung vorftellen.

8. Oft. Die deutſchen Kirchenſchulen in den Reſidenzen wollen

ihr Programm, ben „Nowoſti“ zufolge, nad) bem der reor⸗ ganifirten Mittelſchule umgeftalten, obwohl ihnen bie Bei: behaltung bes humaniftiichen Lehrplans freigeftellt worden ift. Die Neigung ber baltiiden Kommunen zum klaſſiſchen Symnafium veranlaft die „Most. Wed.“ zu folgenden merk: würdigen Auslaſſungen: „Es iſt doch zu beadhten, daß man im Nigafchen Lehrbegirt bie klaſfiſchen Gymnafien beiyu- behalten wünfdht. Dort, wo hohe Kultur und alte Traditionen bejtehen, verjteht man, daß ohne klaſſiſche Sprachen feine wahre Bildung denkbar if. Wenn im Rigaſchen Lehrbegirt die klaſſiſchen Schulen beibehalten werben, jo werden fid nad) furger Zeit die humaniſtiſchen Wiſſenſchaften in ben Händen verrufiter Deutſchen, Ejten und Letten befinden : aus ihnen werben fi) bie Lehrer ber Mittelſchulen und bie Profeforen ber Hochſchulen refrutiren. Die Beibehaltung der Haffiihen Gnmnafien in den Dftfeeprovingen wäre für ganz Rußland überaus gefährlich: wir werden wieder abhängig werben von ben Deutihen. Wenn nun fhon einmal Unbildung verbreitet werben joll, fo darf ber Rigaſche Lehrbezirf feine Ausnahme maden...”

Werander v. Stryk a. d. H. Morfel + in Fellin, 70 I. alt. Seit den erjten Lebensjahren erblindet, Hat fid A. von Stryt eine theologiſche Ausbildung verſchafft, die ihm

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ermöglichte, 40 Jahre laug eine ſegensreiche Thätigkeit als Religionslehrer an den Schulen Fellins zu üben.

Der „Poftimecs“ ſchließt feinen Nerolog über ihn: Co fteht dieſer blinde Mann vor unferen Augen als eine der ftärfiten Eigennaturen, mit denen wir in Berüfrung gekommen find: ſchlicht, wahrhaft, sein und groß.

10. Oft. Cand. oec. pol. Guftav v. Stryf kann auf eine 2öjährige Tätigkeit als Sekretär der Kaif. Livl. Gemeinnügigen und Oekonomiſchen Sozietät, deren Ehrenmitglied er iſt, und als Nedakteur der „Valt. Wochenſchrift“ zurüdbliden. Seiner Verdienfte gedenft der Ehrenpräfident der Sozietät, Landrat E. v. Dettingen-Jenjel in der „Balt. Wochenſchr.“

Auch ſonſt wird der Perfönlichfeit und Arbeit G. u. Siryls bei dieſem Anlaß in der Prefie dankbar gedacht, der „Poftimecs" aber benußt die Gelegeneit, der Sogietät den Vorwurf anzuhängen, dafı fie nicht den wirtichaftlichen Fortichritt des Landes zum Ziele habe, fondern Haupts ſachlich die Feſtigung der öfonomildhen Lage der deutjchen Großgrunds befiper im Auge habe. Guftan v. Siryt Garakterifirt dagegen in einer guſchrift an das Blatt die Stellung der Sopietät: „Die Lioländiſche Gemeinnägige und Detonomiſche Sozierät iſt eine patriotifche Gefelichaft, welde die Delonomie und andere Zweige der Gemeinnügigfeit zum Gegenftand ihrer Bemühungen macht. iſt fein Verein von Große grundbefigern, ſondern eine teftamentarüide Stiftung, die von Perfonen

ü mdbefigenden Adels verwaltet wird. Nach dem Willen ihres Stifters bezicht ſich ihre Wirtſamleit auf Livland. Dieſe Grundfäge

Hat die Livlandiſche Oeionomiſche Sozietät ſeit mehr als 100 Jahren

hochgchalien und die Hohe Anerkennung gefunden, welde ihr gebührt.

I4 erinnere nur an den Eprentitel einer Keijerlichen Geſeliſchaft, den ihr

Kaifer Alerander II. verlieh. Dank ihren feiten Wurzeln, die fie in

Livlands Boden geſchlagen. Kat ſich die Oekonomiſche Sozietät bedeutend

entwidelt, aber von ihrem urſprünglichen Charakter dabei nichts cingebüht.

Die Delonomie, oder, wie man ſich eure auszudrüden pflegt, die Lande

wirtſchaft zu fördern, iſt ein fo weites Gebiet, daß es ihr auc) in Zukunft

ſchweriich jemals an Aufgaben fehlen dürfte. Nachdem fie durch Bere meſſungen des Landes und Ordnung der utstarten an ihrem Zeil zu der Ermoͤglichung klarer Rechtöverhältnifie am Grund und Voden beis getragen, hat fie durch Begründung der Naturforichenden Geſellſchaft und gahfreicher tandiwirtjchaftlicher Vereine die Erforihung der natürlichen

Vedingungen des Bodenanbaues fortgefegt und die Vorausfegungen regen

Berufslcbens gefördert. t dabei im den Areijen des Großlandwirts

nicht ſtehen geblieben, fondern ihrem Fürworie verdanfen alle unſere

älteren landwirtfejaftlichen Vereine ihre Eriſtenz. auch der ehemalige

„Zarın Eesti Pölhumeejti Sels“ und mand) anderer blüyende Verein

von Aleingeundbefigern. Wenn heute eingelne Vereine ihre eigenen

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Wege gehen, fo bat eine Gejelficaft, wie die Dekonomiſche Sorieit, Zeit abzuwarten, bis tiefere Einficht diejenigen zufammenführt, die dur ihre Intereſſen auf einander angewieſen find.“

. DE. Jurjew (Dorpat), Die Steuergemeinde hat ein Grund: ftüd an der Jamaſchen Straße für 16,500 bl, erworben, auf dem ein Aſyl für bedürftige Glieder der Steuergemeinde errichtet werden fol. In mehreren Abteilungen ſollen dort 90 Perfonen unter verſchiedenen Bedingungen Aufnahm finden.

. DE. Zum Chef der furländifchen Afzifeverwaltung ift an Stelie des wirft. Staatsrats Marimow der ältere Nevident der Hauptverwaltung der indirekten Steuern und bes Krond— branntweinverfaufs, Georg Rykowski, ernannt worden. „Jurjew (Dorpat). Generalverfammlung bes Livländiſchen Vereins zur Förderung der Landwirtſchaft und des Gewerbe: fleihes. Die Nordlivländiſche Augujt:Ausitellung hat bei einer Ausgabe von 4200 Rbl. eine Einnahme von 7000 R. erzielt. Der Ueberſchuß it nur 1897 und 1898, wo bie Gewerbeausftellung das Kaffenrejultat jehr günftig beeinflußte, übertroffen worden. Profeſſionelle Pferbehändler ſollen fortan von der Auguſt-Pferdeſchau ausgeichloffen werben. Das Kommiſſionsbureau übernimmt es, ben einzelnen Gütern einen erfahrenen Monteur mit mäßigen Honoraranſprüchen zur Kontrolle der lanbijchen Schmiede bei der Neparatur landwirtſchaftlicher Maſchineu zu empfehlen.

Jurjew (Dorpat). Konſtituirung der MWaldverwertungs: genoſſenſchaft „Livonia” auf einer von Herrn von Zivers: Euſeküll geleiteten Verſammlung von Interefienten der Waldverwertung. Man beichließt einen ftrafferen Zufammen: Schluß zur Wahrnehmung der Intereſſen. Der Vorſtand joll zum Eigenhandel mit Jedermann berechtigt fein, für Mit- glieder aber auch kommiſſionsweiſe Verkäufe übernehmen. Mitglied fann jeder livländiſche Nittergutsbefiger werben, der mit Stimmenmehrheit aufgenommen wird. Die Mit glieder haften mit ihrem Nredit bis zu 5000 Rbl. Direkte Beziehungen zu größeren auswärtigen Firmen follen geſucht werden und dur ummittelbarere Verbindung mit dem Weltmarkt und durch Leitung der Wrade vorteilhafte Ver:

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wertung des Holzes im Erport, aber auch bei inländiiden Lieferungen erzielt werben. Ein interimiftifcer Vorſtand aus einem geichäftsführenden Direktor und einem Auffihtorat von drei Gliedern wird gebildet. Worläufig wird auf ein Jahr dis zur Veitätigung ber Genoſſenſchaft der befignirte Direktor Chr. von Stryk:Luhde-Sroßhof die Geihäjte für eigene Gefahr führen.

13.—15. Dt. Prozeß gegen den Oeſelſchen Kreishef Koſſatzky vor einer Delegation ber Petersburger Gerichtspafate. Das Urteil lautete nad) dreitägiger Verhandlung auf Ent ziehung aller befonderen perjönlichen und der Standesrechte und der Einreihung in die Mrrejtantenfompagnie auf ein Jahr und ſechs Monate. Die Zivilforberung von 10 Yauer- gemeinden wurbe in Höhe von 2244 Rbl. 15 Kop. anerkannt. Das Urteil unterliegt der Allerhöchiten Beſtätigung, der Verurteilte machte aber von dem Rechtsmittel der Appellation Gebrauch. Bis zum Autritt der Strafe foll K. auf freien Fuß gefegt werden, falls eine Kaution von 3800 Abl. erlegt wird.

Der Angeklagte Joſeph Koffahfy (er nannte fich während feiner Dienftzeit in den Oftfeeprovingen Kaffapky) wurde 1850 in Grodno als Sohn des Kanzleifchreibers am dortigen Kreisgeridt, Menienti S., geboren. Der Bater jtarb und hinierlien jeine Wittne, eine frügere Leibeigene, mit zwei Söhnen in völliger Armut; fie diente daher im Armenhauſe und in Privathäufern als Nöchin. Klementi R. war als Kleinbürger geitorben, wurde aber drei Jahre mach feinem Tode dem Adelsſiande sugegählt, und 1874 wurde auch dem Sohne Jofeph der Adel beftätigt. Jofeph N. wurde anfangs von der Mutter erzogen, dann bei einem Gpmnafinfbireftor Bolmanowitich untergebracht, der ipn in das Gymnaſium aufnahm; ſchon 1802 wurde A. aus der erjten Klaſſe ausgefchfoffen, weit er feinem Wopfthäter eine Uhr geſtohlen hatte. Cigenmächtig trug er die Uniform weiter, bis die Polizei dagegen einfchritt. Dann trat er bei einem Landmeſſer Janowitſch als Kuticher in Dienft, der dem fähigen Anaben 1865 die Auſuahme in das Grenpmefiertorps als Lehrling ermöglichte. Damals beitand er das einzige Examen jeines Lebens, in dem cr als des Leſens, Schreibens und ber vier Speyies kundig befunden wurde. 1867 wurde er als untauglich aus dem Örenzmeifer: torps ausgefchloffen und beſchäftigte ſich mit dem Prelten von Bauern, bei denen er fid als Grenzmeffer ausgab. 1870 trat A. wider als Gren zmeſſerlehriing in Grodno in den Dienjt und wurde im folgenden Jahre zum jtelfe. älteren Grenzmeſſer ernannt; 1874 wurde er auf

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Grund eines gefäffcten Zeugnifie über bie Ablolsirung der Sfotolichen Rreisjepule zum Kolfegienregiftrator befördert. Nach zwei Jahren quitiirte ex den Dienft, nachdem er feinem am „Sapoi“ Teidenden Onfel Iwan a. act Häufer in dem Fleden Drusfenii abgefcvindelt hatte, die ihm eine Hente von 3000 Abt. jährlich abwarfen. ei feinem liederlichen Wandel befand er ſich tropdem itei8 in Geldverlegenheiten, verübte infolgebefjen diverie Vetrügereien, Die ihm leider nicht bewiejen werden fonnten, und machte Scpulden, die ſich auf 21,000 Ab. beliefen. Seit 1872 Ichte er mit einer Pugmacerin Orlowstaja zufammen, von der cr brei Sinber hatte, die er als ehelich geborene taufen ließ. 1881 wurde er mit der Toriter eines Lehrers aus Rolozt, Eleonore Sein, getraut und bemarb fich bald darauf um einen Friedensrigterpoften im Moskauer Gouer: nement, geftüßt auf feinen Adel, feinen Hausbefig in Drustenifi und cin gejälicytes Aneitat über feinen Bilbungagang u. |. w., in dem er ſich u. %. als Zivifingenicur bejeichnete. Er wurde mit 19 von 37 Stimmen zum friebensrichter im Vogorobsfer areiſe gewäßlt und fungirte über ein Jahr als folder, dis das Plenum feine frühere Dienjtlifte einforberte. Da dog er es vor, feinen Abfchied zu nefmen. Auf Empfehlung einer Dame wurde er 1851 Geidäfisleiter an der SchubintarPinster Kronsı dahn. wo er fi als Jngenieur geririe, aber nad) einem Jahr als ver- dächtige Perfönlichfeit one Gejuch entlaffen wurde. Am I. Mai 1886 wurde der Abenteurer auf Grund eines gefälfgten Dokuments, nad) dem ex ein Mafjildes Gymnafium und darauf „taratorifcje Orenzmeifertlaffen" folche giebt es garnicht! abfoloirt und im Domänenreffort ver: icjiedene Nemter bekleidet Haben alte, als aufereiatmähiger Beamter bei der Furländiichen Atziſe angeitelt, und auaneirte zum Sefretärsgehilfen und Sekretär. Am 5. Dezember 1889 wurde N. bei der Reform. der Vauerbehörde zum Bauerfommifjär im Pernauicen Areife ernannt, aber nad) Deiel Tommandirt.

Seine Hauptaufgabe war zumächit die ihm vom Gouverneur Sinomje aufgetragene Verſchmelzung der 113 Gemeinden auf Deich, Hund und Moon zu größeren Berwaltungseinfeiten. Richt Soffaty, fondern der frühere Sekretär des Arensburgicen Nicchfpielsgericts, Hofrat Araufe, an den er ſich dieſerhalb wandte, entwarf ein Profett, nad) dem Deſel und Moon in 18 Gemeinden geteilt wurden und Rund eine einzige bildete. Das Projeft wurde von der Gouvernementsregierung bei und nun begann der Ya und die Einrichtung der 18 Gemeindehäufer nach den Forderungen des Kommiffars, die nirgends auf die thatſächliche Leiftungsfäigleit der armen Bauerſchaft Nüdjicht nahmen. Die Aus itattung der Häufer mußte eine Reihe überfläffiger Dinge enthaften und ein Zimmer mit allen Vequemlichfeiten für bucdpreifende Beamte cin: gerichtet werden. Die Bauern murrien, fanden aber fein Gehör, und als fie 3897 einen förmlichen Aufruhr gegen g., der Damals ſchon Areischei geworden war, in Szene fepten, wurden fie jtreng beftraft. Die Einrich tung der Gemeindehäufer benupte St. zu einer ſyſtematiſchen Ausraubung

Valtiſche Chronit 1008. as

der Gemeinden, indem er fie zwang, alle nad) feinen Angaben erſorder. lichen Gegenftände von ihm gu beziehen. Auf biefe Weiſe hat er für bie 18 Gemeinden auf Deſel und Moon beforgt: 12 feuerfeite Schränfe, 18 feuerfejte Raffetten, 17 Gruppen verjdjiedener Gegenftände für das Beamntenzimmer, Spiegel, Portraits des Naiers und des Gouverneurs, BWandufren, Tuch für die Tiſche, Stempel, Bruftabgeidhen, Lampen, Lämpiben für Heiligenbifder, Gerichtsſpiegel. Bücher, Staatswappen ıc., wofür die Gemeinden in Allem 10,879 RbL. 70 Nop. an R. gezahlt Haben. Bei allen diefen Raufoperationen hat K. nur das Ziel im Huge gehabt, möglicit viel in feine Taſche zu befommen. Er fiel, daher die Gemeinder verwaltungen die von ihm gefauften Öegenitände teurer beyahlen, als ſi ihm gefoftet hatten, und hat, fomeit es ſich feititellen lieh, auf dieſe Weife 3421 NH. 72 Rop. „verdient"; auferdem hat er Dinge für feinen Privat: gebrauch im Betrage von 328 Nbl. 25 gop. von ben Gemeindevermal« tungen bezahlen laffen. Die Notwenbigfeit der von K. geforberien Aniaffungen wurde von ben Bauern vieljadh angezweifelt und die Höhe der dom ihm geitellten Preife beargwöhnt, aber durch feine Brutalität und nach oben geſicherte Stellung gelang es ihm, feinen Willen immer durczufegen. K. wurde überall als ein fehr ſtrenger Vorgefegter, als eine Art „Öotteßgeifiel gefürchtet. Weberalf forberte er unbebingten Gehorfam und fänveigende Unterwerfung und überhäufte jeden, der einen Einwand wagte, mit den gemeinften Scyimpfworten. Durch Thatlichteiten und Durch Arreftftrafen wurden die Gemeindeälteften mürbe gemacht. Um die Gemeindeverfammlung zur Annahme eines ihnen nicht genchmen Antrages zu veranlaffen, bejahl er z. 3. den Nelteiten Verfommlungen in tutzen Bwifchenräumen zu berufen und die Fehlenden jtet8 mit je einem Rubel zu büßen, bis der Antrag angenommen werde.

Mit den Belegen für bie Zahlungen der Gemeinden nahm R. es nicht genau: anfangs nahen er jelbit bie Zahlungen von ihnen entgegen und ftelte ihnen von ihm oder von jeinem Schreiber unterzeichnete Cuite tungen aus, manchmal gab er quitticte Ladenrechnungen, häufig erklärte ex, der gefaufte Gegenftand fei felbit ein genügender Beweis für die Ausgabe. Die Urt, wie K. über die Höhe jeiner Auslagen tauſchende Veweiſe zu ſchaffen fucht, ift manchmal raffinirt, oft ſehr ducchfichti Mehrere Firmen Gaben jeine unjauberen Geidäfte dadurch unterftügt, daß fie Rechnungen über höhere Beträge ausitellten, als fie wirklich empfangen hatten.

AUS 8. Ende 1896 zum Deſelſchen Areischef ernannt worben war, gelang es jeinem Nachfolger als Bauerfommiffer, Vabanow, die Unter« ihlagungen zu entdeden, unb er berichtele darüber in einem geheimen Schreiben dem Gouverneur am 18. Januar 1808, worauf nicht ohne ernfte Sahwierigkeiten daS Verſahren gegen A. eröffnet wurbe. In ber adminiftrativen Unierfugung gab R. an, die Permittelung bei ben Anfäufen in die Hand genommen zu haben, damit die Vauern nicht in die Hände „gewiffenlofer Betrüger” fielen. Am 3. Auguft 1808 2 mit

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der Minifter den Befehl zur formellen Kriminalunterfuchung, die dem Unterfuhungsrichter S. I. Malfiljem vom Rigafchen Bezirkägericht über: tragen murde. Diefem fiel fofort bie Unbildung Roffapt9s auf; nach feiner Ausdrucksweiſe fonnte er unmöglich ein Gymndfium abfoloirt haben, wie in feiner Dienftlifte itand, und die Rachforfchungen Maffiljews über Die Vorgeſchichte gis ergaben dann das oben geidjifberte überrajchende Nefultat. Es mag Hier fonftatirt werben, daß aufer dem linlänbifchen Vigegouverneur Yulggin und zwei oder drei andern Beamten niemand am der Ehrenhaftigfeit A.8 gepweifelt Hatte, der überall für einen ener« aiſchen, die Ruffifigieung des Landes glücklich förbernden Beamten gehalten wurde.

Die Ausſagen der 84 erfcjienenen Zeugen und die Gutachten von 5 Experten beftätigten im Allgemeinen die einzelnen Anklogepuntte; als Ertlarung für das Gelbbedürfniß Aoſſabtys erniebt ſich, da er ſowohl feiner früheren Geliebten Orfowßtoja und ihren Aindern außer faldhen Päffen Gefdunterftütungen zuommen lieh und chenfo jeiner von ihm getrennt lebenden Frau Zahlungen leiſten mubte,

Der Vertreter der Profuratur, Profureursgehilfe om, ertlärt im Maidoger die Antlagepunfte für bewiclen, beiont aber, daß er nicht im Geringiten die Abficht babe, die wirtlichen Verdienſte AS als Bauer. Tommifier herabzuſeben oder in Abrede zu ftellen. Er fhlägt fein Straf ma; vor, bittet aber in Rüdjicjt auf die während der Langen Unter» fuchungshaft angegrüffene Gefunbpeit des Angeklagten, nicht das höchfte Strafnaß zu wählen, aber auch nicht bei dem geringiten fichen zu bleiben. Der erjte Verteidiger, Margolin, jucht durch einen Hymmus auf R- als tüchtigen und gemütvollen Menfchen zu wirten: er Habe zur Förderung der Ruffififirung eineß abgelegenen Winfels des Laterlandes viel beir getragen; er fei aber aud) ein quter Menfch, denn er habe feine alte Geliebte nicht verlaffen; er müffe durch Die unſichere Eriſtenz ſteis in qualboller Unruße gewefen fein u. ſ. m. Der zweite Verteidiger, Beder, will bie Geſchafte Koffapfys mit den Gemeinden als ganz private Taufe männifche Vermitielung angejchen wiffen; der non A. beanfpruchte Gewinn von 34 pGt. fei vom Standpunkt des Kaufmanns garnicht hoch.

Unverftändfich iſt bie Teilnahme, die Koffapfy in gewiſſen Rreifen findet; ber „Riff. Weitn.” fehreibt, daß die Freunde feiner guten Tage fich am Gerichtögebäube verfammelt hatten, um ihm ihre Teilnahme durd) einen Händerud zu bemeilen. Celbft in Pelersburger Blätter find Korrefpondenzen gelangt, die mit ihm fompathifiren. Dieſe Sympatbie für 2. war wohl auch die Urſache, warum bie erfte Mitteihung Babancıns über Koffaykg „unters grüne Tuch“ geſchoben wurde. Die Obrigfeit fumpatgifirte natüclich nicht mit den jchledhten Handlungen, den Gemalts taten und der Dicherei Noffaglgs, war aber der Unficht, dah er über jebem Verdacht ſtehe und feentte daher feinerlei „Daten“ Verirauen. Babanom aber, der ſich als Rufe, der der eftnifchen und beutfchen Sprache mächtig üft, vortrefflich zum Dienft in Livland cignete, hielt «$

Baluſche Chronik 1901. 3

für unmöglich dort weiter zu bienen, wo er als Denunziant ſchief anger jehen werben würde, und hat ſich in eines der Rordweſtgoudernemenis verfegen laſſen.

14. Oft, Nrensburg. Faft alle Zöglinge der Stadtſchule beteiligen Äh freiwillig an dem fafultativ an der Schule geflatteten Unterricht in der deutſchen Sprache, für ben eine Jahres sahlung von 3 Rbl. erhoben wird. Der „Saarlane* zollt der Schulleitung warmen Dank für die Erwirkung bes deuiſchen Spradjunterrichts, da das Leben die Kenntniß biefer Sprache bei uns von einem jeben verlange.

Im Jahresbericht der St. Petersburger „Herberge zur Heimat“ mirb fonftatirt, daß allen jungen Leuten. die des Deutſchen mächtig waren, ausnahmslos Stellen vermittelt werden fonnten, während bie nur tertiih oder eſtniſch ſprechenden Inſaſſen ſehr häufig nicht placirt werden tonnten. Für dieje Kategorie Siellenſuchender machen ſich, betont Paftor Balter, die veränderten Schulverhäliniſſe in den Ditfeeprovingen Tehr ſchmerzlich fühlber.

15. Oft. Univerfität Jurjew. Nah dem „Perfonal“ beträgt die Zahl der Studirenden 1731; im vorigen Jahr waren es 1709. Die Yauptmafje befteht aus Geminarabiturienten, deren Zahl im vorigen Semeſter auf 900 geichägt werben fonnte; ein großer Teil der 1897 und 1898 aufgenommenen Seminariften Hat inzwiſchen wohl fein Stubium beendet ober iſt ſonſt ausgeſchieden, dafür find aber jet gegen 200 neu aufgenommen, jo daß ihre Zahl wohl über 900 betragen wird. Aus den Oftfeeprovingen jtammen nur 395 (gegen 402 im vorigen Jahr); Anfang 1891 waren es noch 1086. Aus Lioland flammen 259 (gegen 266), aus Eftland 60 (gegen 57) und aus Kurland 76 (79); aus dem Reichsinnern 1389, aus dem Ausland 7. Evangeliſcher Konfeſſion waren 423 (gegen 420 im Vorjahr), orthoboger 1131 (gegen 1027), vömifch:tatholif—her 91 (gegen 100). Dazu fommen 10 Stu: denten armeniſch-gregorianiſcher Konfeifion, ein Karaime und 135 Juden (gegen 151). Nach ben Fakultäten verteilen ſich die Studenten folgendermaßen: theologiſche Falultät 140 (gegen 148), juriſtiſche 484 (464), mediginiſche 807 (792), bijtoriich-phifologiihe 127 (100), phyfito:mathematiihe 233 (210). Die Zahl der Pharmazeuten beträgt 85 (gegen 77 im Vorjahr). Aus den Dftjeeprovingen ftammen nur 34

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Valtiſche Ehromit 1901.

(43), und zwar aus Lioland 16 (23), aus Eſtland 7 (6) und aus Kurland 11 (14). Evangeliſch find von den Pharmazeuten 37 (43), römiſch-katholiſch 30 (15), orthobor 10 (9), Juben 7 (9).

15. Oft. Die „Nig Epord.ötg.“ veröffentlicht cin Sqheeiben des Dberpror

furcurß des big. Symods, des Inhalts, dal es bemerft worden j in einigen Kirchipielen die Geiftlichen ſich das Recht aneignen, wilfürlich über die Schulgebäude zu disponiren, indem fie dort nicht hingehörende Werfonen oder ifre Verwandien in Bejdränfung der dehterwohnungen und Schulräume einguartiren, und mandmal auſch der Schule gehörende Landitüde und Pflenyungen in ihre Nugung nehmen. Während der Feriengeit werde das Schrperfonal häufig aus feinen Wohnungen aus: geilebelt, bie fremden Perfonen übergeben würden. Daraus entipringen, abgefehen von der ungelepliden und unbiligen Benadteiligung der Lehrer und Schrerinnen, Häufig nicht geringe Unorduungen, hervorgerufen durch die in die Schulgebäude verftatiete fremde Einquartierung, bie ſowohi matericlfe wie fittiche Auftöfung in fie Gineinträgt; infonderheit entftehen daraus Unordnungen, wenn in dem Schulgebäude mehrere Lehrerinnen untergebracht werden und daß Quartier von einer oder zweien mit nicht Hingehörigen Bewonern angefüllt werden u. j. m. Durch verichärfte Auffcht fol die Landgeiftlicfeit an jolden Eingriffen der Schule gegen. über gehinbert werben.

15. Oft. Sellin. Während der Nefrutirung werben die privaten

Nneipen geidhlofjen, die Kronsbranntweinbuden aber nicht, wodurd die Abficht der erften Maßregel illuſoriſch wird. Die Folgen zeigten fi denn aud) in dem Gebahren ber jungen Mannſchaft auf ber Straße. In Jurjew (Dorpat) beobachtete man daſſelbe Verfahren und diejelben Folgen.

17. Oft. Der Fleden Smilten erhält vollſtändig eleftriiche Be—

leuchtung aus einer Anlage des Befigers von Schloß Smilten, Fürſten Lieven.

„In Et. Petersburg werden von ber Plenarfigung des FZivil-Raffationsdepartements des Senats die Schullandprogeile des Grafen Ernft Manteuffel gegen die Kuddingſche und bie Saarenhofihe Bauergemeinde verhandelt. Graf DManteuffel hatte vor einer Neihe von Jahren den Gemeindeſchullehrern geitattet, umentgeltlich gewiſſe Gefinde auf feinen Gütern als eine Art Gage zu benugen. Daraus wollten die Gemeinden 1893 eine Schenkung fonftruiren und weigerten ſich die Schullandgefinde dem Grafen anf feinen Munid

Baltiſche Chronik 1901. 37

zurüczugeben. Der Petersburger Appellhof Hatte der Kud⸗ dingfchen Gemeinde ein Nugungsredht an den Schulland: gefinden zugeſprochen; ber Gaarenhoff—en Gemeinde Hatte der Appellhof das Urteil bes Bezirksgerichts beftätigt, das ihr das Nugungsredt bis zu dem Zeitpunkt zuſpricht, wo fie ihre Lehrer jelbit erhalten können. Gegen bieje Urteile war von Geiten des Grafen Manteuffel eine Kaſſationsklage eingereicht worden. Der Senat erkannte die Klage für begründet und hob das Urteil des Appellhofs auf.

19. DM. Ein Ulas aus dem hlg. Dirigirenden Synod an den

Biſchof Agathangel geftattet auf das Gefud) des genannten Biſchofs, jährlich am Vorabend des erjten Sonntags im Mai das in der Heiligen-Geift-Niche zu Jakobſtadt befindliche Duttergottesbild auf zwei Wochen nad Mitau und in die PreobrafhensfisEinfiebelei zu bringen und es auf dem Rück- wege drei Wochen in Niga im Alexejewkloſter zu laffen.

Zum Direktor des Arensburgiden Gymnaſiums wird der Imfpeftor des Polangenſchen Progymnafiuns Yufomigfi ernannt an Stelle des an bie Wologdaſche Realſchule ver: fegten Direftors Byſtrow.

20. Oft. Bei dem livländifchen Kameralhof wird eine ftändige

Konferenz für bie ragen, bie durch bie Einführung des neuen Gtempelftenergejeges entftanden find und immer wieder neu entftehen, eingejegt. Cs ift feit langer Zeit fein Geſetz gegeben worben, das für die Adminiſtration und bas Publikum fo viel Unbequemlicjfeiten gebracht hat, und da bie aus ihm gehoffte Mehreinnahme nur 2 Millionen beträgt, fragt die „Rig. Rdſch.“ mit Necht, ob diefe 2 Mill., wenn fie für den Staatshaushalt durdaus nötig waren, nid)t mit viel geringeren Schwierigfeiten aus einer anderen Quelle geihafft werden fonnten.

21. DOM. Riga. Die Gewerke der St. Johannis-Gilde ziehen

unter Führung des Neltermanns in feitlihem Zuge zum Schloß, um den Gouverneur zu bitten, die treuunterthänigen Gefühle der Gewerker anfäßlid des TOOjährigen Beſtehens der Stadt zu ben Stufen des Thrones zu bringen, und gleichzeitig, um ben neuen Gouverneur zu bewillfonmnen.

3 Valtiſche Chronik 1901.

21. DM. Die Chineſiſche Oſibahn wird mit dem ſibiriſchen Schienen⸗ ſtrang verbunden.

22. Oft. Riga. Das Diagdalenenafyl begeht die Feier ſeines 5ojährigen Veftehens. Seit 1866 gehört es zu den Anſialten der litterärifch-praftifchen Vürgerverbindung und hat in biefer legten Periode 406 Pfleglinge aufgenommen, von benen 106 als gebeſſert entlajfen worden find.

m Theodor v. Boettiher, dim. Rath des livl. Hofgerichts, + in Riga, 32 Jahre alt. Ein geiſivoller Jurift von viel- feitigen Jutereſſen, gehörte er zu ben Gründern der „Balt. Monatoſchrift“, die er bis 1865 rebigivte, wo ihn eine Lähmung arbeitsunfähig machte.

» m Der Profureur des Nigaichen Bezirfsgerichts Pojarkow wird als Vizedireftor des Polizeidepartements nad) Peters: burg verjegt. An feine Stelle tritt der Profureur Heſſe aus Mitau.

23. Oft. Neval. Einweihung eines von Eſtländiſchen Verein gegen Trunffuht und Unzucht für rettungsbedürftige Trinter und Refonvalejjenten, die ber Iſolirung nicht bedürfen, gebauten Haufes. Es ift für 12 Perfonen beftimmt.

24. DE. Mitau. Das aus einer Stiftung des Handſchuhmachers Jasmann (F 1824) begründete Waiſenhaus feiert fein 25jähriges Beſtehen; es hat in diefer Zeit 81 Waifenfnaben erzogen unb erzieht zur Zeit 20.

26. Oft. Die Verfügung des Finanzminifters vom 29. Mai d. J. über die Nihtzulafiung von Papieren von kommerziellen und induftriellen Unternehmungen, bei deren Gründung oder an deren Verwaltung deutſche Unterihanen beteiligt find, zur Rotirung an den rufjiichen Börfen wird aufgehoben.

" » Die Holländervieh-Zuchtvereine in Reval, Jurjew (Dorpat), Libau und Poneweih haben eine Kartellvereinigung geſchloſſen zur Förderung ihrer gemeinfamen Zwede im Allgemeinen und insbefondere zur Durchführung der Körung nad) gleichen Grundfägen.

27. Oft. Der Verwaltungsrat ber Geſellſchaft zur Fürforge für Seiftestranfe in Livland teilt mit, daß ihm im Jahre 1901 an Darbringungen, Rolleften, Mitgliedsbeiträgen und Zinfen 21,530 Rbl. 10 Kop. zugegangen find und daß das Ver:

Valtiſche Ehronit 1901. 39

mögen der Gefellichaft gegenwärtig 45,630 Rbl. 50 Rop. betrage.

27. DOM. Reval. Die Zeitungen bringen einen Aufruf zu einer Sammlung für ben einer größeren Reparatur bebürfligen alten Dlaiturm.

28. Ott. Jurjew (Dorpat). V. Wittrod Hält feine Antrittspredigt als Oberpajtor an der Johanniskirche.

„„ Riga. Der Orundjtein zu einer dritten katholiſchen Kirche mird auf Hagensberg gelegt. Sie foll zur Erinnerung an den Gründer der Stadt den Namen „Albertuskirche“ erhalten.

31. Ott. Riga. Es wird befannt gemadt, daß der Minifter des Innern dem livländiihen Gouverneur mitgeteilt hat, der Erlauchte Präjes des Konfeild in Sachen der Handels: Schifffahrt, Seine Kaiſerliche Hoheit der Großfürſt Aerander Michailowitſch Habe in Erfahrung gebracht, daß auf einigen Schiffen der Handelsflotte die Schiffsbücdher in deutſcher und anderen Spradyen geführt werden. Obgleich nun im Geſetz feine Hinweife darüber enthalten find, in welder Sprache diefe Vücher geführt werden müffen, jo Hält Seine Kaiſerliche Hoheit in Rüdficht darauf, daß diefe Bücher fehr wichtige offizielle Dokumente find, die in vielen Fällen im vollen Umfange oder auszugsweife den gerichtlichen oder abminifirn- tiven Behörden vorgeitellt werben, wobei von der richtigen und gleichartigen Auffafung der in ihnen enthaltenen Auf: zeichnungen nicht felten die Entſcheidung ſehr bedeutender Zivilforderungen und anderer Saden abhängt es für notwendig, dah bie Schiffsbücher auf allen Echiffen in der Reichsſprache geführt werden. In Einklang mit den obigen Erwägungen hat der Mlinifter des Innern, in Folge eines Schreibens bes Finanzminifters, angetragen, die Verfügung zu treffen, daß die Schiffsbücher obligaloriſch in ruſſiſcher Sprache geführt werden.

Schon am 8. November will der Rigaſche Hafenfapitän eine Veſichtigung der Schiffobücher Hinfichtlid) der Erfüllung diefes Vefehls vornehmen. Schwierigkeiten bringt dieſe Verordnung namentlich infofern, als an ausländiſchen Safenorten häufig feine Gelegenheit zur Anfertigung von

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gerichtlich genügenden Weberfegungen aus dem Ruſſiſchen zu finden ift; Die Angaben bes Schifebudes find aber als Beweismaterial vor Gericht oft erforderlich.

31. Oft. Riga. Die Hauptingenieurvermaltung des Militärrefforts hat auf Vorftellung der Wilnaſchen Bezirfsingenieurvermaltung die Anlage einer Straße durch den Mitauer Stadtteil nad Ihorensberg verboten, da diefe Anlage „wegen des geringen Abſtandes von den Mällen der Befeitigung und durd) ihre Nichtung die Verteidigung der Befeſtigung „Kobernſchanze“ hindern kann.“ Selbſt der „Riſh. Weſtn.“ glaubt, daß es fih um ein Mißverſtändniß handele. Die Kobernſchanze ftelt als Befejtigung ein faum noch erfennbares Ueberbleibſel alter Zeiten dar, von den Wällen find nur nod Spuren erhalten, und irgend eine ernſiliche militäriſche Bedeutung kann fie ſchon deshalb nicht Haben, weil rings herum Höhere Aufihüttungen bereits vorhanden find, z. B. der Eiſen⸗ bahndamm.

1. November. Zur Aufenenthaltsberechtigung ber Juben in Liv- und Kurland hat der Senat in einem fonfreten Fall ent: ſchieden, daß ein Jude, der ſich vor 1850 in einem Ort der beiden Gouvernements niedergelaffen hat, die Berechtigung zum weiteren Aufenthalt dajelbjt nicht verliert, aud) wenn er in der Folge für längere Zeit in casu 4 Jahre an einen anderen Ort übergefiedelt war. Durch Ufas vom 21. Juli 1893 war nämlid) allen Juden, die vor bem 3. April 1880 fid) in Liv- und Kurland angefiebelt hatten, die Berechtigung zum ferneren Aufenthalt an demfelben Ort gewährt worden, ob die Beſtimmung aber au auf die anzuwenden iſt, die fpäter wieder verzogen waren, war eine dubiöfe Frage, die bisher in praxi meift verneint worben war.

”» m Auf den Streden Stodmannshof-Schwaneburg und Walt: Marienburg der Schmalſpurbahn Stockmannshof-Walk wird Waarenverkehr proviſoriſch nach einem vom Finanzminiſter bejtätigten temporären Tarif eröffnet.

„„ Wie die „Lib. Ztg.“ erfährt, find in ber fepten Zeit vom Miniſterium des Innern 68 Geſuche um Veftätigung von verſchiedenen Kaſſen (Sterber, Heirats: und Konfirmations:

Baltife Chronit 1901. 4

kaſſen) abjchlägig beſchieden worden. Trog ber vielen ſchlechten Erfahrungen, die vor kurzem gemacht wurben, als, namentlich in Libau, ſolche Kaſſen wie Pilze aus dem Boden geſchoſſen waren, haben ſich doch noch immer viele Perfonen einfangen laſſen, berartige Geſuche zu unterftügen.

1. Nov. Jurjew. Eine Klage des Studenten Nikolai T. gegen

feinen Kommilitonen Pawel O. ift diefer Tage vor dem Friedensrichter verhandelt worden. D. hatte den T. durch Bedrohung mit einem Stor beleidigt. Der riebensrichter verurteilte den D. zu einer Pön von 3 Rol. refp. einem Tage Arreſt. Dazu bemerkt die „St. Pet. Big": Bor feineswegs fehr langer Zeit galt in dem damaligen „Dorpat“ bie Bedrohung. eined Kommilitonen mit Zpätlicfeiten ala ein recht ſchwerts Vergehen, daB vom Vutſchen. gericht mit mefrmonatlicer Ruckung (geſeltjchafilichem Bopfott) beftraft und aud) von dem Univerfitätsgericht jehr ernft genommen wurde, fallß * ausnagmsweife die Sache dort anhängig gemadjt war. » Sellin. Die griechifch > orthobore Kirchenſchule wird im 2.Sem. 1901 von 115 Schülern und Schülerinnen befucht, unter benen ſich nad den vom Schulvorftande dem „fell. Anz.” gemachten Angaben ca. 100 evang.duth. Konfeſſion befinden, die den Religionsunterricht jowie Die Kirchengeſangs— ftunden gemeinfam mit den Schülern griechiſch-orthodoxen Belenntnifies erhalten. Als eine ganz außerordentliche Erſcheinung bezeichnete der „Fell. Anz.“ es, daß es unter ben diesjährigen Nefruten des Felliner Kreifes nicht weniger als 13 Analpfabeten gab. Ein lettiſcher Arbeiter-Artell hat die obrigfeitliche "Betätigung erhalten. Er will bie Verladung und ben Transport von Waaren übernehmen und feinen Mitgliedern Stellen in Rronsanitalten und bei privaten Unternehmen als Waarenempfänger, Kaffirer 2c. verfchaffen. Jedes Mit: glied hat 300 Rbl. einzuzahlen, aus denen ein Reſerve- und ein Betriebsfapital gebilbet werben foll.

Die „gatıo. Awijes. äufern ſich ſehr fteptiich zu dieſem Verſuch. das Ariellweſen bei den Letten einpubürgern. Es fei eine Fabel, dah bie Arielle bisher in Aubland mit durchaus guten Erfolgen gearbeitet hätten. Sie jeien ſehr verfchiebenartig gemejen, je nad) den äußeren Umftänben, je nad) der Sorgfalt und dem Eifer, den die an der Spipe Sichenden an den Tag gelegt Hätten. Noch mehr Fönne gefagt werden: Bitten ie

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nur ben zehnten Teil deffen, was fie an Mühe und Opfern gefoftet, an Frucht getragen, fo würden fie in Rußland auf ganz anderer Grunb- Tage ſtehen.

1. Nov. In Libau beginnt ber „Libauer Lloyb“ unter der Nebal- tion des Herausgebers, des Nedtsanwalts Felix Quaas, zu erſcheinen, ein Blatt, das täglich zwei Dial mit ruſſiſchem unb beutjchem Text herausgegeben werben joll.

Der deutſche Teil, der von Edgar Worms rebigirt wird, foll Die Aufgabe Haben, neben ſchueller Berichterftattung über die wefentlichiten Ereignifje des In- und Auslandes das lolale Leben im Großen und Keinen mit aufmerfiamen Sinnen zu verfolgen und geireulich wieder: sufpiegefn, und insbejondere den kommunolen und fommerzielfen Fragen Libaus ein eingehendes Intereſſe zu widmen. Den ruffifhen Leſern wird aber des Näheren erflärt, dah bie Doppelfpradiigfeit bes Blattes nur ein Ucbergangsftadium zu einer ausſchließlich ruſſiſchen Zeitung bedeute und dafs die Redattion troh des deutichen Paralleltertes vor Allem den allgemeinftaatlichen Geſichtspunte im Auge haben werde, allerdings wohne das geiftige und konfeſſionelle Gebiet der Richtruſen anzutajten und ohne diefe rein perſönlichen Fragen auf den poliliſchen Boden Hinübergufpielen.“ „Qudem mir bie Kulturbeftrebungen der ruffifchen Bevöfferung unterftüßen, werben mir deffen eingeben fein, daf Wölter umguerziefen und auf fie in geiffiger Bepiehung cinpuwirten, nur die Bioififation vermag; damit ein Volt eine fremde Sprage erlerne und annefme, müffen in ihr Aulturvorzüge enthalten fein; man fat notwendig auf die Erziehung. auf die Macht der Bildung und auf die Aufklärung: mittel zu rechnen, die andere Wölfer angewandt Haben. Cine geblähte nationale Selbtvergätterung lann nur zu unerwünidten Kefultaten fügren, indem fie bei den Richtruſſen Lerbitterung und Miftrauen gegen die ruſſiſche Sache hervorruft, der wir zu dienen wünſchen.“

"m Riga. Nach Ablauf der Konzeſſion der Bell: Company wird das Telephonmwejen von einem neugebildeten Konſortium, der Rigaer Telephon + Gefellijaft, übernommen, Die das Abonnement auf die Hälfte ermäßigt.

„„ Die über den Paſtor Karl Stoll zu Linden verhängte Strafe der Nemotion vom Amte auf drei Jahre iſt, wie die „Mitt. u. Nachr. für die evang. Kirche in Rußl.“ berichten, von Er. Mojeftät dem Kaiſer Allergnäbigft vermindert worden. Paſtor Stoll hat jein Amt bereits wieder angetreten.

1. Nov. Unter den in den „Eparch. Web.” abgebrudten Adreſſen, dic dem orthodoren Seminar in Niga bei der Feier jeines SOjährigen Veitehens am 1. Oft. überreidit worben find, befindet ſich folgende der Rigeſchen letuiſchen Yimmelfahrtögemeinde:

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Teurts Seminar!

Vor 700 Jahren bildete die leitiſche Beoöllerung des boltiſchen Gebiets eine leibliche Familie mit den ſiadiſchen Wölfern und Teble mit ihnen gemeinjames Leben. Ju 12. Jahrhundert wurden die Selten nach dem Willen des Schidfals von der jlaviiden Familie losgeriſſen und fielen in bie Gefangenfchaft von frembftämmifcen Anfömmlingen, bie fie nun Jahrhunderte lang in Erniedrigung und Sflaverei hielten, fomohl förperficher als geiftlicher.

Scpon vor langer Zeit, vor mehr als einem halben Jahrhundert, hat die Leiten von ber förperlichen Gefangenfchaft der machwolle Befehl der Erhabenen (Führer des Ruſſiſchen Landes befreit.

Genau vor einem falben Jahrhundert begannft du zuerft bie Zeiten von der geiftlicien Gefangenichaft zu befreien Rigaſches Ceift: fidje$ Seminar, ins Leben gerufen in biefem Grenzgebiet wieder durch den mädtigen Befehl eines Erhabenen Führers des Rufflicen Landes. auf die Jnitinive denfwürdiger Ciferer für den heiligen ortfodogen Ghriftenglauben, der in gieicher Weiſe für Jeden an Liebe Ucberfluh hat, a jei „Stlave" oder „frei”.

Ins Leben getreten, ergabit du, Seminar, did) eifrig dem Wert der Aufflärung im Geifte des orthodogen Glaubens. Du ricteteft fogleich Lichtitrahlen auch auf unſere geiftlich gefefielte lettiſche Bevölferung. Du fommeltejt bie armen Minder diefer Sklaven, kleideleſt. nährteit, Iefrteit, erzogit fie und machteft fie zu gebildeten Menfchen, du bereitetejt aber auch vor und entließeit würdige Hirten und Diener des Altars und Lehrer für die leitiſche Bevölferung im Geifte de orthodoren Glaubens! Bon den Früchten deiner Aufklärung fünden zahlreiche Tempel inmitten der Tettifchen Niederlaffungen, in denen die Letijche Bevölterung feierlich ben König der Könige preift nach den Gebräuchen der ortfoboren Kirdie.

Von dieſen deinen Früchten zeugen auch zahlreiche Schulen, in denen das Licht des Unterrichts im Geiite der Orthoborie viel taujend ettifche Kinder empfangen! Du biit bie Hauptftüge bei der Verbreitung des Seibftbewuhtjeins und ber Idee der Vereinigung mit der übrigen flaviichen Familie, zu der fie ſchon einmal gepört hat, inmitten der lettiicen Bevölterung, auf dem Wege der Alles überwindenden Auftlärung ! In Wahrheit, mit Stolz kann man die vergangenen 50 Jahre deines Beſtehens überichauen und in Allen die Erfolge deiner Aufklärung ſehen. bie im Laufe des verfloffenen halben Jahrhunderts erreicht find. Und Die Thranen der Freude, die beim Anblict der Früchte deiner Auftlärung das faltige Antliy der Greife nepen, die noch Augenzeugen der früheren Stinverei der leitiſchen Bevölferung geweſen find, mögen ein bantbares Opfer vor dem Almächtigen Schöpfer für deine Mühe fein! Wir aber, nicht nur im Namen des engen Kreijes ber Benölferung der Stadt Kiga, fondern wir wagen zu jagen, im Namen aller Setten, die bie Früchte deiner Aufklärung gefoftet haben, bringen dir, Seminar, aus ber Tiefe der Seele Dank und befennen, daß du den Grund wi, gab du

Baltifäe Chronit 1901.

den Anftoh gegeben Haft zu dem Aufklärungswerk unter dem Tettifchen Bolt im Geift des orthoboren Glaubens, und bab dein Grfolg audı Nacheiſerung bei dem früheren Stlavenhalter Gervorgerufen hat und ihn genötigt Hat, für bie Bildung bes Volles zu forgen.

Bir bitten did, Seminar: Inh nicht nach, verlaß aud) in Zufunft niemals mit beiner Auftlärung unfere Lettifche Benölferung. Die Mehr Aahl derſelben befindet fich auch noch Heute unter dem Joch fremdgläubiger Bebrücung, aber wir haben bie Kühnheit zu glauben, bak auch bieler Zeil der Bevölferung ſich deinem Licht unterwerfen wird, ba früh ober fpät jeber Leite ergriffen werden wird von der Meberzeugung, nad Dften ftreben zu müffen - immer nad) Often !

Und fo, teures Seminar, nimm unfere Danfbarfeit an für deine halbhundertjahrigen fruchtbringenden Mühen, nimm an unferen warmen Gruß im gegenwärtigen Moment des feierlichen halbhundertjäßrigen Jahreötages, nimm an aud unferen innigften Wunſch für Blühen und Erfolg im beiligen Merk der Aufflärung im Gebiet auf viele, viele Jahre!

3. Nov. Die Walkſche Sparkafje (gegr. 1879) bezieht ein eigenes neuerbautes Haus.

4. Nov. Mitau. An diefem und dem folgenden Tage wird eine Hausfollefte für den Bau einer neuen lettiſchen Kirche in Mitau veranitaltet, die 10,611 Rbl. 86 Kop. ergiebt.

wm Der Volfsfejulinfpeltor bes Fellinſchen Kreiſes hat ben Lehrern feines Bezirks zirkulariter mitgeteilt, daß Kongreſſe unb ebenjo aud Konvente der Volfsihullchrer nur mit Genehmigung des Kurators bes Lehrbejirts nad Einver- nehmen mit bem örtlichen Gouverneur und nad) einer Dies: bezüglichen Vorftellung des betreffenden Volksſchulinſpektors in vorfcriftsmäßiger Ordnung geftattet werben.

Das Verbot der „Rongreffe" und „NRonvente“ der Schullehrer ift mac) der „Norbl. Big.“ durch den uralten Uſus veranlaßt worden, deß Die Lehrer fid) vor Beginn des Schulwinters an einem vom Paftor dazu beftimmien Tage im Paftorat verfammeln, um bie Verzeichniſſe ber in das ſchulpflichtige Alter tretenden Kinder zu empfangen und zu erfahren, welches Penfum fie im tommenden Schulwinter in der Religion zu exlebigen haben.

5. Nov. Die Livländifhe Gonvernementsbehörde für ſtädtiſche Angelegenheiten falfirt den Beſchluß der Felliner Stadt⸗ verorbnetenverfammlung vom 28. Sept., die von ben Rrons: getränfe-Patenten zum Velten der Stadt zu erhebende Steuer für das Jahr 1902 von 15 auf 25 pCt. zu erhöhen.

Baltiſche Chronit 1901. 4

Gemäß dem Abſchnitt V des am 23. Mai 1900 Allerhöchſt beftätigten Reichsratsgutachtens über die Ausdehnung des fiskaliſchen Branntweinverfaufs auf die baltischen Gouvernemenis ift vom Tage der Einführung des Monopols (1. Juli 1900) die im Art. 131 der Gtäbter ordnung feftgefeßte Erhebung der ftäbtifchen Abgaben von den Patenten für Unternefmungen zur Heritellung und zum Lerfauj von Getränfen eingeftellt worden; Fellin hatte diefe Geſebbeſtimmung außer Acht gelaffen und bie Abgabe weiter erhoben.

. Nov. Ihre Majeftäten der Kaiſer und die Raiferin Alexandra

Feodoromna treffen mit Ihren erfauchten Kindern von Sfier- newice in Zarſtoje Sſelo ein.

» Riga. Die Stabtverordnetenverfammlung beſchließt bie Errichtung eines Elektrizitätwerkes und feine Erpleitation in eigener Regie.

. Nov. Die „Rurl. Gouv.-Ztg.“ publizirt in Nr. 89 eine Ent

ſcheidung des Senats vom 25. Oft. 1901, nad) ber ben Juden das Recht zum Getränfeverfauf in Kurland nicht zufteht. Die Juben Haben ein ſolches Recht nur innerhalb des jübifhen Anſiedelungsrayons, zu dem die Gouvernements Wilna, Wolhynien, Grobno, Jekaterinoſſlaw, Kowno, Minsk, Mohilew, Podolien, Poltawa, Tſchernigow und Beffarabien gehören, Kurland nicht.

Riga. Im Bezirksgericht wird das motivirte Urteil ber Gt. Petersburger Gerichtspalate im Prozeß Koffagky (f. 13. Oft.) verlefen. Die Verlefung dauerte eine halbe Stunde. Aus den Motiven ergiebt fi, daß Koſſatzky in allen Punkten ber Anklage für fhuldig befunden wird, dody hat bie Palate, mit Rüdfiht auf die lange Unterfuhungshaft, das niebrigfte zufäffige Strafmaß gewählt.

Libau. Vom Schulkollegium der Stabt:Realjchule ift der Lehrer des Nikolai-Gymnaſiums, A. Groſſet, zum Direktor der Realſchule gewählt worden, nachdem ber zuerjt gewählte Oberlehrer Demme nicht die kuratoriſche Beſtätigung erhalten hatte.

. Nov. Der Schienenweg zwiſchen Walt und Stodmannshof wird

durch die Legung ber legten Schienen zwiſchen Schwaneburg und Marienburg völlig hergeftellt; einzelne Arbeiten find aber noch zu beenden, namentlidy bie von ber Regierung ver» langte Vertiefung der Fundamente der Schwarzbachbrücke.

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4.

Baltiſche Chronit 1901,

Nov. In Reval werben die Probenummern eines neuen eſtniſchen Tageblattes „Teataja“ herausgegeben, das vom 1. Degember regelmäßig unter ber Redaktion des Rechts— anmaltsgefilfen Cand. jur. R. Päts eriheinen foll.

Das Programm deutet die Nedaktion nur im Allgemeinen an: „Wir wollen das Hauptgewicht auf die Erörterung unferer wirtfchaftlichen Fragen legen, da diefelben für die Mehrzahl unſeres Voltes Lebensfragen find; aber wir verleugnen auch nicht unjere Nationalität, indem wir defien eingebent find, dab ein Journalift, der eiwas von dem Volle, für das er ireibt, heilig Gehaltenes verleugnet und mit Füßen tritt, feines Berufes ebenfo ummürdig und ebenfo veraͤchtlich iſt wie der, ber Abet - weißheit färt, den Begierden des Pobels entgegentommt ober ſich vor den Möctigeren in niedriger Schmeichelei ergeht." -— Der „Boitimees“ findet diefes Programm untlar und zu wenig beitimmt jormulirt. Die Förde: rung des wiriſchaftlichen Foriſchrities des Volles jei zu ſehr in den Vordergrund geitellt; denn die wirtisjaftlichen Beitrebungen ſchlöſſen feine Ddeale in fi, fonbern repräfentirten nur die Hilfsmittel zur Erreichung von ealen. „Wer aber feine Ideale und Grundfäge lediglich nad) der Erreichung wirtjchaftlicer Borteite formt, ſchiebt nicht nur das nationale Bewußtjein, jondern auch alle anderen Ideale bei Seite, ſobald dieſe ihm bei Erlangung wirtichaftlicen Vorteil zeitweilig Schwierigfeiten in den Beg legen. . . Wer aber weiß. dab der Menſch nicht vom Vrod allein debt, wird feine Grunbfäge, Vorbilder und Jeale, die der zeitgeicichtliche Fortfcheitt ihm in Herz und Geiit gefenft hat, nicht aus der dand geben, jelbft wenn ſich ihm auf der einen Seite alle Goldberge Südafritas erfchlöffen, auf der andern Seite aber Tod und Not ihn bedroften.“

Im der eſtniſchen und leitiſchen Preſſe finden ſich in den legten Jahren mehr Vertreter für die materiellen als für die ideellen Intereſſen.

. Nov. Riga. Die Neltejtenbant der St. Johannis-Gilde giebt dem lioländifhen Gouverneur ein Souper.

. Nov. Mitau. Die reformirte Kirchengemeinde begeht ihr

200jähriges Beſtehen mit einer kirchlichen Feier und einem Feſtmahl unter herzlicher Teilnahme der lutheriſchen Geift: uͤchkeit. „Die mit einem Koſtenaufwand von 20,000 Rbl. umge: baute Kirche zu Ringen im Junjewſchen (Dörpiſchen) Kreiſe wird in Anmwefenheit von 11 Paſtoren und vielen Volkes vom Propit Schwartz geweiht.

. Nov. Der Propit Schwarg weiht die Kirche zu Neuhauſen wieder ein nad) einem Umbau, ber 14,000 Rbl. gefojtet hat.

. Nov. Fellin. Das Kreismäßigfeitsfuratorium hat beſchloſſen, einem Edelmann Kriwoihein aus St. Petersburg auf fein

Baltifhe Chronik 1901. 47

Geſuch, im örtlichen Theehauſe Vorträge Halten zu bürfen, zu antworten, daß feinem Wunſche nur ftattzugeben fei, wenn er die eſtniſche Spradie in ausgiebigem Make beherrſche, da derartige Vorträge nur in ber Volksiprache in Frage fämen.

Der „Riff. Weitn.“ ſtuht dieſe Sache zu einem „Inpibent“ zurecht „Eine ſolche Antwort des Nuratoriums it in jedem. Falle äußerft wunderbar, da das Kreisfuratorium feinerlei gejeglige Grundlagen beflgt, um Borlefungen, die in der Reichsfpradie gehalten werben follen, gu verhindern.“ Dazu äußert die „Noffija” zutreffend: „Nehmen wir an, daß die Sache weit einfacher liegt. In dem Wunſch, daß aus den Vorlefungen des Herrn A. auch ein Nuyen hervorgeht, will das Kura« torium natürlich, dal die Vorlefungen in der Sprad abgehalten werben, die dem Publitum des Theehauſes verftändlid) ift. Das Rigaſche Blatt, nicht das Fellinſche Mäbigeitsturatorium möchte das Therhaus in einen politiſchen Klub umwandeln.“

17. Nov. Die beim hlg. Synod erſcheinenden „Jerkownija Web.“ bringen einen Artifel über bie Beziehungen ber Anders: gläubigen zur ruffiihen rechtgläubigen Kirche.

Es Heißt darin: „Einige Gebiete des rechiglaͤubigen Rußland, bie vorwiegend von Ambersgläubigen bewohnt find, zeichneten ſich noch unlängft durch Intoleranz gegenüber der recitgläubigen ruſſiſchen Kirche und ihren Heiligtümern aus. Noch leben feifch im Gedächtnift des rufe fchen Volies die Ungebübrlicteiten ber Deutfcen in den Baltifden Gouvernements, welche die eingeborenen Bewohner des Gebietes wegen ihres Ueberteitte gur orthodoren Rirche quälten und verfolgten, die Progeffionen ber Geiftlicheit veripotteten, die Tempel Gottes durch ihr unpafjendes Vetragen befeibigten und überhaupt ihre Undulbfamfeit gegenüber der Urthodorie offen befundeten. Ebenſo friſch find die Geinnerungen an die müreifgjen Finnländer, die nod) vor Kurzem durch ihre Verhähnung der orthodoren religiöfen Geremonien die eingejhüchterten Aechtgläubigen von der Beobachtung dieſer Geremonien abhielten. Und des Vorgehen des kriegeriſchen Katholizismus ftellt noch eben eine lehr-— reiche Seite in der Gefſchiche der rufftichen orthodoren girche dar. -— Zum Otüd Haben gegenwärtig bie offene Intolerang und ber Hafı der innerhalb der Grenzen des rechtgläubigen Rußland Ichenden Andere gläubigen erheblich nadhgelaffen: wenigitens gelangen fie nicht mehe in den ſchroffen Formen zum Ausdrud, wie daS vor furzer Zeit noch ber Fall war.”

Das Blatt hebt hervor, daß neuerdings in einzelnen Gebieten ber orthodoren Kirche ſogar Achtung und Ehrerbietung entgegengeltagen werde, wie namentlich in Wolhpuien. So habe z. V. im Dorfe Gubino ein Zube beim Vorbeitragen eines Yeiligenbildes vor jeinem Haufe Zaggen- igmud angebrach, ein unberer Jude bei ähnlichem Anlalı das Material

4 Battifche Chronit 1901.

zu einer Ehrenpforte größten Teils umſonſt hergegeben. Ferner hätten in dem Dorfe Rolodemus die deutfjen Roloniften, um am einer recht gläubigen Feier teilnehmen zu fönnen, ihre Arbeit ſtehen Iaffen. Vom Proteftantismus fonitatiren die „Zerf. Wed.“, dab man angefangen Hat, vorſichiger zu jein und ſich vor unerlaubten Handlungen zu füten. Dagegen gehe jet daS Beſtreben der baltiſchen Deutſchen und der eutfchen Rofoniften im Süden darauf aus, eine möglichite Jofirung won der orthobosen Kirche durch Erziehung ber Kinder in deutſch pateiotifcheproteftantifchem Geifte herbeipuführen. Insbefondere wird auf 48 deutjche Rantorate im reife Cholm (Sjublin) hingewieſen, in denen die Ainder hauptſächlich Religion, die deutſche Sprache und Gefang lernen; der Unterricht im Ruſſiſchen ſei ſo ſchlecht, dab die Rinder weder die ruſſiſche Umgangsiprache beherrſchen, noch die notwendigiten Kenniniſſe Über den ruffiigen Staat erwerben.

17. Nov. Zum kurländiſchen reſidirenden Kreismarſchall wird Baron Eugen Haaren Alt-Memelhof gewählt.

18. Nov. Auf der Tagung des Mähigkeitövereins „Wabadus“ wird mitgeteilt, ba das Zentralfomit& ber eftniichen Mäßii eitgvereine feine Thätigfeit eingeftellt Habe.

19. Nov. Libau. Stadtverorbnetenwahlen. Aus dem Allgemeinen Wahltomite tritt eine Gruppe von 12 Perfonen aus und wird in der Folge von einer von ihr einberufenen Wähler: verfammlung, als „alter“ ober „deutſcher Wahlfomite“, mit der Aufftellung einer befonderen Kanbidatenlifte beauftragt.

Eine vorläufige Wählerveriammlung von ca. 150 Perſonen hatte im Oftober einen Wahltomitö aus 45 Berfonen verjcjiedener Rationalität, vorherrjcjend Deutichen beſtehend, eingeiept, der ben Namen „Allgemeiner ftädtifcher Wapltomite“ erhielt. Zu ihm gehörten auch die Vertreter des alten“ Romitös, das vor 12, 8 und 4 Jahren die Wahlen geleitet hatte; dieſe Wahlen hatten ftattgefunden unter der Deviſe: feine Berüdfichtigung der Setten, die vor 12 Jahren einen RKompromik nicht gehalten und in Folge deffen einen unlauteren Sieg in der 3. Wählerflafe bei einer ipäter amulfieten Wahl errungen Hatten. Der Allgemeine Wahlkomis beidhfofs die 55 Stadiverordnetenfige, bie bisher bis auf drei von Deutjcien eingenommen worden waren, jo zu verteilen, dafı, entipredend dem von den einzelnen Nationalitäten repräfentirten Vermögen. der deutſchen Dewölterung 39, den Letten 8 und den Ruſſen und Polen je + Rläbe eingeräumt würden. Am 12. Rov. follten dann die Kandidaten durch Abftimmung im Wahltomits nominirt werden. Aus dem Rejultat dieſer Abjtimmung ergab fid) für die Glieder des alten Nomites (Dr. Johannſen und Geuoffen), dab ſich bie vom Präfidenten diechtanwalt W. Dreyersdorfi geleitete Dajorität des Allgemeinen Komitös (ca. 25 Stimmen) vorher ohne Wiffen und Juthun ber anderen Glieder über bie Ranbibaten

Valuilche Chronik 1901. Ei}

geeinigt hätte. Dieſer Vorgang veranlahte ben Präfeh bes alten Romites Dr. Johennſen und 11 andere Romiteglieber am 19. Nov. auß dem Algemeinen Komitö außjufcheiden. Cine von ca. 300 Berjonen befuchte Wühlerverfammlung beiraute darauf einen jog. „deutichen Nomitd“, dem die außgetretenen Ölieder des Allgemeinen meift angehörten, mit der Aufftellung einer neuen Kanbidatenlifte. -— Der alte Romite hatte von den Kandidaten des Allgemeinen mr 9 abgelehnt und bie von beiden gomitss afgeptirten Prinzipien, wie: Berüdfichtigung berechtigter Wünfche fämmtlicher Nationalitäten, Wahl unabhängiger und tüdtiger Männer und Auffriſchung der Stadtverorbnetenverjammlung durch Neumahl der Hälfte der Berordneten, laſſen ebenfalls das Trennungsmoment zwiſchen beiben nicht hervortreten. Mit diefem Moment tritt am 27. Nov. der Präfident des furl. Stadt:Öppothefenvereins Conit, Bienemanm an die Deffentlichteit, indem er die Aufgabe der von dem Allgemeinen Romitö gewünfepten Stadiverireiung mit den Worten begeicnet: Sort mit dem alten Regime um jeden Preis! Unter dem alten Regine in die Leitung der Stadiverwaltung durch das bisherige Stadihaupt H. Adolphi zu veritehen.

Aufer den deuticen Mahltomitss arbeitet ein Tettifcheruffifch: polnifcher, der die Deutſchen vollftändig von ber Stadtverwaltung ausflieien wid. Meuberft begeichnend für das Stimmenmaterial diefer Partei it eine von ihr mit größtem Ernſt und Rachdrud auch bei der Souvernementsregierung betriebene Agitation für bie Anſchaffung neuer Woftoiten, da «8 bei den alten midt möglich war, mit abfoluter „Heimlicfeit” zu ftimmen.

Bon ben ca. 1100 Wahlern Libaus find 475 Deutſche und cıwa ebenfoniel Setten, der Reſt verteilt ſih auf Kuffen, Polen und Littauer. Der Schägungswerth der Immobilien in Liben beträgt ca. 8,500,000 Abl, von denen auf beutiche Dausbeſider 3,900,000 Rbl., auf letlifche 1,100,000 Rbl., auf polnifde und littaufde 300,000 und auf ruſſiſche 200,000 Rbl. entfallen.

20. Nov. Seine Majeftät der Kaiſer geruht zu befehlen, daß das Urteil ber St. Petersburger Gerightspalate vom 15. März 1894, betreffend die Wegnahme des lutheriſch getauften Kindes der Kathrine Selwit von feiner Mutter und Ueber: gabe deſſelben an orthobore Verwandte refp. Vormünder zur Erziehung, nicht in Ausführung zu bringen fei.

Katherine Selwit war dafür, dab fie ihr Kind nach lutheriſchem Ritus Hatte taufen laffen, 1808 zu zweimonatiger Gefängnißhaft ver« urteilt, von dieſer Strafe aber durch daS Gnadenmanifeit von 1894 befreit worden. Der Propit Schlau zu Saliß, der die Taufe des Kindes der angeblich zur orthodoren Kirche gehörigen Selmit beitätigt Hatte, war zur Suspenfion vom Amt auf acht Monate verteilt worden und hat diefe Strafe auch verbüht,

50 altiſche Chronif 1901.

20.Nov. Riga. Unter dem Vorfig des livländiſchen Gouverneurs findet bie erfte Sigung der Gouvernements-Schägungsfom- miffion in Sachen der Grundſteuerreform ftatt, zu deren Gefäftsführer Hofrat V. Vogel, Mitglied und Sefretär bes ſtatiſtiſchen Gouvernementsfomit6s ernannt wurde. Segenftand der Verhandlungen ift der Entwurf für bie Schägungsinftrultion.

22. Nov. Riga. Prof. Dr. Dehio erläutert vor einer größeren Verfammlung in Gewerbeverein die Beſtrebungen der ſoeben bejtätigten „Gelellihaft zur Bekämpfung der Tuberkuloje in ben Ojtfeeprovingen“, deren Stifter am 14. Oft. in Jurjew (Dorpat) zur Begründung bes Vereins zufammengefommen waren. Die nächte Aufgabe fieht die Gefellihaft, nad Erlangung ber nötigen Mittel, in dem Bau eines Sana toriums für Lungentranfe im Lande. Präfident der Gefell: Schaft it Profeſſor Dehio, Vizepräfident Dr. Joh. Meyer, Schagmeifter Dr. P. Baron Ungern-Sternberg, Schriftführer Nedtsanwalt Adalb. Vold.

22. Nov. Aus den Verhandlungen einiger der vor furzem abgefcfofienen diese jägrigen Kreißlandfchaftsverlammlungen hebt die „Aufft. Mpifl“ nach dem Referat der „St. Pet. Big,“ die Frage der fleineren landichaftlichen Einheit oder der allitändifchen Gemeinde al8 die widtigite hervor. Die Rotı wenbigleit der Begründung einer fleineren lanbfchaftfichen Einheit, als es der Areis ift etwa nach Analogie der Livländifden girchſpiele oder durch Erweiterung der Bauergemeinbe zu einer alftändifcen (urgl. auch Balt. Chron. Oft. 1901) üt ſchon lange erfannt worden. Diejes Mal beichäftigten fi die Kreißverfammlungen von Mostau und Zeley mit der Frage, Ipracien fich beide im Prinzip für die fleinere Sandichaftseinheit aus und beauftragten Nommiffionen mit der Ausarbeitung von Entwürfen für eine entfpregjende Organifation.

24. Nov. Der Minifter der Voltsauftlärung. Generaladjutant Wannomiti, ordnet bie fofortige Ausicliehung aller Studenten des 1. Kurjus des Chartomfhen Veterinärinftituts an, joweit fie night nachweiſen fönnen, dab fie in einem Chemie iolleg am 15. Ro. nicht anweſend geweſen find, in dem dem Profeffor folgendes fredje Schreiben übergeben worden war:

Herr Profeffor! Im Anbetracht Ihrer ſyſtemloſen, unzufammen: hängenden Darftellung nach dem Lehrbuch Kolbe, Ausgabe der 80er Jahre, haben wir die Ehre Sie aufpufordern, daS Katheder fofort zu verlaffen und jomit zu ermöglichen, dafı Diefes von einem Profefior eingenommen wird, der auf der Höhe der derzeitigen Wiffenfcaft ftcht.

Balliſche Chronik 1901. 51

25. Nov. Zn St. Petersburg wirb die Probenummer einer leltiſchen Zeitung Herausgegeben, die unter dem Namen „Veterburgas Awiſes“ vom 15. Dez. ab zweimal wöchentlich erſcheinen fol. Herausgeber ift ber Sekretär des Techno: logiſchen Inſtituts, Osfar Nahwing, die Redaktion beitcht aus dem Paftor Plutte, R. Blaumann und Neebra.

Nach ihrem Programmartitel jteden ſich die „Pet. Am.“ als Ziel, die Mehrung der Iettifchen Erwerbsquellen zu fördern, Bilbung gu der» breiten und zu ungeheuchelter Heimatliebe anguipornen. Vor allen Dingen wünfgen jie die Freundſchaft der Landwirie zu erwerben, als des Standes, aus dem alle tüdjtigen Aräfte auch der Iettifcjen Handwerker und Aaufleute hervorgegangen find. Sie wollen nicht mur die Landleute berüdjichtigen, die ein fejtes Heim befißen, jonbern ſich aud) ben brei Schichten zuwenden, die von ihrem Tagelofn leben. Die „Pet. A werben auch den Handiwerferftand unterjtüßen, der tray des Mangels an Mitteln und Bildung auf dem Sande und in den Eleinen Städten der Nachfrage ſchon genüge und in Riga u. a. Stäbten bereits erfolgreid, mit anderen Nationalitäten in Konkurreng trete. Die lettifche Kaufmann, ſqhaſt iſt noch jung und unbedeutend, die Lage des Landes aber günftig, und die „Pet. Mm.“ werden ſich daher gern mit Fragen beihäftigen, die den Geſchäftsgeiſt unter den Letten wecken fönnten. Insbeſondere wollen die „Per. Av." auch für die Hebung des Vollsſchullehrerſtandes eintreten und wünfden mit den fettijchen Schriftitellern in beftändiger Freundſchaft zu (eben, bie Werte aufweijen fönnen, „deren ſich die Literatur grober Volter nicht zu ſchamen braucht. die jedoch jo jelten auf den Sefetiichen der gebildeten und wohlgabenden Letten zu finden find.“

Hinderniffe bei der Verfolgung feiner Mufgaben vermeint bie Zeitung in dem Umftande zu erbliden, daß in dem Laltenlande, mo mehrere Nationalitäten neben eiander leben, das gegenfeitige Verhäftniis mancher Nationalitäten öfter auf alte Vorurteile gegründet it, ais auf wirklich, vorhandene Lebensbebingungen. Die „Pet. Yo.“ werden Teinem Volte an ſich den Vorzug geben, fondern werden den Wert eines jeden Menſchen im ſozialen Leben mur nach feiner Arbeitskraft, feiner Bildung unb feinen Wermögensverhältiffen bemeffen. Dieſe brei Faktoren werben die „Bet. Am” al die jebem Menichen zutommenden Privilegien verteidigen.

Zu meit größeren Gegnern, als es die fremden Nationalitäten ein fönnten, zähft das neue Blatt Parteien und Strömungen im eigenen Lager. Gegenwärtig herrſche bei den Letten die fonfervative oder alte Richtung. „Das unleugbare Verdienft diefer Richtung ift die Erwedung des nationalen Bewußtfeins in den 70er Jahren des verflofjenen Jahr Hunderts, Sie iit gieichſam eritarrt in ihren alten Anfgauungen und vermag das jüngere Geſchlecht wicht mehr zu begeftern und mit fich fortgureißen. Ja nod; mehr, fie wird ungeret gegen die jüngere Gener

Baltifche Chronit 1901.

vation, indem fie mit Atroganz von ihren Verdienſten rebet und den jüngeren ibeale Beftrebungen abfpricht." Zum Schluß Heiht e8, dah bie „Seformen unieres Lebens aus dem nationalen Bervuhtfein jelbit heraus wachfen und fic) immer ber Verfaffung de Neiches anpafjen müffen beß Neiches, daS den Setten Freiheit und uftlärung gebracht und unter deffen Schub fie aud) fernerhin geitigen Auflcwung und materielles Woffergehen zu erwarten Gaben.“

Am deutlichſten iſt in dieſem Programm die Abfage an bie Ridy« tung des „Balt. Weftn.” ausgeſprochen. Im Uebrigen ift wohl diefelbe Geiftesrichtung, die „die Mehrung der leitiſchen Ermerbsquellen" an bie Spige des Programms jtellen ließ, aud der Grund, warum in dem Artifel eine Stellungnahme des Blattes zu kirchlichen Fragen nicht einmal angedeutet wirb.

Aus einem Artifel über den „Schulenmangel in Riga“ in berjelben Brobenummer fällt ein weiteres Sicht darauf, wie Gefeichte zu fchreiben und zu benugen, von der Redaktion der „Bet. A.” für zuläſfig gehalten wird. Es heißt darin: Auf Riga richten ſich bie Mugen ber Selten. Als in der Vorzeit die Deutfchen nad) dem Baltenlande famen, gründeten fie Niga (1201) und begannen von dort die Setten zu beherrſchen. bie Liven und Ejten und die Baltiſche Rüfte; die Augen der Eingeborenen nichtelen ſich auf Riga alS auf den Ort, wo fid die geiflige und weirtiche Macht befand. Von Niga gingen die Biihöfe aus und braten dem gefmegteten Bolfe das Chriftentum, von Niga wurden die Befehle erlaffen, die in der Vaupiſache darin gipfelten, den Leiten jede Selbftändigteit zu nefmen. Damals bragte Riga den Letten feine Kultur wohl aber die Beitige. Die Zeiten Haben ſich almäplidh geändet. Ran begann in Riga Säulen zu begründen. Die waren wohl in erfter Zeit nicht für die Letten beftimmt, wohl aber für die „Herren“ und ihren Anhang. Dennod; fiel von ifnen ein wenig Licht auf bie getten, denn die „Herren“ gaben oft in die Schulen ihre Untergebenen bie Rinder ber Setten. &o lange bie Seiten unfrei waren, vermochten fie ſelbſt nichts für die Bildung zu ihum Die Dinge wandten fig mit ben Jahren 1817, 1818, 1819 . . . dann begannen Die Setten felbft Schulen zu begründen. . .

Die „St. Peiersb. Fig.“ geſteht zu dielem Paſſus, einer größeren Zahl von Widerfprücen in jo wenigen Süßen nicht oft begegnet gu fein, und glaubt, dafı der Rotftift der Chefrebaftion foldhen Mitarbeitern gegen- über eifriger ſeines Yıntes hätte walten müffen; fie will zunädjt nicht annegmen, dab in der Yufftellung ſolcher unmahrer und verhedender Behauptungen Abficht läge. Die „Rig. Rundicheu" aber bemerft zu diefer Auslajjung der „Pe. Aw." mit einer bei der Stellungnahme au einem neuen Preforgan beſonders merfivürbigen efignation, dab fie fig gewöhnt Habe, „gemifie hiſtoriſche und pſeudohiſtoriſche Neminifgenzen

Baltfge Chronit 1001. 63

als eifeenes Inventar aller ftart national gefärbten Blätter anzufein und desßalb zu ignoriren.“

25. Nov. Ueber den wirtfgaftlichen Rüdgeng des ruſſiſchen Zentrums handelt ein kürzlich unter dem Titel „Erforihung der wirtfchaftlichen Lage der zentralen Gchwargerde » Gouvernemenis · von A. D. Polenom heraus: gegebenes Wer, daS das Nejultat der Unterfucungen einer auf Initiative deß Direforß des Departements für Handel und Manufaktur i. 3. 1808 gebildeten Kommifflon enthält

Das Buch beweiſt züfermäbig an den Steuereingängen, dem Sontenquantum und der Getreideernte die Tfatfache des finfenden Wohi. itandes in den das Objekt ber Unterfuhungen bifbenben Gousernements Woroneſh. Kurst, Drel, Penfa, Rjafan, Sfaratom, Sfimbirdt, Tambom und Tula. Bei den direfien Steuern ergiebt fich jeit 1871 eine beftänbige Zunahme der Rücftände, deren Gelammifumme für die Iepten 28 Jahre daS Doppelte des ſahrlichen Steuerbetrages ausmacht; zu Beginn dieler Beriode beirugen fie nur ein Zehntel der Jahresquote. Die ftärlfte Ber, mehrung der Nücitände fält in die Mißerntejahre 1891 bis 1805. Das Soatenquantum Hat fid) in Nelation zur Kopfjapl der Vedöllerung alfgemein verringert. Dieje Gricheinung ertlärt fid) durch Das Wadıötum der Bevöllerung und die gunahme des Kartoffelbaues auf ofen des Gerreides. Doc hat die Verringerung des Saatenquantuns nicgends ſolhe Dimenfionen angenommen wie im Senteum: mährend fie im übrigen Rubland 36 pCt. als Marimum aufiweift, beträgt fie hier 44 pCt. Roc) fchlimmer ſteht es mit der Gchreideernte: hier beirug die Abnahme 27 pCt. pro Kopf gegen 12 pCt. im gefammten europäifchen Ruklanb. Der Erfah; der Kornfrächte durch die Aartofiel hat nad) vericiebenen Angaben eine Reduktion der Pferdezucht zur Folge gehabt und untergräbt die wirtfchafuliche Kraft des Bauern. Auch, für die Vollsernährung it die Vergrößerung des Nartofielarcals wicht ohne Schaden geblichen, Die beftändige Abnahme der Pferdegahl beftätigt cbenfallß den Rüdgang des Zentrum.

Da Anfang der er Jahre ein Sinten des Wohlſtandes in dem befprodenen Hayon noch nicht zu bemerfen gewefen it, jo lam bie Kommiffion zu dem Cchluh, da der Uebergang ein jchroffer geweſen fein muß.

ALS Fattoren für denſelben fühet Polenow die Mifernte von 1891 und 1892 an. Noch mejentlicher ſei das Fallen der Gctreidepreife; als dritter Falior komme hinzu, dab bie StantSabgaben der genannten Gouvernemenis bedeutend höher ſeien ais die Summe der für den Unter» Halt der Regierungsinftitutionen erforderlichen Mittel. Die gedrücte Lage von Handel und Induftrie ijt ebenfalls an dem Nücgang fduld. Das zentrale Schwargerdegebiet Habe ſich fo in feiner landwirticaftlicen Sphäre verfapfelt, daß induftrielle und Tommergielle Unternehmungstuft, mit dem Erforderniß disponibler Kapitalien, nit zur Entwidelung gelangt fei.

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Den traurigen ölonomifchen Berhältniffen entfpredie der Geldumſat Beiläufig wird zum Vergleich angeführt, daß die Banteinlagen im balı tifchen Gebiet (nach den Daten für 1895--00) T-10 Abt. pro Aopf der Bevölterung ansmachten, gegen 23-36 op. im Zetrafgebiet.

Nov. Der Schulkonſeil der Rigaſchen orthodoren Epardjie erfucht bie Volfsihuldiveftoren der baltiſchen Gouvernements, die Leiter und Leiterinnen von Kirchſpiels- und Gemein! ſchulen davon in Kenntniß zu fegen, daß die Aufnahme von orthodoren Kindern in lutheriſche Schulen nur aus befonders beadhtenswerten Gründen erfolgen dürfe und nur mit Zus ftimmung des örtlichen Priefters; ferner daß die feit Beginn des faufender Schuljahres ohne folde Zujtimmung in lutheriſche Schulen aufgenommenen orthoboren Kinder in bie näcjite orthobore Schule übergeführt werben müßten und daß der Neligionsunterricht der ausnahmsweife in lutheriſche Schulen aufgenommenen orthodogen Kinder von dem Kirch- fpielsprieiter felbit oder von einer anderen Perfon unter feiner Leitung in Zufunft ſtreng in Obacht genommen werden muß.

Diefe Verfügung it veranlait worden durch Die Folgen eines anderen Schreibens beifelben Aonjciis an die Bolfsfculbirehioren vom 28. Auguſt 1001, laut dem die Leiter der lutheriſchen Voltsſchulen ange halten werden jollten, von der Aufnahme orthodorer Kinder in ihre Schulen dem Detöpriejter jogleich Mitteilung zu maden, damit biefer Anordnungen für den Religionsunterricht der Kinder ireffe. Diele Anordnung hatten viele Lehrer ſo aufgefaht, als ob den orthoderen Kindern der Eintritt in die Futherifchen Schulen auch „ohne beachtensmerte Gründe“ freiftiinde, und es fand nun eine gegen früher beträchtlich häufigere Aufnahme von orthodoren Kindern in biefe Schulen ftatt, und zwar „ohne beachtenswerte Gründe." Daraufhin ift das obige Erſuchen des Scyultonfeils vom 27. Nov. erfolgt, für das folgende Erwägungen mafigebend gewejen find: 1) in den auf Grumd des Alerhöchiten Befehle vom 17. Dez. 1888 vom Miniſter der VoltSauftlärung beitätigten Regeln für die orthodoren Landvolfsfchulen der baltifchen Gouvernements iſt im $ 11 direkt gefagt, dah nad; Zurüdlegung des 10. Lebensjahres alle geſunden orthodoren Bauerfinder der orthodoren Schule gemeldet werden müffen; 2) in feinem Paragraph der genannten Regeln mird orthodoxen Kindern geitattet, ſich belicbig in Intheriichen Schulen unterrichten zu affen; 3) Ausnahmen find bisher unter bejonderen Umftänden gemadıt worden und bedurften der Zuftimmung des Prieſters.

37. Nov. Der Kurator des Warſchauer Lehrbezirts Gregor Eduardo:

Baltiſche Chronik 1901. 55

witſch v. Saenger wird zum Gehilfen des Minifters der Volls- auflärung ernannt.

28. Nov. Neval. Die Stadtverordneten-Berfammlung fegt eine Kommilfion zur Ausarbeitung eine Bebauungsplanes für die Stadt ein. Das für das Jahr 1902 afzeplirte Budget Nevals balancirt mit 790 Rbl.

„„Libau. Ein Bahnprojekt der Herren Baron Stempel, M. Dielville, Hemme u. A, das Libau über Polangen und Krettingen mit dem deutſchen Eiſenbahnnetz verbinden wollte, iſt nad) einer zuverläffigen Quelle des „Riſh. Weſtn.“ von der Regierung abgelehnt worden. Das Projeft erwartete von der Bahn die Belebung des ganzen Landftriches zwiſchen Libau und Polangen und eines beträdtlichen Teiles bes Gouvernements Kowno, für den Libau den Stapelplag bildet; and) wäre die Bahn dem Holzgeihäft aus den großen Arons- foriten Nieberbartau und Ruyau und mehreren Privatforiten, ebenfo der Ziege: und Torfindufirie zu Gute gekommen; endlich hätte die Bahn die Anlage von Badeorien in der Strandgegend von Bernathen ermögligt, die wünfchenswert erſcheint, da Libau wegen beſchränkten Raumes immer mehr feinen Charakter als Badeort einbüht.

Bei der Ablehnung diefes dem Miniſterium der Weges Tommunifationen eingereichten Projelts it das Gutachten des Generalitabes maßgebend gewejen, dem zufolge die Bahn militärischen Erwägungen wiberfpricht.

28. Rov. Das vom Miniſterium des Junern für das Weitgebiet ausgearbeitele Geſedyrojelt einer Landſchaftsverſaffung lautet in den Grundzüge: Die Beratung aller tandichaftlichen wirtichaftlichen Bedürfniffe tompetirt einem befonderen ou. » Landfchajtstomite, das unter dem Praſidium des Gouverneurs aus Vertreiern der einzelnen Refjorts und aus Landfhajts: abgeorbneten, die vom Minifter des Innern ermammt werben, beftcht. Das Romits jtellt die jährlichen Voranichläge der Einnahmen und Aus gaben in den für gewiffe Zriften vom Neichsrat normirten Örenzen feit. Die Voranſchlage werden von den Miniftern des Innern und der Finanzen beftätigt. In den übrigen Wirtſchafts. und anderen Fragen befigt das Goud · Landſchafislomits die eiwas ermeiterten Nechte der Sandichajten. Das Gouv.Landfgaftstomite fol als Stellvertreter der Landſchafis- verſammlung ericeinen und dazu wird ihm ein Gouo.-Landfchaftsamt beigegeben, deſſen Präfident und Mitglieder vom Miniſter des Innern aus den den befonderen Anforderungen entipreienden Vertretern der

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Baltiſche Chronik 1901.

örtlichen Vevolterung ernannt werben, oder aus Perfonen, bie dur ihre frügere bienftliche Thätigfeit im Gebiete mit den örtlichen Berbättniffen und Pedürfuiffen befannt find. Die Notwendigfeit von Sreißverfamme Nungen und ‚Yemtern verwerfend, beabfictigt daS Projeft an deren Stelle nur Komites aus Vertretern der verjdiedenen Refjoris und ernannten Abgeorbneten, d. h. eine Nabildung der Gouvernementsfomites, aber mit beſchrantien echten, zu ſchaffen, die nur mit der vorläufigen Beratung der einzelnen Fragen betraut werden, beren Entfcheibung dern Wouvernementsfomitc vorbehaften iſt. Mit der Ausführung der Anordı mungen der Landicafisverwaltung in den Areifen werden befonbere Berfonen die Sanbichaftsbevolimächtigten betraut, deren Ernennung durch den Gouverneur erfolgt. Die Lanbiejaftsahgeordneten erfalten für ihren Dienft weder Gehalt noch die Rechte des Stantödienjted. welche legtere nur den Präfidenten und den Mitgliedern der Sandichafigämter und den Bevollmächtigten vorbehalten find.

30. Nov. Fellin. Die Stabtverorbnetenverfammfung beſchlieht, da

fid) der rege Wunſch geltend gemacht hat, „den veränderten Verhältniffen Rechnung tragend“, eine mittlere Lehranftalt ins Leben zu rufen, im Prinzip die Begründung einer dem Finanzminifterium unteritellten Kommerzſchule. Die ftädtiiche Veihilfe wird auf 5000 Rbol. firirt. Der livländiihe Landtag foll um Foftenfreie Ueberlaſſung der Gebäude des chemaligen Landesggmnafiums angegangen werden und um eine fer- minirte Garantieleiftung für den Fal, dah die Anitalt nicht mit vollem Schülerbeitande an ihre Aufgabe herantritt. Yon der Krone wird die den Anjtalten des Finanzminiſieriums ftatutarifch gewährleiftete Penfionsberehtigung der Lehrkräfte erwartet.

Die Verhältnifie haben ſich allerbings fehr verändert, wie aus folgender Tabelle erſichtlich ift, die bie Zahl der Lehrkräfte in Lioland im Jahre 1900 angiebt, foweit fie für deutſchen Unterricht in Frage kommen:

Jurjem Meine dlaches Riga (Dorpat) Städte Sand Summa Lehrer. . 49 25 2 24 100 Lehrerinnen 86 40 18 95 239

Trogdem dürfte die geplante Felliner Mittelſchule, jelbit wenn fie unter dem Finanzminiſterium fteht, den Intereſſen einer deutſch bleiben wollenden Bevölkerung zu dienen nidt im Stande fein.

Baltifie Chront 1901. 57

30. Nov. Werro. Der Paſtor zu Pölwe, Propft Johann Beorg Schwark, wird von der 2. Ariminalabteilung des Bezirks- gerichts zur Entfernung vom Amt auf zwei Donate ver- urteilt, weil er bie Trauung eines Lutheraners mit einer von der orthodoren Kirche Reklamirten vollzogen Hatte. Die Verhandlung fand bei geihloffenen Türen jtatt.

1. Dezember. Der Minifter der Vollsauftlärung hat, nad) der „Rurl. Gowv.xZtg.”, auf die Ditteilung ber Geheimratswittwe Kattow, daß bei weitem nicht alle Lehranftalten die Werte ihres jeligen Mannes angeihafft haben, dem Kurator aufs Neue aufgetragen, die Werte M. N. Kattows zur Anfhaffung für die Bibliothefen aller mittleren Lehranftalten, für die Zehrerbibliothefen der Lehrerinftitute, Seminarien und ſog. Stadtſchulen, für unentgeltliche Voltslefehallen und -Biblio- theten zu empfehlen. Dieje Were bejtehen zumeiſt aus einer Sammlung von Leitartifeln der „Mosk. Wed.”

Die „ig. Rdſch.“ bemerkt dazu, daB Frau Katkow das alleinige Verkaufsredht für bie Werfe ihres Mannes äufteht und daß fie den Preis mit 50 NbI. angefegt hat.

3. Dez. Der Minifter des Innern erfennt für notwendig, bie Städte Niga und Jurjew (Dorpat) als im Zuftande bes verftärften Schuges befindlid) zu erklären. Gleichzeitig werden in diefen Zuftand verfegt die Städte Minsk, Mohilew, Homel, Dwinst, Witebsk, Bjeloftot, Niſhni-Nowgorod, Kafan, Tomst, Jaroſſlaw, Sfaratow, Pollawa, Siamara, Kiſchinew und das Gouvernement Wilna. Seit früherer Zeit befinden ſich bereits im Ausnahmezuftand bie Gouvernements Peters: burg, Moskau, Charkow, Jekaterinoſſſaw, Kiew, Podolien und Wolhynien und die Stadthauptmannſchaften Petersburg, Odeſſa, Nikolajew, das Taganrogſche Gebiet, die Städte Noftow am Don, Taganrog und Nachitſchewan, vier ländliche Anfiebelungen im Gouvernement Cherfjon und im Dongebiet, die Städte Tiflis und Baku, mit dem gleichnamigen Kreis, die Kreife Potromst und Schuja mit der Stadt Iwanowo— Wosneſſensk im Gouvernement Wladimir, die Stadt IJefate: rinofflam, die Flecken Wosnejienst und Krywoi-Rog im

Gouvernement Cherfjon. F

bs Baltiſche Chronit 1901.

3. Der. Gin Erlaß des Miniſters ber Vollsauftlärung berichet über Studenten, unruhen in Charfom. Den Anlaf zu den Unruhen gab einerſeits bie Forderung der im vorigen Jahr ausgefcloffenen, jegt wieder aufgenom« menen Stubenten, daß eine Reife von ihnen nambaft gemachter Kommili« lonen aus den Laboratorien und Alinifen ausgefchlofien würden, welche Forderung zwar von einigen Profefforen erfüllt (), vom ber Mehrzahl aber Tategoriich abgemiefen wurde, andererfeits der Munich einer Sympatiehundgebung für die ermatrifulicten Stubirenden des 1. Kurfus des Chartomfchen Peterinärinftituts. Die Unrugen begannen am 28. Roo. und beflanden in Demonftrationen auf der Strafe, in der Univerfität, in den Roflegien zweier Profefforen mit Pfeifen, Schreien, Gelang ver: botener Sieder, mit Stinfbemben sc, dem fog. „aktiven Strite · Die Univerfitätverwaltung ermatrifulirte am 30. Nov. 52 Studirende und erfuchte den Minifter, die Vorlefungen bis zum 20. Dej- fütiren gu bürfen. Der Minifter tann wicht umbin, feinem „tiefen Bedauern darüber Ausr drug zu geben, daß junge Leule, bie vor dem Abfchluß einer höheren Bildung ftehen, fie) foger in den Räumen ber Schranftalt jo unſchicliche. fürmijcpe und abfeheuliche Handlungen, die fi für Gebildete wenig fhicen, Haben zu Schulden Tommen taffen“, verfügt aber, im Jntereffe der großen, nicht an den Unorbnungen beteiligten Majorität der Siu. benten, die Vorlefungen nicht einzuftelfen, die ſhuldigen Studenten einer entfprechenden Strafe, vom Verweife dis zur Ermatrifulation auf beſtimmie Zeit, zu unterziehen, und allen Stubenten zu eröffnen, dahß fie nicht zu ben Gramina im Jahre 1902 zugelaffen werden würden, wenn fie den regelmäßigen Gang des Unterricjts hemmen follten.

5. Doz. Niga. Die livländiſche Gouvernements-Schägungsfom- miffion Hält ihre zweite Sitzung in Sachen ber Grunbfteuer: teform ab. Die vom Landratsfollegium in 81 Paragraphen formulirten Schägungsnormen werden beraten und mit einigen prinzipiell nicht weſentlichen Aenderungen angenommen. Die Gouvernements - Schägungstommiffion überweift dann bie Schägungstarife den acht Kreis:Schäyungsfommiffionen zur Begutachtung.

7. Doz. Walt. Bei den Stadtverorbnetenwahlen fiegt die vers einigte lettifch = eſtniſche Partei in Folge großer vorher: gegangener Agitation über die von den Deutſchen aufgeftellten beutichen, lettii en und eſtniſchen Kandidaten. Won den bisherigen Stabtverorbneten wird Fein einziger wiedergewählt. Von 251 Wahlberedhtigten haben 188 ihre Stimme abge: geben. Von den alten Stadtverordneten erhielt einer 103 weiße Kugeln, die übrigen zur Wahl geftellten nur 57 bis 85. In der vom deutſchen Wahlkomité aufgeftellten Lifte von

Baltiffe Chronit 1901. oo

35 Kandidaten war die deutſche, eſtniſche und lettiſche Natio- nalität faſt gleichmäßig vertreten; 19 von den Kandidaten gehörten zum alten Veſtande der Verfammlung.

7. Dez. Der livländifhe Gouverneur erläßt auf Grund bes P. 1 Art. 15 der Regeln über ben Zuftand des verftärften Schuges eine Verordnung für die Einwohner Rigas und Jurjews (Dorpats), durch die aller Art Verfammlungen ohne polizeiliche Genehmigung unter Androhung einer auf abminiftrativem Wege zu verhängenden Gelbitrafe bis zu 500 Rbl. oder Haft bis zu 3 Monaten verboten werben.

vn Riga. Die Statuten eines ärztlichen Vereins zur willen: ſchaftlichen Unterfuhung bes Altoholismus erhalten bie minifterielle Betätigung.

8. Dez Niga. Schluß der Sihungen des livländiſchen Abels- fonvents. Aus den Beſchlüſſen des Konvents: Tas Land- ratsfollegium ift, feinem Vorſchlage entipredhend, zu erſuchen, dahin zu wirken, daß in Kirchſpielen, in benen fid) parzellirte Kronsgüter befinden, behufs Nejtituirung des der leiſtungs— pflihtigen Krone durch die Parzellivung des Hofes verloren gegangenen Stimmrechts auf den Kirchenfonventen, ein Delegirter der Domänenverwaltung die Krone auf ben genannten Ronventen vertrete. Tem Verwaltungsrat ber Geſellſchaft zur Bekämpfung der Lepra wird auf fein Geſuch eine einmalige Subvention von 4000 Rbl. aus der Landes: tafje bewilligt. Dem Kollegium allgemeiner Fürforge wird für die Verpflegung von Spphilispatienten in Merandershöhe pro 1901 eine Subvention von 1000 Nbl. bewilligt. Dem livländifchen Gouverneur ift auf feinen diesbezüglichen Antrag mitzuteilen, daß es wünfdenswert erfcheint, den obligatoriſchen Gemichtshandel für Korn, Mehl u. bergl. Produlte am 1. Januar 1903 für das gefammte flache Land des livländiihen Gouvernements einzuführen. Auf bas Schreiben des Gouverneurs, betreffend die Errichtung eines Zwangsleproforiums ift zu erwidern, daß nad der Anſicht der Ritterſchaft Zuſchũſſe aus den örtlichen Landespräftanden- mitteln fowohl zur Errichtung als zum Unterhalt eines Zwangsafyls für unbotmähige, ſowie für in Straf ober Unterfuhungshaft befindliche Lepröſe entſprechend Dem Sanbe

Baltiſche Ehronit 1901.

tagsbeichluß vom Jahre 1899 angewiefen werben können; hieran ift das Erfuchen zu fnüpfen, geeigneten Ortes erwirfen zu wollen, daß die Staatsregierung das zu errichtende Aſyl in Verwaltung nehmen, fowie an den Baufoften und dem ferneren Unterhalt deſſelben ſich beteiligen möge. Der Land: marſchall ift zu erfuchen, gleichfalls die geeigneten Schritte zur Verwirklichung dieſer Abfichten bei den betreffenden DMinifterien zu thun. Das Landratslollegium foll zu geeig: neter Zeit die Nüdzahlung der für die Zeit vom 1. Zuli 1896 an aus ber Sandesfaffe für bie Beheizung der Gouver- neursmwohnung verausgabten Summen zu erwirfen ſuchen (vergl. Balt. Chronik v. 8. Oft. d.%.. Zu dem Bericht betreffend die Förderung der Ausbildung und Anftellung von Kirchfpielspebammen wurde befchloffen, die begonnene Aftion in Betreff einer Subventionirung des Nevaler Hebammen: inftitut® und ber Ausbildung von Landhebammen für den eftnifchen Teil Livlands in dieſem Inſtitut fortzufegen. Im Intereſſe des lettiſchen Sprachdiſtritts wird das Statut einer livlãndiſchen Landhebammenanftalt in Riga in der neueften Faflung des Sandratsfollegiums mit einigen Abänberungen afzeptirt, cbenfo das Normaljtatut für Kicchipielshebammen. Das Landratsfollegium foll die Vejtätigung des Statuts der Hebammenanftalt beim Miniſterium des Innern und des Normalftatuts für Kirchſpielshebammen bei der livländiſchen Gouvernementsregierung erwirlen. In MWegebaufadhen wurbe eine Reihe von Beſchlüſſen gefaßt, u. X. über vier von den Kronsingenieuren ausgearbeitete Megebauprojefte für das Jahresbudget 1902, von denen für einen ein neuer niebrigerer Koftenanfchlag befiderirt wurde. Ferner foll bie minifterielle Genehmigung dazu erwirtt werden, daß 1) bie Wegebau Ingenieure die von ihnen angefertigten Pläne und Koftenanfchläge zunächſt den Kreisdeputirten einzureichen und erſt nad) Einholung von deren Gutachten ber Bejonberen Seffion der livländiihen Gouvernementsregierung in Wege: ſachen vorzuftellen haben, und 2) daß im Interefje einer den vorliegenden Bebürfniffen an Arbeitszeit Nechnung tragenden Drganifation ber Geihäftsführung beftimmte Endtermine für bie Vorftellung und Veftätigung bes Budgets ben einzelnen

Baltifäje Chronit 1901. a

Inftanzen firiet werben, bergeftalt, daß bie Beftätigung des Budgets durch die Minifterien bis zum 1. Juli des dem Budgetjahre vorausgehenden Jahres zu erfolgen hat. In Saden der Grundfteuerreform wird ein Kredit bis zu 9000 Rbl. aus der Landesfafje zur Durdführung ber im Jahre 1902 vorzunchmenden Wrobebonitirungen, Probe: Ichägungen 2c. bewilligt. Die Vorſchläge des Landratstolle: giums, betreffend die Yufnahme, Verrentung und Tilgung einer Anleihe von 650,000 Rbl. aus dem Reiheihag für Rechnung und zum Beften der Landestafie, behufs Aufbrin- gung ber Koften für die Schägung werden afzeptirt und bas Zandratstollegium und der Landmarſchall erfucht, die zur Nealifirung der Vorſchläge erforberlihen Maßnahmen zu ergreifen, wobei für Verrentung und Amortifation zufammen nicht mehr als 5 pCt. in Ausficht zu nehmen find. In Sachen der Errichtung eines Irrenaſyls wird dem Landrats- follegium für bie zu erwartenden Koften der Bauentwürfe ein Rrebit auf bie Nitterfaffe gewährt und bie Ueberſchreitung des bisherigen Nrebits ratihabirt; im Uebrigen werben das Lanbratsfollegium und der Landmarfchall erfucht, die Beſtäti— gung ber Beſchlüſſe des Landtages vom Jahre 1899 und bes Adelsfonvents vom Juni 1900 zu erwirfen, nad) denen die Verwaltung des Irrenaſyls und die Dispofition über den Baufonds dem „Verein zur Fürforge für Geiftesfrante in Livland“ anvertraut werden follen.

8. Dez. Wenden. Stadtverorbnetenwahlen. Die Veteiligung ift eine fehr rege: von 173 Wählern haben 143 ihre Eintritte- farte abgeholt und 133 erſcheinen an den Urnen. Gemäflt werden 23 Stabtuerordnete und 5 Kandidaten. Don ben 31 Kandidaten der deutſchen Mählergruppe haben 7 nicht bie erforderliche Majorität erhalten, von den Gewählten befinden fich vier nicht auf ihrer Lifte. Dem bisherigen VBellande der Verfammlung (20 Perfonen) haben 14 der Gewählten bereits angehört.

In Lemfal find die Wahlen der Stadtdeputirten friedlich verlaufen und haben bie Kontinuität ber bisherigen Verwal- tung gefigert.

[23 Baltifeie Chronit 1901.

8. Dez. In Mittellivland ift der Waſſermangel fo arg, daß in einer Woche vor einem Friebensrichter bes Wenden-Walkſchen Kreiſes neun Fälle verhandelt wurden, die Gtreitigfeiten wegen der Benugung von verfchiebenen Gewäſſern betrafen.

8. Dez. Die im Dezember vollzogene Auflöfung des finlänbifchen Militärs und die Einführung des neuen Mehrpflictsgefeyes erregte in Finland die Gemüter in Hohem Grade und veranlahte eine Proteftadreffe an Seine Mojeftät den Kaifer, die aud) von Beamten, ja jelbit folden, die ihre Poften durch dos Allerhöchſte Vertrauen erhalten Gaben, unterzeichnet worden war. Auf die Aoreffe erfolgt ein Schreiben des Hinifter-Staats- fetretärs für Finland an den Generalgouverneur von Finland unterm 8. Dez. nochſtehenden Inhalts :

‚Bei dem aleruntertfänigiten Bericht über die wegen bes neuen ſinlandiſchen Wehrpflichtsreglements von finländiſchen Bürgern eingereichte Aoreffe unterbreitete ich Seiner Kaiferlichen Majeftät zur Auerhöchiten geneigten Beurteilung, daß bie Adreſſe von vielen Beamten und darunter don einigen ſolchen unterzeichnet worden ei, melde Poiten einnäßmen, auf die fie durch das Monarchiſche Vertrauen berufen worden wären. Indem ich in diefer Beteiligung finländifcier Beamten an einer offenbar vegierungsfeinblicen Wanifeftation ein äußerft feltfames Verhalten zu ihrer dienitlichen Stellung gang beſonders bei ben auf höheren Poften befindlichen erblictie, fand ich zugleich, daß man zu fünftiger Vermei. dung ähnlicher Ericeinungen bei der Wahl von Kandidaten für Ber: trauenspoften auf die Nidtbeteifigung an politiigen Demonfteationen Aufmeriſamkeit verwenden und zur Ernennung auf ſolche Poten Perſonen vorfchlagen müfie, die genügende Garantien für ihre richtige Auffaffung der aus ihrer bienftlichen Stellung in dieſer Beziehung refuftirenden Verpflichtungen böten. Einer ſolchen Anforderung fann nur dann genügt werben, wenn in Ermangelung entipredjender Kanbidaten aus der Zahl der Eingeborenen Finlands Eingeborene des Reichs zur Belleidung joldher Aemter zugelaſſen werden. Dieſe Maßregel wird man auch anwenden müffen, fobald es ſich endgiltig herausfteilt, dafı Beamte aus ber Zahl der finlänbifchen Cingeborenen ber Regierung Wiberftand Leiften, ftatt ibr behiiflich zu fein.

Auf den allerunterthänigften Voritag dieſer Erwägungen bin gerußte der Herr und Aaifer, nachdem Er die Adreſſe der finländiicen Vürger ohne Folge gelaffen, zu befehlen, dafı biefe Erwägungen dem fin Känbijchen Generalgonverneur und Senat mitgeteift würden, damit fie ſich bei der Bejepung von Zivilpojten in Finland nach ihnen richteten.“

9. Dez Neval. Der evangeliiche Jünglingsverein (gegründet von Dberpaftor Nipfe) begeht fein 2öjähriges Veftehen. Er zählt gegenwärtig 74 Mitglieder, barunter 49 aktive.

10, Dez. Niga. Stabtverorbnetenverfammlung. Der Einrichtung

Baltiſche Chronit 1901. 63

einer ſtaatlichen Aichfammer bei der Stadtverwaltung wird sugeftimmt unter ber Bedingung, daß bie Aicher von ber Regierung aus der Zahl der vom Stadtamt präfentirten Kandidaten gewählt werden und die Stadtverwaltung bas Recht erhält, einen von der Krone nicht gagirten Dirigirenden ber Aichkammer zu ernennen. Die Ober-Wichfammer hat dieſe Forderungen zugeftanden in ber Vorausfegung, daß bie vom Stadtamt präfentirten Kandidaten vom Finanzminiftertum einer vorgängigen Prüfung über ihre Befähigung zum Amt unterzogen werben, und daß der von der Stadt zu ernennende Dirigirende der ruffiichen Sprache mächtig ift.

11. Dez. Werro. Bei den Stadtverordnetenwahlen behauptete

das bisherige deutſche Negime feine Stellung.

Die Mäßigfeitsbewegung, die fih unter den Letten noch in ſehr bejcheibenen Grenzen hält und feinen rechten Anklang zu finden ſcheim, hat bei den Eſten eine weit tiefer gehende Wirkung geübt. Die in jtetem Wachstum begriftene Zahl der Enthaltjamfeitsvereine wird vom „Poſtimees“ auf 57 angegeben. Gerade in den legten Jahren Hat ſich dieſe Zahl fehr gehoben: während 1898 und 1899 nur je zwei neue Vereine beitätigt wurden, erfolgten 1900 acht Betäti- gungen und 1901 ſechs, während mehrere Vereine nod) in der Gründung begriffen find. Auf den eſtniſchen Zeil Liv— lands fommen 36 und auf Ejiland 16 Vereine; außerdem giebt es fünf eſtniſche Nüchternheitsvereine in den eſtniſchen Kolonien in Petersburg, Walk und Riga und in den Gou- vernements Petersburg und Sſamara.

„Die Thätigleit eintger dieſet Bereine" fagt der „PBoftimers“ bewegt fich allerdings in den allerbeſcheidenſten Berhäftniffen : der Verein „Ehe" (eime eftnifche Bezeichnung) auf Dejel vereinnahmte im J. 1900 an Mitgliedsbeiträgen nur 1 Rbl. 80 Kop. während er 28 Stop. für Aanpleiausgaben und dazu 3 Rbl. 28 Kop. für den Drud des Rechenſchaftsberichts in der „Bouv.-geitung” zu verausgaben hatte, was nur durch das vorhandene Saldo möglid; war. Der Verein „Baala” im Oberpahlenſchen vereinnahnte 3 RL. 90 Kop. an Mitgliedsbeiträgen, IR. an Geſchenlen und 2 Nbl. 75 Kop. aus dem Verkauf von Büdern; der Verein „Reit“ ſchloß gleich mehreren anderen Vereinen fein Rechnungs . jahr mit einen Defisit: während ZU Mitglieder 51/, RbL. jahlien, wurden auf Vergnügungen 3 Rbl. und auf Sanzleinusgaben 5 Rbl. YO Kop. verwandt. Much der „Kindlus“ vereinnahmte mus etwas über 6 Rbl.

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Valtiſche Chronit 1901.

12. Dez. Der eſtländiſche Gouverneur erläßt für Eſtland auf

Grund des Art. 421 der Allg. Gouv.-Inftitutionen eine Verordnung, die die Störung der öffentlichen Ruhe und Drdnung durch Anfammlungen und Zufammentünfte ohne poligeifiche Erlaubniß unterfagt. Die Verlegung biefer Ver— ordnung wird nad) Art. 29, 30, 38 und 39 bes friebens- richterlichen Strafgefegbuches beftraft; durch die Straffanktion unterjcheibet fich dieje Verordnung von ber im Mefentlichen gleichen, die der fivländifche Gouverneur für die im Zuftande des verflärften Schuges befindlichen Städte Niga und Jurjem (Dorpat) erlaſſen Hat (vergl. Balt. Chr. 7. De. d. 2.).

13. Dez. Pernau. Die Stadtverorbnetenwahlen vollzogen ſich

in größter Friedlichkeit; 82 Wahlkarten waren abgeholt worden und 73 Wähler gaben ihre Stimmen ab. Es werben 32 Stabtverorbnete und 7 Nandibaten gewählt, von benen faft alle der bisherigen Stadtvertretung bereits angehört haben.

Kandau. Bei der Neuwahl der elf Stabtdeputirten werben aufer dem jegigen Stabtälteften Apothefer Roſenthal lauter Letten gemählt.

„Mitau. Die 73. Jahresverfammlung ber lettifch-litter räriſchen Gefellihaft wird eröffnet und geleitet durch den Präfidenten Pajtor Sacranowicz.Groß-Aug. Sie ijt beſucht von ca. 50 Mitgliebern und Gäften, unter legteren vor- wiegend Vertreter ber lettifchen Preife, die in dem Urteil der Geſellſchaft über die lettiſchen Litteraturerzeugniffe, als dem faft einzigen Organ, das bie Kenntniß einer lettiſchen Litteratur über die Grenzen ber Djtfeeprovinzen hinaus weiteren Kreiſen zugänglich macht, immerhin nod das Urteil Europas aner- fennen muß. In feiner Eröffnungsrede giebt der Präfident zuerft einen Weberblid über die Arbeit der Mitglieder im verfloffenen Jahr. Beſonders wertvoll erjcheint die Heraus: gabe einer Sammlung lettiſcher Volkslieder von K. Baron, die durch die Akademie der Wiſſenſchaften fortgefegt werben fol. Volles Vertrauen ſpricht der Präfident der Nedaftion ber „Latweeſchu Awiſes“ aus, des feit 1901 zweimal wöchentlich erfcheinenden Organs ber lett.-fitt. Geſellſchaft, obgleich das Blatt die bisher eingehaltene politische Richtung

Valtiſche Chronit 1901. 66

verlaſſen hat und vor allem in nationalen Fragen in lettiſch- nationaliftiichem Sinne Stellung zu nehmen beginnt. Für diefe unfeugbare Thatſache findet der Präfident nur die harmloſe Wendung, daß das Blatt ein „wohlwollendes, gerechtes Auge” haben müfle „für die neuen Gebilde, groß und Klein, die nun einmal das Leben bringt, jo fie nur als organische Weiterausgeftaltungen ſich eine und angliedern Tönnen und mollen. Der Blid auf die Gejammtfituation kann es hie und da ratjam erfheinen laſſen, einem noch umjtrittenen Eingefandt die Spalten zu öffnen, aber bas Blatt wird allezeit bereit fein, dem mit einer befferen Begründung Kommenden, dem Beſſerwiſſenden und Edler: meinenben jtets das Wort zu erteilen, daſſelbe zu vertreten und ſchließlich das Fazit zu ziehen, vor dem Sonderwünſche ſich zu beicheiden haben.“ -— Die von ber Oberlandfhul: fommifjion in Kurland in den Volkeſchulen eingeführte und aud für Livland angeftrebte einheitliche lettiſche Orthographie hat ſich bereits befriebigenb eingebürgert, Die Berichte des fivländifhen und bes kurländiſchen Direftors flimmen darin überein, da die 1901 erichienene lettiſche Kitteratur im Durchſchnitt eine gute zu nennen iſt. Eine ſcharfe Abweifung erfährt durch den livländiſchen Direktor Paſtor G. Hillner » Kofenhufen der von Paſtor Roſen rebigirte „Vaſnizas Wehjtnefis”, der kirchlich fein wil, in Wirklichkeit aber Unfrieden zwiſchen Paftoren und Gemeinden fäet. Zum livländiihen Direltor für das kommende Jahr wird Paſtor O. Erdmann + Berfohn, zum kurländiſchen Paſtor F. Vernewig-Wallhof gewählt. In der Nahmittagsfigung gelangen zwei Abſchnitte einer größeren Arbeit über „das Holzgeitalter der Leiten” von Paſtor Dr. A. Bielenftein zur Verhandlung, die die von ben alten Letten gebauten Getreide arten und den Iettifchen Pflug behandeln. Noch Aufnahme von 10 neuen Mitgliedern wird die Verfammlung am felben Tage geſchloſſen.

14. Dez. Niga. Der geſchäftsführende Ausiguß der Jubiläums: ausftellung legt in einer Sigung des Ausftellungsrates bie Abrechnung für die Austellung vor: die Einnahmen betrugen 252,138 Rbi. 84 Kop. (Budget 237,400 Rbl.), die Aus-

ss Baltifhe Chronit 1901.

gaben 328,738 Rbl. 84 Kop. (Budget 297,400 Rbl.), To daß fid) ein Defizit von 76,600 Nbl. (Budget 60,000 Rbl.) ergeben hat. Nach Abzug ber 27,700 Rbl. betragenden Subventionen werben die Garanten von 500 Nbl. und mehr zur Dedung der rejtirenden 48,900 Rbl. mit 50 pCt. ihrer Garantien herangezogen die Garanten unter 500 R. werben nicht in Anfprud) genommen.

15. Dez. Der „RegAng." berichtet über den Stand der Arbeiten an dem neuen riminaltoder. Die im Jahre 1891 Allerhöchſt zur Abfafung eines neuen Nriminalgejepbudjes eingefepte fiebengliederige Kommilfion unter dem Vorſitz bes Neichsratsmitgliedes d. Friſch arbeitete ein Projekt aus und ftelte dazu ein umfafiendes erläuterndes Material in 8 Bänden aufammen. Zu einzelnen Teilen des Projefis wurden juriſtiſche und mebiginifche Autoritäten gutachtfic) befragt und endlich daS ganze Projet einer Reihe von ausländijcen Gelehrten vorgelegt, wie v. Holpendorif, Wahlberg, Scüg, d. Liszt u. A. deren Gutachten einen Band der Kom mentare Bilden. Im Jahre 1898 wurde eine Konferenz des Reichsrois unter dem Präfibium des Gtantsfefretärs von Friſch mit der Durchficht bes Projetis und eine weitere Kommiffion, der Profefior Taganzem prä: fibirle, mit der Aufftellung ergängender Beſtimmungen betraut. Die Konferenz hat in 59 Siyungen die einzelnen Paragraphen des Geletes einer eingehenden Prüfung unterzogen. Darauf erfolgte am 6. Dftober d. J. ein Allerhöchfter Befehl, der zur Beprüfung des Projelis im Neichsrat eine befondere Seffion defjelben unter dem Präfibium des Staatsjefretärs Grafen Pahlen anorbnet; ihr gehören an die Präfidenten und Mitglieber der Departements für Gefepgebung, der Zivil, und geiftlichen Angelegen« heiten, der Gtaatsöfonomie und Inbuiteie, Wiſſenſchaften und Handel, die Reichsratsmitglieder Hofing und v. Derwies , die Minifter und bie Chefs ber Hauptverwaltungen, der Reichsjekretär u. Plehive und der Chef des Kriminal:Kaffationsdepartements des Senats Tagangew.

15. Dez. Der Verſuch der Krone, durch Verpachtung des Arons- gutes Baſſen in Kurland an ein Konfortium von 30 Bauern eine bäuerfiche landwirtſchaftliche Probuftionsgenoflenichaft zu gründen, Tann als geicheitert angejehen werben.

Nach der „Deenas Sapo” fehlte es an ber nötigen Eintracht unter den Genofjen. Zuerſt zeigte ſich die Uneinigfeit bei der Viehwiriſchaft. Anfangs wurden jedem Mitgliede der Genoffenicaft zwei Kühe zugeteilt, der allgemeinen Wirtfcaft verblieben 40; als e& aber bem Leiter der Milchwiriſchaft gut zu gehen begann, regte ſich der Neid bei ben Mebrigen, und auch die fehten 40 Küfe mußten verteilt werden. Gegenwärtig i die Zwietradjt ſhon fo weit gebiehen, daß bereits alle Felder, die nach dem Statut gemeinfchaftlic, bearbeitet werden folften, in 30 Zeile geteilt find. Nunmehr wirb jeder feinen „Strähmel“ pflägen und eggen.

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7.

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Natürlich Tann man babe nicht mehe auf ſolche Erträge rechnen. wie bei gemeinfchaftlicher Wirtfehaft. Die „Deenas Sapa“ meint, daß die Bauern vieffeicht auch jo durchlommen werden, da jeder für 27 Lofftellen Aders Hand nebft den dazu gehörigen Wiefen und MWeideplägen nicht mehr als co. TO Rbl. zu zahlen Hat. Dabei fei aber nicht auber Acht zu laſſen, dab bei fofcher Wirtfejaft nict nur bie Einnahmen finten, fonbern auch mehr Anfäffe zu Streit entftehen müffen und bab darüber ber ganze Zeilhaberverband leicht aus dem Leim gehen lann. Das Blatt rät daher, die „Strägmel” im Frühjahr wieder eingehen zu laſen.

Die „Rig. Roc.” weift dem gegenüber darauf bin, dab gerabe in der Sandwvirtiaft ein genoffenjgjaftlicher Betrieb mur profperirt hat, wenn an der Spige ein Mann ftand, deſſen Autorität ſich alle Glieder willig fügten. „Wer die Mikgunit, die Redtbaberei und das Mißtrauen in den Rachbar fennt, das für unſere Bauern, wie für den Bauer über: Haupt charatieriſtiſch iſt, der mul; daran zweifeln, ba Die wohlgemeinten Wünfche für eine baldige Veilegung der Streitigfeiten wirtlich alle Differ zengen aubgleichen werben. Diefe find vielmehe einssteils in dem bäuer« lichen Charafter überhaupt, andernteils in der wirticaftlichen Eigenart des Aderbaus begründet.”

Dez. Der kurländiſche Gouverneur erläßt für Kurland eine mit der vom ejtlänbifchen Gouverneur unter dem 12. Dez. veröffentlichten ibentiiche Verordnung über Verfammlungen an öffentlichen und privaten Orten.

Eine ftaatlihe öffentliche Telephonverbindung zwiſchen Riga und Mitau wird dem Verkehr übergeben.

. Dez. Riga. Stadtverordnetenverfammlung. Vom Stadtamt war ein Budgetentwurf vorgelegt worden, der in Einnahmen und Ausgaben mit 4,180,800 Rbl. balancirte. Das Budget wird mit einigen Aenderungen afzeptirt, unter denen bie durch die Hafenfteuerreform hervorgerufenen bebeutenb find. Die zu Ouniten ber Stadt, der Krone und des Börfenfomites erhobenen Abgaben von ber Schifffahrt werden im nächſten Jahr durch die Krons» Pubjteuer eriept werden, aus ber die Krone der Stadt und bem Börfentomite ihre Ausgaben für den Unterhalt ber Xafenanfagen erftatten wollte. Daraufhin hatte das Stadtamt für Hafenzwecke 353,000 R. ins Budget geftellt, es muß aber jegt mitteilen, daß bie unter dem Vorfig des Gehilfen des Finanzminifters Kowa— lewsfi tagende Hafenfteuerfommifjion der Stabtverwaltung im Ganzen für Nemonte und Unterhalt ber Hafenanlagen nur 128,996 Rbl. zugebilligt hat, wozu bedingungsweiſe,

ss altiſche Chronit 1001.

d. h. falls ſich die rigaſche Hafenbauverwaltung damit ein- verftanden erklärt, für verſchiedene Pflafterungs: und Baggers arbeiten nod) 53,400 Rbl. fommen. Die Stabtverorbneten- verfammlung beſchließt, alle über die Bewilligungen der Hafeniteuerfommilfion Hinausgehenden Arbeiten am Hafen aus bem Nusgabenbudget zu ftreihen. Es wird ferner beſchloſſen, den Bau der Schmaljpurbahn Smilten-Hahnaſch durch Anfauf von Aktien im Werte von 5000 bl. zu fördern.

17. Dez. Der Eisbrecher, der für die Kommunikation zwiſchen Defel und dem Feſtlande während ber Sundſperre bejtimmt ift und von der rigafchen Firma Lange und Sohn im Auf- trage ber Defelihen Nitterfhaft gebaut wird, Toll laut Beſchluß der Beionderen Seffion der livländifchen Gouver- nementsregierung in Wegebaujahen den Namen „General Sfurowgow“ erhalten. Die Deſeiſche Nitterihaft hatte den Namen „Baron Uerfüll” im Andenfen an die Verdienjte diefes einftigen Gouverneurs von Pioland in Voriclag gebracht.

Das Arensb. Wogenbl.“ ſchreibt dazu: „Mir möchten bei Wiedergabe biefer Nachricht nur in Erinnerung bringen, daß die Jnitiative zur Beſchaffung des Eisbrechers von der Deſelſchen Ritierſchaft ausger gangen ift, weiche auch bie Indienftitellung und Verwaltung des Dampfers in Händen dat. In früheren Jahrhunderten Haben fc Plettenberg dadurch, daß er den Bauern des Dorfes Koggoma die Verpflichtung auf« erlegte, einen geregelten Verkeht über die Sunbe zu unterhalten (mofür er ihmen Privilegien verlich, die bis Ende des vorigen Jahrhunderts in Araft blicben) und der and in vielen anderen Beziehungen um die Infel Hochverbiente Gampenhaufen für die Berbefferung der Vertehrsmiuel Gervorragende Verdienſte erworben. Die Defelfdien Bauern Haben darum petitionirt, daß dem Eisbrecher der Raıne „General Sfurongom“ gegeben werde. Ob die Jnitiative hierzu von den Bauern ausgegangen, bleibe dahingeſtellt. Durch diefe Namengebung werden den Defelfchen Bauern bie Verbienfte des verftorbenen Gouverneurs um bie Wohljahrt der Bauern in dauerndem Gedächtniß bleiben." Später meldet daſſelde Blatt, daß das Geſuch um die qu. Benennung des Eisbrechers nicht don allen 17 Deſeiſchen Bauergemeinden, ſondern nur von zweien, Sellama und Mohn · Großenhof, eingebradt worden fei.

18. Dez. Die in Irkutsk lebenden Studenten, denen bie Wieder: aufnahme in die Tomsker Univerjität verfagt worden war, hatten um die Aufnahme in andere Univerfitäten nachgeſucht.

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Die die „Sſib. Ch.” berichtet, iſt ihnen vor einigen Tagen eröffnet worden, baß fie in bie Jurjewer Univerfität auf genommen werden Fönnen.

19. Dez. Seine Majeſtät der Kaifer geruht die über den Pator Auguft Weftren-Doll zu Fellin-Köppo wegen der Taufe eines aus einer Miſchehe entfprojienen Kindes verhängte und im Juli 1901 rechlskräftig gewordene, auf Amtsentfegung lautende Strafe auf dem Gnadenwege in Entfernung vom Amt auf ein Jahr zu mildern.

19. Dez. Die Libauſchen Stadtverordnetenwahlen beſchäftigen unausgefegt nicht nur die Lofalprefie, fondern alle baltiſchen Ylätter. Die Gefahr, die dem Fortbeitand einer deutſchen Stadtverwaltung in Libau aus der Spaltung der deutſchen Wahlerſchaft erwädft, wird von der gelammten beutfcen Preſſe betont und die Zuverſicht ausgeiprochen, daß die beiden fid) gegenüberftehenden deutſchen Patieien ſich befinnen und einen Ausgleich der fie jet trennenden Gegenſätze finden würden. „Wenn in Walt und einigen Kleinſtädten die deutſche Wählergruppe, und zwar ohne eigenes Ver— ſchulden, bei den Wahlen unterlegen iſt, Tagt das „Nig. Tobl.“ fo iſt das ſchon ſchmerzlich genug, fann aber immerhin überwunden werden; wenn aber in einer Gtadt von ber Bedeutung Libaus das durch Jahrhunderte ehrenvoll behauptete Regime der deutihen Bevölkerung an nichtigem Perſonenhader ſcheitern follte, fo ift das eine Schmach fonder- gleihen und einfach unerträglich.”

Diefer Perſonenhader wird in der Preſſe beſonders verjchärft durch einen Artifel des rigaſchen Korrefpondenten der deutfchen „St. Pet. Zig.", der das Verfahren des „allgemeinen“ Wahltomites (j. Balt. Chr. vom 19. Rov. d. 3.) vom Standpunft des „alien" Komitds einer abipremenden Kritif unterzieht und den Herren Dregersdorff und Bienemann vorwirft, aus perſonlichen Gründen einen Wechfel in der Stadtverwaltung anzu- ftreben. Iu einem öffentlichen Antwortfchreiben weiſt Herr Nonit. Biener mann dieſe Vorwürfe zurüct, benupt aber gleichyeitig eine von dem Korrer fpondenten der „St. Pet. Zig." gemachte Bemerfung über die Rivalicät des Stabtaupts Adoiphi und des Here Bicnemann in Angelegenheiten des furl. Stabifypothetenverein zu einer Darſtellung über die Vorgänge im Berein, die Herr Adolphi für eine bewußt falfche und trügerifde erflärt. Herr Bienemann wendet ſich an das zuftändige Gericht mit einer Klage.

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Baltifce Chronit 1901.

Damit iſt dieſe Ungelegenfeit vorläufig aus der Deffentlicteit gebracht. Sie Hat natürlich, wie die ganze Thatfache der Spaltung in der deutichen MWählergeuppe, dem „Hilf. Weitn.“ Veranlaffung gegeben, als tonftatiet zu bepeichnen, dah die Bermaltung Libaus von den egoifis ſchen Intereffen eines engiten deuiſchen areiſes geleitet worden fei.

Im der lettiſhen Proffe verlangen nicht nur die ultranationaliftiihen Blätter wie der „Waheds“ und der von dem „Realpolitifer" Weinberg geleitete „Salt. Weitn.”, fondern aud) die von Dr. 9. Patch heraus: gegebene und von Dr. Salit rebigirte „Deenas Sapa" die Prävalenz in der Libauſchen Stadiverordneienverfammmlung für die Seiten. Das Icht: genannte Blatt fereibt (Mr. MI): „Mit uͤnrect blidt die bieher herr- fcjende Partei, die deutfche, auf Die Iettifhe als auf eine minderwertige. Solches ihr Vorurteil erzeugt in unferer Heimat das größte Unheil, c$ ft das Gift, welcher in fogialer Hinficht zerſtört, die geiftige und zeitliche Wohlfahrt in ihrer Entwidelung Jemmt. Menn es auch unter den Leiten verhäftnißmähig weniger wiffenichafttid, Gebilbete giebt, ſo Haben fie doch ſchon zur Genüge bemiefen, dafı ſie ſich ihrem Geifte und Charafter nach ieder Nation, auch der Deutichen, zur Seite ftelfen fönnen. „Doc höher das Herz im Bufen flug dem Bauer, weicher den Kittel trug" Ta nun Gigenfcjaften des Heryens und des Charakters den Wert des Dienicen ausmacien, fo find Die Leiten als vollitändig den anderen Nationen gleich Berechtigte anzufehen und man Hat bei den Wahlen den Stanbpumtt der Gerechtigleit und des Geſehes zu itellen. sten Die Leuen daß Uebergewicht in der Verſammlung haben und das Stadthaupt müßte ein Letie fein. Zu der Spaltung unter den Deutſchen meint die „Deenas Sapa", dab die Letten feine Beranfaffung hätten, ſich für eine der beiden ftreitenden Parteien zu begeiftern.

Etwas gemäßigter drüdt ſich die „Valſs“ des Herm Weber aus, die am fiebften einen Aompromiß mit einer der deutſchen Parteien jehen würde. „ber wenn es auch zu feinem Kompromihz mit einer der beiden Libauſchen Parteien fäme, würden wir dennoch nicht den Leiten den Kat geben, dem Peifpiele Watts zu folgen, wo feins der frügeren Glieder zum Stadtverordneten ermählt wurde. Das wäre cin gefähriiches Experis ment. Libau ift nicht Walt, fondern eine große Handelsſtadt, deren Verwaltung viele Kenntniffe, viel Arbeit und grohe Umſicht erbeiicht. Wohl glauben wir, dab es auch unter den leitiſchen Wählern Männer giebt, die im Stande fein werden. ihren Verpflichtungen in der Gtadtr verorbnetenperfammlung unfichtig nadgutommen. Deſſe nungeachtet würde es der Siadt nicht zum Segen gereiden, wenn aus ihrer Verwaltung gan die Ration ausgeſtoden werden folte, welche fie dis jcht geleitet und dabei einen großen Chat von Kennntniffen und Erfahrungen gelammelt hat.” Giach dem Referat der „Düna-Ztg.”)

20. Dez. Reval. Sitzungen des Nitterihaftlihen Ausſchuſſes. 21. Dez. Dr. Hermann Walter, Arzt der Polarerpedition des

Valtiſche Chronit 1901. 71

Baron Ed. Toll, F auf der Inſel Kotelny der Neuſibiriſchen Infelgruppe.

22. Dez. Der livländifche Vizegonverneur A. Bulygin, der bereits feit dem Auguſt frankheitshalber im Auslande weilt, wird auf fein Geſuch verabichiedet und an feiner Stelle das Glied des Konſeils der Oberpreiverwaltung Staatsrat Rammerherr Alexei Valerianowitih Vellegarde zum livländiſchen Lizer gouverneur ernannt.

23. Dez. Nachdem in den beiden legten Jahren die obrigfeitlihe Genehmigung zur Abhaltung einer Weihnachtsfeier im Felliner Kronsgefängniß nicht zu erholen war, ift, nad) bem „Fell. Anz“, für möglich befunden worden, dieſes Dial eine zu geftatten. Paſtor Michwig hielt den Gefangenen wieber wie in alten Zeiten bei dem brennenden Baum einen Feſt⸗ gottesdienft und verteilte bejcheibene Gaben. Das Verbot der Feier war damit motivirt worden, daß „Beluſtigungen“ im Gefängniß unterjagt feien.

25. Dez. Der „RegAng.“ publigit einen Alerhöchften Bericht an den Finanze minifter, wonach die Bagage der aus dem Auslande fommenden Reiſenden an den Grenzgolfämtern unbedingt der ftrengiten Revifion auf Sontrebande (Drudjacpen] unterzogen werden foll.

26. Dez. Vom Finanzminifterium werben eine Reihe jeitweiliger Beſtimmungen für die Organifation und Cinberufung der Generalverfammlungen und Reviſionslommiſſionen der Aftien- geiellichaften erlaſſen, die bis zur endgiltigen Ausarbeitung md Bromulgirung eines Gefeges über die Aftiengejellfhaften in Kraft fein follen. Durch diefe Beftimmungen werden insbejondere die Rechte der Aftionäre gegenüber ber Ver— waltung ber Gefellichaft feftgeftellt. Es wird verboten, daß anordnende Direktoren von Kreditinftitutionen ober Perſonen, die entipredhende Poſten einnehmen, gleichzeitig anordnende Direktoren in Aftiengefellichaften find.

29. Dez. Meihenftein. Die Stabtverorbnetenwahlen verlaufen friebfid. Von den 23 Gewählten gejören 15 dem bisherigen Beſiande an. Hervorgehoben wird, da zu dem einen Literaten, der feit 1897 in ber Verfammlung figt, zwei weitere hinzugefommen find.

30. Dez, Der „Neg-Ung“ veröffentliht temporäre Negeln für die Organifation ſtudentiſcher Inftitutionen an den höheren

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Baluiſche Chronit 1901.

Lehranſtalten des Miniſteriums ber Vollsaufllärung. Der Obrigleit der Hochſchulen wird nad) ihnen anheimgeftellt, ſtudentiſche Vereine zu geftatten für wiſſenſchaftlich-litteräriſche Vefäftigungen, für Beſchäftigungen mit Künften und Hand- arbeiten und Sport, zum Unterhalt von Thee- und Speije: bäufern und zur Errichtung von Kaſſen (zur gegenfeitigen Hilfe, Vorſchuß- und Sparfaffen, Unterftügungstafien), fowie zur Errichtung von Arbeitsnachweisſtellen für unbemittelte Studenten, von Bibliothefen und Leſeſälen. Alle dieſe Inflitutionen Ünnen ſowohl für die ganze Lehranftalt, als für einzelne Fafultäten, Kurſe und Teile von Kurſen orga- nifirt werden. Die Verfammlungen der Stubenten zur Beratung der Angelegenheiten ihrer SInflitutionen finden nad Rurjen jtatt, immer unter Aufjiht eines Vertreters der Lehrobrigkeit. Geleitet werden die Verhandlungen von den Rurfusälteften, bie bie Obrigfeit der Anjtalt aus je drei von jeber Kurfusverfammlung präfentirten Kandidaten auf ein Jahr wählt. Die Xeltejten vermitteln bie VBezie: Hungen zwiſchen ber Obrigfeit unb den Stubirenden, nehmen an den Verwaltungstommiffionen für die einzelnen Inftitu- tionen teil und wachen u. A. darauf, daß zu den Kurſus— verfammlungen nicht Studenten anderer Kurfe oder Fremde erfdjeinen. Statt ber Kurſusälteſten find Fafultätsäfteite geftattet, wo eine Fakultät nicht mehr als 300 Studenten zählt. Der Leiter der Anftalt Hat das Recht, aud) allgemeine Verfammlungen aller Aelteiten zu gejtatten. Die Tendenz einer genauen Kontrolle der ſtudentiſchen Verfammlungen zieht ſich durch alle Vejlimmungen, daher präfiirt auch der Verwaltung jeder einzelnen Inftitution ein Profeſſor oder DVeamter. Den Termin der Einführung dieſer am 22. Dezember beftätigten Regeln überläht ein Zirkulär bes Minifters der Volksaufklärung den Leitern der Anftalten nach Gutdünken zu beftimmen. Aenderungsvorſchläge fönnen mit Rückſicht auf örtliche Befonderheiten dem Miniſter von den Ruratoren gemacht werden.

31. Dog. Der lipländiiche Gouverneur Generalmajor Paſchtow,

der fein Amt bisher nur jtellvertretend befleibete, wird in demſelben beftätigt.

1902.

1. Jan. Der im Negierungsanzeiger publizirte Bericht bes Finanzminifters über das Neihsbubget für 1902 veranfglagt die Einnahmen auf 1,802,584,482 Rbl., die Ausgaben auf 1,946,571,976 Rbl. Aus dem freien Baarbejtande ber Neichsrentei, alſo durch Kreditoperationen, müſſen demnach 143,987,494 Rbl. der Ausgaben gebedt werden. Die ordentlichen Cinnahmen überfteigen die ordentlichen Aus: gaben um 24,871,001 Rbl., bie zur Dedung eines Teils der mit 170,658,495 Rbl. angenommenen außerorbentlichen Ausgaben verwandt werben follen; die außerorbentliden Einnahmen belaufen fih auf nur 1,8 Mill. Rbl. In feinem ſehr ausführlichen Erpofe jegt der Finanzminifter auseinander, baß die Ausgaben des Ertraordinariums, abgefehen von 5 Mill. zur Entfhädigung von Privatperfonen und Inftitutionen für bie Aufhebung des Propinationsrehts, zum Eifenbahnbau beftimmt ſeien; daß die Mittel dazu durch die Emiffion von Wertpapieren beſchafft werben, deren Kapitalbetrag durd) die Einnahmen aus dem Unternehmen allmählich getilgt wird, ſei ber natürliche Weg. Die Ergebniſſe der Führung des Staatshaushalts im letzten Dezennium feit feinem Amts antritt veranihaulicht der Finanzminifter in einer Meinen Tabelle, nad) der die Schulden des Reiches von 5389 Mill. Rubel auf 6497 Dill. (20,6 pCt.) geftiegen feien, gleich: zeitig aber der Wert der Vermögensanlagen des Reiches allein in Eifenbahnen und ſicheren Schuldforderungen von 2362 Mil. auf 4614 Mil. (95 pCt.) zugenommen Bat. Zu biefem Vermögenszuwads wird nod) bemerkt, daß ber durchſchnittliche Zinsfuß der Staatsanleihen in berfelben Periode von 4,19 pCt. auf 3,86 pCt. gefunfen ift, während das Eifenbahnweien, das 1892 nody einen Zufhuß von 40 Mill. erforderte, 1900 bereits einen Heinen Reingewinn gebracht hat. Der Bericht fonftatirt die Andauer der Geld: tnappheit auf dem internationalen Markt und bie depris mirende Wirkung ber abermaligen Mißernte im Jahre 1901. Der Gelbumlauf ift indeifen feit geordnet: der Baarvorrat an Gold in der Reichsbank und Nentei beträgt 830,1 Mill. Rubel und im Verkehr befinden ſich 694,9 Mill. @ölbeubel,

74

Boltife Chronit 1902.

denen im Ganzen 630 Mill. Rbl. Krebitbillete gegenüber ſtehen; jeber Kreditrubel ift alfo durch faſt 1/2 Rbl. Golb gebedt. Die induftrielle Krifis, deren Entftefung aus ber raſchen Entwidelung bes Fabrikweſens, der ftarfen Spekulation und unwirtſchaftlichen Geihäftsführung in Verbindung mit ber Geldfnappheit und bem plötzlichen Preisfturz erklärt wird, bezeichnet ber Finanzminifter als vorübergehend und in fachlicher Beziehung die Lerbiligung ber Imbuftrie: erzeugniſſe als vorteilhaft; barauf wäre die Schußpolitit ber Regierung gerichtet gewejen nnd es wäre daher infonfequent, Maßnahmen zur fünftlihen Emporfchraubung ber Preife für die Produfte ber Induſtrien zu ergreifen, bie mit jeitweiligen Schwierigkeiten zu fämpfen Haben. Aus dem ftetigen Wachen der Staatseinnahmen in einer fangen Neihe von Jahren ſchließt ber Bericht auf ein ſtetes Wachlen bes Voltswohlftandes, der auch in ber Steigerung bes Verbrauchs gewiſſer Artikel in Kopfquoten zum Ausbrud fomme: von 1893 bis 1900 ift der Verbrauch in ruffifchen Pfunden pro Kopf ber Bevölferung geftiegen: an Thee von 0,73 auf 0,94, Zuder von 8,28 auf 11,20, Baumwoll- maaren von 3,52 auf 4,32, Petroleum von 10,6 auf 13,4, Eifen und Stahl von 25,9 auf 39,6; nur ber Branntwein- konſum weift in der jährlichen Norm von 2Y/e Liter hundert: grädigen Spiritus pro Kopf feine Steigerung auf. Bei bem Mebergang von ber Aderbauftufe bes Wirtſchafts⸗ lebens und von ber Naturalwirtichaft zur Ngrikultur: Deanufafturperiobe und zu dem Syftem ber Geldwirtſcheft treten ftellenweife ungünftige Erſcheinungen zu Tage; in der Notlage einzelner Gegenden ober einzelner Geſellſchafts— gruppen feien aber feine beunruhigende Symptome für das gefammte ruſſiſche Volt zu erbliden.

Die Preffe des In: und Auslandes erlennt an, daß die Staats: einnaßmen und »Ausgaben in den lehten Jahren wirklich günftig belen- eiren. Bon verjciebenen Blättern wird aber beftritten, dah die Zunahme der Staatseinnahmen auf eine gleiche des Vollswohlſtandes fchlichen Iaffc So führt der „Drlomsti Wei an, die höheren Gtantßeinnahmen würden Gervorgerufen zunachſt durch die Einnahmen auß ben Eifenbahnen qmoeitens aus dem Gctränfeverfauf, drittens aus der Forfhvirticaft ; dann erft folgen die Bolleinnahmen, die Zuderafgife (um einige Millionen erhöht),

Valtiſche Chronit 1902. 75

bie Stoatsgemerbeftener (um 3 Mi. erhöht durch Hinzuziehung einiger bisßer nicht befteuerter Unternefmungen) und die Einnahmen aus dem Voftreffort. Der guwaqh beruht alfo nicht auf den Elementen, die für einen Aufſchwung des allgemeinen Wohlftandes fprecien, fondern auf ber Erweiterung ber eigenen Wirtfdaft des Staates, der Kuffaugung von Privatiirtfchaften durch den Staat, wobel die pri. daten Gewinne in ben Stantsjädel fliehen, auf der Verwendung der privaten Einlagen in den Reichsſparkaſſen für die folofjale Wirtſchaft des Staates u fm. Der „Bromyicjlenng Mir” will fi mit der Bemeisführung des Finanzminifters nur einoerftanden erkläten, wenn die Steigerung ber Stoalseinnahmen mit der des Boltsfonfums von Gegenftänden, bie mit indireften Steuern belegt find, parallel ginge. „In Wirflicleit aber fehen wir, daß in derfelben Zeit, wo unfer Budget um 86 pCt. gewadfen ift, der Konfum von Tee mur um 20 pCt. von Buder um 22 pCt., von Baummollerzeugnifien um 25 pCt, von Petroleum um 38 pCt. und ber Konfum von Eifen und Stahl, trotz der grandiojen Bauten im legten Jahrzehnt, taum um 50 pCt. pro Kopf der Bevölferung zugenommen hat. Die Gegenüberftelfung von Zahlen für die Zunahme des Voltstonfums und für das Wachstum des Budgets bemeift, daß das Bubget weit ſchneller als der Vollstonfum mächlt, folglich wird daS Budget nidt auß den Ueberfcüffen des Verbrauchs begaflt, ſondern aus dem vorhandenen BoltSvermögen, das beftändig einen Teil zur Dedung der anmadfenden Stantsbedärfniffe ausigeibet."

1. Jan. An ben RKameralhöfen und Nenteien tritt ein neuer Etat in Kraft, durch ben die Gehaltsverhältniffe der mittleren und niederen Beamtenpoften verbeſſert werben.

3. Jan. Hapial. Bei ben Stabtverorbnetenwahlen werben 25 Stabtverordnete gewählt, die zum weitaus größten Teil der Stabtvertretung ſchon im vorigen Quadriennium angehört hatten. 41 Wähler waren an den Urnen erjdienen, 38 Wahlberechtigte hatten ſich als Kandidaten für das Amt von Stabtverorbneten aufftellen laſſen.

3. Jan. Der „Gelliner Anzeiger" kann auf ein Zbjäßrige Veſtehen zurüdbliden. Die gefammte deutfche baftifche Preffe ſchlieht fid) dem Urteil der „Nord. Big.“ an, daß der „Sell. Any.“ es in befonderem Mafe verftanden habe, die Förderung des Iofalen Sehens zum Mittelpunkt feiner Arbeit zu machen und zugleich doch vollen Anteil zu nehmen an dem Gange des allgemeinen öffentlichen Lebens unferer Heimat, fowie manchen wertvollen Beitrag auch zu feiner Förderung zu ſpenden.“

4. Jan. Die „Windaufhe Zeitung“, ein Wochenblatt, beginnt unter Redaktion des Herausgebers A. Braßholz zu erſcheinen. Sie bringt neben dem deutſchen Tert auch einige Artikel in

ruſſiſcher Sprade.

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5. Jan. Ablauf des Termins für die Einreichung von Daten über die Krugserträge durch bie livländiſchen Nitterguts: befiger an bie mit ber Durchſicht diefer Angaben betraute temporäre Rommiffion. Es find 657 Cingaben für 1403 Krüge gemacht worden. Die Kommiſſion fendet die Ein- gaben den Afzifebeamten und darauf ben Steuerinfpeftoren oder Bauerfommiffaren zur Kontrolle zu.

eine Konferenz der Direftoren der Kommerz

lcriums unter dem Vorſit des Gcheimrats Anopom ſtatt. Die Konferenz ſpricht ſich für die Abſchaffung aller Verſehungs-⸗ eramina und der Abgangsprüfung aus, erflärt für bie Dauer der jähr: lichen Zerien einen Zeitraum von 3 bis 3%/, Monaten wünfenswert, deffen Verteilung auf bie Jahreszeiten nad) den tlimatifchen und andern Verhäftniffen dem Schultonſeil überlafjen bleiben müffe, und verlangt endlich Verminderung der Zahl der Feiertage.

6. Jan. Zu Lais fonftituirt ſich nad) erfolgter minijterieller Beſtätigung ein landwirtſchaftlicher Verein, als Zmeigverein der Kaiferlicen Livlandiſchen Detonomiſchen Sozietät. Zum Präfibenten wird N. v. Stryt Kibbiferw gewählt.

8. Ian. In Riga find die Steuerinfpeftoren des Gouvernements Livland zu einer Konferenz verfammelt worden, auf ber ihnen das Projekt ber Inftruktion für die Scägung der Sandgüter in Livland vorgelegt wurde. Außerdem erklärt der Dirigivende des livländifchen Kontrolhofs Dragnewitih der Konferenz in einem Vortrag, daß und wie die Steuer: infpeftoren an ber Feititellung der Entſchädigung ber. Ritter: gutsbefiger für das Propinationsrecht teilzunehmen haben. Ihre Mitwirfung fei befonders beshalb wünſchenswert, weil einige Gutsbefiger die Erträge ihrer Krüge fichtlid zu hoch angegeben Hätten.

10. Jan. Unter dem Namen „Rigas Garigais Wehſtneſis“ be: ginnt eine von bem Priefter Peter Dahı in Riga Herau gegebene orthodoxe religiös-moraliſche Monatsfchrift zu er- iheinen. Nad) dem vom „Negierungsanzeiger” publisirten Programm barf das Blatt neben obrigfeitlihen und Firchlichen Anzeigen, Etzählungen aus bem Leben ber Heiligen, firhenhiftorifche Artifel und Nefrologe hervorragender Perfönlichkeiten der ruſſiſchen Kirche bringen, ferner Berichte und Korrefpondenzen über Wunder u. a. kirchliche Ange:

Valtiſche Chronif 1902. 77

legenheiten. Auch das wirtſchaftliche und politiſche Leben des In: und Auslandes darf kurz behandelt werben.

10. Jan. Riga. Die Alerhöchfte Genehmigung zum Uebergang der Eöplanade

11

4.

aus der Verwaltung des Ariegsminifteriums in bie Dispofition der Stadt wird gegeben. Auf dem Pla fol ein Mufeum und die Nommerzichule des Vörfenfomites gebaut werden, der Heft erhält Gartenanlagen und einen Paradeplah.

. Jan. In Livfand find die Gemeinden Tuhhalane und Willujt im Sellini hen Kreife und die Gemeinden Großdohn und Kuffen im Wendenfchen Kreiſe durch Verfügen der livlän— diſchen Gouvernementsbehörde für bäuerliche Angelegenheiten in je eine verſchmolzen worden. Die Kuſſenſche Gemeinde war bereits früher mit der Lohdenhofihen vereinigt worden. Gegen die gleichfalls vollzogene Vereinigung der Gemeinden Alt-Suislep und Worrofüll (beides Rronsgüter) im Fellinſchen Kreiſe Hat die Worrofüllidie Gemeinde, nad) Angabe ber „Salala“, beim Minifterium des Innern Proteſt eingelegt. (Vergl. Balt. Chr. I, 151.)

. Jan. Wrensburg. Die Stadtverordnetenwahlen verlaufen friebfi) und ſichern eine Verwaltung der Stabt auf ber bisherigen Grundlage. Bon den 32 neugewählten Stabt- verorbneten haben 18 bereits in der abgelaufenen Wahl- periobe der Verfammlung angehört.

3. Zar. Die Baltifche Bratſiwo hält in Petersburg unter dem Vorſih Gallins

Wraſſtois eine von ca. 40 Vroatſchits befuchte Generalverfammlung zur Velätigung des Budgeis für 1902 ab. Ausgaben und Einnahmen befaneiren nad) demfelßen mit 22,900 Rbl. 74 Kop. Bei den Wahlen wird u. A. in den Ausſchußz U. ©. Budilowitſch neugewählt.

Der vom Rigaihen Bezirksgericht wegen Eröffnung einer „unfonzeffionirten Schule” zu 25 Rbl. Strafe und zum Schliehen ber „Schule” verurteilte Vuchhändler E. Nubolif in Walt (Balt. Chr. V, 16) wird vom Gt. Petersburger Appellhof freigeſprochen.

. Jan. Die Sekretäre der Gouvernementsbehörden für ſtädtiſche Angelegenhelten in Livland Tſchulkow und in Eſtland Feré, und ber furländifche Regierungsrat Fermor werben zu bejtän- digen Gliedern ber rejp. Gpuvernementsbehörben für fäbtiiche Angelegenheiten ernannt. Dadurch wird nad) dem Vorbild der inneren Gouvernements der Einfluß der Regierung

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altiſche Chronit 1902.

in dieſen Behörden derart verſtärkt, daß den drei Vertretern der GSelbftverwaltung: dem Landmarſchall, dem Stadthaupt der Oouvernementsftabt und einem Delegirten ber Stadt: verorbneten-Verfammlung ber legteren, fünf Vertreter ber Regierung gegenüberfichen: der Gouverneur, ber Vijze— gouverneur, ber Chef bes Nameralhofs, der Profureur bes Bezirksgerichts und das beftändige Glied.

14. Jan. Riga. Die Stabtverorbneienverfammlung beſchließt,

die Negierung um bie Uebernahme der Koften bes Unterhalts der Stabtpoligei auf die Krone zu erſuchen. Diefe Koften betragen jährlid) 280,924 Rbl., b. h. 98 Kop. pro Kopf ber Vevölferung (während in Petersburg 69 Kop. Moskau 80, Odeſſa 70, Kiew 74 Kop. auf ben Kopf fommen). Motivirt wird biefes Gefuh durch die finanzielle Lage der Stadt. Notwendige große Unternehmungen, wie bie Wafjerverforgung, Ranalifation, öffentliche Bauten, Pflafterungsarbeiten, Elel- trigitätswerf u. N. erfordern einen außerorbentlichen Aufwand von 18 Di. Rbl., zu deren Verrentung und Amortifation etwa 1 Mill. jährlich nötig wäre. Die erhofften Erträge einiger ber geplanten Unternehmungen werben nit im Ent- fernteften biefe Summe beden fünnen, und durch bie einzige noch zuläffige Erhöhung der beſtehenden Steuerfäge, bei der Immobilien und Pferbefteuer, würde ſich das ftäbtiihe Ein- tommen aud nur um 120,000 Rbl. erhöhen, daher Tann die Stabt nur durd) die in Frage ftehende Entlaftung hoffen, ben unabweislichen Anforderungen bes nädjiten Dezenniums zu entfpreden. Es ift ferner zu berüdfichtigen, daß bie Stabt für den Unterhalt von Kronsinftituten jährlich 397,000 Rbl. zahlt, während die Krone weit über eine Million an Steuern aus ber Stadt bezieht. Endlich dient die Polizei befanntlih nicht allein dem Sicjerheitsdienite, fondern hat eine ganze Reihe gemeinfinatliher Funktionen, die mit dem Stadtwohl bireft nichts zu thun haben.

14. Jan. Der „Reg-Yng” berichtet über die Heoifion der Banergefehgebung-

Ein unter Leitung des damaligen Diniftergebilfen Sfipiagin sulammen geitelter (Fragebogen wurde 1894 den Gounerneuren zur Beratung in Kon ferengen mit Vertretern der örtlichen Verwaltung und anderen Perjonen, die durc) ihre Kenntniffe der Sache nüplich fein könnten, zugefandt. Die eingelaufenen Gutachten wurben 1806 und 1897 ferausgegeben; bie

Waltifce Chronit 1802.

begonnene Verarbeitung biefer Materialien in der Sentralvermallung des Winifteriums des Innern wurde aber bald eingeftellt und im Jahre 1900 auf den Vorſchlag des Minifters des Innern, Sfipjagin, Allerhoöchſt ver- fügt, bie Revifion der Bauergefeggebung derart weiterjuführen, dab nur die Beftimmungen ber Bauergejepgebung, deren Hänge bie Erfahrung geaeigt Hat, geändert werden follten, umd zwar in Meiterentwidelung ber Veftimmungen vom 19. Februar 1801. Zunäcft entwerfen Beamte ber Bentraloerwaltung des Minifterlums des Innern in vier Seftionen 8) für die fommunale Bauerverwaltung ; b) für Die Rutznießung des Aderlandes und die bürgerlichen Rechte der Dorfbewohner; c) für bie tommunale Wirtſchaft der Bauern und d) für das Gemeindegerict Programme zu den einzelnen Teilen ber Gefehgebung, die nad) Beftätigung durch den Minifter des Iunern als Grundlage für die ent ſprech· nden Gefepentwürfe dienen. Die Programme und Gefehentmürfe werden von einer befonderen Rebaktionstommiffion geprüft, dann einem Ronfeil beim Winifterium des Innern unter dem Vorfig des Minifters unterbreitet; enblid) gelangen fie nad) Uebereinfunft mit ben guftändigen Refforts an den Reicsrat und zur Allerhöchſten Begutachtung. Weber ben Gang der Arbeiten in den Seitionen, ber Rebaftionstommilfion und dem Aonfeif ift dem Kaiſer nach Ablauf jedes Halbjahrs, angefangen vom 1. Januar 1902, zu berichten.

15. Ian. Die Januarkonferenz ber Paftore des Jurjewer (Dorpater) Sprengels wird von ca. 30 Teilnehmern befucht. Hervor⸗ zuheben ift ein Vortrag des Miffionsdireftors von Schwark aus Zeipgig über Berechtigung und Notwendigkeit der Be: handlung ber Miffionswiffenichaft als einer befonderen theolo« gifhen Disziplin.

Eröffnung ber internationalen Ausftellung für Fiſcherei und Fiſchzucht in. St. Petersburg, auf der die balliſche Fiſchzucht neben der finländifhen den Chrenplag unter ben ruſſiſchen Ausitellern einnimmt. Als befonders umfangreich und wertvoll werben die Vitrinen der Livländifchen Abteilung ber Kaiſerlichen Nuffiichen Geſellſchaft für Fiſchzucht und Fiſchfang, angeordnet vom Sekretär der Geſellſchaft M. von Zur-Mühlen, und des Herrn N. Kirfch zu Alt-Galis bezeichnet, ferner die ber furländifchen Abteilung ber genannten Gefell: ſchaft und der Teichwirlſchaften von Baron Stael v. Holitein- Neu-Angen, Baron Firds:Leften, Baron Manteuffel-Ragdangen und v. Vorbelius-Ligutten.

„„ Dem livfändifchen Gouvernements-Mäßigfeitsfuratorium find von der Hauptverwaltung ber indireften Steuern und

5 Baltife Chronit 1902.

bes Nrons: Getränfeverfaufs für 1902 nur 20,000 Rbl. angewiejen worden, um 10,000 Rbl. weniger als im vorigen Jahre und um etwa 40,000 Rbl. weniger, als das Kura— torium zu erbitten beabfichtigte.

Wie die „Dünasdtg." Hört, motioirt die Hauptverwaltung bie Herabſehung der Bewilligung damit, daß die Einnafmen von den örtlichen Juftitutionen des Nuratoriums zu geringfügig wären. Es wird in der Tat beobadptet, dab die Unternehmungen der Mäbigfeitsturatorien ſellen das Publilum zu intereſſiren vermögen.

16. Ian. Talfen. Bei den Stadtverordnetenwahlen werden fünf frühere Gtabtverorbnete nicht wiedergewählt. Von den 14 Gewählten find 10 Letten, 4 Deutſche.

17. Jan. Die Verpflichtung ber hohen Krone, in Livland Holz materialien für die Roititationen und für andere Landfchafts- bebürfnife, wie für die Nemonte der Kirchſpielsgebãude, Ins Ntandhaltung der Wege, Bau und Reparatur ber Brüden ıc. von denjenigen Rronsgütern herzugeben, deren Rulturländereien der orthodoren Geiftlichteit zur Nutzung oder den Bauern auf dem Wege ber Parzellirung überlaffen worden find, eine vielumftrittene Verpflichtung ift, wie durch den „Fell. Anz.“ befannt wird, durd einen Ukas bes Dirigirenden Senats vom 31. Juli 1901 sub Nr. 6617 prinzipiell aner: lannt worden.

20. Jan. Der emeritirte Profeffor der praftiichen Theologie, Dr. Ferdinand Hörſchelmann + in Dorpat (Furjem).

21. Ian. Die Rappinſche Gemeindeverwaltung hatte durch zwei Delegirte bei dem Kurator bes Rigaſchen Lehrbezirts gegen bie unrichtige Verteilung von 200 Rol., die die Gemeinde als Subvention für die minijterielle Schule bewilligt hatte, Beſchwerde geführt. Während die Gemeindeverwaltung für ben ebang. iuiheriſchen Neligionsfehrer 150 Rbl. und für den orthodoren Priefter 50 Rbl. beftimmt hatte, waren von der Schulverwaltung jedem je 100 RbL. zugewiefen worden. Ueberdies war ein griechiſch-orthodoxer Schulleiter eingeſeht worden, obwohl bei Gründung der Schule ausbedungen war, baß ber Schulleiter evang.-tutheriihen Vekenntniſſes fein müffe, jo lange die Schule von mehr evang.-lutheriichen, als von griechiſch orthodoren Kindern befucht werde (vergl. Balt. Chr. vom 21. Sept. 1901).

Baltife Chronit 1902. &

Nachdem der Kurator die Veſchwerde in Sachen des Schulleiter zurüdgemiefen und in Bezug auf ben erften Punkt geantwortet hatte, das Gelb fei nad) der Zahl der Unterrichtsftunden verteilt worben, hat die Gemeindeverwals tung, wie ber „Boftimees“ berichtet, eine Bittſchrift in diefer Sade bei dem Minifter der Volfsaufklärung eingereicht.

22. Jan. Zur Beratung der Bebürfniffe ber Landwirtſchaft wirb

von Seiner Majeſtät bem Kaiſer eine befondere Konferenz, beftehend aus den Diniftern der Landwirtſchaft und der Domänen und des Innern, fowie andern Perfonen nad) Allerhöchfter Auswahl, unter dem Vorfig des Finanzminifters niebergefegt. Der Präfident dieſer bejonderen SKonferenz kann Perfonen, beren Meinungsäußerung fih als nüglih erweiſen könnte, zu den Arbeiten der Konferenz mit beratender Stimme heran- ziehen. Die Beſchlüſſe der Konferenz find zu weiterer Direl- tion dem Raifer zu unterbreiten. Zu Mitgliedern der befon- deren Konferenz werden 19 Herren aus dem Reichsrat, dem Senat und den DMinifterien ernannt und der Kanzleidireltor bes Finanzminifters wirkl. Staatsrat Schipow wird mit ber Gejgäftsführung betraut.

Sellin. Stabtverordnetenwahlen. Bon ben 201 Wählern hatten 114 ihre Eintrittsfarten abgeholt. 112 eridienen an ber Wahlurne. Vom allgemeinen Wahltomite waren 28 Kan⸗ didaten (23 Stabtverorbnete, 5 Kandidaten) aufgeftellt worden. Von einer Gruppe Eften war eine gefonberte Lifte aufgeftellt worben, fo daß über 47 Kandidaten ballotirt werden mußten. Wiedergewählt wurden 17 Stabtverorbnete, neugemwählt 6 (lauter Deutfge), die vier Erfagmänner gehörten dem legten Beſtande ber Stadtverorbnetenverfammlung als Glieder an. Die Gewählten erhielten 75 bis 109 Stimmen, die übrigen als Kandidaten aufgeftellten Wähler 52 bis 25; die eftnifche Oppofition ift alfo jehr gering an Zahl. Da ber Wahlkampf vor vier Jahren die Parteien faſt in gleicher Stärke an bie Urne bradte, fo beweift ber biesmalige friebliche Verlauf der Wahlfampagne, daß das bisherige Regime fi) Vertrauen erworben hat.

22. Jan. bis 4. Febr. Reval. Drbinärer Landtag ber eftländifchen

Nitter und Landſchaft. Der Wierländifhe Kreis Reit mit v

Baltifhe Chronit 1902,

49 gegen 10 Stimmen ben Antrag, ben Ritterjhaftshaupt- mann Baron Bubberg zu erjuden, aud für das nächſie Triennium das Amt eines Rilterjhaftshauptmanns anzu⸗ nehmen; nachdem Baron Bubberg die Wiederwahl abgelehnt hatte, wurde Baron Eduard DellingshaufenRattentad zum Nitterichaflspauptmann gewählt. Zu Landräten wurden gewählt: ber dim. Nitterfhaftshpauptmann Baron Bubberg: Wannamois, Graf Igelftrom-Haiba, Baron Stadelberg:Kaflar, dv. Grünewaldt » Orrifaar, Baron Naufh v. Traubenberg- Tednal, v. Lueder-Pallifer und Baron Rofen-Wichterpal. Es wird befchloffen, eine Landes-Wegekommiſſion zu konſti⸗ tuiren, die unter dem Präfidium des Ritterſchaftshaupimanns und eines vom ritterfchaftlihen Ausſchuß zu mählenden Vizepräfidenten aus ben vier Präfidenten der Kreis Wege⸗ ommiffionen, einem ftändigen Gliede und einem Eefretär, die gleichfalls vom ritterichaftlichen Ausſchuß zu wählen find, bejteht. Dieſe Landes:Wegelommiffion foll die Jahresbudgets des Megefapitals zufammenftellen, die laufenden Angelegen: heiten des Wegebaumefens erledigen und bie Realifirung der beftätigten Budgets anordnen. Für die Kreid-Wegekom- miffionen, denen ein Kreisdeputirter als Oberbrüdenbauberr pröfibirt und benen bie Führung der laufenden Angelegen: heiten bes Wegebauweſens obliegt, foll der ritterſchaftliche Ausſchuß Inſtruktionen ausarbeiten. Zur Gagirung des ftändigen Gliedes und des Sefretärs werden 4000 Rbl., für die Rangleibedürfnifie der Kreistommiffionen je 500 Rbl. jährlid) angewiefen. Ferner foll in Wegebauangelegenheiten die Regierung u. A. erfucht werben: um das Recht ber portofreien Korreſpondenz für die Kreis-:Wegefommiffionen, um die Dotirung des Poſtens eines jüngeren Ingenieurs für Eſtland aus den Mitteln des Wegebaufapitals und um bie Verlegung des Wohnſitzes der jüngeren Ingenieure in bie refp. Kreisftäbte. Für die bevorftehende endgiltige Negelung ber Sedjitelfrage wird die Landesvertretung autorifirt, nicht ftrift den Stanbpunft der Bauerverordnung von 1856 und ber ergänzenden Beſtimmungen von 1859 zu vertreten, fondern in Anlehnung an die gegenwärtige thatſächliche Verwendung ber Sedjtelländereien ihre Vor⸗

Baltiffe Chronit 1902. 8

ichläge zu maden. Auf Antrag des Barons Stadelberg- Fähna wird dem ritterjchaftlihen Ausſchuß die Ausarbeitung eines Gefegentwurfes übertragen, nad) bem eine ftänbige ritterfhaftlihe Kommiffion eine Kontrolle über bie Güter- Fibeifommißftiftungen auszuüben hat, insbefondere über bie Einhaltung der Statuten und über die Anlage des Erlöfes aus dem Bauerlandverfauf. Die Unkoften ber Kommiſſion follen durch einen Prozentfag von ben Zinſen ber zu ben Fideilommiſſen gehörigen Baarkapitalien gebedt werben. Die im abgelaufenen Triennium eingegangenen und in Zukunft eingehenden Pöngelder ber Stationshalter follen jur Bildung eines Unterftügungsfonbs für verabichiebete Stationshalter und deren Wittwen verwandt werden. Es wird in Sachen der Nepartition der Kirchengerechtigkeit beichlofjen, Lokalkommiſſionen zu bilden, bie nad) Injtruftionen des ritterfchaftfihen Ausfchuffes bie 1901 zufammengeftellten Repartitionsliften ber Kirchengerechtigfeit zu verifigiren und fie mit den Kirheninventarien aus ber Zeit vor 1832 genau zu vergleichen haben, um feitzuftellen, wie weit bie Quote der gegenwärtigen Belaftung des einzelnen Grunbftüdes ben Normen ber bezeichneten Inventarien entſpricht. Eine Zentralfommiffion Hat wie die Ausarbeitung ber Inſtruk⸗ tionen, fo aud) die fpätere Bearbeitung der von den Lokal— Tommiffionen eingefandten Gntwürfe auszuführen. Die Anträge ber Zentralfommiffion zur Frage ber Erhebung der Kirchengerechtigkeit find vom ritterfchaftlichen Ausfhuß zu erledigen ober dem Landtag vorzulegen. Nach Vortrag eines Schreibens ber livländiſchen Ritterſchaft wurbe bes ſchloſſen, den Ausichluß eines Edelmannes aus ber eftlän- diſchen Ritterſchaft und das bezügliche Aktenmaterial ben ritterſchaftlichen Korporationen mitzuteilen, deren Matrikeln der Ausgeſchloſſene noch angehört, und die Ritterſchaften von Livland, Kurland und Oeſel vice versa um die gleiche Mitteilung zu erſuchen. Auf Grund der von einer beſonderen Kommiſſion ausgearbeiteten, vom Landiage in Einzelnem abgeänderten Inſtruktion zur Reviſion der Ein— ſchätzung bes Waldbodens wird die Probeeinſchäzung bes Waldbodens je eines Kirchſpiels in jedem Kreiſe befetoien.

4 Baltifche Chronit 1902.

Nach Ausführung der Probeeinſchätzung foll ber ritterfhaftlihe Ausſchuß die Inftrultion nochmals prüfen, auf Grund der- felben dann eine Nevifion ber beftehenden Waldeinſchätzung mit Ausfchluß des Waldbobens ber abgeteilten Stellen aus: führen laffen und das Nefultat dem nächſten Landtag vor legen. Falls die emendirte Inſtruktion nicht anwendbar eiſcheinen follte, To hat bie Iegtgenannte Umfhägung zu unterbleiben unb bem Landtag ift ein neues Projeft vorzu- legen. Auf Antrag des Landrats Grafen Igelftrom wird bie 1893 für Schülerftipendien bewilligte Summe von 3000 Rbl. um 7000 Rol. erhöht, wobei aus dieſer Summe nicht allein Schülerftipenbien, fondern auch Mittel zur Sub- ventionirung von häuslichem und privatem Unterricht von Knaben und Mädchen zu erteilen find; die Modalitäten betreffend die Verteilung diefer Summe werden bem ritter- ſchaftlichen Ausſchuß überlaffen. An Subfidien wurden u. A. bewilligt: dem Leiter einer Privatknabenlehranftalt Alfred Jucum in Neval für das nächſte Triennium jährlich 3000 Rbl. (früher 1500 Rbl.); ber Baroneife E. von ber Howen für ihre Privat-Mädchenſchule jährlid 2500 Rbl.; ber Stabt Neval für ben Fall, daß fie an der Petri:Neal: ſchule einen ergänzenden fakultativen lateiniſchen Unterricht einführt und bie Zahl ber Mafen auf acht erhöht, jährlich 500 Rbl. bis zum nächſten ordentlichen Landtag; der Prival- flinit des Dr. v. Rrufenfiiern in Hapfal jährlich 1000 Abl. für das nächſte Triennium ; ber Seftion bes eſtländiſchen litterärifchen Vereins zur Erhaltung einheimiſcher Alterfümer jährlid) 300 Rbl. ftatt ber erbetenen 1000 Rbl.; dem eftländifhen Tandwirtihaftlihen Verein jährlid 2000 Rbl. für das fommende Triennium. Auf ein Gefuh um einen Beitrag zur Inftandfegung der St. Georgstirde in Riga wurde befchloffen, dem ritterſchafllichen Ausſchuß einen Kredit Bis 1000 RbL. zu eröffnen zu eventueller Bewilligung eines Beitrags nach Einziehung näherer Auskünfte.

23. Jan. Aftus des Veterinärinftituts in Jurjew (Dorpat). Im Jahre 1901 traten als Schüler in dieſes Inftitut aus Gymnafien 26, aus Realſchulen 11, aus anderen Mittel: ſchulen 6, aus anderen Veterinäranftalten 2, aus geiſtlichen

Baltiſche Ehronif 1902. 85

Seminaren aber 43 Perfonen ein. Am 1. Yanuar 1902 zählt die Anftalt 311 Schüler, darunter 246 orthoboren, 33 fatholifchen, 21 lutheriſchen, 4 armenifdgregorianifhen Belenntnifjes und 7 Juden.

23. —25. Jan. Deffentlihe Jahresfigungen der Kaiferlichen Liv- ländifhen Oekonomiſchen Sozietät in Jurjew (Dorpat). Im der Eröffnungsrebe bezeichnet der Präfident Landrat M. von Sivers:-NRömershof es als ein Zeugniß von Leiltungsfähigkeit auf wirtfchaftlihem Gebiet in Livland, wenn im verflofenen Jahr mit verftärkten Kräften an der Kultur ber Forſten, der Melioration ber Wieſen u. f. w. gearbeitet worben fei, obwohl die Dürre, ber in Folge ber induftriellen Krifis herrſchende Gelbmangel, bie gefteigerte Konkurrenz feit Eröffe nung ber fibiriihen Bahn und die tief ftehenden Holzpreiſe das Jahr unzweifelhaft zu einem fehr ſchweren gemacht haben. Der Präfident erwähnt in feinem Nüdblid als Projekte ber Regierung auf wirtſchaftlichem Gebiet die Verftärtung bes ſanitär⸗polizeilichen Schutzes, ein Vorflut- und das Fifdherei- gefep und ein Normalflatut für landwirtſchaftliche Ausitel: lungen. Die Sozietät hat 1901 nad dem Anfchluß ber Arbeiter « Unfallverfiherung an bie Rigaſche Gegenfeitige Unfallverfiherungsgefellihaft an einem Statutenentiourf für Invalidität: und Altersverfiherung gearbeitet, eine Engudte in Saden bes recht unentwidelten Veterinärweſens veran- ftaltet und, naddem ihre Bemühungen um die Gründung einer landwirtſchaftlichen Schule befanntlid an ber vom Miniſterium ber Volksaufflärung aufgeitellten Forderung der ruſſiſchen Unterrichtsſprache geſcheitert find, die Belehrung durch Inftruftoren zu fördern gefucht, die u. A. in Heinen landwirtſchaftlichen Vereinen Vorträge halten, natürlich fein ausreichender Erjag für die Schule. Auf ben Gigungen murben Referate und Vorträge gehalten vom Inſpektor Hoffmann - Saud über die Holländerzudten in Livland, Landrat Baron Maydell über die Verhandlungen des Land: wirtſchaftsrates, Profeſſor Happich über die milchwirtſchaftliche Abteilung der balteriologiſchen Station, die in den zwei Jahren ihres Beſtehens bereits über die Oſtſeeprovinzen hinaus in Auſpruch genommen worden iſt, A. von Tobien

Baltife Chronit 1902.

über bie Notwendigkeit einer Neform ber livländiſchen Grundſteuern und das Geſetz vom 4. Juli 1901, A. von Sivers:-Eufetüfl über die Thätigfeit ber Kommilfion zur Hebung ber bäuerlihen Rindviehzucht, U. von ber Brinden- Pebwahlen über die baltiſche Milchwirtſchaft, Graf Berg über Berwäfferungsanlagen in Nord-Italien, Fr. Welbing über Futterrübenbau, Landeskulturinfpeftor Rofenjiand- Wöldife über die Vebeutung der Meteorologie in der Land- wirtſchaft und C. Sponholz über fehlerhafte Wiefenanlagen.

24. Jan. Der Mangel an ausgebildeten Voltsfhullehrern in ben

Ditfeeprovingen hat zur Folge, daß die Lehreritellen häufig Perſonen ohne Atteft über ihre Lehrerqualififation anvertraut werden. Ob biefe Leute auf Grund ihrer Thätigfeit vom Mititärbienft zu befreien find ober nicht, darin herrſchte in den Wehrpflichtslommiſſionen verſchiedene Praxis; in einigen Kreifen wurden fie zum Dienft herangezogen, in anderen nit. Diefe Frage wird jegt durch ein Zirfulär des Mini: fteriums bes Innern vom 31. Dezember 1901 dahin beant: wortet, baß bloß zeitweilig, ohne ben entſprechenden Bildungs: nachweis an ben Volkoſchulen angeftellte Lehrer nicht die im Art. 80 des MWehrpflichtgeieges vorgefehene Vefreiung vom Militärbienft in Anſpruch nehmen können, es jei denn, daß ihnen für ihre „nügliche pädagogiſche Thätigkeit“ dieſes Recht auf Vorſtellung des Diinifteriums der Volksaufflärung Aller: höchſt gewährt wird. Merfonen, die ein Lehramt an einer orthoboren Hilfsichule die zu den Regierungsſchulen zählen befleiden, find vom Eintritt in den Militärdienft zu befreien.

Der „el. Any.” weit darauf hin, ba diefes Birkulär der Schule au Gute fommen fönne, indem eine ganze Reihe halbwüchſiget Burſchen, die ſich Tediglich im Intereſſe der Befreiung vom Wilitärbienft zum Lehrerberuf drängen und hierdurch bewäßrteren Lehefräflen das Vred nehmen, ſich vermutlich anderen Berufsarten zumenben wird.

24. Jan. Jurjew (Dorpat). Eröffnung einer Winterobftausfiellung

im Hanbwerferverein, faft auoſchliehlich von Aepfeln, zur Anbahnung einer fiheren Nomenklatur und zur Feſtſtellung der für die Pflege in unferem Gebiet lohnendſten Sorten.

altiſche Chronk 1902. 87

21 Ausſteller find mit 115 Sorten vertreten, barunter Herr v. Zur-Mühlen mit 32 Sorten, Gärtner Daugull mit 20.

26. und 27. Jan. Neval. Auf die Aufforderung ber Revaler Geſellſchaft praktiſcher Aerzte findet eine Zufammenkunft der Mehrzahl der in Ejtland auf dem flachen Lande und in den Heinen Städten praftifirenden Nerzte ftatt zu gemeinfamer Bethätigung wifjenschaftlicher und kollegialer Intereſſen. Cs werden 14 Vorträge gehalten, außerdem werben Patienten und Präparate demonftrirt, die Heilanftalten bejucht u. ſ. w. Eine jährliche Wiederholung derartiger Sigungen mit ben laudiſchen Kollegen wird von ber Revaler Geſellſchaft geplant.

26. Jan. Das livländifche Konſiſtorium teilt ben Kirchenvorſtänden und Predigern mit, daß der Gouverneur [dburd Schreiben vom 3. Jan. c. sub Nr. 6968] bie Bitte des Konſiſtoriums, ben Rirchipielen die Genehmigung zu ben Kolletten für die Heibenmiffion auf unbegrenzte Zeit zu erteilen, abgeſchlagen und bie früher einzelnen Kirchſpielen auf unbegrenzte Zeit erteilte biesbezüglihe Genehmigung für fortan ungiltig erllärt habe.

Sämmtliche Kirchſpiele Haben mithin alljährlich um die Erlaubniß für die Miffionsfollette beim Gouverneur einzufommen. Das Verbot ber Wiffionstolette für Livland ift auf den Gouverneur Sinomjen zurüd« auführen, ber fie für ungefeplic, erflärte; das abjofute Verbot wurde vom Minifter des Innern dahin abgeſchwächt, dab den Gouverneur die Geftattung der Kollelten anbeimgeftelt wurde. Daraufhin gab bereits der Gouverneur Sinomje einmal einer Reihe von Airchfpielen die under friftete Erlaubnih, während für bie übrigen jührlid die Genehmigung nachgejucht werden muhte,

27. Jan. Fennern. Der Volksihulinipeftor verlangt, nad dem „Poſtimees“, dab ber örtliche Wiäßigfeitsverein „Hallit”, wenn er feine Unterhaltungsabende in einem Schulhauſe abhalten will, ihm alle auf folgen Abenden zum Vortrag kommenden Sadyen, ins Nuffische überfegt, vorfege. Damit werben folde Veranftaltungen im Schulhaufe faft ganz unmöglid) gemacht, denn ben Veteiligten fehlt es an Zeit ober an genügender Beherrihung ber ruſſiſchen Sprade für dieſe zweckloſe Arbeit.

8 Baltiſche Chronik 1902.

28. und 29. Jan. Bauske. Bei den Stadtverordnetenwahlen werden 9 Deutſche und 9 Letten gewählt, zu Erfagmännern 4 Letten. 10 von den Gewählten waren von beiben Parteien aufgeftellt worden.

1. Februar. Im der ‚Rigeſchen Eparchiatzeitung. wird ein Aufſat über die Bedeutung der Pramolflamije in dem baltijden Grenzgebiet veröffentlicht, den ein Smeidtigjennit Aferander Bijärat dem Rigafchen geiftlichen Seminar in Anlab feines 5Ojährigen Beitefens gewidmet Hat.

Bon der Bebeutung der lutheriſchen Nirche für bie Eiten heißt es darin: „Die girche begann biefelbe Rolle zu fpielen, bie anfänglich vie Kilegunden (Dörfer) geipielt, nur mit ganz anderem Gharafter: in ihr unb vor ihr begannen bie Deutſchen dem Volte bie Untermürfigleit gegen ſich beizubringen. Vor den Kirden wurden Schandpfähle aufgeftellt, an denen jeben Sonntag öffentlich bei grohem BollSandrange unbarınbergige Auspeitigung an ungehorfamen Bauern volljogen wurde, die fich gegen ihre Herren vergangen oder Verbrechen gegen frembes Eigentum verübt Hatten. Hier wurden bie veridiebenen Mnorbnungen ber Gutöbejiper verfünbigt, in deren Händen ſich bis vor furger Seit alle Gewalt in ber Gemeinde Longentrirte. Hier gingen Jahrmärkte und Bolfsfefte vor ſich Hier befanden ſich Die Arüge, die mit den giechen in Anpiehungsfraft auf das Wolf tonfurrirten. . . . So gemöhnte ſich das Bolt, auf die Kire als einen Ort der Zerftreuung, der Befriedigung der Schauluſt, des Bergnügens zu fehen. Hauptfählich gelelige Empfindungen zogen & Bierber, nicht religiöfe." Zur Befriedigung Diejer Iepteren hätte fich das Wolf erjt den Yerenfutern amgeichloffen und, als ihnen 1839 die Lerbi dung mit diefen Mllerhöcit verboten murbe, ber griedüfchen Dethodor Die griechiſche Orthodorie im baltiſchen Gebiet bas ift bie Form, in bie ſich die verzweifelte Vollsſeele ergoß. Und darin befteht ihre allgemeine Bedeutung . . wenn es feine gricchiſche Drthodorie gäbe, fo wären bie Eingeborenen 6i8 zum heutigen Tage in ihrer früheren traurigen Sage geblieben, es gübe bei ihnen fein Leben, feine Geiftesbewegung, fie könnten fid) nicht ein Vol nennen, fie Hätten feine Rechte". . .

Unter dem Motto: „Das Bolt, das in der Finſterniß ſaß, bat ein großes Licht gelegen" (Matth. 4, 10), wird dann die Wirkung der griecifchen Drtfodorie auf das Bolt im Gingelnen folgendermaßen begründet : „In der Pramofilamije fand e& (daS Bolt) zum erften Ma von Angeficht zu Angeſicht einem Befenntniß gegenüber, das beftimmte Formen in feinen Gebräuden und einen beftimmten inneren Gehalt in feiner Lehre Hatte. Der orthodore Gottesdienft, fo reich nad, der Geite der äußeren Formen, bifbete einen volftändigen Kontraft zu dem luthe sifcpen, der Trodenfeit und Iufoltsfofigleit athmete. Cr führte das Bolt in eine neue, bisher völlig fremde Melt, eröffnete neue Empfindungen und Vorſtellungen Das Bol hörte, dab er ſich in gleicher Weife wie an

Baltifcje Chroni 1902. so

den einfachen Mann, fo an den machtigſten derrſcher wendet, und darum fand 8 in ihm fchon in ben eriten Zeiten für feine franfe Seele volle Ruhe und Erquicung. Die Predigten, die bei ihm gehalten wurden, gründeten fic, wenn fie aud mandmal nad, der ſprochüchen Seite litten (benn bie erften Prebiger waren ihrer Herkunft nad) meift Ruſſen, bie bie örtlichen Jdiome nicht Tannten), ausfhlicplich auf das Mort Gottes und führten Gedanten und Empfindungen der Hörer finüber in himmliſche Höhen, weit aus diefem fummervollen Leben. Im Suthertum wurde das Wort Gottes am YUnfang der Predigt mehr zur Schau (zur norasm) mien in Folge weſſen fie [Bibelmort und Prebigt] in foldjen Fällen unter einander feinen Zufammenhang Hatten, feine Beziehung. Aber was für ein Unterfejied war ywifcden den ortgodoren und den Iutherifcien Prebigten Hinfichtlich des Inhalts! Während Die Predigten der Zaftoren in der Mehrzahl der Fäle einen anfchuldigenden Charakter trugen, der nicht ielten in biſſiges Schelten überging, zeigten fid) Die Predigten ber ortho» bogen Priefter alS väterliche Unterweifungen über die Gegenflände des Glaubens und ber Sittficleit. Das Voll hörte im orthodoren Gottes: dienſt Worte der Liebe. Es wurde hier gefröftet mit der Hoffnung auf die Gnade Gottes und fein Geift in Frieden gefept durd den Glauben am die Vorfehung des Höchften. Mile daS waren Dinge, die in der Tuterifcgen Kirche foft nie gehört wurden.“ Auch die Borftellung von Gott hat ſich geändert, er erſcheint nicht mehr als der graufame Rächer, fonbern al8 allmädtiger Bater und Bejhüger der Frommen. Daher begann das Wolf wieder zu Fieben und zu boffen: aus zufälligen Gtftafen wurde fein Glaube ein gleihmähiges Streben zu Gott. „Qft das nicht ein Verdienſt der Drthodogie? . . . Dank ihr durchleben wir jegt nicht mehr ftürmifche Erſcheinungen des religiöfen Gefühle, was gewöhnlich eine Apathie für die Dinge höherer Ordnung nach ſich zieht, wie wir das zu Beiten im Schofe des Sutbertums bemerfen. Dant ihr Hören wir jet aud) im Quthertum von Herzliceit erfülte Predigten, gegründet auf das Mort Gottes. Dant ihr Hat ſich bie girche felbit verändert, wurde auß einem Schredgefpenft ein Haus Gottes. Diefe grund Tegenbe Bebeutung erfenmen bie Lertreier des Puthertums felbit der orthodoren Kirche zu. ber, wenn wir fagen wollten, dab die Orthodorie ſqon in Fleiſch und Blut jedes ihrer Velenner gebrungen fei, fo wären wir weit von ber Mahrfeit. Nein, wie daß Luthertum, fo ift auch bie Drtgeborie noch nicht daS nationale Belenntni; der Cingeborenen. Im fie dazu zu maden, muß man Handeln. Und fiehe, wie jefen, wie man auf der und entgegengefepten Seite Handelt. Sauer iſt Die Mühe der dortigen Arbeiter, aber nicht unnüß. Sollen wir, meine Freunde, fölafen, follen wir von ber Ernte fliehen, wenn fie fo groß it?" u.j. w.

Die Pramofilamije zeigte ſich aber auch „als Quelle und Motor ber Kultur überhaupt, wie nad) ber pofitiven, fo auch nad) der negativen Seite." Sie ift natürlich auch) die eigentliche vegranderin ber Schule in den Dftfeeprooingen ; bis zu ihrem Auftreten war die Schule, wenn ſich

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irgendwo eine befand, fein Ort ber Bildung, fondern bloß des Unterrichts im Leſen und Schreiben. „Freilich, mit dem Entftehen ber orthoboren Schulen begannen auf dem Boden der Konkurrenz auch lutheriſche zu etſcheinen, die ſchliehlich bei weitem bie orthodoxen übertrafen, ſowohl an Babl, als am guter Drganiſation. Aber in ihnen blieb der frühere Geift und der frühere Zwed als Pflangftätte mur der Kunde des Leſens und Schreibens zu dienen, und das eines Leſens und Schreibens aus ſchliehlich auf dem Boben des Glaubens. In Folge deffen ftürzte ſich das Voli, das Bildung für Die Aräfte des Geiftes fuchte und zur Ar naherung an Rußland durd) die Kenntniß der ruſſiſchen Sprache ftrebte, in die ortobore Schule." Die Feinde der Pramofflamije aber meinten, dafs durch Die orthobore Schule das Volt ruffifigiet werden follte, und „als Gegengewicht gegen die vermeintliche Rufffigirung wird in bie lutherijchen Schulen ein Geift des Deutfchtums eingeführt und ihre Schüler werden einem ſchmachvollen Progeb der Entnationalifirung unterworfen. ber das nationale Bewußtjein ließ ſich nicht betrügen". . .

Den Unterfejieb zwiſchen den auß lutheriſchen Seminaren und ben aus dem orihoboren heroorgegangenen Lehrern djarafterifiet der Prieiter Widrat folgendermaßen : „Unterrichtet ausfchlichlidh in Irodenen Glaubens» waheheiten und erzogen in Gehorfam gegen die Obrigkeit, hauptfäglid bie Paftoren, und Iosgeläft vom eimatboden durch ben Geift des Deutfeptums, fielften die Erfteren Abtrünnige bar, und im Strudel de Lebens wurden die ſchwäͤcheren von ihnen Eleinmütig, bie ftärferen aber fegten ſich im Dppofition zu den Paftoren unb verloren jeben Glauben; bie Lebteren [bie orthodoren Seminariften] aber, die eine allgemeine und fpegielfe Bildung auf fiberaler Grundlage erhalten Hatten, blieben ihrem Bolfe treu, halten ifre Ideale und thaten ihre Arbeit mit Liebe; dafür Tebte fie aud) das Bolt. Es ift mur ſchade, ba viele von ihnen vergeffen, wer fie aufgezogen fat und ernährt, mämlidh bie orthodore Kirche.“

Auch zur Entftehung einer nationalen Litteratur bei den Eſten und Setten Hat nur bie Pramofflamije den Anftoh gegeben. Hierbei wirft der Priefter aber unmilfürlich doch die Frage auf: Iſt unfere orihobore Litteratur eigentlich umfangreich? und beantwortet fie: „ES it traurig und ſchimpflich zu fagen nicht weit find wir fortgejehritten jeit dem eriten eberfegungsverfudhen ! Die Kraft ift da und daS Vermögen ift da, aber fein Wide, feine Energie. Wir Haben uns hinter bie Varritade der bürgerlichen Gefepe geftelli und bilden uns ein, ba niemand ung anfaffen fönne und unfere Schafe vermirren.”

Weiter wird ausgeführt, wie Ejten und Leiten aud nationales Beruhtfein, wirtfchaftli—en Wohlſtand und pofitiice Einigung mit Hufe land der Pramofjlamije verdanten, durch fie das höchſte Zdcal des ruſſiſchen Voltes kennen gelernt Gaben „in der Heiligfeit de8 Lebens.” Die eftnifcpe und leitiſche nationale Bewegung ermöglichte die Prawofflamije, indem die Eingeborenen, mit dem Moment ihres Uebertritiß frei geworben

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auf religiöfem Gebiet, wo nictS fie nun bebrücle, „fich in ſich felbft vertiefen und ſich ber Entſcheidung der Fragen hingeben konnten, die dort ſich jet gu erfeben begannen." Co entftehen Die jungseftnifche und die jungefettifche Partei im Gegenjap zu der Baltifej-beutfehen. Die erfteren Ötieben ftet8 auf geſeblichem Voden, „während bie lebiere nicht immer torreft war, indem fie mit Beftedungen, Berebungen und lügenhaften Denunziationen operirte. Es fiegen die Jung-Peiten und Eiten und gründen nationale Sitteraturs, Tandwirtfcaftlice, Mufit: und Belang. vereine. „er leitet fie? Entweder ein überzeugter junglettifdjer ober inugeftnifcher Patriot oder aber orthobore Geiftliche und Lehrer.“ Aller dings Bat ſich inzwifcen, meint Wjärat, die Stelung der Priefter ſehr geändert. „ch will fagen, daß jet ſehr menige von uns an der Bewer gung bes Nationalgeiftes Anteil nehmen, es überhaupt feinen giebt, ber diefe Vewegung an einem gegebenen Drt Tenft. Mas bedeutet das, und wird es und auf lange beſchieden jein, abſeits vom Werle zu ftehen ?" Endlich aber ift die Prawofflamije das Mittel geweſen zur Befreiung der Eingeborenen von bem jahrfundertelangen Joch der Anfömmlinge. . . „88 üt befannt, fogt Wiärat —- dalı nach dem Willen Kaifer Aegander I. des Gefegneten die Eingeborenen von der Sklaverei befreit werden mußten, aber in Wirklichteit erfüllte niemand diefen Willen und daher blieben die Eingeborenen in ihrer traurigen Sage bis zur Voltsbewegung zur Prawo · lamije. Der Unierſchied beftand nur darin, daß bis zur Verkündigung des Allerhochſten Aties über die Emanzipation bie Herren des Landes ein durch die Zeit geheifigtes Recht über Leben und Tod der Eingeborenen hatten, nad} diefem Beitpunft aber an Stelle des Rechtes der räuberifche Inftinkt der frügeren Sflavenhalter hervortrat, ein Inſtintt, ber ſich Torgfäftig vor der Regierung verborgen hielt und ſich nötigen Falles mit Gejegparagraphen umgab.“ Die Prawofflamije befreit die Einger borenen von den Graumfamfeiten ber Herren, unter ihrem Einfluß erhalten fie in den Oder Jahren bie neue Bauerverorbnung, danf ihr werben Gemeindegericht und «Verwaltung begründet, fie ift enblich auch die Urheberin der Nevifion des Gouvernements Livland durd den Senateur Manaflein. . .

Eine mit derſelben Gejcjichtöfenntniß; und Wahrheitsliebe abgefaßte Darftellung der Bedeutung der Prawofilawie für die Ditfeeprovinzen hat die „Rigafce Eparchiatzeitung“ auch in Ar. 9 fi. des Jahrgangs 1901 gebracht.

2. Febr. Woldemar Graf Reutern Baron Nolcken wird von ben Kreisverfammlungen zum Stellvertreter bes kurländiſchen Randesbevollmädhtigten gewählt.

5. Febr. Ein Profefior Sfolomjew von der Jurjewſchen Univerfität wird wegen Verleumbung vom Friedensrichter zu 15tägigem Arreft verurteilt. Nad) der Daritellung ber „Peterburgstija

Wedomofti” begann S. im vorigen Semejter mit ber Ueber

Baltifcie Chronit 1902.

nahme der Gynãlologiſchen Klinik das Perſonal berjelben durch feine Befannten aus Moskau zu erfegen. Auch bie Hebamme Sſawialow wurde von ihm entlailen und dabei der Verfchlenderung von Wäſche beihulbigt, eine Beſchuldi—⸗ gung, bie fi) als unwahr erwies.

5. Febr. Jurjew (Dorpat). Von der 2. Kriminalabteilung bes

Nigafhen Bezirksgerichts wird ein Prozeß gegen ben Paftor zu Bartholomät Propit Gielemann wegen Haltens einer gelegwibrigen „Schule“ verhandelt. Der Thatbeftand ift, daß Baftor Sielemann feit einigen Jahren A—6 Penfionäre verſchiedenen Alters aufgenommen hat, die in ber Schule nicht gut vorwärts gefommen waren, und nun von ihm, einer Gouvernante und einem Lehrer unterrichtet wurben, wobei auf ihre Geſundheit, ihre Fähigkeiten und den von ben Knaben zu ermählenden Beruf möglichſt Nüdficht genommen wurde. Der Volkoſchulinſpektor Beldjugin, der als Zeuge im Prozeß auftrat, fann über die angebliche Schule nur von Hörenfagen Ausfage machen. Die Verteidigung wies nad), daß Paftor ©. das Recht gehabt habe, feine Penfionäre zu Haufe unterrichten zu lafen, um fo mehr als im Paſtorat Bartholomäi feine Kronsichulen feien; es handelte fid) ferner nur um Privatitunden, unb bie Anficht bes Volkoſchulinſpektors über den Begriff ber Schule, die auch aus brei einzelnen Kindern in drei befonderen Zimmern beftehen fönne, fönne nicht geteilt werben. Trogdem verurteilte das Gericht Paſtor S. zu 5 Rbl. Strafe und zur Schließung ber „Schule“.

„Eine vom deutſchen Wohlthätigkeitsverein in Reval im Namen der reichsdeutſchen Kolonie beim Miniſterium der Volksauftlãärung eingereichte Bittſchrift um Genehmigung einer Schule mit deutſcher Unterrichtsſprache für deutſche Reichsangehörige iſt vom Miniſterium dahin beſchieden worden, daß die Schule eröffnet werden kann. Sie ſoll den Typus eines Progymnaſiums haben und unterſteht der Aufſicht der Verwaltung des Lehrbezirls. Die Eröffnung ſoll ſchon im Auguſt d. J. erfolgen. („Rev. Veob.“)

6. Febr. Libau. Stadtverordnetenwahlen. Die beiden beutichen

Parteien Hatten ſich in lepter Stunde auf eine gemeinfame

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Randibatenlifte geeinigt und 39 Deutfche, 8 Zetten, 4 Ruſſen und 4 Polen auf biefelbe gefeßt. Das fogenannte Lettifch- ruffifch-polnifche eigentlich bloß lettiſche Komité hatte 66 Kandidaten aufgejtellt, weitaus Leiten und feinen einzigen Deutjchen. Die Wahlbeteiligung war entiprehend ber vor hergehenden Agitation eine enorm rege: von ca. 1100 Wahl- berechtigten erſchienen über 900 an der Urne. Die Kräfte waren ziemlich gleich verteilt, die Lifte ber deutſchen Parteien murbe indeß zum weitaus größten Teil durchgeſetzt. Bon 107 Randibaten erhalten 48 abfolute Majorität: 27 Deutfde, 11 Letten, 5 Ruffen, 5 Polen, darunter nur 5 Kandidaten bes lettiſchen Komites. Welche ber beiden ſich gegenübers ftehenden Gruppen über die abfolute Majorität verfügt hat, wird nicht mit Sicherheit feftgeftellt. Die alt:beutiche Partei behauptet, daß die 5 Kandidaten ber Letten durch abtrünnige deutfche Stimmen gewählt worden feien, während von anderer Seite ber Sieg der deutichen Lifte bem Umfiand zugefchrieben wird, daß einem Bruchteil der letliſchen Wähler ber Nadifa- lismus bes lettifhen Romites fo unſympathiſch war, daß er feine Stimme auch zu Gunften von deutſchen Kandidaten abgab.

7. Febr. Die Blätter verzeichnen eine bdiefer Tage zu Stande gefommene Senatsentfheidung, laut ber das in einen Kontrakt über Landverkauf an Bauern aufgenommene Verbot, auf dem verfauften Lande Anftalten zum Getränfeverfauf zu eröffnen ober beren Eröffnung zu geitatten, aud nad) Einführung des Kronsbranntweinmonopols in Kraft bleibt. Auch wenn eine ſolche Beftimmung nad) der Aufhebung der Art. 882 und 892 bes III. Bd. des Provinzialredts bie den Nittergutsbefigern das ausfchließlihe Recht auf den Verkauf von Branntwein außerhalb der ſtädtiſchen Anficde- kungen gewährten in Landkaufkontrakte aufgenommen find, bleiben fie bindend für die Käufer und ihre Rechtsnachfolger.

9. Febr. Jurjew (Dorpat). Stabtverorbnetenwahlen. Das deutſche und das eftnifche Wahlkomité hatten ſich auf eine gemeinfame Liſte geeinigt, die mit großer Diajorität durchgeht. Von 1162 Wahlberechtigten beteiligen fid 771 an ber Wahl. Auf bie 60 Kandidaten der gemeinjamen Lifte entfallen 600 bis 700

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Stimmen; eine eſtniſche Minorität erhält für ihre Kandidaten ca. 100 Stimmen.

10. Dey. Der „Reg Un.” publizitt ein am 17. Deyember v. J. Allerhöchſt beftätigtes Neihsratsgutachten, dem zufolge bie beftändigen Glieber der Gouvernementsbehörben für ſtädtiſche Angelegenheiten in Livland und Eftland in allen befonderen Seifionen der beir. Gouvernementsregierung Sig und Stimme erhalten. Gleichzeitig wird dem Landmarichall von Defel das gleiche Recht für die Verhandlungen in biefen Seſſionen, die land: und ritterihaftlide Angelegenheiten des Oeſelſchen Kreifes betreffen, erteilt ; doch foll fein Nichterſcheinen bie Eröffnung der Verhandlungen nicht verzögern.

13. Febr. Die ejtländifhe Ober-Bauerſchulkommiſſion hat fih an die Verwaltung des Lehrbezits mit dem Erfucen gewandt, eine gefeplihe Feitlegung der Strafen für den Nichtbeſuch des Nepetitionsunterrichts, ber eine recht große Bedeutung für die Volksbildung beanſpruchen fann, veranlaffen zu wollen. WR. Weftn.“)

„„ Die Appellationsflage des zu 11/. Jahren Arreſtanten- tompagnie (dem niedrigiten in Frage fommenden Strafmah) verurteilten ehemaligen Oefelihen Bauerkommiſſars und Kreischefs Kaflapfi wird bei der Appellationsabteilung des Senats verhandelt. K. bemüht fid) in feiner Appellations: ſchrift nachzuweifen, daß er den „Intriguen“ feiner perfönlichen Feinde und derjenigen Bevölkerungsſchichten, bie mit ber Neform ber Verwaltung der Oſtſeeprovinzen unzufrieden find, zum Opfer gefallen ſei Gemäß dem Autrage des Gehilfen des Oberprofureurs erfannte die Appellationsabteilung des Senats auf Verwerfung ber Appellation.

13. Febr. Der „Pribalt. Krai" referirt über den Vortrag eines Lehrers S. A. Solotarem in einem Rigafcgen ruffiichen Verein über die Nöte der niederen und mittleren Schule im Oftfeegebiet. Rach offiziellen von dem Bortrar genden benupten Angaben betrug die Zahl der Schulen im Jahre 1886 3209 mit 180,350 Lernenden im Jahre 1898 war fie auf 2855 mit 144,631 Lernenden zurüdgegangen. Zm erftgenannten Jahr nahm Sin: land nach den Erfolgen der Schulbildung im Vergleich) mit den übrigen Goupernements des ruſſiſchen Reiches die erſte Stelle ein, im Jahre 1898 bie achie. Diefer Rückgang wird darauf zurüdgeführt, ba mit dem uebergang der Vollsſchulen in die Lchrbegielsverwaltung bas Intereffe

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der örtlichen Vevöllerung für bie Schule aufförte, die Landſchulbehörden nicht mehr über dem obligatorifcjen Befuch ber Schule dur) die Schule pflichtigen Ainder machten und daS ben Repierungsinfpeltoren überlichen, die troß ihrer beträchtlichen Zahl (22; nicht darauf Acht haben Fönnen, da burchfenitlich auf jeden 100-125 Säulen kommen. Die Dinge, unter denen das Schulmwefen im Oftfeegebiet leidet, find nat) Anficht Solotarens außer dem Mangel an Schulen und. ihrer Ucberfüllung ungeeignete Gebäude, der Kampf verfciebener fogialer Elemente, die ungenügende Ausbildung ber Schrer, ber Purcaufratiemus. IS die Peft in der örtlichen Schule wird das Pineintragen von Elementen in fie begeichnet, Die unvereinbar find mit der diretien Aufgebe der Pädagogif. Der Vortragende befpricht die Handhabung bes Geſehes. nach dem in den Sandichulen die NeichSiprache erft im dritten Sejuljahe ais Unter« ritsipradje angewandt werben foll. Diejes Gefeh werde fehr vericieben tommentirt und in einigen Schulen werbe bereit8 im erften Jahr ruſſiſch unterrichtet.

Der Vortragende entwirft alſo ein ziemlich trübes Bild vom Zuftand des hieſigen Schulweſens, „daS durchaus nicht auf der Höhe fteht, auf der «8 bei normalem ang feiner Entwictelung ftehen mühe.“ Doh daran Verhältnifie, die mit Pädagogif nichts zu ihun haben, ſchuld feien, foll Solotarm befonders überzeugend durch den Vergleich der Ente mitehung der Hiefigen Schule mit der in Zentral«:Rufland nachgemiefen Haben; für die grohe Mehrzahl der hiefigen Bevölferung bedurfte es einer derartigen Veweisführung wohl nicht.

14. Febr. Der Minifter ber BollSaufflärung Generaladjutant Wannowfli ordnet die Ausichlichung von ca. 400 Studenten der Mosfauer Umiverfität an, die am 9. Februar in der Univerfität demonftrirt Hatten. Sie waren in verfchiebene Näume des Univerfitätsgebäudes eingedrungen, hatten Thüren und Fenfter demolict, Lieder gelungen, rote Fahnen aus den Fenſtern gehängt, insbefondere auch die Privatwoßnung eines Dozenten geplündert, bis fie durch Militär und Poligei ohne befonderen Widerſtand verhaftet und in bie Manege gelperrt wurden. Abgeſehen von der Ausichlichung aus der Unioerfität werden fie nad) dem allgemeinen Geſeh beitraft.

15. Gebr. Friedrichſtadt. Bei den Stabiverordnetenwahlen werben außer einem Ruſſen lauter Letten gewählt. In die Wähler: lite waren 109 Perfonen aufgenommen, darunter 72 Letten, 4 Auffen, 3 Polen und 30 Deuſche; die Beteiligung an ber Wahl war eine fehr rege bei ber Hauptwahl wurden 84 Stimmen abgegeben, bie Agitation vorher noch reger gewefen. Die Stadtverorbnetenverfammlung bejtand bisher aus 12 Leiten, 5 Deutſchen, 2 Rufen und 2 vom Gouver: neur defignirten Juben; das Stabthaupt war ein Deutjcher,

Baltiſche Chronik 1902.

bie beiden Stadträte waren Letten, ber Stadiſekretär ein Deutſcher.

Wolmar erfreute ſich in ben legten vier Jahren nad Verdrängung bes deutſchen Elements einer rein leitiſchen Stadtvertretung; bei ben diesjährigen Wahlen fpalteten ſich bie lettiſchen Wähler in eine gemäßigte und eine rabifale Gruppe, von denen die erſte die Oberhand gewann und ſechs Vertreter des Deutfchtums in die Stabtverorbneten- verfammlung wählte.

16. Febr. Walk. Bei der Wahl des Stadtamts zeigt fih eine

entſchiedene gegenfeitige Animofität bei den eftnifhen und lettiſchen Stabtverordneten. Jede Nationalität Hat je zwölf Site, die fünf Ruſſen geben ben Ausſchlag, und zwar zu Gunften der Eften, die fih hier wie im Allgemeinen in ihren Anfprüden auf Teilnahme am Regiment bisher maß- voller zeigen als bie Letten. Zum StadtHaupt wird ein Ejte Märtfon gewählt, zu Stabträten ein Ejte und ein Ruſſe.

Rad) dem „Walt. Anz.“ hat daS für die Letten ungünftige Wehl. zefultat feinen Grund darin, daß bie Iettiichen Führer bei den Stadt: verordnetenwahlen bie tüchtigften Verireter der lettifcen Nationalität von der Wahl ausgechloffen Hatten, und zwat, weil fie ber früheren Stadt - verwaltung, in ber aud daß deutſche Element vertreten war, angehört Hatten!

16. Febr. Der „Reg«Yng." veröffentlicht eine Mitteilung über cine bemerlens«

werte Ausichreitung von Sektirern, die im Dorje Pawlorfi, areis Sfumg des Goubernemenis Chartom, am 16. Sept. v. 3. in einer Anzahl von mehr als 100 Perfonen mar) Vertreibung der Poligei eine orthodore airche ftürmten und den Alter, fämmtliche Yeiligenbilder und Aüdiengeräte zer» bracen und gerftörten. Bei der zweiten Kirche, zu ber fidh nun wandten, verprügelten fie den Prieiter und feine Begleiter, wurden aber an ber Demolizung der Kirde durch Die ortpodege Vauerſchaft verhindert, die ingwifchen aufgeboten worden mar und der Geftirer nach erbilteriem Widerftande Herr wurde; einer von den Seltirern erlag om nächten Tage feinen Zerlepungen, 42 wurden verwundet, Der Prozeh gegen 68 ange - Hagte Seltirer wurbe vor bem Charfower Gerichtsßof unter Hingugiehung von Repräfentanten der Stände und Husfchlub der Deffentlicheit ver» Yanbelt ; 46 Angeklagte wurden zum Berluft aller giechte und zu Zwangs- arbeit auf 1 bis 15 Jahre verurteilt, 3 zu adıtmonatiger Yaft; mei murden außgefhieden und 17 freigeſprochen Der Gerichtshof beichloh, für 30 Perfonen um die Umwandlung der Strafe von Zwangsarbeit in Zwangsanfiebfung bei Seiner Mojejtät nachyufucen.

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19. Febr. Pernau. Die Stabtverorbneten beſchließen, über bie Verfügung des Gouverneurs, daß die Stadt dem Poftreffort Arbeiter zum Auf und Abladen der Poftpadete zu ftellen und biefe mit befonberen Wagen zu befördern habe, beim Senat Beſchwerde zu führen.

20. Febr. Cine Konferenz der Minifter des Junern, ber Vollsaufklarung und der Juftig und des Oberprofureurs des Hg. Synods befchlicht die Heraus« gabe der in St. Petersburg erfheinenden Zeitung „Roffija“ vollftändig zu verbieten.

21. Febr. Auf Anorbnung des Minifteriums der Voltsauftlärung wird in allen Schulen der 50jährige Todestag des ruſſiſchen Dichters Gogol mit Feſtakten gefeiert. Auch die ruſſiſche Geſellſchaft in ben Städten der Oftfeeprovinzen vereinigt ſich zu feftlichen Verfammlungen mit Anſprachen, Vorträgen ꝛc.

In Riga erſcheinen auf bem Aktus im ruffifcen A lubhaufe „Ulei” von fremdſprachigen Inititutionen Deputationen des rigafchen beutfchen Digptervereing und der Zeitung „Deenas Lapa“. Die Befriedigung des „Rh. Weſtn.“ über bie von ben fremden Nationalitäten dargebradhten Huldigungen wird durch den „Prib. rat“ gedämpft, ber darauf auf - mertſam macht, dab dieſe Huldigungen nicht dem Ruffen, ſondern dem großen Dichter gelten ſollten.

» » Jurjew (Dorpat). Die Livländifche Abteilung der Kaifer- lichen Geſellſchaft für Fiſchzucht und Fiſchfang konſtatirt auf ihrer Jahresverſammlung ihren erfolgreichen Anteil an der internationalen Ausſtellung in Petersburg und beſchließt eine bebeutende Grweiterung der Fiſchanſtalt in Jurjew (Dorpat) in ber von der Stadt zu diefem Zweck angebotenen Mühle am Malzmühlenteich. Zur Leitung der Anftalt wird ber befannte Fiſchzüchter X. Kirſch aus Alt-Salis berufen. Zum Präfidenten des Vereins wird an Stelle bes zurüdtretenden Barons Viktor von Stadelberg-Carbis Herr R. von Liphart- Rathshof gewählt.

» Xiban. Für die Nahwahlen werden von bem beiden vereinigten deutſchen Romites und dem lettiſchen je 18 Kan— bibaten aufgeftellt. Auf ber beutichen Lifte befinden ſich außer ben bei der Hauptwahl unterlegenen, zur altdeutſchen Gruppe gehörenden, fieben neue Kandibaten, von benen vier von bem allgemeinen, brei von dem beutichen Komité nominirt find. Das lettifhe Romits unterftügt biesmal zwei deutſche

vor

os valuſce Chronit 1002.

Kandidaten bes allgemeinen Komilés, das ſeinerſeits zwei lettiſche rabifale Kandidaten aufgeftellt hat (vereinbarter⸗ maßen?). 10 Kandidaten, ſämmtlich von ber vereinigten beutfchen Lifte, erhalten die abfolute Majorität; fieben werben GStabtverorbnete, drei Erfagmänner; unter ben Unterliegenben befinden fi) die Führer der altdeutfchen Partei.

21. Febr. Der „Fell. Anz.“ berichtet, daß nach einer neueren Verordnung bie Erträge der Wohltbätigleitsoeranftaltungen der örtlichen Polizei übergeben werben müflen und erjt nach der Rüdlieferung ihren Sweden dienftbar gemacht werben dürfen. Der Ertrag des Ieten Armenbazars in Fellin ift demgemäß in natura nebjt der Abredimung nad) Riga hin, und dann nach Fellin zurüdgemandert,

24. Fehr. Die theologiſche Fakultät der Univerfität Jurjew beichlieht dem Begründer und Leiter der Berliner Stadt: miffion Adolf Stöder die Würde eines Ehrendoftors ber Theologie zu verleihen. Der Einfelligfeit der Fafultät ftanden aber andere für fie unüberwinblide Hinderniſſe bei ber Ausführung biefes Beſchluſſes entgegen.

25. Febr. Nach dem Rüdtritt bes Profeffors Grönberg wirb vom Verwaltungsrat bes Rigaſchen Polytehnitums ber Profeſſor Dr. Walden zum Direktor bes Inftituts gewählt.

# n Der Reltor ber Jurjewſchen Univerfität publizirt am ſchwarzen Brett, baf die Vorlefungen und praftifhen Nebungen an der Univerfität bis auf Meiteres filtirt werden.

1. März. Der Paftor zu Schwaneburg Wilhelm Wilde war für die Vollzichung von Amtshandlungen an Perfonen, bie von der orthoboren Kirche reflamirt werden, zur Amtsentfegung verurteilt worden. Diefe Strafe Hat die geſetzliche Folge, daß ber Verurteilte innerhalb dreier Jahre fein geiftliches Amt befleiden darf. Durch einen Allerhöchſten Gnadenalt vom 13. Febr. c. wird dem Paftor Wilde geftattet, ſchon jegt, etwa 10 Monate vor Ablauf der drei Jahre, ein geift- liches Amt zu übernehmen, aber nicht in ben Oftfeeprovingen.

1. Mär. Ein Allerhöchſter Erlaß an ben Finanzminifter ordnet die Emiffion einer ApCt. Anleihe im Rominalbeirage von 181,059,000 Rbl. an zur Realifirung der Rußland von China zu zahlenden Entjhäbigung für die durch die Wirren in China verurjachten Ausgaben. Die Obligationen find auf deutiche Rrichsmart und holländiſche Gulden auszuftellen.

3. März. Auf dem Newſti Profpelt in St. Petersburg werben von einer Gruppe von jungen Lenten drei Verſuche gemacht, Sirahenunruhen herbeizuführen,

Baltiſche Chronik 1902. oo

wobei role Fahnen mit verbrecheriſchen Aufſchriften entfaltet werben. Diefe Verſuche werben durch bie Polizei unterbrüdt und 87 Perfonen verhaftet, die vom Stabtfauptmann zu breimonatigem Arreſt verurteilt werben. 38 von ihnen find Stubirende verſchiedener Hochſchulen, vier Bubörerinnen höherer Kurſe für Frauen.

4. März. Der livländijhe Gouverneur macht durch Bekannt- machung in ber „Livl. Gouv.-Zig.” die mit ber nädjfien Auffiht der unentgeltlihen Volkoleſehallen betrauten Perfonen darauf aufmerfam, daß in dieſen Lejehallen nur Bücher und geitigriften gehalten werben bürfen, bie für fie vom Gelehrten Konſeil des Miniſteriums ber Volksaufflärung approbirt find, unb außerdem bie örtlihen Zeitichriften, bie in Folge Vers ftändigung zwiſchen dem Kurator, dem Gouverneur und bem Eparchialbiſchof als tauglich für fie erachtet werben. Da in einigen Zefehallen nicht in gehöriger Ordnung genehmigte Zeitfehriften kurſiren, weit der Gouverneur nachdrücklich auf diefe Beftimmungen Hin.

6. März. Ein Anſchlag des Neftors am ſchwarzen Brett ber Univerfität Jurjew fündigt für den 8. März bie Wieder— aufnahme der Vorlefungen und praktiſchen Uebungen an ber Univerfität an.

7. März. Die Schliehung des Aiewfchen Polyiechnikums bis zum Ende bes Lehr - jahres wird vom Finangminifter verfügt, da die Studirenden bei ihrer im Januar e. aufgenommenen „Obftru verharren. Der Finanye minifter erfennt dabei an, dafı bie Studenten die Ordnung innerhalb des Iuftitutgebäubes nicht geitört haben und den Profejioren ſtets mit ber ſchuldigen Ehrerbietung begegnet find.

7. März. Durch Vorſchrift vom 9. März c. sub Nr. 6058 ift dem Evang.“luther. Generalkonſiſtorium zur Wahrnehmung des Erforberlihen eröffnet worden, daß Seine Majejtät der Kaifer auf allerunterthänigfien Vortrag des Minifters bes Innern am 7. März c. Allerhöchſt zu befehlen geruht Habe, diefe Andachtsverfammlungen der Lutheraner zu fchliegen.

Darnach ift das Livländiihe Konfiftorium verpflichtet, die gemäß Art. 268 des Gefepes für die evang.-lutheriiche Kirche in Rußland (Ausgabe v. J. 1896) geftatteten Privat andadhtsverfammlungen im Pernauſchen Kreife zu ſchließen und Gefuhen um Abhaltung von Privatandahtsverjamms fungen im genannten Kreiſe fortan feine Folge zu geben (ogl. Balt. Chr. vom 1. Ott. v. J.).

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Baltiſche Chronik 1902.

8.—11. März Reval. Sitzungen des ritterſchaftlichen Ausſchufes.

In Grundlage von Beliebungen des letzten Landtags wurde u. A.beſchloſſen, einen Teil bes Gebaͤudes ber ehemaligen Nitter: und Domſchule der Privatlehranftalt des Herrn Jucum für einen Mietpreis von 800 Rbl. jährlich zu überlaſſen. Zur Prüfung der Gefuche und Anträge auf Bewilligung von Mitteln aus dem vom Landtage für Unterrichtszwecke bewil- ligten Fonds wird eine ftändige Kommiſſion unter einem befonderen Vizepräfidenten fonftituirt. Zum Vizepräſidenten biefer Stipendienfommilfion wurde Landrat Graf Igelftrom- Haiba gewählt und zu Gliedern: von Schulmann-Limmat für die Gtabt Neval, Baron Pilar-Schwarzen für Harrien, Otto v. Grünemaldt jun.-Hadhof für Wierland, v. Benden: dorff-Jendel für Jerwen und von Mohrenſchildt-Soinitz für die Wief.

9. März. Jurjew (Dorpat). Zu Erfagmännern für die Stadt:

verordneten werben die zwölf von dem deutſchen und dem eſtniſchen Wahlfomite gemeinfam aufgeftellten Kandidaten gewählt, bod) erhalten die vier Eften unter ihnen bie meiften Stimmen, fo daß fie die erften vafant werdenden Sitze erhalten. Falls zufällig zuerft vier deutiche Stadtverorbnete ausfcheiben, fo kann deshalb das Verhältniß der Vertreter der verſchiedenen Nationalitäten in der Verfammlung zu Un gunften ber Deutichen in einer Weije verſchoben werben, wie &8 nicht in den SIntentiomen des deutichen Wahltomites lag.

WS Ziel Hatte fid das deutſche Wahltomite nach der „Nordliok. Big.“ eine friebfice Berftändigung mit den Eften geftedt, die geeignet erſchien, die Arbeit für das Gemeinwohl ſicherzuſtellen und vorhandene Gegenfäge nicht weiter zu veridärfen, fondern thunlichſt auszugleichen. „um dieſes Ziel zu erreichen“, jagt das genamute Blatt „hat die im Wahltomits repräfenticte deutſche Wählerfchaft diefes Mal mehr zugeſtanden, als fie nad Schägung der Verhältniſſe hätte durchaus zuge ftegen müffen und als fie natüclid) immer mur nad ihrer Schägung auch ohne Kompromiß hätte erlangen fönnen.“ Im der Hoffnung auf die Ertenntlichteit der Gegenpartei hat demmad; das deutice Wahllomits mehr tonzebirt, als notwendig geweſen wäre.

Mit den Rachwahlen in Jurew iſt die Stadiverorbnein Wahltampagne in den Dftfeeprovingen im Wefentlicen beendet. Wo die Vettifche oder eſtniſche Partei unterlegen mar, wurden regelmäßig Proteite

Baltiffe Chronik 1902. 10

gegen bie Drdnungsmaßigteit ber Wahlen bei ber Gouvernemenfßregierung angebracht, bie aber feine Berüdfictigung fanden. Das nationale Bewuht« fein fhfug, durch die Mahlfämpfe erregt, aud) in ber Preffe höhere Wogen. Außer vom Standpunfte Iofaler Intereſſen wurde bie nationale Frage prinzipiell und für daS game Sand erörtert. Im Januar hatte der leitende Redakteur der „Düna-ätg.” Dr. E. Seraphim unter dem Anonym Speltator einige Artifel in feinem Blatt (Rr. 9, 16, 21) erfcheinen affen, Die übrigens mohl von allen Deuiſchen bereits ertannten [machen Puntte des hiefigen Deutfchtums einer jcharfen Kritit unterzogen und im Mefentlicen wirtfchaftlige Stärkung der Deutichen verlangt. Die Kritif unterfuchte leider nicht, wie weit eigene Verfcjuldung, wie weit der Zwang ber Verhältniſſe bie Zuftände bedingen. Sehr un: glüdlich war 8, die Iettiide Jugend der deutfejen im Allgemeinen und insbefonbere für Die Stellung in nationalen Fragen als Mufter vorzu- führen. Die Speftatorartitel, bie der Berfaffer einer Herausgabe im Separatbrud für würdig Hielt, fanden eine verſtandige Wiberlegung von B. H. in der „Dünasdtg.“ Pr. 47.

Die Ietifche Bewegung in den Städten wurde in ber „Rigafchen Rundihau” (Rr. 51) von einem Herrn A aus Kurland als eine Folge des Aufftrebens des Lenentums bezeichnet. deffen Fleih und Intelfigenz ſich nicht mehr auf den Landbau befränfen laffe. Im Gegenfag zu einem redaktionellen Artitel beffelben Blattes führt A aus, daß nicht ber Ehrgeiz eingelner Führer, nicht blind geleitete Dugenbmenfcen und Nullen, nicht unerlaubte gejchäftfiche Konkurrenz und waghalfige Opera» tionen lettifcer Arebitinftitute die Pofition ber Selten in den Städten geihaffen habe, fondern die Lebensbewegung eines Volles. A will den Leiten nicht nur, wenn er Landbauer bfeibt, achten unb anerfennen, fondern aud) als ftäbtifcjen Bürger. Die Rebaftion der „Rig. Rbfe.“ vertritt die etwas boftrinäre Anfhauung, dab die Strömungen und Kämpfe, bie unfere deutſche Veoöfferung mit den „Reiten“ in Berührung gebracht Haben, in ihrem Weſen und ifrem Grunde ſoziale und nicht nationale find. Ihre Ausführungen über die Bedeutung des Zugeß der getten zur Stadt Taufen auf folgende Säpe hinaus: Das flache Land tan, ofne daß ein allgemeiner Aulturrüdfchritt eintritt, einen fortgefepten Abftrom an Kräften ſowohl der Gutsbefiyer als der Bauern nicht ertragen. Der Bildungsdrang in allen Bevöfferungsicichten, namentlic) aber beim Bauern, droht bei der allgemeinen Unreife unferer Benölferung die ftädtifen Verufsarten zu überfüllen und ein Proletariat in allen Schichten zu erzeugen. Das Aufſtreben der niederen fozialen Elemente zur pofitifchen Macıt bedeutet eine Demofratificung der Bermaltungs- pringipien, für melde unfere Verhältniſſe noch lange nicht reif find, und die fefiehfich nur dayu führen Tann, daß bie Gelbftvermaltung ihr geringes Mob von Selbftändigkeit gegenüber ftärferen Mächten einbüht. Deshalb fieht die „Rig. Rdfch." eine Gefahr für die fopialen Intereffen aler in unferen Stäbten verirefenen Nationalitäten, wenn daß Tettiide Bolkstum

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Baltifcie Chronit 1902,

gu einem bevorrediteten Forberungsbofument in fogialen Dingen geftempelt wird, und verlangt mit Recht bie Belämpfung folder Anfprüdie.

Die Ausführungen des Herrn A werben in ber Iettifchen rabifalen Preffe mablos ausgebeutel, was ihn veranfaßt, in einem neuen rtifel in der „Rig. Rdjch.“ (Nr. 66) das Recht der Deutſchen im Lande [darf au betonen. „Wenn 700 Jahre nicht genügen, um einem Voltsſiamm ein Recht an das Sand zu geben, daß er bewohnt, dann muß bie Welt: gelgicite der Ieyten 7 Jahrhunderte geitricen werden und dann hat auf ber Seite fein Anrecht an baltiſcher Erbe. In nicht wenigen Teilen baftifcgen. Landes waren bie Deutfchen früher als die Letten. Man mag die Sache hiſtoriſch anſehen, oder juriftiid, oder moraliſch oder wie man fonft will, man mag e8 bejubeln oder beflagen der baltifche Deutihe Hat ein Recht Hier zu fein.“

Auſichten, wie fie Herr A in feinem erften Artifel und Dr. Sera phim in feinen Speftatorauffägen äußerten, gaben dem „Balt. Beitn.”, dem „Wahrds“, ben „Peterb. Aijes” ermünfchte Gelegenheit zu anmahenden Kommentaren. Der Ausfall der Sibauer Stabtoerorbnetenwahlen und der Sicdiamiswahlen in Walt brachten den Setten indeb mit der Enttäufchung einige Ernüchterung. Die Haltung des „Balt. Weftn.” wurde gemäßigter, nachdem die Differenzen in nationalpolitiſcher Beziehung zwiſchen dem Herausgeber Weber und dem Nedatteur Meinberg zum Austritt des Septeren aus der Redaftion geführt Hatten (8. März).

Der „Rifhfti Weftnif“, der bei dem Hader oiſchen Deutſchen und Letien nichts zu verlieren Hat, quittiet mit lebhafter Sympathie den Dant eines Selten für bie Entfernung der deutſchen Sahule, wie er in einer Bufcpeift an den „Balt. Weitn.” zum Ausbrud kommt, die erfreut Toms ftatirt, daß „die geiftigen Stlaven des Deutſchtums“ allmählich ausfterben. Der „Riff. Weſtn.“ gefält ſich in der Rolle des erfabenen Schügers und Fürberers des ietliſchen radilalen Nationalismus, er bedauert aud bementfprecienb den Abgang bes Deutſchenhaſſers Weinberg vom „Balt. Beftn.", aber andrerjeits Hat er auch nicht übel Luft, ſich mit den Deutfcen gegen bie Leiten zu verbinden. Bon den Borftandsmahlen für eine gegenfeitige Feuerverſicherungs-Geſellſchaft in Niga, bei denen bie Seiten die Deutfchen herausballotiten wollten, hört er, daß bie Deutfchen auf die Unterftügung der Ruffen rechnen, und fat garnichts dagegen ; nur erinnert er bie deutſchen Kreife daran, wie oft bei ben gegemmärtigen Vergäftniffen gute Beziehungen zur örtlichen roſſiſchen Venölterung für fie notmendig fein würden. „Man fann gewiß nichts gegen Die Herftellung jolcher Beziehungen haben, wenn fie auf das Prinpip der Gegenfeitigteit gegründet find. Zur Entwidelung folder Beziehungen Fönnte Die hieſige beutfäje Preffe nicht wenig beitragen ; aber leider fteft fie in biefer Hinficht nicht immer auf der erforberlichen Höhe und täufct fih nicht felten mit der Hoffnung auf die Möglicpteit eines Rampfes mit zwei Fronten.“

11. März. Eine obligatorifche Verordnung des livl. Gouverneurs

für alle Orte des Gouvernements Livland, bie fi nit im

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Zuftande bes verftärften Schuges befinden, verbietet alle Verfammlungen an öffentlichen und privaten Orten, bie die Ruhe ftören und Demonftrationen irgend welcher Art zum Zwede haben. Auf die erfte Aufforderung der Polizei Hat ſich jede Verfammlung aufzulöfen. Die Verlegung biefer Verordnung wird vom Friebensrichter beftraft.

Nur durch die Strafjanktion unterſcheidet ſich biefe Verordnung im Wefentlihen von ber am 7. Dezember v. J. für die unter verflärkten Schutz geftellten Städte Niga und Jurjew (Dorpat) erlajjenen. (Balt. Chr. 7. Dez. v. I.)

11. März. In St. Petersburg wird der erſte Komgreh ruſſiſchet Gefängniße direftoren und ‚Jufpeftoren eröffnet. Er befcäftigt ſich vorwiegend mit der Frage ber Gefangenenarbeit.

12. März, Cine Mitteibung der Regierung im „Negierungs Anzeiger" über bie Studentenbemonftrationen in Moslau am 9. und 17. Februar c. lonſta- firt, dafs die in den lehlen Jahren von einem gemiffen Teil ber ftubirenden Jugend in den Hochſchulen des Reiches verurfachten Unruhen zu Ende des Jahres 1901 einen offenkundig regierungsfeinblichen Charakter ange« nommen hätten. „In ber Erfenntniß von der Machtlofigteit der Iernenden Jugend ſolche Beftrebungen [Xenderung der Negierungsform] unmittelbar au verwirklichen, fügrten die Leiter der Bewegung, in enger Gemeinfchaft mit den beftehenben revolutionäzen Gruppen und Areifen, eine verbrecheriſche Propaganda in demfelben Geifte unter ber Gefellichaft und den Arbeitern der größeren Städte jowohl mündlich; wie durch die Lerbreitung von verbregerifchen Scpriften. Eines der nädftliegenden Mittel zur Ber Hautbarung ihrer Veſtrebungen fahen die Agitatoren in der Beranftaltung von Strahenbemonitrationen, die in vetſchiedenen Städten verſucht wurden.” Im Ginblid auf den Charakter der Studentendemonftrationen in Moskau am 9. und 17. Februar c. und um den Urhebern berjelben weitere Bros Paganda unmöglich zu machen, follten alle Schuldigen in entfernten Gegenden des Keiches auf mehr ober weniger Tange Zeit unter polizeilicher Aufficht angefiedelt werden. Seine Majeftät der Kaifer befahl indeh nur die Hauptfchuldigen ins Gouvernement Jrkutst zu verbannen, die übrigen mit Gefängnißhaft von 3—8 Monaten zu beftrafen. Demgemaß beftätigte der Minifter des Junern am 7. März die Urteile der auf Grund bes Art. 34 über den ftaatlichen Schutz einberufenen Konferenz über 632 Teils nehmer an den Unruhen in Moslau am 9. uud 17. Zebr.: 95 Perfonen werben auf 2-5 Jahre zur Anſiedlung ins Gouvernement Irkuist vers bannt, 567 Perfonen einer Gefängnißhaft von 3—8 Monaten unterzogen und 6 Perfonen an dem Wohnort ihrer Eltern oder Verwandten unter polizeiliche Aufficht geitellt; die Verhandlung gegen 14 Perfonen wurde niedergeſchlagen Unter den Derurteilten befinden ſich 537 Gtudenten ber Moslauer Univerfität und 55 Aurfiftinnen.

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Baltife Chronit 1902.

Die zu Gefängniöhaft Ierurteilten folten zum größten Teil in das Gefängnih nad) Nrcangelst gebracht werben; wegen des. renitenten und bisgiplinpibrigen Verhaltens der Infaftirten hielt man jpäter ihre Kongentrirung an einem Ort für unthunlich und verteilte fie an ver- ſiedene Gefängniffe über das ganye Reich.

12. März. An ber Jurjewſchen Univerfität werden die Vorlefungen

und praftifhen Uebungen wieder eingejtellt.

28. März. Die Vorlefungen an der St. Wladimir-Univerfität in Nic werden

wieber aufgenommen ; die Studenten des erjten Aurfus aller Faultäten, mit Ausnahme ber Biftorifc>pbilologüichen, werben aber jämmntlich geftrichen.

19. März. Der Finanzminifter giebt im Prinzip feine Einwilli-

gung zum Bau einer Schmalſpurbahn von Niga nad) Alt— Pebalg mit Zweiglinien von Alt-Pebalg nad) Neu-Pebalg und nah Lubahn; die Hauptlinie Alt-Pebalg » Riga ſoll 110 Werft, die Zweiglinie At-Pebalg—Nen-Pebalg 20 Werft und bie Zmeiglinie Alt-Pebalg —Alt-Lubahn 50 Werft lang fein. Das Bahnprojeft ift vom livländiſchen Landrat James Baron Wolff:Robenpois vorgeftellt worden, eine Altiengeſell⸗ ſchaft foll bie Bahn bauen und erpleitiren. Am 7. März war das Projeft von ber Kommilfion für neue Eifenbahnen unter dem Vorfig des Direftors des Eifenbahndepartements Ziegler von Schafihaufen geprüft und ber Bau der beiden Zweiglinien abgelehnt worden, da fie den Güterverkehr von der im Bau befindlichen Bahn Walt » Stodmannshof zum Schaden der Kronslinien Niga-Stodmannshof und Riga-Walk ablenken würden.

22. März. Von ber befonderen Konferenz in Sachen ber Vebürfniffe ber Sand»

wirtfhaft (Walt. Chr. vom 22. Januar d. 2) berichtet der „RegLng.“ über eine Anſprache des Vorfipenden, des Finanzminifters S. I. Wie, die die Grengen ber der Sonferenz geitelten Aufgabe prägifirt. Die direlte Aufgabe ber Konferenz beitehe in ber Mäcung der näctliegenden Bedürfniffe der andwirtfcjoft und ber Ermägung von Mahnafnen, bie unmittelbar das Gedeihen dieſes Gewerbes fördern fonnten. Gewiß werde bie NRonferenz aud; Fragen allgemeinitaatlichen Charafters zu berũhren haben, aber in Betreff diefer wäre e& feiner Anficht nad) nur möglich, Meinungen ber Konferenz dem Alerhöchiten Outachten zu unters breiten." Auch der Miniiter bes Junern Sfipjägin wies darauf Hin, deß Fragen allgemeinftaatlicien Charattcrs von der Konferenz nicht endgültig entfgieben werden fönmten, die Bearbeitung berfelben vielmehr ben zu» ftändigen Nefforts vorbehalten bleiben müßte. Mi der Ausarbeitung des Programms der Irbeiten wurde der Gehilfe des Finangminifters Kowalewsli betraut,

Baltiſche Chronik 1902. 105

Nach den am 22. Märy Allerhöchſt beftätigten Belhlüffen ber Konferenz follen lolale Government» und Areißfomites gebildet werben, die ber befonberen Konferenz Daten und Borfcjläge zu übermitteln Haben. In den Oftfeeprovingen beitehen bie Gouvernementßfomitds unter dem Borjig der Gouverneure aus dem Landmatſchall (Ritterfchaftshauptmann, Landesbevomädjtigten), je einem Kreisdeputirten für jeden Kreis (in Siv« land für den Arensburgichen Kreis dem Deelfgen Sanbmarfchall, in Aurland den Rreismaricällen), dem ftänbigen Gliede der Gounernements- behörde für bäuerliche Angelegenheiten, dem Dirigirenden bes Kameralhofs, der Domänenvermaltung (ivlanb) oder jeines Vertreters, ben Präfidenten der landwiriſchafilichen Vereine und vom Gouverneur oder ber befonberen Konferenz Hinzugezogenen Berfonen. Die Areißtomitss beftehen in Sio« land und Eſtland unter dem Vorſih eines vom Gouverneur im Einver- nehmen mit dem Landmarſchall reſp. Ritterihaftspauptmann defignirten Kreißdeputirten, auf Defel unter dem Borfit des Landmarſchalls. in aut land unter dem ber Kreismarjchälle aus Beamten, bie vom Gouverneur begeichnet, und aus Privatperfonen, die vom Vorfigenbex der Areisfomitsß dazu aufgeforbert werben.

25. März. Nige. Unter bem Vorfig des nad) Niga belegirten Abjutanten bes Präfidenten des Konfeils für Yandelsfgiffahrt Großfürften Alerander Midailowitih, Kapitäns zur See 2. Ranges Beklemiſchew findet eine Konferenz von Vertretern der Regierung, bes Nigaer Börſenkomités und der Rigaſchen Stabtverwaltung in Saden ber Verwaltung ber Rigafchen Hafenbauten ftatt. Es handelt fi darum, ob einige reſp. welche Hafenbauten nad Erjegung ber bisherigen Hafen abgaben burd eine Krons-Tonnen- und Pubfteuer von ben Schiffen und Waaren (f. Balt. Chr. vom 17. Dez. v. 2.) in ber Verwaltung des Börfentomites und ber Stabtver- waltung zu laſſen ober ob alle Hafenanlagen ben Krons— ingenieuren zu überliefern find. Die Frage iſt befonbers wichtig, ba manche Arbeiten, 5. B. Baggerarbeiten nad) bem Eisgang, ihrer Natur nad nicht im Voraus beftimmt werben Tonnen und doch fehneller Entfheibung bedürfen, bie bei den ber Reichsfontrolle unterliegenden Regierungsorganen ſchwer zu erlangen ift. Die Konferenz kommt zu dem Befchluß, für das laufende Jahr 1902 die Verwaltung ber Hafens anlagen auf früherer Grundlage zu belaffen ; verſuchsweiſe bleiben vom Jahre 1903 ab auf 3—5 Jahre bem Börfen- fomite die Baggerarbeiten, bie Inftanbhaltung der Seedämme an ber Dünamündung, bie Verwaltung ber Gebeträhne und

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Baltiſche Ehronit 1902.

bes Schwimmdocks; in ber wirtſchaftlichen Verwaltung ber Stadt follen die auf ihrem Grunde gelegenen Uferbefeftigungen vor ber Stadt und ber Baggerbetrieb in ben Dünaarmen bleiben ; die übrigen vom Vörſenkomité und ber Stadt gegen: wärtig verwalteten hydrotechniſchen Anlagen find ber Ver: maltung bes Chefs der Hafenarbeiten zu übergeben; das Budget für ihre Hafenausgaben legen bie Stadt unb ber Börfentomite ber Krons Hafenbehörde vor, bie nach Bewilli- gung der Mrebite die Ausführung ber Arbeiten durch eines ihrer techniſchen Mitglieder beauffihtigen laſſen kann. Die Beſchlüſſe ber Konferenz erhalten in ber Folge bie erforderliche autoritative Beftätigung.

Für den Uebergang aller Hafenanlagen uud Arbeiten, mit Ausnahme ber vor der Stadt belegenen Uferbefeftigungen in die Verwaltung ber Kronshafenbehörde hatte fih auf der Konferenz der Chef der Hafenarbeiteu Konſtantinow befonders lebhaft ausgefproden. Im Petersburg waren bei ben im a. p. ftattgehabten Verhandlungen über die Rigaſchen Hafen» bauten im Komité für die Verwaltung ber Seehandelshäfen (beim Konfeil für Handelsſchifffahrt) der Gehilfe des Reiche: Eontrolleurs Gorenko und ber Dirigirende ber Abteilung für Handelsihifffahrt Kondewitſch als Gegner bes Vaggerbetriebs durd den Börſenkomité aufgetreten, da „derartige Arbeiten im Hafen nicht zum Nompetenzgebiete der Börſenkomites gehören” (Rig. Handelsarchiv 1902, Heft I); ihnen gegenüber fonnte ber Vertreter bes Vörſenkomites ſich mit Hecht und Erfolg darauf berufen, dab das Fahrwaſſer ber Düna bank den Arbeiten des Börfenfomites von 7 Fuß auf 22—21 Fuß gebracht worden fei; die Düna fei dadurch vor dem Schickſal der meiften ruffiichen Flüfe, zu verſanden, bewahrt worden und die erfolgreichen Bemühungen bes Börfenfomites feien von ber Regierung ftets, zulegt noch bei dem Einbringen des neuen Hafenabgabengefeges vom 8. Juni 1901 hervor gehoben worden.

25. März. Jurjew (Dorpat). Ein Geſuch ber Großen Gilde, bie

„Jurjewſche Bank“ in „Norblivländiiche Bank“ umbenennen zu bürfen, ift ohne Angabe der Gründe vom Finanzminifter abgelehnt worden.

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25. März, Der Rektor ber Jurjewſchen Univerſität zeigt am ſchwarzen Brett an, daß die Vorlefungen und Arbeiten an der Univerfität am 27. März c. wieder beginnen werben.

25. Mär. Die deutſchen Univerfitäten und techniſchen Hochſchulen beginnen bie Aufnahmebedingungen für ruffüide Untertjanen gu veridärfen. Die Igl. Bergafabemie zu Freiburg in Sadjfen fol nad, einer Verfügung des Finangminifters ruſſiſche Staatsangehörige nur dann aufnehmen, wenn fie aufer dem Reifegeugnifi nod) eine Beideinigung über dad an einer ruls ſiſchen Hochichufe beftandene Aonkurrengeramen befiken ober thatfächlich, an einer tecpmifcien Yochihule ifrer Heimat zugelaffen morden find. Deutfche Staatsangehörige werden mit dem Keifegeugniß eines ruſſiſchen Gymnaſiums ohne Weiteres aufgenommen. Auffilcen Staatsangehörige von deutſcher Ajtammung und Wutterfpradie kann diefelbe Vergünftigung vom Retior oder Senat gewährt werben.

26. März. Durch Allerhöchſten Befehl an ben Dirigirenden Senat wirb ber romiſch· latholiſche Biſchef von Wilne, Zwerowicz, vom Amte entfernt. Zum Aufenthaltsort wird ihm die Stadt Twer angemiefen.

In einem Zirtulär am die Geiftlichfeit der Wilnafcen Eparchie, daS weber geheim noch fonfibentielf war, Hatte der Viſchof u. X. geichrieben : „Die [orthodogen] Kirchenichulen find das bebeutenbfte Mittel, um bie Promofjlamije im Weftgebiet zu feftigen. Dieſe Pflangftätten ber religiös füttichen Aufklärung impfen felbft vielen andersgläubigen Kindern (es giebt ſolche Schulen an Orten, wo es feine einzige orthoboge Familie giebt) die Elemente des orthobogrwuffiigen Lebens ein und führen bie junge anderSgläubige Bevölferung unmerklich dem ruffild) + orthodoren Kultus zu. Diefes Ziel der Kirchenſchulen und die Anfhauungen ihrer geiter zeigen zur Coibeng, dab mir «8 hier mit zein Tonfelfionelfen Säulen zu tbun Haben unb doß biefe Schulen als ſoiche von Ratfolifen feinesfals ohne Schädigung ifres Glaubens befudt werden fönnen." In Anbetracht diefes ſchreibt Zweromicg den Geiftlicen feiner Epatchie dor, den Kindern, bie orthodore Kirchenſchulen befucen, und ifren Eltern und Vormündern, wenn alle Warnungen vor dieſem Schulbefuc; fruchtlos bleiben, bie Ablolution und das Abendmahl zu verfagen.

30. März. Dem livländiſchen Gouvernements:Mäßigfeitsturatorium find auf Anſuchen des fivländiihen Gouverneurs von ber Hauptverwaltung bes Kronsgetränteverfaufs nachträglich für 1902 doch noch 10,000 Rbl. bewilligt worden (vgl. Balt. Chronik vom 15. Jan. b. J.)

1. April. Der Bolksfhulinfpeltor für ben Fellinſchen Kreis teilt den örtlichen Schulen mit, daß die „Norblivfändifche Zeitung” ohne obrigleitliche Erlaubniß in öffentlichen Lefegimmern nicht

ausgelegt werben barf. x

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1. April. In Helfingfors beginnen Konferenzen über bie Organifation bes Untereicht8 in der ruſſiſchen Sprache in den Schulen Finnlands, zu denen der Begirlsinfpeltor des Rigaſchen Lehtbezirls N. Seajontſchlowsti als Sachwerſtändiger ablommandirt worden ij

2. April. Der Minifter des Innern Dmitri Sfergejewitic Sfipjagin wirb in St. Pelersburg ermordet.

3. April. Die Bauerunrußen in den Gouvernements Poltaa und Charlom werden unterbrüdt. Die Unruhen hatten Mitte März in ben Areiſen Konftantinograd und Poltawa bes Gouoernements Poltama begonnen, indem bie Baucen ſchaarenweiſe nad) den Gutshöfen zogen und Verpflegung forderten, dann zur Planderung ber Höfe fehritten und endlich auch einige Güter verwüteten und zwei Gutshäufer nieberbronnten. Am 30, Märy Hatte der Gouverneur von Poltama, Bellegarde, bie Rotmendipfeit außer: orbentlicher Wahnahmen erkannt und begab fich mi eifchem Auf gebot an die Drte der Ausichreilungen, die am 3. April im Poliawaſchen enbgiftig unterbrüdt waren, nachdem hier insgefammmt 54 Güter geplündert worden waren. Bei dem Dorfe Komaleıfa hatte das Militär gegen bie plünbernden Bauern vom ber Feuerwaſfe Gebrauch gemacht und drei Perfonen getöbtet. Im Gouvernement Chartom hatte ber Aufftand nom 31. März dis zum 2. April in den Areifen Malfi und Vogoduchon angehalten, wo 28 Güter geplündert wurden, während es dem Gouverneur Fürften Obofenffi gelang, die Ucherfälle auf eima ebenſo viele andere Wiriſchaften zu verhindern. Das energiiche Vorgehen des Fürften Obor tenſti und bie Zuficherung von Strafmilderung für die Reuigen bemirtte, dab die Bauern zur Einficht kamen und daS geraubte Gut vielfach zurüd« lieſerten. Zu Tode geprügelt wurde hier niemand der Bauern, bie Hartnädigiten Wufrührer aber Lörperlicher Züctigung unterworfen, mas die nötige Neaftion bei ben Vauern hervorrief und die Rotwendigfeit befeitigte, zu ſchrofferen Mahnahmen zu greifen nad) Art derer, zu denen bei Romaleıofa geichritten werden muhte.

Bei dem Berhör der am Aufftand beteiligten, feitgenommenen Perfonen wurde feitgeftelt, daf; in den an einander ftoßenden Zeilen der Kreife Poltama und Konftantinograd, wo die mirticaftliche Lage der Bauern in Folge einiger aufeinander folgenden Mißernten nicht ganz befriebigenb ift, eine gegen bie Nepierung gerichtete Propaganda Wurzel gefaht Hatte. Dieſe Propaganda drüdte ſich darin aus, dah unter ben Bauern in großer Anzahl in kleintuſſiſcher Sprache verfahte Broſchüren und andere Publifationen verbregerifchen Inhalts verteilt wurden. Dieje Pubtifationen rufen daS Sanbvolt zur Empörung gegen bie Behörden und zur Deraubung der Guisbeſiher auf. Sowohl die Führer der einzelnen Scharen ber Plünderer als auch die Haupiſchuldigen aus der Zahl der Lehleren find feitgenommen. Desgleicen find auch einige ber an der verbrecherifchen Propaganda unter ben Yaucrn Beteiligten in Haft genommen worden. Rach Umterdrüdung der Uncuhen wurde der Gouverneur von Poltawa, Vellegarde, von feinem Poften abberufen, der

Valuiſche Chronit 1902. 109

Gouverneur von Charfow durch Verleifung bes Wladimirordens 2. Alaffe ausgezeichnet. (Rad) bem „Reg-Anz.")

4. April. Jurjew (Dorpat), Die eſtniſchen Ctabtverorbneten richten eine erfte geſchloſſene Aktion gegen bie Anfchauungen der bisherigen Stadtvertretung, indem fie eine Herabjegung ber Gage des Stadthaupts von 4000 auf 3000 Rbl. und der bes Stabtjefretärs von 3000 auf 2400 Rbl. beantragen; die Anträge werben mit 30 gegen 25, reip. 24 Stimmen abgelehnt, worauf der Etabtverordnete Tönifion Separatvota gegen bie Majoritätsbefhlüffe abgab, benen ſich 20 reip. 18 Stabtverordnete anſchloſſen. Das bisherige Stabthaupt V. von Grewingk wurde mit 50 gegen 5 Stimmen, ber Stabtjefretär A. Schmidt mit 49 gegen 11 Stimmen wieder gewählt.

”» » Zum Minifter des Innern wird ber Minifter-Stants- fefretär für Finnland und Neicsjefretär Wjatſcheſlaw Kon ſtantinowitſch v. Plehwe ernannt, unter vorläufiger Belafjung im Amt des Staatsfelretärs für Finnland. Der neue Minifter Hat feiner Zeit als Vorſihender einer Spedialkom⸗ miffion einen Gefegentwurf über die Neorganijation ber LZandespräftanden und ber Abelsinjtitutionen in den Oftfee: provinzen fertiggeftellt.

Im diefer vom Minifter des Innern J. N. Durnowo niebergejepten Kommilfion für bie Reform der Sandesverfaffungen in ben Dftfeegou« vernements fennzeidmete W. R. v. Plehwe die Situation folgendermaben :

Die Lage der Landesangelegenheiten in den Oftfeeprovingen iſt fo, dal die erfte Anregung der Frage einer vorzunchmenden Reform thats ſachlich ihren Ausgang nimmt aus der den Anſchauungen ber Negierung nicht entiprechenden Züßrung dieſer Angelegenheiten durch den baltifcen Adel. Genaue Unterfuhungen haben ſowohl im Eſtländiſchen als im Liblandiſchen Gouvernement Befonderheiten in ber beftehenben Landes, verfaffung an den Tag gebracht, die ohne offene Verlegung ber Interefien der Gerechtigleit nicht geduldet werden fönmen. Thatjachen, die das beftätigen, ſind nur aligu viel bei der Aritif der materiellen Seite des Praſtandenweſens angeführt worden. Dazu Haben die in ber lehlen Zeit zu Stande gelommenen Reformen auf anderen Gebieten der Verwaltung in beirachtlichem Grade die gutsßerrlich-ftändifche Orbnung gerftört, ihre alten Stůhen erſchütiert und bereitß einen nicht geringen Teil der Landes präftanben und der Landeswiriſchaft in die unmittelbare Verfügung und Verwaltung von Negierungsorganen gebracht unter bloker Teilnahme der ritletſchaftlichen Inftitutionen. Auf diefe Weiſe iſt der Weg zur Reform

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der Inftitutionen ſchon von der Regierung angegeben und es würde kaum vorficptig fein, von dieſem Mege abzugeben, gleichjam ſich rüdmärte zu wenden und bie Organifation ber landesöfonomifchen Verwaltung auf irgend ein Repräfentationspringig mit den Rechten ber Selbftvermaltung aufzubauen. Daß hiehe die Sache thatfächlich in den Händen laſſen die die Regierung zu der Meberzengung von ber Rotwenbigfeit gegenmärtiger Reform geführt Haben. och mehr, wenn bie Regierung fogar von ihren in ber genannten Richtung bereit gethanen Schritten zurüdträte und bei dem Gedanten der Einführung irgend einer örtlichen Lanbichaftligen Selbitverwaltung in den Oftfeeprovingen ftehen bliebe, fo würde ſich diefeß auch als fattifch unausführbar erweifen, benn es giebt dort bißher noch nicht die dazu nötigen Elemente. In ben Ditfeeprovinzen befindet fid) der größte Teil des Candeigentums in den Händen des Mels, ber deshalb aud am meiften an der Landesverwaltung intereffirt ift; im ber legten Zeit find aber auch dort Sandeigentümer aus anderen Ständen, felbft unter den Bauern entitanden. Die eine ober die andere Teilnahme an der örtlichen Selbftverwaltung müßte aud) biefen Elementen Jugemiefen werden . . ., aber bei der abhängigen Sage der Bauern ben Gutäbefipern gegenüber it «8 unmöglich, auf irgend eine aftive Rolle diefer Elemente fetöft in den unterften Organen ber Sanbesvermaltung zu rechnen. Cine ſolche Selbftverwaltung würde an die Grundeind Schlachta auf den Provinzialfanblagen der polniſchen Republif erinnern, mo bie Vertreter dieſer Sanbfojen in ihrer völigen Abhängigkeit von den Magnaten, auf deren Land fie Iebten, bereit waren, ſieis mad} beren Wunfd) zu votiren. Die Güftoriice Erfahrung der Staaten, deren politifche Fehler zu liqui. diren ber ruſſiſchen Regierung zugefallen iſt, muß ihe zur Warnung bienen vor ber Einrichtung einer Verwaltung, für die es feine geeigneten Elemente giebt..." (uRifh. Weitn.“ 1902 Nr. 85.)

Die „Rig. Rundfgau" bemerkte hierzu: „Ein Kommentar zu dem Vorſtehenden erſcheint volllommen überflüfjig, da der Inhalt des Gute achtens auch abgejehen von dem fpegiellen Gegenftande, den es behandelt, mit voller Aarpeit zeigt, auf Grund melder Informationen und in welchem Sinne ber Mann, dem gegenwärtig bie ſchwerſte und verantwort« lichſie Aufgabe in Rußland auferlegt ift, die Kardinalfrage des Berhält: niffes zmifgen Staat8s und Selbftverwaltung zu löſen gedenft. Wir mögten yum Schluß nur noch bemerken, daß ihm bei Abfaffung des obigen Gutachtens bie von ber Sioländildien Hitterfhaft außgearbeitete Grunbiteuerreform nicht befannt jein konnie und bafer auch nicht das Maß der Anerkennung, welche dieſes Werk ber „örtlichen Gelbftoerwal: tung“ an allermahgebendfter Stelle gefunden Hat, und zwar als Mufter der hoͤchſt erreichbaren Geredhtigfeit.”

Am 10. April veifte Minifter von Plehme nad) Mostau und ver- brachte die Dfternacht im Zroize-Sfergiewstichen Mofter. Der Borfteber des Mofters überreichte ihm ein Deiligenbild und der Ardjimandrit Riten hielt eine Anfprade, in der er die bem Minifter beuorftehende ſchwert

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Aufgabe hervorhob uub betonte, er Habe Recht gethan, fich ben Segen dazu auß dem Aofter zu Golen, von bem aus Tmitri Donsfoi ſich den Segen des heitigen Sergius zum Felbzuge gegen Die Talarenhorden gebolt Habe. Und aus dem geiftigen Erbe Dmitri Donstois fei organifd) die ruffifhe Selbftherricaft erwachfen. Darauf begab fid) ber Minifter du furgem Yufentgalt nadı Charfor und Poltama.

Die „Most. Web.“ fogen zur Ernennung Plehwes: „Niemand ertennt bei uns die wahre Urjadhe unfter pfeuboafabemifcjen Unorbnungen fo Mar wie W. N. von Plehwe, welcher unfere moderne revolutionäre Bewegung nicht mur teoretifd) flubirt, fondern auch durch eigene ftaatße männifche Erfehrung fennen gelernt Hat; aus dieſem Grunde fennt aud) niemand befier ais er jene einzig ſicheren Mittel, durch die dieſer Berner gung vor zwanzig Jahren ein Ende gemacht wurde und durch bie fie aud) jegt endgiltig zum Aufhören gebracht werden ann.“

4. April. In Finnland kommt es bei dem erften Refrutirungstermin nach der neuen MWehrpflichtSordnung zu bedeutenden Rubeitörungen. Schon bie vorgefehriebene Promulgation des Wehrpflichtsgeſebes von der Kanzel Hatte eine ganze Heiße von Prebigern abgelehnt, wofür fie mit mehr monatficier Gefaltsentziefung geftraft wurden; bie meiften landlichen und ftädtifchen Kommunen hatten fid) dann aber wiederholt gemeigert, ihre Vertreter für die WepepflihtSfommiffionen zu wählen und waren dafür von den Gouverneuren zu Gelbftrafen verurteilt worden, bie für Landgemeinden 5i8 zu 25,000 Mark, für Stabtgemeinben bis über 40,000 Mark ftiegen. Da die Strafen feinen Erfolg hatten, fo wurde am 3. April ein Alerhöchfter Erfah emanirt, der die Wehrpflichtstom miffionen aud) ofne Telinahme von fommunafen Repräjentanten für gefcäftsfäßig erflärte ; auf Grund dieſes Erlafjes wurden die Kommunen in der Folge von der Zahlung der diturten Strafen befreit. Die am 4. April zufammentretenden Sommilfionen wurden nichtßdeftomeniger von einem großen Teil der Vevölferung als nicht geſebmahig zuſammen- gefegt angeſehen unb bie Stellungspflictigen eridienen nur in jehr geringer Anzahl: in YelfingjorS von 857 nur 57, in Wjörneborg von 120 nur 31, in Tammerfors von 327 nur 23, an einigen andern Orten ftefte fig) niemand. Un einigen Orten gelang es nidit einen Cefretär für bie Gefchäftsfügrung der Kommiſſion zu finden, ebenfo fehlte es an Aerzten zur Unterfuchung der Gtellungspfligtigen. Bor den Wehrpflichts - Iotafen fam «8 in den Städten vielfad) zu Voltbemonftrationen, jo in Tammerfor8 und namentlich in Yeliingfors. Hier fanden am 4. und 5. April Wufläufe von mehreren Taufend herſonen ftatt, gegen bie Rofafen und Infanterie ausgefandt wurden. Es fam zu erniten Zufammenftößen gwifgen dem Publifum und den Kofafen, von denen einige erheblich verwundet wurden. Rach Zurüdziehung des Militärs lieh fid) Die Menge von einigen Stabfverordnelen und einem Geiftlicen zum Auseinander: gehen bereden. An den näciten Tagen ermahnten die Zeitungen yur Mäbigung und es fam mur zu Ausſchreitungen geringeren Umfanges,

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Am 9. April erlich ber Gouverneut von Helfingfors, Aaigorodom, eine Belanntmadjung, in der er vor weiteren Auheftörungen unter Hinweis auf die Ruplofigfeit der Demonftrationen warnte: „Strahentumulte tönen Regierungsforberungen nicht wanfend maden und daher würde dreifte Gigenmächtigteit ber Menge, abgeſeben von der volfftänbigen gwec. Tofigteit, mur ſchwere Folgen nad) fidh ziehen." Gleidhyeitig wurde ein Alerföchftes Neffeipt an den Generalgouverneur von Finnland vom 7. April veröffentlicht, das lautet: „In Iepter Zeit Gatten ſich in Zinn Hand falfcje Gerüchte über Unfere vermeintliche Abfict, bie Refrutenein. Berufung für daS laufende Jahr einzuftellen, verbreitet. Diefe Gerüchte verwierten viele Reteuten und ermedten unter ihnen Zweifel, ob fie zur Grfüung der Wiltärpflicht zu ericheinen Hätten, Unfer Finnländiſcher Senat, ber befürchtete, ba ſich bei biefer Sage ber Dinge für bie redt« geitige Musführung der Einberufung Schwierigfeiten ergeben würden, wandte ſich an Uns mit einem alerunterthänigiten Gefuc um Berlän« gerung des feftgefepten Zermins der Einberufung, um ber Vevölferung Zeit zu geben, fich von ber Grunbfofigfeit ber über bie Ableiftung der Wehrpflicht außgeftreuten Gerüchte zu überzeugen. Indem Wir es für gut befinden, biefem Gefud) zu willfahren, ftelen Wir es Ihnen anfeim, den Termin der Einberufung gemäß dem Anfucen de Senats Bis zum 24. Juni gu verlängern. Mir erwarten, dab die von Unferen wahren Abſichten unterrichteten finnländiſchen Bürger nicht zögern werden, bie Gorberungen bes Gefeges widerſpruchslos zu erfüllen. Die Entziehung son der Einberufung würde Uns zu ber Meberzeugung bringen, af; die im Saufe des vorigen Jahthunderis eingebürgerte Verwaltung Finnland den rubigen Derlauf des jtaatlichen Lebens und ben Gehorfam ben Behörben gegenüber nicht zu garantiren im Stande ift.“

Ueber daß Betragen der Kofaten am 5. April fagt ein Tagesbefehl des Generafgouverneurs vom 25. April, bie Kofafen hätten ihre Anuten nur aus Notwehr angemanbt, da fie vom Publikum mit Steinen, Stöden, leeren Flaſchen und Eisftüden bemorfen mwurben, wobei ein Dffigier, 5 Rofaten und 6 Pferde ernftlich verwundet wurden, und haben ihre Sübel, obwohl fie das geſebliche Recht dazu Hatten, nicht blanfgegogen. Der Befehl ſchlieht mit den Morten: „Zudem die Rofaten zu ben fried« Ticgen Einwohnern ein wohlwollendes Verhalten bewahren, in der Erenntnik deffen, dab in der einigen allruſſiſchen Sippe der Finne und ber Schwede gleichberechtigte Wrüder der Rufen find, müffen fie dennoch ftetS ber ehrlicpen Erfüllung ihrer Dienftpflicht eingebent fein und daran feithalten, daß die Truppen überall und ftets nit nur den auswärtigen, fondern aud den inneren Feinden furdtbar fein follen.* (Speredrud des Driginals.)

4. April. Riga. YJahresverfammlung ber Glieder der Rigaichen

Abteilung der allruſſiſchen orthoboren Miffionsgefelicaft. Nach dem Referat des „Riſh. Weſin.“ fagte ber Vorfigende,

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Biſchof Agathangel von Riga und Mitau, in feiner Anſprache, daß bie Thätigfeit der am 3. Oktober 1900 eröffneten Nigafchen Abteilung der Miffionsgefelfichaft nicht befonders ausgebreitet fein fonnte, da ihre Aufgaben fih auf bie Sammlung von Spenden und auf die Ausreihung von Unterftügungen an Neubefehrte beichränften. Die eine von biefen Aufgaben, die Spendenſammlung, erfüllte das Komité mehr ober weniger erfolgreich, „bie andere war unerfüllbar, da fih nod Niemand an uns um Hilfe gewandt hat.“ Um bie Mittel des Komites zu erhöhen, hat ber Vorfigende alle Priefter durch bie Pröpfte auffordern laſſen, ber Gefell- fchaft beizutreten, auf bie Miffionsblätter „Prawoſſlawny Sfobefjebnit” und „Miſſionerſkoje Obofrenie* zu abonniren unb bie Gemeinbeglieder für die Miffion zu intereffiren ; ber Geiftlichfeit ift ferner zu willen gegeben worben, daß bie Kirchenvorfteher bie Subffriptionsliften nad; Möglichkeit der beftänbigen Aufmerffamfeit ber Gemeindeglieder vorhalten follen: „bie Not ift fo groß und das Werk fo edel, daß jede Kopele nötig ift.” Nach bem Rechenſchafisbericht für bie Zeit vom 3. Dftober 1900 bis zum 1. Januar 1902 ſtand dem Komitéè zur Verfügung am unantaſtbarem Kapital 100 Rbl., an Nefervelapital 838 Rbl. 87 Kop., an bispo- niblem Kapital 606 Roͤl. 33 Kop.; ausgegeben murben 39 Rbl. 75 Kop. (für ben Drud von Blanfetten, Sammel: bücher, 50 Erpl. bes Uſtaw, 1000 Abzüge der Nebe eines Priefters Liberomifi u. brol.).

5. April. Zirkulär des kurländiſchen Gouverneurs Nr. 1262/1271 an die Bauerkommiſſare bes Gouvernements Kurland über ben Gebrauch ber Reichsſprache in der bäuerlichen Gemeinde verwaltung :

Durch Allerhöchſten Namentlichen Ufas an ben Diri- girenden Senat vom 14. September 1885 find die Negeln für die Führung der Geſchäfte und ber Korreſpondenz durch bie Behörden nnd Amtsperfonen der Dftjeegouveruements in ruſſiſcher Sprache beftätigt worden. Dabei wurde durch befondere Anordnungen ber höheren Regierungsinftitutionen für bie Gemeindeverwaltungen eine zeitweiſe Ausnahme gemacht und für möglich erachtet, bie ruſſiſche Sprade in

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ihrer Geihäftsführung allmählich einzuführen, nad Maßgabe der Belegung ber Gemeindeichreiberpoften mit Perfonen, bie die Reichefprache beherrichen.

Seitdem hat die Frage ber Anwendung der Reichs— ſprache in ben Gemeinbeverwaltungen fo bebeutenbe ort, fchritte gemacht, daß id) auf einer Konferenz im Jahre 1900 für möglid hielt, die Herren Bauerkommiſſare zu bitten, unabläffig auf bie möglichit vollitändige Ausdehnung ber Anmwendungsiphäre ber ruffiihen Sprade im Reſſort ber bäuerlichen Kommunalverwaltung zu achten, mobei id barauf Hinwies, daß dieſe Maßnahme ſchon nachdrücklicher und völliger angewandt werben fann, weil die reformirte Schule ein völlig genügenbes Kontingent von jungen Zeuten, bie bie ruſſiſche Sprache fennen, entläßt. Indeſſen habe id) in der legten Zeit aus den Aften der Gouvernementsinflitutionen erfehen, baß in einem Falle eine Gemeindeverwaltung mit einer Gutsverwaltung in lettiſcher Sprache verhandelt hat, welcher Verhandlungsmobus gegenwärtig nicht mehr den Forberungen ber Regierung entipricht.

Indem ich daher bie fernere Führung der Korreſpondenz ber Gemeindeverwaltungen in einer anderen Sprache als ber ruſſiſchen für äußerft ungeitgemäß anjehe und meine Forderung wieberhofe, daß ber Reichsſprache die ihr gebührende Stelle und Vebeutung nicht nur im Verkehr der Gemeindeverwal- tungen mit allen Negierungs- und Privatinftitutionen und Amtsperſonen, fondern aud) in ihrer inneren Geſchäftsführung angewieſen werbe, ſchreibe id) ben Herren Bauerkommiſſaren vor, unbeugfam darauf zu achten, baß alle Korreſpondenz und die ganze Geidäftsführung der Gemeindeverwaltungen ausſchließlich in der Reichsſprache geführt werde.

7. April. Libau. Ein von der däniſchen Miffion Hierher geſandter Prediger übernimmt bie ſeelſorgeriſche Thätigkeit an einer von ber ſtandinaviſchen Kolonie in Libau hergerichteten, mit einem Seemannsheim verbundenen Kirche.

8. April. Der „Now. Wrem.“ wird aus Riga geſchrieben, daß bie Hiefigen ſtädtiſchen Schulkollegien, bie aus Gliedern, bie von den Stadtverwaltungen gewählt werben, und aus Ver: tretern ber Lehrreſſorts mit numeriſchem Uebergewicht der

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eriteren beitehen, fi) eine ihnen nicht zufommende Bedeutung beigelegt haben und die Rolle von jelbftändigen Abminiftrativ- organen in Unterrichtsſachen fpielen, nicht felten ſich meigern, bie Forderungen ber Direftoren und Inſpektoren ber Volkes ſchulen nicht nur, fondern felbft bie des Kurators bes Lehr bezirks zu erfüllen, ober aber fi erlauben Beſchlüſſe zu fallen, die dem Sinne nad) dem entgegengefegt find, mas in ben Vorſchriften ber Lchrobrigfeit ausgeſprochen worden iſt. Auf Vorftellung des Kurators des Lehrbezirts A. N. Schwarz werbe baher eine Reihe von Maßnahmen ausgearbeitet mit dem Zmede, bie Rechte und Pflichten ber Schutollegien, bie nur zur wirtſchaftlichen Verwaltung ber Schulen berufen jeien, mit größerer Genauigkeit feitzuftellen und zu beftimmen.

Daß die Schultollegien, beren geringer Einfluß auf das Unterrichtswefen allgemein befannt ift, fid) durchaus an die ihnen gefeglich zugeftandenen Rechte halten, geht aus bem Tenor ber Korreipondenz ſelbſt hervor, denn wenn fie ungejeglich vorgingen, fo würde man fie dafür zur Ver antwortung ziehen und abfegen fönnen, ohne das Geſetz zu ändern.

9. April. Das livländiihe Gouvernements-Mäßigfeitsfuratorium hat, nad) ber „Düna-Ztg.*, bie Geſuche einiger Kreisfomites um Mittel für bie Veranftaltung von Volfsvorlefungen in lettiſcher und eſtniſcher Sprache abichlägig beichieden. Die Geſuche waren damit begründet, daß bie ruſſiſchen Vorleſungen die dieſer Sprache nicht mächtige VBevölferung wenig anzögen ; das erſchwere weſentlich die Darlegung ber Schädlichfeit des Trunfs. Das Gouvernementsfuratorium hat zur Sprachenfrage noch um bie Entiheidung des Finanzminifteriums nachgeſucht.

9. April. Der Minifter des Innern überweift den Progeh in Sachen der Ermor- dung des Miniſters Sfipjagin auf Grund der Verordnung über bie Mofregeln zur Aufrechterhatung der ftaatliden Ordnung an ein Ariegs- gericht unter Anwendung ber zu Kriegsgeiten geltenden Geſede.

11. April, Der Minifter der Volksaufklärung Generalabjutant Wannomwiti erhält wegen zerrütteter Gefundheit den erbetenen Abſchied und zum Verweſer des Minifteriums wird ber Diinifterfollege wirfl. Staatsrat Dr. der römiſchen Litteratur Gregor Eduardowitſch Saenger ernannt.

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13. April. Im Merander-Nemfli-Rloiter in Petersburg wird der ehemalige Zutheraner Paul Sigismundowitſch Tideböhl, früher Offizier im Sſemenowſchen Leib-Garde-Regiment, zum ortho: doren Priefter geweiht.

14. April, Der „Neg.⸗Anz.“ publiziert ein am 11. Februar Aller: höchſt beftätigtes Reichsratsgutachten, durch das für Livland drei neue Aemter von jüngeren Kreischefsgehilfen geſchaffen werben unb ber Sreispolizeietat um 30 Urjabnifs vermehrt wird. Ferner erhalten die livländiſchen Kreisftäbte eine fleine einmalige Entſchädigung für bie Miete von Haftlofalen.

15. April. Der Vizegouverneur von Kurland Alerander Valeria- nowitſch Murawjew ſtirbt plöglid) in Mitau am Herzſchlage, 39 Jahre alt. Vizegouverneur von Kurland war er feit dem 20. Dezember 1894.

18. April. Nach Daten, die bem „Fell. Anz.“ vorliegen, wurden im Laufe ber Jahre 1899 bis 1901 von ben Volfsfchullehrern im Felliner Kreife teils auf ihre Bitte, teils gegen ihren Wunſch ihrer Stellungen enthoben 51 Schulmeiſter, von einer Stelle auf eine andere übergeführt 62; Neuanftellungen erfolgten in 69 Fällen. Die Zahl der Volkoſchulen im Felliner Kreife beträgt faum mehr als 100; die Zahl ber an ihnen thätigen Lehrer mit etat- und aufßeretatmäßigen Gehilfen mag ſich auf 200 bis 250 belaufen.

20. April. Windau. Bei den Vorbereitungen zu ben diesjährigen Stabtverorbnetenwahlen fiehen fi, wie aus einer Fehde, bie fid) in der „Düna-Ztg.“ abipielt, hervorgeht, zwei deutſche Parteien gegenüber, die ſich ſchon früher bei den Wahlen für die Stabtvertretung befämpft haben. Jede von ben Barteien hat einen Anhang unter ben lettifchen Wählern unb wird durd) ein Komité vertreten, von denen ſich bas eine „Vereinigtes beutfcj-lettijches Wahlkomite“, das andere „Lettiic-deutihes Wahlfomits" nennt. Die Entf—eidung zwiſchen beiden Parteien wird aufgeſchoben, ba der kurländiſche Gouverneur bie auf den 25. April feitgefegten Wahlen auf unbeftimmte Zeit vertagt.

20. Xpril. Mit der zeitweiligen Erfüllung der Obliegenheiten eines Rollegen des Minifters der Volfsaufklärung wird das Mitglied des Konfeils des Minifteriums, Geheimrat Iwan Karlowitſch

Battifäe Chronit 1902. ur

Renard betraut, ein Mathematiker von Fach, ber in vers ſchiedenen Stellungen in den Minifterien der Wegefommuni- fationen und des Innern und in ber Neichsfanzlei gedient hatte, bis er 1892 Glied bes Konſeils bes Dlinifteriums der Volfsaufflärung wurde. Der bisherige Kollege bes Minifters war ber frühere Chef ber Haupt-Gefängnikverwal- tung Meſchtſchaninow.

20. April. Der „Simwet" hat jeine Aufmerkjamfeit der eſtniſchen und lettiſchen Preffe zugewandt und ficht in dem angeblich bis zur Laͤcherlichteit übers triebenen nationalen Dünfel berjelben eine Gefahr für das unreife Vublitum. für das biefe Blätter ſchreiben. Sie entfachen bie Bolfd« ieidenſchaft und Gegen gegen die Gulsbefiger. Das einfadhe, wenig gebildete Boll, das „erft vor furzer Zeit aus der Stlanerei befreit” fei, mwerbe mit Aruteln gefütlert, die gegen die ruſſiſche Sprade und die ruſſiſchen Gerichte aufreigen ; der ungebildeten Jugend werde tagtäglid) in Vrandartitein Hab und Mihadhtung gegen bie Höheren Klaffen eingeflöht. Bei der Urteilslofigfeit ber großen Menge könne man ſich nicht darüber wundern, daß den eſtniſchen und lettiſchen nationalen Zeitungen in kurzer Zeit gelungen fei, früher nicht gefaunte Beftrebungen im Bolfe hervors gurufen. „Biele Leiter unferer Cingeborenen«Preffe im baltifchen Gebiet fireben" heißt es wörtlich nach der Ueberjegung der „St. Pet. Big.” (Mr. 111) „nach der Befriedigung ihrer Eigenliebe und find aus eigennüiger Berechnung beftrebt, dort eine nationale Bewegung ber Eins geborenen Hervorzurufen, wo das Bolt früher gar feine Abfonderung von den Auffen wünfchte. Die eftnifchen und Iettifcgen Blätter glängen nicht durch Kuftur und hohe Bildung, da ihre gewöhnlichen Mitarbeiter und Korrefpondenten größtenteils Gemeindeſchreiber und Ranzleifihreiber aus derſchiedenen Regierungsinftitutionen find, der Herkunft nach ejtnifde und lettiſche Bauern, die ſich von ihren ländlichen Verwandten getrennt, aber weber der ruffifchen noch der deutfchen intelligenten Geſellſchaft angefchloffen Haben. Und die eſtuiſchen und lettifden Blätter, die von Scheiftitellern mit jo zweifelafter wiſſenſchaftlicher Vorbildung geleitet werden, ftellen mun ungehindert kreug und quer Vetrachtungen über die Geſchichte, bie Polüit und die foziafen Fragen an, indem fie ihren Leſern foldhe Gebanten und Urteife einflößen, welche fein einziger Zenfor in einem ruſſiſchen Dlatte durdjlaffen würde. Das Fehlen der Aritif und der Einwendungen, die Ueberzeugung, dal; feine hochgeftellte Perſönlichteit leſen wird, mas irgend ein fettifches oder ejtnifches Blätthen reiht, ſchafft dieſen eine ganz erflufive, privilegiete Stellung. Unbehindert bringen fie in ihren Spalten ſolche Urteile, die der „Nomoje Wremja", dem „Sfwet“, den „Rowofti" und anderen Nefibenzblättern unbedingt eine ftrenge Strafe eintragen würden. . ... Bittere und gefährliche Früchte tragen ſolche Zeitungen wie der „Poftimees“, der ſehr durchſichtig darauf anfpielt, daß das ruſſiſche Voll dem Meinen Eſtenvolke jeine Selbſtändigleit nehme.

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Baltife Chronit 1902.

Es wäre intereffont zu erfahren, wann dos Ejtenvolf überhaupt felbft- ftändig gewefen ift. „Die verſchmelzung Heiner Wöller mit großen" ruft Die Zeitung „Poitimees" aus „wäre bie größte Tgrannei, welche jemals in ber Welt beſtanden hat!" Welch ein Stil, melde Ausdrüde ! eine genaue Kopie ber finnländifgen Blätter. Und mie fommt es, dah die eſtniſchen und leitiſchen Blätter plötzlich begonnen haben, eine folche Spratie zu führen ?!"

Der „Siwel" fieht natürlich in dieſem Artifel manches Thatſachtiche durch bie Brille des Chauoinismus in grotester Verzerrung. Bor allem ſcheint ex nicht zu wiffen, wer insbejondere bei ber nationalen Vemegung der Seiten und Eften den gefährlichen Hab gegen die Gutsbefiger genährt Hat. Bei der Bejprechung dieſes Themas gelingt es dem „Riff. Beftn.“ die Wahrheit auf den Kopf zu fteilen, indem er fagt: „Die beutfehen Areife Haben diefe Richtung gefördert und haben bie Eften und Seiten zu gemeinfamem Widerſtande gegen alles Ruſſiſche aufgerufen, bis ber von ihnen geofgezogene leitiſche und eſtniſche Nationalismus ſich gegen fie feibft gemandt fat.“

21. April. Die Säkularfeier der Eröffnung der Dorpater Univer-

fität wird in ben Oftfeeprovingen und an allen größeren Städten bes Reiches von den ehemaligen Jüngern ber alma mater Dorpatensis begangen. In Reval, St. Petersburg. Charfow und Lodz werden Feſtkommerſe gefeiert, in der Univerfitätsftabt felbft, fowie an den übrigen Orten tragen bie Verſammlungen einen privaten Charakter. In Berlin hatten ſich 40 ehemalige Dorpater Studenten zufammengefunben. Ueber allen den Feiern fteht das Motto: Was vergangen, fehrt nicht wieder, ging es aber leuchtend nieder, leuchtet's lange noch zurüd!

22. April, Der Poften eines vierten Kollegen des Finanzminiſters wird für den

Shef der Hauptverwaltung der indirehien Steuern und des ronsbrannte weingerfaufß geichaffen und ber Fürjt Alerei Din, Obolenffi auf benfelben ernannt,

23. April. Die 50. Wiederkehr bes Tobestages bes ruſſiſchen

Dichters Shukowſti wird, Höherer Anordnung gemäß, mie der Todestag Gogolo im Februar, feierlich begangen. Am Tobestage felbft, den 12. April, konnte feine Feier ftattfinden, da ber Tag in biefem Jahr auf den Charfreitag fiel.

24. April. Rach dem „Rifh. Weftn.” hat das Minifterium ber Vollsauftlärung

in dieſem Jahr eine ſeht bedeutende Summe, mehr als 40,000 RbL. für die Eröffnung neuer Miniſteriumsſchulen im Rigaſchen Leprbegirt und aur Größung des Arcbiis für den Unterhalt einiger ſchon beitehenber Sqhulen diefes Typus ausgemorfen,

Baltifhe Chrontt 1902. 19

24. April. Der Verweſer des Minifteriums ber Volfsaufflärung Saenger hält eine Anſprache beim Empfang der Beamten des Minifteriums. Cr erklärt in derſelben, daß ber von feinem Vorgänger mit Allerhöchfter Genehmigung vom 11. Juni 1901 probeweife auf ein Jahr eingeführte neue Stundenplan für bie unteren Klafjen ber Mittelſchulen im Juni feine Giltigfeit verlieren und bas frühere Programm wieber in Kraft treten müſſe. Da bie völlige Rückkehr zu dem früheren Zuftand nicht angängig fei, ein befinitives neues Programm ſich aber in ber furzen Zeit bis zum Beginn des Schuljahres im Auguft nicht felftellen laſſe, fo ergebe ſich die Notwendigkeit eines neuen Proviforiums für das bevorftehende Jahr. Die Ausarbeitung beffelben werde er mit Alerhöchiter Genehmigung einer Kommiſſion über: tragen, bie aus je einem Gymnaſial- und Realſchuldirektor aus jedem Lehrbezirt beftehen wird. Die Pläne der Kom: miffion werben vom Gelehrten Komit& und vom Konſeil des Miniſters geprüft werben, wegen ber Kürze der Zeit aber nicht mehr dem Neichörat, fondern unmittelbar dem Kaifer unterbreitet werben.

In Anlaß diefer Rede wird bie Frage ber Reform der Mittelſchulen in der ruſſiſchen Preſſe wieder eifrig ventilirt. Die „Virſh. Webemofti” behaupten, dab eine völlige Verwerfung der Reformprojetie Wannomilis bevorftche. Die Mostauer „Aufffia Wed." Halten dagegen eine Rüdtehr zum glaſſizismus taım mehr für möglid. Man fönne natürlich voraus - ſehen. daß der hervorragende Vertreter der klaſſiſchen Philologie in Ruh · iand, der jeht an die Spige des Unlerrichtsweſens gejtellt ift, dem außzu« arbeitenden Projeft gewiſſe Aenderungen zu Gunſien der alten Sprachen aneignen wird, doch das wären dann nur Details, die Geſammirichtung fei ſhon zu weit in der Pragis vorgedrungen, als dab ein ſchroffer Bechfel ins Gegenteil möglid) wäre.

25. April. Der Chef der Oberpreßverwaltung wirkl. Staatsrat Fürſt Schachowſkoi wird zum Gliede des Konfeils bes Minifters des Innern ernannt; an die Spike der Oberpreß⸗ verwaltung tritt am 9. Mai der Senateur Swerew, früher Profeſſor der Rechte und Reltor der Univerfität Mostau, dann eine Zeit lang bis 1901 Kollege des Minifters ber Voltsaufflärung.

27. April. Wall. Die mit Ausnahme von ein paar Rufen aus Leiten und Ejten beftehende Stadtverorbnetenverfammlung

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Saltife Chronit 1902.

wählt auf die Empfehlung des Stadthaupts Märtfon ben früheren Stadtſelkretär Rechtsanwalt D. Naue mit 15 gegen 11 Stimmen wieber zum Stadtfelretär. Der Gegenfandidat O. Samuel unterlag mit 13 gegen 13 Stimmen. Reis: anwalt Raue erklärte ſich bereit, aus Patriotismus bie auf ihn gefallene Wahl anzunehmen.

Die Wahl eines Deutjchen zum Stabtfelretär ift auf bie bereits gelegentlich der Wahlen zu Tage geiretene maßvollere politifche Haftung der Eften zurüdzufüßren. Der thorichte Rabifalismus der Letten zeigt ſich in feiner ganzen Größe bei dem Stabtverordneten Dr. Graubing, der die vom Stadtpaupt vorgeichlagene Randidatenlifte für die Immobilien, ZTagationstommiffion bemängelte, weil „unter den Proponirten ſich einige befinden, die zum alten Beitande gehören.”

27. April. Der Direktor bes Inftituts für Erperimentalmebizin

Sufjanow wird zum Kollegen des Minifters ber Volksauf- klärung ernannt.

3. April. St. Petersburg. Unter Vorſith des Oeneralabjutanten D. v. Richter

findet die Generalverfammlung der Mitglieder der Unterftügungstaffe für die evangelifch »Tutgerifchen Gemeinden in Rublanb flatt. Nach dem Hechenfejaftsbericht für 101 find Die Kolleftenbeiträge gegen das Borjahr von 72,680 RL. auf 77,116 RbL. geitiegen, die Gejammteinnahmen, einfehlichtich ber Gaben zu beftinmien Jeden, beirugen 162,346 NbL., bie Ausgaben 121,675 Nbl., darunter 55,120 RL. für den Unterhalt und für Fahrgelder der Prediger und Kircjenbcamten.

29. April. Das durch das Gejeg von 1895 gebildete Wegebau—

fapital für Kurland hat die Höhe von 915,000 Rbl. erreicht. In den legten Jahren wird für die Verbefferung und Anlage von Wegen in Kurland viel gethan. Am 29. April beginnen in Mitau Torge für bie Stellung von Material zu Wege: bauten für die Summe von 487,000 Rbl.

1. Mai. Mitau. Der Polizeimeifter trägt den Polizeihargen auf,

ftreng darauf zu achten, daß bie Studirenden der Jurjewſchen Univerfität und des Rigaſchen Polytechnilums in Mitau feine Farbenmügen und Farbenbänder tragen, und beruft fi dabei auf ein Zirlulär des furländ. Gouverneurs vom 28. Nuguft 1901 sub Nr. 5979. Den Studirenden des Nigafchen Polytechnikums ift das Farbentragen als Erfag ber Uniform von ihrer Obrigkeit geftattet worden.

2. Mai. Libau. In der erften Sigung der neuen Stadtverorbneten:

verfammlung erfcheint der Furländiiche Gouverneur Sſwerbejew

Baltifehe Chronik 1902. 121

und hält eine Anfprace, in ber er bie Stabtverorbneten auf die Bedeutung bes von ihnen abzulegenden Eides hinmeift, dann aber es als ein „perſoönliches herzliches Bebürfniß” und als eine aus ber ihm Allerhöchſt anvertrauten Fürforge für die Stadt refultirende Pflicht bezeichnet, der bisherigen Libauſchen Stadtverwaltung zu gedenken. Er fage ber früheren Stadtverorbnetenverfammlung feinen herzlichen Dank bafür, daß fie in den 10 Jahren feiner Amtsthätigfeit „allmählich erfannte, daß ich nicht mit bem Zwecke, meine Rechte aus- zunutzen, ber Stabtverorbnetenverfammlung andere Gefichts: punkte für ihre Beichlüffe gewieſen habe”, fonbern zum Wohle der Stadt. Seine Hinweiſe feien daher von ben Stabtverorbneten verfländig angenommen morben unb er habe von ihrer Seite jtets völlige Mitwirkung erfahren. Der Gouverneur bittet zum Schluß auf bas Herzlichſte, bei den bevorftehenden Wahlen für das Stadtamt „von jeglihem Tonfeffionellen und nationalen Hader abzuftehen", ba fie alle gleicherweife Diener des ruffiiden Monarchen feien und alle ein einiges Ziel haben müßten: treuen Dienft für Seine Meojeftät den Kaifer und die Heimat.

2. Mai. Reval. Die Stabtverorbnetenverfammlung beichließt auf einer außerordentlichen Sigung für die am 6. Mai eventuell zu erwartende Durchreife des Präfidenten ber Franzöſiſchen Republik Loubet dem Stadtamt einen Kredit von 3500 Rbl. zu einem mürbigen Empfang anzuweiſen. Da bie Eisver- hältnifje im finniſchen Meerbufen fi beſſern, können bie franzöſiſchen Fahrzeuge ſich aber direft nach Kronftadt begeben.

3. Wei. Der am 26. April vom Ariegsgericht des Gt. Petersburger Militärs begielö zum Tode verurteilte Mörder des Minifters Sfipjagin, Slepan Balmaſchow, wird durch den Strang hingerichtet.

5. Mai. Auf den Gouverneur von Wilna Generallieutenant Bictor von Wahl wird abenbS beim Verlaſſen bes girtus ein Aitentat verübt. Der Gou. verneur wird durch zwei Schäffe am Arm und rediten Bein leicht ver wundet. Der Attentäter ein Hebräer Ledert (Leluch) wird am 8. Mai nad dem Spruch des Ariegägerihts duch ben Gtrang Fin, gerichtet,

5. Mei. In Moslau wird ber neuernannte evangeliſch/lutheriſche Generalfupers intendent des Moslauſchen Ronfiitorialbeziets Alexander Fehrmann in ber Peiri / dauli · girche introduict.

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9. Mai. Der „Reg. Anz.” publizirt die Beftätigung bes zum Direktor des Rigaſchen Polytechnifums gewählten Profeffors Staatsrats Dr. chem. Walden in biefem Amt auf vier Jahre, gerechnet vom 15. April e.

9. Mai. Die Ernennung des jtello. Profurcurs ber Charfomer Gerichtspalate Kollegienrats Lopuchin zum ftello. Dirchtor des Poliyeidepartements, an Stelle des zum Senateur ernannten wirt, Staatsrais Swoljanti, wird publigiet,

10. Mai. Libau. Zum Stadthaupt wird A. Zink gewählt mit 35 Stimmen gegen 19, bie für das frühere Gtabthaupt Hermann Adolphi abgegeben werden. A. Zink entftammt einer Mosfauer Kaufmannsfamilie und mar längere Zeit Betriebshef der Libau-Romnyer Bahn in Libau, in ber legten Zeit aud) Stadtrat.

10. Mai. Durd) einen Allerhöchſten Was werden zur Entfhädigung der von den aufftändifhen Bauern in den Kreiſen Konſtantinograd, Poltama, Walti und Bogoduchor der Gouvernements Poltawa und Chartom aus . geplünberten Landbefiher 800,000 Rbl. aus ber Reichsrentei angemieien. Zur Wiedererftattung dieſer Summe wird ben Bauergemeinden, beren Glieder am ben Unordnungen teilgenommen haben, eine Ergänzungs - Oftabfteuer auferlegt, deren jährlicher Betrag cbenfo mie bie Höhe der Entfcädigungen im Einzelnen von befonberen Eolaltommiffionen zu beftüunmen ift.

12. Mai. Das Statut eines Oeſelſchen eſtniſchen landwirtſchaft- lichen Vereins ift, der „Saarlane” zufolge, von der Gouner: nementsverwaltung unbeftätigt zurüdgelommen, mit ber Erflärung, daß jelbiges nad) minifterieller Vorſchrift vom Normalftatut nit abweichen dürfe. Die Abweichung beftand darin, daß bas vorgeftellte Statut ftatt der ruſſiſchen Sprache bie eſtniſche als innere Korreſpondenzſprache angegeben Hatte.

13. Mai. Riga. Stabtverorbnetenverfammlung. Der vom Finanz minifierium in einigen Punkten nicht weſentlich abgeänberte, von bem Stadtamt vorgelegte Entwurf für bie Statuten einer Stadt⸗Handelsſchule, die zum Nefiort bes Finanzminie fteriums gehören und im Herbit eröffnet werben ſoll, mirb angenommen. Gegen bie Vorfchrift des livl. Gouverneurs, den Zivilbeamten, die eine offene Ordre von ihm vormeilen fönnen, Schiefpferde gegen die vorihriftmäßigen Progon- gelder von 3 Kop. pro Pferd und Werft zu ftellen, wird beſchloſſen, beim Dirigivenden Senat Beſchwerde zu führen,

Baltifche Chronit 1902. 128

da nad) Punkt 3 des Art. 34 und Punkt 2 des Art. 125 des Uſtaws für die Landespräftanden (Ausg. von 1899) das betr. Fuhrwerk aus ben Landespräſtanden und nicht von ber Stadt geftellt werben muß. Ermeiterungs: und Umbauten am Gtabtfranfenhauje für 259,000 Rbl. werben befchloffen.

15. Mai. Der über die Abfichten der Lehrbegirksverwaltung meilt gut unterrichtete „Niſh. Weftn.“ bringt bie Meldung, daß in Zufunft Minifteriumsihulen auf bem Lande dort eröffnet werben follen, wo es nad dem Ermefjen ber Unterrichts: obrigfeit notwendig erſcheint. Bisher wurden Miniſteriums— ſchulen im Rigaſchen Lehrbezirt nur auf den Wunſch ber betr. Bauergemeinden eröffnet. Die Verbreitung der Schulen Toll aber nad biefem Modus zu langlam vor ſich gehen und bazu follen die Protefle von Gliedern der Gemeinbes auoſchüſſe und ber Gemeinden, „die ſich in Abhängigfeit von Perſonen einer gewilfen Art, die ihrerfeits auf ale Weiſe bie Ausbreitung von Schulen des in Frage ftehenden Typus aufzuhalten ſuchen, befinden“, eine gar feinen Nupen brin- gende Korreſpondenz hervorrufen.

Gleichzeitig teilt der „Riſh. Weftn.“ mit, dab im Auguſt in Liv- Hand 7 Minifteriumsfgulen eröffnet werden follen und zwar in Moifeküll, DWottigfer, Staclenhof, Tignig, Neritenshof, Waitemois und Wolmarshof. Ueber Waſtemois berichtete das eſtniſche Blatt „Zentaja", dab die anfänglich von der Gemeinde gemünfchte Miniſteriumsſchale auf ihr nachträglich wiederholt högeren Orts vorgebrachtes Geſuch nicht gebaut werben wird.

15. Mai. Auf den allerunterthänigjten Vortrag bes Juftizminifters unter Zuftimmung bes Diinifters bes Innern wird ber ehes malige Oeſelſche Bauerkommiſſar und Kreishef Kaſſatzki Allergnädigft von Seiner Majeftät dem Kaiſer von ber Verbüßung der über ihn verhängten Strafe von 1”/s Jahren Arreftantentompagnie befreit und fofort in Freiheit gefegt (vgl. ©. 31 ff.).

15. Mai. In dem in ber „Nig. Eparchialzeitung“ veröffentlichten Jahresbericht ber Peter-Paul-Bratſtwo wird von einer umfang» reihen Remonte an ber Dubbelnſchen orthodoren Kirche berichtet, die gegen 1000 Rbl. gefoftet hat. Alle Koſten hat der Dubbelnſche Polizeimeifter Baron Alfred Viltorowitſch Mirbach auf fi genommen und gegen 400 Rbl. aus eigenen

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Baltifche Chronit 1902.

Mitteln beigeftenert, ben Reſt bei Strandgäften gefammelt. Diefes Interefje bes Varons Mirbad), eines Lutheraners feinem Belenntniffe na, für die Dubbelnſche Kirche bewog fagt die Eparchialzeitung den Ronfeil der Brũderſchaft beim hochwürdigen Agathangel darum nachzuſuchen, ihm bie erzhirtlihe Dankbarkeit auszubrüden, was aud) erfolgt ift.

15. Mai. Zum Bau einer eſtniſchen orthodoren Kirche und eines

Haufes für ihre religiös-aufflärenden Inftitutionen in St. Petersburg erfäßt bie St. Petersburger orthobore eſtmiſche Bratſtwo vom Namen bes Märtyrers Priefter Iſidor von Zurjew einen Aufruf mit ber Bitte um Geldipenden, ben die „Rig. Eparch.Ztg.“ ebenfalls abbrudt. Cs heißt barin: „Richt weit von Petersburg nad) Weten, Hinter der Naroma und dem Peipus, Ieben bie uralten Siebler des jepigen Gjtländiigen und Liolandijchen Gouvernements bie Eften. or 700 Jahren kamen bie Deuiſchen zu ifmen, und unter dem Vorwand, fie mit dem Chriſtentum gu erleudhten, untermarfen fie daß Gebiet mit Feuer und Schwert. Unter dem beutfchen Joch ftöhnte daS Volt 000 Jahre in Knechtſchaft. Erft feit der Zeit ber Unterwerfung des Gebiet durch Kaifer Peter I. begann a8 2008 ber unglüdlichen Stlaven leichter zu werben. Naifer Alerander der Gefegnete gab ihnen die perfönliche Freiheit, unter Kaiſer Nitolai I. drang barauf das Licht der Pramofflamije hierher. Ungeachtet der gemals tigften Unftrengungen der Deutfchen war «8 nad dem Willen der Borı fehung nicht beſchieden, bie Leudite ber Prawoſſlawije Hier zu verlöfden, aber mein Gott im welcher Aermlichteit leuchtete fie und leuchtet fie teilweife noch jet, da die Reubekehrten fait burdigängig arme, Ianblofe Voßtreiber waren. ber aud in dem ärmlichen Gewand lernten fie den Heiligen orthodoren Glauben fdägen, (ernten fie feinen wunderbaren, in der ihnen befannten eſtuiſchen Sprache zelebrirten Gottesdienjt lieben, und find froß, das fie den wahren Glauben haben, benfelben, durch den unſer Alerfrömmiter Herrſcher und das ruffiiche Volk gerettet werden. Die Landlofigteit und Rot treibt die Eften in Scharen zur Hude fiebelung in die benachbarten Gounernements, ja aud) in entfernte Gegenden. Einige Zehmtaufend Musgewanderte leben auch in Petersburg, aber ber größte Teil von ihnen bleibt hier wie überall bisher noch beim Lutpertum. Die Luteraner in Petersburg Haben ſich jhon vor 46 Jahren mit ihrer Kirche und Baftoren, mit einer Schule, einem Aigl, einem Wopltfätigteits« verein verforgl. Und e8 mußten von biefer Kirche alle Ejten, und Luther raner unb Orthoboge bielten ſich zu ihr mie zu einem Leuchtturm. Es war fchwer, die Drthodogen bewegen anzuflagen: ofne Kenntnif; der ruſſiſchen Sprache, irrend in ber fremden Stadt, gingen fie in die [tutherifce] Kirche, um Rat, um Ausfünfte zu holen, und da fie einen ihnen verftänd« lichen Gottesbienft nicht Hatten, aud) um zu beten. Und fiche anftatt

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daß bie zur HI. Kirche neu befehrten Kinder in ber orthoboren Hauptftabt im Glauben befeftigt worden mären, wichen fie von ihm ab, verloren fi...“ Diefe Gefahren für die orthoboren Giten in Petersburg hätten den weiland Metropoliten Paladius zur Bildung einer eſtniſchen Gemeinde veranlapt, die aber bis jegt im Sellergeichoß der Kirche des Ergengels Michael untergebracht jei. „Es it ſcwer für den eftnichen Auswanderer hier bie Gräfe und Macht der Pramofflamije in ber Refideng zu erfaffen, namentlid wenn er auf die nicht ferne ſich erhebende lutheriſche eftnifce girche blidt. Darum ift ber Bau einer eſtniſchen orthodoren Rircie in Petersburg nicht nur eine Sache des Bebürfniffes, fondern eine Sage der Ehre und der Größe des orthoboren Glaubens, befonbers wenn wir daran benfen, da in Petersburg eine Menge von Eiten fid) aufgält und die Aermlichteit des ortoboren Kirchlpiels ihres Volles und feiner Inftitutionen (3. B. der Schule) in der Reſidenz in ihrem Herzen großen Summer Gervorzuft. Dagegen, welche Freude würde es fein, welde Aufmunterung fönnten fie in ihr zum größten Zeil noch lutheriſches Gebiet tragen, wenn fie hier, fo nahe am Kaiferthron, einen fdön eins gerichteten Tempel für ihr Bolt fähen, eine Schule zum Unterridit ihrer Kinder in ber rufflfden Sprade und der Prawofflamije und Anderes, was fo nötig ift zu ihrer Befeftigung in dem erft vor Kurzem anger mommenen unb ſͤch immer mehr unter ihnen außbreitenden ortpoboren Glauben!" .... Unterzeichnet iſt biefer Aufruf vom Vorſitenden der Braiſtwo, Biſchof Ronitantin von Gdow.

16. Mai. Jurjew (Dorpat). Die Stadtverordnetenverſammlung verhandelt auf Erſuchen des Gouverneurs über die eventuelle Uebernahme ber Koften für eine bebeutenbe Verſtärkung ber Stabtpoligei, bie ber Polizeimeiſter in einem Napport an ben Gouverneur als erforderlich Hinftellt und ber leptere für dringend notwendig eraditet.

Nach dem Napport des Poligeimeifters zählt die Stadt ohne das Militär ca. 50,000 Einwohner und nimmt ein Gebiet von 51/; Quabrat« weft mit 99 Straßen in einer Wusbehmung von 52 Werft ein. Durch den Handelsverfeht und durd) bie höheren Sefranftalten der Stadt werben eine Menge Menſchen zu dauerndem ober vorübergepenbem Aufenthalt hierher gegogen, darunter eine Wafie verbrecheriſcher Elemente, deren Zunahme fich namentlich nach Aufhebung der adminiſtrativen Verſchitung Hnjterhafter Gemeinbeglieder nad) Sibirien bemerkbar gemadit hat. Die Bahl der unter poligellicher Aufficht Stehenden beträgt 155, heimlich find 47 zu überwachen. Dieſe Zahlen find im Vergleich zu früheren Jahren ftetig geftiegen.

Der Veſtand der Poliyei: 3 Stabiteilspriftame, 3 Gehilfen, 9 Revierauficher, 52 Gorodomoiß und 11 Poligeidiener, genügt in feiner Hinficht den Anforderungen, zumal ba die Poligeibeamten außer für die Wahrung der öffentlichen Ordnung als Boten und Beugen bei den

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Baltifche Chronit 1902,

Berichten und bei einer ganzen Reife anderer öffentlicher Verpflichtungen in Anſpruch genommen werben.

Beſonders notwendig aber iſt die Vermehrung der Polizei, wenn man berüdjihtigt, da in ichier Zeit der gewöhnliche Lauf des ftäbtifcyen 2ebens häufig und andauernd geftört wird, banf ben befonderen, Außerit betrübenben Grideinungen im Leben ber Höheren Eehranſtalten, deren Zöglinge ſich Gier auf ca. 2000 befaufen ; dais babei bie ganze Aufmert. famteit und alle Poligeifräfte zum Schaden der Interefien der übrigen Einwohner und des ganzen Polipeidienfte auf diefe Anftalten und ihre Zöglinge fongentrirt werben, und zeitweilig die Orispolijei fogar durch Polizeimannihaften der Gouvernementitabt verjtärft werden mußte.

Der Polizeimeifter fordert eine Vermehrung bes Etats um brei Nevierauffeher, 05 Gorobomois und 5 Poligeibiener.

Auf Antrag des Stabtamts beſchließt die Stabt- verorbnetenverfammlung in der Antwort an ben Gouverneur zunächſt darauf hinzumeifen, daß 1888 bie Zahl ber Goro- dowois auf 25 feitgefegt, 1891 aber ſchon auf 40 und 1895 auf 52 erhöht wurde, wobei bie Gagirung ber 12 Ergän- zungsgorodowois in Anbetracht ber äußerft ſchwierigen Finanz⸗ fage der Stadt von ber Krone übernommen wurde. Die gegenwärtig projektirte Vermehrung bes Polizeietats erſcheint der Stadtverwaltung unverhältnißmäßig ftarf im Verhältniß zu der in ber Volkszählung vom Jahre 1897 ermittelten Einwohnerzahl von 42,421 Seelen und nicht hervorgerufen durch die Bebürfniffe des gewöhnlichen ftäbtifhen Lebens, das ziemlich jtill ohne befondere Störungen bahinfließt, ſondern verurfacht durch bie traurigen, in letzter Zeit im ganzen Reiche im Leben der höheren Lehranftalten zu Tage getretenen Erſcheinungen, auf die auch ber olizeimeifter in feinem Rapport hinweilt. Die für die Poligeivermehrung erforderliche Summe von 21,740 Rbl. ift die Stabt nit im Stande aus ſtãdtiſchen Mitteln zu been, da der dadurch auf 60,000 Rbl. gefteigerte Aufwand für die Polizei faft ein Drittel des Ausgabenbubgets ausmaden würde. Der Gouverneur wird daher gebeten, darum nachzuſuchen, baß bie Krone die Koſten für jede Verftärfung der Stabtpolizei, welcher Art fie auch fei, auf fi nehme. („Nordl. Ztg.“)

18. Mai. Niga. Der orthobore Nonnenfonvift in Niga foll in

ein neugeſchaffenes Troize-Sfergijewer Nonnenklofter umge: wandelt werben. Zur feierlichen Eröffnung beijelben treffen

Baltlſche Ehronit 1902. 127

ber Gehilfe bes Oberprofureurs des hl. Synode W. K. Sabler und der Präfident ber baltiichen Bratftwo Galkin-Wraſſkoi ein. Die wunderthätigen Bilder der Diuttergottes zu Püchtiz und Jakobſtadt werden ins Konvift geſchafft. Da aber ber Biſchof Agathangel tags zuvor nad) Petersburg abreift, muß bie Einweihung bis zum Herbſt verfchoben werben.

19. Mai. Auf das Gefuh bes Grafen E. Ungern « Sternberg erfolgt nad) dem Vortrag des Finanzminifters ein Alerhöchfter Befehl, im Jahre 1903 mit dem Bau einer Bahn von ber Station Kegel der Baltiihen Bahn bis zur Stadt Hapfal zu beginnen, unter der Vorausfegung, daß bie Trazirungs- arbeiten im Jahre 1902 vorgenommen werben und die vom Grafen Ungern-Sternberg in Ausfiht geſtellie foflenfreie Meberlafjung bes zum Bahnbau nötigen Landes ſich ver wirklicht.

20. Mai. Der deliberirende Adelskonvent der livländiſchen Ritter Schaft tritt im Nitterhaufe zu Riga zufammen.

vn Im Walkihen Kreife hat die Verſchmelzung leinerer Gemeinden zu größeren, wie der „Valt. Meftn.” konſtatirt, ſehr fchnelle Fortichritte gemacht. Im Jahre 1897 gab es im Wallſchen Kreife noch 65 Gemeinden, während gegen- wärtig ihre Zahl auf 48 geſunken ift. Im Laufe von fünf Jahren Haben fomit 17 Gemeinden ihre Selbfländigfeit ein: gebüßt. Die Zahl der Gemeindegerichte ift noch kleiner, da mehrere Gemeinden nur ihre eigene Verwaltung behalten, ſich Hinfihtlid der Gerichte aber mit anderen Gemeinden vereinigt haben.

22. Mai. Die „Kurl. Gouv.-Ztg.“ veröffentlicht in Nr. 41 einen Utas aus dem Dirigirenden Senat vom 27. April 1902 über die Anſtellung der Gemeinbejchreiber in Kurland. Der Ulas lautet:

Auf Befehl Seiner Kaiferlichen Majeflät hörte der Dirigirende Senat: 1) die Alte, vorgeitellt vom kurländiſchen Gouverneur bei jeinem Rapport vom 23. Mai 1900 sub Nr. 3020 in Folge der Veſchwerde ber bevolimächtigten Vauern der Gemeinde Ricderbartau Peter Schiubur und Zahn Sapat über bie Birtulärverfügung de Furländifchen Gouverneurs vom 28. April 1899, bie bie Ordnung für die Wahl von Gemeinde« ſqhreibern und die Veſtimmung ihrer Gage feitiept, und 2) ein ſchriftliches Gutachten des Minifters des Innern zu diefer Sache, entfalten im Hapı

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port vom 5. September 1001 sub Ar. 17,118, und befahl: nad) Durd« fiht der Umftänbe vorliegender Sache findet der Dirigisende Senat, dab jum Anlaß für die Emanirung des Zirtulär vom 28. April 1899 burd ben kurlandiſchen Gouverneur bie Röweſenheit von Sinmeifen auf eine geitliche Befhränfung bei der Wahl oder Ernennung von Gemeinde: jchreibern ſowohl in dem Gefeh vom 19. Fehr. 1866 über die Gemeinde: vermaltungen in den DftfeegounernementS als auch in der übrigen die bäuerliche Kommunalverwaltung in den OftfeegouvernementS berührenben Gefepgebung diente, weshalb ber Turlänbifche Gouverneur für notwendig eractele, ben Bauerfommiffaren zu erläutern, dab ein einmal gemälter ober ernannter Schreiber die ihm auferlegten Pflichten forterfült biß zu feiner Entlaffung nach gefeglicer Ordnung, wobei im ſelben Zirkulär erklart wurde, „bah von jet ab die Gemeindeſchreiber ohne Beitimmung eines Termins für ihren Dienft gewählt werden und baf die biejes Amt jest beleibenben Perfonen als neugewählt betrachtet werben müfjen nad Ablauf ber Kontralte, die von ihnen mit ben Gemeinden über bie Gntfehäbigung für ihre Arbeit geſchloſſen wurben, zu deren Erneuerung die Gemeinden und Schreiber ihrerzeit zu [creiten haben." In Rüdfiht darauf, dah die Zirfulärverfügung des kurlandiſchen Gouverneurs nad; der Ordnung des rt. 6 der Regeln vom 17. April 1893 über bie Gouvernementsbehörben für bäuerliche Angelegenheiten erfolgt ift, findet der Dirigirende Senat, daß fie fraft dieſes Artitel und auf Grundlage bes Art 9 p. H der genannten Regeln in Kraft belaffen werben muß, und besßalb verfügt der Dirigirende Senat gemäß dem Gutachten des Minifters des Innern: die Veſchwerde Schfuburs und Sapats ohne Folgen zu laſſen

Die „Rig. Roc." bemerft dazu: „Somit iſt biefe Frage. bie auch in Livland ganz müffiger Weiſe im Sinne einer periodifchen Wieder, wahl der Gemeindefereiber angeregt worden war, vom höchſten er: waltungsgerichtshofe in dem Sinne entchieden worden, der Jahrzehnte hindurch als der richtige gegoften Hatte, biS einige Neuerer auf Die Idet verfielen, bie periodiſche Wiederwahl wäre geeignet, die Gemeinbefchreiber in eine ihnen ermünfdhte größere Abhängigteit zu verfepen.“

27. Mai. Der Minifter des Innern erteilt ber Zeitung „Grafdanin“ in der Perſon des Nebakteurs und Herausgebers Fürften Meichticerfli bie afte Verwarnung, weil ber Autor der fog. „Zagebuchblätter” dieſer Zeitung ſich ſcharfe Krititen über höchſte Würdenträger der Gouvernementsvere mwaltung erlaubt und dabei die gehörige Achtung vor dieſen Regierungs vertreten vergift.

28. Mai. Friedrichſtadt. Die neue Stabtverordnetenverfammlung wählt an Stelle bes bisherigen langjährigen Stabthaupts Dr. A. Bienemann, für den 3 Stimmen abgegeben werben, mit 21 gegen 18 Stimmen 3. Pluhme zum Stadthaupt. Der kurländiſche Gouverneur verfagt biefer Wahl bie Bejtätigung.

Baltife Chronit 1902. 19

30. Mai. Der Kurator des Rigaſchen Lehrbezirls Geheimrat AN. Schwarz wird zum Kurator bes Warfhauer Lehr bezirfs ernannt.

1. Juni. Aus dem von ber „Eparchialzeitung“ veröffentlichten Bericht über ben Zuftand der orthoboren Volkoſchulen in ben Dfffeegouvernements für das Schuljahr 1900/01 ergiebt ſich, daß dieſe Schulen im genannten Zeitraum befugt wurden: in Livland von 13,728 Kindern, darunter 11,571 Orthobore, 21 Eingläubige, 1974 Lutheraner, 44 Katholifen, 111 Alt- gläubige und 2 Vaptiften; in Kurland von 2284 Kindern, darunter 987 Orthobore, 188 Katholiten, 961 Lutheraner, 87 Altgläubige, 5 Baptiften und 56 Hebräer; in Eſtland von 2159 Kindern, darunter 1330 Drthobore, 7 Katholiken, 815 Lutheraner, 4 Altgläubige und 3 Hebräer; in allen drei Provinzen zufammen 18,171 Kinder, 271 mehr als im Vorjahre.

Im dieſer Zahl find noch lange nicht ale Kinder entfalten, bie nach ihrem Alter bie Schulen befugen müßten: aus den von den Schul: Tonfeils eingefanbten Berichten ergiebt ſich, dab 2237 ſchulpflichtige Kinder die Schule nicht beſucht haben. Der Bericht meint, dab ein Mittel, die orthodoren Kinder zum Schulbefuch anzuhalten, eine beträchtliche Erhöhung der Strafjahlung für das Fernpalten eines ſchulpflichtigen Kindes von der Schule fein würde; die Strafgaplung beträgt jeyt pro Kind für jeden verfäumten Tag 11, Kop-, in ben futherifchen Schulen aber 5 Rop.

Auf Grund der Voricrift, daf die Bauertinder orthodorer Kon feifion dig zum 10. Lebensjahr von ihren Eltern zu Haufe im Lefen und Schreiben unterrichtet werden follen, bemühen fic die Priefter die Eltern dazu angubalten, aber 8 müffe geſagt werden, dab in der Mehrzahl der Kichjpiele in der Iepten Zeit die häusliche Unterweilung nicht mehr geübt werde. Der Bericht des Schulfonfeils erflärt das dadurch, dab die Yaucrn wüßten, die vielen leicht erreichbaren Schulen nähmen doch auch die unvorbereiteten Rinder auf, und fi) besgalb um ben häuslichen Anfangs« unterricht nicht forgten.

Der orthodoxe Scultonfeil Hatte bei den Kirchenſchulen für das Berichtsjahr 69 Kommilfionen zur Prüfung von Perfonen, die für die Ableiftung der Wehrpflicht das geſebliche Privilegium erlangen wollen, eingefefgt; bei der Durchficht der Protofolle und Eramenabeiten durd) den Konfeil Hat ſich u. A. ergeben: dab einige Kommiffionen in ben Arbeiten grobe Fehler burchgelaffen und bie Arbeiten ehr nachfichtig, Togar unrichtig beurteilt Gaben; dab einige Kommiffionen Perfonen zur mündlichen Prüfung im Ruſfiſchen zugelaffen Haben, die im der ſchriftlichen durche gefalen waren; daf einige Kommiffionen zu leichte arithmetiſche Aufsehen

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Baltifie Chronit 1902.

geftelt Gaben und andere nicht entbect Haben, dab bie Nerhenarbeiten ber Sgaminanden nicht jelbiländig gemadt waren (aus der Durchficht der Reenaufgaben ergab ſich überhaupt, bak der Unterricht in biefem Fach nicht richtig gegeben werde); daß von einigen Aommiffionen Lutherifchen Sraminanden Urteile in der Neligion erteilt worden find, ohne da erfichtlich gewefen wäre, auf welcher Grundlage daß geſchehen ift-

4.—10. Juni. Mitau. Allgemeine Konferenz ber

Kurländifhen Ritter: und Landſchaft.

Behandelt wird die Frage der Entihäbigung der Rittergutsbefiter für das ihnen durch bie Einführung des KronsBranntweinmonopols gefürgte Propinationsredt. Konferenzbireftor ft Baron Mar v. d. Ropp« Birten, fein Stellvertreter Baron Chr. v. d. Dften-Saden · Dondangen. AS Vertreter der Livlandiſchen itterfhaft wohnt Landrat Baron Rolden - Moifelag, als folder der Eftländifcen Nitterfchaft Landrat v. Lucder« Wallifer ber Konferenz bei. Rachdem ein Antrag, die Konferenz möge fid) in der Krugsentfcjädigungsfrage als in einer rein privatredtlichen Angelegenheit für infompetent erflären, für den fih 73 Stimmen fanden, abgelehnt worden war, ergaben ſich ais Nefultat der Verhandlungen folgende Beihläffe: 1) Die Staatsregierung iſt um eine Erläuterung au erfuchen, wer in Folge der Aufhebung des Branniweinausſchantrechts entfchäbigungsberechtigt geworden fei, alle Nittergutsbefiger oder nur biejenigen, Die bei Aufhebung des fraglichen Rechts folches auch thatfächlich noch ausübten. 2) Für den Fall, dah bie StantSregierung nur die leblere Aategorie von Rittergutsbefigern als entfhäbigungsberchtigt aner» lenne, ſoll der Nitterfchaftstomit6 es dem Einzelnen überlaffen, bireft von der Krone bie ihm zufommende Entfhäbigung zu erfeben. 3) Für ben Fall aber, da alle Nittergutsbefiger für entfchädigungsberehtigt erffärt werden, will die Ritter- und Landſchaft überhaupt feine Verteilung, fondern Verwendung des Oejammtlapitals zu mohlthätigen und gemein“ mügigen Zweden. Der Ieptere Vejchluß erzielte eine Mehrheit von nur 6 Stimmen, formel wurde er ſchlieblich dahin rebigirt, da im beregten Fall die Eniſchadigungeſumme zunägit „zur freien Dispofition" der Ritter und Landſchaft verbleiben jolle. Zirta 100 Rittergutsbefiger, bie das Propinationsrecht bis zufegt thatfächlich ausgeübt Haben, reichten am Schluffe der Konferenz einen fchriftlichen Proteft ein gegen bie Anwen. dung von Mebrheitsbeichlüffen bei der Verfügung über Summen, die ihnen aus rein privatem Rechtstitel zuftehen.

5.—17. Juni. Riga. Ordentliher Landtag ber Lin:

ländifhen Ritter- und Landſchaft.

Die Landtapsprebigt hält Generalfuperintendent Dehrn über den Tert Eph. 5, 15-17. Als Delepirte der übrigen baltiſchen Ritterfchoften wohnen den Verhandlungen bei Zürjt Lieven-Kabitlen aus Aurland, Graf Igelitrom-Haiba aus Cjtland, Baron Leon Freptag-Loringhoven aus Defel. Zum Landmarſchall für da nädfte Triennium wurde Baron

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Friedrich Meyendorff All. Vewerthof zum 7. Mal wiebergemählt. Der Bericht über die Regelung des Verlaufs der Paftoratsländereien befagt, dafı vom Aelstonvent und einer Kommiſſion ein Reglement für den Verlauf ausgearbeitet worden üft, eine baldige Löſung der Frage aber gegenwärtig nicht gu erwarten iſt, da ihre Bearbeitung noch im Minifterium des Innern fortgejegt wird. Hinſichtlich der Teilnahme der Paſtorais Höfe an den repartitionemähigen kirchlichen Leiftungen erhält das Land zatsfolfegium den Wuftrag, das von ber Gouvernementßoerwaltung geforderte Gutachten, entjpredend dem Nechtsgutadhten des Dr. jur. Gürgens, im Sinne einer bedingungslojen Befreiung der Poftoratshöfe von den kirchlichen Leiftungen abzugeben. Für den Haus: und Kons firmanden-Vorbereitungsunterricht wird den Stirdenvoritehern bie Unter« ftügung der Prediger aufs wärmite empfohlen ; der Plan der Ausbildung von berufsmäßigen Katecheten fol weiter verfolgt werden; ber erforberliche Kredit wird dazu bewilligt, ebenjo ber für bie Anftellung von Hilfsoifaren prolongirt, die munmehe in allen Sandfprengeln, mit Ausnahme des Rigaſchen, erfolgt üt. Zur Kenntniß genommen wird der Bericht über die Entſcheidung des Genats vom 19. Dftober 1901 in Sachen ber Repartition der Leiftungen für die Parochialſchulen: der Ritterſchaft wird die Kompetenz zu der vor fait 10 Jafren über die Anordnungen bes damaligen Gouverneurs eingereichten Veſchwerde abgeſprochen. Durd) die betr. Anordnungen des Gouverneurs werben einerfeits die Höfe im Wider - iprud) zur Bauerverordmung von 1819 zu gemifen Leiftungen für bie Säulen herangegogen, andrerfeits von der gamgen Landgemeinde zu tragende Laſten allein auf die bäuerlichen Eigentümer und Pächter fteuer« pflictigen Sandes, mit Ausnahme der griechiſch / orthodoren, übertragen. Wider die Entfcheidung des Senats giebt es fein ordentliches Rechtsmittel. In Sachen der Entfhädigung der durch Einführung des Krons- branntweinmonopolS in der Ausübung des Propinationsredts gekürgten Nittergutsbefiger wird der Sandmarjdall beauftragt dahin zu wirken, daß die von der Krone für das livländiſche Feſtland zu gewährende Entſcha - digung dem Landtag zur Verteilung an die Erfapberechtigten übergeben werde, Den Berteilungsmodus foll erforderlichen Folls der Abelstonvent feitfegen und bie Werteilung inappellabel ausführen, die Höhe der Ent- jchadigungen fol von einer Yanpttommiffion und acht Areis.Subfom- miffionen beftimmt werden. Das Projelt eine neuen Bemäfferungs- und Entwäfferungsgefeges iſt auf dem Standpunkt angelangt, auf dem 8 vor 20 Jahren ftand: der Reichsrat Hat im November 1901 in Bors jqlag gebracht, die baltifchen Provinzen von der Wirtjamfeit des neuen Reichswaflergejeges auszuichliehen und das Minifterium der Sandwirtfchaft gu beauftragen, die Frage feiner Anwendbarkeit in Liv-, Et» und Kurland einer Bearbeitung zu unterziehen. Gin ſpegiell baltifces an daß probin, nielle Privatrecht fic) anlepnendes Waffergefep iteht fomit in Ausjicht. Der Landtag beichlicht eine breiglicberige Kommiffion mit der Bearbeitung diefer Baterie zu betrauen. Im Bezug auf die Vorarbeiten zur Grün«

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bung eines Irrenaſyls wurde beſchloſſen, bie Anlage nicht in Solitude bei Wenden, fondern bei Gtarteln außguführen, eine Baufommiffion von fünf Glicdern zu ernennen und die Blenarverfammlung des Adelslonvenis du autorifiren, mit der Kiofändifcien Gefelichaft zur Fünforge für Geifies⸗ trante in allen einjchlägigen Fragen zu verhandeln und eine Yaftung der eingelnen Bauergemeinden für die Verpflegungstoften ihrer Gemeindeglicher au ermirfen. Die Refultate der von Dr. Ströhmberg im Jahre 1900 veranftalteten Enguöte Über bie Zahl der Geiftestranfen in Sinland follen gedruct werden. Die Genehmigung zur Subventionirung des Revaler Hebammeninftituts bepufs MWusbildung Ländlicher Hebammen für den eitnifdien Spradbiftrift ift von der Negierung nicht zu egportiren gemefen, bie Errichung einer debommenſchule in Riga wurde wegen ber voraus: ftlicien Haltung der Gouvernementsvermaltung nicht Betrieben. Der Landtag beauftragte die Sandesrepräfentation, die Aktion zur Hebung de Hebammenmefens in geeigneter Weife fortzujehen und bemilligte bie bisher zu biefem Siwed angemiefenen Mittel. Cin gemäß dem Veſchluß des auberorbentlichen Landtags von 1000 von einer Rommiffion ausgearbeiteter und vom delöfonvent vorgelegter Entwurf eines Normalitatuts für Kirhipielshebammen, ber das Olüd gehabt Hat, im Allgemeinen bie Zuftimmung des Gouverneur8 zu finden und mit ben don dieſem gewünfchten Uenderungen wohl die Beitätigung des Minifters erhalten wird, wird vom Landtag afjeptirt. Vetreffend die Ausbildung von Landmeſſern am Rigaſchen Polytechniſchen Inftitut erſucht der Landtag bie Repräfentation die diesbezüglichen Verfanblungen mit dem Bermal» tungsrat des Bolgtechnitums weiterzufüßren. Die nicht mehr obliga- torüice Zahlung von 285 Rbl. jährlich zur Verbreitung der Schupblatiern« impfung bewiligt der Sandtag als freiwilligen Beitrag aus der Landes tafje zur Anſcheffung und unentgeltficen Verſendung von Lymphe an Semeindeverwaltungen und Yerzte, ſowie zu Hevifionsreifen der Nebiginal« Beamten. Die Zahlung von Kanzleigeldern im Betrage von 285 Nbl. FL Rop. an die Lioländifche Gouvernement3:Lolfsverforgungsfommilfion, die alS fatultatives Sandeöpräftandumn anzufehen ift, befhlicht der Landtag einzuftellen; die Thätigfeit dieſer Kommiffton befteht gegenwärtig regelr mäßig nur in der Herausgabe monatlicher Preisverzeichniffe von Produften und Wrbeitsfeiftungen und möglicher Weile in Verarbeitung der vom Sandratstolfegium jährlich dem Gouverneur abgeftatteten Ernteberidhte. Hinfichtlic) der Reorganifation der Kirchſpielsbriefpoſt, für Die der Landtag von 1899 eine Kommiffion eingefept und dem Adelöfonvent Vollmacht erteilt Hatte, iſt der Gouverneur erjucht worden, die Regeln vom 10. April 1898 dahin abjuändern, dab jeder Pojtbote ein Quittungsbud) für bie offizielle Koreejpondeng bei ſich zu führen Habe, und vom Minifterium der Wegelommunifationen zu envirfen, da die refp. Bahnpoftbeamten dur Eintragung der offiziellen Rorreſpondenz in diefe Quittungsbücher verpflichtet werben. In dem eriten Punft erflärte ſich der Gouverneur nicht für fompetent, da bie Segeln von der Hauptverwaltung der Bolten

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Beftätigt find, bie zweite Frage wird in derſelben Hauptverwaltung Beraten. Nach, Verleſung des Berichts zum Rommiffiongelaborat, betreffend Negelung des gegenfeitigen Berhältniffes der Guts . und Gemeindevermal« tungen bei Wegebauten, fowie Kontrolle der Erpfoitation zum Wegebau angewieſener Grandlager wurde die Ausarbeitung einer Darſtellung der einfchlägigen Gelege befcjloffen, um darnach das Grforderlide wahrzu - nehmen. Der vom Adelsfonvent verfahte Entwurf zu einer Flöhungs- Verordnung für die öffentlichen Flaſſe Livlands, mit Ausnahme der Dana, wird gegenwärtig vom Winifterium der Wegefommunifationen überarbeitet. Dem belstonvent wird die Wahrnehmung des weiter in diefer Frage Erjorderlichen aufgetragen. Aus dem Bericht über das Wegebaufapital geht bervor, daß ſich in einer Reihe von Einzelfragen Meinungsverichiebenheiten zwif en der Vertretung der Liol. Ritterichaft und der Veſonderen Seffion der Couvernementsregierung in Wegeſachen erhoben Haben. Die Fragen find nur zum Zeil hoͤheren Orts entjcjieden worden, überwiegend zu Gunften der Auffaffung der Belonderen Seſſion, zum Zeil harten fie mod der Erledigung. Gemäß dem Gutachten der vom Landtage d. J. 1809 in Sachen der Ranbtagsredhte der Nigafchen Gtabtdeputirten niedergefegten Rommifjion wird diejen Deputirten bie Teifnafme am den Beiclüffen über Aufnahme in die örtliche Adelsmatrifel und Ausicliehung aus derjelben zugeſtanden. Auf Anregung des Herrn v. Siryt zu valla war feinerzeit die Ausarbeir tung eines ünerbenrechts für Rittergüter einer Rommilfion übertragen worden, deren Elaborat nunmehr vorlag. Un ledterem hat Bervorragenden Anteil der Rechtsanwalt Arel Bold zu Riga, dem feitens des Landtages ein befonderer Dank votirt wurde. Nach kurzer Diskuſſion fand der Entwurf en bloe einftimmige Annahme. Er wird der Deſelſchen Ritter« ſchaft zur Meinungsäuferung, den Rittericaften von Kurland und Ejtland dur Renntnißmaßme mitgeteilt umd ber Regierung zur Beftätigung vor: geitellt werden. Ein von einer beſonderen Nommiffion ausgearbeitetes Penfionsreglement für die ritterfcaftlichen Beamten wird mit geringen Aenderungen vom Landtag angenommen. Die vom Landtag des J. 1900 zur Dearbeitung ber Frage der obligatoriicen Einführung des Rormalftatuts für Kirgjipielsärgte eingelegte ommifjion begründet in ihrem Bericht die Anſicht, dab es genügen würde, wenn jedes Rittergut und jede Gemeinde nachweiſen müßte, dab ein Arzt die Sanitätsarzt« pflichten in einem genau zu regelnben Mindeſtmaß (Kontrolle ber Hed ammen, Bodenimpfung, Behandlung der Gemeindearmen zu vereinbartem Preiſe u. ſ. m.) gegen ein Jahresfirum übernommen habe. Da eine obligatorifche Zahlungspflicht der Höfe und Gemeinden für Sanitätsgwede als ein neues Präftendum nur durch ben Reichsrat fanttioniet werden kann, wird beichloffen, von einer Regelung der Sanitätsarztpflicht in obligatorifchem Sinn abqufehen und bie fatultatioe Verbreitung bes Normalftatuts anzuftreben. Als Exfay für die ausfallenden Stimmen pargellirter Aronsgüterhöfe, deren Kulturländereien der orthoboren Geift-

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uichteit, Bauern oder verabſchiedeten Untermilitärs angewieſen ſind, hält der Sandlag nach dem Vorgang bes Adelskonvents zur derſtellung des Gleichgewichts der Stimmen der Höfe und der Gemeinden auf den Nichentonventen die Delegation von Vertretern des Pomänenrefforis in die reip. Nonvente für wünfhenswert. Die Beitätigung diejes Veſchluſſes durch ben Minifter des Junern ſoll erwirft werden und Die gegen dieſe Mahregel geäußerten Neditsbedenten des Gouverneurs follen widerlegt werden. Auf Anirag des Sandrats d. Sivers, betreffend die Erhebung der Rirchipielspräftanben, wurde eine aus 7 Ölicdern beitehende Kommifjion beauftragt, für den näciten Sandtag Borjdjläge für die in Konjequenz ber Steuerreform erforderliche Neorganifation der Sandes-Raturalpräftanden, der Wegebaulaft, der girchen . und Kirhfpielspräftanden auszuarbeiten. Die Zuftruttion und bie Tarife für die in Ronequenz ber beichlofjenen Steuerreform erforberliche Schägung ber Ländlichen Immobilien des lin: ländijchen Seftlandes werden in der von der Gouvernemenisichägungs« tommiffion vorgefcjlagenen Feſſung afyeptirt, die im Separatvotum des Dirigirenden des livlandiſchen Kameralgofes vorgeichlagenen Modififationen werben abgelehnt. Der zur Ausarbeitung eines Notwegegefeges nieder . geiegten Kommiffion fol der Adelötonent einen Entwurf für ein ders artiges Gefeg zur Beihlubfafung vorlegen. Aus dem ber Ritterſchaft dugefalfenen erblofen Nachlab der weil. rau Emilie o. Tortlus geb. Lind joll eine Stiftung begründet werben mit dem Zwede, unvericuldet im jchwierige wirtfaftfiche Lage geratenen zum livlandiſchen immatrikulirten Abel gehörigen Rittergutsbefigern Siolands eine Unterftügung zu gewähren. Der Gefellicaft zur Belämpfung der Sepra wird neben der Dedung eines Defigiis von 3725 Mbl. 8 Kop. die Erhöung der für jeden in einem Seprojorium ber Gefelligaft verpflegten, einer livlandiſchen vand . gemeinde angeförenden Sepröfen aus der Sandestaffe zu leitenden Zahlung don 98 auf 120 bl. für drei Jahre bewilligt. Im Intereffe der älonn- mifchen Zermaltung der Anftalten hält der Landtag die Ernennung je eines Aurators für die wirtfcaftliche Leitung jedes der vier Leproſorien durch den Verwaltungsrat für empfehlenswert. Die Landesrepräjentation fol die Ation, betreffend die Grwirkung des Internirungs: und Jior Yirungsgwanges für Lepröſe, fortfegen; für den Zall der Ermirtung des Internieungspwanges wird der Gejelf—aft zur Belämpfung der Sepra bis zum näcften Landtag ein jahrlicher Kredit bis zu 5000 Nbl. aus der Sandestaffe zur Gagirung eines oder zweier Spegialärzte zur Ueberwachung unb Ziolirung der Sepröfen bewilligt. In Bezug auf das Roltsfguls wefen wurde dem Landtag berichtet, da vor Erlah eines neuen Bolts fgufgefeges die vom Landtag im Jahre IRIS erftreble Liberirung der Hitterfcjaft von der Zerwaltung der Vollsſchulen nicht ins Werk gejegt werben Lönne, Un Stelle des Entwurf vom Jahre 1895 ift zwar ein neuer vom Minifterium der Bollsauftlärung ausgearbeitet worden, der aber im Welentlichen mit dem früheren ibentifc) ift und dem im der aller. untertpänigiten Supplit des fivl. Sandmarfchalls vom November 1897

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(Salt. Chr. IL, 44) für die Beteiligung der Nitterfcaft an der Verwal. fung ber Voltsichulen als notwendig bezeichneten Grundlagen nicht Redh - mung trägt. Ein Gutachten zu dieſem Projeft abzugeben oder gar ein eigenes ritterfchaftfiches Projeft aufzuftellen hat der Sandmarfalt dem Kurator gegenüber Ende 1900 abgelehnt, fo fange nicht durch eine direlie Aufforderung des Miniſteriums zur Teilnahme an den Vorarbeiten feft: geiteit fei, dab dem Minifterum am ber Mitarbeit der Nittericaft für die Vollsſchule gelegen fei. Gegen Ende des Jahres 1900 verlautete, bafı auch daS Lefte Projeft bei Seite geſchoben fi und man beabfichtige, das allgemeine ruſſiſche Voltsfgulitatut mit eimaigen Abänderungen auf die battifchen Provinzen auszudehnen. Die bisher zu gemeh und Bifdungsweden gemäßrten Willigungen wurden zum. gröl weiter bewilligt ; die Sioländifche adlige Güterfreditfozietät übernahm bie bisher von der Kitterfaffe geleifteten Subventionen von 4000 Abl. für die Liol. Gemeinnügige und Delonomifde Sozietät, von 200 Rbl. für die Verjucsitation des Nig. Polgtechnitums und 2400 Abt. für die Aus: bildung von Landmeſſern Zur Gagirung des Direttors de Landes. tulturburraus werben der Defomomifchen Sojietät 2000 RbL. jährlich teiennal bewilligt. Zum Veſten eines zu begründenden Scparatfonbs der Emeritentaffe der Prediger des lidländiſchen Konfiftorialbezirts behufs Ablöfung der Drittelgahlung an die emeritieten AmtSoorgänger, wo eine folche Zahlung durch den Racjfolger nicht geichehen fann, werden bis um näcften orbinären Sandlage 1000 NbL. jährlich, bewilligt, für bie Reftauration der St. Jafobisfirce in Riga 4000 Rbl. Die Subvention des v. Elhſchen Privatgpmnafiums in Riga wird von 5000 auf A000 Abt. bie der ©. Zedbelmannfchen Privatlepranftalt in Jurje (Dorpat) von 5000 auf 10,000 Abl. erhöhi, der Antrag des Feliiner Stadtyaupts, beireffenb Suboentionirung einer in Fellin zu begründenden Nommerje ſchule, dagegen wird abgelefnt, da das Vedürfniß nad) einer ſolchen Schule nicht allgemein und dringend empfunden erfheint. Die bisher von Her X. Anüpffer geleitete Privat-Mäddenfcule und Penfion in Sellin wird durch unentgeltliche Ueberlaffung von Wohn und Schulräumen im chemal. Londesgymnafium unterjtüßt. Die Suboention des Vereins Hepfata zur Ausbildung Taubftummer wird auf 2200 Rbl. jährlich erhöht, ebenſo die des fioländiidien Taubjtummenbildungsvereins von 600 auf 1500 Ab. Der Uebernahme der von der Wolmarfchen Zufuhrbahngeſellſchaft erbelenen Zinsgarantie aus dem Wegebaufapital im Höchitbelrage von 44, pCt. Zinfen des Obligationstapitals 75,500 bl. jährlich nebſt einer Amortifationsquote von 2140 bl. jährlich für die erften 20 Jahre nad; der Yetriebgeröffnung der zu erbauenden Bahn wird zugeftimmt und dos dieshezüglidie Geſuch der Gründer der Gefelihaft v. Gersdorff und Fürjt Lieven an die Regierung zu unterftügen beſchloſſen. Einem Kommiffionsgutachten entipredend wird von der Ausarbeitung einer Ehrengerichtsordnung für die der Kinländifchen Apelamatrifel angehörenden Edelleuie Abjtand genommen, doch jpricht die zum Landtage verjammelte

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Kitterfhaft den Wunſch aus, dab jedem Duell zwiſchen lioländiſchen immatrifulirten Ebelleuten, falls eine Partei ſolches verlangt, ein Efren- gericht vorausgehe. Zu Lanbräten werben gewählt on Stelle des Herrn Dutolar v. Samſon dimmelſtjerna Herr Arved v. Dettingen zu Ludenhof. an Stelle des derrn Reinhold Baron Statl von Holjtein Herr Victor Baron Stadelberg zu Kardis, an Stelle des Herrn E. Baron Gampen« haufen Herr Valihaſar Baron Campenhaufen zu Aahof, an Sielle des Herm €. d. Anrep Herr Victor d. Helmerien zu Reu-Woidoma. Zum Nitterfhaftsjelretär wurde an Stelle de$ abiretenden Herrn Th. v. Richter Herr Friedrich v. Samſon Himmelſtjerna gewählt, zum Nitterfcjaftsnotar Here Aſlaf v. Traufehe.

5. Juni. Ein vom „Neg. Anz." publigirter Allerhöchſter Befehl ordnet die

Einſtellung der Sammlung von ftatiflüchen Daten durch die Landichefis. inftitutionen in ben Gonvernements Veffarabien, Jetaterinofflam, Rajan, Kurst, Drel, Penfa, Poltama, Sfamara, Sfimbirst, Tula, Charfow und Tichernigow an.

Die Sammlung ſtatiſtiſcher Daten wurde durch Gefep vom 8. Juni 1893 den Landſchaften aufgegeben, um auf Grund derfelben eine Um» Ihägung des Immobiliarbeſites zum Zweck der Steuerumlage vornehmen zu fönnen. Die Arbeiten Haben aber trof eines Aufwandes von 6 Mill. Rbl. wenig Brauchbares zu Tage gefördert, was ſich Die Regierung dadurch erfläct, dab die Landſchaflen die ihnen geftellte Aufgabe zu fehr „erweitert” Hätten. Jerner fei das Perfonal, das zu den Arbeiten herangezogen wird, völlig ungenügend, und die Statiftiter nehmen ſich angefidhts der gegen, märtig grofien Nachfrage nach ihrer Arbeit ſodiei heraus, daß fie im unpiemfide Nollifionen mit den Sandfcaftsämtern geraten. Die Zehl der im politiicer Beziehung oft weitaus nicht tabelfojen Hilfsarbeiter erreichte in den Jahren 1900 und 1901 in vielen Gousernements eine bedeutende Höfe, die zwiſchen 16 (Go. Pitow) und 71 (Gouo. Wjatta) fwantte, im own. Poltaa aber die enorme Zahl von 594 (bei 37 ftänd. Statiftitern) aufwies. Es war nicht immer möglich, die Zulaffung unzuoerläffiger Perfonen zu der Veſchäftigung mit den ſtatiſtiſchen Arbeiten au verfindern, da einige Sandfchaften wegen Eile der Cache vor erhaltener Genehmigung durch den Gouverneur die Statiftifer zu den Arbeiten zu» lichen. So begannen im Gou. Orel von 40 Perfonen, die zu den ftatitiichen Abſchabungen herangezogen waren, 30 Mann die Arbeit ohne Senemigung ber GounernementSobrigfeit. Unter ſolchen Umitänden zog die Abfciügungsangelegenpeit ſchon lange die Aufmertſamleit des Minis fteriums auf fid, doch vermochten indeffen weder die Hinweile ber Gouverneure nod) die Kontrolle der Polizei, noch bie verichiedenartigen Ertundigungen über einzelne Perfonen die Bevölferung in genügendem Mahe vor dem in politiicer Beziehung ſchädlichen Einfluß einiger ders artiger Perfonen zu f—hüyen. Der jtändige Verteht mit den Bauern, beſonders bei der Unterfuduung des Landbefiges, bot unuverläifigen Leuten ein weites Feld für die Propaganda gegen Die Regierung, deren Vefämpfung

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bei der geringen Polizeifontroffe in ben Dörfern äuferft ſchwierig erſcheint Die Iepten Ereigniffe in den Gow. Poltama und Charfom bewiefen zur Evidenz die Rotwendigfeit, jofort dem ſchädlichen Einfluß, den einige ber. Tanpfgpaftlichen Statiftiter auf die Sandbevölfrung ausübten, Schranten zu fegen.

Diefe Erwägungen Gaben den Miniſter des Innern zur Erportirung des obigen Allerhöchſten Berbots der Umfaheten ber Statiftiter bewogen, das ſich Übrigens nur auf das flache Sand der genannten 12 Gouvers nemenis und das Laufende Jahr bezieht. In den 22 übrigen Gouper- nemenis, in denen die Kandfchaftsinftitntionen eingeführt find, werden die Gouverneure berechtigt, die Sammlung atiftiicer Daten in den Lands bezirlen zu inhibiren, wo fie eine derartige Arbeit im Intereſſe der öffent» Hidjen Ordnung nicht für wünſchenswert erachten.

5. Juni. Reval. Die Stadtverorbnetenverfammlung beichlieht, unter Hinweis auf die Finanzlage der Stabt und auf bas Defizit des vorigen Jahres im Vetrage von 33,345 Rbl., beim Komits für Hafenangelegenheiten um ben vollen Erfag der der Stadt dur die Aufhebung der Progentfteuer von den ein- und ausgeführten Waaren zugefügten Einbuße nach- zuſuchen.

7. Juni. Jutjew (Dorpat). Die Allerhöchſie Genehmigung zur KRontrahirung einer ftädtiichen Anleihe von 190,000 Rbl. zum Bau eines Schladhthaufes in Jurjew (Dorpat) wird erteilt.

7. Juni. Zurjew (Dorpat). Tie offizielle Grundſteinlegung zu dem großen Neubau auf dem wilden Dom findet ſtatt. Der Bau ift urfprünglid, für ein Stubententonvitt beftimmt geweſen, ſoll aber für andere Bedürfniffe der Univerfität verwertet werden,

11. Juni. Der „Reg.-Anz.” veröffentlicht ein Allerhöchſtes Reſkript an ben Verweſer des Miniſteriums der Volksaufklärung v. Saenger.

Das Reſtript betont die Notwenbigleit der religiös— fittlichen Etzichung in der Schule, damit fie nicht den für jede Sache ſo verderb« tigjen Eigenwillen und Dünfel großziehe. Zur Erreichung dieſes Zieles müffe unverzüglich für futzeffive Einrichtung von Erziehungspenſionaten bei den mittleren Lchtanftalten der Nefidenzen und der Gouvernemenis - ftäbte Sorge getragen werden, indem man gleichzeitig für die Sache der Erziehung eine jtrenge Auswahl der geeigneiften Leute treffe und niemand zuiaſſe, der für bie bezeichneten Aufgaben nicht hinreichend vorbereitet it. Gleichzeitig foll die Frage der materiellen Sicherftellung ber Lehrer bear« beitet werden. Für die Organifation der Schule werden drei Kategorien vorgeſchrieben: eine niedere mit abgefchloffenem Vildungsgang, eine mittlers Schule verſchiedener Typen, gleichfalls mit abſchliehendem Bildungsgange, und eine Miltelſchule mit dem Vorbereitungskurfus für die Unfserfi 5

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Hinſichtlich der Univerfitäten ſpricht das Reſtridt bie Hoffnung aus, dab Die Jugend ſich wieder in der Erfenntniß ihrer Pflichten den Siudien und ber Ordnung zumenden werde, und ſchlieht dann mit ben orten: „Den Unordnungen, die die Wiſſenſchaft und die Univerfitäten entchten, auf die Rußland in früherer Zeit mit Ned ftolg war, und die jeht fo viele dem Baterlande und Mir teure junge Eriftenzen zu Grunde richten, muß, zum Segen des Mir von Gott anverlrauten Volles, cin Ende gemadjt werden.”

12. Juni. Riga. Beim livländiſchen Gouverneur findet ein Rout

für bie Mitglieder des Landtages ftatt.

„Reval. Die eftländifche Prediger-Synode wird in üblicher Weife in der Ritter: und Domfirde durd) eine Synobalpredigt des Generalfuperintendenten Hörſchelmaun über Hebr. 12, 2—7, eröffnet.

Die Synode war von 69 Gliedern und 20 Gäften befugt. Propft Rinne - Rarufen und Paſtor Buch = Fidel hielten Vorträge über die Scelforge, Paftor Rall:Weißenitein ſprach über den Mangel an Gemeindebemwußtjein. Ueber die Volfsihulen berichtete Paſtor Bruhns-Niſſi; im Anſchluß an biefen Bericht wurden die Fragen eines Lanbes-Katehismus, eines eſtniſchen ABCbuches, eines Schulleſebuches und der Taubſtummen⸗ und Kinderpflege erörtert. Oberpaſtor Luther: Reval hielt einen Vortrag über das Thema: „Gehört Jeſus Chriſtus in das Evangelium“, in dem die Harnackſche Aufs faffung eine eingehende Verüdfichtigung erfuhr. Ueber den Spiritismus und Verwandtes handelte ein Vortrag von Vaftor Krebsbad) Pühhalep, der Generalfuperintendent Hörſchelmann fprach über die Eheſcheidung und die Wieder: verheiratung Geſchiedener. Einen geſchichtlichen Vortrag hielt Propſt Hunnius:Maholm über die Wandlungen der lirchlichen Formen des chriſtlichen Begräbniſſes. Die Synode wurde am 18. Juni geſchloſſen.

13. Juni. Walk. Die Stadtverordnetenverſammlung beſchließt

um die Errichtung einer Kronsrealſchule in Walk bei der Regierung zu petitioniren und das Betreiben dieſer Ange: legenheit einer Kommiſſion aufzutragen. Die Kommune will ſich an dem Unterhalt der Schule mit einer Subvention von 10,000 Rbl. jährlich beteiligen. Bon der Verwaltung bes Lehrbezirts wird in der Folge diefe Subvention als fo gering

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bezeichnet, daß fie die Gründung ber Schufe nicht veranlaſſen könne. Der Stablarzt Dr. Koch, ſeit 35 Jahren im Dienft der Stadt, wird zum Ehrenbürger von Walk gewählt.

14. Juni. Paſtor Dr. phil. Auguſt Vielenftein begeht in Doblen fein 5ojähriges Prebigerjubiläum, zu dem ihm von über 20 Verbänden und gelehrten Gejellihaften Glückwünſche dar: gebraht werben.

14. Juni. Libau. Die neuen Stadtverorbneten wählen ben bis- herigen ftänbigen Stadtrat Ullmann wieder und zum zweiten Stadtrat den Stadtverordneten Kruming; der Stadtſekretär Straus wird wiedergewählt. Die Gage bes ftändigen Stabt- rals wird von 3000 auf 2000 Rol. herabgefegt, ihm aber eine wicht penfionsfähige Zulage von 1000 Rbl. gewährt. Die Bezüge des Stabtiefretärs werden von 4000 auf 3500 Rbl. herabgefept.

Dazu bemerft ſelbſt der tuſſiſche Zeil des „Lib. Lofal und Handelsbl.": Die Pflichten des Stadifetretärs find ſeht kompligitt und erfordern eine bedeutende Anſpannung der Kräfte. Wenn ber frühere Zunftionär mit fo folofjafer Stimmenmehrheit wiedergewählt wurde, fo ergiebt fich logiſch daraus, dab feine bisferige Thätigfeit als vollauf befriedigend anerfannt iſt. Zu ſolchem Falle war es feine beſondere Nötigung, fein Honorar herabzufegen. Lidau ift nicht nur eine große Stadt mit einem verhältnißmäfiig Hohen Budget, fondern auch eine ſeht teure Stadt, in der bezüglid) aller Gebrauchsgegenftände eine ungewöhnliche Teuerung derrſcht, die ſogar hinter den Preifen der Reſidenz nicht zurüd» ſteht. Das muß man ganz bejonders im Auge haben bei der Firitung der Gage derjenigen Perjonen, von denen die Stadt eine beftändige, Tebs Hafte und angeftrengte Mügewaltung fordert.

15. Juni. Der Kurſitenſchen zweiklaſſigen Miniſteriumsſchule ift es geitattet worden, den Schülern ber 2. Klaſſe, bie in allen Fächern gute Fortſchritte aufweifen, wöchentlich vier Stunden Unterricht in der deutſchen Sprache zu erteilen (Zirk. f. d. Nig. Lehrbgz.). Die Zulaffung der deutſchen Sprache als auferprogrammmähiger Unterrichtsgegenftand wird feit bem legten Semefter an verſchiedenen Volksſchulen, zum Teil auf Pelitionen der Eltern hin, genehmigt.

15. Juni. Nach dem von der „Eparchialzeitung“ veröffentlichten Protokoll der 24. Konferenz ber Geiftligjfeit ber Rigaſchen Eparchie vom 27. Oktober 1899 Hat biefe Ronferenz befchloffen, beim hl. Synob darum nachzufuchen, daß in Zukunft, von

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ben 60 Kronsftipenbien an ber Nigafchen geiftlichen Schule zwei Drittel den Kindern von Geiftlihen vorbehalten werden und bie reftirenden 20 den Kindern hiefiger eſtniſcher und lettiſcher Bauern, darunter vorzugsweife folhen, deren Väter Rehrerftellen an den orthoboren Kirchſpiels- und Hilfsichulen ber Rigaſchen Eparchie beffeiden. Bisher war das Verhältnik ber Stipendiaten aus ben beiben fraglihen Ständen ber

Zahl nad) das umgekehrte.

Zur Begründung des Veſchluſſes wird gefagt, dab gegenmäctig Heine Notwendigteit zur Gewährung fo großer Vorrechte an bie eſtniſchen und lettiſchen Bauerfinder bei dem Beſuch der geiftlichen Schule mehr vorhanden fei. Die Mehrzahl der orthobogen Geiſtlichteit ſei aus ber örtlichen Bevöllerung Gervorgegangen und ihre Kinder beherrſchen bie Tettifche und eftniiche Sprade volltommen. Wenn es früher eine Zeit gegeben habe, wo «8 mötig geweſen wäre, die beften Aräfte unter den örtlichen Vauertindern heranzuziehen, fo bebürfe man einer ſolchen erirar orbinären Mafregel jet nicht mehr: die Kinder der örtlichen Geiſtlichteit Fönnten jet nicht fchledter als die Bauerlinder mit Ehren das Hirtenamt verſehen. Andrerſeits ift die materielle Sage der orthodoren Pfalmenfänger in ber Eparchie, bie in der Mehrzahl der Fälle allein auf daS Aronsgehalt von 250-300 RbI. angewiefen find, fhlimmer als die Situation vieler bäuerlicher Pächter und Sandeigentümer, fo dafs die erfleren weniger die Möglichkeit haben (wenn fic fie überhaupt haben), ihre Kinder auf eigene Koften in der Rigaſchen geiſtlichen Schule erziehen zu laſſen, als bie Bauern. Die geringere Zahl von Kronsftipendien für Kinder geiftlichen Standes beraube daher viele Diener der girche der Möglichkeit, ihre Kinder in Riga unterrichten zu laſſen, und fei die Urfadhe, daß ipre Anaben fih Häufig mit der Ausbildung in den örtlichen Kirhfpielsidulen begnügen müffen.

15. Juni. Das livländiſche Landratstollegium wählt an Etelle des

nad 15jähriger Amtoführung zurücktretenden refibirenden Landrats Heinrich Baron Tiefenhaufen den Landrat Wolbemar Baron Maydell zu Martzen zum reſidirenden Lanbrat.

Mit den Erdarbeiten für die Strede Kreuzburg-Tuckum der Windau-Moskau⸗Rybinsker Eifenbahn wird begonnen.

16. Juni. Schlock. In Gegenwart bes Generalfuperintendenten

©. Oehrn und einer zahlreihen Verfammlung wirb ber Orunbftein zum Umbau ber futheriihen Kirche gelegt.

» Zum kurländiſchen Vizegouverneur wird ber Vizegouverneur von Olonetz Oberft A la suite der reitenden Gardeartillerie Starynlkewitſch ernannt. Er tritt fein Amt am 10. Juli an.

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17. Juni. Nachdem Landrat M. v. Sivers aus Gefundheitsrüd- Fichten vom Präfidium ber Livländiſchen Gemeinnügigen und Delonomifchen Sozietät zurücigetreten ift, wird bafjelbe vom Landrat X. v. Dettingen-Ludenhof übernommen. Zu Ehren- mitgliedern der Sozietät werben ber refibirende Landrat Baron W. Mapdell und der Sefretär ber Livl. Abteilung der Kaiſ. Ruf. Geſellſchaft für Fiſchzucht und Fiſchfang M. von Zur Mühlen ernannt.

18. Juni. In einer Sigung ber Gouvernements:Schägungstom- miffion wird beſchloſſen, die vom Landtag approbirte Inftrufs tion für bie Schägung ber ländlichen Immobilien Livlands zum Zwed ber Steuerumlage nebjt dem Separatvotum des Dirigirenden des livl. Kameralhofes bem Finanzminifterium zur Eniſcheidung einzufenden.

18. Juni. Eine Konferenz der Volkoſchullehrer des Rigaſchen Kreifes wird im Niga abgehalten. Dieſe vom Volkoſchul—⸗ infpeftor des Kreijes geleitete, durc) das Negierungsreglement in der Wahl ihrer Verhandlungsgegenftände recht beichränfte Verſammlung beihäftigt ſich Hauptfädlic mit ber Frage nad) der beften Methode für ben Unterricht in ber ruffiichen Sprache in ber hiefigen Volfsfchule.

19. Juni. Nige. Die Sigungen des mit ber Erledigung einiger Landtagsvorlagen beauftragten Livländiihen Adelsfonvents werben geichloffen. Unter Anderem wurde beſchloſſen, die auf bie Güter des Grafen Scheremetjew im Kirchipiel Pebalg entfallenden Zahlungen für kirchliche Leiftungen im Betrage von 670 Rol. auf die Nitterkafie zu übernehmen und dem Grafen Scheremetjew davon Mitteilung zu maden. Da das Medizinaldepartement bes Miniſteriums bes Innern ein die Zwangsifolirung refp. Internirung der Lepröſen ermög- lichendes Zirfulär erlaſſen hat, foll bem Lepraverein ber vom Landtag bewilligte Kredit von 5000 Nbl. für einen oder zwei Spezialärzte eröffnet werben. Für die Vorarbeiten zur Durchführung der Grundfleuerreform wird eine fünfglie: derige Kommiffion unter bem Vorſih des refibirenden Landrats eingejegt. Gemäß dem Landtagsbeſchluß von 1899 find vier Kreistierärzte angeftellt worden und bie Berufung von Diftriftstierärgten in die Wege geleitet worden. Nad) ben

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bisherigen Erfahrungen wird beſchloſſen, die Maximalzahl ber zu freirenden Diſtrikt-Tierarztämter von 32 auf 16 zu rebuziren, den jedem Diſtrikttierarzt aus ber Landeskaſſe zu gewährenden Zuſchuß von 300 auf 500 Rol. zu erhöhen und dem Landratsfollegium 1600 Rbl. zur Bezahlung von Umzugsgeldern an die Tiftriftsveterinäre jährlich zur Ver- fügung zu ftellen. Das Statut für den auf dem Icpten Sandtag beichloffenen v. Tortlusſchen Unterftügungsfonds wird angenommen.

Ein Zirfulär des Mebiginaldepartements des Minifteriums des Innern vom 24. April 1902 sub Nr. 4420 orbnet eine Aufficht über die Jolizung von Leprafranfen an, da die Wiſſenſchaft einige Formen der Lepra für anitedend erflärt habe. Zum Zwed diefer Aufficht muß in jedem Oouvernement, in dem Seprafälle Tonftatirt worden ſind, eine Kommiffion mac) dem Ermeſſen des Gouverneurs niebergefegt werden, zu der aber jebenfalls der Mebizinalinipettor und nicht weniger als zwei mit der Sepra vertraute Aerzte gehören müffen; dieſe Kommifion hat nicht nur die Mebertragbarfeit der Krankheit in jedem eingelmen Fell zu unter: fuden, fondern aud) die äuferen Umjtände vom Gefichtspuntie der Mög: licpteit der Kranfgeitsübertragung auf die Umgebung zu prüfen und eine Ifolirung des Patienten anzuordnen. Wenn nad den Umftänden cine Hofirung des Sranfen, wo fie für notwendig befunden worden it, in feinem Haufe nicht möglich iſt, jo muß er ijolirt werben gemäß den Gefegesbejtimmungen, die die Verbreitung von anitedenden Stranfheiten verhindern follen. Dem ärztlichen Perjonal des Gouvernements wird zur Pflicht gemacht, die zu Haufe ffolirten Aranfen zu überwachen und von der Nichtbeobachtung der Vorſichtsmahregeln der Kommiſſion zu berichten. Wenn die Rranffeit eines in einem Leproſorium untergebrachten Lepröſen mach Ausſage des Arztes die Anftedungsfähigteit verloren Hat, fo fann der Kante auf feinen Wunfch nach einer Beſichtigung durch die Roms miſſion aus der Anftalt entlaffen werden; auch die an einer Übertrag: baren Form der Lepra leidenden, auf Anordnung der Kommiffion ü einem Seproforium untergebrachten Sranfen fönnen don der Kommi Verwandten zur Pflege übergeben werden, wenn ſie nachweiſen, dab die Mittel zur Jiolirung des Kranfen in feinem oder ihrem Haufe vorhanden find. Die Regeln für die Häusliche Zlolirung von Lepröfen werben von ber örtlichen Mebizinafoerwaltung zufammengeftellt und der Kommiſſion mitgeteilt. Für den Transport von Lepröfen gilt die im Zirhulär des Minifteriums des Innern vom 20. Februar 1900 enthaltene Anleitung.

20. Juni. Der eftländifhe Gouverneur Geheimrat E. N. Scalon

fürbt in Berlin. Zum Kurator des Rigafchen Lehrbezirks wird ber bisherige Gehilfe des Kurators des Kiewſchen Bezirks Kollegienrat,

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Kammerherr P. P. Iswolffi ernannt. Er fteht feit 1886 im Staatsdienft und befeidete jeit 1899 feinen letzten Poften, vorher war er Bezirksinſpeltor im Kiewſchen Lehrbezirk.

&®. Juni. Der frühere Nektor der Juriewſchen Univerftät, jeht Glied des Konfeils des Miniſteriums der Vollsauftlarung Budilowirfch ift zum Studium ausländifcher Univerfitäten nach Deutfchland, in die Schweig, nach Jialien und anderen Ländern abfommanbirt worden.

21. Juni. Reval Die Generalverſammlung des eſtländiſchen adligen Güterkreditvereins wählt an Stelle des zurücktretenden Landrats F. v. Zur-Mühlen, der 15 Jahre Präfident und vorher 25 Jahre Sekretär des Vereins geweſen ift, ben bie herigen Sekretär I. v. Hagemeifter-Pauntüll zum Präfidenten und zum Eehetär Ferd. v. Mohrenſchildt-Unniküll.

Juni. Der Rujenſche landwirtſchaftliche Verein feiert fein

25jähriges Veſſehen mit einer reich beſchickten Ausftellung. Der Verein zählt 500 Mitglieder, Präfident iſt Baron Wolff⸗ Metzküll.

22.—25. Juni. Reval. Ausſtellung des Eſtländiſchen landwirt- ſchaftlichen Vereins. Die bäuerliche Pferdezucht präſentirt ſich ſehr günſtig.

25. Juni. Reval. Schluß der Sitzungen des ritterſchaftlichen Ausſchuſſes. Unter Anderem wird auf das Zirkulär des Medizinaldepartements über die Iſolirung von Leprakranken beſchloſſen, der in Eſtland zu kreirenden Aerztekommiſſion zur Betämpfung der Lepra einen jährlichen Kredit von 500 Rbl. zu bewilligen. Nach den Ermittelungen des Lepraarztes Kupfer find in Eſtland bereits zwei Drittel aller Zepröfen internirt.

25. Juni. Der livländiihe Gouverneur Paſchkow beginnt eine Nevifionsreife durd die Städte Livlands. Er beſucht am 26. und 27. Jurjew (Dorpat), am 23. Molmar, am 3. Juli Wenden, am 4. Walk, am 5. Werro, am 10. und 11. Pernau, am 14. Fellin. Won den Städten aus unternimmt ber Gouverneur Nevifionsfahrten nad) einigen Gemeindever⸗ waltungen und weilt als Gaft u. A. auf den Gutshöfen zu Neu-Anzen, Audern, Zintenhof, Neu Woidoma und Nawait.

27. Juni. Auf den Vortrag des Minifters des Innern erfolgt ein Allerhöcjfter Befehl, das Verbot von Privatandadts-

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verfammlungen ber Lutheraner im Pernauſchen Kreife nur in Bezug auf das Kirchſpiel St. Michaelis aufrecht zu erhalten (1. Balt. Chr. 1902 März 7.).

27. Juni. Die Helfingforfer Stadiverorbneten Ichnen ein Projeft des Polizei» meifterß Carlitebt für die Reform der Polizei in Helfingiors ab und bewilligen nur eine angemefjene Vermehrung bes Verſonals. Nach Garfftebt follte in Helfingfors ein Schupmann auf 250 Einwohner tommen; in Riga kommt einer auf 580, in Reval auf 521, in Stod, Holm auf 430. Ebenſo lehnt die Verſammlung die Einführung des vom Poligeimeifter für jede wohfgeordnete Stadt ald unentbehrlich bezeichnelen Hauspofiyeifyftems der Dwornitinſtitution ab. Die Hausbefiger fönnten gefegfich nicht gezwungen werben, die Koften für dieſe Inititution zu tragen, außerdem aber würde den Dwornils, da fie die Veſchäftigungen aller im Haufe wohnenden Perfonen gu beobachten und der Polizei über fie zu berichten verpflichtet werden follen, eventuell eine im höchſlen Grade verhahte Aufgabe geftellt werben.

Die definitiven Refultate der Rekrutenaushebung find, daß ſich im Gonvernement Ryland 22,4 pCt. der Geftellungspflichtigen geftelft haben (in Yelfingfors 57 von 855), im Gouvernement Tavajtehus 50,0 pCt., im Gouvernement St. Michel 44,5 pCt. in ganz Finnland 45,9 pet.

29. und 30. Juni. Wenden. Jährliche Ausſtellung des Land: wirtihaftlihen Vereins für Süb-Livland. Das Programm ift diesmal durch eine kunſtgewerbliche Abteilung erweitert.

30. Juni. In biefem Juni find etwa 40 Gemeindeſchreiber aus ben eſtniſchen Kreiſen Livlands zu einem gegenfeitigen Gemeindefchreiber-Hilfsverein zufammengetreten. Der Jahres- beitrag für orbentfihe Mitglieder beträgt 5 Rbl. Die erſte Verfammfung des Hilfsvereins findet in Jurjew (Dorpat) ftatt. Die Gründung eines ähnlichen Vereins wird von den turländiihen Gemeindeſchreibern geplant.

1. Juli. Die neue Hafenverwaltung wird in 17 Häfen bes Neiches, darunter Niga und Libau, eingeführt. Die Ver- waltung dieſer Häfen geht damit aus dem Reſſort des Miniſteriums bes Innern in das des Finanzminifteriums über. Die Hafenpolizei wirb dem nädjiten Polizeimeifter ober Kreispoligeichef unterftellt. Gleichzeitig tritt ein neues Neglement für bie Navigationsichulen des Finanzreforts ins Leben, durch das vier Kategorien folder Schulen geſchaffen werden. Cine ber erilen Kategorie für weite Fahrten wird bie bisherige Seemannsſchule in Magnushof bei Riga.

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. Juli. Der als Oberft der Gardeinfanterie verabidjiebete Kom:

pagniechef im Litauiſchen Garderegiment N. J. Nikitin tritt das Amt des Kanzleibireftors des livl. Gouverneurs an.

1. Juli. Ein Anſchlag an der Berliner Univerfität beſagt, daß der Kultusminiſter

beitimmmt habe, die Neifegeugnifie ruſfiſcher Mädehengymnafien in Zukunft nicht mehr ais genügend für die Zulafjung zum Univerfitätsitubium anzufehen, aud) wenn die Juhaberinnen ein Ergänungsegamen im Sateinifchen beitanden Haben.

2. Juli. Cine Publikation des Dekans ber Juriftenfafultät ber

Jurjewigen Univerfität erklärt auf Verfügung des Mini— fteriums der Volfsaufllärung das Katheder des in bem Gonvernements Liv, Ejt: und Kurland geltenden Provinzial: rechts für vafant und eröffnet gemäß Art. 605 des IX. Bd. des I. Teils des Sſw. Saf. (Ausgabe von 1893) eine Kon— furrenz für die Bewerbung um dieſes Katheder (j. Balt. Chr. 1897 März 17. und Juli 31.).

4. Juli. Ein neuer Etat für die Quartiergelder der Offiziere

wird publiziet, defien Sätze bereit vom Januar I. I. ab in Anwendung kommen follen. Die Normen des neuen Etats find entſprechend ben thatſächlichen Wohnungspreifen erhöht worden, jo daß die Zuſchüſſe ber Städte zur Bequar- tirung der Offiziere verringert werden oder wie in Neval ganz wegfallen werben fünnen; in Neval betrug 1901 biefe Ergänzungsfumme nicht weniger als 27,000 Nbl.

6. Juli. Der Vigegouvernenr von Livland A. V. Vellegarde wird

zum ftellvertv. Gouverneur von Ejtland ernannt. Er tritt fein Amt in Neval am 17. Juli an.

. Juli. Der „Reg.Anz.“ referirt über eine Senatsentideibung

betrefiend bie Eröffnung von Wajlerwegen für Schifffahrt und Flößung in den Oftfeeprovingen (Senatsutas vom 4. April 1902, abgedrudt in der „NKurl. Gouv.-Zeitung” 28. Yuguft 1902, Nr. 69).

Der Senat führt aus: Gemäß der Anmerlung 3 zum Artifel 350 des uſtaws für Wegeommmifationen (Fortf. vom Jahre 1893) erforbert die Eröffnung von Wafferwegen feine beionbere Hegierungsverfügung. Der Wafferweg gilt als offen für die allgemeine Yenupung, wenn er in feinem natürlichen Zuftande zur Ausübung der Schifffahet und Holz: flößung geeignet ft. Es frage ſich mun, ob die obengenannte Anmerkung fich auch auf die Djtfeeprovingen begieht, und zwar deshalb, weil im Provinzialrecht der Ditfeeprovingen gejagt ift (Teil 3, Met. 1014):

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„Dinfihtlich des Nugungsredits wirb ein Unterfhieb gemacht zwil chen

fientlichen ſchiffbaren Flüffen und folgen, die weniger bedeutend find, einſchlieblich der Väce. Zur eriten Kategorie werben gerechnet“ . . . und weil bann bie Namen von 10 Flüffen, die ſich in den Djtfeegounernements befinben, aufgezählt werben. Der Senat hält den aus biefem Lert gefofgerten Schluß, dab mur dieſe zehn Flaſſe zu den öffentlichen chif- baren Flüſſen gehören und daß folglich ein Fluß, der nicht in biefem Krtitel erwähnt iſt, nur durch einen geſebgeberiſchen AR für ſchifftbar ertlatt werden fann, für unridtig, und enticeidet, dal für die Eröffnung von Wafferwegen für die Schifffahrt und Flöhung auch in den Ditfee« propingen die Anmerkung 3 zum rt. 359 des Uftams für Wegefommur mifationen anzuwenden jei, mit einer Einſchtäniung für Rurland, mo gemäß; At. 1017 des Propinziafrechts „das Flöhen von Holy auf Meinen Flüffen wie auf gröferen Strömen nur den angrenzenden Grunbeigens tümern geftattet üft.“

Der im Senatsutas angezogene Artifel 1014 des 8. Teils des Prov.Nechts Heißt wörtlich: „Unter den Flaſſen find die öffentlichen igifibaren Fluſſe von den andern, kleineren Flüffen und Vächen, zu unterfcpeiben. In Eſtland gehört zu den öffentlichen Zlüffen nur die Noroms, in Livland die Düna, die Treiber a, der Embach und der Pernaufluß. In Kurland werden zu den öffentlichen Flüffen, außer der Düna, die Windan, die Abau, die Miffe, die Ya und die Yu geredet.”

13. Juli. Zum livländiſchen Vizegouverneur wird der Kownoſche Vizegouverneur wirft. Staatsrat Nekljudom ernannt. Er tritt fein neues Amt am 26. Juli an.

14. Juli. Eine Allerhöchſt beftätigte Verordnung über die Führung ber Schiffsjournale auf den Fahrzeugen der Handelsflotte befreit die in den baltifchen Häfen beheimateten Segelſchiffe für drei Jahre, geredjnet von der Einführung der Verordnung, von ber Verpflichtung, bie Journale in rufjiiher Sprache zu führen (j. Valt. Chr. 1901 Oft. 31.).

15. Juli. Beginn der Tracirung der Normaljpurbahn von Kegel nad) Hapfal, deren Bau vom Miniſterium ber Wegekommu— nifationen dem wirft. Staatsrat P. v. Goette aufgetragen worden ift.

15. Juli. Bei der von ber furländiihen Ritterichaft begründeten und auf einem von der Anftalt „Ihabor” bei Dlitau gefauften Grundftüd erbauten Jrrenanftalt wird eine Wachabteilung für unruhige männliche und weiblide Kranke eingeweiht, was eine weſentliche Erweiterung ber Anftalt bedeutet. Bisher beſaß die am 16. Januar 1903 eröffnete und nad

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dem Pavillonſyſtem geplante Irrenanftalt außer dem Doktorat und Wirtihaftsgebäuden nur einen Pavillon für ruhige mãnnliche Kranke.

15. Juli. Das in Niga ericeinende durch feinen Deutſchenhaß fid) hervorthuende lettiſche Tagesblatt „Wahrds“ geht ein, an feiner Stelle erhalten die Abonnenten das bem früheren Nedatteur des „Balt. Weſtn.“ Rechtsanwalt Friedrich Wein berg als Herausgeber und Nebakteur neu Fonzeffionirte Blatt „Nigas Awie.

Meinberg ertlart, dab ihn die Erfahrungen mit ben Herausgebern des „Balt. Wejtn.” zu dem Entſchlußz gebracht Hätten, eine neue journa» niſtiſche Tpätigleit nicht anders zu beginnen, als wenn ihm volle Seibit« ftändigfeit in der Leitung einer Zeitung garantirt wäre. Cr habe baher die Konzeifion eines Blattes auf feinen Namen erwirkt, das dem Vers fangen nady einer Tageszeitung entipreden ſolle, die in nationalem Geiſt gefeitet wird, über deren Ziele die Leſer völlig im Klaren find und auf deren Nichtung fie ſich breift verlaffen Tönen. Diplomatiſche Unbeftimmte heit. werde die „ig. Wo.” nicht pflegen, fie werbe ſich auch nicht jcheuen, nach ihrer befferen Uebergeugung auch zur Zeit unpopuläre Ideen zu vers treten; ber Herausgeber it zwar ein Gegner des Klaſſengeiſtes und Klaſſenhochmuts, beiteht aber des Allgemeinwohls megen feit auf Disziplin und darauf, bab bie Leitung dem beiferen Ver, fändnih zutomme.

Seine politiien Anficten jept Weinberg als belannt voraus : „34 wünfche, dal das fettifche Volt lobe und ſich entwidele, aber bab es ei und fic) fühle als lebendiger Teil am Staatstörper Rublands. Die Yetten follen es empfinden, daß des ruffiigen Neihes Ruhm und Ehre aud iHr Ruhm und ihre Ehre if. Auch der Lettiihe Soldat hat in der tuſſiſchen Kriegsmacht bei Sewaſtopol gekämpft; auch der Lettifche Soldat ift mit über den Balkan gegangen. Wer einmaf ins Ausland fommt, der meih, welches Gewicht in allen Landen ber Name „Rufe“ hat, felbjt in Sanben, wo der Name „Leite* gänzlich unbefannt it. Nah außen fönmen wir ale uns nur als „Rufen“ füyten und auftreten. Daß mir unter folgen Umftänden nur echte Freunbfegaftsgefügle für das rufftice Volt Hegen können, das begreift ſich von felbit. Won jedem fünftlichen Separatismus, von jedem Spallungs ftandpunft Gaben wir ung fern zu Halten. Die leitiſche Frage ift ganz naturgemäß ein Teil der allgemeinen Frage der ruſſiſchen Selbſtherrſchaft. So dentend, empfindend und ſich verhaltend, fönnen die Leiten bie Zur tunft ihrer Nationalität als vollftändig gefiert anfehen. Biefe ſigen ihnen das Gefühl der Gerechtigkeit und Duldfamteit, das im ruſſiſchen Volt herrſcht, dieſe fihert ihnen der wohlwollende Sinn, den unfere Regierung ſchon bisher gegenüber ber Zörberung ber

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Baltiſche Chronik 1902,

Entwidelung der Leiten Bewiejen Hat, wie wir das aus dem Anwachſen der Tettifcgen Preborgane erfehen, diefe ſichert ihnen auf) das Staats: imtereffe, dem e& mur zu Gute fommt, wenn die Setten den oben erwägnten patriotifchen Geift nähren.”

Die Stellung zu den Deutichen aber, an deren Suftur und Geiſtesleben Die Setten fid) entwicelt haben, wird fo prägifirt: „Am der Nationalitätenfrage, die in unſerer Heimat eine jo grode Rolle fpielt, wird die „ig. A.“ Leine Politit der SFeinbigaft gegen bie Deutfcien verfolgen. Soldie Feindſchaft ft ihr völlig fremd. Sur darf man 8 nicht ol „Beindfcaft" betrachten, wenn man für Die Ietifcen Bürger eine entfprecjende Lertretung in ber Selbftvermaltung unferer Städte beenſprucht; man barf es nicht für „Beinbfeaft" Halten, wenn man Die frühere moralifche und geiſtige Abhängigteit der Setten von den Anfhauungen der deutfchen Gefellicaft breijen will, wenn man bie Scibitänbigfeit der Iettifchen Gefellicht gegenüber der beutfehen Gefelfichaft begründen will. In dieſem Ringen um die Unaßfängigfeit der Seiten von dem Webergewigt der Deutfcen wird Die „Ag. Am.” unbeugfam fein. Die „Nig. Aw.“ wird in Sagen der ftädtifejen Selbit« verwaltung für die Iettifcen Bürger fin Gnadengefhent ſuchen. Sie wird nicht fordern, dafs die Deutichen die Letten „berüdjichtigen", daß fie ihnen etwas „geben“, dal fie fie „anerfennen“. Alles das ann die „Rig. Mm.“ nicht fordern, da fie nicht anerfennt, daß den deutſchen Vürgern irgend eine Bejlimmung über den Standpuntt und bie Rechte der Tettifegen Bürger zufteht. Die „Ag. Aw.” fteht auf dem Fun« dament, dab die Iettülhen Bürger felbft aufzutreten und diejenigen echte ſich anzueignen und zu debrauchen haben, die daß Geich ihnen verliehen hatt... -

Zum Schluß fonftatirt Weinberg eine Gährung unter den Letten in den Anfidpten über verfdjiedene ragen, man treffe viel Untlarheit und Unfiderheit, es miache fi bei den Letten dit Notwendigkeit immer mehr fühlder, „seite Lebens», ſeſte Weltanfgauungen zu gründen“ Doyu will die „Rig. Wo.“ helfen. . „Vereinigen, fammeln wirb eins der Yauptziele der „ig. Am.“ fein. Natürlich ift das nicht auf dem Fundament der Shmwädlichleit zu erreichen.“

19. Juli. Nach Blättermeldungen hat ein erblider Ehrenbürger

N. A. Turkin die von ihm angelaufte engliihe Kirche in Kronftabt der dortigen ejtnifchen orthoboren Gemeinde geſchenkt. Die Kirde faßt 1000 Perfonen.

20. Juli. Ein Allerhöchſter Erlaß beftätigt einen von ber Diret-

torenfonfereng und dem Miniſterium ber Volksaufklärung ausgearbeiteten Stundenplan für die vier unterjten Klaſſen ber mittleren Lehranjtalten. Der Stundenplan joll nicht, wie der im vorigen Jahr vom Minifterium Wannawfli ein-

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geführte, nur für ein Schuljahr gelten, fondern weiter beob- achtet werben mit eventuellen vom Minifter für nötig erachteten Aenderungen. Die alten Stundenpläne des Stadtgymnafiums in Riga unb einiger innerruſſiſcher Speziafanftalten ſowie ber deutſchen Kirchenſchulen in den Nefidenzen, deren Stubiens gang von dem Wannowjtifen Verſuch nicht betroffen worden war, bleiben auch nad) diefem Erlaß unverändert.

20. Juli. Die Verfügung vom 20. Juni 1901, wonad) ber Erlös von Woplthätigfeitsveranftaltungen ber Gouvernementsobrigfeit zugeflellt und von dort an feinen Veftimmungsort retournirt werben mußte, ift durch ein Zirfulär des Polizeibepartements aufgehoben worden. Das Woligeidepartement erklärt das Hin- und Herihiden bes Geldes für zwecklos (Norbl. Ztg.). (©. Yalt. Chr. 1902 Febr. 21.)

21. Juli. Der Kurator des Nigafchen Lehrbezirls P. P. Jowolſti tritt in Niga fein Amt an.

22. Juli. Die zum erften Dal in Liv: und Eſtland in Ausſicht genommenen Ankäufe von Remontepferden für das Militär finden in Wenden am 22., in Walt am 24., Wejenberg am 26. und in Jurjew (Dorpat) am 28. Juli ftatt. An der Spite der Nemontefommiffion ftand Generalleutnant Baron Stempel. Die Kommiſſion follte 140 Pferde Taufen und eritand thatfächlih 132 (in Wenden 7, in Wall 52, in Weſenberg 48, in Jurjew (Dorpat) 25), von denen 21 Bauern und Eleineren Züchtern gehörten, 111 aber Hofer zuchten entjtammten. Gemuftert wurden 881 Pferde. Die Preiſe ſchwankten zwiſchen 125 und 450 Rbl., in Summa zahlle bie Krone 33,390 Rbl. Die Probe gilt als gut bejtanden und man nimmt an, daß die Remontekommiſſion von num an alljährlich nad) Liv- und Ejtland fommen werde.

23. Juli, Reval. Anläßlich der in den Tagen vom 24. bis zum 26. Juli ftattfindenden Entrevue mit dem Deutfchen Kaifer auf der Nevaler Rhede ftattet Se. Majeftät der Herr und Kaiſer Nikolai II. der Stadt Reval einen Veſuch ab. Seit der Anweſenheit Alerander II. im Jahre 1858 iſt Reval feines Kaiferbefuches gewürdigt worden. Der Herr und Kaiſer traf auf ber Yacht „Standart“ um 11 Uhr Vormittags von St. Petersburg auf der Nevaler Rhede ein und kam

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um %3 Uhr Nahmittags an Land, wo er von ben Spitzen ber örtlichen Negierungsinftitutionen und dem Stabthaupt v. Hued, das Salz und Brod überreichen durfte, empfangen wurde. Se. Dajeftät begab ſich zur griechiſch-orthodoxen Kathedrale und dann zum Schloß, an deffen Eingang Glieder der „Geſellſchaft der Bannerträger” Salz und Brod über- reichten. Im Schloß wurden Sr. Majeität vom Gouverneur bie proteftantiiche und katholiſche Geiftlichfeit, die Beamten, die Konfuln, die Landes: und Stadtvertreter vorgeftellt, worauf Se. Majeftät fih an die Verfammelten mit ben gnäbigen Worten wanbte: „Ih danke Ihnen, meine Herren! Ih bin fehr erfreut, Sie hier an den Orten Ihres Dienſtes zu fehen, wünſche Ihnen, aud in Zufunft Ihren mufterhaften Dienit fortzufegen.” Nach einem furzen Veſuch der Nitter- und Domkirche, wo Paſtor Winkler das Glüd Hatte, Se. Majeftät zu bewilllommnen, fuhr der Kaiſer ins Ritter⸗ haus. Hier empfing der Nitterfhaftshpauptmann Baron Dellingshaufen an der Spige des Adels Ce. Majeftät mit einer Anfprade, in der er an ben gerade vor 300 Jahren geihanen erften Schritt zur Aufhebung ber Leibeigenfchaft in Eſtland hinwies und Se. Mojeftät bat, der eftländiichen Edelleute zu gebenten, bie an bem Verteidigungskriege von 1812 teilgenommen haben und deren Namen auf Marmor— tafeln im Saal verewigt find. Der Herr und Kaiſer wandte fih darauf an die Nitterihaft mit folgenden Worten: „IH bin herzlich und aufrihtig gerührt durch Ihren Empfang. IH bedaure nur bas Eine, daß Ihre Majeftät die Kaiſerin nidt mit Mir ift, aber Ich Hoffe, daß Ih nit zum legten Malin Reval und im Gouvernement Eſtland bin. Nohmals danfe Ih Ihnen für Ihren ehrenhaften Dienft und in Ihrer Berfon den verftorbenen Männern ber That, deren Namen an diefen Wänden verzeihnet find.” Nach einem Dejeuner im Kabinet des Ritterſchaftshauptmanns begab ſich der Herr und Kaiſer nad dem Nathaus, wo bas Stadtamt und die Stadtverordneten Se. Mojejtät mit Hurrah:

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rufen bewillkommneten und Se. Majeſtät die ausgeſtellten Atertümer in Augenſchein nahm. Dann fuhr ber Gerr und Raifer zum Ruſſalkadenkmal, zum Häuschen Peters des Großen und von bort ins Sommerlofal des Marinellubs. Hier geruhte Se. Majeftät auf das vom Kontreabmiral Woulf ausgebrachte Hoc) zu erwibdern: „Meine Herren! Id trinfe auf Ihre Gefundheit und auf das Gedeihen des neuen Revalſchen Marineklubs.“ Vor dem Katharinenthalſchen Palais empfingen darauf Se. Majeftät die eſtländiſchen Gemeindeälteften, bie Salz und Brod darbrachten, und aud) ber Präjes des Mähigfeitsvereins „Walwaja“ hatte das Glüd, eine kurze Anfprade halten zu bürfen. Vom Balkon des Palais hörte Se. Majeſiät alsbann eine Serenade an, die von dem ruffiihen Muſik- verein „Gußli“, den deutſchen Vereinen „Nevaler Verein für Männergefang” und „Nevaler Liedertafel” und fünf eſtniſchen Gefangvereinen ausgeführt wurde, und geruhte den Sängern zu fagen: „Ih dante Ihnen für den ſchönen Geſang.“ Der Herr und Raifer begab fid) darauf wieber zum Hafen, beftieg einen Dampfkutler und fuhr um 6 Uhr 10 Min. wieder an Bord des „Standart“,

Der Deutſche Kaiſer kommt während der Marine: manöver, die nad den Berichten glänzend verlaufen, nicht nad Neval, nur Perfonen feines Gefolges machen der Stadt einen Beſuch.

25. Juli. Reval. Der Ejtländifche Ritterſchaftshauptmann Baron Dellingshaufen wird zum Kammerjunfer ernannt, das Stadt: haupt, eine Reihe von Beamten, die Leiter der Öefangvereine erhalten Allerhöchite Gejchente. Für die Armen der Stadt fpendet Se. Majeſtät der Kaijer 4000 Rbl.

29. Juli. Auf den Gourerneut von Chartow Fürften Obolenffi, der fid bei der Unterbefidung der Bauerunruhen im April ausgezeichnet Hatte, wird ein Nevolverattentat ausgeführt ; der Fürjt wird nur ieicht von einer Kugel geitreift.

30. Juli. Der „Riſh. Weſtn.“ reproduzirt bie Zuſchrift eines „ruſſiſchen Jünglings“ an den „Sſwet“, die ſich darüber beffagt, da das Rigaſche Polhlechniſche Inftitut für das nächſte Lehrjahr nur aus den Dftfeeprovingen ſtammende

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Aſpiranten bei der Aufnahme berückſichtigt; es ſei das eine unzuläffige Zurüdiegung der Fremden. Dieſer Zuſchrift gegenüber wird Fonftatirt, daß die Statuten bes PBolyted): nifums den Sanbeseingeborenen ben Vorzug einräumen und daß die liberale Zulaffung von Fremden zum Konkurrenz eramen in ben legten Jahren eine Ueberfüllung der Anftalt zur Folge gehabt hat, jo daß man zum diesjährigen Termin nur den jtatutengemäß Bevorrechteten den Eintritt geftatten kann.

30. Juli. Das 1. Departement des Dirigirenden Senats verfügt,

die Beſchwerden des Wenden-Walkſchen, des Riga-Wolmar: ſchen, des Jurjew-Werroſchen und bes PernausFellinfcen abligen und des Wenbenfchen und des Fellinſchen ſiädliſchen Waifengerichts über die von der livländifchen Youvernements- regierung unter dem 13. Dezember 1896 zirkulariter vorge: ſchriebene Verfügung derjelben Negierung vom 3. Dezember beifelben Jahres, betreffend das Verbot an die Waifengerichte Schreiben und Beilagen zu ſolchen in nichtruffiicher Sprache entgegenzunehmen, Antworten in deutſcher Sprache auszu— fenden und ihre Verfügungen mit Ueberfegungen in deuticher Sprache zu verfehen, ohne Folgen zu laſſen (vgl. Balt. Chr. 1896 Dez. 3. und Beilage I).

Dei der Durchficht der Umftände dieſet Sache findet der Dirigirende Senat, dab die von den Waifengerichten des Gouvernements Lioland erhobene Frage darnach, in welcher Sprache die geichäftliche Sorrefponden von dieſen Gerichten geführt werden müfje und in welder Sprache die Diefen Gerichten eingereicyten Geſuche abgefafit fein müffen, bereits der Eriſcheidung der gemeinjamen Verjammlung des 1. und des Rafjations» depariemenis des Dirigirenden Senats vorgelegen hat, die durch Verfügung vom 1. November 1899 sub Nr. 19 zu diefem Gegenftande folgende Erläuterungen gegeben hat: Nach der allgemeinen Norm, ausgefprodhen im 1. Artikel der Beilage zu et. 87 der Allgem. Gonvernementsoer: faffung Vd. IT der Gefehfammlung Ausgabe von 1892, führen alle Nepierungsinftitutionen und Behörden der Gouvernemenis Lioland, Eñ- Tond und aurland ihre Gejdäfte und Korreſpondenz ausſchliehlich in ruſſiſcher Sprache. Bon diejer allgemeinen Norm find im Art. 3 ders felben Beilage Ausnapmen entfalten für Nemter und Behörden, die auf Grundlage der im 2. Teile des örtlichen Probinzialrechts enthaltenen Sejegesbejtimmungen gebildet worden find, und ferner für Znftitutionen und Behörden, die durch die örtliche Vauer. und andere Gefehgebung geicaffen find (mit Ausnahme der im Art. 2 dieſer Beilage genannten);

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alte diefe Inftitutionen und Autoritäten führen bie Geſchäfte unb bie innere Korrefponbenz in deutſcher Sprache ober im Iettifchen oder eſtniſchen Idiom auf früherer Grundlage und find nur verpflichtet, alle ihre Schreiben an Jnititutionen und Autoritäten, die ſich außerhalb ber Grenzen der Dftfeegouvernements befinden und an diejenigen, die in den rt. 1 und 2 diefer Beilage angegeben find, ins Ruffilche zu überfegen und ebenſo alle bei ihnen einfaufenden in ruff. Sprache abgefahten Schriftftüde anzunehmen. Die in diefem Artifel enthaltene Beftimmung fann, als ein Gefep, das am 14. September 1895 (Lollft. Samml. d. Gef. 3100 ailaſſen worden iſt, bie abligen und jtäbtifcen Waifengerichte nicht im Auge gehabt Haben, bie erft 1890 auf Grund des am 9. Juli Allerhöchtt bejtätigten Gejeges über die Neform des Gerichtsweſens in ben Ditier- gouvernements gelcaffen worden find. Da fie nicht Inftitutionen find, die auf Grundlage der im 2. Teile des Provingialrechts enthaltenen Beſtimmungen oder auf Grundlage eines bejonderen Gejehes, das zur Zeit der Emanirung des Geſebes vom 14. September 1885 in Kraft beitanden hätte, gebildet worben find, fönnen bie abligen Waiſengerichte nicht zur Zahl derjenigen Juftitutionen gerechnet werden, von denen im Art. 3 der Beilage zu Art. 87 der allgemeinen Gouvernementöverfaffung geſprochen wird, und daher fann die durch dieſen Artifel ftatuirte Aus. nahme von der allgemeinen Norm für die Geihäftsführung und Norre. hpondenz in ruffiicer Sprache auf fie nicht ausgedehnt werden. Deshalb und weil eine ſolche Ausnahme für die adligen Wuifengerichte auch nicht in dem Gefeg, auf Grundlage defien fie geſchaffen worben find (Allerhöchſt am 9. Juli 1889 beftätigtes Gefeg über bie Reform des Gerichtsweſens in den Oftfergouvernements), entfalten ift, muß man erachten, daß biefe Inftitutionen der allgemeinen Norm unterworfen find, die im Art. 1 ber Beilage zum 87. Art. der Allgemeinen Gouvernementsverfafjung ausge iſt, kraft deſſen all: Negierungsinftitutionen und Autoritäten in den Dftfeegouvernements ihre Geicäfte und Korrefpondeng ausſchliehlich in ruffifcher Sprache führen. Diefe Erwägungen auf die vorlicnende Sacje anmendend und in Anbetracht deſſen, dab 1) das Sirfulär der Tiofändifcen Gouvernementregierung vom 13. Dezember 1896, durch das den Waifengerichten verboten wird, in nichteuffilcer Sprache Rorceı ipondenzen zu fügren und Schreiben und Beilagen zu denfelben anzur nchmen und Antworten in deutſcher Sprache auszujenden, fowie ihre Verfügungen mit Translaten in deutfcher Spradje mitzuteilen, den oben angeführten Gejepesbetimmungen und Erwägungen entiprict, und 2) dak die Ordnung für die Geicäftsfügrung der adligen und ſiadtiſchen Waiſen. gerichte ein und denfelben Regeln unterworfen üft, denn dieſe Jnftitutionen find auf Grundlage des einen Gejeges vom 9. Juli 1889 geſchaffen worden, verfügt der Dirigirende Senat, Die Veſchwerden der genannten Waifengerichte nicht für berüdfichtigensmert zu erfennen und ohne Folge zu Iaffen *).

5 md 8 von unten ftatt Behörden zu leſen

Autoritäten und außerdem 3. 5 ftatt Memter Inftitutionen; ſerner xuI

154 Baltifche Chronit 1902.

31. Juli. Im Jurjew (Dorpat) weilt eine vom Minifterium ber DWegelommunifationen unter Leitung des Ingenieurs Koenig niebergefepte Kommiſſion zur Unterfuchung bes um den Peipus liegenden Terrains im Hinblid auf die Folgen der projeftirten Niedrigerlegung bes Wajjerfpiegels bes Sees und ber Narowa—⸗ regulirung.

1. Auguft. Der katholiſche Propft in Libau Eduard v. d. Nopp wird Allerhöhit als Biſchof von Tiraspol beftätigt.

2. Auguft. Mitan. Konferenz der kurländiſchen Volfoſchullehrer zur Beſprechung der Gründung einer Vereinigung ber fur: lãndiſchen Lehrer zu gegenfeitiger Hilfeleiftung. Der Anſchluß an ben in Livland beftchenden gleihartigen Verein war von der Obrigfeit nicht geftattet worden.

2. Auguſt. Die „Geſehſammlung“ publigirt einen Allerhöchſt beftätigten Veſchluhß des Minifterfomitds, durch den ber Zermin für bie Einführung des Schriftwechſels in ruſſiſcher Sprache für die polniſchen Arcditanftalten bis zum 1. Januar 1905 verlängert wird mit dem Bedeuten, baf eine weitere Prolongation nicht erfolgen werde (f. Balt. Chr. I, 150).

3. Auguft. Jurjew (Dorpat). Unter dem Namen „Nordlivländiſche Exportſchlächterei“ ijt von livländiſchen Großgrundbefigern eine Kommanbitgefellihaft für die Engros-Nusfuhr haupt: fählih von Schweinefleiih ins Ausland gebildet worben mit dem Sitz in Jurjew (Dorpat). Diefes in großem Stil geplante Unternehmen auf genoſſenſchaftlicher Baſis will einen ſicheren ftändigen Abfag für Schweinefleiih ſchaffen, und die Schweinezuht im Sande vorteilhaft für die Landwiriſchaft geftalten. („Norblivl. Ztg.“ Nr. 171.)

3.—5. Auguſt. Jurjew (Dorpat). Nusftellung des eſtniſchen land⸗ wirtſchaftlichen Vereins in feinem neuen Ausjtellungsgarten.

7. Auguſt. Reval. Die Stadtverordnetenverfammlung beſchließt, zum Andenfen an den Beſuch bes Kaifers am 23. Juli c. zwei ſtãdtiſche Elementarſchulen zu gründen und darum nad) zuſuchen, baß bie eine nad) dem Kaifer Nikolai II. und bie andere nad ber Kaiferin Alexandra Feodorowna benannt werben dürfe. ferner foll im Sitzungsſaal der Stabtver- orbneten eine Marmortafel angebradt werben mit einer

Üt an Stelle des Paffus: Bei der Durchſicht der Umftände biefer Sache (3, 19 0. u.) qu legen: Nac Prüfung des Sadverhalts.

Baltifde Chronit 1902. 155

Nachricht über den Beſuch bes Saales durch Se. Majeftät den Kaifer.

9. Auguft. Neval. Prinz Chriſtian von Dänemark und feine Gemahlin Alerandrine geb. Herzogin zu Mecklenburg⸗Schwerin beſuchen Reval auf der Neife nah St. Petersburg.

10. Auguft. In St. Petersburg findet beim Minifter des Innern v. Plehwe eine Konferenz von Nepierungsbeamten und Pertretern der Rommunalı verwaltung in Sachen der Reform der Petersburger Stadtverwaltung ftatt. Zur Beratung kommt ein Projeft des Minifteriums bes Innern. Nach diefem follen u. X. das Stadthaupt, deffen Gehilfe und die Hälfte der Glieder des Siadtamis von der Regierung ernannt unb ihre Amiszeit verlängert werben. Die Stabtverordneten, deren Amtszeit verfügt wird, follen mur zu beftimmten Beiten, wie bie Sandjeaftäverfammlungen, sulammentreten und nur über da Budget und bie wigtigften Vorgänge auf dem Gebiet ber Kommunalvermaltung beraten. Dem Minifter des Innern ſteht der Erlaf von obligatorifchen Berorbnungen aller Art zu und die Reichstontrolle darf jederzeit Einblid in bie finangiellen Unger legeuheiten der Stadt nehmen. Die Erträge der Wohnungsfteuer, der Verfiherungsfteuer und ein Projentfaß gewiffer Staatsiteuern follen der Stabtkafie zuflichen, die von den Leiftungen für bie Polizei befreit wird, Die anmefenden Vertreter der Stadt ſpracen ſich einftimmig nicht nur für die Deibefaltung bes jegigen Wahligftems, fondern auch für bie Erweiterung des Nreifes der Mahlbereiitigten aus. Ertlärungen wurden nad) der „St. Pet. Big.” Nr. 223 vom Minifter des Innern augenfcheinfich fympatßifch aufgenommen.

10. Auguſt. Der „Ruffifche Invalibe” publigiet einen Pritas des Verweſers des Warineminifteriumd, demnach alle Kriegsſchiffe fih nur mit Materialien, die aus Ruhland ftammen, zu verforgen haben.

13. Auguſt. Die „Gefefammlung“ publigiet die Unordnung über die Errichtung einer bejonderen Kanzlei für Angelegenheiten des Adels beim Minifterium des Innern.

15. Auguft. Ein Zirkulär bes Verweſers bes Dlinifteriums ber Vollsauftlärung v. Saenger Schafft die geheimen Charafteri« ftifen ber Abiturienten ab, bie bisher den Leitern ber höheren Lehranftalten von ben Direktoren ber Gymnafien und Real— ſchulen zugeftellt wurden. An ihre Gtelle tritt ein Auszug aus ber Konbuitenlifte der lepten drei Jahre, der ben Abiturienten ausgefertigt wird. Diefer Auszug wird bei Disziplinarftrafen, denen der betreffende Student fpäter etwa unterworfen werben foll, in Betracht gezogen werben.

Das Birkulär enthält ferner eine Reihe von Beftimmungen für die Aufnahme und Wiederaufnahme in die höheren Sehranfalten, parte

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Baltiſche Chronit 1902.

die, dal die ohne nähere Zeitangabe relegitien Stubenten nicht vor dem Auguft 1903 wieder aufgenommen werden bürfen. Es wird geftattet, bei der Aufnahme die für die einzelnen Univerfitäten feftgelegte Norm der Stubentengafl um 10 pt. zu überidreiten. Für die Aufnahme vom Juden haben an den Univerfitäten zu Odeffa und Warſchan und für das Polgtecpnitum in Riga die 1001 feitgefegten niedrigeren Normen zu gelten. Endlich verfpricht das Ziefulär die Abänderung der nirgends volftändig dur Anmendung gelangten temporären Peftimmungen für die Studenten vom 22. Dehember 1901 (j. Balt. Chr. 1901, Dez. 30).

16. Auguft. In St. Betersburg findet die Vermählung der Groß:

fürftin Helena Wladimirowna mit dem Prinzen Nikolaus von Griehenland ftatt.

17. Auguft. Ein Zirkulär des Verweſers des Minifteriums ber

Volksaufflärung geftattet den Lehrerkonferenzen der mittleren Lehranftalten verſuchsweiſe auf ein Jahr die Lernenden in den Wochen, auf bie feine Feiertage fallen, je einen Tag vom Unterricht zu befreien, doch foll die Geſammtzahl diefer Tage im Jahr nicht mehr als 7 betragen.

Dieſe Zage ſollen den Lernenden nicht zu freier Verfügung geitelft werben, fonbern zu Erlurſionen, Veſichtiging von Mufeen, vorieſungen und ähnligen „verftändigen Zerftreuungen“ je nad) der Jahreszeit und den örtlicen Berhältniffen verwandt werden. Diefe Anordnung fol die Häufig beobachtete Ucbermüdung der Lernenden bejeitigen.

Das girlular giebt ferner genaue Vorſchrifien für die Schulhygiene und für phyfüche Uebungen, die die Lernenden täglich eiwa eine Halbe Stunde vornehmen follen, und empfiehlt außer den Vewegungsſpielen Sclitiſchuh · und Scnerjhuhlaufen, Schwimmen, Nudern, Radfahren, Sechten, Handarbeit, Tanzen, Gefang und Mufil. Der Bücherranzen fol nicht mehr obligatorifc, fein. Die Schulätzie werden verpflichtet, fort: während über den Geſundheitsverhältniſſen in der Anftalt zu wachen und an den Lehrerfonferengen teilzunehmen.

Zum Scluß Hält das Sirkulär für nötig auseinanderzufeßen, dab die Zürforge für die phyſiſche Entwidelung der Zögfinge bei diefen nicht den Einbrud hervorrufen joll, als ob bie Erpaltung der Gefundfeit als das Höchfte Ziel menſchlicher Veſtrebungen anzufehen ſei. Die Geſundheit fei deshalb zu hüten, weil fie uns die Möglichfeit giebt, unfere Pflichten au erfüllen, dem Guten zu dienen xc., der Genuß der Geſundheit fei aber fein eines moraliſchen Wejens würdiger Selbſtzwed.

18. Auguft. Der Bolt: und Eisbredjer » Dampfer „General

Sſurowzew“ wird auf der Strede Werder-Kuiwaſt in Dienjt geltellt zur Unterhaltung einer ununterbrodenen Rommuni: fation zwiſchen Dejel und dem Feſtlande auch zur Zeit ungünftiger Eisverhältniffe.

Baltiſche Chronik 1902. 157

20. Auguft. Ein Bulletin der Leibärzte Ott und Hirfch befagt, daß die Schwangerſchaft Ihrer Majeität der Kaiferin Alerandra Feodorowna infolge einer Abweichung vom normalen Verlauf mit einer Frühgeburt geenbet habe, die ſich ohme alle Rom- plifationen vollzogen hat.

22. Auguft. Die „Norbliol. Big.” giebt aus ben Briefen des verftorbenen Kurator M. R. Kapuftin an X. A. Vorſenlo eine intereffante Stelle zu der Frage wieder, ob man bei Kindern nichtruſſiſcher Rationalität den Unterricht mit Umgehung der Mutterſprache gleich mit dem ruſſiſchen UBE beginnen fönne. Kapuftin. damals gurator des Dörptfchen Lehrbegirts, defen Schulen er zu ruififigiren hatte, jchreibt : „Ich babe in biefer Frage einen Schriftwedjel mit dem Kurator des Kautaſi ſchen Lehrbezirts geführt; außerdem babe id als Experiment Tettiihe Kinder ruffiſchen Lehrern, die fein Lettiſch verftanden, zum Unterricht überwiefen. Somohf der Schriſiwechſel als aud) die durchgeführten Experimente haben zu einer Bermeimung der Frage geführt. Auch die Balten, die alle Methoden, den Letten das Deutfche zu Ichren, erprobt haben auch fie begannen den Unterricht mit dem Lettifchen Alphabet.”

Um Wipverftändniffen vorzubeugen, bemertt die „Rorbiol. Big.“ ſebt qutrefiend gu dem legten Cap, dab „bie Ballen”, folange das Schulweſen in ihter Hand lag, nie die Entnationalifirung der Eften und Letten als Zwed der landiſchen Vollsſchulen hingeſtellt. fondern lediglich allgemein bildende Ziele in dieſen Schulen verfolgt Haben.

22. Auguft. Das Minifterium ber Vollsaufflärung geftattet jüdiſche Apotheker gebilfen in dem folgenden Verhältniß zur Gejammtzahf der aufzunefmenden Perfonen in die pharmageutifchen Abteilungen der mediginiichen Fafultäten du tegipiren: an der Moslauer Univerjität 0 pCt. an ben Unioerjitäten zu Kiew, Dbefja, Chartom und Warſchau 20 pEt., zu Rafan, Jurjew und Tomst 15 p&t.

24. Yuguft. Die vom Verweſer des Minifteriums ber Volksauf- klärung entworfenen und von ber bejonberen Konferenz ber Miniſter des Innern, ber Finanzen, der Wegefommunifationen und den Verwefern der Dinifterien der Landwirtſchaft und Domänen und der Volfsaufflärung gebilligten temporären Negeln für ein Profefforen-Disziplinargericht an ben höheren Zehranftalten des Miniſteriums der Volksaufflärung werden Allerhöchjit bejtätigt.

Die Konfeils der Göheren Lehranftalten (aud der für Frauen) wähfen alljährlich drei bis fünf Nichter und ebenjoviel Subftituten, deren Urteil unterworfen werben: Verlebung ber Ordaung durch Gtubirende in den Räumen ber Anſtalt; Kollifionen zwilden ihnen und Lehrern oder Angeſtellien der Anftalt; Vergehen der Stubirenben, bie in ben allgemeinen Gefegen nicht vorgefegen find, aber gegen Ehre und Moral verftoßen.

188 Baltifje Chronit 1902.

Das Profefforengericht urteilt auch darüber, ob ein von einem regulären Gerichte beitrafter Stubent für daS betreffende Vergehen noch einer Rüge ober der Ausſchliehung aus der Anftalt zu unterziehen ift. Die Verhand · lungen find geheim und münblid. Die BVollitredung der Urteile wird dom Relior (Direttor) der Anftalt verfügt, die auf Ausſchlichung lautenden find vom Aurator zu beftätigen. Vom Disziplinargeridit werben folgende Strafen diftiet: Bemerkung, Rüge, Ausſchlatz aus der Aurfusoerjamm fung, eberführung in die Zahl der freien Zuhörer, Entlaffung aus der Anſtalt mit oder ohne das Recht, in eine andere einzutreten. Karzerſtrafen werben nicht verhängt.

Mit dem 1889 aufgehobenen Dorpater Univerfitätsgericht iſt biejes Disgiplinargeriht nicht in Parallele zu ftellen. Es erfceint im Age meinen als eine Art Ehrengericht ; feine Hauptaufgabe wird aber wohl das Relegiren derjenigen Studenten fein, die durch „aktiven Strite" oder „Obftruftion“ die Drdnung in den Räumen der dochſchule zu ftören fucgen.

24.—26. Auguft. Jurjew (Dorpat). Norblivländifhe Auguft: Ausftellung. Sie it trog bes für bie Landwirtſchaft ſeht ungünftigen Jahres gut beſchickt. Befonders wird eine Aus ſiellung bes im DOftfeegebiet vorfommenden Raubzeugs und ber Mittel zu feiner Befämpfung hervorgehoben, die von den Herren v. Midbendorff-dellenorm und Baron Engelhardt: Laiwa mit Unterjtügung anberer Jagd- und Wildfreunde zufammengeftellt ift. Zur Belehrung bes Foritperfonals werben im Anflug an die Naubzeugausitellung Vorträge in lettiſcher und eftnijcher Sprache gehalten.

24. Auguft. Die „Gefeplammlung” Nr. 84 publizirt ein Statut für Gouer nements-elstafien, die verſchuldeten Ebelleuten burd) Darlehenerteilung die Mögliceit geben folen, ſich auf ihren Gütern zu erfalten. Lie Raffen dürfen auch) in der NeichS:Mdelsagrarbanf verpfänbete Güter unter Umftänden auf ſechs Jahre in ihre Bermaltung nehmen. Cine derartige Kaffe lenn von jeder Gouvernements,Abelöerfammlung ins Leben gerufen werben. Das Grundfapital der Kaffe wird gebildet auß einer von Er. Majeftät dem Kaifer feitzufepenben und von der Gtaatsrentei ausjus zahlenden Summe, auß Spenden und einer jährlicen Beifteuer bes Adels, au der in ben erften 10 Jahren ein gleicher Betrag aus der StaatSrentei quge ſchoſſen wird. Das Rejervefapital befteht aus der Reineinnahme.

24. Auguft. Anlahlich des beoorftehenden livländiſchen Merztetages in Fellin ertläct der „Rh. Weftn.“ 8 ſowohl vom pringipielfen als vom prattifcen Standpunft für eine anormale Erſcheinung. daß biefer Kongreß immer einen ausicılichlich deutſchen Cparakter trage. Vom prinzi Standpunkt aus braudt das genannte Blatt zu diefer Frage natürlid; fein Wort zu verlieren, vom praftiicen Gefictspunft aber bemerkt c%,

Baltiſche Chronik 1902. 159

daß ber deutſche Charakter den hieſigen ruffiichen Aerzten die Möglichkeit raube. an dem Kongreffe teilzunehmen, und „was für ein Verluſt das für die Sache iſt, der Die Kongrefie zu dienen berufen find, wird Mar, wenn man aud nur bie ruſſiſchen ärztlichen Kräſte der Jurjewſchen mebiginifchen Fakultät in Betracht zieht". -

24. Auguſt. Die „Bolnitfehn. Gaſ. Vottina” entwirft folgendes Bild von ber Loge der ruſſiſchen Studenten ber Medizin am ber Univerfität Jurjew: Im den Ainifen giebt es viele Gtubenten, aber wenig Aranfe. Die zuffifchen Studenten haben daher aufierorbentlich wenig Gelegenheit zu jelbftändiger Beobachtung, außerdem fennen fie die Spradje der Aranfen nicht, Der Mangel an ranfenmaterial in den Univerfitätstlinifen fan aud) nicht durch den Veſuch anderer Krantenhäufer ausgeglichen werben, denn bie Stadt mit ihren 45,000 Einw. hat mr das eine ftäbtifche Hofpitaf, in dem die chirurgiſche und iherapentiſche Abteilung ber Univer- fität (2) untergebragit find. 8 giebt allerdings zwei ſteis mit Aranten überfülte Privatkliniten, aber dort wird fein Student hineingelaffen, ebenfomenig ind Ariegshofpital. Es fehlen volftänbig die Katpeber für inderfranffeiten, Rafens, Rachen· und Obrenfranfgeiten, Haut» und veneriſche Krankheiten und Balteriologie. Die Naturforicer-Sejellihaft, bie Alinifen unb die gewaltige Univerfitätsbibliotgel Haben reiche Bucher. füge, aber die Mehrzahl der Bücher iſt in frember Sprache abgefaht. Zur Ermeiterung ihrer Renntnifje bleiben die Abfofventen ber medizinifchen Fetultat nicht in Jurjem und es giebt dort auch feine Inftitutionen zur Fortbildung junger Aergte.

25. Wuguft. Riga. Das Stabtgymmaftum wird teilweife durch Feuer gerjtört. Der Unterricht wird einige Monate in den day bergerichteten Gebäuden der ehemoligen Jatobstaferne fortgeiebt, wo aud die am 2. September eröffnete Stabt-Dandelsjqufe interimiftifch untergebracht wird.

27. Auguft. Cin Zirfulär des Verwefers des Minifteriums der Volfsaufflärung teilt ein neues Reglement für die Stubirenden der Hochſchulen mit, bas von ber bejonberen Konferenz ber Diinifter des Innern, der Finanzen und der Wegekommunika— tionen, und ber Verweſer ber Dinifterien ber Landwirtſchaft und Domänen und ber Volksaufflärung gebilligt und am 24. Auguſt Allerhöchſt beftätigt worden ift.

Die vom Miniſterium Wannowſti ausgearbeiteten, am 22. Dezember 1901 Allerhöchſt bejtätigten temporären Negeln für die Organijation der Stubentenfcjaft werden aufgehoben. Rach dem neuen Reglement wird vom Konfeil der Anſtalt für jeden Kurfus ein Aurator aus der Zahl ber Lehrenden gewählt, ber nach einer Jnitruttion des Konfeils bie Rolloquia bes Kurfuß leitet. Die Auratoren einer Anftalt bilden eine Kommiffion, deren Toätigkeit darauf gerichtet it, die Wirtjamfeit aller Auratoren einheitlich zu geitaften. Allgemeine Verſammlungen der Studenten einer Hodidule und datulidis oder Abteilungsverjammlungen find verboten. Die Kurfuss

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Valtiſche Chronit 1902.

verfammlungen werben vom Meftor (Direltor) der Anſtalt oder vom RurfussKurator einberufen. Menn eine Kurfusverfammfung es wünfcht, wird ihr geftattet, Rurfusfeniore zu wählen, bie in Sachen des Aurfus mit den Lehrenden und dem Rektor verfandeln fönnen.

Die Bildung von wiffenicaftlichen und litterãriſchen Zirfeln unter Leitung von Profefjoren wird den Studirenden geftattet; die Statuten dieſer Zirfel werben von ber beir. Fakultät ausgearbeitet und vom Konjeil der Hohfchule beftätigt. Die Gründung von ftubentiicen Vibliothelen und Leſezimmern. Speiſe- und Theehäuſern wird von der Direktion der Vochſchule mit Yinzugiehung der Ruratorenfommiffion geprüft.

Die Ueberreichung von Adreſſen und Rolfeftivbittfhriften, Abſen - dung von Delegirten und das öffentliche Halten von Reden, Geldfolletten und jegliche nicht in dem Regiement vorgeſehene forporative Handlung find den Stubirenben verboten.

Im denjenigen höheren Sehranftalten, bei denen Stubenten-Korpo« vationen auf gefelicher Grundlage beitehen, werden diefe in der bisherigen Geftalt gelaffen.

28. Auguſt. Goldingen. Bei den Stadtverordnetenwahlen werden

18 Kandidaten der ſog. Orbnungspartei gewählt, die ſich aus dem Abel, ben Literaten, zünftigen Handwerkern, Kauf⸗ feuten und Beamten zulammenfegt; aber aud) der Gegen- partei, die meift aus ungebildeten Eleinen lettiihen Haus: befigern befteht und von brei Rufen, einem Letten und einem beutfchen Oetränfeverfäufer geleitet wird, gelingt es, drei ihrer Kandidaten durchzubringen. Bei ber Gouver- nementsverwaltung werben mehrere Klagen über Orbnungs: widrigkeiten, die bei der Mahl vorgefallen feien, angebradt. In der Folge ſucht auch das Stadtamt um Beanitandung der Wahlen nad, da ſich herausftellt, daß eine Anzahl nichtſtimmberechtigter lettifcher Bauern an den Wahlen teil: genommen hat.

28. Auguſt bis 2. Sept. Livländiihe Provinzialignode in Pernau.

Sie ift von 135 Predigern beſucht und wird zum erjien Mal vom Generalfuperintendenten ©. Dehrn geleitet. Vorträge wurden gehalten: von Paſtor Neander-:Schwaneburg über ein eregetiihes Thema, Paſtor Hahl-Teftama über ben modernen Pietismus, Oberpaſtor Kolbe-Bernau über das Bernauer Stabtkonfiftorium, Paſtor Kügler:Roop über kirchliche Brauche bei der Trauung Gefallener. Paſtor Mickwih Fellin ſprach über die Bekämpfung der Unfittlihfeit dur) Magda lenen-Afpfe. Eine ganze Reihe von Berichten wurde der

Valtiſche Chronit 1902. 101

Synode erftattet: über die Heidenmifjion (Oberpajtor E. Kähl- brandt), bie innere Miſſion in Livland (Hillner-Kofenhufen), die Unterjtügungsfaffe für evangelifd-lutherifhe Gemeinden (Bidber-Lais), die Bekämpfung der Lepra, ben Stand ber Taubftummenbildung in ben ejtniihen Gemeinden, bie geiftliche Bedienung der Taubjtummen in Riga (Schabert:Niga) u. |. w. Der Generalfuperintendent berichtete über ben Religions: unterricht in Haus und Schule, der Schulrat Paſtor Pohrt⸗ Nodenpois Über eine im März c. veranftaltele Enquete in Sachen des liol. Landſchulweſens. Einige von der Synobe zur Behandlung fpezieller Fragen niedergefegte Kommiſſionen legten das Nefultat ihrer Arbeiten vor: zum Abſchluß find u. X. gelommen bie Unterſuchungen über die rechtliche Baſis des Küfteramtes und die Frage der Hebung des Kirchengeſanges.

29. Auguft. Zu einer Notiz des „Prib. Ara“, nad) ber in einigen Schulen des Illuxtſchen Kreifes der Gebraud ber Mutter- ſprache in der Schule, bei Strafe des Nachſihens am Sonn: abend Nachmittag, verboten ift, berichtet ein Korrefpondent der „Düna-Ztg.", daß er auch bei ber Revifion einer Schule des Goldingenſchen Kreifes ſämmtliche 40 Schulfinder wegen Gebrauchs der lettiſchen Mutterfprade außerhalb der Unters richtsſtunden nachfigend gefunden habe. Wegen Undurdführ- barfeit des bez. Strafverbots fei das Strafen dort fpäter abgeſchafft worden.

29. Yuguit. Se. Majeftät ber Kaifer, der den großen Manövern bei Kurdt beiwohnt, wendet ſich im Bahnhofsjaale von Kurst an die Vertreter des Adels mit einer Anſprache, in der er daran erinnert, daß fein Bater, indem er bie zuhmvollen Thaten Kaijer Wlegander II. zu Ende führte, den Abel zur Leitung der Verwaltung der Bauern berufen habe; auf diefer Vahn diene der Adel ihm nicht aus Furcht, ſondern aus Ueber zeugung· Um die ſchwierige Sage des bäuerlichen Grundbeſihes zu befiern, würden gegenwärtig die erforderlichen Maßhregeln erwogen, und zur Beteiligung an dieſen Arbeiten feien Mel und Semftiwo berufen worden. Aber auch die Befeftigung des gutsherrlichen Beſihes, der eine uralte Sqhuhwehr der Drdnung und fütligen Kraft Ruhiands daritelle, werde feine jtete Sorge fein. Den Veriretern der Semjtwo danfıe Se. Majeftät für die Bewilltommnung und fuhr dann fort: „Die landſchaftliche detonomie iſt eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit, und ic) Hoffe, daip Sie ihr alle Ihre Aräfte widmen werden. Ich werde Ihnen gern jegliche Zürjorge angedeihen laſſen, indem ich Jugleid) für die Vereinpeite iichung der Iyätigfeit aller lolalen Behörden Sorge trage. Seien Sie

162 Baltifde Chronit 1902.

deffen eingebenf, dab Ihr Beruf in der Regelung der örtlichen öfonomilhen Bedürfniffe befteht! Wenn Sie biefen Ihren Beruf erfolgreich erfüllen, fönnen Sie meines herzlichen Wohlwollens gewiß fein.“

Am 1. September gerubte Se. Mojeftät in ber Adelsverſammlung in Aursf an die aus veridiedenen Gouvernement® hier verjammelien Gemeinbeälteften folgende Worte zu riten:: „Im Frühjahr haben Bauern an mehreren Orten bes Poltawafchen und Charkowſchen Gouvernements bie benachbarten Wirtfgaftsgöfe geplündert. Die Schuldigen Haben bie verdiente Strafe zu tragen, die Obrigteit aber, davon bin ich überzeugt, wird derartige Unordnungen in Zutunft nicht zulaſſen. Ich erinnere Cuch an bie Worte meines verftorbenen Vaters, die er am Tage der Beiligen Krönung zu ben Gemeinbeältejten ſprach: „Gehordet Euren Adels: marſchauen und glaubet nicht den unfinnigen Geräten.“ Dentet baran, da man nicht durch Aneignung fremden Gutes reich wird, ſondern dur ehrliche Arbeit, Cparfamfeit und durd; ein Leben nad; Gottes Geboten. Uebermittelt Alles, was ich Cud) gefagt Habe, aufs genauefte Euren Dorfgenoffen, aber auch, daß ich ihre wirilichen Bedürfnifje nicht ohne meine Fürforge laffen werde.“

29. Auguſt. Jurjeo (Dorpat). Ein vom Verein eſtniſcher Studenten für feine Bwede erbautes zweiftöciges fteinernes Haus wird eingeweiht.

30. Auguft. Auf Koſten der baltifchen Ritterſchaften erſcheint im Buchhandel eine neue Ausgabe bes in Lin, Ejt- und Kurs fand geltenden Privatredts, bearbeitet vom vereid. Rechts: anwalt 9. v. Bröder und mit einem Vorwort von Prof. oh. Engelmann verjehen.

30. Auguft. Der Finanzminifter Witte erhält aus allen Teilen bes Reiches, aud) von den Stadtverwaltungen und Vörſen- tomites ber größeren baltiſchen Städte, zahllofe Glückwunſch- ſchreiben und Depeſchen anläßlih der Vollendung feines 10. Amtsjahres als Finanzminifter.

80. Kuguft. Riga. Der Börfenperein bemilligt 410,000 Rbl. zum Bau eines Haufeß für feine Kommerzſchule.

31. Auguſt. Mit offendarer Befriedigung berichtet der „Riſh. Weſtn.“, dab die St. Beteröburger Stabtverorbnetenverfammlung ein Suboentionsgefudh der dortigen Augůlaniſchen Kirchenſchule abgelehnt hat. Die Schuldiretion Hatte fich barauf berufen, ba nicht mur Kinder von Ausländern, fondern auch Eften und Leiten in ber Schule unterrichtet würden, das Stabtamt aber die Gemährung des Geſuchs wiberraten, weil in der Schule die deutſche Unterrichtsſprache herrſche und folglich „unfere Eſten und Letten in ihr germaniſirt werden“; eine ſolche Schule könne nicht als eine Unterftügung im ftädtifchen Schulweſen angeſehen werden, das „Gott ſei Dant fo beichaffen jei, doh «8 einer beraxtigen Umterftügung nicht bebürfe.“

Ende des 6. Jahrg. der Baltiſchen Chronit.

Perjonen- und Sachregifter aur Boltiſchen Chronit 1001/02.

Adelsangelegenheiten, rufi. 155, 158.

Mbeistonvent, Kiot., 59, 127, 14L.

Molphi, H.. Stabihaupt 49, 09, 122.

Xerztetag, fiol. 158.

Agatgangel, Bifdof 6. 21, 21.

Agrarbanfen 12.

Agrarverhältniffe 53, 00, 81, 82, 8, 85, 104 j.

Aichlammer Di

Altiengefeltfgaften Z

Alegander J. Kaifer 124,

Alerander IT, Kaiſer 20.

Alerander III, Kaifer 4

Alerander Michailowitſch, Groffürft 20,

Alerandra Feodoromna, Ihre Mai. die Raiferin 11, 45, 157.

Altertümer, Schuß für &

Anerbenregt 133,

Anopom, Geheimrat 76.

v. Anrep, dim. Sanbrat 136,

Ariftow, Seminardireftor 21,

Artell lettifcher Arbeiter 41.

Aſyl der Zurj. (Drpt.) Steuergemeinbe ER

Ausftellungen:

des eftn. Iandıv. Vereins in Jurjem (Zorpat) 154,

des eftl. landw. Vereins 143

118, 123,

Jubildumsausit. Riga 5. 27, Oi. Rordfiol. Auguſt/Aucſt. 30, 158. Wendauſche iandw. Zi.

Wendenſche 114

Werroſche landw. 10.

von Winterobit 88, Auswanderung Li.

A., Anonymus der Rig. Rdſch. 101 f.

Babanow, Bauertommifler 33 f.

Balmafchom, ehem. Etubent 121.

Baron, Sicderjammler &4.

Bauergemeinden, Verſchmelzung 8, 10, 77, 127.

Bauergefeggebung, Keil. d. ruff- 2

Bauerunrugen in Poltama x. 108, 1m.

Bazareinnahmen, Verordnung BR, 10.

Beder, NedtSanwalt HU.

Beldjugin, Voltsfgulinfpeltor 22.

Velfegarbde, Kol, Vigegouo. u. eſti Goub. 71, 16

Bellegarde, Goub. von Poltama 108.

Vetfemifchen, Kapitän 105,

d. BendendorffsJendel 100.

Berg, Graf 30,

Bernewig F., paſtot O5,

Beuningen, Paftor 18.

Bielenftein, Paftor Dr. 85, 130,

Vienemann ., Dr. Stabthaupt 128.

Bienemann Konft,, Präfibent 49, 80,

Dibber, Paftor 1OL

Blaumann, Redakteur ÖL

Börfentomitö, Rigafcher 105 |.

d. Boetticher, dim. Hofgerichtsrat 38. -

Vom, Profureursgebilfe 34.

d. VordeliussLigutten 70.

Vranntmeinhandel, verbotener 12,

Branntweintonfum auf Dejel 8.

Branntweinmonopof 17, 38, 83, 130, 183L.

Braßpolz, Zeitungsherausgeber Zi.

Vratitwo, baltilde 20, 77.

Bratitwo, PeterPauls 128,

Bratjtwo des Priefters Jidor 124,

Breitfe), Navigationlehrer 14,

u Perfonen und Sachregifter.

d. d. Brinden-Pehwahfen, Yaron 26,

v. Bröder, Redtsanwalt 102,

v. d. Brüggen, E. Baron 5,

Bucpholg, Dr. Anton 27.

WB udberg, Baron, Ritierſchafishauptmann >

Budilowitſch, ehem. Rettor 77, 148.

Butowipfi, Gymn.«Dir. 37,

Bulygin, Vijegouverneut 34, 71.

Bpitrow, Gymn.-Dir. 37,

B. A. Anonymus der Dünasdig. 101.

Campenhauſen, Valth. Baron, Landrat 126,

Gampengaufen, E. Baron, dim. Landrat 116.

GShriftian, din. Prinz 155,

Doahw, Priefter 70.

Daugul, Gärtner BZ.

Dehio, Profeffor 50.

Dellingshaufen, Baron, Ritterſchaſis . hauptmann 82, 150 f.

Demms, Oberlehrer 46.

v. Derwies, Reichsratsmitglich 00,

Djafonom, Oberbauerrichter 17.

Doll, Propft Weitren: 00.

Domänenvermaltung, baltijde Z.

Drognemilfch, Rontrolpofschef TE.

Dreyersdorff, Rechtsanwalt 48 f., 60 f.

Durnowo, chem. Miniſter 100,

Ehrengerichtsordnung 130

Eisbrecer „Beneral Sfuromgom" 68, 18.

Eifenbahnen:

Ehinefifcje Ditbaln 38,

Regel:Yapjal 127, 146,

StbauSrettingen äü.

Kreupburg-Tudum 140,

Wostau-Winbau 12.

Riga»Alt-Pebalg-Fubahn 104,

Smilten Hayneſch 08,

BaltıStodmannshof 40, 46,

Wolmatſche Zufuhrbaßn 88, 130,

Engelgarbt-Laiısa, Baron 158,

Engelmann, Profefor 162,

Erdmann, D. Paitor 85,

Esplanade in Niga 7Z.

Etats, neue, für Nameralhöfe 75.

Erportfchlächterei, Rordliol. Lid,

Fabriten deuticher Unterthanen 33.

Fehrmann, Generaffuperintendent 121.

Feognoft, Metropofit 21.

Fers Beamter ZZ.

Fermor, Beamter 7.

Fideitommiſſe 83,

Finanzen des Reichs 73 f., DB.

Finnlandiſche Angelegenheiten 2, 108, 111, 144,

Dirds · Leſten, Baron 70.

Fiſchzucht 78, 97,

Slößung 133, 146 f.

d. Zreptag-Lovinghoven, 2. Baron 13V.

d. Friſch. Heihöratsmiglied Ad.

Gachtgens, Propft 14, 15.

Galtin · Wraſſtoi, Bratjtmopräfident 30, T 127.

Gemeindeſchreiber, Anftellung 127.

Hilfsverein 144.

d. Gersborfi, Areisdepulicter LG.

Gefeltigaften:

zur Fürforge für Geiftestranfe 38, s1, 132

zur Betämpf. d. Tuberfuloje 50.

Iettifgslitterdtifche O4.

praft, Werzte in Riga 87.

Gitde, Heine, in Niga 37, 40.

Gogoffeier 97,

v. Götte, Ingenieur 148,

Gorento, Geh. d. Reichstontroleurs 106.

Gortſchalow, Fürſt, ehem. Gefandter 2,

Gouvernementsbehörde für itädt. Angel. 77, 94,

Grab, Paſtot 12

Graubing. Dr., Stabtoerorbn. 120.

Srofjet, Direktor dh.

d. Grewingt, Stadthaupt 100.

d. Gruenewaldt, ejtl. Landrat B2.

o. Gruenewalbt:Hachof LI.

Grunditeuerreform in Sivland 50, 58, OL, 76, 134, lal.

Verſonen · und Sadregifter,

Güterfreditfogietät, Iiof. abl, 185. Güterfrebitverein, ejtl. abl. 143, Guriſchin, General 12

Haaren, Baron, Kreismarſchall 48. Dafenvermaltung 89,105,137, Lid. v. Hagemeifter, Präfibent 113, Happich, Profeffor Bü.

Harnad, W., Prof. 15, 18, 138, Haffelblatt, Redafteur 10. Hebammenfrage MO, 132.

Helena Wladimtromna, Groffürftin 1A. v. Helmerjen, ®., Sandrat 130. Hemme, Ingenieur Bi.

Seſſe, Protureur 38,

Hilner, Paftor Di,

Dirfc,, Leibarzt 157.

Hörfchelmann, Generuffup. 138, Hörfelmann, 3., Prof. 80. Hofmann, Infpettor RA,

Hollmann, verft. Generaljup. 15.

v. Holhendorff, Prof. 66,

d. Homen, Arditelt 17.

v. Huck, Siadihaupt LO.

Josmann, Stifter 38.

Inelftrom, Graf, Yandrat 82, 100, 130, Joatim, Bilchof 21

Joann v. Wiborg, Vildhof 22 f. Induſtrie, ruſfiſche 106. Johannſen, Dr. 48 f.

Irrenwefen 38, 61, 132, 16. Jswolſti, Kurator 143, 140,

Juden frage 13, 40, 45, 166, LAT. Jünglingsverein, Nevaler 12,

Kaigorodom, Gouo. v. Helfingfors 112.

Raiferentreoue, Avaler, 19-151.

Rapuftin, ehem. Kurator 157,

Kaffen:Manie in Liben 40 f.

Rattom, ehem. Journalift 1, 57.

Kirche, Lutherifcje Sanbesr

eitnifche in Sibau 12.

Sirhenbau u. Keflauration 17, 30, 44, 48, 84, 135, 140,

Rircengeredjigteiten Bi.

Kirsjentonvente 50,

ur

Kirdenpräflanden in Pebalg 141.

Konfirmenbenvorbereitung LAL

Wiſchehen Li,

Niffionstolletten 8Z.

Paftoratsländereien 131.

Paftorenprojeffe 27, 42, 49, 57, 89, 08.

Seftirermefen 24 f.

Unterftügungsfaffe 120.

Berbot von Undachtsoerfammfungen 20. 143,

Kirche, griech· orthodore ·

Abreffe ber dimmelfahrisgemeinde 2.

uffict über Sandgeiftlice 38.

Begiehungen gu AnberSgläubigen 47.

Bildernerefrung BZ.

airchenbau 0, 123, 124, 148,

Sircpenfhulen 107, 129.

Niffionsgefeltfhaft 112 f.

Ronnentlofter in Riga 126.

Sellireruneuhen 20.

Stipendien 130 f-

Birffamteit i.d. Oftjeeprov. 20,88.

Air che, reformicte 40.

airchſpielsat zte 133.

Kirchſpielsbrieſpoſt 132

Kirfch, Fifchzlchter 7D, 97.

Alagen und Vveſchverden beim Dirig. Senat 11, 27, 07, La

Anüpffer, ehem. Schulleiter Li.

Kobernfchange bei Higa 40.

Rod, Dr., Stablarzt 130.

Koenig, Ingenieur 154.

Kolonien, leinſche 12.

Ronferenge

für Bedürfniffe der Landwirtſchaft SL 104 f.

Aerzte 87.

der furl, Ritterjcjaft 130.

Boftoren» 70.

Steuerinfpeltoren« 78.

Boltsfcullegrer, 141, 131

Kongrefie:

Miffions« zu Orel 28.

w Berfonen. und Sarhregifter.

Kongreb, Gefängnikdireftoren. 109.

Konkewitjch, Abteifungschef 100.

Konftantin, Biſchof 125.

Ronftantinom, Yafeningenicur 106,

Aoſſahli. Kreischef 21 fi., 45, O4, 12

Komalemsti, Geh. des Finanzminiiters 104.

Rraufe, ehem. Beamter 12.

Rraufe, Hofrat 32.

Rriminaltoder, neuer 60.

Ariwoſchein, Edelmann 46,

Rrugsweien 70.

Kruming, Stadtralsfandidat 130.

Rupfer, Lepraarzt 7.

Kurorte Rußlands 8,

Zandespräftanden 80, Lid Sandesverfaffung, Aenderung 109 f. Sandmeifer 132, Lib,

Sandtage:

Eftfändifcher BL ff.

Eiolänbifcier 130 ff. Landtagsrechte der Kg. Deputirten

gedert, politicher Verbiecher 121.

Zepraangelegenfeiten 7, 19, 59, IH, 141, 142, 143,

Sieoen-Kabillen, Fürft 1:0,

givenSmilten, Fürft 30, 136,

v. Liphart, Präfident DZ,

v. List, Profefjor 00,

Livonia, Walbverwertungs-Genofien, fchaft 30.

Loris-Melitom, ehem. Minifter 4,

Loudet, Präfident d. franz. Rep. 12,

Kovis, Prof. 10 f.

d. ueber, Landrat 82, 130.

Lutjonow Minifterlollege 120,

Märtfon, Stabtfaupt 96, 120, Mähigkeitsbeitrebungen Bi, 87. Mäßigfeitturatorien 10, 40 fu 22 f. 107, 115, Magbalenenafg! in Riga 3B. Manteuffel, Graf 36 f. Wanteuffel-Rapdangen, Baron ZI.

Margolin, Rechtsanwalt 24. Maria Ravlorna, Grobfürftin 12. Marimom, Azifechei 2.

Maydell, Baron, Sandrat 85. 110, 141. Welville, B. 55.

Neihtfhaninem, Minifterlolege LIT. Wegendorft, Baron, Sandmarfgjall 131. Weyer, Joh. Dr. @.

Widwiy, Baftor ZL

v. MibdendorffBellenorm 158, Rilitärlait 145,

Wilutin, ehem. Hinifter 1, 2 Wirbadh, Baron, Poliseimeifter 122 f. d. Mohienſchitdi. Soinig 100,

v. Robrenicjilt-Unnifäll, Selretär 143. Wurawjem, furl. Tiyegouverneu 116,

Nationalitätenfrage LO fi. LIT. Navigationsihulen 14 Lit Necdra, Rebakteur 5L

Nettjubom, Lizegouverneur 140 gifitin, Ranzleidireltor 145,

Nitolai L, Raifer, 21, 124,

Nitolai II, S. M. der gaiſer IL, 45. Anſprachen in gurst 161 f.

veſuch in Reval 149 fi.

Nitolaus, Prinz von Griechenland 156. Nolden · Moiſelab, Baron, Landrat 130.

Dbolensti, Miniſtertollege LIR.

Dbolensti, Gouo. von Chartom 108 f., 1L

Cchen, Generalfuperintendent 130, 140, 100,

v. Dettingen, Arved, Landrat 136, 111

v. Dettingen, €, Sandrat 3

d.d. Djten-Saden, Chr. Baron 130,

Dit, Leibarzt

Päts, Redakteur 46.

Pahlen, Graf, Staatsfetretär 00,

Vand, Generolfuperintendent 14, 17.

Bafcjtow, Gouverneur 10, 10, 19, 21, 72, 138, 143,

v. Pech, Präfibent 2,

Peipusregulirung 14.

derlonen · und Sochregiſter. v

Penfionsreglement f. ritierſch. Beamte 133

Peter J Raifer 124.

Philarei. Bilhof 2 f.

Pilar v. Pildau, Yaron 100.

Plamfc, Paftor 27.

Platon, Bifcof 22.

d. Plehwe, Minifter 09, 109 ff., 16,

Pugme, Stadifauptstandidat 128.

Plutte, Paftor und Redotieur DL

Bodenimpfung 132.

Pojarlow, chem. Profurcur 38,

Polenom, Rationalölonom 52,

Polizei, Berftärtung 78, 116, 125 fi.

Bolptecnitum zu Higa 19,98, 135, 151, 158.

Popom, Fehrbezirfsinfpelter 10.

Privatredjt der Citfeeproninzen 102,

Propinationsregt, Entjdädigung 130, 131

Duans, Rechtsanwalt u. Redakteur 42.

Mätfep, Schrer 18.

Rahwing · Beitungsferausgeber AL

Rauc, Stadtſetreiär 120,

Rauſch v. Zraubenberg. Baron, Landrat 82

Remontcanfäufe 140.

Renard, Miniſterkollege 18.

Reulern · Rolden, Graf DL.

o. Richter, Gencraladiutant 120,

v. Richter, dim. Nitterfhaftsjetr. 120.

Nipfe, Dberpaſtot 02.

Ritterſchaftiicher Ausſchuß, eitl. 7, 20, 100, 148.

v. b. Ropp-Birten, Baron 130.

v. d. Nopp, Baron, Bifchof 14.

Rofen-Wichterpal, Bacon, Landrat 82,

Aofen, Paftor Gü.

Rofenitand-Wölbide, Landeskulturinfp. 8

Rofing, Reichsratsmitglich AH.

Rudolf, Buchhändler 16, 7.

Ruffaltar Denkmal D.

Aptomsti, Azifechef 20.

Sabter, Geh. b. Oberprofureurs 127.

Saeranomicz, Präfibent 04.

d. Saenger, Minifter 54, 115, 119, 197, 15.

Soſontſchtowsti, Bezirksinfpeftor 108.

v. Samıfon, F. Ritterfchaftsferretär 136,

0. Samfon, D., Sandrat 136.

v. Samfonslleljen 10,

Scalon, Gouverneur 142,

Scacomftoi, Chef d. Oberprefvermalt. 19.

Scheremetjem, Graf LIL

Sqiffsbacher, Führung 30.

Schipom, Kanzleidireltor BL

Schlau, Propit 40.

Schmidt, Stabtfelretär 100.

Schü, Juriſt Ak,

Säulangelegenheiten:

Deutfche Ricchenfehulen 28.

Deutfche Lehrkräfte 60,

Deutfche Schule in Reval 92.

Deutfcher Spradjunterricht 35, LO.

Stommergfehule, Riga 102.

sommerzidule, Sellin 56, 1b.

Konferenz v. Nommerzfejulbirettoren

Wadchengewerheſchule in Kiga 5.

Midgpenggmnafium in Ritau 10.

Wittelfdulreform 11, 137, 148 f., 156.

Drthobore airchenſchulen AL.

Wüdagogifche Kurfe 14.

Realjcjule, Walt 138.

- Reformicte girhenſchule 10.

Rücgang der Säule 1 f

Scyulgründung 154.

Schulprozeſſe 16, 77, 02.

ftäbtijche Schultollegien LI f.

Stodt-Cgmnafium, Riga 27, 150.

Stabt-Handelsichule, Riga 122, 150.

Stodt-Realfcule, Riga G.

Wehrpflicht der Lehrer BI.

Wiligungen für Schulgwede 84, 100, 135.

». Sculmann 100.

Au Berjonen- und Sachregiſter.

Schu, verftärtter 57, 20.

». Schwarg, Miffionsdirchtor ZU.

Schwark, Propft 40, 37.

Schwarz, Kurator 21, LLd,

Seemannsmiffion, däniſche D, 114

Selwit, Kathrine 40,

Seminar, orthob. Bricftere 21 fi.d8 f.

Semftwo 1 fi., 50, Di

Semitwoftetiftiter 136.

Seraphim, Redatteur 101 f.

Spufomftifeier Us

Sielmann, Paitor 22.

Sinomjew, ehem. Gouverneut &Z.

v. Sioers, Yandrat 35, 141,

v. EiversıEufefüll 30, 86.

Solotarem, Lehrer DA.

Sopietät, Rail. ol. gemeinn. u. öfon. 29, 85, 135, 141

Sparfaffe in Walt 44

Sponholg, €. 80,

Spradenzwang 30, BZ, LAf, 115, 122, 146, 152, 154, 157, I6L

Sſawialow, Hebamme DI,

Sfirjagin, Minifter 78, ZU, 104 108, 115, DL

Sſolowiew, Projeffor 2.

Sfwerbejew, Gouverneur 120,

Siachowitſch, Adelsmarſchall AL

Stadelberg, Baron, eſti. Landrat 82.

Sladelberg Jahna, Baron Sl.

Stadelberg-Kardis, Baron, Landrat 97, 136.

Stadibeamten, Auſtellung 13,

Stadiverfaffung o. Petersburg 12, na.

Stadiverorbnetenverjammlung:

Fellin 4 f.

Friedrichſtadt 128.

Jurjem (Dorpat) 8, 109, 125 f.

Libau 130, 10.

Mita 11 f.

Pernau 07.

Real, 55, 121, 137, 14.

Riga 0, 27, 45, 62, 67, 73, IL,

Malt 96, 110. 10 f.

2y,

Stadtverorbnetenwahlen: Arensburg ZL

Dauste 88.

Jurjem (Dorpat) 93, 100. gellin BL

Frie drichſtadt DE.

Golvingen 100.

Hapfal Zi.

Kandau Sd.

Lemſal BL.

Libeu 48 [., 00, 02, 02 f. Yernau 04.

Talfen 80.

Malt 58,

Weißenftein ZL

Wenden AL

Werro (id.

Winden LIG,

Bolmar 20.

Sicel v. Holftein-NewAnpen, Baron ZI. gandrat, Baron 136, tarynlewitſch, Vizegouverneut LAN. Siempel, Baron hä.

Stempel, Varon, Generalleutnant 131 Stempelſteuergeſch IL.

Sthyr, Bifcof 2.

Stöder, chem. Hofprebiger 98.

Stoll, Paitor 42.

raus, Siadiſetreiär LAN. Ströhmberg, Dr. 132,

d. Steyt, U, Religionsichrer 28, o.

»

v.

Stael 0. Holitein,

Schrelir U.

. Strytsgibbijäen 70. ereiw, Chef der Oberprevermaltung um.

Tagangew, Profefior aun Zaubjtummenbildung Lili. Zelepgon 42, 07.

Theoter in Niga 14.

Zideböpt, Paul, Priefter 116. Tiefenfaufen, Varon, rel. Landrat 140, v. Tobien, U, Sü.

Töniffon, Kechlsanmalt 100.

Zoll, Baron, Polarforfcher ZL

Verſonen · und Sachregiſter.

Tolſtoi, Graf D. chem. Minifter 2. v. Torklus, Emilie 134

v. Tranſehe, Ritterfchaftönotär 136. ieultom, Beamter 77,

Turtin, Stifter 148,

Ullmann, Stadtrat 120.

Ungern»Sternberg, Baron, Dr. mod. 50.

Ungern:Sternberg, Graf 127.

Univerfität Dorpat, Gedentfeier LIR.

Univerfitätögericht, ehem. 158.

Univerfität, Jurjewiche ·

Abnahme des theol. Studiums 10.

Aufnahme Irkuisler Studenten 08 ſ.

Aufnahme jüd. Pharmazeuten 157.

Medizinifche Fakultät 10,

Nichtpromation Störters 28.

Perfonal 35,

Petersburger Zeit di

Provingialtcht 140.

Siſtirung der Borlefungen 98, 09, 104, 107

Stubentifije Sitten EL

Stubentenfonpift 187.

„Sauter Rhein'. Prozeß 17.

Univerfitätswefen und Studenten: untuhen 50, 58, ZI f. Du DB fe 99. 103, 104. 107, 120, 138, 143, 145, 155 f.. 157, 19.

Verbot von Zufammenfünften 50, 04, 67, 102

Vereine:

eſtlãnd. landwirtjd. 8, 84. 148,

eftfänd. v. Liebhabern der Jagd D.

eftfänd. gegen Trunffudit 33.

eitnifcher landwirtſch. (Zartu) 20.

eſtniſcher Studenten 162

Holländervieh-Qugtoerein 38,

Saisfcher Iandwirtjchaftl. ZL.

landwirtſch. f. Süblivfand 144.

Hol. zur Förderung d. Landw. 30,

Mäigleitsvereine 87, 15L.

Deſelſcher landw. eſtniſcher 122

Revaier für Pferdezucht 8.

Rigaer Dichter: O7.

Rigaer Gartenbau 12,

Aujenfäjer Iandivirifej. 143.

Zentralfomit6 eftn. Mähigfeits» AB.

Veterinärinftitut, Jurjemfches 84 f.

Veterinärwejen 141 f.

Bogel, Selrelär 50.

Vol, Aaldert, Rechtsammalt 50,

Bold, Agel, Rechtsanwalt 133,

Voltslefepalten 98, 107,

Boltsfgule, minifteriele 183, 27, 80, 18, 123,

Volts ſchuie, latheriſche :

Aufnahme orihedorer Kinder 54.

Frequeng 18 ſ

Lehrerverſebungen LI.

Sehrerzufammenfünfte 44.

geiftungen für fie 131.

Scullandprogefie 30,

Loltejqulgelep 134,

Boltsverforgungstommiffion 132.

Wacher, Rechtsanwalt 11, 70.

v. Wohl, Gouverneur v. Wina 26, 121. Waplberg, Juriit O0. Baifengerite 102, Waifenhaus in Mita 38.

Walden, Profeffor 98, 122.

Waldes, Bauunternehmer 17.

Walter, Dr. 70,

Walujem, ehem. Minifter 2, Wannowſti, Minifter 50, 95, 116. Warres, Pator 5.

Bafiergefeg 131.

Baffermangel 20, 02,

Waffifjew, Unterfujungsrichter 34. BWegebaufagen 6, 11, 60, 89, 120, Weihnagtsfeier im Gefängniß ZU Webding, Landwirt 80.

Weinberg, Rebafteur 11, 70, 102, 147. Wjörat, Priefter SB.

Wilde, Paftor AR.

Winkler, Baftor 140.

Witte, Ninifter 1 fi., 104, 182. Wittrod, Cberpaftor 20.

vn

Wolff, Yaron, Landrat 104. Wolff Meplüll, Baron 143, Worms, Redakteur 42,

Zeitungen (Journale) :

Arensburger Wochenblatt 18.

Balh 11, 70.

Baltijas Wehftnefis 11, 52, 70, 102, ur

Baltifce Wochenſcht. 20.

Bafnizas Mehitn. 13. Ob.

Birffemija Medomofti 110.

Deenas Lapa GO f., 70, DZ

Düna-tg. 70, 80, 101, 115,116, 11

Selliner Anpeiger 17, Al, TU, 75, 86, 98, 116

Gefegfammlung 5. 155, 158.

Graffdanin 128,

Aurländ. Gon.Zig. 127, LIE.

Latwechdu Awiſes AL Mi

Lib. Lloyd 42

Liol, Gow.gtg. 2.

iffionerjfoje Obofeenije 118,

Mitteilungen u. Nachrichten für die evang. Kirche

Most. Webomojti 26, 28, 57, 111.

Rordliol, Zeitung 10, 44, 75, 100, 107, 128, 157.

Rowoje Wremja 114

Dlemit 12.

Orlowſti Bein. 74.

Boftimees 10, 29, 46, 03, BL, 87, us

Prawoſſlawnyi Sſobeſſednit 13.

Verſonen und Sarhregifter.

Pribalt. arai 14, 9, 97, 10L

Prompfehlenngi Pie Ti,

Regierungsangeiger 76, 04, 06, 108, 108, 116, 122, 136, 137, 145,

Nigas Awife 147 j.

Rigas Garigais Webftnefis 70.

Rig Rundſchau 87, 32, 57, 67, 101, 110, 128.

Rig, Eparchialzeitung 24, 36, 42, 8, 91. 123 {, 129, 130,

Nüß. Weitnit 6, 34, 40, 47, 70, 94, 97, 102, 110, 112, 118, 133, 151, 158 f, 182

Noffija 47, 07.

Aufl. Invalid 1äs,

Hufft. Bojfl 50.

Rufft. Wedomofti if.

Safola 77.

©. Peters, Zig- AL 17, 155

St. Peterb. Amiſes DL 102.

St. Petersb. Wedomofti DL,

Set 11T, 16L

Tealaja 40, 123,

Rahrds 70, 102, 147.

Bindaufce Iig. ZI

Zertowndia Wed. 47,

Bietular f. d. Rig. Lehtbehirt 130.

Bentralgefängniß in Kiga g.

Jint, Stadtfaupt 122,

3olfeevifion für vacher IL

v. Bur-Mühlen 87,

v. Zur-Mühlen, Landrat 149,

d. Zur-MRüflen, Selretär 79, 14L

Bwerowicz, Vilhof LUTZ.

Errata.

Seite 40. Die Eröffnung des prodiſoriſchen Waarenderlehrs auf der Malt, Stodmannshoier Bahn fand am 1. Dezember ftatt.

16. Zu Sanbräten werden gewählt an Stelle des Herm R. Baron

Stacl v. Holftein Here Vitior d. Helmerſen, und an Stelle des derrn

©. d. Antep Herr Biltor Baron Stadelberg.

Seite

Der fünfte Jahigang der Boaltiſchen Chronit (1900/01) liegt im Manuffeipt abgefchlofien vor. Bon der Drudiegung in diefem Jahr mußte aber wegen Zeitmangels Abiland genommen werben.

2

4

28.

Ein Rüdblik.

Auszug aus einer Livlandiſchen Chronit.

1885.

. Juli. Amtsantritt bes livländiſchen Gouverneurs Generals lieutenants M. A. Sinomjew.

. Juli. Allerhöchiter Befehl betr. die Wiedereinführung bes Reverſalzwanges.

. Sept. Allerh. Befehl betr. den obligatoriſchen Gebrauch ber ruffifchen Sprache in ber Korreſpondenz zwiſchen ben deutſchen unb ben Kronsbehörben.

. Oft. Zirkular bes Miniſters des Innern betr. das Erforberniß der Genehmigung feitens ber griechiſchen Geiftlichfeit yum Bau lutherifcher Kirchen.

. DM. Schreiben des Generals v. Richter im Allerh. Auftrage bei Rüdfendung einer Supplit in Sachen ber Relonvertiten.

Der Kaifer habe erflärt, „Derartige Beſchwerden ber Ritterfchaften könnten von ihm nicht entgegengenommen werden, er fche auf bie battifchen Provinzen als auf einen Teil von Rupland und erftrebe mit allen Kräften eine Vereinigung, auf dem Boden des Geſehes ftehend, nicht ber Privilegien.“

Nov. Zirhular des Gouverneurs an bie Kirchſpielsrichter, enthaltend das Verbot, mit den Gemeinbeverwaltungen und ben Gemeindegerichten deutſch zu korreſpondiren.

. Nov. Mlerh. Befehl betr. die Unterftellung ber Voltsfhulen unter das Minifterium ber Vollsaufflärung (vgl. 1886, Febr. 19).

Eine befondere Rommiffion in Sachen ber Spradenfrage, unter dem Vorſitz bes Gehilfen des Minifters bes Innern, ſpricht ſich dahin aus, daß bie Kenntniß ber deutſchen Sprache für die Gemeindeſchreiber überflüſſig ſei und die Gemeinde— verwaltungen nicht verpflichtet fein ſollen, irgend welche in deutſcher Sprache an fie gerichtete Schreiben entgegenzunehmen.

23. Dez. Allerh. Befehl betr. die Bewilligung von 100,000 Rbl.

jährlich) aus Staatsmitteln während breier aufeinanderfolgenber Jahre zur Errichtung griechiſch-orthodoxer Kirhen in ben Dftfeeprovingen.

ua Ein Rüdblid.

1886.

10. Febr. Allerh. Befehl betr. die „Negeln für bie Erpropriation privaten Immobilienbefiges zum Beſien orihodorer Kirchen, Kirhhöfe und Schulen in ben Oftfeeprovinzen.” (Lutherifche Kirchengebäude find von der Erpropriation nicht ausgenommen).

15. Febr. Zirtuler des Gouverneurs an die Ordnungsrichter, enthaltend bas Verbot, mit den Gemeindeverwaltungen unb Gemeindegerichten beutich zu Forrefpondiren.

19. Febr. Namentl. Allerh. Befehl an den birigirenden Senat betr. bie Unterftellung ber Volksſchulen unter das Minifterrum der Voltsaufllärung (fiehe 1885, Nov. 28).

17. März. Zirtuiar des Gouverneurs an bie Gutsverwaltungen, enthaltend das Verbot, mit den Gemeindeverwaltungen deutich zu forreipondiren.

5. Mai. Zirkular des Gouverneurs betr. die Vereidigung ber Gemeindebeamten nad) dem Ritus derjenigen Kirche, der fie durch Geburt oder Taufe angehören.

14. Mai, Allerh. beftät. Beſchluß des Minifteorfmites betr. bie Maßnahmen zur Befreiung der rechtgläubigen Bauern von ben Leiftungen zu Gunſten der futherifhen Kirche.

3. Juni. Allerh. Befehl betr. die Verſchärfung der prokuratoriſchen Aufficht über bie Juftigbehörben in den Oftfeeprovinzen.

30. Juni. Rebe bes Großfürſten Wladimir Aerandrowitih in Dorpat. „Es iſt ber unerfdütterlihe Wille Sr. Majeftät, eine vollftänbige Aſſimilation und Gleichſtellung der Ditfee- provingen mit dem Neiche zu Stande zu bringen.”

7. Juli. Das Dinifterium bes Innern eröffnet bem Landr.Roll., daß eine Beichmwerbeführung über das Zirfular des Gouver neurs vom 15. Febr. a. c., betr. bie Korreſpondenz ber Orbnungsrichter mit den Gemeinbeverwaltungen, dem Lanbr.: Roll. nicht zuftehe.

30. Auguft. Zirkular des Gouverneurs: für die Konfeſſionshin— gehörigkeit find ausſchließlich die Metrikbücher der griechiſchen Kirche maßgebend.

27. Sept. Zirkuler des Gouverneurs an bie Rirhfpielerichter, enthaltend ben Befehl, den Gemeindeverwaltungen zu eröffnen, daß fie von ben Kirdenvorftehern feine deutſchen Schreiben entgegennehmen bürfen,

Ein Rüdblid. u

30. Oft. Schreiben bes Gouverneurs an ben griedifchen Erzbifchof betr. bie ſtrafrechtlichen Folgen des Abfalls vom rechten Glauben, der Schließung von gemiſchten Ehen durch nicht: rehtgläubige Geiftlihe und die Erziehung von Kindern in einem fremden Glauben.

11. Nov. Zirkular des Gouverneurs: die Land- und Kreisgerichte fowie bie übrigen Gerichtsinftitutionen dürfen mit ben Gemeindegerichten und Gemeindeverwaltungen nur in ber Neichsſprache oder in ben „örtlichen Idiomen“, keinesfalls aber deutſch korreſpondiren, ferner haben bie Kicchfpiels- richter fireng darauf zu achten, daß bie Gemeinbegerichte und Gemeindeverwaltungen feine deutſchen Schreiben zu ben Alten nehmen.

1887.

16. Jan. Zirfular des Gouverneurs betr. bie Vermeidung ber deutſchen Ortsbenennungen in ben Formularen und Giegeln der Gemeinbeinftitutionen.

26. Jan. Allerh. beftät. Reichsrats-Gutachten betr. bie Kreirung der Aemter von vier Voltsihulinipeftoren und eines Volls⸗ ſchulendireltors.

23. Febr. Senatsuklas: die Amtsvergehen lutheriſcher Prediger find von ben weltlichen Behörden abzuurteilen.

12. März. Zirtular des ouverneurs betr. die Einführung ber ruſſiſchen Geihäftsipradge in der Allagkiwiichen Gemeinde verwaltung.

8. April. Publifation in ber Gouvern.-Zig. betr. bie ruſſiſchen Benennungen ber Gemeinben.

10. April. Allerh. beftät. Beſchluß des Minifterfomites betr. bie ruſſiſche Unterrichtsſprache in den Mittelſchulen.

17. Mai. Allerh. beſtät. Beſchluß bes Miniſterkomités betr. bie „temporären ergänzenden Regeln“ für die Voltsihulen.

7. Aug. Zirkular des Gouverneurs an die Ordnungs- und Kirch⸗ fpielsgerichte betr. das Rigaſche Landgericht, das „ein neues Mittel erbadjt zur Umgehung des Gejeges und Vedrückung derjenigen Gemeindeälteften, welde ihm die in deutſcher Sprache abgefaßten amtlihen Schreiben zurüdjandten“.

w Ein Rüdblid.

12. Sept. Zirkular des Gouverneurs an bie Ordnungsrichter betr. die Sicherung der Immobilien geſchloſſener Parochialſchulen vor der Befipergreifung durch Organe ber lutheriſchen Kirche.

17. Sept. Zirkular des Gouverneurs an die Kirchſpielsrichter, enthaltend eine Auslaljung über „das Nichtvorhandenfein dienftlicher Disziplin und bes Gefühls für Gejegmäßigkeit“ unter ben vom Abel ermwählten Beamten, jowie ben Befehl, bie Gemeinbegerichte anzumeifen, daß fie etwaige Vorſchriften ihrer vorgefepten Behörden, in benen fih Anregungen zum MWiderftande gegen bie Anordnungen ber Staatsgewalt finden follten, mit Umgehung aller Inftanzen ihm, dem Gouverneur, vorzuftellen haben (Anfpielung auf eine Verfügung des Wol— marfchen Kreisgerichts, vgl. auch 1888, Juli 12).

23. Sept. Publifation in der Gouv.-Ztg., in der die bäuerlichen Glieder der Kirhentonvente gewarnt werben vor ben „Bes lehrungen übelgefinnter Leute”, bie bemüht feien, das Geſetz vom 17. Mai 1887 zu „verbrehen“ (Anfpielung auf bie Schließung von Parochialſchulen).

1888,

Januar. Delegation des Beamten Janowitſch vom Finanzminis fterium zur Erforfhung des PBräftandenweiens in Livland.

9. Jan. Zirfular: Befehl des Gouverneurs an die Orbnungsrichter betr. die Einforberung vou Reverfalen der Parochiallehrer darüber, daß fie die Nugung der Widmen nicht als Küfter fondern als Lehrer Haben.

22. März. Alerh. beftät. Reichsrats-Gutachten betr. die Amts: fuspenfion futheriicher Prediger, eventuell auf Verlangen bes Diinifters des Innern.

3. Mai. Zirtular des Gouverneurs betr. bie Befreiung auch der Outsbefiger und Hofslandpächter orthoborer Konfeſſion von den Leiftungen für die lutheriſche Kirche.

9. Juni. Geſetz betr. die Polizeireorganifation.

15. Juni. NReftript des Minifters der Volfsaufklärung an ben Kurator beir. die event. Schliefung der Landesgymnafien zu Fellin und Birkenruh, refp. Ablehnung des Geſuches ber livl. Nitterfhaft um Umwandlung der Landesgymnafien in beutfche Privatſchulen.

Ein Rüdblid. v

12. Juli. Zirkular bes Gouverneurs an bie Gemeindegerichte: bie Kreisgerichte feien nicht vorgefegte Behörden der Gemeinde: gerichte; das hierzu im Widerſpruch ftehende Zirkular des Hofgerichts-Departements für Bauerfaden fei ungiltig.

1. Sept. Eröffnung der neuen Polizeibehörden.

21. Nov. Allerh. Befehl betr. bie Anftellung von weiteren zwei Volloſchulinſpeltoren.

1889, Januar. Amtsentjegung des Kirchſpielsrichters Harald Baron Loubon. 4. Febr. Allerh. Befehl betr. die Neorganifation ber Dorpater Yuriftenfafultät.

24. Febr. Mitteilung des Gouverneurs an das Landr.Koll. über die Allerh. erfolgte Ablehnung des Gefuchs ber Nitterfcaft um Erlaß eines definitiven Volksſchulgeſetzes an Stelle der „temporären Regeln“ vom 17. Mai 1887.

April. Der Miniftergehilfe Plehwe überſendet dem Land.-Rolleg. Gefegesprojefte betr. bie Präftandenreform und die Aufhebung der Verfaſſung.

23. Mai. Allerh. beftät. Reichsrats-Gutachten betr. bie Schliekung der Landesgymnafien zu Sellin und Birkenruh.

» m Merh. beftät. Reichsrats-Gutachten betr. bie Einführung ber ruſſiſchen Unterrichtsiprade in den. Privatſchulen.

9. Juli. Geſetz betr. die Reorganifation des Juſtizweſens und ber Bauerbehörben. .

22. Juli. Eröffnung der livländiſchen Krons-Eifenbahn von Niga nad Plesfau.

10. Auguft. Senatsukas: bie Beſchwerde des livl. Landr.-Rolleg. über das Zirfular des Gouverneurs vom 3. Mai 1888 betr. bie Befreiung orthoborer Gutsbefiger und Hofslänbpächter von den Leiftungen zu Gunften der lutheriſchen Kirche wegen mangelnder Sadjlegitimation des Landr.Koll. abzumeifen.

9. Nov. Mlerh. Befehl betr. ben Gebraud) der ruffifhen Spradje in ber Gejdäfteführung der Stadtverwaltungen.

9. und 23. Nov. Allerh. Befehle betr. die Enthebung bes Herrn Mar v. Dettingen von allen feinen Yemtern.

28. Nov. Eröffnung ber neuen Juſtizbehörden.

20.

22.

28.

13.

23.

26.

30.

25.

Gin Rüdblid. 1890.

. Ian. Zirkular des Gouverneurs an die Präfides ber Vor-

mundſchaftobehörden betr. bie ruſſiſche Gefgäftsführung in biefen Behörden.

. Fehr. Mlerh. Befehl beir. bie Einftellung ber Zahlungen für

abgelöfte Neallafien parzellirter Kronsgüter,

April. Schreiben des Gouverneurs an das Landr.-Roll. betr. bie Abfafjung der für die Gemeindeverwaltungen beftimmten Steuerliften in ruſſiſcher Sprache.

April. Zirkular bes Gouverneurs betr. bie Korreſpondenz der Kirchenvorſteher mit den Gemeinbeverwaltungen in ruſſiſcher Sprade.

Mai. Einführung ber ruſſiſchen Unterridtsiprage in ben Mãdchenſchulen des Dorpater Lehrbezirks.

Juli. Senatsulas betr. die Korreſpondenz zwiſchen Inſtitu— tionen mit deutſcher Gefchäftsführung einerfeits und ſolchen mit lettifcher refp. eſtniſcher Geſchäftsführung andrerfeits. (Driginal ruſſiſch nebſt Translat in deutfcher refp. lettiſcher und eſtniſcher Sprade.)

OH. Schreiben bes Gouverneurs an das Landr.Koll.: die beutichen Translate follen auf befonderen Bogen geſchrieben werben.

Dt. Allerh. Befehl betr. die Entfheidung von Streitigfeiten über ben Befigftand der Parochialſchulen durch den Miniſter ber Volfsaufflärung.

Dez. Verfügung des Minifters des Innern betr. bie ruſſiſche Geſchaãftoführung in allen Stabtverwaltungen fowie die ruſſiſche Verhandlungsſprache in ber Dorpater Stabtverorbneten-Vers fammlung.

1891.

Febr. Allerh. beftät. Reichsrats-Gutachten betr. bie dreijährige

Amtsperiode der Konfiitorialafjeiforen, anftatt ber bisher tebenslänglichen. „Zirkular des Gouverneurs an die Bauerfommiffare betr. bie Veranftaltung einer Enquöte über ben Befigitand ber Parochialſchulen auf Grund des Allerhöchften Befehls vom 26. Dit. 1890.

Cin Rüdblid. vo

4. März Allerh. Befehl betr. die Ernennung ber lutheriſchen Ronfiftorialpräfidenten durch Se. Maj. ben Raifer.

3. Juni. Wlerh. beftät. Reihörats-Gutahten betr. die Führung der evang.lutheriihen Kirchenbücher in ruſſiſcher Sprache.

11. Juli. Allerh. Befehl betr. die Bewilligung von Subfidien an bie ruſſiſchen gefelligen Vereine in ben Oftfeeprovinzen.

2. Sept. Verfügung des Minifters des Innern betr. bie ruſſiſche Korrefpondenz zwiſchen ben lutherischen und griechiſchen Geiſtlichen.

1892.

28. Jan. Allerh. beſtät. Reichorals-Gutachten betr. bie Kreirung des Amtes eines zweiten Volksſchuldireltors für den Dorpater Lehrbezirt.

28. Febr. Gouvernements-Regierungspatent Nr. 10, betr. das

Erforderniß ber Beſtätigung bes Budgets ber Kirchſpiels- konvente durch bie Gouvernementsverwaltung (Ergänzung zu Nr. 117 vom J. 1891).

29. Febr. Im Allerh. Auftrage an den Landmarſchall gerichtete ablehnende Erwiberung bes Minifters der Voltsanfllärung auf das wieberhofte Gefuch um die Genehmigung zur Meiter- führung des Birkenruhfchen Oymnafiums mit deutſcher Unterrichtoſprache.

10. April. Verfügung des Gouverneurs betr. die Einführung der ruſſiſchen Geſchäftoſprache in der Kanapähſchen Gemeinde: verwaltung.

Juni. Schließung ber Sandesgymnafien zu Fellin und Birkenruh.

30. Nov. Allerh. Befehl betr. die Unterftellung aller Schulen im Dorpater Lehrbezirt unter die Oberauffiht des Minis fteriums ber Voltsaufflärung.

1893.

Ernennung eines Profeſſors Budilowitſch zum NReltor ber Univerfität Dorpat.

5. Jan. Allerh. Befehl betr. die Gründung bes Rig. Propftbezirks.

14. Jan. Allerh. Befehl betr. die Umbenennung ber Stäbte Dorpat und Dünaburg in Jurjew und Dwinsk.

18. Febr. Allerh. Befehl betr. bie Inhibirung des Verkaufs von Quotenlänbereien.

vu Ein Rüdblid.

27. Febr. Allerh. Befehl betr. die Umbenennung ber Dorpater Univerfität in „Jurjewfde” und des Dorpater Lehrbezirts in „Rigafchen Lehrbegirt".

17. April. Älierh. beftät. Neichsrats:Öutadyten betr. die Strafen für Amtshandlungen von Geiftlihen anderer Konfeſſionen an Gliedern ber griechiſchen Kirche.

» „Alllerh. beftät. Reichsrats-Gutachten betr. die Umwandlung ber Rommiffionen für Vauerſachen in Gouvernementsbehörben für Bauerangelegenheiten.

8. Juni. Ruſſifizirung des Polytechnikums.

1894,

Januar. Allerh. Befehl betr. die Befeitigung ber bißherigen äußeren Abzeihen des alademiſchen Korporalionswejens und die Einführung einer Uniform für bie Studirenden in Inrjew (Dorpat).

22. Febr. Verfügung des Gouverneurs betr. die ruffiihe Sprache in ben Umſchriften der Amtspetichafte.

27. Juni. Allerh. Befehl: die Einleitung bes gerichtlihen Ver: fahrens gegen evangelifch:lutherifche Paftoren wegen Amts: Handlungen an Gliedern ber griechifchen Kirche it in jedem Fall von dem Gutachten bes Minijters des Innern, bes Yuftigminifters und des Oberprofureurs des heiligen Synods abhängig zu maden.

1895. 2. Degember. Tod bes livländ. Gouverneurs M. N. Sinowjew. „Als Adminiftrator zeichnete er ſich durch große Thatfrafi und Energie aus.” („Petersb. Ztg.“ 1895, Nr. 339).

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