Chor I.

y- ß 7 ß r r i=

127 <

5 F

i r-

Er s;e-bot es der Meerflul,

J i j J i J. i

t

T

Chor IL

fc

T

und sie trockne -te aus.

f

mm

I k g Er ge-bot es der Meerflul,

r &

F*~

f

1 p r p i

und sie trockne- te aus.

g -

Er ge-bot es der Meerflut,

y ' Ii r

und sie trockne- te aus.

II

9a»

Er ge-bot es der Meerflut,

7 #

2*

und sie trockne -te aus.

E

I

Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch ...

Adolf Bernhard Marx, Hugo Riemann

, Google

Digitized by Google

Digitized by

AI t B

Digitized by Google

Marx positionslehre.

Dritter Theil.

Digitized by Google

Marx

positionslehre.

Dritter Theil.

Digitized by Google

Digitized by Google

Die Lehre

von der

musikalischen Komposition,

praktisch theoretisch

von

Adolf Bernhard Marx.

Fünfte, unveränderte Auflage.

Leipzig,

Druck und Verlag von Breitkopf und Härtel.

1879.

Ent«L- Stat. Hall. London.

Digitized by Google

Die Herausgabe einer UeberseUung die. -.es Buches in englischer, französischer uud in anderen

modernen Sprachen wird vorbehalten.

» * *

*

* *

fr «

*

- "

»

* * »

* * fr

* V

fr. * - fr *

Ii fr * fr fr *

••••

«

Digitized by Google

Vorrede

zur dritten und vierten Auflage.

chon bei den ersten Ausgaben dieses dritten Theils, der in die hohem Aufgaben wirklicher Komposition einführt, Iiess sich die Bemerkung nicht zurückweisen, dass sein Er- scheinen in einen Zeitpunkt fallt, der schwächere Karaktere und Geister an der Bedeutung und Wirkenskrafl dieser wie jeder ernsthaft gemeinten Kunstlehre zweifelhaft machen könnte.

Bedarf man denn zu Hervorbringungen, wie sie heut zu Tage so oft was man nennt, Glück machen, wirklich einer durchdringenden Kunstbildung? Grünen und blühn diese Wiesenplane voll zarter Lieder mit und ohne Worte nicht ohne weiteres Zuthun. wo die ganze Atmosphäre geschwän- gert ist vom Musikdunstelement, an dem wir uns alle vollge- sogen und das, sobald es dem Kunstjüngling nur behagt, kry- stallisch immer wieder zusammenschliesst zu diesen Weisen, die uns oft genug schon träumerisch behagt haben, um uns nochmals und vielleicht immer wieder träumerisch zu beha- gen? Oder werden sich diese Heuschreckenschwärme schwir- render, zirpender, rasselnder, grandios tobender Etüden

Digitized by

VI

Vorrede

nicht aus sich selber forterzeugen ohne weiteres Zuthun, so lange sich unsre Pianohelden in zwölfstündigem Tagewerk ihrer Finger Sinn und Gedächtniss ganz und einzig mit die- sem Arpeggiendunst und diesen chromatischen Quirl ungen und Quälungen, und was sonst noch da fleucht und kreucht, ausfüllen? Sollte nicht, wenn wir nur wagen, selbst ein symphonischer Bau gelingen, sobald wir nur dem mo- dernen Orchester erst das Geheimniss seiner Lavageschiebe von Tonmassen über Toninassen abgelauscht haben? Von da zu irgend einer mittelalterlichen Oper (sie könnte zugleich wahre Zukunfts-Oper sein, wo der Wolf Fenris den Mond auffrisst) wie weit ist's? Zu dem Allen bedarf es wirklich keiner weiten Zurüstungen und Studien; das kommt dem Glückskind', es weiss nicht wie und woher, das sieht man ab, und da ist's.

In der That eine wunderliche Zeit, unsre, wie sie es nennen, industrielle! vielleicht heilsam, um verträumte Völker zur Realität gleichviel einstweilen, welcher zu bringen. Dem diesen Interessen und Täuschungen dahinge- gebneo Sinne mag wohl die Kunst nichts mehr sein können als der Lustigmacher, der Narr des Mittelalters, oder der Märchenerzähler, der aufgeschürzt zum Weitervvandern vor den träg schlürfenden Orientalen tritt. Aber diese Märchen, sie sind Stimmen und Zeugen aus jenem überall fernen und überall so nahen, in unserm Herzen, im Heiligthum unsers Geistes sonnig blühenden Reiche, das unvergänglich gegründet ward im selbigen Augenblick, da dem Menschen sein Antlitz aufgerichtet wurde, die Himmel zu schaun und ringsumher die Erde zu beherrschen und zu verwalten für höhere Zwecke des Geistes. Wem nun das Antlitz aufge-

Digitized by Googl

Vorrede.

VII

richtet ist gen Himmel, wem die Gevvissheit nur die Ah- nung jener höhern Bestimmung invvohnt, dem kann an wohlfeilen am Boden kriechenden Interessen und Erfolgen nicht geniigen, der ringt unverdrossen freudig dem hohen Ziel entgegen, der mag nicht gebückt umhersuchen nach den Brosamen unter den Tafeln der Reichen und sich mit ihrem Abgelegten herausputzen. Der will aus dem Vollen und aus Herzensgrund in behaglicher Freiheit und Selbst- heit schaffen und wirken und leben. Dem ist Bildung Be- dürfniss, aber sie ist ihm auch Freude, schon an sich sel- ber Belohnung; denn sie vollendet den Inhalt seines Geists und Daseins. Ihm, der sein ganzes Leben der Kunst ge- weiht, ist umgekehrt die Kunst in all ihrem Vermögen, in der ganzen weiten Fülle und Herrlichkeit ihres Waltens der nothwendige und nicht zu verkümmernde Wirkenskreis seines Lebens. Der Sinn, in dem er sich der Kunst eignet und wiederum sie zu seinem Organ macht: das ist der Sinn, die Bedeutung, die Ehre seines Lebens selber. Ich kann als Künstler nicht mehr sein, denn ich als Mann bin ; und der rechte ganze Mann will als Künstler nicht weniger sein, er würd' es nicht einmal wollen können, da in Einem Menschen nicht zweierlei Wesen wohnt. Auch für den Künstler ist nicht Bildung das Erste, sondern die Gesin- nung ist es, der Sinn ist es, in dem er seine Bestimmung, seines Daseins Zweck fasst und festhält. Daher ist auch Kunstbildung nicht äusserliche Anlernung; sie ist inner- liche Vollendung, Herausleben des Geists und der Gesin- nung.

Wie diese Bildung von Grund aus beschaffen und zu erlangen, wie Zeit und Volk und Künstler, wie Leben und

Digitized by G

VIII

Vorrede.

Kunst, Künstlerbildung und Volksbildung ineinandergreifen, wie die Kunst geworden und der Künstler sich zu vollenden vermöge: darüber zu reden, würde hier so wichtig und der höhern Kunstlehre zugehörig die Fragen sind der Raum fehlen. Was ich darüber zu bemerken gehabt, ist in der Methodik („Die Musik des neunzehnten Jahr- hunderts und ihre Pflege") niedergelegt. Berlin, am 1. Juli 1857.

A. B. Marx.

Digitized by Google

Inhaltsanzeige.

Dritter Theil. Die angewandte Kompositionslehre.

Seite

Einleitung 3

1. Aufgabe des dritten und vierten Theils.

2. Neue Gegenstände der Lehre 4

3. Rückwirkung auf die vorangehende Lehre 5

4. Vorbildung zu der Lehre 7

5. Begrenzung der Lehre.

6. Fernere Vorbedingungen 9

7. Uebcrsicht des ganzen Gebiets 10

1. Der Rhythmus. II. Das Zeitmaass.

III. Das Tonwesen.

IV. Die Schallkraft 11

V. Die Natur und Behandlung der Instrumente 12

VI. Der Gesang.

8. Eintheilung des neuen Stoffes.

ü. Lehrordnung 13

Sechstes Buch.

Die Komposition für selbständige Instrumente 15

Einleitung 17

Erste Abtheiluug. Die Klavierkomposition in den einfachen Formen. Erster Abschnitt. Natur und Technik des Instrumentes.

Hierzu der Anhang 1 553

Zweiter Abschnitt. Die Etüde 26

Dritter Abschnitt. Die höhern Formen der Etüde 36

Vierter Abschnitt. Die Klavierfuge 43

Digitized by Googl

X

Inhallsanzeige.

Seite

Fünfter Absch n itt. Die Variation 53

A. Das Thema 5 4

B. Die Mittel und Formen 57

G. Die Kunstform seihst 59

Sechster Abschnitt. Die Formal- Variation.

1. Darstellungen des Thcma's 6-2

2. Die harmonische Begleitung 69

3. Die figurale Begleitung 73

Hierzu der Anhang B 563

Siebenter Anschnitt. Die Karakter- Variation . . . 75

1. Debertragupg in angewandte Liedform.

2. Uebertragung in grössere Form 77

3. Umwandlung in polyphone Kunstformen 78

Achter Abschnitt. Die Kunstform der Variation 88

Betrachtungen 91

Hierzu der Anhang C 370

Zweite Abtheiluug. Die kleinen Rondoformen 94

Krater Abschnitt. Die erste Rondoform

Hierzu der Anhang 1) 372

Zweiter Abschnitt. Die zweite Rondofonn 10*

Dritter Abschnitt» Erleichterungen dieser Form <U

Vierter Abschnitt. Genauere Betrachtung der einzelnen Theile . . 125

1. Der Hauptsatz 136

3. Der Seitensatz H9

3. Der Gang 131

4. Der Uebergang 134

3. Der Orgelpunkt 133

Hierzu der Anhang E 578

Zusatz * 136

Hierzu der Anbang F 580

Dritte Abtheiluiig. Die grösseren Rondoformen 138

Erster Abschnitt. Die dritte Rondoform im langsamem Zeitmaassc

Zweiter Abschnitt. Weiterer Nachweis dieser Form US

Hierzu der Anhang G 587

Dritter Abschnitt. Unterschied des langsamem und bewegtem Zeit-

Vierter Abschnitt. Die dritte Rondoform im bewegtem Zeitmaassc 160

Hierzu der Anhang H 390

Fün fter Abschnitt. Die vierte Rondoform 175

Sech stc r Abschn itt. Die fünfte Rondofonn. . . 186

A. Der Schlusssatz 187

B. Die Anordnung des Ganzen 190

Schlussbcmcrkung 199

d by Google

Inhaltsanzeige. XI

Vierte Abt-heiluHg. Die Sonatenform 201

F. rster A hsch ni tt. Di« Snnatinenfnrm 303

Zweite r A h s c . h n i I t . Nflhejfi Nachweise nher die Sonatinenfnrm . ftlÜ

Dritter Anschnitt. Die Sonatenfonn •. . 320

Vierter Abschnitt. Dar zweite Theil der Snnatenfnrm

A. Sofortige Rückkehr zum Hauptsatze 226

Fünfter Abschnitt. Zweite Art der Anknüpfung und Bildung des

zweiten Theils 234

B. Anknüpfung mittels eines fremden Zwischensatzes 332

Sechster Abschn it t. Die ferneren Anknüpfungen des zwcitcnTheils 238

C. Anknüpfung mittels eines auf den Hauptsatz zurückweisenden

Schlusses.

D. Einführung des zweiten Theils mittels des selbständigen Schluss-

satzes tAJ

E. Die gangartige Einführung 243

Siebenter Abschnitt. Nachtrage über die Ausarbeitung des zwei- ten Theils 244

Achter Abschnitt. Der dritte Theil der Sonatenform 248

Hierzu der Anhang I 593

Neunter Abschnitt. Die Sonatenform in langsamer Bewegung . 251

Fünfte Abtheiluug-. Nähere Erörterung der Sonatenform 255

Erster Abschnitt. Der Hauptsatz. .

A. Die Satzform * 25 6

B. Die Periode 258

C. Die Periode mit aufgelöstem Nachsatz 259

D. Die erweiterte Periode . . 2fi1

K. Die Saigkette 268

Zweiter Abschnitt. Der Fortgang zum Seitensatze 267

A. Fortführung *des letzten Gliedes vom Hauptsatze 268

B. Rückkehr auf den frühern Gedanken 270

C. Fortschreitung zum Scitcnsatz durch neue Motive 277

D. Modulation des Fortgangs zum Seitensatze 280

Dritter Abschnitt. Der fernere Verlauf des ersten Theils . . . 281

A. Satzform 282

Hierzu der Anhang K 598

tt. Perindenfnrm 2S7

C. Zweitheilige Liedform des Seitensatzes 288

D. Satzkette als Form der Seitenpartie 289

Vierter A hsc.hni tt. Der /weite und dritte Theil 292

A. Der zweite Theil.

4. Inhalt des zweiten Theils. , . . , , , , , , , , , , , . 293

Hierzu der Anhang L . . .. 600

2. Die Modulation 297

P Der dritte Theil.

Inhaltsanzeige.

Seite

Sechste Abthoiluug. Mischfonnen und verbundne Formen 30 4

Erster Abschnitt. Die Einleitung.

Zweiter Abschnitt. Das sonatenartige Rondo 307

Dritter Abschnitt. Die figurale und fugenartige Sonatenform. . 813

Hierzu der Anhang M 603

VierterAbschnitt. Zusam menstel lung versch iedener Sätze zu einem

grössern Ganzen 819

Fünfter Abschnitt. Die Sonate in drei Sätzen ........ 880

S ochste r A h sc h n i 1 1 Die Sonate mit, mehr Sätzen 3 29

1. Menuett 380

2. Einleitung 332

Siebenter Abschnitt. Die ungewöhnlichen Gestaltungen der So»

natP. 338

Achter Ahsen nitt. Die Fantasin 385

Hierzu der Anhang N MO

Siebentes Buch.

Die Elementar- und reine Vokalkomposition 341

1. Vorbemerkung 343

II. Allgemeine Uebersicht 345

Erste Ahtheilung. Vorstudien 346

Erster Abschnitt. Das Organ des Gesangs und seine künstleri- schen Gesetze im Allgemeinen 347

4. Die Rhythmik des Gesanges 349

2. Ton folge 350

Zweiter Abschnitt. Das Stimmorgan 353

4. Der Athem.

1. Di« Stimme. !

3. Das Stimmgebiet 354

4. Die Stimmregister 356

5. Din Stirn mklassftn 357

Dritter Abschnitt. Die Sprache nach ihrer musikalischen Natur 362 4. Die Laute.

2. Der Rhythmus 304

8. ftar Tonfall 366

Vierter Abschnitt. Der Inhalt des Gesangtextes 868

Fünfter Abschnitt. Ausdrucksweise des Textes im Allgemeinen. 374

Sechster Abschnitt. Die äussere Form des Textes 377

A. Die ungebundene Rede.

Bi Der Vers 378

Deberleitung 382

Zweite Abtheilnng. Das Rezitativ 386

Erster Abschnitt. Allgemeiner Anblick der Form.

Zwftitpr A hart h nitt. Das einfache Rezitativ 392

Inhaltsanzeige. Xl\]

Seile

4. Textwahl und Textstudium afta

2. Wahl der Stimme und Tonnrt aoi

3. Entwurf der Komposition.

Hierzu der Anhang 0 642

Dritter Abschnitt. Höhere Beispiele 399

Vierter Abschnitt. Das begleitete Rezitativ und das Arioso . .44 0

4. Fortklingende Begleitung.

2. Figurirte Begleitung 412

3. Taktrnässiges Rezitativ 414

4. Die Begleitung als Zwischensatz 415

5. Das Arioso 44 6

Hierzu der Anhang P 645

Anhang 419

Dritte Abtheilung-. Die Liedform 4 21

Erster Abschnitt. Der Liedtext 4 23

A. Der Inhalt desselben.

B. Die Form des Liedtextes 4 27

Zweiter Abschnitt. Liedkomposition 429

Dritter Abschnitt. Das durchkomponirte Lied 484

Hierzu der Anhang Q 622

Vierter Anschnitt. Das Chnrlied und das Lind für mehrere Solo- stimmen 4:? 9

Vierte Abtheilnng. Die Begründung der Chorkomposition 4 42

Krster Ahse, hnitt. Chor und Chortnxt.

1. Allgemeinheit des Textinhalts 443

2. Einfachheit, Kürze, Bedeutsamkeit 444

3. Die Sphäre seines Inhalts naher bezeichnet.

4. Unmittelbare Bestimmung für den Chor 44 6

5. Erhebung der Einzelrede zum Chor 447

Zweiter Abschnitt. Die musikalische Gestaltung des Chors im

Allgemeinen 450

A. Stimmwnhl.

B. Stimmverwendung 452

C. Chorkräfte 464

. 4. Das Ausschallen. _.

i. Das Singen.

3. Das Sprechen 463

Fünfte Abtheilnng« Die Formen der Chorkomposition 465

Erster Abschnitt. Die Choralfiguration.

Zweiter Abschnitt. Der Text zu einer einfachen Fuge 478

4. Inhalt und Form des Textes für ein Fugenthema 479

2. Ausdehnung des Textes für ein Fugenthema 481

Dritter Abschnitt. Der Grundhegriff der einfachen Singfuge . . 4S5 A. Die redende Singfuge 486

Vierter Abschnitt. Die Komposition der einfachen Singfoge . . 494

XIV

Inhaltsanzeige.

Seile

B. Die singende Fuge 498

Fünfter Abschnitt. Die andern Gestalten der Singfuge .... 501 1. Die Poppt?!- und Tripel fuge.

i. Der Choral mit Fuge 508

3. Der fugirte Choral.

4. Die Fuge mit fremdem Zusatz

Sechster Abschnitt. Die freien Figuralformen 505

Siebenter Abschnitt. DJc Motette 510

Sechste Abtheilung. Der Doppel- und mehrfache Chor 518

Erster Abschnitt. Die Veranlassung zum Doppelchor 319

Zweiter Absen n itt. Der doppelchör ige Salz. 527

1. Ablösung einer Masse von Stimmen durch die andre 528

2. Gleichzeitige Gegeneinanderstellung beider Chöre 532

3. Auflösung beider Chöre in ihre Stimmen 534

4. Energische Gegenstellung von Masse und einzelnen Stimmen . 535

Dritter Abschnitt. Die Formen des Doppelchors 538

Vierter Abschnitt. Der drei- und vierfache Chor 540

Fünfter Abschnitt. Die Verbindung von Chor und Solo. . . . 548

Anhang» Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile 554

Notenbeilagen 624

Sachregister 630

EINLEITUNG

1. Aufgabe des dritten und vierten Theils.

Die ersten Theile der Kompositionslehre haben die Bestimmung gehabt, in künstlerischem Sinn und Trachten in die Thätigkeit des Komponisten einzuführen und sich dem Mitarbeitenden in jeder der künstlerischen Aufgaben erweckend , erhebend , erfreulich zu be- weisen. Wie hoch man aber auch die bisherige Bethätigung an- schlage , wie unverkennbar sie künstlerischer Natur gewesen : wir haben uns niemals (Th. I, Sf. 5) * bergen können, dass unserm Streben eine höchst wichtige Seite des Kunstwesens ganz fremd bleibe; und zwar eine solche, ohne die ein Kunstwerk gar nicht wahres und volles Leben bat. Das wirkliche Dasein der Musik und jedes Musikwerks lebt im Erklingen, ist also an die Werk- zeuge des Erklingens, an die Musikorgane** gewiesen. Eine Melodie, ein Tonsatz, der in dieser Hinsicht unbestimmt geblieben, nicht für bestimmte Organe (Instrumente, Singstimmen) erfunden und geeignet, ist nur abstrakter Gedanke , nicht lebensfähiges und lebendiges Kunstgebilde. Daher fanden wir schon bei den bisheri- gen Unternehmungen Anlass, uns an Vorstellungen von bestimmleu Organen (Th. I, S. 74, 340) zu erfrischen und aus dem abstrakten Tonsetzen wenigstens zu der Erinnerung an lebendige Musik hin- zuretten. Nur waren diese Erinnerungen bloss beiläufige, sehr all- gemeine, sie blieben unerfüllt.

Die Aufgabe des dritten und vierten Theils der Kompositions- lehre ist nun im Gegensatz zu den bisherigen: in das wirkliche und volle Leben der Kunst einzuführen, die Erfüllung des bisher nur beiläufig und höchst dürftig Angedeuteten oder ganz bei Seite Gelassenen zu geben. Was wir bisher nur abstrakt gedacht,

* Alle Beziehungen auf die ersten Theile des Lehrbuchs sind auf die vierte Ausgabe der beiden ersten Theile und auf die sechste Aus- gabe der allgem. Musiklehre gesetzt.

** Allgem. Musiklehre, S. 6, 141. Komp.-L. Th. IV.

1 *

Digitized by

4

Einleitung.

soll leben, was wir geübt und vorbereitet, soll angewendet und da- mit der Weg zu dem höchsten Lohn und Glück der Kunst er- schlossen werden, die in nichts anderm, als im Ersinnen und Voll- führen der Kunstwerke zu suchen sind. In diesem Sinne heisst die fernere Lehre

angewandte Kompositionslehre,

im Gegensatze zu der reinen Kompositionslehre, unter welchem (andern Lehren entlehnten) Namen wir (Th. I, S. 5) die frühern Lehrtheile zusammengefasst haben.

2. Neue Gegenstände der Lehre.

Unsre Aufgabe ist also, nicht mehr abstrakte Weisen, sondern Kompositionen für bestimmte Musikorgane zu bilden, mithin Kom- positionen, die für diese Organe in jeder Beziehung geeignet sind. Wir müssen daher mit diesen Musikorganen möglichst genaue Be- kanntschaft machen, um zu wissen, was jedes derselben für sich allein oder in Verbindung mit andern leisten kann, und was sich für jedes derselben eignet.

Schon oberflächliche Beobachtung lehrt, dass jedes der Musik organe (mit Ausnahme einiger untergeordneter Schlaginstrumente) einer mehr oder weniger ausgedehnten Tonreihe mächtig und inner- halb derselben zu gewissen Hervorbringungen (Tonhalten, Tonfigu- ren, schnelle Tonfolge u. s. w.) mehr oder weniger geschickt ist; dass sieb auch hierin die verschiedenen Organe vielfältig unterschei- den, z. B. Geigen, Flöten, Diskantstimmen höhere Tontagen, Fa- gotte, Kontrabässe, Tenor- oder Bassstimmen dagegen tiefere, Klarinetten eine vollständigere und umfassendere Tonreihe haben, als Trompeten; dass aber ganz abgesehn vom Tongehalt die ver- schied neu Instrumente (und in gewisser Hinsicht auch die Singstim- men) auch noch durch die Eigentümlichkeit ihres Klan- ges, durch die Weise, in der ihre Töne das Wesen des Instru- ments aussprechen und unsern Sinn ansprechen, sich von einander unterscheiden.

Es ist einleuchtend, dass wir das Wesen und Vermögen aller Organe, durch die wir wirken, in deren Sinn und Wesen wir kom- poniren wollen, genau* kennen müssen, wenn wir nicht jeden

* Was die allgem. Musiklebre S. 143 hiervon miUheilt, kann für die Aar- gabe des Komponisten natürlich nicht ausreichen, soll vielmehr nnr die allge- meine, elementare Einsicht und Kenntniss ertbeiten. Der vierte Theil der Kom- positionslehre giebl befriedigendem Nachweis.

Digitized by Google

Neue Gegenstände der Lehre. 5

Augenblick mit ihnen in Widerspruch geratben , ihnen etwas Un- tunliches oder Ungünstiges zumuthen, das ihnen Erreichbare und Günstige aber versäumen oder verfehlen wollen. Wir dürfen uns also von nun an keineswegs damit zufrieden geben , dass unser Tonstück nach den abstrakten Anfoderungen der reinen Koniposi- tionslehre befriedige, sondern erkennen noch überdem die Aufgabe an, es nach der Fähigkeit und dem Sinn der Organe, für die es bestimmt ist, zu vollführen.

Hierbei tritt also ein bisher ganz bei Seite gelassenes Element der Musik, der Klang*, überhaupt der Karakter und die Fähigkeit der Musikorgane, in unsern Gesichtskreis.

Ferner wissen wir, dass der menschliche Gesang in der Regel mit dem gesungnen Wort, mit dem Texte vereint ist, und dass die Sprache neben dem geistigen Inhalt ihrer Worte und Sätze auch ihren eignen Rhythmus, ihre Formen, ihre mannigfachen und durchweg ausdrucksvollen Klänge (die Laute und ihre Ver- bindung) in sich hat. Alle diese Seiten der Sprache kommen im Gesaug neben dem Rein-Musikalischen in Anreguug ; wir werden folglich kein Gelingen unsrer Gesangkompositionen hoffen dürfen, wenn wir sie nicht hinreichend, das heisst möglichst tief erkannt haben. Abgesehn aber vom Sprachlichen tritt die Singstimme nach Obigem in eine Reihe mit den andern Musikorganen und will nach Tonumfang, Geschick, Klangweise u. s. w. gekannt und bedacht sein. So tritt also nächst

dem Elemente des Klangs noch ein zweiter bisher fern gebliebner Gegenstand,

die Sprache, als Gesangtext, in die Reibe unsrer Studien. Wie wir nun schon in der reinen Kompositionslehre, je tiefer wir eindrangen, um so mehr uns ge- wöhnt haben, die verschiednen Stimmen (zumal in polyphonen Sätzen} uns als besondre und bestimmte Persönlichkeiten (Th. I, S. 339; Th. II, S. 143 u. a.) vorzustellen: so treten jetzt in der That die verschiednen Organe als so viel besondre Wesen, gleichsam als die verschiednen Personen eines grossen Dramas gegenüber, und wir haben, wie der wahre dramatische Dichter, jede dieser Personen ihrem eignen Sinne gemäss zur Mitthätigkeit zu bringen.

»

3. Rückwirkung auf die vorangehende Lehre.

Durch die neue Richtung der fernem Lehre ist nun auch die entschiedenste Rückwirkung auf den Inhalt der vorangehenden be-

Allgemeine Musiklebrc, S. 2, 3, 148.

Digitized by

6

Einleitung.

dingt. Die bereite erkannten Formen werden unter der Rücksichts- nahme auf die Organe, für die sie ausgeführt werden sollen, theils näher bestimmt, theils mannigfach umgewandelt; die im zweiten Theil aus den dort (S. 9) angegebnen Gründen übergangenen For- men werden jetzt zur Anschauung und Anwendung gebracht, die Lehre von der Begleitung und selbst die Elementarlehre von Rhyth- mus, Melodie und Harmonie haben manchen Nachtrag zu erwarten.

Wer in den ersten Theilen den leitenden Grundsatz :

nicht Lehren und Lehrgegenstände aufzuhäufen gleich aufge- speicherten Waaren , sondern ein Jegliches , soviel nur mög- lich und rathsam *, in organischer Entwickelung und an der Stelle zu geben, wo es unmittelbar in Anwendung und Wirk- samkeit treten kann,

erkannt und beherzigt hat, wird auch jetzt nicht muthmassen, dass hiermit vergessene oder versäumte Lehrpunkte nachgebracht, son- dern, dass fernere Entwickelungen** gegeben werden sollen, die früher unanwendbar, mithin müssig, störend und belästigend ge- wesen wären.

* Vergl. Tb. I, S. X, 9. Dass keine Lehre, überhaupt kein Wort den Gegenstand in der ganzen Fülle seines Daseins auf Einmal fassen und darlegen kann, versteht sieb von selbst; aber sie tnuss so schnell und kräftig wie mög- lich über jede Abstraktion hinaus in die Fülle und Wirklichkeit des Lebens dringen, weil jede Abstraktion nölhig oder unnöthig dem Kunstwesen zu- wider, mithin dem künstlerischen Wesen und Leben des Jüngers störend , ja leicht sogar von bleibendem Nachtbeil ist. Nur der Ueberreichtbum der Gegen- stände der frühern Theile und die gewichtige und künstlerische Beschäftigung, die sie dem Jünger bieten, bat uns (neben erbeblichen methodischen Gründen) zu der Scheidung von reiner und angewandter Lehre im obigen Sinne vermocht.

** Vergl. des Verf. „Die alte Musiklebre im Streit mit unarer Zeit" S. 14 u. f., eine Schrift, deren Beherzigung besonders von Lehrenden und Vorgesetzten wir um der Wichtigkeit der Sache willen sehr wünschen, so schwer uns der Entscbluss gefallen, sie zu schreiben, da in ibr der Schein einer persönlichen Polemik nicht vermieden werden konnte. Dass so Mancher über diesen Schein nicht hat hinauskommen können, diese Polemik für Zweck statt für die unvermeidliche Form einer zur Pflicht gewordnen Leistung im Dienste der Knnstlehre angesebn : das muss man zu ertragen und mit dem in der Tbat so häutigen Hineinspielen persönlicher Interessen in Kri- tik und Künstlerleben zu entschuldigen wissen. Der Verf. bat die Missdeutung vorausgesebn und um so ruhiger auf sich nehmen können, da sein ganzes früheres und späteres Wirken Beweise genug gegeben, dass er wohl Unbill er- tragen kann (wie es Bessere als er gemusst;, nicht aber sich zu ihrer Ausübung oder auch nur zu ihrer Abwehr herbeilassen mag.

Digitized by Google

Forbildung zu der Lehre

7

4. Vorbildung zu der Lehre.

Da sonach die angewandte Kompositionslehre (S. 4) organische Fortbildung und Fortsetzung der reinen Kompositionslehre ist: so versteht sich, dass sie alle Kenntnisse, Erkenntniss und Geschick- lichkeit voraussetzt, die mit dem Studium der vorhergehenden Lehre bezweckt wurden. Dass diese Vorbildung in den frühern und gleich- zeitigen Lehrbüchern nicht vollständig und noch weniger in nnserm Sinne milgetbeilt worden, ist bereits anderswo dargelegt; wieweit sie durch den besondern Unterricht so manches geschickten Leh- rers einzelnen Jüngern zugeführt worden, muss der eignen Erwä- gung jedes Einzelnen anheimgestelit bleiben. Am sichersten wird man sich allerdings durch das Studium der ersten Theile unsrer Lehre auf die jetzt nachfolgenden vorbereitet wissen.

Hier aber wiederholen wir dringend und auf das Ernstlichste den Rath (Th. I, S. 12),

sich nicht am blossen Wissen genügen zu lassen und nicht eher in die neue Bahn einzuschreiten, als bis man die Auf- gaben der vorangehenden Lehre mit Sicherheit, Leichtigkeit und wohlthuendem Antheil der Seele (Th. II, S. 10) lösen kann.

Selbst unter dieser Voraussetzung hat es uns stets vortheil- haft geschienen, zwischen der reinen und angewandten Lehre einen Ruhemoment eintreten zu lassen.

5. Begränzung der Lehre.

Nach zwei Seiten hin trifft jetzt die Kompositionslehre auf ihre Granzen.

Erstens verbindet sich bekanntlich die Tonkunst Jmit andern Zweckeu und widmet sich Ideen, die nicht unmittelbar und aus- schliesslich ihr eigen sind. Hierhin gehört der Verein der Musik mit dramatischen Kunstproduktionen (Oper, Melodram u. |s. w.) und ihre Widmung für bestimmte kirchliche Momente (Messe u. s. w.), dann die musikalische Offenbarung von Gemüths- oder selbst äusser- lich sich kundgebenden Zuständen (musikalische Malerei , wenn man sich das verrufne Wort der Kürze wegen ohne weitere Er- läuterung hier* gefallen lassen will ), selbst die Zusammen- stellung verschiedner Musiksätze zu einem grössern Ganzen (Sym- phonie u. s. w.), sofern dieses die Offenbarung einer höhern Idee, nicht bloss eine formelle Aufeinanderfolge ist. Dergleichen kiinst-

* Einstweilen bietet des Verf. „lieber Malere» in der Tonkunst" (Berlin, bei Fink) Aufklärung.

Digitized by

Einleitung,

lerische Unternehmungen können nicht eigentlich gelehrt , es kann nicht darin unterwiesen, sondern (unter Voraussetzung des geistigen Inhalts) zu ihnen herangebildet, über sie und zu ihrer Vollführung aufgeklärt werden. Dies aber kann in der Kompositionslehre nur theilweise geschehn; die Vollendung ist von der Philosophie der Kunst zu erwarteu*.

Zweitens berührt jetzt die Lehre Gegenstaude, deren Er- schöpfung sie nothwendig der allgemeinen humanistischen Bildung des Jüngers überlassen muss, und andre, die das Wort gar nicht vollständig aussprechen, die sie nur unvollstäudig und gleichniss- weis, also nicht mit derjenigen Schärfe und Sicherheit bezeichnen kann, welche für Lehre wünschenswerth ist.

Zu den erstem Gegenständen gehört die Sprache nach ihrem grammatischen, rhetorischen und prosodischen Bau und nach ihrem Inhalt. Zur vollen Ausrüstung für den Beruf eines Komponisten darf diese Kenntniss und Bildung (neben der Muttersprache Kennt- niss des Lateinischen, Italienischen und Französischen) gefodert und wenigstens der Hauptsache nach vorausgesetzt werden. Zu den letztem Gegenständen gehört vornehmlich der Klang der versehied- nen Instrumente und ihrer Verschmelzungen. Keine Sprache reicht für die Bezeichnung dieser so schwer zu bestimmenden und doch so bedeutungsvollen und einflussreichen Wesenheiten hin; kein Lehrer kann mehr als Andeutungen geben, und selbst diese uur in der Form ungefährer, nie ganz treffender Vergleich ungen. Hier muss also nothwendig die sinnliche Wahrnehmung des Jüngers dem bloss andeutenden Worte des Lehrers entgegen und zu Hülfe kommen, und wir rathen Jedem, dem es mit seinen künstlerischen Studien Ernst ist, dringend :

schon jetzt und von hier an unausgesetzt den Klang der verschiednen Instrumente und zwar in jeder Tonlage mit der höchsten Aufmerksamkeit und niemals nachlassender Beharrlichkeit zu beobachten und sich ein- zuprägen.

Es ist die unerlässliche Bedingung für die an Gestalten und Freuden überreiche Kunst der Instrumentalion , überhaupt für tie- fere und vollständige Kunstbildung, dass man sich in Klang und Wesen der Kunstorgane ganz und mit inniger Theilnahme einge- lebt, sich mit ihnen vollkommen vertraut gemacht habe. Wer diese Bedingung nicht erfüllt, wird auch das Wort der Lehre nicht fas- sen, viel weniger mit Lebendigkeit und Eigentümlichkeit für jene Organe erfinden können.

* Das Seinige gedenkt der Verf. in der „Musikwissenschaft" dar- zulegen.

Digitized by Google

Fernere Vorbedingungen

9

Zu diesem Zwecke genügt es übrigens keineswegs, dass man bloss Musik und war' es die beste höre. Denn bei der Em- pfänglichkeit für Kunst, die in jedem Jünger vorausgesetzt werden muss, ist, je trefflicher die Kuustdarslellung, um so mehr zu erwar- ten, dass der Hörer über der Macht des Kunstwerkes im Ganzen die Beobachtung der mitwirkenden, oft untergeordneten Tonstoffe versäume. Es muss daher jede Gelegenheit wahrgenommen werden, die Instrumente einzeln und ausser jenen verführerischen Darstel- lungen zu hören. Hier, in Musikproben, bei geringen interesselo- sem Aufführungen (in denen wir uns leichter vom Ganzen ab auf die einzelnen Stofflheile wenden) ist in der That oft tiefer zu beobachten, als in wichtigern und anziehendem Musiken.

6. Fernere Vorbedingungen.

In gleichem Sinne sprechen wir aus, dass es dem Jünger Jor- dersam für seine Kompositionszwecke sein kann, wenn er ausser dem Klavier (noch einige Orchester- Instrumente, wo möglich ein Streich- und ein Blasinstrument behandeln lernt; wir würden zu- nächst Violine oder Violoneell und Klarinette rathen. Denn aller- dings führt keine Lehre und keine Beobachtung so tief und sicher in Wesen und Technik eines Instruments ein, als eigne Handha- bung. Dagegen kann ungenügende Ausübung mehr irre leiten, als sichern, weil man in solchem Falle leicht für unausführbar oder ungünstig hält, was nur der eignen Unfertigkeit schwer fällt, und umgekehrt im Bewusstsein derselben Manches für grössere Ge- schicklichkeit erreichbar und wirkungsvoll meint, was selten oder niemals glücken kann.

Unerlässlich aber erachten wir für vollen Erfolg,

dass der Jünger gleichviel, von welcher Beschaffen- heit seine Stimme ist singen könne und fortwährend mit Antheil Gesang übe.

Denn der Gesang, das ist die dem Menschen wahrhaft eigne und eingeborne Musik ; den eignen Gesang fühlt Jeder am lebhafte- sten ; in ihm ist Jeder, der eben mit rechtem Antheil singt, auch am vollsten und innigsten betheiligt, empfindet Jeder nicht nur sich, sondern erfährt auch, wie dem Sänger und jedem anl heilvollen Spieler recht eigentlich zu Muthe ist. Gesangkomposition ist von einein Nicht-Sänger kaum zu denken; aber auch andern Komposi- tionsaufgaben wird man den Mangel eignen Gesanges nur gar zu empfindlich anmerken.

Fast eben so unerlässlich ist für höhere Leistung Geschicklich- keit im Klavierspiel, um sich mit dem reichen Schatze von Kunst- werken, die von Bach bis Beethoven fast alle Meister dem

Digitized by

10

Einleitung

Klavier anvertraut haben, in steter Berührung zu halten und an diesem zugänglichsten Instrumente das Zusammentreffen von Gedan- ken und Ausgestaltung stets zu beobachten. Dass höhere Geschick- lichkeit, die namentlich auch Bekanntschaft mit den Fortschritten in der Behandlung dieses Instruments gewährt (die wir vor Andern besonders Liszt verdanken), höchst fordersam ist, versteht sich.

7. üebersicht des ganzen Gebiets.

Bevor wir den L eberschritt in die neue Lehre thun, ist es rathsam, uns noch einmal unsern ganzen gegenwärtigen und künf- tigen Besitz mit tieferm Einblick, als früher, Th. I, S. 4 zu vergegenwärtigen. Dies wird nicht nur zur Befestigung und Auf- klärung unsers Standpunktes gereichen; es wird auch Anlass geben, manches bis jetzt Uebergangne, das weder früher noch jetzt eigent- licher Lehre und Uebung bedurfte, nun aber in Anwendung kommen muss, zu not Inger Erwähnung und Einweisung zu bringen.

Was uns bisher beschäftigt hat und fortwährend beschäftigen wird, war

I. der Ii Inj ihm us.

Wir haben ihn im Tastwesen und in seinem Antheil an den Konstruktionsformen (Satz, Periode, Theil u. s. w.) beobachtet und werden seine weitere Wirksamkeit in der Abwägung der Tbeile grösserer Kompositionen, den Rücktritt des bisher stets festgehalte- nen Tastwesens (im Rezitativ) , die zeitweilige Aufhebung aller Bewegung (in der Generalpause und dem Hall) kennen lernen.

Ihm schliesst sich von jetzt

II. das Zeitmaass

an, von dem aus der Elementarlehre* das Nähere als bekannt vor- ausgesetzt werden darf. Dass das Zeitmaass nicht ohne Einfluss auf die Gestaltung der Tonstücke ist, werden wir an mehr als einem Orte wahrnehmen ; es ist daher rathsam, von jetzt an bei jedem zu bildenden Tonstücke sogleich ein bestimmtes Tempo festzusetzen und zu berücksichtigen.

In Verein mit dem Rhythmus hat uns

III. das Tonwesen

beschäftigt. Unsre Studien haben sich auf Melodie, Harmonie, ho- mophone Begleitung, Polyphonie und eine Reihe von Kunstformen erstreckt und werden nach allen diesen Seiten fortschreiten. Na- mentlich wird, wie S. 6 gesagt ist, die Formenlehre von dem Punkte, wo wir sie früher aus bestimmten Gründen unterbrochen haben, weit und zur Vollständigkeit geführt werden.

* Vergl. hierüber die allgem. Musiklehre, S. 95.

Digitized by Google

Ueb ersieht des ganzen Gebiets.

11

Als neuer Gegenstand unsrer Betrachtung tritt zu dem Bishe- rigen

IV. die Schallkraß, * das Maass von Nachdruck, der Wechsel von Stärke und Schwäche [forte, piano mit allen Abstufungen, auch dem Abnehmen und An- wachsen), den wir einem Ton, oder einer Tongruppe, einem Satz in Verhältniss zum andern zuertheilen. Es genügen hierbei statt eigentlicher Lehre (die hier überflüssig erscheint) folgende Be- merkungen.

Der Wechsel von forte und piano erscheint zunächst als blosse Mannigfaltigkeit; zu solchem Zwecke wird bisweilen von Kompo- nisten ' die Wiederholung eines zuvor stark vorgetragenen Satzes im piano, oder umgekehrt eines Pianosatzes im forte bestimmt. Doch haben forte und piano ihre tiefere und eigentümliche Be- deutung.

Einen Ton oder Satz stark vortragen heisst nichts anders, als eine grössere Kraft oder Masse von Tonmaterial auf seine Hervor- bringuug verwenden, damit er selber als das Kräftigere, Durchdrin- gendere, Vorherrschende erscheine und wirke. So werden in der Regel, ohne dass es einer ausdrücklichen Bestimmung bedürfte, die Haupttheile im Takt, die Hauptmomente im Rhythmus** durch stär- kere Angabe betont, die entscheidenden oder Krufttöne in einer Me- lodie hervorgehoben, unter mehrern karakteristisch verschiednen zu einem grössern Ganzen verbundnen Sätzen der sanftere vom kräf- tigern unterschieden, u. s. w.***

Diesen tiefern Sinn der dynamischen Unterschiede wollen wir stets in Obacht nehmen und das Unsrige als Komponisten dafür wohlbedacht und sorgfaltig thun. Im Voraus aber {wollen wir uns die Mittel für Hervorbringung des forte und piano hier vorstellen. Sie bestehn

a) in der grössern oder mindern Kraft, die der Ausübende verwendet,

b) in der schon an sich stärkern oder heftigem Tonlage der verschiednen Organe,

c) in der Masse der Besetzung (in Orchester und Chor),

d) in der Anzahl der au einem Satze theilnehmenden Stimmen,

e) in der Weise, dieselben zu verwenden;

* So z. R. J. Havdn in der Menuett seiner fldur-Svmphonie, Nr. 1. ** AUgem. Musiklehre, S. 133 u. f. *** Die eigentümlichen, auf tiefern psychologischen Erörterungen oder An- schauungen beruhenden Verwendungen des Piano und Forte kommen in der Musi k Wissenschaft zur Betrachtung, da sie nicht Gegenstand der Lehre und Uebung sein können.

Digitized by

12 Einleitung.

dies Alles kommt bei den verschiednen Lehrgegenständen in Be- tracht.

. Ein für allemal setzen wir übrigens fest, dass wir, wenn bloss von der grössern oder mindern Kraft die Rede ist, in der Töne angegeben werden, die Namen Schall und Schallkrafl gebrau- chen, als die allgemeine Bezeichnung alles Hörbaren (allgem. Musik- lehre, S. 2) und unterschieden von Ton (Höbe und Tiefe des Schal- les) und Klang (Ausdruck der Wesenheit des lautwerdenden Or- gans).

Gegenstände unsers Studiums sind ferner

V. Natur und Behandlung der Instrumente nach ihrer Klangverschiedenheit und Technik, uud

VI. Gesang,

bei welchem die Stimme als Organ des Tons und Klangs und die Sprache nach Inhalt und nach Klang- oder Lautgebalt zur Betrach- tung und Anwendung kommt.

8. Eintheilung des neuen Stoffes.

Nach dem Obigen würde nun der fernere Stoff sich am Ueber- sichtlichslen theilen in die Lehre

A. vom Instrumentalsatz

und

B. vom Vokalsatz. In der erstem Lehre tritt uns zunächst ein wichtiger und hülf- reicher Unterschied in der Beschaffenheit der Organe entgegen. Ei- nige Instrumente sind nämlich für sich allein geeignet, ein Tonstück nach den wesentlichsten Bestandtheilen der Kunst, als Melodie und Harmonie und zwar diese als eigentliche Mehrstimmigkeit dar- zustellen; wir nennen sie selbständige. Andre Instrumente sind zu vollständiger Darstellung nicht geeignet, können entweder bloss einzelne Töne und Tonreihen, oder zwar Zusammenklänge, ja so- gar mehrstimmige Tonsätze, aber nur in grosser Beschränkung hervorbringen; diese heissen unselbständige Instrumente. Nach dieser Unterscheidung hat die Lehre vom Instrumentalsatze

a) die Komposition für selbständige,*

b) die Komposition für nichtselbständige Instru- mente zu behandeln.

Desgleichen ist bei der Vokalmusik zu unterscheiden, ob sie sich auf Singstimmen allein beschränkt, oder begleitende Instrumente zuzieht; sie zerfallt also

c) in die reine Vokalmusik,

d) in die begleitete Vokalmusik.

Digitized by Google

Lehrordnung

13

Endlich liegt eio wichtiger Unterschied für Lehre wie für Kom- position — und zwar sowohl für Instrunien talsatt , als für Vokal- satz — darin, ob sämmtiiehe, oder doch die Hauptstimmen, oder einige Stimmen von Einzelnen als Solosängern und Solospielern , oder ob sie von mehrern zu einer einzigen Stimme vereinten Personen vor- getragen werden sollen. Hiernach zerfällt der Instrumentalsalz

e) in den Orchestersatz (mit vielfacher Besetzung aller oder der Hauptpartien),

f) in den Solosatz (mit einfacher Besetzung aller oder der Hauptpartien] ;

desgleichen zerfallt der Vokalsatz

g) in Chorkomposition (mit vielfacher Besetzung aller Stimmen) ,

h) in Soloknm pnsition, and

i) in Verbindung von Solo- und Chorgesaug.

.> . . . .

9. Lehrordnnng.

Allein so wohlbegründet und übersichtlich diese Eintheilung des Lehrstoffs ist, so kann doch der Lehrgang sich ihr nicht an- schliessen. Eines Theils kann nicht die Vokalmusik für sich allein in allen Formen durchgearbeitet werden, weil viele dieser Formen Begleitung fodern, also schon Kenntniss und Hebung des Instrumen- talsatzes voraussetzen. Andern Theils fodern wieder die höhern Aufgaben des Instrumenlalsatzes so ausgebreitete und tiefe Bildung, haben übrigens nach Inhalt und Form so mancherlei Beziehungen zur Vokalmusik und so mancherlei Entlehnungen aus ihr, dass man nicht hoffen darf, durch einseitige Beschäftigung mit dem Instrumen- tale zu ihnen vollkommen reif geworden zu «ein. Endlich ist auch für den Sinn des Jüngers Wechsel in der Beschäftigung jetzt er- frischend und wünschenswertb, wie erlaubt; seinem jedesmaligen Bil- dungssland' aber allmähliches Auferbauen beider Seiten zuträglicher, als wollte mau ihn in dem Einen auf die Höhe geleiten und dann im Andern wieder auf Anfangsgründe zurück nöthigen.

Daher erscheint Theilung und Mischung der Hauptpartien wohl- gerathen und folgender Gang vorzuziehn.

Die Lehre beginnt mit dem

I. Satz für selbständige Instrumente,

lässt sich aber dabei vorerst nur auf das Klavier ein. Die Orgel findet eine für den Gang des Studiums wie des Lehrbuchs geeigne- tere Stelle im vierten Theil des Werks, der dies zu seiner Zeit rechtfertigen wird. Die Harfe aber kann nach ihrer jetzigen Stel- lung füglicher zu den Orchester-Instrumenten gerechnet werden (so

Digitized by

14 Einleitung.

selten sie auch da zur Anwendung kommt), da für sie als selbstän- diges Instrument in der Regel nur Harfenspieler oder deu Harfen- spielern Nahstebende komponiren, die dann keiner besondern und genauem Anweisung bedürfen. Seltnere nnd geringere Instrumente (Harmonika, Eupbon, Guitarre u. s. w.) können noch weniger be- sondre Berücksichtigung finden, da sie in der Kunstwelt nicht ein- gebürgert sind. Es folgt

II. Vokalsolosatz mit Begleitung eines selbständigen Instruments ;

und zwar nur die Formen des Rezitativs und Liedes, als Vorschule für alle Gesangkomposition. Sodann

III. der reine Vokalsatz. So weit führt der vorliegende dritte Tbeil. Ueber die weitere Ordnung berichtet der vierte und letzte Tbeil des Werkes, der sie durchzuführen hat.

Digitized by Google

Sechstes Bach.

Die Komposition für selbständige

Instrumente.

Digitized by Google

t

»

Digitized by Google

Einleitung.

Die Reihenfolge unsrer Aufgaben führt uns, wie schon die Einleitung gesagt, zuerst an das allbekannte Klavier. Hier kann die noch ungewohnte Rücksicht auf Natur und Technik der Organe am wenigsten schwer fallen.

Dies ist nicht nur für den Anfang erwünscht, sondern bietet auch Müsse und Gelegenheit, die meisten und am häufigsten zur An- wendung kommenden Formen, die bisher übergangen worden (weil sie sich besser in ihrer Anwendung auf ein bestimmtes Organ an- schaulich machen, als abstrakt darstellen lassen), kennen zu lernen.

Erste Abtheilung.

Die Klavierkomposition in den einfachen Formen.

In dieser Abtheilung werden nur Vorübungen zu den wichti- gern Aufgaben der folgenden drei, ebenfalls der Klavierkomposition gewidmeten Abtheilungen angestellt. Diese Vorübungen sind aber nichts anders, als selbst schon Kunstgebilde, gehören einer schon oft zu bedeutenden Werken benutzten Kunstform an.

Erster Abschnitt. Natur und Technik des Instrumentes.

Vor allem sei bemerkt, dass, wenn von Klavier die Rede ist, natürlich nicht das alte Instrument mit Tangenten, dem dieser Name zunächst eigen war, sondern das jetzt Überall an seine Stelle ge- tretene Pianoforte (und zwar in seiner heutigen Ausbildung) gemeint ist. Jenes alte und eigentlich Klavier genannte Instrument*, so wie der ebenfalls veraltete Kielenflügel** und das Pantalon*** wichen

* Die Tasten führten Messingplättchen an die Saiten und brachten durch deren Andruck einen leise surrenden, zarten und feinen Klang hervor.

** Die Tasten hoben Holzplättchen mit diagonal eingesetzten Federspitzen, durch die die Saiten angeschnellt oder angerissen wurden. **• Unvollkommne Vorart des Pianoforte.

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 8

Digitized by Google

18 Klavierkomposition in einfachen Formen.

in mancher Beziehung nicht bloss im Umfang der Tonreihe, son- dern auch in Kraft, Fülle, Art und Annehmlichkeit des Klanges u. s. w. vom Pianoforte so bedeutend ab, dass man die Werke früherer Komponisten (namentlich C. P. E. Bach's) in mancher Hinsicht missverstehn würde, wenn man nicht bei ihrer Auffassung der alten Instrumentart gedächte.

Was nun unser heutiges Pianoforte betrifft, so scheint eine Verbreitung über seine Natur und Behandlung um sd mehr über- flüssig, da Bekanntschaft mit demselben und sogar eine gewisse Geschicklichkeit in seiner Behandlung (S. 9) vorausbedungen ist. Wir erinnern daher nur an folgende, Jedem bekannte Momente, um aus ihnen die ersten Gesetze für angemessne Komposition zu ziehen.

Das Pianoforte hat

\) grossen Tonumfang, mit Ausnahme der Orgel den grössten unter allen Instrumenten; »

2) die Kraft und Dauer seines Schalls ist im Verhältniss

zu den meisten übrigen Instrumenten, nämlich Ton gegen Ton gerechnet, nur gering;

3) es ist unfähig, einen Ton in gleicher Kraft zu halten

oder gar anschwellen zu lassen ; selbst auf den schall- reichsten Instrumenten ist die eigentliche Schallkraft sehr bald nach dem Anschlage dahingeschwunden;

4) es ist unfähig, zwei Töne so fest und innig wie die

meisten andern Instrumente zu verbinden, sie wohl gar zu verschmelzen oder in einander zu ziebn, obwohl durch bekannte Vortragsmittel ein gewisser Anschein der Verbindung hervorgebracht werden kann;

5) der Klang des Instruments ist in allen Tonregionen

ziemlich gleichartig, soweit die Verschiedenheit der Höhe und Tiefe, der längern und kürzern Saiten (für die tiefern und höhern Töne) zulässt;

6) es ist zur Ausführung jeder Art von Tonverbindung

geschickt und hierin allen übrigen Instrumenten über- legen.

Aus diesen, jedem Spieler bekannten Beobachtungen folgen die wichtigsten Regeln für den Pianofortosntz leicht und sicher. Wir gehn dabei natürlich von der Voraussetzung aus, dass der Kompo- nist hier wie überall die Absicht habe, jeden Gedanken auf das Angemessenste und Günstigste hervortreten zu lassen.

Erstens entbehrt der einzelne Ton und die Folge ein- zelner Töne oft jene Fülle und Schallkraft, die die meisten an- dern Instrumente gewähren und die so oft zu dem sättigenden und wirkungvollen Ausdruck des musikalischen Gedankens wünschens-

Digitized by Google

Natur und Technik des Instrumentes.

19

werth, ja unentbehrlich ist. Wir müssen also, wo Letzteres der Fall ist, durch besondere Mittel ersetzen, was das Instrument nicht von selber gewährt.

Bisweilen werden wir eine Melodie, die schwellend vollsaftig heraustreten soll, z. B. diese,

Ped.

in der Oktave, ja bisweilen sogar in zwei Oktaven verdoppeln (Th. I, No. S. 522), und zwar nicht bloss in Fortesätzen, son- dern auch bei Melodien, die piano, aber mit einer gewissen Lei- denschaft und Fülle der Empfindung vortreten sollen.

Bisweilen werden wir solche Oktaven, um sie noch fliessender, in einander gehender und beweglicher zu geben, in Oktaven fi - guration auflösen,

Risolulo.

oder mit andern ahnlich wirkenden Figurationen, z. B. den Bass von Nr. 2 mit diesen Figuren

2*

Digitized by

20

Klavierkomposition in einfachen Fomien.

vertauschen ; einen Ton, der bedeutungsvoll und mächtig treffen soll, werden wir mit einer oder mehr Oktaven verstärken, ja oftmals da, wo auf andern Instrumenten ein einzelner Ton aus- reicht, durch vollgriffige Akkorde treffen, oder auch einen Ton, der lange gehalten werden soll, durch wiederholten Anschlag

Allegro*).

4 l

AUegro di molto e con brio.

gleichsam fortsetzen.

Zweitens werden wir Melodien, die gesangvoll in ihren Tönen innig verbunden erklingen sollen, nicht in die höhern Ton- lagen, sondern mehr in die mittlem (kleine, ein- und zweige- strichne Oktave) setzen, weil die Schalldauer in den höhern Regio- nen mit der Länge der Saiten zugleich abnimmt**. Ist aber die höhere Melodielage unvermeidlich, so werden wir durch einfachere und zarter gehaltne, auch nicht, zu nahe gerückte Begleitung das Hervortreten jener kurzen und feinern Töne begünstigen.

* Das erstere Beispiel ist aus Beethoven's Sonate Op. 28, das andre aus dessen Sonate pathötique. Beide Bassfiguren (die in diesen und andern Sätzen sehr lange beibehalten werden) sind der Klaviermusik unentbehrlich, freilich aber bei ihrer Allbekanntheit und leichten Ausführbarkeit oft miss- bräuchlich und am unrechten Orte angewendet, dann wieder wegen des Miss- brauchs eine Zeitlang (unter dem Namen Trommel bässe) verrufen gewesen. Uns wird am rechten Orte jede Form ewig recht und gut erscheinen.

** Die Schalldauer der tiefern Saiten wird, bei aufgehobnem Pedal, durch Miterklingen der verwandten höhern Saiten (Oktave u. s. w.) verstärkt, was ebenfalls bei den höhern Saiten wegfällt. Daher haben die tiefern Saiten bei aufhörender Dämpfung anscheinend reinem Klang und mehr Resonanz, weil ihnen der Mitklang ohne weitere mechanische Zuthat zuwächst.

Digitized by Google

Natur und Technik des Instrumentes.

21

Drittens werden wir die Gegensätze von Forte und Piano und die Abstufungen zwischen beiden bei der (in Vergleich mit an- dern Organen) geringen Fähigkeit des Instruments dazu durch den Gegensatz von vollgriffigem und minderstimmigem Spiel hervorheben. Ein Satz, wie dieser,

I

kann auf dem besten Pianoforte nicht so kräftig vorgetragen wer- den, dass er durch Stärke wirkte; selbst eine vier- und fünfstim- mige Ausführung, die für andre Organe recht wohl zureichen könnte,

6

mm

m

T

würde, wenn wir No. 5 als einen Pianosatz vorausgeschickt den- ken, nur ein mezzo forte geben; erst vollgriffiges Spiel,

3 <*■

3^

5^*

Con tutta la forza.

4 I \

bei a., oder in der vollen Weite des Instruments (abge- von den höchsten schallärmern Tönen) auseinandergerückt, wie bei 6., dass man die mittlem Tonlagen mit zu hören vermeinte, würde den Satz in voller Kraft erschallen lassen. Statt vieler Beispiele, an denen dasselbe mit kleinen Abweichungen zu beobach- ten, stellen wir unter c. einen Satz aus T halberes Hugenotten- Phantasie vor.

Digitized by

22

Klavierkomposition in einfachen Formen

Man erkennt leicht, dass mit solchen vollen Griffen nicht eigentliche Vielstimmigkeit beabsichtigt ist, so wenig, wie die Ok- taven in No. I, 2, 3 als eigentliche Zweistimmigkeit (Th. I, S. 83) gelten könnten. Daher ist man auch keineswegs an die einmal er- griffne Stimmzahl gebunden; die Sätze in No. 7 sind wesentlich nichts Andres, als der drei- und der vier- oder fünfstimmige Satz in No. 5 und 6 ; und eben deshalb sind die in solcher Vielgriffig- keit enthaltnen Oktavfolgen (dergleichen schon Th. I, S. 521 und anderwärts vorgekommen) keineswegs für Satzfehler, sondern nur für unentbehrliche Verstärkungsmittel zu achten.

Viertens müssen wir, wenn figurirte, überhaupt polyphone Sätze in voller Klarheit und Wirksamkeit heraustreten sollen, uns durchaus auf kleinere Stimmzahl beschränken und, wo dies nicht durchweg geschehn kann, wenigstens möglichst oft auf die mindere Stimmzahl zurückgehn, oder einen Theil der Stimmen zu blosser Verdopplung andrer in Terzen, Sexten u. s. w. (also nicht polyphon) gebrauchen. Denn ganz abgesehn von der Schwierigkeit, vielstimmige polyphone Sätze gut vorzutragen, muss man die Un- fähigkeit des Instruments für dergleichen bei der kurzen Dauer seiner Töne und der Unmöglichkeit wirklicher Bindung zugeben.

Allerdings sträubt sich gegen ein solches Gebot unser Gefühl und Bewusstsein von der Herrlichkeit polyphonen Satzes. Allein bald, nach einer nicht lästigen Reihe von Versuchen und Uebungen, wird man gewahr, dass auch unter der Beschränkung, ja durch diese selbst neue Wege der Erfindung geöffnet werden. Und wie wir uns einst im gebundnen Zustande des Anfängers (Th. II, S. 11) der einmal gebotnen Form fügen mussten, obgleich Phantasie und Neigung uns auf andre Wege zu ziehen trachteten: so wird jetzt noch leichter gelingen, Formen da, wo sie nicht das rechte Leben und Wirken finden können, zurückzuhalten und für die günstigere Stelle zu bewahren.

In der That haben die grössten Meister der Polyphonie jenen Grundsatz thatsächlich anerkannt. Hier ist vor allen Seb. Bach zu nennen, von dem man bei seiner unbegrenzten Meisterschaft und Hinneigung zum polyphonen Satz am ersten ein Hinwegsetzen über jene von aussen kommende Rücksicht erwarten dürfte, war' es nicht eben das Merkmal höchster Meisterschaft, überall das Angemessne mit Bewusstsein zu treffen. Musterhaft sind in dieser Hinsicht seine grossen Klavierfugen, die chromatische Phantasie mit Fuge, die grosse A moll- und £moll-Fuge*, in denen der Fugensatz drei- stimmig, die Ausführung in der überwiegenden Zahl der Sätze und Takte nur zweistimmig ist. Aus den kleinern Klavierkompositionen

* Vergl. Band IV der Gesammtausgabe bei Peters in Leipzig.

Digitized by Google

Natur und Technik des Instrumentes.

23

wären noch zahlreichere, wenn auch nicht so merkwürdige Beweise beizubringen. Weniger ist dies der Fall mit dem wohltemperirten Klavier* und der Kunst der Fuge. Allein im letzteren Werke war es Hauptabsiebt, eine Musterreihe von Fugen und Kanons aufzu- stellen. Im erstem Werke waren achtundvierzig Fugen aus allen Tönen zu geben. Dies ist in grösster Mannichfaltigkeit der Form auf das Geistreichste geschehn, und auch hier war die Wirkung des Instruments so wenig Hauptsache, dass (wie den Kennern längst bekannt) ein Theil der Fugen auf der Orgel eine günstigere Stelle fandet, ja sogar Einzelnes (z. B. der Schluss der ^moll-Fuge des zweiten Theils) auf dem Klavier von zwei Händen unmöglich aus- geführt werden kann.

Eben so entschieden waltet die gleiche Rücksicht auf das Ver- mögen des Instruments bei Beethoven, den wir immer mehr als den Hochmeister der Klavierkomposition zu erkennen haben. Nicht bloss in seinen homophonen oder in leichtern Formen gearbeiteten Sätzen zeigt sich Zweistimmigkeit vorherrschend ; auch in den spätem Werken, in denen er sich immer entschiedner der Poly- phonie zuwandte, ist gleiches Streben merkenswerth. In dieser Hinsicht ist das Allegro seiner grossen Cmoll-Sonate (Op. MI) höchst bezeichnend. Es drängt im Hauptsatze, von Takt 19 an, nach der Dreistimmigkeit hin, oder vielmehr ist geradezu dreistimmig zu nennen; das Fugatothema mit seinem Gegensatz erscheint Takt 19 in Alt und Bass, Takt 23 umgekehrt in Bass und Alt; dann tritt Takt 27 das Thema in einer dritten Stimme (Diskant) auf, und man hat ein Viertel lang wirklich drei gleichzeitige Stim- men. Aber sogleich tritt der Bass ab und lässt die Oberstimmen allein. Dasselbe Spiel wiederholt sich im zweiten Theil**, nur dass da die Dreistimmigkeit ein paarmal drei oder vier Viertel an- hält, dann aber gehn zwei Stimmen in Dezimen mit einander. Dieses Verhalten ist um so auffallender bei dem kraftvollen und hochpathe- tischen Gang und der höchst ernsten Haltung der ganzen Kompo- sition. Gleiches ist bei der gewaltigsten aller Sonaten, der grossen Ädur-Sonate (Op. 106) zu beobachten. Der übermächtige und über- reich dahin stürmende und bei allem Drang und Feuer so gehalten ernste erste Satz drängt immerfort, z. B. schon Takt 5 u. s. w., dann Seite 4***, zur Mehrstimmigkeit, und weilt doch fast durch- gehend im rein Homophonen oder Zweistimmigen. Ja, S. 7 wird

* Der Name »wohltemperirtes Klavier« deutet, wie bekannt, auf die Stim- mung nach gleichschwebender Temperatur (allgem. Musiklehre, S. 13, 75), durch welche alle Tonarten auf gleiche Tonmaasse gebracht und brauchbar geworden, im Gegensatze zur ungleichschwebenden, in der dies nicht der Fall. ** Seite 8 und 9 der Originalausgabe von Schlesinger in Berlin. *** Der Originalausgabe von Artaria in Wien.

Digitized by

24

Klavierkomposition in einfachen Formen.

das Hauptmotiv imitatorisch und im Grunde vierstimmig durchge- führt. Aber es treten zuerst die beiden Unterstimmen allein auf, dann die beiden Oberstimmen mit einer Unterstimme, die sich we- nigstens rhythmisch je einer der Oberstimmen anschliesst; und wenn endlich der Satz er ist neununddreissig Takte lang vier- stimmig wird, dann dienen (mit einer flüchtigen und sehr einfachen Abweichung) zwei Stimmen nur zur Verdopplung der andern zwei, so dass der Satz im Grunde wieder zweistimmig ist. Aus glei- chem Grunde ist die Schlussfuge dieser Sonate, wie der j4sdur-So- nate, Op. 4 40, nur dreistimmig ausgeführt, obgleich die letztere offenbar vierstimmig intentionirt war; ihre erste Durchführung zeigt unverkennbar die Eintritte von Tenor, Alt, Diskant und (Takt 4 9) Bass, in den nun der Tenor übergeht.* Aber selbst im drei- stimmigen Satze schliessen sich meistens zwei Stimmen begleitungs- weis' an einander.

Fünftens endlich haben wir, was dem Schall des Instruments an Fülle und Kraft, und dem Klang an Intensität, an ergreifender Gewalt (im Vergleich zur Singstimme, zu Blas- und auch Streich- instrumenten) abgeht, durch Spiel-Fülle, durch Reichthum und Beweglichkeit der Tonfolgen, besonders der Figuren (Passagen), zu ersetzen. Hierbei kommt der grosse Tonumfang und die Klanggleichheit des Instruments zu statten ; kein andres bietet für sich allein und auf einmal** einen Spielplatz von sechs bis sieben Oktaven, und bei kei- nem ist der Klang der Höhe und Tiefe so gleichartig, obwohl es allerdings die Aufgabe jedes Instrumentisten ist, den Klang in den ver- schiednen Regionen möglichst auszugleichen, was sinnvollen und wohl- geschulten Spielern auch in hohem Grade gelingt.

So wohlbegründet nun in diesen und andern sich in der Ausübung von selbst ergebenden Punkten Rücksicht auf die Natur des Instru- ments ist: so haben wir doch noch Eins zu beherzigen, das über Aengstlichkeit und einseitiges Haften am Aeusserlichen hinwegführt auf den rechten Standpunkt des Klavierkomponisten.

Jede tiefere Betrachtung des Instruments muss nämlich über- zeugen, dass es an Innerlichkeit, hinsichts der Macht des

* Man könnte aus dem Basseintritte nichts als eine übervollständige Durch- führung folgern wollen; allein zu deutlich tritt hier und anderwärts (z. B. S. 46 und \ 8 der Schlesinger'schen Originalausgabe) der Bass in seiner Grundgewalt unterschieden vom zarten Tenor auf. Und am Ende wäre ja das ein blosser Namenstreit.

** Die Orgel hat grössern Umfang, legt ihn aber nicht auf einmal dar. Es ist ihr nicht angemessen, ihre zweiunddreissigfüssigen und ihre zwei- und einfüssigen Register abgesondert und gleichzeitig neben einander zu stellen ; sie mischt das Tiefste und Höchste mit dem Mittlern zu innerlichem Reichthum.

Digitized by Google

Natur und Technik des Instmmentes.

25

Schalles, des ansprechenden, das Gefühl weckenden und befriedi- genden Klangs, der feinen und innigen Tonverbindungen u. s. w. den meisten andern Instrumenten nachsteht, dagegen an äus- serlichem Reichthum, Tonumfang, Spielgeschick, Fähig- keit für Harmonie und Polyphonie allen (nur mit Ausnahme der Orgel für gewisse Aufgaben) vorgeht. Daher und eben weil Sinnlichkeit und das unmittelbar mit ihr zusammenhangende Gefühl minder gesattigt werden ist es in seinem Wirken geisti- ger, es weckt und reizt die Phantasie, unserm Empfinden zu ersetzen, was das Instrument in der Wirklichkeit nicht giebt, wäh- rend diese dichterische Thätigkeit der Seele bei befriedigendem, das Gefühl sättigendem Instrumenten keinen so dringenden Anlass hat, sich zu bethätigen. Aus diesen beiden Gründen, vermöge des äusserlichen Reichthums und Geschicks und vermöge seines an- regenden Einflusses auf die Phantasie, ist das Pianoforte das verbreitetste und geistig herrschendste Instrument geworden, an dem die Phantasie des Komponisten sich am freiesten und lufligsten er- geht und bei dem der Geist des Hörers am willigsten folgt, am leichtesten aus sich ergänzt, was das Instrument bei seiner inner- lichen Unzulänglichkeit mehr anzudeuten, als wirklich zu geben vermag.

Wir wollen also, auf dieser Betrachtung fussend, allerdings streben, dem Naturell des Instrumentes gemäss zu schreiben, es auf das Günstigste zu benutzen und zu bedenken. Wenn dann aber das Vermögen desselben doch nicht ausreicht für unser ur- sprüngliches Empfinden, für den vollen Ausdruck unseres geistigen Lebens: so wollen wir nicht das opfern, was unser Eignes und Eigenthümliches ist, wollen nicht das Geistige um der Fülle des Körperlichen willen aufgeben, sondern über die Gränzen des Instrumentes hinaus auf die ergänzende Phantasie und Mitthätig- keit des Hörers rechnen. Die Kunstherrlichkeiteines Beethoven in seinen Klavierkompositionen beruht eben darauf, dass er das Instru- ment auf das Intelligenteste zu benutzen und dadurch unsem Geist dem seinigen auch dahin nachzuziehn wusste, wo das Organ für den vollen Ausdruck des Gedankens in der That nicht mehr zulangt.*

Uebergang zur Komposition.

Es kommt nun Alles darauf an, uns in die neue Richtung für unsre Kompositionsthätigkeit, in die Berücksichtigung und Be- nutzung des Organs, hineinzufinden. Dies ist die neue Seite der bevorstehenden Aufgaben, während wir uns mit den andern

* Hierzu der Anhang A.

/

Digitized by

26

lieber gang zur Komposition

schon früher bekannt gemacht, namentlich eine Reihe von Kunst- formen geübt haben, aus denen die noch zu erlernenden nur Folgen oder Zusammensetzungen sind. Wir müssen, um uns in diese neue Richtung am sichersten hineinzufinden, eine Kunstform aufsuchen, die vorzugsweise die Restimmung hat, das Organ (also hier das Klavier) nach seiner Eigenthümlichkeit geltend zu machen, während sie an die übrigen Seiten der Kompositionsthätigkeit nur geringe Anfoderungen stellt.

Von allen Kunstformen ist keine für unsern Zweck so geeig- net, als die Etüde. In ihr ist die Renutzung des Instruments (und die Rildung dafür) Hauptsache und* der sonstige Inhalt nur Mittel zu jenem Zwecke, daher auch ihre Form die leichteste und lockerste von allen. In ihr finden wir also die beste Anknüpfung, und müssen vemunftgemäss mit ihr beginnen, um spater das an ihr Erlernte auch bei den vielseitigem Anfoderungen der hohem Formen anzuwenden.

Zweiter Abschnitt. Die Etüde.

Die Etüde ist ursprünglich ein Tonstück, an dem irgend eine technische Geschicklichkeit oder Vortragsweise in ansprechender künstlerischer Form zur Uebung kommt. Dass der geschicktere Spieler sich bei der Abfassung solcher Etüden nicht mit den ein- fachem Uebungsgegenständen aufhält, dass er seltnere und schwie- rigere Formen und Motive aufsucht, und dergleichen mit Vorliebe, ja bisweilen mehr aus Künstlerlaune, als für den eigentlichen Uebungszweck durchführt, auch wohl mit einem, dem Künstler gar nicht Übel anstehenden Eigensinn über die Gränze der nöt In- gen Uebung hinaustreibt, dass sich hier selbst höhere künst- lerische Erregung gleichsam unvorhergesehn einfinden und dem ursprünglich nur untergeordneter Sphäre zugehörigen Werk höhere Weihe zuertheilen kann : das würde jeder mit der Natur des künst- lerischen Geistes Rekannte voraussehn, wäre nicht die obige Ent- wickelung schon in der Ausbildung der Etüdenform geschichtlich gegeben. Die älteren Etüden, z. R. die meisten von Clementi und C ramer (denen sich A. Schmitt und andre Lehrer mit Ver- dienst angeschlossen), gehören vorzugsweise dem Uebungszweck an, wiewohl der erstgenannte Meister (in seinem Gradus ad par- nassum) die Gelegenheit wahrgenommen, manches Tonstück von

Digitized by Google

Die Etüde.

27

andrer Richtung (z. B. Fugen, die er schon früher gearbeitet und jetzt verbessert) der Oeffentlichkeit zu übergeben. War nun hier (unter Voraussetzung der eigentlichen Elementarübungen) für die nähern Bedürfnisse der Spielübung gesorgt, zugleich die Ausübung durch fortgesetztes und zweckmässiger geleitetes Studium bedeutend gefördert und in machtigem Fortschreiten : so konnten neuere Ton- setzer schon weiter und freier vorwärts schreiten, schwerere, aber auch grossartigere und sinnigere oder phantasie vollere üebungen und Tonspiele wagen; wie man von A. E. Müllems Capricen* und Moscheies' Etüden** bis auf die neuesten Tonsetzer hat beobachten können. Vorragend unter diesen sind Chopin, Litolff, Henselt, R. Schumann, obenanstehend an Kühnheit der Aufgaben F. Liszt in seinen grandes etudes.

Auch wir wollen uns auf diesem naturgemässen geschichtlichen Weg in die angemessne Behandlung des Instruments einführen. Irgend eine dem Klavierspieler nöthige Geschicklichkeit, diesmal sei es die Uebung der beiden schwächsten Finger, des vierten und fünften an der rechten Hand, soll uns das Hauptmotiv geben; es sei dieses:

Die nächste hervortretende Aufgabe unsrer Komposition wird die sein, dieses Motiv recht fleissig als Uebung zu benutzen. Dies muss aber in künstlerischer Form geschehn; nicht blosse Finger- übung, sondern diese in der Form und mit der Annehmlichkeit eines Kunstwerks ist Aufgabe. Folglich bedarf es irgend einer Kunstform, in der unser Motiv zu einem Ganzen erwachse.

Für so kleine, untergeordnete Aufgaben genügen die einfach- sten Formen, die des Prä lud i ums oder auch die des Liedes.

Beide kennen wir schon, wissen auch, wie leicht und gern die erstere in die andre übergeht. Versuchen wir zuerst die zweite, als die bestimmtere.

Allegro commodo.

m 'f~f~i r r r f i

m i i | L r-r~i

j.<<-\2 i, j

Y- * i i

fc= j

H |=£p tr-JrT p

r r =4

* Bei Peters in Leipzig; sehr gehaltvoll, lehr- und übungsreich, nur lei- der monoton in der Form und Breite der Ausführung.

** Bei Probst (Kistner) in Leipzig und Schlesinger in Berlin.

Digitized by Google

28

lieber gang zur Komposition.

INSU

PI

F

I

Nach der vorherrschenden Neigung aller musikalischen Gestalten zu rhythmischer das heisst also : satzförmiger Ordnung (Th. II, S. 18) nimmt auch unser Versuch satzförmige Wendung, die sich nur in Modulation und Rhythmus

~ 1

i

*

^=&= f— r—

3'

aussprechen kann, da das Hauptmotiv stetig beibehalten und auch die unterstützende leichte Begleitung in ununterbrochner Gleichheit fortgeführt wird; zu letzterer nehmen wir bald zwei, bald drei Stimmen, je nachdem Spielbarkeit und Wohlklang anrathen.

Sollen wir so fortfahren? Das etwas eigensinnige Motiv (das nicht so glatt dahinfliesst, wie jenes Bach' sehe, Th. II, No. 224 betrachtete) möchte bald lästig werden. Wir unterbrechen es we- nigstens an dem Punkte, wo der rhythmische Abschnitt aus Takt 2 sich wiederholt, und gehen so

I:

m

* F

i=fü

Digitized by Google

Die Etüde.

29

m

t

5

r

4=F

II I

p

fl-J

r

r

r

i

r

zu einem grössern Abschnitte ; es ist der rhythmisch-harmonischen Konstruktion nach

» bz

8 7 7 *

flr 6 5

6 *

V

fr * 2 S7 * *

9*

4:

H

fi 6 7

5 56 4 ff

ein im nächsten Takt auf der Dominante, mithin als ein erster Theil abschliessender Liedsatz von

2, 2, und 4 Takten, mit einem Anhang von noch zwei Takten.

Die Konstruktion dieses ersten Theils und die Gesetze, nach denen sich der zweite, oder zweite und dritte Theil bilden müsste, sind uns aus der reinen Formlehre bekannt. Hier kann mithin nur

Digitized by

30

Uebergang zur Komposition.

noch von der Angemessenheit der Erfindung für das Instrument die Frage sein. Die Erfindung selbst, wie sie in No. 8 festgestellt worden, darf wohl dem dort vorgesetzten Zweck entsprechend, und daher der Ausführung werth genannt werden ; auch die Begleitungs- weise kann bestehn. Demungeachtet wird man leicht inne, dass die Entwickelung etwas eng und beschränkt ausgefallen ist. Worin liegt das?

Erstens darin, dass wir von einem in sich schon eigensinnig abgeschlossnen Motiv fast gar nicht abgelassen haben; ferner darin, dass wir es beinahe durchweg an eine einzige Stelle gefesselt und, wenn wir fortschreiten, es fast nur nach einer einzigen Richtung geführt haben.

Wenigstens die letzte Einseitigkeit müsste mit dem Eintritte des zweiten Theils aufgegeben werden ; man könnte von No. 1 1 an so

fortschreiten. Hier ist zwar in der engen Haltung des Ganzen der in No. 9 und 11 gegebne Karakter beibehalten, doch aber nicht bloss dem Gang des Ganzen andre Richtung, sondern auch dem Motiv selbst (bei a.) neue Wendung gegeben. Die weitere Aus- führung mag Jeder selbst suchen. Allein, wie man sie auch treffe, das Ganze wird wenn man nicht den ursprünglichen Karakter aufgeben will etwas Gebundnes oder Gepresstes behalten, weil es sich in einem verhältnissmässig engen Tonbereich hält, statt den weiten Umfang des Instruments zu freierem und reicherem Spiel zu benutzen.

Digitized by Google

Die Etüde. 31 Dies wird nun nächste Aufgabe. Hier

AUegro impetuoso.

ist ein neuer Versuch mit demselben Motiv gemacht und ungefähr so weit wie der vorige geführt. Die Behandlung erscheint in zweierlei Hinsicht günstiger. Erstens wird das Hauptmotiv zu An- fang und im dritten Takte fester auf einem Punkte gehalten, wäh- rend in No. 9 jeder Schlag das Motiv auf eine andre Stelle rückte. Da nun dasselbe einen vollen Akkord umschreibt, so wird die Aus- führung eben so beschwert (und unbeholfen), als wenn man, wie hier bei a.,

Digitized by

32

Uebergang zur Komposition.

mit vollen Akkorden hin und her gehen wollte ; die im Motiv selbst liegende Oktavenfolge vergrössert noch die Unannehmlichkeit. Ein Blick auf b. in No. 15 zeigt den Vortheil des neuen Entwurfs. Zweitens erhebt sich dieser mit dem zweiten Takt in eine höhere Oktave, und senkt sich dann wieder um anderthalb Oktaven, so dass dadurch dem Ganzen grössere Mannigfaltigkeit gewonnen und der Tonumfang des Instruments (S. 24) weit günstiger benutzt wird, als in der ersten Bearbeitung geschehn konnte.

Demungeachtet haftet auch hier noch eine gewisse Gedrungen- heit am Satze, die, wenn wir so fort arbeiteten, lästig fallen würde. Das Motiv ist zwar rhythmisch bewegt, aber dabei wie wir be- reits erkannt haben harmonisch gefüllt und abgeschlossen; wir müssen es durch die Behandlung erleichtern, und zwar nicht bloss im Vorübergehn, wie in der zweiten Hälfte des zweiten Taktes, sondern in ganzen Partien.

Hier ist eine von sehr vielen Anknüpfungen, in denen dasselbe Motiv leichter fortgeführt wird; die Erleichterung beruht auf der Vertheilung desselben unter zwei ablösende Stimmen ; der neue In- halt des zweiten Taktes würde wahrscheinlich in dem nächst zu

Digitized by Google

Die MMe.

33

schreibenden Takt in Cdur auf y-h-d-f einsetzend; wieder- kehren .

Auch hier brechen wir ab; Jeder, der den zweiten Theil der Lehre aufmerksam durchgearbeitet hat, wird leicht den obigen Ent- wurf fortführen oder mancherlei Wendungen und Erfindungen an die Stelle von No. 16 setzen können. Zum Schluss der ganzen Versuchsreihe bringen wir noch einmal dasselbe Motiv in flüchtigerer Bewegung. In No. 44 hatten wir die fliessendere und ausgebreite- lere Führung des Motivs dazu günstig befunden. Beides ist hier

Allegro vivace.

17

f

!

con leggerezza e piano

m

yiEEdiiilli^i

Pf

31

forte

^'"7 7-4)^ I ■=P=Z

4 ' '* JJJJjf

vorherrschend geworden ; da sich zugleich die Begleitung noch mehr untergeordnet hat, so geht das Ganze in Vergleich mit den frühern Versuchen in flüchtigster Weise und in leicht übersichtlichen Massen vorüber. Man sieht schon voraus, dass im nächsten Takte der Anfang wiederholt und wahrscheinlich nach der nächstverwandten Tonart ;7)dur ), vielleicht in dieser Weise von Takt 3 an,

Marx. Koiup.-L. III. •">. Aufl. .}

Digitized by

34 Ueberyang zur Komposition.

weiter gewendet werden wird.

Soviel über diese Form, die zu den einfachsten gehört und zu der der zweite Theil des Lehrbuchs schon hinlängliche Anleitung gegeben, dass hier fast nichts, als die Rücksicht auf das Instrument für Erwägung und Uebung übrig bleibt. In dieser Hinsicht haben wir

1) dem Instrument selber, dem Zweck, seine Behand-

lung zu erlernen, ein Motiv abgewonnen;

2) uns in einer leicht weiter zu verfolgenden Reihe von

Versuchen thatsächlich überzeugt , wie vielfältig ein solches Motiv in stets dem Instrument angemessener Weise durchgeführt werden kann; dabei aber

3) an den verschied nen Bearbeitungen zu beobachten ge-

habt, welche dem Instrument und unserm Zwecke gün- stiger, und durch welche Mittel wir bald diese, bald eine andre Seite der Aufgabe hervorgehoben haben. Dergleichen Arbeiten, wenn sie auch nicht über den bisher i'estgehaltnen Standpunkt hinausreichen, müssen schon an sich für den Kompositionsjünger wie für den Spieler anziehend sein. Aber sie sind auch bildend und führen auf das Erwünschteste in den Kreis und Sinn der Aufgaben, die wir jetzt (S. 5) als vornehm- sten Gegenstand unsrer Studien ansehen. Wir finden uns in die bisher ganz bei Seile gelassne Rücksichtnahme auf wirkliche Dar- stellung , und zwar zu bestimmten zunächst technischen , dann ;iber auch künstlerischen Zwecken allmählich hinein, und sie wird uns bis zu unbewussler Sicherheit zu eigen, bevor wir noch zu grössere Aufgaben schreiten, deren wichtigerer Inhalt liefere und ungestörte Versenkung des Geistes fodert , bei denen jene Rück- sichtnahme schon so zur Natur geworden sein muss, wie die Form- bedingungen nach der Durcharbeitung der Formlehre.

Digitized by Google

Die Etüde.

35

Uebrigens darf sich bei diesen Arbeiten der Jünger manche u Vorversuch am Instrumente (dergleichen wir bisher, Th. 1, S. 18, abgerathen) gestatten und in freiem Phantasiren Erre- gung und Stoff für seine Schöpfungen gewinnen. Ist aber die Arbeit selbst begonnen, dann trachte er, sie ohne Hülfe des Instru- ments zu Ende zu bringen, damit er sich nach der vom Instrument herübergeholten Anfrischung und Erweckung nun in der schon frü- her angeeigneten Freiheit des Geistes erhalte. Es ist von jetzt an in diesem, wie in manchem andern Punkte bestimmtere Vor- schrift unstatthaft. Allmahlich tritt, nach strengerer Vorschule und Gebundenheit, die Individualität jedes einzelnen Jüngers in ihre wohlberechtigte Freiheit heraus, und es bilden sich diese oder jene abweichende Gewohnheiten, von denen man keine aus allgemeinem Gesichtspunkten verwerfen dürfte, ohne freier Entwicklung und Bethatigung störend in den Weg zu treten. Wir wissen von wahren Künstlern, z. B. dem geistfreien Beethoven, dass sie es liebten und ohne Nachtheil gewohnt waren, ihre Anregungen am Instrumente zu steigern*, während sich bei andern (i. B. dem geistreichen K. M. v. Weber) ein nachtheiliger Einfluss zu häufigen Versuchens und Suchens am Klavier hin und wieder in Sätzen gewahr werden lässt, die mehr klavier- als Orchester- und gesangmässig , oder die (wie bei Dussek, Prinz Louis, Field u. s. w.) durch die Einwirkung der Besonderheit des eng- lischen Mechanismus an ihren Instrumenten** einer einseitigen Spielmanier verfallen sind. Wiederum wissen wir von andern, z. B. von W. A. Mozart, wie leicht sie ohne alle äusserliche Bei- hülfe, selbst bei einem scheinbar zerstreuenden Leben, die grössten Konzeptionen begonnen und vollendet haben, wie sogar Altvater Bach jede Klavierhülfe verspottete und denen, die sie suchten, den Namen Klavierhusaren anhing. Wir müssen fähig sein, äussere Hülfe zu entbehren, wollen aber so wenig die Anfri- schung, die das Instrument bisweilen bietet, wie irgend einen Vor-

* Beethoven phantasirte (singend und spielend- sogar noch am Instru- mente mit höchster Erregung, als er schon gänzlich des Gehörs beraubt war. In dieser Zeit wurde die sehnsuchtvoll klagende yüdur-Sonate (Op. MO) und die Cmoll-Sonate (Op. Hl) mit dem fern herübertönenden und verhallenden Finale geschaffen.

** Die grosse Satligkcit des Klanges, die Breite und der tiefe Kall der Tasten verlocken zu einem in breiten Ton- und Stimmlagen mehr grandios oder sentimental als leicht und energisch-durchgeistet sich vollendenden Spiel. Hier erkennt man das Grosssinnige, aber auch monoton Manieiirte der Dussek'- schen und Louis- Fe rd ina n d ischen Kompositioneil. Auch die neuesten Kla- vierwerke tragen den Stempel dieses jetzt vorherrschenden Instrumentenbaues.; Organ und Geist slehn überall in Wechselwirkung.

3*

4

Digitized by Google

36 Uebergang zur Komposition.

theil spröde verschmähn. Dass der Geist sich frei und reich offen- bare, darum ist es zu thun; das Wie kann mancherlei Formen annehmen, ohne dass man eine gegen die andre schlechthin vor- zieh n oder verwerfen dürfte.

Dritter Abschnitt. Die hohem Formen der Etüde.

Die ersten Versuche gingen von dem Vorsatz aus, für eine ganz specielle technische Fertigkeit üebungstoff zu schaffen; sie suchten dazu ein geeignetes Motiv und hatten im Wesentlichen fast keinen andern Inhalt, als dieses eine Motiv, das in mehr oder we- niger glücklicher Weise durchgeführt wurde. Nach der Beschaffen- heit dieses Motivs (S. 27) und damit ein so engbegränzter Stoll nicht ganz kleinlich erscheine, wählten wir die Liedform; sie er- scheint auch wegen ihrer Festigkeit für die ersten Arbeiten wün- schenswerth.

Hebungen dieser Art reihen sich hinsichts ihrer Uusserlichen Bestimmung den Elementar-Spielübungen an. Eine höhere Beihe von Etüden schliesst sich nicht in einer so speciellen Tendenz ein, sondern setzt sich zur Aufgabe, irgend eine besondere Spielart oder Darstellungsweise zur Hebung zu bringen ; oder umgekehrt : eine solche Spielweise regt als Grundgedanke die Komposition des Tonstücks an; die Komposition hat also innerlichem Ur- sprung, ist um ihrer selbst willen da, und der Uebungszweck ist das Zweite, Untergeordnete.

Hier öffnet sich der Komposition freierer Spielraum. Sie hat nur soviel Anlass, an dem einen Motiv festzuhalten, als es Uberhaupt im Wesen aller Komposition liegt, nach innerer Einheit zu streben, denn die Spielweise, die ihr zur Aufgabe geworden ist, kann sich durch sehr vielfaltige Motive äussern. Indem nun der Inhalt reicher und freier wird, begehrt er auch freiere und weitere Form, und so tritt hier

die Präludienform in ihr besseres Becht. Damit soll aber keineswegs gesagt sein, dass sie nothwendig und die Liedform unzulässig wäre. Haben wir doch schon die Polyphonie, die ihrem Wesen nach den bestimmt abgegränzlen Bhythmen widerstrebt, sich in Liedform (Th. II, S. 196) zurückwenden sehn und längst erkannt, dass mechanisch- scharfes Abschliessen der Gränzen und Formen dem Wesen der Kunst widersprechend, unausführbar ist.

Digitized by Google

Die höhern Formen der Etüde.

37

Unter diesen Voraussetzungen werde beispielweis' ein leicht und luftig schwebendes Spiel beider Hände zur Kompositionsaufgabe: wir wählen dazu dieses Motiv,

Allegro affcttuoso.

19

oder das Motiv reizt uns zu der Aufgabe.

Betrachten wir zuerst diesen Satz, den wir hier Motiv nennen, so ist seine mehrfache Zusammensetzung sogleich klar. Die vier Noten des ersten und die des zweiten Viertels sind die beiden er- sten Motive ; das erste derselben zeict sich sogleich im zweiten Takte beweglich und nutzbar, und führt da (in den letzten drei Achteln) zu einem dritten aus ihm gewonnenen Motive. Die Ant- wort auf der Dominante und der weitere Fortgang

P

mm

cre - scen - do

I

t-f r^til i*=H-

* 5-«Vri-*Li4F-i' . «V-

d. * Ped. * *

F Mf ' s

f-rcgf-rt

Digitized by Google

38 Uebergang zur Komposition.

sind nun in dieser oder einer andern Weise das Nächstliegende und leicht festzustellen.

Man bemerke, dass die Fessellosigkeit der Aufgabe sich fort- während geltend macht. Nimmt man die beiden ersten Viertel in No. 19 als ein Motiv zusammen, so wird es in demselben Takt einmal, dann in No. 20 Takt 1, 3 und 4 noch sechsmal wiederholt und stets umgestaltet, während in den frühern Versuchen kaum eine vorübergehende Abweichung gewagt werden durfte. Auch im Uebri- gen ist diese Freiheit wahrzunehmen. Man wird sich dabei zu- gleich überzeugen,

dass die grössere bis an Willkür schweifende Ungebunden- heit und die durch sie gewonnene Mannigfaltigkeit im kleinen Spiel der Formen dem Instrument besonders zusagt. Denn eben wegen der mindern Innerlichkeit des Klanges und der im Vergleich zu andern Organen geringen Schallkraft bedarf das Pianoforte mehr als sonst die Musik (S. 24) reicherer Tongruppen. In diesen sind nicht immer die einzelnen Gestaltungen (Tonfolgen das eigentlich Wesentliche, sondern die ganze Tonmasse ist es, die gleichsam statt Eines Tons oder Intervalls von einem andern Organ gilt. Folglich sind oft mancherlei Tongestaltungen für Einen Zweck möglich und eben darum auch wünschenswerth , damit nicht das Unwesentliche sich festsetze, als wär' es ein Nothwendiges und Wichtiges.

Mit dieser Beweglichkeit und Wechselhaftigkeit des Tonspiels hängen mancherlei Freiheiten zusammen, die man sich in har- monisch-melodischer Hinsicht mit Recht gestattet. Hierhin gehört in No. 19 auf dem letzten Achtel der Hülfston eis in der Oberstimme, nach dem man ein sofortiges (/ in derselben Stimme erwarten sollte. Dies kommt aber erst im zweiten Takte von No. 20, als läge der Tonsatz in dieser Gestalt

U. H. W.

=

vor: und in der That ist das der Grundgehalt desselben.

Doch wir kehren zur Komposition zurück. Obgleich wir die Form des Präludiums in Absicht haben, drängt doch unsre Etüde mit dem achten Takte (in No. 20) zu satzförmigem Abschluss, nur dass derselbe nicht formell vollzogen, sondern durch Weiter- bewegung wieder aufgehoben wird. Diese Neigung aller Tonbewe- gung zum Abschluss ist uns längst bekannt. Folglich wird es auch angemessen scheinen, auf den Anfane zurückzucehn das thut der letzte Takt in No. 20) und den Satz zu wiederholen. Dies soll hier bis zum letzten Takte von No. 20 geschehn.

Digitized by Google

Die höhern Formen der Etüde. 39

Hiermit ist nun der Punkt gegeben, auf dem sich unsre Form nothwendig entscheiden muss. Schliessen wir jetzt bestimmt ab (in C dur, oder G dur, oder mit einem Halbschlusse von der Tonika C auf die Dominante), so ist die Liedform festgesetzt. Wollen wir die Präludienform ausführen, so muss eben nicht abgeschlossen werden. Dies ist unsre Absicht und dazu, gleichsam schwebend zwischen beiden möglichen Wegen und auf den Endschluss hinstre- bend, — weilen wir bei dem zum Schluss führenden Akkorde. Nach Takt 5 aus No. 20 (mit der Wiederholung wäre dies der fünfzehnte Takt) fahren wir also mit Takt 16 so fort

Digitized by Google

40

Uebergang zur Komposition.

Nicht nur das Motiv (oder die Motive] wird hier im dritten, vierten, sechsten, achten Takt aufgegeben, der Gang führt auch in eine fremde Tonart, in der wir weilen, ohne zu einem Schluss oder neuen Satze zu kommen. Und so erweist sich unge- achtet des satzartigen Anfangs der präludienhafte Karakter als eigent- liche Form unserer Etüde. Beiläufig zeigt sich das bewegliche Motiv des ersten Viertels aus No. 19 hier fortwährend in den wech- selndsten Anwendungen und bei dem gangartigen Karakter der neuen Takte durchaus als das herrschende. Wenn wir es zuerst glatt und leicht kennen gelernt, so muss und kann es, anders mo- difizirt, weiterhin auch zum schallenden Forte dienen ; wieder werden- wir einmal an die vielseitigen Wendungen, die ein Grund- gedanke zulässt, praktisch erinnert.

Vom letzten Takt von No. 22 aus muss, wenn wir uns nicht in das Ungemessne, in immer neue Tonarten mit den schon viel- gebrauchten Motiven verlieren wollen, zum Ende eingelenkt wer- den. Allein wir sind, wenn auch nicht der Zahl der Takte nach, doch durch Fremdheit der Modulation nach ./Isdur, und durch gänzliche Veränderung des ursprünglichen Karakters ziemlich weit vom Anfang abgekommen, und können nicht hoffen, mit einem ein- zigen Akkorde zufriedenstellend einzulenken.

Hier wird die alte Form des 0 rgelpunkts hülfreich. Allein es versteht sich von selbst, dass jetzt nicht jene inhaltschweren polyphonen Orgelpunkte, die wir bei den Fugen kennen gelernt, angemessen erscheinen können. Vielmehr wird sich wie ja in den Fugen auch geschah hier der Hauptinhalt der jetzigen Komposition, und damit der ursprüngliche Karakter derselben über dem Orgelpunkte (oder doch gleich nach ihm) wieder herstellen. Es könnte so

Digitized by Google

Die höhern Formen der Etüde.

41

23 <

f

v

oder in ähnlicher »Weise eingeleitet und eingelenkt, und dann zu nöthiger Abrundung des Ganzen auf den Hauptsatz zurückgegangen, oder in unmittelbarerer Weise über dem Halteton des Orgelpunkts gleich der Hauptsatz selbst

aufgestellt werden. Dies und der Schluss des Ganzen bleibe der Ueberlegung und Ausarbeitung eines Jeden tiberlassen. Es ist nicht die Aufgabe des Lehrbuchs, fertige Kompositionen zu liefern, son- dern vielmehr, zu ihnen anzuleiten und zu diesem Zweck ihre Ent- stehung und Form anschaulich zu machen.

Dass nun der Inhalt der Etüden ein reicherer und tiefer sein, die Form derselben (Liedform sowohl, als Präludienform} weiter und in mannigfach abweichender Weise ausgeführt werden kann, muss dem Jünger aus dem hier und bereits in den frühern Theilen des Lehrbuchs Ausgeführten ohne Weiteres klar sein. Er mag sich daher ohne weitere Anleitung zu freiem und reichern Gestaltungen Bahn machen, und kann es. Diese Uebung lässt ihn schon jetzt manches erfreuliche Tonsttick hoffen ; der grössere Gewinn besteht aber darin, dass er sich in die Weise seines Instruments finden, besonders die vielgestaltige Beweglichkeit seines Spiels hervorrufen und benutzen lernt, eine Seite der Kunst, die in allen bisherigen Aufgaben nur höchst untergeordnet hervortrat. So bewährt sich hier wieder, was schon im ersten Theil des Lehrbuchs, S. 13, ausgesprochen worden : dass jede Kunstform nicht bloss an sich, sondern auch um des Vollbegriffs der ganzen Kunst, um unsrer sichern Herrschaft im ganzen Gebiete willen wichtig und not- wendig ist. Jedes Musikorgan eröffnet neue Ansichten vom grossen Ganzen ; das Klavier selbst werden wir ebenfalls noch von andern Seiten kennen lernen.

Uebrigens sei bemerkt, dass ein Theil der Etüden auch noch andre, uns bis jetzt fremde Formen, die

Digitized by

42

Uebergang zur Komposition.

Rondoform und Sonatenform angenommen hat. Wir werden diese Formen bald an gelegnem) Orte kennen lernen ; bis dahin muss der Jünger auf sie verzichten und hat für seine jetzige Aufgabe genügenden und im Allgemei- nen den geeignetsten Spielraum in den obigen Formen.

Zum Schluss kehren wir noch einmal auf den Ueberblick (S. 26 zurück, der uns in die Etüdenform eingeführt hat. So gewiss jedes beweglich und etwas schwierig gesetzte Tonstück zur technischen Hebung des Spielers dienen kann, wird man doch einen Unterschied zu machen haben zwischen solchen Etüden, die ganz entschieden, mit einer gewissen Ausschliesslichkeit auf bestimmte methodische Hebung ausgehn, wie die Arbeiten im vorigen Abschnitt, und zwischen solchen, denen mehr ein freies Spiel, allgemeine Be- fähigung des Spielers, oder sogar die Darlegung eines Gedankens, dem dieses Spiel nur Mittel ist und der um seiner selbst willen aus- gesprochen sein will (wie in unserm vorigen Versuche), Aufgabe ist. Dergleichen Tonstücke führten früher den Namen

Tokkate,

und wenn ihr Hauptinhalt oder ihre Figuration von besonders eig- ner, ja eigenwilliger und eigensinniger Art war, den Namen

Caprice oder Capriccio. Beiderlei Tonstücke wurden auch wohl in der (später zu erwäh- nenden) Form der

P h a n ta sie ,

oder zusammengestellt mit andern Formen, z. B. der Fuge, ausge- führt. So hat Seb. Bach Tokkaten mit anschliessenden Fugen nu eh andern eingemischten Nachahmungs- und Fugatosätzen) hinter- lassen*, so könnten Mozart's schwung- und spielvolle Cdur-Phan- tasie mit Fuge**, so wie die gedrungen energische und dabei wie- der so anmuthig besänftigende Cmoll-Phantasie von Seb. Bach Tokkaten genannt werden.

Alle diese Formen sind so nah verwandt und nähern sich alle- sammt so sehr den unbestimmtesten Gestaltungen (dem Präludium und der Phantasie), dass sie und ihre Namen haben in einander ge- rathen müssen und ein fester Unterschied wohl niemals hat festge- halten werden können. Der Name Tokkate ist ausser Gebrauch iiekommen, die so zu benennenden Tonstücke aber schliessen sich den Etüden oder Phantasien an. Die Benennung Capriccio ist schon früher (z. B. von A. E. Müller und von K. M. v. Weber

* Vier derselben findet man Th. IV der Gesammtausgabe von Bachs Klavierkompositionen bei Peters.

** Im achten Bande der Gesammtausgabe von Breitkopf und Härtel : No 4 der neuen Ausgabe der einzelnen »Zwölf Klavierstücke«. *** Capric io aus ßdur hoi Schlesinger in Berlin.

Digitized by Google

Die Klavierfuge.

43

öfters für solche Tonstücke angewendet worden, die mehr einer be- stimmten Spielweise in geordneter Durchführung oder geradezu dem Zwecke der Uebung gewidmet waren, als einem eigenwilligem, launenhaften Spiel. In neuester Zeit scheint auch dieser Name in dem der Etüde aufgegangen zu sein ; doch finden wir ihn unter andern an Kompositionen von Mendelssohn. Uns kann an all' diesen Na- men* und subtilem Unterschieden nichts Iieeen. Wenn wir nur die Formen und das Geschick zu ihrer Benutzuni: gewinnen, so mag Jeder den ihm beliebigen Namen wählen.

Vierter Abschnitt.

Die Klavierfuge.

Von dem freien und leichten Spiel der Etüde wenden wir uns zu einer gehaltnern, schon aus dem zweiten Theil her in ihrem Werth erkannten Form zurück, zur Fuge.

Diese wichtige Form wird noch an verschiednen Orten der Gegenstand unsrer Betrachtung und Uebung sein. Wie sie an sich sei, ist aus dem frühern Studium bekannt. Wenn wir nun jetzt und weiterhin mehrmals zu ihr zurückkehren, so wird nur zu beobachten sein : wie sie sich mit den jedesmaligen Organen dar- stellen lüsst, und welche Rückwirkung die Natur dieser Organe auf die Form selbst oder deren Ausführung äussert.

In Bezug auf das Klavier ist hier noch eine Erwägung vor- auszuschicken.

Die Fuge (und die verwandten kontrapunktischen Formen) ist ein in sich und für sich selbst so reiches Werk, dass der mit Einsicht und Phantasie Begabte ihr hohen Genuss abgewinnen kann, selbst abgesehn von ihrer mehr oder weniger vollen und vollge- uügenden sinnlichen Darstellung, und dass dem Komponisten die Idee und Führung derselben werth, ja unerlässlich werden kann, selbst wenn er erkennt, dass das Organ für die Darstellung der ei- gentlichen Intention nicht genügen, sie nicht vollkommen zu Gehör bringen kann. Unter solchen Umständen giebt das Klavier we-

* Auch der Name S eher zo ist oft für Caprice oder gar Etüde gebraucht worden. Diesen möchten wir hier fern halten, weil er seine eigne Anwendung ;«nders\vo findet.

Digitized by Google

44

Uebergang zur Komposition.

nigstens einen Schattenriss, Andeutungen dessen, was der Kompo- nist eigentlich hat austönen lassen wollen.

Als Beispiel können (unter vielen andern) die Es dur-, Edur-, B moli- und A dur-Fuge im ersten Theil des wohltemperirten Kla- viers dienen*. Die erstgenannte fodert offenbar einen leisen, stillen sanften Zug und Gesang der Stimmen. Im massigen Tempo (etwa Allegro moderato) sollen ganze Taktnoten nicht bloss ausgehalten werden, dass sie eng und innig an einander schliessen, sondern man möchte sie gern auch an- und abschwellen lassen, z. B. gleich das Thema

25 g^z£ Q 1 ±

~P r

zcz

u. s.

poco

in der hier angedeuteten Weise nehmen. Wie wäre das dem Kla- vier möglich? Wie soll auf dem Klavier der Eintritt des Diskants in der Engführung Takt 38

NB.

m

26

J n

m

I

zu Gehör gebracht und in der hohen Lage den Tönen auch nur so viel Dauer gegeben werden, als sie in den tiefern Oktaven (No. 25; haben können ? denn der stärkere Anschlag thut es nicht und ist tiberdem dem Sinn des Ganzen zuwider. Wie sollen in derfdur- und .ßmoll-Fuge die bedeutsamen Haltetöne klingend bleiben ! Wie will man in der H dur-Fuge neben dem schönen, stillen und doch so mächtigen Zug des Thema's unter andern Takt 12

(Thema NB.

27

den bedeutungsvollen Gang der Stimmen versinnlichen"? Es bedürfte dazu eines ganz andern Organs, z. B. des Streichquartetts; den- noch wären aus andern Gründen, die wir anderswo zu erwägen haben werden, diese Kompositionen für Streichquartelt wieder nicht recht geeignet. So wird man bei aller Unzulänglichkeit der sinn-

* Hier und anderwärts ist allemal die Breilkopf-Härtel'sche Ausgabe zu Grunde gelegt.

Digitized by Google

Ute Klavier fuge

45

liehen Erscheinung dem Klavier treu bleiben und dem Meister auch für diese kostbaren Gaben danken müssen.

Es kann also nicht die Rede davon sein, dergleichen Komposi- tionen und damit einen Theil seines eignen Künstlerlebens zu opfern oder zurückzudrängen. Sie bestehn in geistiger Schöne.

Soll aber eine eigentliche Klavierfuge gegeben werden, dann müssen wir für diese Aufgabe alle dem Klavier nicht geeigneten, von ihm nicht, oder unvollkommen darstellbaren Gestaltungen auf- geben. Wir müssen uns mit unserm Bilden dem Instrument und seinen Fähigkeiten anschliessen, keinen Erfolg von Formen (z. ß. aushaltenden Tönen) erwarten, deren es nicht fähig ist, und dagegen seine besondern Kräfte benutzen.

Dies ist schon von Seb. Bach in seinen grössern Klavier- fugen auf das Lehrreichste getroffen worden. Auch die Mehrzahl der Fugen des wohltemperirten Klaviers ist vollkommen klaviermäs- sig ; nur tritt hier (wie schon S. 23 bemerkt ist) mehr die geistige Intention und wahrhaft geistreiche Kunst des Meisters als Haupt- sache hervor. In jenen grössern Arbeiten dagegen trifft man über- all auf die entsprechendsten Beläge über die Einigkeit der Idee des Komponisten mit dem Instrumente.

Zunächst erinnern wir nochmals (S. 23), dass er sich gern auf drei Stimmen beschränkt und von diesen oft auf z wei zurück- geht, weil das Instrument (S. 22) nicht wohl geeignet ist, viel- stimmiges Gewebe deutlich und wirksam vorzustellen. So in der Fuge der chromatischen Phantasie, in der grossen .Imoll-und ismoll- Fuge*, in der /fo moll-Fuge (mit vorangehender Tokkate), in der Cmoll-Fuge (mit Tokkate), in der 2?dur-Fuge (mit Phantasie) und andern, wie er selbst in vierstimmigen Fugen (z. B. in der .lmoll-Fuge mit Phantasie) sich vorherrschend mit drei oder zwei Stimmen bewegt. In dieser Fuge war übrigens Vierstimmigkeit durch die Fülle und Majestät der vorangehenden Phantasie bedingt.

Sodann sehen wir, dass er, der im wohltemperirten Klavier und anderwärts in der grössten Kürze so vielsagend sein kann, in den eigentlichen Klavier- oder Spielfugen sich in einer Bequemlich- keit und Weite gehn lässt, die man nicht der Form und ihren An- sprüchen, sondern der Natur des Instruments, seiner Fähigkeit und Vorliebe für Spielreichthum und behaglich ausgebreitete Tonmassen zuzuschreiben hat. So zählt die Fuge der chromatischen Phantasie 161, die grosse ^lmoll-Fuge 198 Takte.

Bei dieser grossen Ausdehnung findet sich nun keineswegs eine verhältnissmässig häufige Durch- oder Anführung des Thema's. In

* Alle hier genannten Werke sind im vierten Bande der Petcrs'schen Aus- gabe enthalten.

Digitized by Google

46

Uebergang zur Komposition.

der chromatischen Fuge tritt nach der ersten und vollständigen Durchführung das Thema zweimal einzeln in der Mittelslimme, ein- mal im Bass, einmal im Diskant, dann einmal getheilt unter Mitlel- und Oberstimme, und zuletzt nochmals im Bass und Diskant auf. Eine eigentliche Durchführung ausser der ersten findet nicht statt, die beiden letzten Anführungen, die wohl als Schlusssatz des Gan- zen zusammengehören, sind durch einen Zwischensatz von sieben Takten geschieden. Von den energischen Formen der Engfüh- rung, Verkehrung u. s. w. ist in allen genannten Fugen kein Ge- brauch gemacht.

Fragen wir nun, welches denn der eigentliche und vorherr- schende Inhalt dieser Sätze sei, in denen der grösste Meister in der Fuge so viel von seiner Kunst zurückgehalten hat: so findet sich, dass es

reichbewegtes, in behaglicher Breite ergossenes

Tonspiel

ist, das sich hier in der Form der Fuge gefällt, von derselben aber nur das ihm und damit dem Instrument Zusagende annimmt.

Und somit muss sich Erfindung und Konstruktion diesem Ge- sichtspunkte gemäss erweiseu.

Schon ein Thema, wie das der J?moll-Fuge (Th. II, S. 291), noch mehr das in rastloser Flüchtigkeit dahineilende der A moll-Fuge

Allegro molto.

bestätigt dies und hat zur Folge, dass in der ganzen langen Fuue bis zum vorletzten Takte die Sechzehntelbewegung, bald in dieser, bald in jener Stimme fortgesetzt, nicht ein einzig Mal unterbro- chen wird und die Komposition von dieser Seite her, durch das vor- herrschende Spiel, sich einipermassen dem Etüden- oder Tokkaten- wesen anschliesst. Damit nun der Eintritt des Gefährten bequem und fiiessend geschehe, fügt Bach gleich dem ersten Auftreten des Thema's einen Zwischensatz bei ; die obige erste Stimme fährt so

29

fort. Eben dieser schwunghaftere Zwischensatz [a wird nun aber so gewiss er in der Fuge als solcher nur Nebensache heissen kann besonders fleissig Takt 12 bis U, dann Takt 23 bis 25.

Digitized by Google

Die Klavierfuge.

47

Takt 38 bis 40, 48 und 49 und so immer emsiger) und für den Zweck, in das Spiel erhöhten Schwung und Frische zu bringen, auf das Glücklichste verwendet.

Gleiches Verhalten zeigt die chromatische Fuge. Das Thema beiläufig acht Takte lang, nur dass die Schlussnote verkürzt, zu einem Achtel gemacht ist) entspricht in seinem ausdrucksvollen, edlen Gesänge dem Inhalt der vorangehenden Phantasie und dem Sinn der ganzen Komposition vollkommen, würde aber, obwohl durchaus dem Instrument angemessen (man sehe es Th. II, S. 274), zu grösserer Spielentfaltung keinen geeigneten Stoff bieten. Auch hier schiebt Bach am Schlüsse des Thema's einen Zwischensatz ein,

Schluss des Thema s.

Zwischensatz.

30

der auf das Emsigste bald für die Zwischensatze, bald im Gegen- satz, im letzten Theil des Ganzen zum imposantesten Schlüsse be- nutzt wird. Ja, damit alle Elemente bewegten Spiels beisammen seien, führt der Meister noch diatonische Sechszehntelfiguren und zur Förderung und Erfrischung des erst elegischen, dann zum Pa- thos gesteigerten Tonwerks an zwei verschiedenen Stellen eine har- monische Figuration

31 \

ein, die im Thema und im Gegensatz nicht die mindeste Anreguni: gefunden hat. Es versteht sich, dass dergleichen Einschaltungen in derselben Ordnung und genügenden Fülle verarbeitet werden, als wären sie Theile des Thema's oder Gegensatzes, ja dass eine« Fuge, je mehr sie fremden und mannigfaltigen Stoffes in sich auf- nimmt) um so gehaltener und klarer durchgeführt werden muss, da die Uebersichtlichkeit um so schwerer erhalten wird, je mehr Ver- schiedenes zu Ubersehen und zusammenzuhalten ist.

In einer andern Weise kommt derselbe Meister der klaren Dar-

Digitized by

4S

Ueberyany zur Komposition.

Stellung auf dem Instrument in der Fuge der /vsmoll-Tokkate zu Hülfe. Das Thema ist zwar fliessend und ansprechend,

Allegro vivace. * -

32

i i

B

r-r-jr

0

aber nicht energisch hervortretend, vielmehr in Hinsicht der Bewe- gung dem Gegensatz untergeordnet* Hier führt Bach den Satz so durch, dass das Thema niemals als Mittelstimme erscheint, folg- lich immer und überall die Vortheile der Aussenstimmen, freieste Be- wegung (Th. I, S. 340) und deutlichste Erscheinung hat. Es tritt zuerst im Alt, dann im Diskant und Bass, und nochmals (die Durch- führung ist übervollständig) im Diskant auf. Nun nimmt es (eine anvollständige Anführung im Basse, Takt 48, ungerechnet) der Diskant noch einmal und zum dritten Mal, dann der Bass zweimal, endlich nochmals Diskant und Bass ; die Mittelstimme hat es niemals wieder. Wer dabei unsrer Erörterungen über Stimmordnung ge- denkt, wird nicht bezweifeln, dass der Meister diese eieenthümliche Ordnung mit klarer und bestimmter Absicht getroffen, und wird die Gunst, die damit dem Thema widerführt, erkennen. Bei einem Instrument (oder Singstimmen), das schallvoller und im Stande wäre, die Töne eng zu verbinden, oder bei einem Verein ver- schiedener Instrumente, dem es leicht gelingt, eine Stimme gegen die andern hervorzuheben, wäre diese Ordnung unveranlasst, und dann zu tadeln.

Zum Schluss dieser Beispielreihe müssen wir einer Fuge von Beethoven gedenken, dem Finale seiner grossen 2?dur-So- nate, Op. 10G. Das ganze Tongedicht geht an äussern) Umfang wie an Tiefe und Macht des Inhalts über die Gränzen hinaus, die bisher, ja von Beethoven selbst, in der Klaviermusik erreicht worden sind; so musste denn auch ein kolossaler Schlussbau das Ganze vollenden. Erwägt man die Macht der vorhergehenden Sätze (na- mentlich des ersten), den Reichthum und die Tiefe des Inhalts, in dem gleichsam Alles, was Melodie, Rhythmus, Modulation vermö- gen, erschöpft ist: so müsste man, ehe man noch das Finale er- blickt hätte, voraussagen, dass nur die mächtigste, durch und durch beseelte Form, die Fuge, einen würdigen und befriedigenden

* Das umgekehrte Verhaltniss ist auf das Glücklichste zu gleichem Re- sultat in der .Emoll-Kuge (Th. II, S. 291) benutzt.

Digitized by Google

Die Klavier fuge.

49

Schluss gewähren kann. Diese Anschauung ist offenbar auch Beet- hoven's Bestimmungsgrund gewesen; er rollt seine Fuge durch zwölf Seiten mächtig fort und geht auch hier nicht bloss dem Umfang nach, sondern in der Macht der Intention, dies jedenfalls, wenn auch vielleicht nicht durchaus im Gelingen, über die bisherigen Gränzen weit hinaus.

Schon in der gewaltig alle Tonregionen aufregenden Einleitung, dann im Thema

Alleero risoluto.

33 ifcrP

m

(dessen Schluss man bei c anzunehmen hat), und dem von über- mächtiger innrer Bewegung unruhig weiter getriebnen Anhang zu demselben deutet sich Maass und Karakter des Ganzen an, das durch die Kraft und Vertiefung des schaffenden Genius eine der grössten Konzeptionen in unsrer Kunstwelt hat werden sollen. Aber auch schon im Thema nimmt das aufmerksame Auge die gänz- liche Aneignung des Instruments und den Stoff wahr, an dem es sich in seiner eigensten Weise bethätigen kann. Die geistige Macht ist in diesem Kunstwerke zu hoch und herrschend, als dass (wie uns wenigstens scheint) irgend ein Instrument und irgend ein Spie- ler ihr vollkommnes Organ sein könnte. Allein sogleich muss man anerkennen, dass vor irgend einem Instrument oder Verein von Instrumenten dann doch nur das Pianoforte das geeignetste sein, und dieser Inhalt nicht füglich anders und besser dem Instrument angeeignet werden konnte, als hier geschehn ist.

Dies spricht sich abgesehn davon, dass auch hier (im ent- schiedensten Gegensatz gegen die Vollgriffigkeit der frühern mehr homophonen Theile) die Dreistimmigkeit bis zum freien Ende herrscht in dem Spielreichthum, man möchte sagen : Tonsturm aus, der bald leiser, bald gewaltiger durch das Ganze dahinbraust, und dem die freieste und weiteste Modulation (schon vorbedeutet in der Ein- Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 4

Digitized by

50

Uebergang zur Komposition.

leitung) angemessene Räume bietet. Diese Bewegung ist aber we- niger eine üusserlich dahinstürmende und damit glänzende Tonmassen entfaltende; sie ist vielmehr (wie schon der Anhang zum Thema andeutet) der Ausdruck des innerlichst erregten, unruhig hin- und herwogenden Gemüths, gefärbt, gemildert, gehalten von gewissen elegischen Anklängen, die durch die ganze Sonate, selbst durch den so kühn und stark und hoch gesinnten ersten Satz herdurchklingen, in dem wundertiefen Adagio ihren vollsten und innigsten Ausdruck finden und mitten in der Fuge (S. 53, vorbereitet schon S. 48) einen formell ganz fremden, aber im Gang der Empfindung durchaus notwendigen, im Lauf des Ganzen höchst wohlthuenden Satz her- vorrufen.

Wenn nun nach dieser Seite hin auf manche Kraft des Instru- ments verzichtet werden musste, so sehe man unter andern Seite 49. wie mächtig das Motiv b benutzt worden

Digitized by Google

Die Klavier fuge.

51

der Satz ist schon acht Takte lang vorbereitet worden), das sich dazu so günstig erwies, wie übergewaltig und kühn das erste Motiv [a in No. 33) Seite 46, 48 und 52 (hier bis zur Wildheit) übereinander gesetzt wird. Interessant ist es, zu beobachten, dass auch Beethoven das Bedürfniss eines mildernden und dabei schwunghaften Bewegungsmotivs gefühlt und dasselbe in ähnlicher, wenn auch machtvoller gewendeter Weise (ebenfalls mit fremder Einmischung) befriedigt hat, wie Bach (vergl. No. 29 und 31) in der chromatischen und ,4 moll-Fuge. Wir finden diesen Satz zu- erst Seite 44 angeknüpft,

dann Seite 46 in neuer Anordnung wiederholt und mit seinem neuen Stoffe, dem akkordischen Motiv, für Seite 47 sowie zur Vor- bereitung des Schlusses, S. 58, höchst willkommen.

Wir müssen uns versagen, das tiberreiche Tonstück weiter zu verfolgen, dürfen dies dem eifrigen Jünger überlassen. Wenn wir nur flüchtig noch darauf aufmerksam machen, wie umsichtig Beet- hoven selbst die fremdern und seitnern Wendungen der Fugen- form in den weiten Umkreis seines Werks gezogen: so ist weni- ger die Absicht, an diese Formen und ihre Bedeutung zu erinnern, als an die glückliche Benutzung des Instruments bei ihnen. Hier Übergehn wir die Rttckung des Thema's S. 43, die Verkehrung S. 54, die Gegeneinanderstellung der Verkehrung mit der rech- ten Bewegung in der Engführung S. 54 (allerdings, wie Beet- hoven schon zu Anfang der Fuge bemerkt hat, con alcune Ii- cenze) , und blicken zuletzt auf die Vergrößerung des Thema's Seite 45,

4*

Digitized by

deren Ausgang noch merkwürdig benutzt wird. Hier ist der drei- stimmige Satz dem Sinne nach denn formell sind die oberste und unterste Stimme eine) oder, will man die der rechten Hand oben und unten zuertheilten Töne nicht für eine einzige, nach Art des Instrumentwesens weit umhergreifende Stimme nehmen, dem Anschein und der Wirkung nach vierstimmig geworden; und eben dadurch gewinnt das Thema (man muss es sich jetzt als :V2 Satz denken) an Fülle und Gewicht, was es an feuriger Bewegung auf- gegeben hat.

Dass der geistige Inhalt demungeachtet überall den vom In- strument genügend darzustellenden weit tiberragt, man selbst bei der genügendsten Darstellung mehr aus dem eignen erregten Innern hinzuzuthun, als aus dem Instrument herauszuhören hat, ist wohl schon aus dem hier Mitgetheilten klar.

Um so überraschender und heiterer bringt uns ein Rückblick auf Bach's ylmoll-Fuge (oben No. 28) das anmuthig leichte, fast leichtfertige, ganz im Instrument aufgehende und befriedigte Spiel zu Gesicht, das auf das Beweglichste überall (besonders S. 16 und 18 der Gesammtausgabe) sich auf- und niederschwingt und so den weiten Tummelplatz, den das Instrument bietet und gern benutzt weiss, auf das Günstigste füllt. So wusste sich der tiefsinnig- ste Tondichter auch in die leichten Spiele des Instruments zu schicken, und fand der grösste Klavierkomponist im reichsten Auf- gebot des Instruments nur unzulängliche Mittel für seine Idee. In der Durchgeistung des Organs und in der Ueberragung des Geistes, in Beiden vereint werden wir die Macht und den Reichthum der Kunst und des Menschengeistes inne.

Digitized by Google

Die Variation.

53

Fünfter Abschnitt, Die Variation.

Die Ausführung dieser Form ist zwar in den frühern Theilen des Lehrbuchs noch nicht gelehrt, wohl aber in vielfacher Hinsicht vorbereitet und voraeübt worden, so dass Jeder, der uns bis hier- her gefolgt ist, sich mit Leichtigkeit und reichem Erfolg in sie wird hineinbegeben können.

Der Name Variation bezeichnet, wie bekannt, die verän- derte Darstellung irgend eines musikalischen Gedankens, z. B. eines liedförmigen Satzes. Dann wird bekanntlich mit dem Ausdrucke: Veränderungen (oder: Variationen auf ein Thema, oder: Thema mit Veränderungen) eine Komposition verstanden, die aus einem liedförmigen Tonstücke, Thema genannt, und mehrern Variationen desselben besteht. Dies ist also eine für sich bestehende Kunstform, die bald abgesondert für sich in einer selbständigen Komposition dargestellt wird, bald als Theil eines grösseren Ganzen auftritt. So hat Beethoven in seinen /lsdur-, Fmoll- und Cmoll- Sonaten (Op. 26, 57,111), Haydn in seinem Cdur-Quartett und seiner Gdur- Symphonie Themate mit Variationen aufgestellt.

Allein ganz abgesehn von diesen selbständigen Anwendungen der Variationenform giebt es kaum eine Kunstform, in der nicht beiläufig und doch mit entschiedner Wichtigkeit von der Kunst des Variirens Gebrauch gemacht würde, um Sätze bei ihrer Wieder- holung neu und in mannigfach modifizirter Bedeutung erscheinen zu lassen. Hat man in früherer Zeit vielleicht mehr von der selbstän- digen Variation Gebrauch gemacht, so ist bei der höhern Vollen- dung der Instrumentalmusik, namentlich durch Beethoven, die Kunst des Variirens fleissiger und bedeutsamen bei der Ausführung der grössern Kunstformen (Rondo- und Sonatenform) angewendet worden. So findet also der Jünger, dem umfassende Ausbildung und Bethätigung ernstlich am Herzen liegt, gegründeten und viel- fachen Anlass, sich in der Kunst der Variation einheimisch zu machen, selbst wenn ihm andre Formen tiefsinniger und ergie- biger erschienen. Ohnehin muss man stets eingedenk bleiben, dass jede Form in guter Stunde und zum rechten Zweck der höchsten Erhebung fähig und an ihrer Stelle durch gar keine andre zu er- setzen ist. Jede Vorliebe für eine Form, die sich mit Ausschlies- sung oder Geringschätzung andrer äussert, bezeichnet einseitigen Standpunkt oder unvollendete Bildung; dergleichen Schwäche ist nicht gründlicher zu heilen, als indem man sich in die gering ge-

Digitized by Google

54

Uebergang sur Komposition

schätzte Form nur um so tiefer versenkt, bis man den Schatz ihrer Kraft gefunden. Die Variationenform ist namentlich von Beetho- ven auf das Tiefsinnigste angewendet worden; man darf sie gerade- hin einen Haupthebel seines Wirkens nennen.

Bei unsrer jetzigen Aufgabe kommen drei Momente in Be- tracht: die Erfindung oder Wahl des Thema's, die Mittel der Veränderung, und die Zusammen Ordnung des Thema's und der Variationen zu einem grösseren Ganzen. Wir haben sie theils abfertigend, theils vorbereitend hier zu erwägen.

A. Das Thema.

Vom Thema wissen wir bereits, dass es ein liedförmiger Satz sein soll, sind auch zu der Erfindung desselben schon aus dem zweiten Theil des Lehrbuchs in Stand gesetzt. Es genügen daher wenige Betrachtungen, um uns bei der Erfindung oder Wahl des Thema's zu leiten.

Erstens ist zu bedenken, dass das Thema Grundlage mehre- rer, vielleicht vieler aus ihm zu gewinnender Tonstücke (der ein- zelnen Variationen) sein, uns zu ihnen anregen soll. Es muss also fähig sein, dauerndes Interesse zu wecken und zu erhalten; mancher Satz, den man sich allenfalls einmal Wohlgefallen lässt, ist darum noch nicht der mehrmaligen Wiederkehr würdig. Das Thema muss also

der Bearbeitung werth

sein.

Wir setzen hinzu, dass das Interesse

in dem musikalischen Inhalte

des Thema's, nicht etwa in äusserlichen Beziehungen desselben, lie- gen muss. Irgend ein Satz, ein Tanz, Lied, Marsch u. s. w. kann für uns zufälliges äusserliches Interesse haben ; wir können die Gattung oder den Komponisten lieben, ein Lied kann uns um des Textes willen, als volksthümlicher oder patriotischer Ausdruck, um der Erinnerung an früher Erlebtes willen lieb sein. Das Alles hat sein Recht, aber nur ein äusserliches ; es kann zu Wiederholungen reizen, nicht aber eben so sicher zu künstlerischer Bearbeitung wecken. Namentlich werden Komponisten sehr oft durch die Be- liebtheit eines Liedes oder Opernsatzes irregeleitet; ja es ist eine Zeit lang förmlich Mode und Metier gewesen, jede eben beliebt gewordne Oper in allen einzelnen nur irgend loszureissenden Stücken variationenhaft zu verarbeiten, bloss in Spekulation auf die Gunst des Hauptwerks, ohne Rücksicht auf innere Angemes- senheit der einzelnen Aufgabe. Dergleichen lässt denn freilich kein

Digitized by Google

Die Variation.

55

künstlerisches Gelingen hoffen, sondern gereicht nur zur Profana- tion des Hauptwerks, das man zerreisst und stück weis' abnutzt. Wer selber hofft und strebt, jemals ein würdig Kunstwerk hin- zustellen, sollte sich weder durch Unbedacht noch äussern Vortheil zu so üblem Dienst gegen andre Künstler und gegen das Publikum verleiten lassen.

Zweitens ist es rathsam, dass das Thema

von angemessener Ausdehnung

sei. Zu grosse Kürze hat leicht zerstückeltes Wesen der ganzen Komposition zur Folge, weil die Ausdehnung der einzelnen Variationen sich in der Regel nach der des Thema's richtet. Zwar können in den Variationen sehr weite Motive (Figuren) ausgeführt werden, so dass die Variation bei weitem ton reicher wird, als das Thema; aber die wesentlichen Momente bleiben in der Kegel dieselben, und eben nach ihnen, nicht nach der Tonzahl be- stimmt sich (wie wir schon bei der Choral figuration erkannt haben) Gang und Umfang des Tonstücks.

Wiederum hat zu grosse Länge den entgegengesetzten Nach- theil; die einzelnen Variationen dehnen sich dann leicht zu weit aus, oder man muss jeder freiem und reichern Ausführung ent- sagen.

Im Allgemeinen möchte wohl die zweitheilige Liedform und die Ausdehnung jedes Theils auf acht Takte als ungefähre Norm dienen können. Dass aber kein absolutes, dass kaum ein an- näherndes Gesetz von aussen her gegeben werden kann, folgt schon aus der Verschiedenheit des Taktmaasses und Tempo's, die hier natürlich wesentlich in Betracht kommen, ist auch schon früher viel- fach (z. B. Th. II, S. 244) klar geworden. So hat Seb. Bach zu seiner variirten Ariette, desgleichen Beethoven zu seinen Variationen in der As dur-Sonate (Op. 26) und zu den »33 Verän- derungen auf einen Walzer« (Op. 120) Themate von zweimal sechzehn dagegen K. M. v. Weber in seinen Variationen auf ein Zigeunerlied ein Thema von zweimal vier Takten zu Grunde gelegt, und der Erfolg ihrer Arbeit hat die Wahl gerechtfertigt.

Drittens ist

eine angemessene Konstruktion,

besonders hinsichts der Modulation, für ein Variationen thema noch wichtiger, als für einen nicht öfters wiederkehrenden Liedsatz.

Wir wissen bereits, dass Modulationsordnung, rhythmische Einrichtung, Schlussfälle den Gang eines Tonstücks in seinen Haupt- zügen bestimmen, und auf denselben, wie auf die Wirkung den nächsten Einfluss, mehr wie die Einzelheiten des Inhalts, ausüben. Hat nun ein Variationenthema in diesen Hauptbeziehungen eine

Digitized by

56

üebevgang zur Komposition.

Schwäche, so ist leicht zu besorgen, dass deren Wiederkehr in jeder Variation immer empfindlicher und nachtheiliger hervortreten werde. Ein solcher bedenklicher Punkt zeigt sich in zwei;, im Uebrigen reizenden Thematen von Mozart, in der Sonate 2 und h des ersten Bandes der Breitkopf-Härtel'schen Gesammt- (No. 2 und 5 der neuen Einzel-) Ausgabe. Das erstere pldur) schliesst seinen zweiten und ersten Theil im Haupttone, die beiden Vorder- sätze aber mit einem Halbschluss auf der Dominante, so dass fol- gende Form:

4 Takte mit Halbschluss auf E, 4 Takte mit Ganzschluss auf A, 4- - - - a; 4 - - - - A, hervortritt. Im andern Thema (Ddur) endet der erste Theil mit einem Ganzschluss auf A1 die Vordersätze beider Theile aber mit einem Halbschluss auf A, so dass dreimal und zwar mit grosser rhythmischer Bestimmtheit und sehr ähnlichen Wendungen auf dem- selben Punkte geschlossen wird. Es hat, wie man schon voraus- setzen wird, in beiden Fällen dem unerschöpflichen Meister nicht an Hülfsmitteln gefehlt, diese Einförmigkeit der Grundlage zu über- winden, ja eben die bedenklichen Punkte hin und wieder zierlich zu schmucken. Auch haben wir uns schon bei andern Gelegen- heiten gesagt:

dass es bei dem vielseitigen Inhalt unsrer Kunst und den vielen, unberechenbaren Kräften und Wegen für den ihr zugewandten Geist nie an Hülfsmitteln fehlen wird, sich aus Schwierigkeiten h'erauszuwinden oder Mängel zu be- decken.

Allein das Sichere und Räthliche ist doch, sich nicht willkür- liche Hindernisse zu bereiten.

Viertens endlich ist es vortheilhaft, wenn das Thema

einfachen Inhalt hat; und zwar in zweierlei Hinsicht.

Zunächst nämlich liegt es im Sinne der Form, dass das Thema in den Variationen noch erkannt werden soll ; denn sonst würden die einzelnen Sätze als eine blosse Reihe verschiedner, innerlich nicht weiter zusammengehöriger Tonstücke erscheinen, und man thäte besser, statt der Variationen geradezu eine beliebige Anzahl verschiedner Sätze, ungehindert durch die Rücksicht auf das Thema, aneinanderzureihen. Nun aber wird ein einfacher Inhalt natürlich leichter gefasst und festgehalten, als ein zusammengesetzter.

Sodann besteht die Mehrzahl der Variationen, wie wir bald sehen werden, aus weitern Ausführungen des Thema's. Je mehr nun das Thema selbst schon in Fülle seines innern Baues be- ginnt, desto weniger Spielraum bleibt den Variationen, oder desto weiter hinaus wird der Komponist in fremde oder zusammen-

Digitized by Google

I

Die Variation. 57

gesetzte (wo nicht überladne und erzwungne) Kombinationen gedrängt.

Zwar wissen wir schon, dass selbst die zusammengesetztesten, buntesten Sätze sich auf immer einfachere Unterlagen zurückführen lassen, wie die vollste Harmonie (nach Ausweis unsrer Harmonik, Th. I des Lehrbuchs) endlich auf die zwei Hauptakkorde (den toni- schen und Dominantakkord i, und zuletzt auf den Urakkord (den grossen Dreiklang) zurückweist. Auch werden wir weiterhin von der Zurückführung der Themate auf ihren Grundgehalt vorteilhaf- ten Gebrauch machen; dies würde uns selbst bei den buntesten Thematen zu Hülfe kommen. Aber es wäre das nur ein Ausweg oder Nebenweg; denn als Regel für die Variationen, als deren Grundlage und Gesetz, ist doch immer nur das Thema, wie es ist und zuerst dargestellt wird, anzusehn.

Ja, die Einfachheit des Inhalts ist so erspriesslich, dass sie sogar längere Themate bisweilen leichtfasslicher und behandelbarer machen kann. Ein treffend Beispiel giebt uns der von Beet- hoven variirte Walzer. Er bewegt sich in den fasslichsten und festest geschlossnen Abschnitten; auf diesen ersten

Vivace.

etc.

p

Tffftt

■""1

Pül

7

folgt ein Schritt für Schritt gleich konstruirter auf der Dominante, so dass die zweimal vier ersten Takte des ersten Theils so fass- lich, wie zwei einfache Schläge gleichsam, verlaufen. In derselben Weise beginnt der zweite Theil mit zwei gleichgebauten Abschnit- ten auf Oberdominante und Tonika ; auch der sonstige Inhalt beider Theile ist im höchsten Grade Übersichtlich und klar.

Eine weitere Anweisung zur Erfindung oder Wrahl des The- ma's oder Ansammlung von Beispielen oder Vorbildern ist nach allem früher schon Mitgetheilten um so weniger nöthig, als jedem mit Musik sich Beschäftigenden variirte Themate genug bekannt sein müssen.

Um so vollständiger sind

B. die Mittel und Formen

der Variation in Betracht zu ziehen; dies wird in den folgenden Abschnitten geschehn. Hier wollen wir nur zur vorläufigen und bloss allgemeinen Uebersicht bemerken, dass die Veränderung eines Satzes

Digitized by

58

Uebergang zur Komposition

4) die Haupt stim me,

2) die Modulation,

3) die Form der Begleitung,

4) das Tongeschlecht,

5) den Rhythmus,

6) die Form, treffen kann.

Wiefern die Hauptstimme, die Harmonie in einzelnen Zügen oder die ganze Modulation und der Rhythmus verändert werden können, muss aus den frühem Theilen des Lehrbuchs von selbst einleuchten.

Die Form der Begleitung umfasst, wie ebenfalls bekannt, alle Mittel der harmonischen Figuration, der Vorhalts- und Durch- gangsgestalten und des Rhythmus, die uns alle schon vertraut wor- den. — Man bemerkt jetzt, dass die Theil I, S. 442 zu No. 598 angestellten Uebungen nichts anders als Variationen der Oberstimme oder Begleitung und des Rhythmus gewesen sind.

Die Veränderung des Tongeschlechts besteht, wie man schon erräth, darin, dass ein Durthema in die Molltonart, und umgekehrt ein Mollthema in die Durtonart (und zwar in der Regel derselben Tonstufe) übertragen wird. Im ersten Falle hiess die Uebertragung in früherer Kunstsprache

Minore,

im letztern aber

Maggiore ;

Ausdrücke, die jetzt meist (und mit Recht als unnöthig) beseitigt sind, die übrigens öfters auch da gebraucht wurden, wo ein andres Tonstück in anderm Tongeschlecht folgte, z. B. ein Trio in Moll auf eine Menuett u. s. w. in Dur, und umgekehrt.

Auch die Aenderungen des Rhythmus sind uns vielfältig be- kannt. Schon zu Anfang in der Elementarlehre haben wir aus zweitheiligem drei- und viertheiligen Takt gemacht, weiterhin auch das Verhältniss der einzelnen Melodiepunkte geändert, z. B. diesen Rhythmus

Th. I, S. «5 in No. 613 und 6H so

i_r tfj 1

verändert und benutzt. Auch bei der Choralfiguration sind wir auf dergleichen Wege geführt worden.

Digitized by Google

Die Formal- Variation .

59

Die bisher bezeichneten Wege der Veränderung wollen wir in Ermangelung eines bessern Namens)

die Formal-Var iation

nennen.

Mit den Aenderungen der Kunstform des Thema's, die oben S. 58) zuletzt aufgeführt sind, und die wir die

Karakte r- Variation nennen wollen, sind die Umwandlungen der Form des Thema's in verschiedne andre Kunstformen bezeichnet, die Verwandlung der unbestimmten Liedform in die Formen des Marsches, eines Tanzes, in die später zur Uebung kommende Rondo- und Sonatenform, in die polyphonen Formen der Figuration, des Kanons und der Fuge. Alles dies wird, soweit es noch erfoderlich, in dem siebenten Ab- schnitte zur Ausübung kommen, worauf im achten Abschnitte die Zusammenordnung des Thema's und der Variationen, also

C. die Kunst form selbst

in ihrer Ganzheit zur Betrachtung zu ziehen sein wird.

Sechster Abschnitt. Die Formal -Variation.

Wir haben bereits im vorigen Abschnitt angedeutet, dass unter diesem Ausdruck alle Veränderungen eines Thema's zusammenge- fasst sein sollen, bei denen die Absicht des Tonsetzers zunächst auf melodische, harmonische, rhythmische Motive und ihre Durch- führung gerichtet ist, wogegen der Name der Karakter-Variation die Veränderungen der dem Thema ursprünglich eignen Kunstform bezeichnet. Dass diese, in Ermangelung treffenderer, gewählten Ausdrücke nicht scharf bezeichnen, dass die sogenannte formelle Variation auch zu karakteristischer Umwandlung gedeihen kann, oder vielmehr niemals anders zur Ausführung kommen sollte, und dass umgekehrt gar oft die Kunstform karakterlos verwandelt wor- den ist und noch werden wird, sei sogleich zugestanden. Wenn indess jene unzulänglichen Namen nur dazu dienen, den reichen Stoff Übersichtlicher auseinander zu halten, so wird man sie sich schon eine Weile gefallen lassen können.

Was nun die formelle Variation, also alle Aenderungen, die oben (S. 58) unter \ bis 5 aufgezählt sind, anlangt : so sind uns

Digitized by Google

60

Uebergang zur Komposition.

die Mittel und Anleitungen bereits in den frühern Lehrtheilen tiber- liefert worden. Wir können also sofort auf die Anwendung im Sinne des jetzigen Standpunkts tibergehn, die Komposition für das Klavier zeigen; auch haben wir nicht nöthig, uns der oben (S. 58) zu besserer Uebersicht des Stoffs getroffnen Eintheilung zu unterwerfen, da uns alle Einzelheiten bekannt sind. Am wenigsten wird man nach der hoffentlich genügenden Vorbereitung hier noch- mals formelle Vollständigkeit erwarten. Wir können uns an einer Einführung in die neue Aufgabe wohl befriedigen, und diese soll sogleich in praktischer Weise angeknüpft werden.

Fassen wir unsre Aufgabe gleich durchgreifend an. Es sollen aus einem einzigen Thema möglichst viele Variationen gezogen werden, ohne Rücksicht darauf, ob es angemessen sein könnte, so viel Variationen als eine einzige Komposition zusammenzureihen. Dieses Bedenken wird im achten Abschnitt erwogen werden; hier wiegt der Zweck der Darstellung und Uebung vor. Daher wollen wir selbst unbedeutendere Veränderungen nicht verschmähn, wenn sie nur irgend eine lehrreiche Seite bieten.

In Rücksicht auf den Raum bilden wir (in Widerspruch mit dem S. 55 ausgesprochnen Rath' ein sehr kurzes Thema von acht Takten, behalten uns aber dessen Erweiterung nach bekannten Grundsätzen (Th. II, S. 27) vor. Dem Jünger rathen wir Glei- ches, damit es ihm ohne zu grosse Beschwer möglich sei, die Auf- gabe reich zu lösen*. Allerdings werden wir aber die nachtheiligen Folgen zu grosser Kürze oft zu empfinden und, so gut es gehn will, zu überwinden haben.

Bedingung für Thema und Variationen ist, dass sie dem In- strument gemäss dargestellt seien. Hiermit gewinnen wir Anlass, denselben Grundgedanken vielfältig dem Instrument anzupassen, oder, umgekehrt, dieses in mannigfaltigen Darstellungen und Aus- drucksweisen desselben Grundgedankens zu üben.

Jede Variation gilt als Aufgabe, ein besondres Motiv durch- zuführen, für Thema und Instrument zu benutzen. Daher haben wir an jedem Motiv so fest zu halten, als der angemessene Gang des Ganzen gestattet. Dies verspricht Einheit und Karakter jedes einzelnen Satzes, und zugleich, weil wir treu und sparsam haushalten, grössern Reichthum für das Ganze. Später werden wir allerdings Anlass haben, hiervon abzuweichen.

Dies

* Die eifrigem Schüler des Verfassers haben demselben öfters hundert und mehr Variationen zu ein und demselben Thema vorgelegt.

Digitized by Google

Die Formai - Variation.

Hl

Andante espressivo.

40 )

! ]"1

i VI 2

^ W 0

P~rg f J

*

i

r— r-i 1

! t±==^==t#=d

sei unser einfaches Thema. Wir wollen nochmals Erweiterung des- selben vorbehalten, wenn es bisweilen nicht Spielraum genug bie- tet ; sie könnte sich durch eine mittels Trugschlusses oder unvoll- kommner Vollziehung des Schlusses angehängte Wiederholung des Hauptmoments, z. B. in dieser Weise von Takt 7 an machen:

(Takt 7)

■5

r r i r r— ^ ' P *

I

T"

Dass dies Thema keins von* den bedeutenden oder besonders anziehenden ist, mag uns eher lieb als niederschlagend sein; um so grössern Spielraum hat unsre Uebung.

Allein haben wir es angemessen dargestellt? Es scheint so. Die Melodie liegt in der klangvollem und dabei heilern Region des Instruments, die am geeignetsten ist zu ausdrucksvollem Vor- trag derselben; die Begleitung ist, um die einfache Melodie nicht zu beeinträchtigen, sehr ruhig, und dabei in Rücksicht auf das In- strument in klangvollen Lagen dargestellt.

Ehe wir an die Bearbeitung gehn, führen wir das Thema aul seine noch einfachere Grundlage zurück, ohne Rücksicht auf die Darstellung am Instrumente. Es wäre diese:

4a

i

' < I .■ i ' ' t 8 : ? » i I

ffPffy fr f

mm

1 £

Digitized by

62

lieber gang zur Komposition.

Hier sehn wir das eigentliche Grundthema und das Grundmo- tiv desselben [a] im Gegensätze zu manchem, sofortiger Abände- rung unterworfnen Zuge der ersten Erfindung. Dies Zurückgehn auf das Grundthema wird uns behülflich sein, am Wesentlichen des Thema's festzuhalten.

ünsre nächsten Versuche schliessen sich mehr der oben ange- regten Frage, wie das Thema angemessen darzustellen sei ? an, als dass sie sich tiefer greifenden Aenderungen zuwendeten. Man kann sie, zu besserer Uebersicht, unter der Rubrik

1. Darstellungen des Thema's

zusammenfassen. Doch werden wir gleich inne werden, dass schon die Absicht, das Thema anders, z, B. in andrer Tonregion darzu- stellen, auch innere Veränderungen nach sich zieht, auch hier also die Unterscheidung nicht streng durchzuführen ist, woran auch nichts liegt.

Wir haben die obige Darstellung (No. 40, k\) angemessen erachten dürfen; könnte aber das Thema nicht auch in höherer Oktave gegeben, der Satz No. 40 um eine Oktave höher gestellt werden ?

Das Eretere gewiss. Aber die Uebertragung von No. 40 in die höhere Oktave (ohne Abänderung) wäre eben so gewiss nicht günstig; denn in der höhern Lage, bei der geringem Schallkraft und Dauer der höhern Pianofortetöne, würde die Begleitung den in No. 40 ihr eignen vollem Klang einbüssen. Man würde besser ge- radezu darauf verzichten und die Darstellung nach dem feinem Klang der höhem Saiten, etwa in solcher Weise,

43

richten. In diesem Sinn ist hier die Melodie für die feinern hohen Töne, Takt 3, vereinfacht, damit der Hauptton [f) ruhiger und sichrer wirken könne; die Auftaktnoten die letzten Achtel g Takt 2 und 4 in No. 40), die im Thema empfindungsvoll erscheinen konn- ten, sind hier verfeinert, eigentlich ein bloss rhythmischer Nach- schlag der vorhergehenden Schlussnoten geworden. Indem sich die Aufmerksamkeit auf sie richtete, wurden sie angeregt, sich et- was mehr geltend zu machen, sie motivirten sich Takt 5 als eigne Stimme, und hatten im folgenden Takt eine Rückwirkung auf die

Digitized by Google

Die Formal- Variation.

63

Melodie selber. Das letztere würde als neue Wendung wahrschein- lich weitere Folgen haben : der Schluss könnte sich so

44 <

4/

Ii

gestalten.

Vieles Einzelne darf hier und im Folgenden der Prüfung des Jüngers überlassen, bleiben ; dahin gehört die wechselnde Stimmzahl, der Quersland in No. 43, die Oktavenfolge in No. 44, und Andres mehr.

Die vorliegende Darstellung wäre nicht zu verwerfen ; sie oder eine ähnliche Gestaltung könnte am rechten Orte ganz angemessen sein. Allein

der Karakter der Höhe des Instruments ist an ihr nicht befriedigt. Die hohen Saiten des Pianoforte haben einen hellen, bei guten Exemplaren glockenartigen, oder vielmehr glöckchenartigen Klang, und in dieser Eigenschaft einen freundlichen Reiz ; dagegen sind sie für sangvolle Darstellung weniger geeignet. Jene günstigen Klänge sind hier

45

Ped. * "Ped. # 1 1 Ped

benutzt. Die Melodie ist mehrmals geändert, um dem hohen g als hell hinausklingender Quinte oder abschliessender Oktave rechte Gel- tung zu verschaffen; üherhaupt ist das Klingen dem Sanghaften vorgezogen, und dabei zum erstenmal günstig auf die Grundgestalt des Thema's (No. 42) zurückgegangen. Am Schlüsse wird doch auf das Melodische, als das innigere Element im Gegensatze zu den luftigleeren Akkordklängen, eingelenkt; man würde vielleicht so

46

zu Ende gehn.

Digitized by

04

Ueberyang zur Komposition.

Hier war es das Klingen, und unter den mitspielenden Tö- nen das hohe g, das als Hauptsache und vor dem Melodischeu geltend gemacht, dem sogar mehr als ein Zug aus der Melodie des Thema's aufgeopfert wurde. Könnte nicht derselbe Zweck und na- mentlich derselbe Ton erhalten werden ohne Aufopferung der Me- lodie? — Wir versuchen es in einer neuen Bearbeitung:

47

! I

JkLM

3 iisli i

dolce piano

) lf Ml

Hier schlägt der durchklingeode Ton den Melodietönen nach; auch jenes /*, e der Melodie (Takt 3), das in No. 45 dem hellem Klingen geopfert wurde, ist beibehalten. Durch das Ineinanderspie- len beider Oberstimmen ist lebhaftere Bewegung des Ganzen ange- regt, die sich Takt 2 und 4 Luft zu machen sucht.

Eine neue Gestalt rufen wir durch den Vorsatz, die hohem Tonlagen zu einer energischen Darstellung zu benutzen, hervor.

Risoluto.

«8

i

I

Die Melodie sollte in der Höhe, aber stark durchgeführt wer- den. Folglich musste bei der Zartheit der hohen Töne die tiefere Oktave helfen; folglich mussten die Zwischentöne aus No. 47 sich verstärken und volle Harmonie werden; und so hat allerdings die eine beabsichtigte Aenderung Verwandlung des ganzen Satzes nach sich gezogen.

Wie würde sich unser Thema in tiefern Oktaven darstellen ? Die tiefem Tonlagen haben schwerern, ernstern Karakter, sind auch vermöge der langsamem Tonschwingungen oder Tonentwicke- lung Th. I, S. 441) zu langsamem Fortschreitungen geneigt; end- lich müssen in tiefer Harmonielage die Töne sorgfältig auseinan- der gehalten werden, um sich nicht bei ihrer grössern und langsa- mer vibrirenden Schallmasse zu verwirren. Es wäre daher nicht rathsam, unser Thema, wie es in No. 40 aufgestellt ist, oder eine

Digitized by Google

Die Formal-Variation.

65

der hochliegenden Variationen ohne Weiteres um eine oder zwei Oktaven hinabzusetzen; Einiges könnte auch da passend sein, schwerlich aber Alles.

Für die Darstellung in der Tiefe wünschen wir dem Thema vor allem mehr Breite mnd Gewicht; der Zweivierteltakt verwandle sich in Dreivierteltakt.

Dann fällt uns, indem wir an ernstere und gewichtigere Darstellung gehn, zum ersten Mal die kleine und so gar einfache Gliederung (in zwei Abschnitte von zwei, und einen grössern von vier Takten, der aber auch das Zweitaktmaass durchfühlen lässt) bedenklich auf. So kleine Maasse sind , wenn auch keineswegs unbehandelbar und unzulässig, doch jedenfalls ein Hinderniss gross- artigerer und tieferer Entwickelung ; dem Gefühl hiervon ist es bei- zumessen, dass schon in No. 47 und 48 die beiden ersten Abschnitte sich mit einander zu verschmelzen strebten. Unter diesen Rück- sichten bildet sich folgender Satz,

der bei seinem schwerern Tongewichl gern noch einen Anhang über der liegen bleibenden (oder vielmehr rhythmisch wiederholten) Tonika, oder nochmalige Rückkehr auf den Gipfelpunkt des Satzes ;das hohe g) wünschen liesse. Würde das Letztere gewählt, so

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 5

Digitized by

66

lieber gang zur Komposition.

mttsste man jenen Punkt, der schon zweimal gewirkt bat, wahr- scheinlich noch steigern; es würde sich statt der letzten Noten in No. 49 vielleicht von Takt 8 an folgende Melodie wendung

so m

m

bilden, aus e-o-c der verlangende Dominantakkord mit der Sep- time in der Melodie ergeben. Die Erfindung eines schliessenden Anhangs über der Tonika bleibe Jedem Uberlassen.

Bisher haben wir das Thema bald in höherer, bald in tieferer Region dargestellt. Liesse sich dies nicht in einem einzigen Satze vereinen ? Wir benutzen dazu die breitere Darstellung in No. 49 .

Adagio.

54 <

pes ante

ipp

r

m

> dolce r I

rt-H

f

m

I

Es wäre dies ein zusammenfassender Satz, der am Schluss einer grössern Folge oder Entwickelung seine Stelle fänd'. In die- sem Sinne, der sich auch schon in dem Hindurchgehn durch drei verschiedne Tonregionen kundgiebt , bedurfte er grösserer Breite der Entfaltung ; und dies hat sich nicht nur in der breitern Takt-

Digitized by Google

Die Formal- Va riation .

67

art, die wir gewählt, sondern auch in dem grossen Gewicht geltend gemacht, das dem Gipfelpunkt des Satzes (dem Ton g aus Takt 5 in No. 40) beigelegt wird. Dies zieht sogleich weitere Ausführung der letzten Takte nach sich; man fühlt, dass der Satz oben noch nicht schlussreif ist, dass die Takte 5 bis 8 oder 9 noch befriedi- gende Lösung erwarten.

Zu diesem ganzen weit ausgelegten Inhalt bedurfte es zuletzt noch eines festen Einigungsmotivs; die Einheit des Inhalts schien hier nicht genügend, da er noch nicht das Durchwandern der drei Oktaven motivirt. Hier kam nun das (schon in No. 49 angeregte) Bassmotiv

51 3*

zu statten, das sich Takt 3, 5, 7 wiederholt, Takt 6 und 8 wenig- stens andeutet und überall auf den gemeinschaftlichen Bindeton G hinweist. Nun erscheint das Tonspiel durch alle Oktaven als blosse Entfaltung aus diesem festen Grunde.

Daher könnte der Fortgang des Satzes wohl so

erfolgen, so dass jener bisher als Grundlage anschlagende Halteton jetzt in den mittlem Lagen (in rhythmischer Figurirung) fortwirkte, die Melodie mit der ihr fester anschliessenden Begleitung durch die verschiednen Tonregionen herdurchschwebte und in jenem Halteton die einigende Mitte fänd'. Wie sich das im nächsten Takte, wo die Melodielage mit der Lage des Haltetons zusammentrifft, fort- und zu Ende führen Hesse, mag Jeder versuchen.

Soviel über die erste Reihe der Variationen, die wie sich von selbst versteht hier im Mindesten nicht erschöpft ist oder erschöpft werden sollte. Fassen wir das bisher von No. 43 an Entwickelte in Einem Ueberblicke zusammen, so ergeben sich fol- gende Resultate.

\) Die vorherrschende Absicht war, dass Alles dem Instru- ment angemessen heraustrete ; ohne diesen durchgehen-

5*

Digitized by

Uebergang zur Komposition.

den Zweck würde es kaum der Beachtung werth ge- wesen sein, denselben Satz in verschiednen Oktaven aufzustellen.

Diese Hauptaufgabe konnte schon durch blosse Ver- setzung in verschiedne Tonregionen mehrfach, ja viel- fältig gelöst werden. So eröffnet sich gleich beim Ein- tritt in das neue Gebiet die Aussicht auf eine reiche Ernte, auf unerschöpflich zu nennende Erfolge.

Jede Tonregion des Instruments erwies sich von einem besondern Karakter; wir können auf demselben (wenn auch weniger stark ausgesprochen, als in den Singstim- men und einigen andern Organen) die Tenorlage, ungefähr zwischen dem kleinen und eingestrichnen g, die Diskantlage, ungefähr eine Oktave höher, und die über alle Gesangregion hinausgehenden, mehr glöckchenartig ansprechenden Töne der drei- und vier- gestrichnen Oktave unterscheiden.

Folglich nahm derselbe Satz in den verschiednen Ton- lagen auch einen andern, von diesen motivirten Karakter an ; er erschien rein und mild in der Diskantregion, von dunklerer Empfindung und ernsterer Stimmung in der Tenorlage, fein, hell und metallisch klingend in den ho- hen Oktaven.

Folglich musste die Behandlung in jeder Tonregion eine verschiedne, dieser eigenthtimliche sein. Sie bedurfte der Feinheit für die feinen Klänge der hohen Oktaven (No. 43, 44), und dies hatte auf die Melodie selbst, z. B. auf die Schlussweise a (in No. 43) in derselben, so wie auf den spielendern Ausgang in No. 44 Einfluss. Sie bedurfte vieler Töne zu vollerm und dabei luftigem» Klang in der Höhe (No. 45) und grösserer Breite für die langsamere Entfaltung in der Tiefe, in No. 49; und was dergleichen weiter theiJs schon erwähnt, theils noch zu bemerken ist.

Hier, wie früher, haben wir gestrebt, jedes Motiv fest- zuhalten ; wir haben längst und vielfältig erkannt, dass die Kraft der Komposition nicht in der Zahl aneinander- gereihter Einfälle und im umherflirrenden Wechsel der Empfindung, sondern umgekehrt in einer immer treuem und energischer festgehaltnen Vertiefung in den einen Gedanken oder die eine Empfindung beruht.

Dabei haben wir uns vom Motiv zu entfernen gewusst, wo der Gesang des Satzes es foderte; so sind z. B. in

Digitized by Google

Die Formal- Variation.

69

No. 47 und 48 besondre Wendungen rathsam gewesen, um die kurzen Abschnitte an einander zu bringen. 8) Selbst in der Entwickelung der verschiednen Variationen haben wir gern an denselben Motiven wieder angeknüpft. So hat sich das in No. 53 herrschend werdende g schon in No. 47, 49 und 51 mehr oder weniger geltend ge- macht; das Motiv a (No. 43) wird bedeutender in No. 49 und noch mehr in No. 51* und 53; der erste Bass- schritt in No. 49 wird zum bedeutsamen Motiv (No. 52) in No. 51. Hierdurch wird die Entfaltung der einzelnen Sätze zu festerer Einheit erhoben und die Erfindungs- . kraft in das Unendliche vervielfältigt. Hiermit ist nun die Einweisung des Jüngers in die neue Auf- gabe wohl genügend zu erachten ; wir dürfen uns daher von hier ab an flüchtigem Winken und einzelnen Beispielen, statt vollstän- diger Entwickelung, vorwärts bewegen.

Die bisherigen Variationen hatten zunächst keinen andern Zweck, als die Darstellung des Thema's, und zwar in verschiednen Tonregionen ; Alles, was sich sonst noch einfand, war nur um je- nes Zwecks willen da. Eine zweite Reihe von Veränderungen hat zu ihrem Ziel

2. die harmonische Begleitung.

Wie vielfältig irgend eine Melodie sich harmonisiren lasse, ist aus dem ersten Theil des Lehrbuchs bekannt. Es mag vom fleis- sigen Jünger noch einmal an der erwählten Melodie durchgeübt werden, bedarf aber hier keiner nochmaligen Erörterung.

Eben so wohlbekannt ist uns

die harmonische Figuration,

mit allen den Hülfs- und andern Beitönen, die sich hier (Th. 1, S. 419) einmischen können.

* Diese Variation erinnert an das unsterbliche Thema, das Beethoven in seinem grossen ßdur-Trio (Op. 97) als Andante variirt hat; gleichwohl liegt von No. 40 her am Tage, wie man hier auf jeden einzelnen Zug gekom- men und dass an eine absichtliche Entlehnung nicht zu denken ist.

Wir erkennen bei dieser Gelegenheit, wie leicht dieselbe Gestal- tung bei verschiednen Tonsetzern hervortreten kann, ohne dass der eine vom Werke des andern dabei Notiz nimmt. Nicht an solchen Einzelheiten ist das Verdienst oder der Vorzug der Originalität eines Werks und eines Komponisten zu prüfen, sondern an der Eigenthümlichkeit der Grundidee und an ihrer ge- treuen und folgerechten Durchführung. Eben hier irrt das ürtheil der Halb- kenner am häufigsten und weitesten vom Wege, da sie wohl Einzelheiten zu merken und wieder zu erkennen, nicht aber auf die tiefere Grundidee zu dringen und die vernunftgcmässe Entwickelung im Ganzen eines Werkes zu verfolgen und zu durchschauen wissen.

Digitized by Google

70

Uebergang zur Komposition.

Wollen wir letztere Form als Variation anwenden, so kann das in unzähligen Weisen der Tonfolge, des Rhythmus, der Aus- dehnung u. s. w. geschehn, muss aber wiederum der Natur des Or- gans durchaus entsprechen. Auch hier ist es höchst rathsam, dass der Jünger sich vom Einfachsten folgerecht und in möglichster Fülle des Gestaltens vorwärts bewege.

Wär' er also bei dieser Gestalt angelangt,

w

5*

1

die keineswegs für die einfachste und erste zu achten, so müsste nach irgend einer Richtung hin der weitere Fortschritt gesucht wer- den. Es könnte zunächst das untergeordnete Verhalten der untern Stimmen bemerkt und deren Theilnahme an der Bewegung der zwei- ten Stimme, z. B. in einer von diesen Weisen

!

55 <

^^^^

. J * *=J

r r r r

zur Aufgabe werden. Oder man könnte die Tonfolge bereichern und damit beschleunigen;

Digitized by Google

Die Formal-Variation

71

56

oder, weil blosse Vermehrung und Beschleunigung der Ton- folge am wenigsten in der harmonischen Figuration wahre innre Bereicherung ist, die Motive mischen und der Einförmigkeit der Tonfolge, die jeder harmonischen Figuration eigen ist, durch die Kraft des Rhythmus und der Modulation abhelfen,

Energico

wie hier begonnen ist. Auch dieser Tonsatz mtlsste Übrigens durch Anhänge oder ähnliche Mittel erweitert werden, damit die Fülle der Ausführung dem Inhalt entspräche. Auch hier wieder wie bei jeder reichem oder lebhaftem Erfindung steht die Kürze des Thema's hindernd entgegen. Obwohl es, wie wir sehn, nicht an Mitteln fehlt, günstigem Raum zu gewinnen, wird man doch wohl bemer- ken, dass diese Wiederholungen u. s. w. in Bezug auf das Thema [also den Grundgehalt) eben nur äusserlich nothwendig gewordne

Digitized by Google

72

Uebergang zur Komposition.

Zusätze sind, und dass ein gleich ursprünglich in genügender Fülle ausgebildetes Thema auch die Variationen weit grossartiger, gleich- sam aus Einem festen Stücke gegossen, hervortreten lassen würde. Schon hier haben wir zu einer weitern Taktart greifen und zu erweiterter Konstruktion rathen müssen, um dem breitern und ge- wichtigern Motiv Raum zu schaffen. Je weiter wir die Motive ausdehnen, desto mehr müssen sich auch die Räume erweitern. Gelangten wir z. R. in Folge weiterer harmonischer Variationen auf diese Gestaltung,

Brillante.

so wäre nicht bloss die ursprüngliche Taktart um einen Theil er- weitert, sondern jeder Moment der Melodie, wie man hier ver- deutlicht sieht,

Thema (nach No. 42)

59

Variation.

vergrössert ; es wäre, wenn man Takt gegen Takt setzen wollte, aus dem Zweivierteltakt ein Sechsviertel takt geworden. Alle diese Umgestaltungen und Erweiterungen der Konstruktion müssen aus

Digitized by Google

Die Formal-Variation.

73

der ersten Melodielehre (Th. I, S. 37) und der Lehre von der Liedform (Th. II, S. 27) einleuchtend und geläufig sein.

Dass und wie sich nun zu der harmonischen Figuration Vorhalte (z. B. Takt 2 in No. 58), Durchgänge u. s. w. gesellen und neue Motive an die Hand geben, bedarf keines nochmaligen Nachweises.

Mit Hülfe dieser vereinten Tongestalten erschliesst sich eine neue Reihe von Veränderungen, die wir in Erinnerung an frühere Arbeiten (Th. II, S. 108)

3. die figiirale Begleitung

nennen. Wie einst gegen den Choral mit einer oder meh- rern Stimmen figurirt wurde, so kann es jetzt gegen die Melodie des Thema's geschehn; es könnte z. B. unsre Melodie in dieser Weise

60

I

m

Larghctto.

9! 3

3=:

mm

V 7 /

P

==

durchgeführt, oder die Bewegung in eine einzige Stimme, z. B. eine Mittelstimme,

6

Digitized by Google

74

Uebergang sur Komposition.

5=

=

gelegt werden. Beiläufig hat in diesen beiden Fällen die Figuration auch auf die Hauptmelodie Einfluss geäussert; das Einfachere wäre gewesen, die Melodie unverändert beizubehalten.

Hiermit aber haben wir von selbst den Uebergang zu der letz- ten Reihe formeller Veränderungen gefunden; wir wollen sie als

4. die Variation dei* Melodie bezeichnen und nur ein einziges Beispiel davon

Largo.

geben. Die Melodie (vielmehr der erste Abschnitt derselben) tritt zuerst in der Oberstimme auf und wird dann in der Unterstimme teno- risirend wiederholt: wahrscheinlich wird dieser wiederholende Wech- sel der Stimmen nun zu dem zweiten Abschnitt der Melodie, und so ferner, wiederholt. Hier ist auf Aenderung der Melodie ausgegangen. Dies aber zieht sofort auch Aenderung der Begleitung nach sich, wie vorher in No. 60 und 61 umgekehrt, weil von welcher Absicht auch die Komposition ausgehe Melodie und Be- gleitung nothwendig zur Einigung streben.

Nur soviel ist nöthig, um in die verschiednen Richtungen for- meller Variation einzuweisen; das Weitere giebt sich nach dem jetzt und früher Erkannten von selbst. Je fleissiger der Jünger alle Arten von Variationsmotiven in folgerechter Entwickelung eins aus dem andern aufsucht, je stetiger und kunstmässiger er jedes nach seiner Richtung verfolgt, je freier er bei aller Stetigkeit der

Digitized by Google

Die Kar akter- Variation .

75

Form und dem Sinne des Ganzen genugzuthun sucht : desto reicher wird auch nach dieser Seite hin sein Geist und sein Kunstbesitz emporwachsen. Diese Richtung seiner Ausbildung wird aber, wie schon S. 53 vorausbemerkt, nicht bloss der eigentlichen Variation- Arbeit, sondern auch den bevorstehenden freiem und grössern Formen zu statten kommen. Ja, er wird sich bald überzeugen, dass er durch sie selbst in den polyphonen Aufgaben der Figuration und Fuge, die scheinbar so weit von der Variation abliegen, gefördert wird in Erfindungskraft und Freiheit und Leichtigkeit der Führung; wie denn überhaupt nach unsrer alten Vorhersagung (Th. II, S. 8) keine Kunstform angebaut oder versäumt werden kann ohne ent- schieden günstige oder nachtheilige Folge für alle andern*.

Siebenter Abschnitt.

Die Karakter- Variation.

Dass der Ausdruck Karakter hier besonders auf die Kunst- form bezogen werden soll, in der man ein Thema darstellt, ist be- reits S. 59 gesagt. Sei der Ausdruck auch nicht vollkommen be- zeichnend, so ist er doch insofern zu rechtfertigen, als die Kunst- form eines Satzes der allgemeinste Ausdruck seines Inhalts, mithin das allgemeinste Karakterzeichen ist. So verschiednen Inhalts auch alle Märsche, oder alle Fugen unter einander sind, so ist doch schon das Erste und Nächst-Entscheidende zur Karakterisirung eines Satzes gesagt, wenn wir aussprechen können, er gehöre der Marschform oder der Fugenform an. Er ist damit von einer ganzen Masse andrer Ton- stücke »wesentlich unterschieden.

Ein Variationenthema ist, wie wir S. 54 gesehen, ein liedför- raiger Salz, kann aber als solcher einer bestimmten angewandten Liedform angehören; ein Beispiel zu Letzterm haben wir an dem Walzerthema, das Beethoven variirt hat. Abgesehen nun hiervon (es würde daraus nur folgen , was sich von selbst versteht dass man ein solches Thema nicht erst in diese bestimmte Form verwandeln könne) hat die nächste Reihe von Karakter- Variationen es mit

\. Uebertragung in eine angewandte Liedform zu thun.

Hierzu bedarf es keiner Anleitung, da wir schon früher und noch im vorigen Abschnitt uns geübt haben, eine Liedform in die

* Hierzu der Anhang B.

Digitized by Google

76

Uebergang zur Komposition.

andre Überzuführen. Bisher, z. B. in No. 61 und 62 oder 57, ist dies nach freier Laune geschehn ; schon hierbei haben wir Melodie und Taktart geändert. Jetzt muss, wie sich von selbst versteht, die Aenderung dahin gehn, dem Thema die wesentlichen Züge und Wendungen der neuen Liedform, die man sich zur Aufgabe gesetzt, aufzuprägen. Sollte unser Thema z. B. in einen Walzer verwan- delt werden, so müsste es vor allem den rythmischen Bau des Walzers in dieser

U. 8. W.

im

63

oder einer gehaltreichern Gestalt erhalten; zugleich müsste es nach dem Herkommen dieser Form, denn nothwendig ist es ihr nicht zu einem zweitheiligen Lied erhoben werden, was wir eben- falls schon (Th. II, S. 69) gelernt haben.

Bei dergleichen Aufgaben wird nun die neue Form so wichtig, dass man noch weniger eng wie sonst an das Thema gebunden, dies vielmehr nur der erste Stoff zu einer gewissermassen neuen Komposition bleibt. Die freieste Verbrauchung der Motive ist hier nicht bloss statthaft, sondern auch nothwendig. Der vorige Versuch eines Walzers ist z. B. schon wegen der Kürze der Melodie nicht wohl ausführbar ; man müsste der Kantilene durch erweiterte Aus- legung der Motive

Piacevole. , ,

J ,. i

64

5

3

U l

Li i

VT'

n. «. w.

-X

1= ir]r-fe5-

ff

T

±Sbz±

m

Ped. $

erst eine genügende Weite geben. In ähnlicher Weise könnte der geringen und engen Melodie der Marschkarakter Fiero e vivace.

65

^tJ1 1 Kit » Efg^ I IJj-

forte ' I T I

1 r

5^

zugänglich werden ; es ist, wie man sieht, das erste Motiv dreimal auf verschiednen Stufen wiederholt und dadurch ein rythmisches Glied von zwei Takten gebildet worden, dem sich ein gleich langes (wahrscheinlich mit a-cis-e-g nach Dmoll ausgehendes) von ab-

Digitized by Google

Die Karakter-Variation

77

weichendem, aber naheliegendem Inhalt anschliessen wird. So wür- den aus den zwei ersten Takten des Thema's (dem Motiv e, d} c) vier Doppeltakte aus Zweiviertel- Viervierteltakt geworden sein; die nächsten zwei Takte (das Motiv e, d) würden, wahr- scheinlich auf der Dominante, gleiche Ausführung erfahren, und nach diesen zwei Abschnitten würde aus den letzten Takten des Thema's in gleicher Erweiterung also auf acht Takte der Schluss des ersten Theiles, wahrscheinlich in der Dominante, gebildet. Dann müsste ein zweiter Theil nach bekannten Grundsätzen geschaffen werden; er könnte auf der Dominante oder einem fremdern Tone (z. B. der Parallele derselben, 2?moll, oder da der Mollkarakter vielleicht dem hellen Wesen des Hauptsatzes nicht entspricht in der Parallele der Unterdominante) mit dem umgekehrten Motiv auf- treten, —

66 <

und da sich in der ganzen Breite des Hauptmotivs oder vielmehr ersten Abschnitts (von vier Takten) festsetzen, oder in entschied- nerer Weise (wie hier geschehen) und mit schnellerer oder keckerer Modulation vorschreiten*.

Dergleichen Umgestaltungen sind übrigens so oft dagewesen, dass wir sie mit diesem Wenigen für abgethan erachten und zu den

2. Uebertragungen in eine grössere Form fortschreiten.

Hiermit sind zunächst Rondo- und Sonaten formen ge- meint, deren nähere Bekanntschaft wir in den folgenden Abtheilungen machen werden. Bis dahin muss ihre Anwendung auf die Variation unterbleiben, und wir bemerken nur zur Orientirung, dass in beiden Formen ein (meist liedförmiger) Hauptsatz sich mit Gängen und an- dern Sätzen zu einem Ganzen verbindet. Soll nun eine dieser For-

* Wie sind wir auf die Tonarten Emoll und Esdur gerathen? Wir fassten den Hauptton der letzten Tonart und Harmonie ig) als Median te, als Terz einer andern Harmonie und Tonart auf, folgten also einem altbekannten harmonischen Motiv (Th. I, S. 2<9) zu modulatorischen Zwecken. Die Auffas- sung des letzten Haupttons als Quinte hat das geringere Resultat einer Modu- lation in die Unterdominante. Wohl aber können wir umgekehrt die Terz Mediante) des letzten Akkordes zum Grundton erheben und damit in eine neue Tonart, z. B. von g-h-d nach flmoll oder Hdur, gelangen.

Digitized by

78

Uebergang zur Komposition

men für Variation benutzt werden, so wird das Thema zum Haupt- satze der neuen Form erhoben und das Weitere frei (oder aus an- ders gewendeten Motiven des Hauptsatzes) zugesetzt. Weniger ge- schickt und darum seltner gebraucht ist übrigens zu solcher Ver- wendung die Sonatenform, weil diese eigentlich zwei Hauptsatze (oder gar Hauptpartien) hat, nebst mancherlei Nebensätzen und Gängen, mithin das Variationenthema eine nur untergeordnete Be- deutung behaupten kann.

Ebenfalls nur oberflächlich ist einer dritten Form, die wir

Va ria t ion en f in al e nennen wollen, zu gedenken. Sie besteht darin, dass das Thema in mehrmaliger Wiederholung, einfach oder auf mannigfache Weise variirt und in verschiednen Tonarten mittels blosser Modulation oder durch verbindende Gänge zu einem grossem Ganzen erhoben wird. Bestimmtere Ordnung ist hier nicht sichtbar; vielmehr gehört ein solches Tonstück in die Kategorie

der Phantasie (von der ebenfalls weiterhin die Rede sein wird), kann aber auch von den bestimmtem Formen des Rondo u. s. w. diese oder jene Wendung entlehnen.

Die letzten Formen für Variation fassen sich als

3. Umwandlungen in polyphone Kunstformen zusammen. Das liedförmige Thema soll Stoff geben zu polyphonem Satze.

Denken wir zuerst der wichtigen Fugen form, so ist klar, dass das Variationen-Thema nun Fugenthema werden soll, dass aber selten oder nie ein Variationenthema dazu sofort und ganz geeignet ist. Man wird sich also nur an einen Theil desselben (wahrscheinlich die ersten Motive) zu halten und diesen nach den Erfodernissen des Fugensatzes umzubilden und zu benutzen haben. Unser Thema z. B. könnte in folgender Weise

verwandelt und bei der Buntheit seiner nunmehrigen Gestalt in einer dreistimmigen (oder zweistimmigen) Fughette ausgeführt werden.

In dieser Weise hat Beethoven sein in No. 37 angeführtes

Digitized by Google

Die Karakter- Variation

79

Thema in der vierundzwanzigsten Variation zu einer Fughette ver- wendet. Er hält von demselben nichts, als den anfanglichen Quar- tenschritt und die Harmonie (diese auch nur vorübergehend) fest und gewinnt dieses Thema (vergl. Th. II, S. 323, No. 478), Andante. |

68

V

i

4

7

I

das vierstimmig durchgeführt und mit Hülfe des weitern (aus No. 37 nicht ersichtlichen) Inhalts des Variationenthema's zu einem Schluss auf der Dominante geleitet wird. Den zweiten Theil bildet eine neue Durchführung des Thema's in der Verkehruns; und Engführung,

L

69 l

r

1

! J \i i

r

ijii

7 Y"

t

1 p

der Bass und zuletzt das Thema in rechter Bewegung folgen. Das Ganze hat die Form der Bach'schen fugirten Giguen (Th. II, S. 333), nur in einem ganz abweichenden Sinn angewendet; stille Heimlich- keit deckt hier das Stimmgewebe an der Stelle des sprühenden Humors in jenen kleinen Meisterstücken Bach's. Aber auch hier ist nicht bloss der sinnige Geist des Tondichters, sondern das eigen- tümliche Weben und Leben der Kunstform auf das Glücklichste und Dankwertheste bethätigt.

Nochmals muss dem neuern Meister dasselbe Thema Anlass zu einer Doppelfuge geben, in der zweiunddreissigsten Variation, übrigens in einer fremden Tonart, jEsdur. Der Quartenschritt und die Wiederholung des Melodietons geben Stoff für das erste Sub- jekt, das zweite Subjekt wird frei zugesetzt. Allegro.

70

rb n. Q 1 I M t I i 1 1

forte

3

\psf-

Dass hier mit Ausnahme der ersten drei oder vier Töne jede Hindeutung auf das Thema weggefallen, ist klar. WäV es Ab- sicht des Komponisten, dem Thema recht getreu und nahe zu blei- ben, so würde er natürlich dergleichen weite Abweichungen zu vermeiden, folglich die Fugenform auszuschliessen haben. Der höhere Sinn der Variationen form ist aber, wie wir immer deutlicher

Digitized by

80

Uebergang zur Komposition.

erkannt, der: ein und denselben Grundgedanken als Grundlage oder Stoff in den mannigfachsten Gestalten und Karakteren aus- zubilden; eben dies ist hier Beethovens Zweck und Verdienst.

Anschliessender ist in den meisten Fallen die Form des Ka- nons, da der Kanon eine weiter erstreckte Melodie zulässt, als das Fugenthema sein kann, ja beliebig weit erstreckte Fortfüh- rung gestattet. Daher kann bisweilen die ganze Melodie des The- ma's kanonisch durchgeführt werden. So liegt dem unsern in seiner Grundgestalt (No. 42) oder einer Umschreibung, z. B. Andantino.

71

11111111^1

Uf-r US

eine kanonische Durchführung in der Unterquinte oder Oberquarte sehr nahe; sie geht bis zu dem Zeichen f in der anführenden Stimme und würde freien Abschluss erfodern, könnte auch mit einem gehenden Bass unterstützt werden. Eine zweite kanonische Durchführung wäre in der Unterquarte und Oberquinte, wie hier bei a

72

I I

%r<rtT?—\

b p

fZ

\y< | ==|

y— <-

\ J

-*

.

"—l

ii * 1 \ ^

anzulegen und könnte, wie bei o, spielmässig oder durch zugesetzte Stimmen harmonievoller und rhythmisch belebter werden.

In gleicher Weise hat K. M. v. Weber in seinen »Sieben Veränderungen auf ein Zigeunerlied« das ganze zweitheilige Thema zu einem zweistimmigen Kanon in der Unterquinte benutzt*; er lässt das Thema von der zweiten Stimme, die einen Takt später eintritt, Ton für Ton nachsingen, so dass nun dieselbe natürlich auch einen Takt später als die anführende Stimme schliesst; eine

* Th. II, S. 433 des Lehrbuchs.

ed by Google

Die Kar akter- Variation.

81

barocke, hier aber von Weber eben so geistreich als sachgemäss benutzte Form.

Am reichsten finden wir diese Form der Variationen in den »dreissig Veränderungen einer Arie« von Seb. Bach* ausge- beutet. Hier sind einem anscheinend gar nicht dazu geeigneten, schon wegen seiner Länge, zweimal sechzehn Takte, dann wegen seines komplizirten Inhalts bedenklichen Thema (wir geben hier

73

u. s. w.

1

nur den Anfang), neben mancherlei Nachahmungen, einer Fughette und andern Veränderungen, Kanons im Einklang und der Oktave, in der Obersekunde, Unterterz, Unterquarte und Oberquinte (diese beiden in der Verkehrung antwortend), in der Obersexte und Ober- septime abgewonnen.

Die Ausführung dieser Arbeit war, wie man schon bei einem Blick auf das Thema erräth, nur möglich, indem der Meister auf die Grundlage des Thema's

u. s.

i

zurückging, und, an dieser festhaltend, sich die freieste Abweichung von der ursprünglichen Kantilene (No. 73) erlaubte. Dies erkennt man gleich im ersten Kanon, in der dritten Variation,

75

Iste Stimme.

Jr "^J J-J J J 7 '

fcEfefi:"ilJ - f. f

2te Stimme.

^ m i ,L i :

m

^

-

wo die Oberstimmen im Einklang nachahmen, und ein gehender Bass sie unterstützt; aus jedem Takte der Grundlage (No. 74) ist hier ein halber Takt geworden. Von ähnlicher Beschaffenheit ist die fünfzehnte Variation, ein Kanon in der Quinte und Verkehrung,

* Einige Variationen sind für ein Klavier mit zwei Manualen geschrieben, doch auch auf Instrumenten mit einem, wie die heutigen, ausführbar.

Marx, Komp. -L. III. 5. Aufl. 6

Digitized by

82 Uebergang zur Komposition.

und die reizende achtzehnte Variation , ein Kanon in der Sexte, deren Anfang schon Th. II, S. 454, No. 658 angeführt worden.

Ueberall blickt das Behagen hervor, mit dem der alte Meister seine Aufgabe im Sinn jener Zeit, wie Beethoven die er- wählte ähnliche im Sinn der unsern, aufgefasst und durchgeführt hat; nebenbei wird man überrascht, so manche Spielform schon hier (wenn auch mit Zurückhaltung, begränzter als unser Spiel und Instrument fodert) zu finden, die ein Jahrhundert später neu aufge- funden wurde. So zeigt die neunundzwanzigste Variation jenes Ineinandergreifen der Hände, das wahrscheinlich ohne Entleh- nung — in neuerer Zeit von A. E. Müller und manchem ihm Nachfolgenden als Motiv benutzt worden.

Achter Abschnitt. Die Kunstform der Variation.

Unsre bisherigen Betrachtungen und Vorübungen betrafen nur die Einzelheiten der Kunstform, mit der wir uns bekannt zu machen haben. Nachdem wir die wünschenswerthen Eigenschaften des The- ma's erwogen und uns in der Erfindung und Durchführung der ein- zelnen Veränderungen geübt haben, werden wir uns leicht über die Kunstform selbst verständigen und sie dann künstlerisch an- wenden können.

So viel erhellt schon von selber, dass die Uebungen der vori- gen Abschnitte wohl dem Lehrzweck, nicht aber einem künstleri- schen entsprechen. Da wir bei jenen Hebungen so viel wie mög-

Digitized by Google

Kunstform der Variation.

8:5

lieh auf Vollständigkeit und folgerechte Entwickelung einer Gestalt aus der andern bedacht waren: so mussten unvermeidlich viele Gestalten hervortreten (als Beispiele dienen No. 54, 55, 56), denen nur ein geringes Interesse eigen sein kann; andre Gestaltungen, die vielleicht für sich allein ansprächen, konnten es nicht wegen zu grosser Aehnlichkeit mit andern, neben ihnen auftretenden. Schon die grosse Ausdehnung solcher Arbeiten macht ihre künstlerische Wirkung bedenklich, da man nicht hoffen darf, die eigne und fremde Theilnahme an demselben Grundgedanken ununterbrochen so lange festzuhalten; selbst die Musterarbeiten Beethoven's und Bach's wird man nicht immer in ununterbrochner Folge sich und Andern darstellen mögen.

Ferner haben wir bei den in den vorigen Abschnitten ange- ordneten Uebungen die Form und das Motiv jeder Variation so stetig, als nur die kunstgemässe Entwickelung des Ganzen irgend erlaubte, festgehalten. Auch dies ist (wie früher in der Liedform und bei den Figurationen) dem Uebungszwecke ganz entsprechend, wird aber oft eine gewisse Leere, oder auch Herbigkeit und Steif- heit nach sich ziehn, wenn das Motiv für längere Verfolgung ent- weder zu unbedeutend, oder auch zu eigensinnig und abgeschlossen ist. Das Erstere wäre, bei weiter Ausführung, mit dem Motiv in No. 56, 64 u. a., das Andre vielleicht schon bei dem Motiv von No. 57 der Fall.

Diese und ähnliche Bemerkungen leiten uns auf gewisse

äusserliche Regeln,

unter deren Schutz wir wenigstens den gröbern Missständen auszu- weichen honen dürfen. Allein man wird schon im Voraus darauf gefasst sein, dass hier wie anderswo äusserliche Bathschläge für eine so von innen heraus lebende und bedingte Angelegenheit, wie die Kunst ist, nur unzulänglich und zweifelhaft ausfallen müssen. Das Hauptsächlichste ist wohl Folgendes.

E rstens halte man in der Ausdehnung der Komposition Maass; man trachte nicht so viel wie möglich, sondern nur Antheilwürdiges, und von diesem auch nur Einiges, lieber zu wenig als zu viel, zu geben.

Zweitens halte man an der folgerechten Entwickelung der verschiednen Sätze aus einander nur so weit fest, als daraus keine Einförmigkeit der Gestalten zu befürchten ist. Wären daher die Motive No. 54, 55, 56, 58, jedes für sich betrachtet, auch vom höchsten Interesse : so würde es doch unklug sein, sie zu künstle- rischer Wirkung nach einander abzuhandeln. Vielmehr trachte man, die Reihe stetiger Entwickelungen da, wo sie zu ermüden droht, durch abweichende Gestaltungen zu unterbrechen, das Ganze durch

6*

Digitized by

84

Uebergang zur Komposition.

den Gegensatz verschiedner Bildungen und Karaktere mannigfaltiger und anziehender zu machen.

Drittens wisse man bei Motiven, die kein zu langes Behar- ren rathsam machen, oder bei Thematen von ungünstiger Länge oder Konstruktion selbst innerhalb der einzelnen Variationen mit den Motiven oder der Weise ihrer Benutzung angemessen zu wech- seln. —

Die Unzulänglichkeit dieser und ähnlicher äusserlicher Regeln leuchtet ein. Doch darf ihre Betrachtung und einstweilige Beobach- tung, bis wir uns auf einem höhern Standpunkte befestigt haben, nicht verschmäht werden ; ihre günstige Einwirkung lässt sich an" den Kompositionen gar vieler zum Theil hochverehrungs würdiger Künstler gar wohl erkennen. Wir tragen kein Bedenken, einen unsrer grössten Meister, W. A. Mozart, als vollwichtiges Bei- spiel aufzuführen.

Die zahlreichen Leistungen desselben in der Variation scheinen vom grössern Publikum bei Seite gelegt. Unstreitig ist ein Theil derselben zu sehr irgend einer flüchtigen Veranlassung entsprungen, als dass man jenes thatsächliche Urtheil ungerecht finden könnte ; auch ist eben in dieser einfachen Form die Entfaltung reichern und klangvollem Spiels, wie es unsre Zeit (S. 47) mit Recht fodert, allzu ungern zu missen. Demungeachtet findet sich auch in diesem Kreise so manches Feine, Anmuthige, tiefer beseelte, ja oftmals so entschiedne Ueberlegenheit des Inhalts vor vielen glänzenden neuern Kompositionen : dass der Kenner gern darauf zurückkommt, und weder billigen noch fürchten kann, es werde auch das Gute mit dem Geringem der Vergessenheit zum Raube.

Hier nun, auf der Gränze zwischen äusserlich abgefertigten und solchen Arbeiten, in denen sich schon der erwecktere Geist des Künstlers geltend macht, kann jene äusserliche Angemessenheit am deutlichsten beobachtet werden.

Bei mässig langen Thematen (meist von zweimal acht Takten) beschränkt sich Mozart gern und klüglich auf die Zahl von sechs bis zwölf Variationen, selbst da, wo er sich für die Lösung der Aufgabe mehr als gewöhnlich angereizt fühlt; wie z. ß. in den />dur- Variationen, die das Finale der fünften Sonate (des ersten Breitkopf-Härtel'schen Hefts, No. 5 der neuen Einzelausgabe) bil- den, oder in den G dur- Variationen auf das alte Lied: »Unser dum- mer Pöbel meint«.

Ueberall findet sich eine gewisse Stetigkeit der Entwickelung, die meist übereinstimmende Schritte macht und sogar äusserlich leicht zu bezeichnen ist. Die einfachem und kenntlichem Varia- tionen gehen voran, die bewegtem oder zusammengesetztem und entferntem folgen ; später fehlt es selten an einem Adagio mit sehr

Digitized by Google

Kunstform der Variation.

85

verzierter Kantilene (auch wohl Minore) , worauf dann ein lebhafte- rer walzer- oder menuettartiger Satz schliesst.

Mit dieser Stetigkeit des Fortschrittes geht die Sorge für Ab- wechslung Hand in Hand ; auch sie ist äusserlich leicht erkennbar. In den so manches Artige enthaltenden Variationen auf das Lied : »j4A / vous dirai-je, Mamam* vielleicht am deutlichsten. In der ersten Variation wird das Thema (wir haben es mit Buchstaben übergeschrieben) in der Oberstimme leicht figurirt,

a g g

|^~77 iTMßßßfitßtiißTTf LLf f.ffrr*

77

worauf in der zweiten Variation eine ähnliche Figur in der Unterstimme

78

als Begleitung zu anziehendem! Gesang der Oberstimmen wieder- kehrt. In der dritten Variation fasst die Oberstimme das Thema in freierer harmonischer Figuration in Achteltriolen ; dieselbe Be- wegung wird in der folgenden von der Unterstimme als Begleitung benutzt. Darauf folgt ein artig und sinnig weiter geführtes Wech- selspiel beider Stimmen,

79

IpX r 7 t T 7 ^ T 7 * T

und nach zwei bewegten Variationen für die Unter- und für die Oberstimme ein fein empfundnes Minore mit nachahmenden Stim- men, und ein ähnlich gestaltetes munteres Maggiore. Eine beweg- tere, auf harmonische Figuration gegründete Variation regt frische- res Leben an, worauf ein sinnig und zierlich geführtes Adagio und ein spiel vollerer Satz den Beschluss machen. Das [Ganze ist voll artiger und empfundner Nüancen, was sich aus den obigen An- deutungen (die nur den Nachweis der Gestalten bezwecken) nicht weiter entnehmen lässt**.

Bei andrer Gelegenheit dient dem tiberall, im Kleinen wie im Grossen so glücklich berathnen Meister ein Wechsel der Motive

f-

* Heft 2 der Breitkopf-Härtel'schen Gesaramtausgabe , neuntes Thema (No. 9 der neuen Einzelausgabe).

** Aehnliches Verhalten zeigt sich in den vierhändigen Gdur-Variationen im achten Heft der gesammelten Werke (in neuer Ausgabe auch einzeln er- schienen).

86

Uebergang zur Komposition.

oder ihrer Anwendung, um, besonders bei einfachen Thematen, Mannigfaltigkeit in die Ausführung zu bringen, ohne die Einheit des Inhalts zu verlieren. Dies zeigt sich deutlich in den ,4dur- Variationen, die mit ein Paar andern Sätzen als Sonate im ersten Hefte der gesammelten Werke abgedruckt sind.

Das Thema schliesst, wie schon S. 56 gesagt ist, sowohl den ersten, wie den zweiten Theil im Hauptton, und setzt beide Vor- dersätze deutlich und gleichmässig auf der Dominante ab ; unstrei- tig eine bedenkliche Einförmigkeit der Konstruktion, wenn man er- wägt, dass dieselbe sich durch alle Variationen wiederholen wird. Noch ungünstiger erscheint aber endlich das Thema (so anmuthig es ausserdem ist) dadurch, dass der Inhalt des ersten Vordersatzes sich fast unverändert mit Ausnahme der für die Konstruktion nöthigen Abweichungen im Nachsatze des ersten und zweiten Theils wiederholt.

Was nun der Grundlage (dem Thema) an Mannigfaltigkeit ab- ging, musste der Komponist in den Variationen durch wechselreiche Anordnung vergüten. Das durchgehende Mittel war aber, die Ab- schnitte des Thema's zu Wendepunkten der Variationen zu benutzen. So wird in der ersten Variation im Vordersatze des ersten Theils dieses Motiv

Andante grazioso.

eis d eis

80

durchgeführt, der Nachsatz aber verweist die Sechzehntelbewegung in den Bass und nimmt in den Oberstimmen

s^Ti i 1 1 srrrrr^srrr

Sva

festere Melodie; der zweite Theil ergreift wieder das erste Motiv (No. 80), zum Schluss aber kehrt das andre (No. 81) wieder. Eben so hat in der zweiten Variation die Oberstimme das melodisch ver- zierte Thema, der Bass aber harmonische Figuration in Sechzehn- teltriolen als Begleitung; beim Nachsatz übernimmt die Oberstimme die Triolen (und in ihnen die Melodie), und der Bass befestigt in Achteln die Taktbewegung. Im zweiten Theil wechseln beide For- men genau wieder, wie in der ersten Variation. Die dritte Varia- tion (Minore) bringt die Melodie in einer fliessenden Sechzehntel- figuration, unter Sechzehntelbegleitung des Basses.

Digitized by Google

Kunst form der Variation. 87

1% f

" "

m- 4fcaa i

1 r»(rfi -

.

Hier würde Umkehrung der Figuren wenig Erfolg gehabt baben; Mozart unterscheidet daher die Partien, genau wie in den vorigen Variationen, wenigstens durch Oktavverdoppelung der Ober- stimme im Nachsalze des ersten und am Schlüsse des zweiten Theils. In der nächsten Variation war der gewohnte Wechsel gar nicht rathsam, und der erste Theil wurde einheitvoll durchgeführt. Doch iässt es Mozart nicht dabei bewenden; er bildet den Vordersatz des zweiten Theils ganz abweichend, ja fremd, und kehrt mit dem Nachsatz auf das ursprüngliche Motiv zurück. Aehnliches Verhalten ist auch in den letzten Variationen zu bemerken.

Solche Behandlungsweise ist nicht bloss in den Mo z art'schen, sondern auch in Haydn'schen, in den frühern Beethoven'schen und unzähligen neuern Variationen bis auf diesen Tag zu beobach- ten. Sie geht so einfach aus der Natur der Sache hervor, dass auch das innerliche Gesetz unsrer Kunstform zunächst auf sie hinführt, man also auch hier in der Uebereinstimmung der Meister nicht etwa ein Herkommen (Th. II, S. 7), sondern die Wirkung eines allgemeinen Vernunftgrundes erkennt. Herkommen , todte Regel, unfruchtbare Manier ist nur vorhanden, wo man nicht auf den Vernunftgrund hat dringen wollen.

Der natürliche oder vielmehr kunstvernünftige Ursprung unsrer Kunstform ist nämlich und hierauf leiten alle bisherigen Betrach- tungen und Uebungen hin kein andrer, als

liebevoller Antheil des Komponisten an seinem

Thema,

und zwar an einem liedf örmigen und in sich befriedigend abgeschlossnen. Schon einmal haben wir uns in Themate ver- tieft und sie zu höherer Geltung erhoben ; das war in der Fugen- form, einigermassen auch in den Figural- und Nachahmungsformen der Fall. Allein hier war das Thema keineswegs in sich befriedi- gend abgeschlossen, schon an sich ein Kunstwerk; selbst das voll- kommenste Fugenthema konnte nicht vollkommen befriedigend, kein selbständiges Kunstwerk genannt werden, weil es der Harmonie und jeder mehrseitigen Entfaltung entbehrte. Daher eben regten jene Themate nothwendig zu polyphoner Behandlung an ; es traten die anfangs fehlenden Stimmen herzu und wetteiferten mit der

Digitized by Google

88

Uebergang zur Komposition.

ersten und unter einander, das Thema in mannigfachen Bezieh- ungen zu zeigen und damit ein Kunstwerk erst zu schaffen.

Das Thema zu Variationen ist ein Lied, also ein in sich ab- geschlossnes und an sich ohne Weiteres befriedigendes Kunstwerk. Wiefern ein solcher schon in sich vollkommner Satz sich mit an- dern Sätzen und Gängen zu einem grössern Ganzen verbinden könne, ist theils in der Lehre von der Liedform (Th. II, S. 27 gewiesen worden, und wird in den nächsten Abtheilungen noch weiter zur Sprache kommen. Hier aber, in der Variationenform, ist es das Lied an sich allein, das unsern Antheil festhält.

Der nächste Ausdruck dieser Theilnahme ist, dass wir bei ihm weilen, dass wir das lieb gewonnene Lied wiederholen.

Nun aber ist es psychologisch unmöglich, lange bei der blossen Wiederholung zu verweilen. Unser Antheil mag sich steigern oder nachlassen, so kommen wir zu der beabsichtigten Wiederholung mit einer andern Stimmung heran, wär1 es auch nur eine gleichartige, aber erregtere oder gemilderte. Dann aber ist bei der Regsamkeit unsers geistigen Lebens inneres Fortschreiten , selbst bei äusserm Verweilen, nothwendig, ja unvermeidlich ; wir werden bei demsel- ben Gegenstand erst allgemeiner, dann mehr im Einzelnen, erst an dieser Seite und diesen Momenten, dann an andern theilnehmen : sogar Fremdes kann seinen Einfluss äussern. Und wenn wir die- sem Wandel unsers innern Lebens, während es auf denselben Ge- genstand gerichtet bleibt, Raum geben, wie Wahrheit und Natur verlangen, so werden eben aus den Wiederholungen, die unsre Neigung uns abverlangte, Veränderungen.

Es versteht sich, dass Neigung und fortschreitende Stimmung mit ihren Aeusserungen nicht Gegenstand der Lehre und Uebung sein können. Eben so deutlich erkennt man aber in diesen See- lenzuständen den Urgrund der Kunstform und aller ihrer Regeln und Hervorbringungen, die wir bisher mehr von aussen her, zum Zweck der Vorübung und äusserlicher Orientirung zu uns herangezogen haben; und nicht weniger haben alle Abweichungen vom Rechten keinen andern Grund, als dass wir etwas Andres gethan, als Neigung und fortschreitende Stimmung verlangten, oder dass wir unsre Empfindung nicht so weit geläutert und erho- ben, unsre Bildung nicht genugsam gesteigert haben, um damit dem Standpunkt unsrer Zeit zu entsprechen.

Kaum möchte sich irgendwo ein edler Bild finden, wie Neigung und Stimmung sich auf das Reinste und Bescheidenste künst- lerisch ausgeprägt haben, als in den Variationen, die Haydn zu dem von ihm gesungnen Volksliede Oesterreichs geschrieben. Das sanfte Lied, das so schön die GemÜthstille eines glücklichen, der väterlichen Herrschaft kindlich geweihten Volks ausspricht, wird

Digitized by Google

Kunst form der Variation.

89

von den vier Instrumenten* sanft und erhebend vorgetragen. Dann übernimmt die zweite Violine die Melodie, und die erste umgiebt sie schmückend mit einer anmuthigen Begleitung ; dies ist die erste Variation. In den beiden folgenden Variationen haben erst das Violoncell, dann die Bratsche die Melodie und die andern Instru- mente figuriren dagegen. In der vierten und letzten Variation ist die Melodie wieder in die erste Violine zurückgekehrt und wird durch bedeutendere Harmonie und einfache, aber gefühlte Wendun- gen zu höherer Weihe entzündet. In ähnlicher Weise, aber durchaus heiterm Sinn hat dieser freudigste und heiterste aller Ton- dichter in der G dur-Symphonie** ein Thema seiner Arie aus den Jahreszeiten, »Schon schreitet froh der Ackersmann«, durchgeführt.

Wenden wir uns zu den Werken für unser Instrument zu- rück, so ist es Beethoven, der Vollender der Klaviermusik, der sich mit innigster Hingebung und folglich auch im höchsten Sinn und Gelingen der Variation gewidmet hat. Es sei hier nicht mehr von seinen frühern Arbeiten, eben so wenig von der Verwendung unsrer Form in der siebenten und neunten Symphonie, in der Eroica, in dem grossen Ädur-Trio (Op. 97), im Septuor und An- derm die Rede, sondern nur von drei besondern Werken.

Das erste ist die Äs dur-Sonate Op. 26, deren erster Satz ein Thema mit Variationen bildet. Beiläufig kann die ganze Sonate, wie fast alle Beethoven'schen, als Muster sinnvoller, vielseiti- ger, wahrhaft dichterischer Behandlung des Instruments gelten. Das Variationenthema ist ein nicht entlehntes, sondern aus tiefer, sehnsuchtvoll sich steigernder Empfindung hervorgetreten. Dieser innere Sinn bethätigt sich in jeder der Variationen, oder vielmehr, er schafft sie. Der erste Aufschritt des Thema's, es-as,

Andante.

83

TT*

wird, in solchem Sinn höher beseelt, gleich zum Motiv der ersten Variation;

84

* In dem Cdur-Quartett, No. h der Trau t wein'schen Ausgabe. ** No. 6 der Breitkopf-HärteTschen, No. 8 der Bock'schen Partitur ausgäbe.

Digitized by Google

90

Uebergang zur Komposition.

die Empfindung bestimmt, verstärkt, vermannigfacht sich mit jedem Schritte mehr, wenn das verlangende Motiv bald immer höher em- pordringt, bis in die vierte Oktave vom Anfang, bald schüchtern und verschlossner in die ursprüngliche Region zurücksinkt. In der zweiten Variation ist Alles in Bewegung aufgelöst, das Thema im Tenor, das Emporstreben noch mächtiger waltend. Derselbe Zug, aber in vergrämter Stimmung, bedingt den Gang der folgenden Va- riation (Minore), und es ist eine Folge davon, dass die nächste Variation (Maggiore) milder und tröstend, aber nicht festgestellt, zwischen Höhe und Tiefe, Aufschwung und Zurücksinken gleichsam schwankt. Die letzte Variation giebt das Thema, zwischen Dis- kant und Alt abwechselnd vertheilt, in bewegter, aber doch sichrerer Weise, und schliesst mit wohlthuend süsser Beschwichtigung. Der tiefere Sinn des Ganzen und namentlich des Schlusses würde wohl nur durch einen Hinblick auf die folgenden Sätze der Sonate zu deuten sein, den wir uns hier versagen müssen.

Noch abgeschlossner in innerer Einheit sind die Variationen, die den Mittelsatz der unsterblichen Fmoll- Sonate (Op. 57) bil- den*. Auch ihr Sinn ist nicht anders, als aus dem Zusammen- hang des ganzen Tongedichts, namentlich aus dem vorangehenden Satze, tiefer zu erkennen. Genug, nach gewaltigem Sturm, in dem leidvolle und selige Klänge, Leidenschaft und ödes Versinken schei- nen vorübergeweht zu werden , setzt sich nun in leiser , dunkler Tiefe, höchst zusammengehalten, verlangenvoll wie ein Gebet in tiefster ümfinsterung, das Thema fest. Die erste Variation wie- derholt es nur zagender,

(Thema.)

Andante con moto.

J ' JL

p e dolce r

Var.

\ jV. s. w.

1

7> !-

die Melodie ist gebrochen, der Bass schleppt zögernd, aber festge- schlossen nach. Tröstlicher, in milderer Tonlage und sanft bewegt, bringt die folgende Variation den gelöstem Gesang und führt un- mittelbar in die dritte über, in der das Thema in zarter, feiner Weise, wie zu Harfenbegleitung

* Ein ähnlicher Satz, nur von mindrer Bedeutung, ist das Andante der Gdur-Sonate Op. H.

Digitized by Google

Kunstform der Variation

91

intonirt wird. Mit etwas erweiterter Ausführung leitet dieser Satz zum Thema in tiefer und mittler Lage, in erster Einfachheit, abef von bewegtem Motiven angeregt, zurück, dann aber was nicht weiter hierher gehört in das unruhige, mächtig strebende Finale der Sonate hinein. Nirgends möchte sich eine so eng geschlossne, so durchaus stetige, an den (äusserlich genommen) einfachsten Mo- tiven sich genügen lassende Entwickelung wiederfinden, als hier. Aus tiefster Verlassenheit trostvoll emporgeflügelte, wieder in sich zurückkehrende Andacht.

Das dritte Werk, das hier, wenn auch nur flüchtig , zur Anregung, zur Hindeutung auf Höheres, erwähnt werden muss, ist das Finale der Cmoll-Sonate, Op. \ \ \. Ein tief empfundnes, von zarter, inniger Wehmulh überfliessendes Thema wird hier in höch- ster Stetigkeit, aber auf das Reichste weiter und weiter ausgeführt ; beunruhigter, dann anmuthig erregt aber in den elegischen Grund- ton der Stimmung zurücksinkend, neu ermuthi^t und in kühnem Schwünge sich aufraffend, später in tiefster Versunkenheit ; wer wagte, den überreichen geheimstverhüllten Seelenbewegungen über- allhin mit Worten zu folgen !

Wir dürfen diesen Punkt, mit dem sich die erste Reihe unsrer Mittheilungen und Uebungen abschliesst, nicht verlassen, ohne zweierlei

Betrachtungen

anzustellen.

Die erste.

Ueberblicken wir sämmtliche Motive der Variationen aus der Fmoll-Sonate (No. 85 und 86), oder die der ^lsdur- Variationen und der von Mozart angeführten : so muss, zumal bei den erstge- nannten, auffallen, dass diese Motive weder so zahlreich, noch so eigenthümlich ausgebildet erscheinen, als wir nach den Vorübungen der vorigen Abschnitte für uns selber leicht erreichbar achten dürfen. Dass hier nicht an Dürftigkeit der Erfindung oder Ausbildung ge- dacht werden darf, versteht sich bei dem hohen Namen der Meister von selbst; hat doch Beethoven eben in der Variationenform das Tiefste und Eigenthümlichste geschaffen, das ihr je zu Theil ge- worden, und gehören doch die zuletzt erwähnten Variationen zweien seiner eigenthümlichsten und mächtigsten Werke an.

Digitized by

92

lieber gang zur Komposition.

Eben hierin erkennen wir, dass ein Höheres, als das Trach- ten nach äusserm Reichthum oder originalen Einzelheiten die Mei- ster geleitet hat, dass sie treu und rein der Stimme des Herzens oder der Idee ihres Werks gefolgt sind, und eben hierin sich und ihren Beruf am höchsten geehrt haben. Sie würden aber weder die Kraft noch den Muth dazu besessen haben, wenn nicht das redlichste und erfolgreichste Streben für ihre künstlerische Ausbil- dung vorangegangen wäre und sie in den Stand und das Recht ge- setzt hätte, nur der innern Stimme zu folgen. Auch ein minder Ausgebildeter hätte gar leicht auf Erfindungen, wie die in No. 86 aufgewiesnen, kommen können. Aber in dem geheimen Bewusstsein seiner Beschränkung würde ihm das Gefundne, weil es nichts hinter sich hätte, ungenügend, trivial erscheinen, und er würde unwiderstehlich zu Gesuchterm hingetrieben werden, oder an dem für ihn Dürftigen gefesselt stehn bleiben.

Die zweite.

Hier zum erstenmal ist nicht zu umgehn gewesen, von einem tiefern Sinn, der Kunstwerken inwohne, Erwähnung zu thun.

Dass vielen Kompositionen tieferer Sinn als blosses Tonspiel oder bloss dunkles Gefühl inwohnt, dass viele von einer mehr oder weniger lichten und bestimmten Idee angeregt und aus ihr heraus gebildet sind : sollte füglich nicht bestritten werden, da alle Meister unsrer Kunst theils in ihren Werken (und zwar in ihren höchsten, aus der reifsten und kräftigsten Periode ihres Schaffens) , theils mit ausdrücklichen Wor- ten davon Zeugniss ablegen, und man wohl kein gültiger Zeugniss erwarten kann, als von denen, in welchen die Kunst ihre höchsten Lebensmomente erreicht, die selbst nichts anders, als ein Verkör- perung, Individualisirung der allgemeinen Kunstidee sind. Bezwei- felt hat die Wirklichkeit eines solchen höhern Geistes in der Musik nur deshalb werden können, weil diese Kunst am weitesten ent- fernt ist von der Fähigkeit klar bestimmten und unzweideutigen Aus- drucks, weil in ihr der Geist in seinem innerlichen Verhülltsein und Geheimniss lebt, und weil derjenige Beobachter, dem die innerste Idee des Kunstwerks entschlüpft oder ganz verborgen bleibt, an den mannigfachen Aeusserungen f Ur Sinn und Gefühl noch einen so Überreichen Inhalt empfängt, dass er sich trösten und mit einigem Schein der Wahrheit überreden kann, da sei schon der ganze In- halt des Werks.

Das Dasein eines solchen tiefern Inhalts unsrer Kunst dem Jünger verhehlen wollen, wär' ein eben so unbefugtes als unaus- führbares Unternehmen; die Werke und Worte der Meister und

Digitized by Google

Kunst form der Variation.

93

früher oder spiiter die eigne Ahnung der nach dieser Seite Beruf- nen zeugen zu laut.

Allein die weitere Erörterung gehört nicht der Kompositions- lehre zu, sondern muss der Musikwissenschaft* vorbehalten blei- ben, und zwar deswegen, weil die Entstehung oder Bildung der Ideen und Gemüthzustände und deren Darstellung in Kunstwerken nicht Gegenstand der Lehre und Uebung sein können. Jener geistige Inhalt kann nicht gegeben und gesucht werden, sondern nur aus dem Gesammtieben hervortreten; ihn und seine Ausgeburt in Tö- nen haben wir nur als höhere Gabe zu empfangen. Und wenn in der That bisweilen die anregende Idee einem Künstler von aussen gegeben worden : so konnte sie sicherlich nur Leben gewinnen, wenn sie verwandte Geistesrichtung und -Regung bereits vorfand ; sie konnte nur wecken, was schlummernd oder traumhaft wirklich schon da war.

Schon aus diesem Grunde müssen wir dem Jünger sogar ausdrücklich rathen, jenem geistigern Gehalt nicht willkürlich nachzustreben; er ist seiner Natur nach nicht oder nur ausnahmweise von unserm freien Willen abhangig. Eigen- willig aber ergriffen, leitet dieses Trachten, das dann ein missver- ständiges zu nennen ist, gar leicht aus der reinen und sichern Sphäre unsrer Kunst in Regionen, wo unmittelbar und durchaus Musi- kalisches sich fremden Geistesbethä tigun gen anlehnt und mit ihnen zusammengeht in eine neue und höhere Einheit. Hier droht aber dem nicht ganz Durchgebildeten und Gekräftigten die Gefahr, an seinem musikalischen Gehalt einzubüssen, ohne des höhern theilhaftig zu werden, ja diesen zu suchen, wo er in der That gar nicht zu finden ist.

So werden wir denn auch hier von der Lehre selbst an ein Über alle Lehre und Uebung hinausliegendes Höheres erinnert, des- sen wir uns durch die gewissenhafteste Bildung würdig und viel- leicht theilhaftig zu machen haben**.

* Einiges ist darüber in der Schrift des Verf. »Die alte Musiklehre im Streit mit unsrer Zeit« gesagt. ** Hierzu der Anhang

Digitized by Google

Zweite Abtheilung.

Die kleinen Rondoformen.

In der vorhergehenden AbtheiluDg haben wir den Anfang ge- macht mit den Studien des Instrumentalsatzes, und zwar mit dem Klavier. Diese Studien wurden unter Anwendung der leichtesten Formen angestellt, solcher, die uns dem Wesen nach schon be- kannt waren.

Auch jetzt bleiben wir bei dem Klavier : aber wir wenden uns zu neuen Formen, und zunächst zur Rondoform. Diese neuen Formen, die sich bald als Zusammenstellungen älterer einfacher zu erkennen geben werden, sind so wenig wie die bisher betrachteten dem Klavier ausschliesslich eigen. Aber sie finden bei ihm ihre leichteste Anwendung, und ihre Vorübung wird höhere Instrumen- talstudien auf das Erwünschteste erleichtern, während sie selbst in Hinsicht ihrer Anwendung auf das Klavier schon in den Uebungen der ersten Abtheilung genügende Vorbereitung finden. Aus dem letztern Grunde und zur Ersparung des Raumes werden wir uns auch oft gestatten dürfen, statt ausgeführter Sätze bloss Entwürfe zu geben.

In der Variationenform war der als Thema dienende Ii ed för- mige Satz so entschieden Hauptsache, dass neben ihm gar nichts Andres Raum fand, alles Weitere nur Veränderungen, Zusätze u. s. w. an ihm waren. Insofern waren wir mit dem ganzen Streben wesentlich nicht über das Lied hinausgekommen ; jede Variation ist im Grunde nichts als eine modifizirte Wiederholung des Liedes.

Wie nun, wenn wir über das Lied hinaus gehn wollen? wenn dasselbe, das uns Thema geworden, gleichwohl nicht voll- kommen befriedigt, wir noch ein Andres, das nicht im Liede liegt, begehren?

Dieser Gedanke leitet auf die weiter noch bevorstehenden Formen.

Jenes Andre, zu dem wir uns noch nach unserm Liedsatz, er soll nun, in Bezug auf seine Bestimmung als Haupttheil eines grössern Ganzen,

Hauptsatz

heissen, getrieben fühlen, kann Gang oder Satzkette, Satz oder Periode oder Lied, also mit einem Worte

t

Digitized by Google

Die erste hondoform.

95

Gang oder Satz sein, und zwar Beides in homophoner oder polyphoner Weise.

Lassen wir einem vollkommen abgeschlossnen Liedsatz einen andern für sich bestehenden ohne innere und feste Verbindung fol- gen, so erhalten wir keine neue Form sondern nur eine Folge ver- schiedner an einander gereihter Liedsätze, dergleichen wir schon im zweiten Theil der Lehre, S. 79, kennen gelernt. Neue Formen dagegen entstehn, wenn verschiedne Sätze, oder Sätze und Gänge sich zu einem nicht bloss äusserlich aneinandergestellten, sondern innerlich zusammenhängenden, festverbundnen Ganzen einigen.

Die Natur und Zahl der in Verein tretenden Einzelheiten und die Weise ihrer Verwendung und Verknüpfung begründen den Un- terschied der hier entstehenden Formen.

Zunächst sind zweierlei Fälle zu unterscheiden.

Entweder bleibt jener Liedsatz, von dem wir ausgehn, allei- nige r Hauptsat z , gegen den alles Weitere nur Nebensache ist, und der daher auch seine abgeschlossne Form festhält. Oder es tritt neben den einen Hauptsatz noch ein zweiter oder noch meh- rere mit gleichem Antheil und Rechte, weshalb denn auch die im andern Fall abgeschlossne Form sich löst und ändert. Die erstere Reihe von Formen fassen wir unter dem Namen

Rondoform

zusammen. Einstweilen denke man dabei der alten Form des Rundgesangs (Rondeau), in dem ein Einzelner, oder Einer nach dem Andern einen Vers singt, und am Schlüsse jedes Verses der Chor den Refrain wiederholt, der sich mithin als Hauptsatz geltend macht.

Das Nähere stellen wir gleich mit praktischen Versuchen vor. Für die beiden ersten Rondoformen setzen wir ohne weitere Er- klärung (sie folgt im dritten Abschnitte der nächsten Abtheilung) fest, dass sie im langsamen Zeitmaasse dargestellt werden sollen.

Erster Abschnitt. Die erste Rondoform.

Wir gehn von einem Liedsatz aus, der nun

Hauptsatz

werden, mithin wie schon der Name andeutet noch eine wei- tere musikalische Ergiessung, noch einen Inhalt ausser ihm selber nach sich ziehn soll.

Digitized by Google

9(3

Kleine Rondoformen,

Dies kann naturgemäss nur der Fall sein, wenn der Satz selber in sich oder im Gemüthe, nach der Stimmung oder Erregung des Komponisten nicht vollkommen befriedigend ist. Denn wäre er an und für sich genuglhuend, so bedürfte es ja keines Weitergehens; vielmehr wär' alles Fernere überflüssig, folglich belästigend und störend.

Woran erkennen wir nun, dass ein formell vollkommen abge- schlossner Satz denn das ist schon dem Kunstnamen nach und ausdrücklich (S. 94) Voraussetzung doch für sich noch nicht be- friedige und weitere Entwickelung ausserhalb seiner verlange?

Da hier allein von innrer Befriedigung die Rede sein kann (denn die äusserliche liegt schon in der formellen Abrundung und Abschliessung), so ist freilich an äusserliche und darum absolut bestimmte Merkmale nicht zu denken. Wir können nur aussprechen : ein Satz ist in sich nicht befriedigend , wenn er eine geistige Bewegung hervorruft, der er selber nicht zu genügen, wenn er einen Inhalt anregt, den er innerhalb seiner nicht zu erschöpfen vermag.

Aber selbst diese Bestimmung ist nicht vollkommen ausreichend. Denn da jeder geistige Inhalt einer uner messlichen Erweiterung nach den verschiedensten Seiten fähig ist, so hängt es grossentheils von der Individualität und jedesmaligen Stimmung ab, wo man sich be- gränzen und nach welcher Seite man sich ausbreiten will. Diese Unmöglichkeit absoluter Bestimmung ist aber nicht ein Schade, son- dern eine Wohlthat; denn auf ihr beruht die Freiheit der Kunst, die Möglichkeit für jeden einzelnen Künstler, sich in seiner Weise frei und eigenthümlich zu entfalten. Auch die Lehre hat sich nicht zu beklagen. Ihre Aufgabe ist ja keine andre, als zur Freiheit zu fuhren, alle Wege zu ihr zu eröffnen.

Um Raum zu sparen, wählen wir einen schon Th. II, S. 328 unter No. 483 gegebnen Liedsatz. Wir nehmen an, er sei klavier- mässig geschrieben (er ist allerdings mehr im Sinne des Orchesters gedacht, und wir werden die Folgen davon zu tragen haben), und lenken ihn entweder, etwa vom elften Takt an in dieser Weise

-

j.

ET

T ttf

(oder in der Th. II, No. 485 angegebnen) zum Schluss im Hauptton. oder behalten ihn vollständig bei und geben ihm einen zweiten Theil.

Digitized by Google

Die erste Rondoform. 97

J * JT

ri± *

jpJJ J J

* -

t y f -

9; r 7^r

r Lr s ^

ft .

dolce

(4 ? U. » p » 1

pj

jl j H

E=i?3==

Im ersten Fall erscheint es ausser Zweifel, dass der gewichtige Inhalt des Satzes in dem Räume von zwölf oder vierzehn Takten sich nicht vollständig ausgesprochen hat. Aber auch mit dem zwei- ten Theil (den wir ohnehin auf das Nöthigste beschränkt haben) werden wir uns noch nicht in der angeregten Stimmung einheimisch und befriedigt finden. Schon der gedrängte Wechsel von zartem höhern Stimmen und wieder zutretendem, gewichtigerm Bass in den letzten Takten ist wenig geeignet, zu voller Ruhe zu fuhren.

Diese letztere Wahrnehmung könnte reizen, dem Schlüsse durch einen Anhang grösser Gewicht und durch stetigeres Weilen Ruhe und Befriedigung zu geben. Das Motiv a in No. 88 leitet auf folgenden Ausgang,

Marx, Komp.-L. III. b. Aufl. 7

Digitized by

98 Kleine Rondo formen.

4—

*^ f

^ 1-

f ^ 7-4* J

i ci6sc> n. •. w.

»»« H

den man nach der Lehre von den Liedformen (Th. II, S. 17) leicht und sicher wird zu Ende führen können.

Jeder, der uns bis hierher gefolgt ist, erkennt sogleich, dass mehr als eine Motivirung des Anhangs möglich gewesen wäre, dass auch die obige auf der Form des Orgelpunkts (Th. I, S. 239) be- ruhende Weise mit einfachem, im Satze selbst liegenden Motiven hätte ausgeführt werden können, während das Motiv b in No. 89 nur entferntere Beziehung auf den Hauptsatz hat. Allein man wird gleichwohl auch unsern Anhang gelten lassen müssen. Nach den mannigfachen Regungen im Hauptsatz und im Gegensatze zu dem ruhenden Basston (mit seinem treibenden Rhythmus) ist lebhaftere, aufwallendere Bewegung wohl motivirt.

Indess eben dieser Sinn, dieses neue Element fodert nun sein Recht; es will gelten, muss sich ausbreiten. So wird denn aus dem Anhang mit dem wir zu schliessen gedachten,

ein Gang,

oder wenn man lieber will ein gangartiger Satz, der im er- sten Takt in No. 89 anhebt und mit dem Eintritte des fünften schlies- sen wird. Volle Befriedigung kann dieser Satz schon darum nicht gewähren, weil er, an den Orgelpunkt geheftet, keinen vollkomm- nen Schluss hat ; er ist eben nur aufstrebende Bewegung vom Hal- teton aus. Daher fodert er Fortführung, oder Wiederholung, oder Gegensatz. Im letztern Falle würde die Form der Periode ent- stehe. Allein die entscheidenden Züge an unsrer neuen Erfindung sind unstreitig der festgehaltne Basston und die aufstrebende Bewe- gung. Beides räth statt des Gegensatzes oder der Wiederholung Fortführung an, die wir von Takt 5 in No. 89 so

setzen. Jetzt, nach so langem Fortgang und so bedeutender Erhe-

Digitized by Google

Die erste Rondoform.

99

bung, ist noch weniger daran zu denken, das von No. 89 her Zu- gesetzte als blossen Anhang zu behandeln und damit zu schliessen ; es beruhigt dieser Satz nicht, er regt vielmehr durch Neuheit des Inhalts und Bewegung zu weiterm Fortschritt an. Auch das Satz- artige tritt gegen die verbreiterte und gesteigerte Bewegung immer mehr zurück und das Gangartige wird vorherrschend.

Was soll nun weiter geschehen?

Da wir schon gewiss sind, nicht schliessen zu können, und so lange auf einem Ton festgehalten haben ; so müssen wir jetzt fort- rücken; die Modulation muss frei und beweglich werden. Dies ist das Erste, das feststeht.

Da wir das neue Motiv (b in No. 89) ergriffen und schon zu einem grössern (c in No. 90) ausgebildet haben, so müssen wir auch zunächst daran festhalten; voreiliger Uebergang zu neuen Motiven wäre zerstreuend. Dies ist das Zweite, was wir erkennen, und damit ist der nächste Inhalt, das Motiv c, festgestellt.

Oder ist dieses Motiv vielleicht schon erschöpft? ist es nicht genügend, dass wir es in zwei Abschnitten sechsmal gesetzt haben? Die Wiederholung ist zahlreich genug, aber nur einseitig; sie ist nur in einer einzigen Stimme und nur in einer Richtung er- folgt.

Sollen wir also das Motiv in entgegengesetzter Rich- tung fortführen? Das würde einen zur Ruhe bringenden Karakter bezeichnen und im Widerspruch mit dem nothwendigen Vorsatz sein, die Modulation fortschreiten zu lassen. Es soll also eine andre Stimme, die kräftigste, der Bass unser Motiv übernehmen. Wfir gehn so

<

Iftpfi

7*

Digitized by Google

100

Kleine Rondoformen

weiter. Das Motiv, im Bass und Tenor, dann im Diskant, breitet sich aus und führt auf eine Art von Halbschluss in ilmoll. Hier, mit dem Eintritte des achten Taktes, scheint dem Motiv erst mehr-, seitiges Genüge geleistet.

Nicht aber der Bewegung und dem fremdern Schlüsse. In den letzten Takten sucht der Bewegungstrieb in einer neuen Form Be- friedigung. Wie zuvor das Motiv c erst in der Ober-, dann in der Unterstimme durchgeführt wurde, so wird jetzt das neue Motiv d erst von der Unter-, dann von der Oberstimme dargestellt. Noch einmal (wir schreiben es nicht hin) wird es der Bass von der grossen und dann die Oberstimme von der zweigestrichnen Oktave aus wie- derholen (wobei die Obertöne aus dem letzten Takte von No. 94 wegbleiben mögen) , und dann wird es ebenfalls für befriedigt er- achtet werden können.

Hier halten wir inne und erwägen das Geschehne.

Mit No. 88 schloss ein fester zweitheiliger Liedsatz, den wir zu unserm Hauptsatz ausersehn hatten.

In No. 89, 90, 91 und den nicht niedergeschriebnen zwei Takten ist eine neue Entwickelung erfolgt, deren Inhalt, formell an- gesehn, keine oder nur entfernte Verwandtschaft mit dem Liedsatze zeigt ; selbst die Stimmung ist wenn auch nicht fremd doch eine veränderte, erregtere und anstrebendere im Vergleich zu der gemessenen des Hauptsatzes geworden.

Schon in No. 89 fanden wir in dieser Entwickelung den gang- artigen Karakter vorherrschend. Dies ist noch entschied- ner der Fall bei No. 90, wo der Schluss vermieden, und in No. 91, wo (Takt 8) selbst der schwache Halbschluss sogleich durch neue und flüssigere Bewegung gestört wird.

Digitized by Google

Die erste Rondoform.

101

So dürfen wir denn unbedenklich die ganze Entwicklung für nichts Andres, als einen Gang erachten, einen Gang, der (wie jeder grössere und organisirte Tonerguss) seine Abschnitte zeigt und zu einem Abschlüsse hinneigt.

Wir haben uns also vom Hauptsatz entfernt, sind über ihn hinausgegangen. und zwar mit neuen Motiven. Aber wir sind nicht zu einem neuen Hauptgedanken, nur zu vorübergehenden Vorstellungen gelangt; denn ein neuer für sich geltender und be- stehender Gedanke hätte in sich abschliessen, abschliessende Form annehmen, das heisst Satz oder Periode werden müssen.

Hiermit ist nun, auch abgesehn vom Gange der Modulation, so viel festgestellt:

dass wir mit dem Gange, der uns zuletzt beschäftigt hat, nicht füglich schliessen können.

Das Festere und damit Entscheidende (der Hauptsatz) war vorausgegangen, und wir sind jetzt in einem in sich selber nicht Abgeschlossnen begriffen; wie sollte das ein höheres Ganzes ab- schliessen können?

Es muss also noch ein Satz folgen, entweder ein neuer, oder die Wiederholung des schon dagewesnen Hauptsatzes. Wir entscheiden uns für das Letztere, vor allem, weil es das Einfachere und Einheitsvollere ist; tiefer greifende Gründe werden sich bald von selbst ergeben.

Allein der Gang hat sich weit vom Hauptsatz entfernt; es ist nattirjich und wohlgerathen, dass mit dem Vorsatze, zu ihm zurück- zukehren, auch die Gedanken sich auf seinen Inhalt richten. Hier

92 <^

forte

sff ten.

5

Digitized by

102

Kleine Rondo formen.

-

haben wir, mit einer Erinnerung an Takt 13 des ersten, oder Takt 7 des zweiten Theils (Takt 8 in No. 88), auf den Hauptsatz zurtick- gelenkt; dies war auch der geeignete Punkt, zu so vielen aufstre- benden Bewegungen den Gegensatz zu geben, der aus dem erreg- tem Gang in die Stille des Hauptsatzes zurückführte. Die Modulation hat sich so gemacht, dass wir den Schlusston (die Do- minante von i4moll) als Mediante der neuen Tonart (des wieder- kehrenden Haupttons) festhielten, ja in den letzten Takten verstärkt

Nunmehr wird der Hauptsatz vollständig wiederholt. Werden wir mit ihm schliessen? Es kann geschehn. Allein der gangartige Mittelsatz, der in No. 89 begann, muss sich so tief eingeprägt haben, dass wir uns schwerlich beruhigen werden, ohne auf ihn zurückgekommen zu sein. Es könnte von Takt 4 in No. 89 ab so

93

I

bis

i H"" * -J-g-d .

LLlj 1

IM-J--M=HN

9i

f

f

zum Schluss gegangen werden. Nun ist jener zuerst in NoT erschienene Satz dennoch zum Anhang geworden. Dort war das unzulässig, vielmehr trieb seine Neuheit und Weise vorwärts. Jetzt bedürfen wir sein, um auch durch diese Erinnerung das Ganze ab- gerundet und abgeschlossen zu fühlen ; sein schon bekannter Inhalt kann nicht mehr zu Weiterm erregen.

Digitized by Google

Die erste Rondoform.

103

Hiermit haben wir unser Tonsttick beendigt. Betrachten wir es im Ganzen, so besteht es aus

Satz, Gang und Satz.

Da nun der Satz das in sich Abgeschlossne, in sich Beruhende, der Gang aber das Bewegsame, nicht in sich selber, sondern in et- was Anderm SchJuss und Ziel Findende ist, so tritt uns hier wieder der Urgegensatz und die Grundform aller musikalischen Gestal- tung,

Ruhe, Bewegung, Ruhe, entgegen, die wir zuerst (Th. I, S. 23) im Gegensatze von Tonika und Tonleiter, dann von tonischer und dominantischer Harmonie, später im dreitheiligen Liede (so wie, unentwickelter, im zweithei- ligen und jeder Periode) gefunden hatten. Es bestätigt sich wieder einmal das Fortwirken unsrer ersten Erkenntnisse, wir werden es durch alle Formen hindurch verfolgen können, wenn sich auch nicht immer Zeit findet, es aufzuweisen.

Daher ist einleuchtend, wie nahe die jetzige Form mit früher erkannten, namentlich dem dreitheiligen Liede, zusammentreffen muss. Besonders in vielen Polonaisen besteht der zweite Theil (bis an die Wiederkehr des ersten als dritten) oft nur aus gangartigem Passa- genwerk. Nur erscheinen im Rondo, wie wir es bis jetzt kennen, die Massen viel ausgebreiteter und vollständiger organisirt. Der erste und dritte Theil eines Liedes war nur Satz oder Periode; der Hauptsatz des Rondo's ist ein zweitheiliges , kann auch , wie Jeder erräth, ein dreitheiliges Lied sein. Auch die mittlere Masse ist in gleichem Verhältnisse nicht bloss weiter und reicher, sondern dabei auch bestimmter organisirt, damit sie bei ihrer Ausdehnung noch fest und fasslich bleibe.

Ja es könnte selbst jene Th. II, S. 329 betrachtete Form, die auf einen Liedsatz ein Fugato folgen lässt und mit der Wiederholung des Liedes schliesst, mit unsrer neuen Form verglichen werden, und das Fugato ungeachtet seines bedeutendem Inhalts, im Vergleich seiner beweglichen Weise zu der festen des Lieds, als gangartiger Miltelsatz gelten.

Dass übrigens unser obiges Beispiel in vielfacher Beziehung anders hätte ausgeführt werden können, dass man die Modulation zuletzt auf die Dominante des Haupttons lenken, sogar bei der Wiederholung des Hauptsatzes manche kleine Veränderung sich gestatten durfte, sei beiläufig als sich von selbst verstehend in Erinnerung gebracht.

Erwägen wir aber zum Schlüsse noch einmal Inhalt und Dar- stellung unsers Satzes, so müssen wir gestehn, dass er keineswegs dem Karakter des Instruments vollkommen gemäss ist. Es kann dergleichen auf ihm dargestellt werden ; und wer dürfte mit dem

Digitized by Google

104 Kleine Rondoformen.

Künstler rechten, der sich in einer achten Klavierkomposition irgend einer den obigen ähnlichen Wendung bediente? Gleichwohl fühlt man schon dem Hauptsatz an, dass er Vollklang, breite, stille und wohlgebundne, bedeutsame Führung der Stimmen fodert, mehr zu orchestraler als klaviermässiger Darstellung hinneigt. In der That ist jener alte Liedsatz No. 483 des zweiten Theils keineswegs für Klavier, sondern mit der Vorstellung still und breit geführter Streich- instrumente und füllender Bläser erfunden worden. Da nun hiermit der Karakter des Ganzen feststand, so musste auch in allem neu Hinzugekommenen, z. B. in No. 91, jene Richtung nach dem Or- chestermässigen fortwirken.

So wird uns hier eine thatsächliche , obwohl nur äusserlich (S. 96) veranlasste Mahnung, bei der Erfindung gleich von Haus aus uns bestimmte Organe vorzustellen. Wo dies versäumt ist, kann stets nur halbe Wahrheit gegeben werden, wird selbst ein im Uebrigen glücklich Empfundnes oder Ersonnenes unzulänglich her- vortreten ; wie denn die obige Komposition eher für einen Kla- vierauszug gelten könnte, als für ein Klavierwerk*.

Zweiter Abschnitt. Die zweite Rondoform.

In der ersten Rondoform hatten wir uns zwar vom ursprüng- lichen Satz entfernt; wir waren von ihm weggegangen. Aber wir waren auf keinen neuen feststehenden Satz gekommen, sondern wendeten uns zum ersten Satze zurück.

War dies eine Schwäche, ein Mangel?

Keineswegs. Mag man es nun dem hier gewählten Hauptsatze zugestehen oder nicht, so ist doch denkbar, dass ein solcher uns tief erfülle, in sich stark und ausgeführt genug sei, um keinen neuen Gedanken neben sich feste Stellung nehmen zu lassen. Sind wir von dem Ernst, der Feierlichkeit, oder was nun der gewichtige Inhalt unsers Hauptsatzes war , ergriffen : so kann das beweg- liche Gemüth davon weg, darüber hinaus verlangen, um sich gegen jene Einwirkung wieder festzustellen oder sie austonen zu lassen ; aber es kann nicht umhin, darauf zurückzukommen und darin Ruhe und Abschluss zu finden.

Hierin erscheint unsre erste Form erklärt und gerechtfertigt. Zugleich begreift man hieraus, dass der Hauptsatz in derselben in

* Hierzu der Anhang D.

Digitized by Google

Die zweite Hondoform

105

der Regel ein zwei- oder dreitheiliger Liedsatz sein wird. Denn so wenig man die Kraft eines Satzes nach seiner Länge messen wird, so gewiss strebt doch ein wichtigerer oder antheilvoller gefasster Inhalt nach einer gewissen Vollständigkeit der Darstellung.

Allein auch ein Andres ist möglich. Unser Hauptsatz fesselt uns nicht an sich; wir verlassen ihn, um auf einen neuen Satz tiberzugehn. Gäben wir nun hiermit den erstem ganz auf, so würde ein Gedanke den andern verdrängt haben ; es würde eine Reihe an einander gehängter, aber nicht organisch mit einander ver- bundner Sätze vorüberziehn. Auch diese Gestaltung ist möglich, und wir werden sie da, wo sie recht ist, kennen lernen. Hier aber, wo wir uns von einem Hauptsatz angezogen und erfüllt finden, würde sie zerstreuend, also im Widerspruch mit unsrer Voraus- setzung auftreten.

Wir kehren also auf den Hauptsatz zurück. Nun steht der neue Satz eben so zwischen dem Hauptsatz und dessen Wieder- holung, wie in der ersten Form die gangartige Masse. Auch ist er ebensowohl, wie diese, Nebensache im Verhältniss zum Hauptsatze, von dem wir ausgegangen, und auf den wir zum Schlüsse zurückkommen, dessen Name (Hauptsatz) auch nun erst vollkommen gerechtfertigt ist. Im Gegensatze zu ihm wollen wir den neuen Satz Nebensatz, oder , da sich . künftig noch andre Sätze finden werden, denen dieser Name eben so wohl und besser gebührt,

Seitensatz

nennen ; er stellt sich jenem als zweiter, wenn auch untergeordne- ter Satz zur Seite.

Hiermit ist die zweite Rondoform der Hauptsache nach karak- terisirt. Sie enthält

Hauptsatz Seitensatz Hauptsatz,

so wie die erste Rondoform Satz, Gang und Satz enthielt.

Wie wollen wir diese drei (oder eigentlich zwei) Sätze stellen ?

Unstreitig ist es ein bedeutender Schritt, wenn wir in einer Komposition von einem Satze zu einem andern fortgehn. Diesem Fortschritt im Inhalt entspricht auch die Modulation. Sie betritt mit dem neuen Satz auch eine neue Tonart.

Dem Hauptsatze zu Anfang und Ende gebührt, wie sich von selber versteht, der Hauptton. Der Seitensatz stellt sich in eine verwandte Tonart, entweder in die der Ober- oder Unterdominante, oder in die Parallele, oder in sonst eine mit dem Hauptton in Reziehung stehende. Angenommen also, Cdur wäre der Hauptton, so würden sich zunächst folgende Modulations- punkte —

Digitized by

106

Kleine Rondoformen.

Cdur , Gdur , Cdur

C - , F - , C -

C - , ÄmoW , C -

C - , Äsdur , C -

C - , Cmoll , C - zur Auswahl bieten. Wir wollen indess gleich anmerken, dass die Oberdominante von allen als der ungünstigste Modulationspunkt er- scheint, da sie in Dursätzen in der Regel schon im Hauptsatz und Haupttone benutzt worden ist, in Mollsätzen aber Moll auf Moll häufen würde.

In dieser Weise haben wir schon früher (Th. II, S. 79) Lied- sätze mit Trio geschrieben. Aber diese hingen unter einander formell gar nicht zusammen, sie waren nur an einander gereiht, nicht verbunden zu einem fest und innig gebildeten Ganzen. Von ihnen unterscheidet sich die Rondoform dadurch, dass ihre einzelnen Sätze förmlich mit einander verbunden werden.

Nun zur Ausübung. Wir setzen folgenden Hauptsatz fest,

Andante con moto.

I

f=H n

*

Digitized by Google

Die zweite Rondo form.

107

3 CR

der mit dem folgenden Takte schliessen wird. Dann ist er ein in sich fertiger Liedsatz, dessen Inhalt noch genügender eingeprägt wird, wenn wir auch den zweiten Theil wiederholen.

Ein solcher Satz kann ein für sich bestehendes Tonstück sein ; aber das in ihm webende Gefühl kann eben sowohl auch den Kom- ponisten zu weiterm Fortgange bewegen. Dem vorstehenden Satz würde das Letztere schon wegen der gleich im Einsatz sich andeu- tenden bewegtem oder verlangendem Stimmung mehr zusagen.

Wie soll nun weiter geschritten werden ?

Sollen wir einen zweiten abgesonderten Liedsalz in der Weise der Trio's anhängen ? Die Absonderung würde der eben voraus- gesetzten weiter verlangenden Stimmung nicht entsprechend, auch dem fliessenden Gange des Hauptsatzes nicht gemäss scheinen ; doch wäre diese Form möglich. Ueber sie sind wir schon belehrt.

Sollen wir einen gangartigen Mittelsatz bilden, das heisst, die erste Rondoform anwenden? Auch das hätte Bedenken. Denn der ganze Hauptsatz ist schon bewegungsvoll und der Gang müsste die Bewegung überbieten ; der Hauptsatz ist fliessend geschrieben, und dem Gang ziemte derselbe Karakter. Wenn man in irgend einer Weise einen Gang anknüpft, z. B. so

95

seca Wd. -u.

*

* * 7

i

■*■

V

1

(wir denken uns die beiden ersten Takte als Motiv des Ganges im dritten und vierten Takte wiederholt, über beliebiger Modulation

* Es wird von hier an oft nur in blossen Entwürfen das Nöthige ange- deutet werden.

Digitized by Google

108

Kleine Rondoformen.

weitergeführt, zwischen Ober- und Unterstimme wechselnd u. s. w.), und so geschickt und reich oder der Stimmung des Hauptsatzes an- gemessen, wie man nur vermag, fortführt : so wird man sogleich zu der klaren Anschauung kommen, dass das gesang- und liedmäs- sige Wesen des Hauptsatzes im Gang untergeht, und der letzlere, um sich nur von jenem zu unterscheiden, zu einer Masse von Be- wegung getrieben wird, die der ursprünglichen Stimmung des Gan- zen schwerlich gemäss sein kann. Vergleicht man den jetzigen Hauptsatz mit dem für die erste Rondoform benutzten, so erkennt man, wie der alte nicht wohl etwas Andres, als einen Gang, der jetzige lieber einen Satz nach sich ziehen kann.

In welchem Tone wird unser zweiter oder Seitensatz stehn? Der Regel nach, wenn nicht besondre Gründe weiter führen, in einem nächstverwandten ; also in der Ober- oder Unterdominante, oder Parallele. Allein die beiden ersten Modulationen lehnen wir sogleich ab ; unser ohnehin weicher Satz würde zu trüb, wenn wir Moll auf Moll (Th. I, S. 215) setzen wollten. Auch die Parallele (/Isdur) genügt nicht; sie ist im ersten und zweiten Theile des Hauptsatzes scharf berührt worden, wird also in der Wiederholung wiederkehren und kann nicht mitten inne die Hauptstelle einnehmen, ohne da oder doch später zu ermatten. Wir wollen die Tonika [F] als Mediante des neuen Tons festhalten, kommen also nach Des dur. in die Unterdominante der Parallele.

Nun ist noch die rechte Anknüpfung zu suchen. Wir könnten den Hauptsatz (No. 94J fest abschliessen und den neuen Satz ohne Weiteres eintreten lassen..

Seilensatz.

Allein wenn auch der Seitensatz noch so anziehend erfunden wäre, so würde ihm doch die allzugrosse Aehnlichkeit mit dem Hauptsatze nachtheilig. Auch die zu grosse Nähe, der unmittelbare Eintritt würde, wenn nicht ein ganz abweichender Satz folgte, un- günstig wirken.

Oder wir könnten einen Gang, eine Passage einflechten , die den Uebergang von einem Ton und Satze zum andern vermittelte. Auch dies man stelle sich eine Anknüpfung, wie die von No. 95 vor wäre nur ein äusserliches, mehr zerstreuendes als einendes Wesen.

Wir ziehen vor, aus Motiven und in der Weise des Haupt- salzes den Uebergang zu bahnen.

Digitized by Google

Die zweite Rondoform.

109

j Digitized by Google

110

Kleine Rondoformen.

Hier ist mit der Ueberleitung zugleich ein neuer Satz gegeben, der sich nicht bloss durch einzelne Wendungen (das wäre von No. 96 allenfalls auch zu sagen), sondern sogleich und entschieden durch veränderte und gesteigerte Bewegung vom Hauptsatz ablöst; beide Sätze sind verbunden und doch deutlich unterschieden ; das verbindende Mittelglied gehört dem ersten Satz an und zieht sich doch auch, mit sehr geringer rhythmischer Veränderung, in den zweiten hinein.

Bedurfte es des letzten zu wiederholenden Taktes? Man sieht leicht, dass möglicher Weise mit seinem ersten Eintritte ge- schlossen werden konnte. Allein erstens schien der Satz wegen seiner lebhaftem Bewegung und Modulation vollem, verstärkten Schluss zu fodern; zweitens verlangte das neue Motiv, das von Takt 8 an in die Begleitung getreten , sich geltend zu machen ; drittens bedürfen wir eines Motivs zu weiterm Fortgange.

Betrachten wir nämlich den Seitensatz, so weit er sich in No. 97 gebildet hat, so müssen wir ihn vermöge seines Schlusses auf der Dominante für den ersten Theil eines zwei- oder vielleicht dreitheiligen Lieds ansehn. Im erstem Falle würde dieser Theil wahrscheinlich wiederholt, und wir könnten in dieser Weise

(der erste Takt steht statt der Wiederholung des letzten in No. 97) oder in einer ähnlichen auf den Anfang zurückkommen.

Wie nun ferner der zweite, oder allenfalls zweite und dritte Theil des liedförmigen Satzes zu bilden wär', darf hier als hinläng- lich bekannt Übergangen werden. Wir nehmen an, der Seitensatz schlösse mit dem schon für den ersten Theil gebrauchten Anhang, aber in seinem Haupttone, Ztesdur, etwa so:

99

Digitized by Google

Die zweite Rondoform

Von hier aus muss aus doppelten Gründen zurückgegangen wer- den in den Hauption und zum Hauptsatz: einmal nach dem Plan unsrer Komposition, die in sich einig beschlossen und abgerundet werden, nicht von einem Satz zum andern hingehn und damit den ersten verloren geben sollte; dann schon der Modulation wegen, da wir ohne ganz besondre Gründe nicht ein Tonstück aus Fmoll in Des duv schliessen können.

Dass nun dieser Rückweg nicht füglich durch ein unmittelbares Einsetzen von Fmoll mit dem Hauptsatze geschehn könne, wenn wir so, wie in No. 99 geschlossen haben, ist schon daraus klar, dass wir ja den letzten Takt (den nach No. 99 folgenden) auszu- füllen haben. In äusserlicher Weise könnte dies mit einer sogenannten Kadenz, mit einem frei auslaufenden Gange, gewöhn- lich in der Oberstimme, geschehn; etwa in dieser Weise

10

0

] _

1

m

0 1 \ -j- 1 Ii [—

f L f I U. 8.

Oder es könnte, damit nicht zu so fremden Motiven gegriffen werden müsste (was nur selten begründet und gut erscheint) , der Schluss selber so gewendet werden, dass er in den Hauptsatz hineinführte; wir könnten z. B. den in No. 99 gesetzten Schluss so

wenden und damit sofort in den Hauptsatz einlenken. Man bemerkt, dass diese Wendungen in unserm Falle durch den Eintritt des Haupt- satzes auf des-f-b sehr nahe lagen. Allein dies ist nicht immer der Fall; und das zu nahe liegende, gleichsam unvermerkte Hin- übergleiten aus einem Satz in den andern kann wohl bisweilen dem Sinn einer Komposition zusagen, wird aber in der Regel beide Sätze, indem es ihre Umrisse verwischt, schwächen. Dies ist be- sonders zu besorgen, wenn der Inhalt, wie hier, schon an sich einen weichern Karakter hat.

Wir thun also besser, zwischen dem Schlüsse des Seitensatzes und der Wiederkehr des Hauptsatzes weitere Vermittlung zu

Digitized by Google

112 Kleine Rondoformen.

suchen. Das Nächstliegende wäre, das Schlussmotiv selber weiter zu führen. Statt No. 101 setzen wir so

tempo Imo u. s. w.

Allein es muss schon äusserlich auffallen, dass hier einem Nebenmotiv so viel Raum gegönnt ist; und in der That wird da- durch eine trübere Stimmung, die sich im Nebenmotiv nur beiläufig und vorübergehend vernehmen Hess, so ausgebreitet geltend gemacht, dass der Hauptsatz innerlich unmotivirt, der zuletzt herrschen- den Stimmung nicht gemäss erscheint. Dabei haben wir uns Takt 3 und am Schlüsse noch nicht einmal so viel Raum gegönnt, als zu behaglicher Entfaltung wünschenswerth gewesen wäre. Einiger- massen hätten wir dem abhelfen können, wenn wir ein Hauptmo- tiv zugezogen, z. B. so

Digitized by Google

Die zweite Rondoform.

Ii?

m m ^

n. s. w.

in einer Satzkette (Gang aus Sätzen) weiter gegangen wären, in denen zwei Takte für ein Motiv gelten.

In dieser und jeder ähnlichen Weise müssten wir jedoch be- fürchten, den Inhalt des Seitensatzes, der nun zwei oder gar drei Theile und ausserdem den zurückführenden Gang (in No. 402 sieben oder neun Takte) auszufüllen hat, zu erschöpfen und damit zugleich dem Hauptsatz zu nahe zu treten. Selbst das würde wenig fruchten, wenn wir zuletzt dem Inhalt des letztern nahe träten, z. B. in No. 102 von Takt 8 an so

104

U. 3. W

in das erste Motiv der Hauptmelodie einlenkten.

Gründlicher vermeiden wir alle diese Uebelstände, wenn wir ein Mittelglied zwischen Seitensatz und Wiederanfang stellen, das uns zwar schon vertraut, dabei aber noch nicht verbraucht und auch im Hauptsatz entbehrlich ist. Und ein solches haben wir in dem Uebergange vom Haupt- zum Seitensatze (No. 97) bereitet. Nach dem in No. 99 einmal festgesetzten Schlüsse gehn wir so

-A--fr-fc K F-u-, 7 « , | ? H , 7

105 <

Marx, Koinp.-L. III. 5. Aufl.

Digitized by Google

114

Kleine Rondoformen.

in den Hauptsatz zurück; die angeregte rhythmische Form will ebenfalls fortwirken und nimmt die Stelle der ursprünglichen Be- gleitung ein.

Die weitere Durchführung des Hauptsatzes bedarf keiner Er- läuterung. Nach so mannigfaltigem Inhalt würden wir einen aus- führlichen und genugthuenden Schluss wünschen, folglich einen An- hang setzen, der wohl am besten dem vermittelnden Satz nachge- bildet würde ; vielleicht schlössen wir (von No. 94 aus gerech- net) in dieser Weise,

die sich auch weiter verfolgen Hesse.

Dritter Abschnitt. Erleichterungen dieser Form.

Das karakteristische Kennzeichen der zweiten Rondoform ist das, aus zwei liedförmigen Sätzen zu bestehn. Unser Bei- spiel zeigt ein Rondo mit zwei Sätzen, die beide zweitheilige Lie- der sind. Wir haben auch nicht unerwähnt lassen können, dass ebensowohl der eine oder beide Sätze hätten dreitheilig sein können. Nur muss schon in unserm, innerlich gar nicht einmal weit ausge- dehnten Rondo eine gewisse lästige Breite fühlbar geworden sein, die in der Wiederholung einer so bestimmten und gleichmässig durchgeführten Form, wie die zweitheilige Liedform ist, ihren Grund hat. Bei der Verbindung dreitheiliger Liedsätze ist dieselbe Un- gunst der Form natürlich noch empfindlicher.

Diesen unerwünschten Umstand können wir zunächst nur bei dem zweiten Satze (dem Seitensatze) gewahr werden, da unsre frischeste Theilnabme nothwendig dem Hauptsatze gehört,

Digitized by Google

Erleichterungen dieser Form.

115

der sie ja zuerst in Anspruch genommen. Alles was nach ihm kommt, kann im Verhältniss zu ihm nur Untergeordnetes sein; daher eben erscheint ein dem Hauptsatz gleich konstruirter Seitensatz breiter als jener, wenn auch sein Inhalt eben so anzie- hend oder selbst anziehender ist. Man erinnere sich aus häu- figen frühern Bemerkungen, dass hier nicht sowohl von der arith- metischen Ausdehnung (von der Zahl der Takte), als von den das innere Maass gebenden Verhaltnissen die Rede sein kann.

Daher fühlt sich der Komponist oft bewogen, entweder

dem Seitensalz nur eine einzige Periode einzuräumen, oder, wenn er zweitheilig angelegt ist,

den zweiten Theil gangartig aufzulösen, das heisst, ihn nicht nach dem Gesetz der Liedform abzuschliessen, sondern ihm vor dem Schluss gangartige Fortbewegung zu geben, die ohne weitern Abschluss auf die Dominante des Haupttons und von da in den Hauptton zurückleitet.

Betrachten wir nach dieser Vorerwägung einige Anwendungen unsrer Form, sowohl vollständige als erleichterte. Wir sind schon bei andern Anlässen (z. B. in der Fugenlehre) darüber aufgeklärt, dass man nicht verlangen dürfe, zwei oder gar alle zu einer Klasse gehörigen Tonstücke in allen Einzelheiten der Gestaltung über- einstimmen zu sehn. Dies kann zufällig einmal eintreten; aber es fodern, hiesse die Freiheit aus der Kunst verbannen, mithin das Wesen der Kunst verneinen. Indess die Grundlinien, das Wesent- liche der Form, werden wir bis dahin, wo höhere Gründe Ab- weichung, das heisst, neue Form fodern, allerdings in jedem ge- lungenen Werke gewahr.

Das erste Tonstück, das wir betrachten, ist das zarte und anmuthige Andante in Mozart's kleiner Cdur-Sonate, der ersten im ersten Hefte der Breitkopf-Härterschen Gesammt- (No. \ der neuen Einzel-) Ausgabe. Hier belauschen wir die Form gleichsam in ihrem Entstehn aus der Liedform mit Trio (S. 106), so dass man allen- falls ungewiss sein könnte, ob die Komposition der einen oder der andern Klasse zugehört.

Mozart beginnt mit diesem Motiv

107 jH jj I L.-^^^.

einen sehr bestimmt und klar ausgebildeten zweitheiligen Lied- satz, den ersten Theil in Cdur, den zweiten in Fdur schliessend; der Auftakt von drei Achteln macht sich durch das ganze Stück geltend ; die Begleitung ist höchst einfach, fast nur harmonisch un- terstützend. Dies ist der Hauptsatz. Ihm folgt ohne engere Ver- mittelung ein zweiter Liedsatz in Fmoll; man betrachte hier

8*

1 16

Kleine Rondo/ armen.

108 <

1 _1 j 4

U. 6. W. ==

=

g 7 g I J

den Schluss des Haupt- und den Anfang des Seitensatzes. Hier knüpft sich vorerst der eben erwähnte Zweifel an. Beide Sätze sind durch keine Art von Ueberführung mit einander verknüpft und man könnte sie für abgesonderte; Hauptstück und Trio nehmen. Allein das Trio hat in der Regel (Th. II, S. 79) einen vom Haupt- satz ganz verschiednen Inhalt und Karakter und liebt deswegen auch, eine eigne Tonart zu haben. Hier aber bleibt Mozart, bloss mit Aenderung des Geschlechts, auf derselben Tonika stehn und knüpft sogar (wie die Ziffern in No. 107 und 108 andeuten) mit dem Hauptmotiv des ersten Satzes wieder an ; auch der Auftakt von drei Achteln geht durch den Seitensatz durch. Auch dieser hat vollkommen ausgebildete zweitheilige Liedform, und schliesst den ersten Theil in der Parallele (i4sdur), den zweiten in Fmoll. Uebrigens wird jeder der vier Theile des Haupt- und Seitensatzes wiederholt ; eben diese feste und sättigende Abrundung jeder Partie machte üeberleitungssätze oder Gänge unrathsam.

Da der zweite Theil des Seitensatzes das Hauptmotiv verlassen hat, so bringt es Mozart in einem Anhange von vier Takten noch einmal und lässt nun, abermals ohne andre Vermittlung, als die in der Gleichheit des Hauptmotivs liegende, den Hauptsatz voll- ständig und unverändert wiederholen. Wenn schon das Minore einen abrundenden Anhang erhalten hat, so darf ein solcher noch weniger am Schlüsse fehlen. Mozart benutzt dazu das Hauptmotiv in Dur, allein er giebt diesem die Bassfigur des Minore No. 108 zur Begleitung und verknüpft so beide Sätze.

Ein zweiter Fall, sehr ähnlich dem vorigen, zeigt sich in dem Andante der seelenvollen, tiefbewegten Z)dur-Sonate von Beet- hoven, Op. 28. Der Hauptsatz (im Romanzenton erzählend) ist ein zweitheiliger Liedsatz in Z)moll, dem ein andrer zweilheiliger Liedsalz, D dur, folgt ; darauf kehrt der Hauptsatz wieder, anfangs einfach, weiterhin mannigfach verändert. Ein Anbang fasst wieder Motive beider Sätze zusammen. Die einzige formelle Verbindung von einem Satze zum andern besteht aus einer kurzen Auftaktnote des Seitensatzes und wenigen überleitenden Noten, die in den Haupt- satz zurückführen. Dies der Anhang aus Motiven beider Sätze, die Veränderungen des Hauptsatzes bei der Wiederholung weise die Rondoform aus; auch der gegliedertere und rhythmisch kerni-

Digitized by Google

Erleichterungen dieser Form.

117

gere Bau des Seitensatzes deutet dahin, da den Trio's in der Regel Th. II, S. 79) eher ein fliessendes Wesen zukommt. Auch hier werden alle Theile wiederholt (der erste Theil des Hauptsatzes schliesst in der Dominante, ./Imoll), die des Hauptsatzes auch bei dessen Wiederkehr, aber hier mit Veränderungen.

Diese beiden Fälle haben uns also unsre Form unverkürzt ge- zeigt. Den dritten Fall entlehnen wir aus Haydn's kleiner launiger Es dur-Sonate, der dritten im ersten Hefte der Breitkopf-Här- tel'schen Gesammtausgabe (No. 3 der neuen Einzelausgabe).

Das Adagio dieser Sonate hat als Hauptsatz einen zweitheili- gen Liedsatz in Ädur. Dies

ist der Vordersatz des ersten Theils ; der erste Abschnitt (a) wird im Nachsatz nochmals gesetzt, dann der ganze Theil wiederholt, so dass in sechzehn Takten jener Abschnitt viermal erscheint und die Hälfte des ganzen Satzes ausmacht. Dieser Umstand ist von Einfluss. Erstens variirt Haydn schon bei der Wiederholung des ersten Theils die Melodie; zweitens weicht der zweite Theil nach einer verwandten Anknüpfung an den ersten mit einer Wendung nach 2?moll entschieden von demselben ab, so dass sich seine ersten zehn Takte beinah' als ein besondrer Satz abgelöst hätten. Dies erfolgt jedoch nicht, vielmehr kehrt, abermals verändert, der erste Theil wieder und wird etwas erweitert im Hauptton geschlossen. Darauf wird auch dieser ganze zweite (oder zweite und dritte) Theil mit steter Variirung wiederholt. So haben wir also einen weit und voll ausgeführten und abgeschlossnen Hauptsatz vor uns, der nur dadurch ein Weiterschreiten verlangt zu haben scheint, dass sein bei allem Gehalt doch einfacher Inhalt, stets an dieselbe Tonika gebunden, des Gegensatzes ermangelt und deshalb unge- achtet seines Reizes noch unbefriedigt lässt. Allein nach so ausführ- licher und stetiger Durchführung des ersten Liedsatzes muss es be- denklich erscheinen, einen zweiten vollkommen durch- und aus- geführten nachzusenden.

Haydn setzt, ohne Ueberleitung, seinen Seitensatz in Amol! ein, und bildet, wie hier

ul \ 1

«y

Digitized by Google

118

Kleine Rondoformen.

angedeutet ist, einen fest in der Parallele geschlossnen ersten Theil : die Melodie geht über der fortwogenden Begleitung nur in leichten Zügen hin. Nun begehrt sie Ausfüllung und der erste Theil einen zweiten, und so scheint doch geschehn zu sollen, was wir vorher für bedenklich hielten, dass dem breit ausgelegten Hauptsatz ein gleicher Seitensatz folge.

Allein eben hier trifft H a y d n , der mehr wie irgend ein andrer Meister Maass zu halten weiss, das einzig Rechte. Der zweite Theil setzt ein, die Melodie füllt und festigt sich, aber aus der liedförmigen Konstruktion wird, eben auf dem Gipfel, ein Gang

nach der Dominante des Haupttons. Hier wird in drei Takten nach einander über einem Orgelpunktbasse geschlossen, dann in sechs weitern Takten, immer über der festgehaltnen Dominante, der Uebergang zur Tonika gemacht, und nun tritt, mit abermaligen Ver- änderungen, der Hauptsatz wieder ein ; der erste Theil wird wie- derholt, statt der Wiederholung des zweiten Theiles wird, jedoch mit Anspielung auf seinen Inhalt, ein Anhang gebildet.

Hier zeigt sich also die erste Abweichung von der Grundform ; wir sehn genau, wie weit letztere festgehalten, wo und warum sie verlassen worden, und können uns dabei abermals überzeugen,

dass die Kunst ihrem Wesen nach weder Zwang äusserer Gesetze und Formen, noch Willkür des Bildners kennt, sondern nur die in der Vernunft einige Freiheit und Gesetzlichkeit. Das kleine Haydn'sche Adagio ist allerdings nur ein einzelner Beitrag zu dem Erweis dieser folgenreichsten Wahrheit ; aber we- gen seiner durchsichtigen und einleuchtenden Natur kein zu über- sehender.

Hier haben wir auch zum ersten Mal eine ganz entschiedne Lossagung von der Form des Liedes mit Trio. Das Haydn'sche

Digitized by Google

Erleichterungen dieser Form.

119

Minore kann unmöglich Trio sein, denn es ist gar kein abgeschloss- nes Lied, sondern löst sich eben auf seinem Gipfel in einen Gang nach dem Hauptsatz auf. Ja, es ist selbst bei seinem Auftreten, obwohl ohne Uebergang, von der Natur des Trio's durchaus fern; es tritt nicht fliessender, sondern gegliederter auf und hat zum In- halte nicht ein neues, sondern ein Motiv des Hauptsatzes (b in No. 109), das zuerst (in No. 110) nur leise angedeutet wird, dann aber, im zweiten Theil (No. 111), entschieden heraustritt und sich geltend macht. Aus diesem Gesichtspunkte wird die tiefe Einheit der reizenden Komposition noch einleuchtender ; Ein Haupt- motiv (o in No. 109) durchwaltet das Ganze, stets neu gewendet und benutzt.

Einen vierten Fall giebt das Adagio der kleinen Fmoll- Sonate von Beethoven, Op. 2. Der Hauptsatz ist ein zweithei- liges Lied in Fdur. Seinem Schlüsse folgt ohne Weiteres in D moll der Seitensatz. Er stellt sich anfangs durchaus liedmässig dar; seine ersten Takte

112

8va

r

st

Ed

erscheinen als Vordersatz eines ersten Theils, der vielleicht auf der Parallele, oder da das wieder der eben verlassene Ton des Hauptsatzes ist besser vielleicht auf der Dominante (Ä) schlies- sen würde. Allein auch dies Moll auf Moll konnte Beet- hoven nicht zusagen; auch musste das Motiv des neuen Satzes wohl anziehend und als Gegensatz für das Hauptthema durchaus angemessen, nicht aber zu weiter Ausführung geeignet erscheinen. Er wendet sich also schon hier von der Liedform ab und geht mit einer nahe liegenden Wendung (wir geben nur die Grundmelodie)

I

8va

H3

t 8

zu einem Schlüsse nach Cdur. Von da wird mit einer Kadenz zurückgelenkt in den Hauptsatz, der variirt durchgeführt und mit einem Anhange geschlossen wird.

Die Form ist hier abermals unverkennbar; aber das Liedför- mige des Mittelsatzes ist nur eben festgestellt und dann sogleich wieder verlassen. Unleugbar kann übrigens, wenn auch nicht im vorliegenden Falle, doch in ähnlichen (deren wir noch gedenken werden) Zweifel entstehn, ob ein so früh abgelenkter Mittelsatz

Digitized by Google

120 Kleine Rondoformen.

für einen liedförmigen Satz, oder für einen Gang zu achten; und so erkennen wir hier wieder eine Gränzlinie, auf der zwei nächst— verwandte Formen, die erste und zweite Rondoform, sich berühren, ja, bisweilen nicht sicher unterschieden werden können, so bestimmt sie auch im Mittelpunkt ihres Wesens unterschieden sind. Aber eine andre Weise der Abscheidung ist auch im Gebiete des freien Geistes nicht zu setzen und nicht zu wünschen. Es kommt vor allem auf den festen Mittelpunkt, auf den bestimmten Grundbegriff jeder Form an. Von ihm gehn wir aus, bis wir an die Mark- scheide einer benachbarten Form gelangen ; hier werden beide For- men gegen einander frei, wir werden losgelöst von dem anfangs uns haltenden Mittelpunkt der einen Form, und können uns in und zwischen beiden frei bewegen.

Und so ziehn wir in einem fünften Falle noch eine Form uns näher, mit der wir hier bereits in mancherlei Berührung ge- kommen sind, die Variation.

So viel erscheint klar, dass der erste Liedsatz in unsern beiden Rondoformen im eigentlichen Sinne Hauptsatz ist. Er beginnt, er schliesst ; wenn wir einen Anhang brauchen, denken wir zunächst an ihn; ist eine Ueberleitung nöthig, so nehmen wir sie (S. 113) ebenfalls gern aus ihm, ja öfters knüpfen wir (S. 116) sogar den Seitensatz an Motive des Hauptsatzes. Daher nimmt der Hauptsatz (wenn wir Anfang und Ende des Ganzen zusammenrech- nen) auch den grössten Raum ein, und eben daher sind wir leicht veranlasst, ihn zu variiren und, wie Haydn und Beethoven in den beiden letzten Fällen gethan, noch ein besondres, erneutes In- teresse an ihn zu knüpfen. Ja, wir werden sogar ohne diesen mehr zufälligen Antrieb bisweilen durch die abweichende^ Natur des Sei- tensatzes genöthigt oder gereizt, den Hauptsatz bei seiner Wieder- kehr zu variiren, um die Verschiedenheit beider auszugleichen. So ist schon in No. 105 die Begleitung des Hauptsatzes geändert wor- den; und hätten wir den Uebergang von No. 104 benutzt, so würde vielleicht der ganze Hauptsatz die Taktart des Seitensatzes ange- nommen haben.

Aus dieser Vertiefung in den Hauptsatz geht nun noch eine eigne, obwohl naheliegende

Erweiterung der Form hervor, die wir an dem hochsinnigen Largo der Beetho ven'schen ^dur-Sonate Op. 2 beobachten können.

Die Form dieses Tonstückes ist die zweite Rondoform, wie wir sie zuletzt an dem Andante der Beethoven'schen Fmoll-Sonate wahr- genommen haben. Der Hauptsatz stellt in Z)dur den ersten voll- kommen im Hauptton schliessenden Theil eines Lieds auf, dem der zweite Theil folgt, in A dur auftretend und dann auf das Hauptmotiv

Digitized by Google

Erleichterungen dieser Form

121

und den Hauptton zurückkehrend. Nach vollkommnem Abschluss und ohne weitere Ueberleitunc schliesst sich der Seitensatz in HmoW an. Dieser hat unverkennbar liedförmige, aber freier organisirte Gestalt. Er tritt mit diesem Satze,

f M f r r r r

den man für einen ersten Theil zu halten hätte, an ; nun aber wird derselbe Satz bis zum Zeichen f in einer Mittelstimme und ver- ändert —

4-

W4

1 7 p '

in dem eben erreichten ff's moll wieder gebracht, dann aber sogleich gangförmig nach Gdur, der Unterdominante des Haupttons, von da weiter auf A als Oberdominante geleitel und der Hauptsatz wieder- holt. In dieser Wiederholung ist nur der Anfang des zweiten Theils leise, durch blosse Versetzung der Stimmen,

Zuerst. Jetzt.

Tff

9%7 i* I p B

Sf

verändert. Wenn nun Beethoven nach dem vollständigen Abschlüsse des Hauptsatzes so

117

T-| H-T-! I MVy^Sr^?^ I

's

i rr r * ' * 1

weitergeht, im nächstfolgenden Takte in Z)dur schliesst und diesen ganzen Satz (No. 117) in mehr ausgeführter Figuration wiederholt: so muss man darin einen Anhang erkennen. Bis hierher also ist die Form mit den früher betrachteten übereinstimmend.

Nun aber fühlt sich der Komponist über alle diese Zwischen- reden hinaus von dem edlen Sinn seines Hauptsatzes angeregt, ihm neue und grossartigere Entwickelung zu geben. Noch einmal setzt das Hauptmotiv in Moll und mit voller Energie ein, erhebt sich aber

122

Kleine Rondoformen.

i

in Kraft nach ßdur, steigert sich und wendet sich auf die Do- minante des Haupttons zurück ; denn allerdings konnte mit so fremd- artiger Erhebung nicht karaktergemäss geschlossen werden. Daher kehrt nach einem Orgelpunkt von vier Takten abermals der voll- ständige Hauptsatz nämlich der erste Theil, der ja sein Kern und auch der Hauptinhalt des zweiten Theils ist, in Ddur und mit neuer, zartsinniger Figuration wieder; statt des zweiten Theils, dessen eigenthümlicher Inhalt ja im ersten Versuch eines Anhangs (No. 117) vorweggenommen ist, beschliesst nun ein sehr einfacher Anhang das innerlich reiche und doch so einleuchtend klar und ein- fach geordnete Ganze.

In dem Hergang desselben von der in No. 117 angeführten Stelle liegt das Neue, das wir zu beobachten haben. Man kann den ganzen fernem Verlauf von dem Eintritte von No. 117 an für einen blossen Anhang erklären; dann wäre wenigstens dessen Ausdehnung (32 Takte, zu einem Tonstücke, das bis zum angeb- lichen Anhange nur 49 oder 50 Takte hat) und mannigfache Zu- sammensetzung merkenswerth. Aber es leuchtet ein, dass diese Auffassung eine oberflächliche sein würde, da sie auf den Inhalt gar keine Rücksicht nähme.

Es ist vielmehr in dem ganzen Hergange vom Wiedereintritt des Hauptsatzes an Hinneigung zur Variationenform, oder Vermischung dieser und der Rondoform zu erkennen. Der erste Theil des Hauptsatzes, den wir schon als dessen Kern erkannt haben, wird rondomässig wiederholt und macht (wie an- fangs) den Schluss des zweiten Theils. Nach einem rondomässigen Zwischensatze kehrt dieser erste Theil variirt in Moll wieder, löst sich aber rondomässig in einen Gang auf, um sogleich noch einmal vollständig in Dur und abermals variirt vorüber zu gehn. Es sind die Vortheile der Variationenform veränderte Wieder- holung, mehrseitige Auffassung eines einzigen Satzes benutzt, ohne ihre lästige Breite ; und sie sind vereint mit der Gunst einer Form, die ihre Bestandteile nicht auseinanderfallen lässt, wie die Variation, sondern sie in einer geordneten Konstruktion unter ein- ander verknüpft.

So tritt uns hier auch noch klarer und voller als zuvor der Begriff der Rondoform vor das Auge: ein von Einer Vorstellung erfülltes Gemüth, das sich von ihr abwendet zu Gegensätzen, zu Nebenvorstellungen, von diesen aber zu jener herrschenden zurück- gezogen wird, sich tiefer und bleibender in sie versenkt, in ihr befriedigt ruht.

Noch eine Schlussbetrachtung können wir hier nicht Übergehn.

Das wohlthuende Ebenmaass in der Rondoform ist, in der

Digitized by Google

Erleichterungen dieser Form. 123

Hauptsache, schon S. 105 hervorgehoben worden. Wir können uns den Wechsel der Haupltheile, Hauptsatz, Seitensatz oder Gang, und Hauptsatz in diesem Schema

G

HS SS HS

veranschaulichen. Allein dasselbe Ebenmaass begleitet unsre Kompo- sition auch in die einzelnen und Nebenpartien. Merken wir Ueber- gang (Gaug), Anhang, Theile ebenfalls mit Buchstaben* an, so vervollständigt sich das Schema folgendermaassen :

HS G .. SS .... G .... HS .... A

1 Th. 2 Th. * Th. 2 Th. 4 Th. 2 Th.

1 , 2 , 4 (8) Th. | , 2 , 4 , 2 , < (3) 4 , 4.

Und so würde sich das wohlthuende Ebenmaass mit Hülfe frü- herer Entwicklungen (Th. II, S. 34; Th. I, S. 70) bis in die Ab- schnitte und Glieder jedes Satzes oder Gangs hinein verfolgen lassen.

Dieses ganze Verhältnissspiel ist aber kein zwangvolles, son- dern ein in jedem einzelnen Moment freies. Es können einzelne Partien des Ganzen zurücktreten oder ganz wegbleiben, oder auch zu höherer Geltung kommen; es kann jedes Einzelne auf das Man- nigfachste gewendet, es kann, was einer Partie auf der einen Seite entzogen ist, auf einer andern ihr wieder ersetzt oder zugefügt werden.

Diese ganze Anschauung bestätigt sich sogar in dem a us.se r- lichen Maasse der einzelnen Theile. Nur versteht sich nach dem früher bei der Liedform (Th. II, S. 34) Entwickelten von selbst, dass man hier nicht ein mechanisches Gleichmaass zu er- warten hat, sondern (wie bei Vorder- und Nachsatz, erstem und zweitem Theile des Liedes) auf ein freies Auslaufen einzelner Theile gefasst sein muss, und dass die äussern Maasse schon als das Aeusserlichste in uusrer wesentlich innerlichen und durchaus freien Kunst nur untergeordnete Bedeutung haben können.

Nehmen wir die erwählten Beispiele auch noch aus diesem Ge- sichtspunkte durch.

Das Mozart'sche Andante hat folgende Verhältnisse: HS SS HS A

I Th. 2 Th. 1 Th. 2 Th. G 1 Th. 2 Th. 2X8 2X12 2X8 2X8 i 8 12 4

16 24 16 16

40 32 24 Takte.

*) HS bedeutet Hauptsatz, SS Seitensatz, A Anhang, G Gang, Uebergang; die Multiplikationsformel (2x8) deutet einfache Wiederholung der Takte (ohne Veränderung) an.

Digitized by Google

124

Kleine Rondoformen .

Der Uebergang musste zu der Summe des Seitensatzes gerech- net werden, da sein Inhalt aus diesem, und zwar dem ersten Tbeil. genommen ist; man kann darin eine Andeutung der dreitheiligen Liedform sehn. Der Anhang ist nur äusserlich zum Hauptsatze gezogen worden; er ist eigentlich eine Erinnerung an den Haupt- inhalt des Mittelsatzes und seines eben erwähnten Anhanges, des Uebergangs.

Der Beethove n'sche Satz aus Op 28 hat folgende Verhältnisse : HS SS HS A

1 Th. 2 Th. 1 Th. 2 Th. 1 Th. 2 Th.

2x8 2x4 4 2X« 2X8 2x8 2X14 17

16 g28 J6 16_ 16 28

44 32 44 17 Takte.

Hier fällt zunächst im Hauptsatze das stark abweichende Ver- hältniss des ersten und zweiten Theils auf. Allein der Inhalt des letztern erklärt es. Da nämlich der erste Theil vollkommen und fest im Hauptton (Z)moll) abschliesst, so wird der Anfang des zwei- ten Theils weggedrängt, und es bildet sich ein orgeipunktartig auf der Dominante (A) stehender, bisweilen in deren Tonart L<4dur) ausweichender, sogleich aber wieder zurückkehrender neuer Satz, dem nur befriedigendere modulatorische Abrundung fehlt, um für selbständig zu gelten. Er führt in die konzentrirte Wiederholung des ersten Theils zurück, so dass wir abgesehn von der Unzu- länglichkeit der Modulation in den äussern Verhältnissen im Hauptsatz eigentlich die dreitheilige Liedform mit

8, 8 und 6 Takten

(abgesehn von den Wiederholungen) vor uns haben; beiläufig ein Mittelwesen zwischen zwei- und dreitheiliger Liedform. Das Haydn'sche Adagio hat folgende Verhältnisse: HS SS mit G HS A

1 Th. 2 Th. 4 Th. 2 Th. und 0 4 Th. 2 Thl 2X8 2X20 2X4 0 14 8 20 15

16 40 20

56 34 43 Takte.

Auch hier besteht der zweite Theil des Hauptsatzes aus zwei Partien, einer neuen (wenn auch am Hauptmotiv anknüpfenden) Entwickelung von 10 Takten und einer weiter (nämlich zu stär- kerem Abschlüsse des Hauptsatzes nach der Unterdominante) geführ- ten Wiederholung des ersten Theils von 10 Takten, so dass hier abermals die äussern Verhältnisse auf Dreilheiligkeit,

8, 10 und 10 Takte,

hinweisen. Der Inhalt entscheidet wie im voriaen Falle für Zwei- theiligkeit. Der Anhang durfte in der Berechnung um so mehr

Digitized by Google

Betrachtung der einzelnen Theile.

125

zu der Wiederholung des Hauptsatzes gezogen werden, da er als Wiederholung des zweiten Theils desselben anknüpft. Das Beethoven'sche Andante aus Op. 2 enthält

HS SS G HS A

I Th. 2 Th. 1 Th. 2 Th.

8 8 jO _5 8 8 14

16 15 16 14 Takte;

endlich das Beethoven'sche Largo aus Op. 2, Z)dur, enthält

HS SS HS A

1 Th. 2 Th. 1 Th. 2 Th.

8 11 12 8 11 31.

19 19

Hier erscheint die Ausdehnung des Anhangs auf den ersten Hin- blick unverhältnissmässig. Wir müssen uns aber dabei erinnern, dass dieser Anhang mit dem Kern des Hauptsatzes sich an die Va- riationenform anschliesst und damit ein für sich Bestehendes bildet. Sein Inhalt zeigt dann, für sich allein genommen,

SS HS mit G HS A

4 und 4 7 und 3 8 6 Takte,

wieder ein wohlorganisirtes Ganzes*.

Vierter Abschnitt.

Genauere Betrachtung der einzelnen Theile.

Die erste und zweite Rondoform hat sowohl an sich, wie auch als Grundlage der höhern Rondoformen, zu denen wir mit dem näch- sten Abschnitt tibergehn, doppelte Wichtigkeit; es kommt deshalb viel darauf an, sie klar zu durchschauen und sich in ihrer Aus- führung recht fest zu setzen. Aus diesem Grunde verweilen wir noch einen Augenblick bei der Betrachtung der einzelnen Bestand- theile. Da wir aber hier, wie überall, das abstrakte Theoretisiren für widersprechend dem Wesen der Kunst und unsrer Lehrweise ansehn müssen : so setzen wir voraus , dass der unserm Prinzip treue Jünger schon nach Anleitung der vorigen Abschnitte seine Uebungen begonnen und fleissig fortgeführt habe, ehe er auf die

* Gern erinnern wir uns dabei der Lehre Goethe's, wiewohl dieser sie nicht zunächst in Bezug auf unsre Kunst ausgesprochen hat: »Ein Kunstwerk» dessen Ganzes in grossen, einfachen harmonischen Theilen begriffen wird, macht wohl einen edlen und würdigen Eindruck; aber der eigentliche Genuss, den das Gefallen erzeugt, kann nur bei üebereinstimmung aller entwickelten Ein- zelheiten stattfinden«.

Digitized by

126

Kleine Rondoformen.

nähere Befestigung des im Wesentlichen schon Bekannten, die uns hier noch obliegt, übergeht und hieran seine diesmaligen Studien vollendet.

Wir gehen nochmals alle Haupttheile der bisherigen Rondo- formen durch.

I. Der Hauptsatz.

Der Hauptsatz ist, wie wir nun bereits erkannt haben, Kern des ganzen Rondo's, von dem wir ausgehn , aus dem oder in Bezug auf den wir die mittlem Partien bilden, auf den wir zurück- kommen, den wir vielleicht zuletzt variirend oder auszugsweis im Anhang benutzen.

Ein Satz, der so viel gewähren, uns so erfüllen soll, dass wir nicht von ihm ablassen können, nach jeder Entfernung auf ihn zurückkommen, muss vor allem ein in sich selber befriedigend ab- geschlossner sein. Daher ist ihm die Liedform eigen, aber vollge- nügend wird auch sie nur, wenn sie mit besonderm Nachdruck aus- geführt und abgerundet ist. Wodurch geschieht dies?

Das Nächste, woran wir bei dieser Frage denken, ist die Ge- staltung des Hauptsatzes. Nicht bloss muss derselbe in der Re- gel vollkommnen Abschluss im Hauptton, sondern auch eine Aus- dehnung haben, die hinlängliche Auslegung und Abrundung des Inhalts gestattet. Wir finden daher die Mehrzahl unsrer Hauptsätze in zweitheiliger Liedform ausgeführt und noch obenein zu dreitheiliger Liedform hingeneigt, da diese den Hauptinhalt eines Satzes am bestimmtesten herausstellt.

Selbst die dreitheilige Liedform macht sich bisweilen geltend. Wir finden sie unter andern in dem Mittelsatze zu Beet- hovens l?dur-Sonate, Op. 14. Hier

AUegretto.

rrr

8va

f1 JJ3U"J

| * 1 J |

r r

^

geben wir, freilich nur in magern Andeutungen (die Unterstimme in dieser wie in ähnlichen Mittheilungen stellt den Bass vor, ist

Digitized by Google

Betrachtung der einzelnen Theile.

127

aber nach Bequemlichkeit oft zu hoch gerückt), den ersten Theil. Ihm folgt der zweite,

H9

A

TW

r

r

T r- r fi_r

worauf als dritter Theil vom ersten die ersten acht Takte (in der höhern Oktave) wiederholt und statt der fernem so

120

bis

TT

über die Unterdominante zum Schluss auf die Tonika gegangen wird. Auf dieser bildet sich nun orgelpunktartig aus dem Motiv a in No. 120 ein Anhang von zwölf Takten, so dass sich im Ganzen fol- gende Verhältnisse herstellen ;

Th. 4 Th. 2 Th. 3 Anhang

8 und 8, 8 und 8, 8 und 14, 41 Takte.

Es kann übrigens nicht unbemerkt bleiben, dass auch hier die Dreitheiligkeit nicht ausser Zweifel steht. Der zweite Theil macht nämlich keinen Ganzschluss, sondern einen Halbschluss auf der Do- minante von E. In diesem Ton hat der Theil aber gar nicht ge- standen ; er schwankte vielmehr und das ist der andre Zweifels- grund — zwischen Cdur und Gdur. Nur die scharf ausgeprägte Satzform beider Hälften dieses Theils und seine grosse Ausführlich- keit spricht dafür, ihm Selbständigkeit beizulegen.

Gestaltung und Ausdehnung waren die auffallendsten Aeusse- rungen der Wichtigkeit, die unsre Hauptsätze haben; die dritte ist die feste Ausbildung oder Kons en tri rang des Inhalts. Je mehr uns ein Motiv am Herzen liegt, desto angelegentlicher beschilftigen wir uns mit ihm, desto energischer bilden wir nur aus ihm den ganzen Satz heraus.

In dieser Beziehung ist der eben angeführte Beethoven'sche Satz merkwürdig. Das so einfache Motiv des ersten Taktes tritt im er-

Digitized by Google

12*

Kleine Honda formen.

sten Theil viermal auf derselben Stufe, im zweiten Theil vier- mal auf derselben und zweimal auf einer andern, im dritten Theile wieder viermal auf der ersten Stufe auf. Fast eben so energisch erweist sich der Hauptsatz des S. 120 angeführten Largo, oder des S. 117 angeführten Haydn'schen Andante; wie denn in dieser Stetigkeit der Motivirung Haydn und Beethoven vor andern Meistern, namentlich vor Mozart, sich auszeichnen.

Unter solchen Umständen ist es sogar möglich, dass der Haupt- satz aus einer einzigen, aber stetig ausgebildeten Periode be- stehe ; die Zusammengenommenheit des Inhalts muss ersetzen, was an Ausbreitung fehlt. Ein einziges Beispiel mag hier genügen ; wir nehmen es aus dem Adagio der Cdur-Sonate von Beethoven, Op. 2. Das Adagio ein Rondo erster Form hat sich in aller Fülle, in zweiundachtzig Takten, ausgearbeitet, ist also um- fangreicher, als die S. -119 und 121 angeführten Beethoven'schen Sätze. Gleichwohl besteht sein Hauptsatz aus einer einzigen Pe- riode von elf Takten, während die andern Kompositionen zwei- und dreitheilige Hauptsätze von sechzehn, neunzehn und vierund vierzig Takten haben.

Allein dieser kurze Satz ist so zusammengehalten, in seinem Inhalt und Abschlüsse so befriedigend, dass auf die Länge nichts weiter ankommt, man vielmehr wieder recht schlagend die Unzu- länglichkeit alles äusserlichen Messens gewahr wird. Hier

ist, in gedrängtem (und verscbobnem) Auszuge, der ganze Haupt- satz. Das Hauptmotiv, im ersten Takt enthalten, wird viermal ge- braucht, der Vordersatz im vierten Takte klar abgesetzt, die Pe- riode im achten Takte zum Schluss geführt, dann aber durch einen Anhang, der die Schlussfigur (Takt 7) wiederholt und bereichert, vergrössert und um so befriedigender abgeschlossen. Hierbei ist sogar (Takt 7 und 9) die Unterdominante gebraucht, so wie vorher

Digitized by Google

Betrachtung der einzelnen Theile.

129

(Takt 6 und 8) in die Oberdominante und (Takt 6) in die Parallele ausgewichen worden. So ist in periodischer und modulatorischer Abrundung Alles geschehn, was einen Satz befriedigend und gesät- tigt erscheinen lässt; aber auch der fasslich gegliederte und eben- mässig geordnete Inhalt es entsprechen einander Takt \ und 2, 3 und 4, 5 und 6, 7 und 9 wirkt dabei mit. Die innere be- stimmte und befriedigende Abgeschlossenheit ist es also, die den kurzen Satz für seine Bestimmung im Rondo eben so gut, als die früher angeführten grossem eignet.

2. Der Seitensatz.

Wir haben schon erkannt, dass der Seitensatz gegen den Haupt- satz untergeordnet erscheint. Dies spricht sich schon darin aus, dass man den Seitensatz aufgiebt, um zum Hauptsatze zurückzu- kehren, dass also derselbe nur als Mittel- oder Gegenstück zum Hauptsatze gilt. Dann erkennt man das Verhältniss in der häu- 6gen Hinneigung des Seitensatzes zu gangartiger Auflösung, die wir schon mehrmals beobachtet haben und die es mitunter zweifelhaft machen kann, ob die mittlere Partie eines Rondo für einen Gang oder für einen gangartigen Satz zu halten sei.

Der Karakter des Seitensatzes stellt sich also, wie man nach Obigem begreift, nach dem des Hauptsatzes fest, zu dem ja der erstere ein Anderes, Unterschiednes, einen Gegensatz geben soll. Hier wirkt aber noch ein besondrer Umstand mit:

die Bestimmung des Rondo's in einem grössern Ganzen.

Schon jetzt nämlich, noch mehr aber aus dem Anblick der grössern Rondoformen, ist einleuchtend, dass die Tonstücke erster oder zweiler Rondoform zu den enger begrenzten und insofern untergeordneten Gestaltungen gehören. Dies ist besonders in der Instrumentalmusik der Fall (denn der Vokalsatz unterliegt, wie wir schon im folgenden Buch erkennen werden, ganz andern Erwägun- gen) und am meisten in der Klaviermusik, da das Klavier zu reicher Spielentfaltung hinneigt, die in jenen Formen keinen Raum findet. Daher werden diese begränztern Formen gewöhnlich in grössern Kompositionen (Sonaten, u. s. w.) als

Mittelsätze im langsamem Tempo

angewendet, die nach dem künftig zu erörternden Begriff der zu- sammengesetzten Komposition stillern, sanftem , mehr nach innen gekehrten Sinn haben, im Gegensatz zu den vorangehenden und nachfolgenden grössern und lebhaftem, energisch in das Weite stre- benden Sätzen. Die Anwendung unsrer Formen in anderm Sinn oder für ein in ihnen abgeschlossnes Tonstück ist in der Klavier- musik selten und als Ausnahme zu betrachten.

Diese Bestimmung der Form nun spricht sich naturgemäss im

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 9

Digitized by

130

Kleine Rondoformen.

Hauptsatz aus; wir haben schon gefunden, dass diesem meist ein gemessenes, oder sanft und sangbar ausgesprochnes Wesen eigen ist; so in dem aus dem zweiten Theil entlehnten, in No. 88 zu Ende geführten Satze, so in No. 94 und allen von Beethoven und andern Meistern angeführten Sätzen.

Hiernach muss sich der Karakter des Gegensatzes bestimmen ; daher haben wir ihn schon in No. 97 erhobner bilden müssen gegen den mehr weich gehaltnen Hauptsatz ; daher ist Haydn's Gegensatz in No. 110 und 111 nachdem fliessend sangbaren Hauptsatz abge- brochen und dann hochgesteigert aufgetreten. Zu vollerer Bestär- kung werfen wir noch einen Blick auf das schon S. 116 erwähnte Beethoven'sche Andante. Der Hauptsatz

<22

«Hfl*

geht in enggeschlossner Weise seinen ernsten, gehaltnen Gang durch vierundvierzig Takte. Den nöthigen Gegensatz muss der Seitensatz übernehmen, und führt ihn in dieser Weise

1 23

durch; das Motiv des ersten Taktes wird Takt 2, 3, 5 und 6 nach den da gegebnen Andeutungen wiederholt und dann in den folgenden zwei Takten nach der Art des vierten Taktes in .1 dur geschlossen. Fast von ganz gleicher Beschaffenheit ist der zweite Theil.

Ist aber ausnahmsweise der Hauptsatz von kernigerer Zeich- nung, so wird nach denselben Grundsätzen der Seitensatz fliessen- dern Karakter annehmen. Den nächsten Belag hierzu giebt schon der Seitensatz zu dem Beethoven sehen in No. 118 bis 120 aufge- führten Satze. Dieser ist zwar fest geschlossen, hat aber in dem stets wiederkehrenden Hauptmotiv einen regsamem Puls, fliesst auch zum Schlüsse beweglicher in Achteln. Der Seitensatz hat kein einziges Achtel, sondern geht in der ruhigsten, durch nichts aufge- störten Viertelbewegung

Digitized by Google

Betrachtung der einzelnen Theile.

einher, durch beide Theile und in der Verbindung der Theile; bis zuletzt vier ruhende taktlang gehaltne Akkorde in den Haupt- satz zurückführen.

3. Der Gang.

In der ersten Rondoform ist nicht einmal ein Seitensatz ausge- bildet. Es ist nicht dazu gekommen ; man ist vom Hauptsatz abge- gangen, hat dazu einen Gegensatz gesucht, aber den blossen Gang von ihm weg genügend befunden.

Ein solcher Gang kann sich, wie wir bereits bei No. 89 bemerkt haben, aus Sätzen, als Satzkette (Th. I, S. 224) bilden, wie wir umgekehrt Seitensätze gefunden haben, bei denen es (S. 120) zwei- felhaft sein konnte, ob sie nicht viel mehr von der Natur des Gan- ges an sich hätten. Ebensowohl kann aber auch der ganz satz- lose Gang bisweilen genügen. Wir hätten dem ersten Rondo ver- such an der Stelle von No. 89 folgenden Mittelsatz geben können,

der zwar, nach dem rhythmischen Triebe, der aller Musik von An- fang an (Th. I, S. 25) inwohnt, sich auch in bestimmte Glieder zer- setzt, überall aber eigentliche Abschnitte durch modulatorische Mit- tel vermeidet und deshalb nur für einen Gang gelten kann. Ein solcher Gang lässt sich nun beliebig weit fortsetzen. Der obige z. B., der zuletzt schon kürzere Glieder zeigt, könnte mit ihnen über fol- gender Modulation (vom letzten vollen Takt an)

9*

Digitized by

132

Kleine Rondo formen.

126

m

7

57 b7

*>7

auf die Dominante des Haupttons und von da in den Hauptton zu- rückgehe oder auch auf einem andern Tone nochmals die grössern Glieder wiederbringen und endlich mit den kleinern zu Ende gehn. Noch gangartiger Hesse sich No. 95 z. B. in dieser Weise

127

■j- ECS

und von da vielleicht über folgender Modulation

bis ter

6

5

6

5

fortführen, weil hier die Glieder unter der freier und fliessender fortgeführten Melodie noch weniger hervortreten.

Dergleichen Entwicklungen sind durch das bisher Durchgeübte reiflich vorbereitet. Es ist nur um des Gleichgewichts und der Wohlgestalt des Ganzen willen (S. 123) dahin zu sehn, dass auch der fliessendste und freieste Gang das Verhältniss zum Ganzen be- obachte, das dazu dient, dem Inhalt des Gangs genügende Entwicke- lung zu geben und doch auch den Hauptsatz nicht zu lange aus dem Sinn zu lassen. Uebrigens fodert und verträgt der Gang weitere Ausdehnung, eben weil sein Inhalt weniger bestimmt auftritt ; aber er ermattet und ermüdet auch leichter, wenn dieser Inhalt nicht anziehend und mannigfaltig genug ist; wogegen am Satz und der Periode schon der feste Rhythmus ein gewisses Interesse weckt und erhält.

Wohl aber müssen wir noch auf eine jener Mittelgestaltungen einen Blick werfen, in denen das Wesen von Gang und Satz in ein- ander zu schmelzen scheint. Wir finden sie in dem in No. 121 angeführten Beethoven'schen Adagio.

Schon dort (S. 128) haben wir auf die gedrängte Kürze des Hauptsatzes aufmerksam gemacht. Welche Gestalt sollte der Kom- ponist dem mittlem Theile seines Rondo's geben? Satzgestalt? Dann

Digitized by Google

Betrachtung der einzelnen Theile.

133

hätte er entweder den Seitensatz voller und gewichtiger ausführen müssen, als den Hauptsatz, oder er hätte lauter zusammengedrängte Sätze auf einander folgen lassen, und wäre damit in zerstückelte Darstellung gerathen. Da die Musik zunächst durch Sinn und Gefühl zu uns spricht, so bedarf sie, um aus zu tö- nen und uns durchzustimmen, einer gewissen behag- lichen Ausführlichkeit und verträgt weniger wie andre Künste eine längereReihe lakonischer Aeusserungen. Oder hätte Beethoven einen reinen Gang bilden sollen, wie wir in No. 425 und 127 angefangen haben? Ein so flüssiges und unbe- stimmtes Wesen hätte keinen gewichtigen Gegensatz gegen den ker- nigen Hauptsatz abgegeben, zumal, da aus obigem Grund eine ge- wisse Ausführlichkeit nöthig gewesen wäre.

Die sichere Anschauung dieser Sachlage leitete Beethoven auf eine Mischgestalt, die uns eben wegen ihrer tiefern Begründung lehrreich wird. Er schuf einen Gang, und zwar einen ausgedehnten (zwreiunddreissig Takte gegen einen Hauptsatz von elf Tak- ten), aber mit fortwährender Hinneigung zur Satzbildung. Hier

419

r r

8 8 8

sehen wir, nebst dem Hauptmotiv in Zweiunddreissigsteln, das erste Glied des Ganges, das in gleicher Weise fortgesetzt wird,

4 30 ^

r— r i r tiK^Tt=$^_

" 6 «4 Ö ^ *

b3 «

-er t> 7 4

und auf G (der Parallele des Tons, in dem der Gang aufgetreten) schliessen zu wollen scheint. Dies wäre dann der erste Theil eines liedförmigen Satzes gewesen. Aber auf dem Schlusstone selbst setzt ein neuer Fortgang ein, dem das Hauptmotiv (Takt 1 in No. 429) zwischen Ober- und Unterstimme zur Begleitung dient. Dieses Glied -

434

(Bass eine Oktave tiefer)

beginnt, wird in den nächsten vier Takten ähnlich wiederholt und im folgenden fünften Takte von Gdur nach Emoll zurückgeführt. Hier kehrt das Glied No. 1 29 wieder, wendet sich aber in seinem dritten Takte nach A moll ; es wird in A moll wiederholt und nach

Digitized by

134

Kleine Rondo formen.

Z>moll, hier wiederholt und nach ismoll geführt; von hier wen- det sich der nächste Takt durch einen verminderten Septimenakkord nach //. das aber nur als Dominante des Haupttons aufgefasst und zu einem Orgelpunkte von sechs Takten (in der Weise von No. 131) benutzt wird. Hier folgt Wiederholung des Hauptsalzes.

So hat Beethoven das fliessende Wesen des Gangs und ker- nige Satzbildung verschmolzen an einer Stelle, wo weder reiner Gang, noch reiner Satz angemessen und befriedigend sein konnte.

4. Der Uebergang.

Wir haben schon erkannt, wiefern ein Uebergang vom Haupt- in den Seitensatz und von diesem zurück in den Hauptsatz nöthig oder doch wttnschenswerth sein kann.

Auf dem erstem Punkte bedarf es in der Regel keiner oder nur sehr leiser Vermiltelung. Auch bei unserm Rondosatze No. 94 hätten wir den vermittelnden Satz aus No. 97 wohl entbehren können, wenn nicht der fremdere Ton des Gegensatzes ihn gefo- dert. Wählten wir z. B. das Maggiore,

un poc

0

piü nnimato

1 *-

* rf ?r ins

1 1 ' * 8

wie Mozart in seinem Andante No. 107, oder auch die Parallele,

so konnte der Seitensatz unmittelbar am Schlüsse des Hauptsalzes anknüpfen.

Wichtiger und meist unentbehrlich erscheint der lieber- oder Rückgang vom Seitensatze zum Hauptsatze. Er liegt auch gewisser- massen in der Idee, aus der die Form hervorgegangen, bedingt. Denn nachdem wir uns aus dem Hauptsatz entfernt und den Seiten- satz hingestellt haben, ist die Frage, ob wir noch weiter zu dritten Sätzen u. s. w. schreiten oder vielleicht mit dem Seitensatze schlies- sen, oder uns zu einheilvoller Abrundung des Ganzen auf den Hauptsalz zurückwenden und hierzu imsre Mittel und mannigfach angezogne Theilnahme sammeln werden ; und dies spricht sich im Uebergang aus.

Die Beschaffenheit und Ausdehnung desselben hängt aber zunächst von dem mehr oder minder festen Abschlüsse des Sei- tensatzes und von seiner Entfernung (nach Inhalt und Tonart) vom

Digitized by Google

Betrachtung der einzelnen Theile.

135

Hauptsatz ab. Ist der Seitensatz fest abgerundet und weder sein Inhalt noch seine Tonart zu weit entlegen, so können wenige Töne oder Takte für den Rückgang genügen , wie wir schon bei dem Beethoven'schen Z)moll-Rondo (S. 116) gesehn haben. Ist der Sei- tensatz fest abgerundet, dabei aber seiner Tendenz und Tonart nach vom Hauptsatz entlegner, so wird es meist gut sein, einen beson- dern vermittelnden Zwischensatz, wie wir in No. 101 bis 105 ver- sucht, oder doch einen überführenden Gang in Bereitschaft zu haben. Ist aber der Seitensatz nicht fest abgeschlossen, so fällt ihm selber anheim, sich gangweise fortzusetzen, bis entweder der Hauptsatz selbst (wie in No. 92) , oder die Dominante des Haupttons zum Or- gelpunkte (wie in No. 111) folgen kann. Hätten wir dem Seiten- satz in No. 97 keinen formirten zweiten Theil geben wollen, so konnte von Takt 13 der No. 97 ab so fortgegangen werden:

134 <

=uciü=Maii

i

■Ss— =

öS

B pp . R p

y mm Iii 9-m-m t TT bT tfp 1

Entweder kannte dies Motiv für sich allein an das Ziel füh- ren, oder es konnte sich mit dem Schlussmotiv aus No. 97 ablösen.

5. Der Orgelpunkt.

Das Bedürfniss, sich nach längerer Entfernung vom Hauptton auf dessen Dominante festzustellen, ist schon von früher her be- kannt. Es bleibt daher hier nur die nahe liegende Bemerkung zu machen, dass der Orgelpunkt sich natürlich stets aus dem Inhalte des Satzes oder der Sätze, zu denen er auftritt, bildet, folglich an der Beschaffenheit derselben Theil nimmt. Daher wird er in unsern jetzigen Aufgaben, die nur Liedform und Gang in sich fassen , nur ein leichtes Wesen haben, in der Regel nur aus einer leichten, über wenig Harmonien hinweggeführten Melodie oder rhythmisch melo- dischen Figuration, bisweilen aus einem blossen Gang der Ober-

Digitized by Google

136

Kleine Rondoformen.

oder t'nterstimmo (einer sogenannten Kadenz) bestehn, dergleichen wir in No. 92, 93 und 102 gesehn haben. Auch seine Ausdehnung richtet sich nach den Maassen der übrigen Theile.

So viel, um der in den vorhergehenden Abschnitten ertheilten Anweisung, wenn es nöthig, zu Hülfe zu kommen. Dem Jünger rathen wir, sich alle verschiednen Gestalten der beiden Rondoformen an eben so viel einzelnen Arbeiten vorüberzuführen , bis jede in ihrem Wesen erkannt und mit ihren Vortheilen und Wirkungen geläufig worden ist. Dann erst kann er ohne Schwierigkeit oder Ver- wirrung zu den höhern Formen fortschreiten*.

Zusatz.

Hier, am Schlüsse der ersten Reihe zusammengesetzter For- men, müssen wir noch eine besondre

rhythmische Gestaltung

in nähern Betracht ziehn, die zwar schon in den einfachen Formen vorkommen kann und vorgekommen ist, in den zusammengesetzten aber erst in ihrer Notwendigkeit erkannt wird, daher sie auch erst in diesen zahlreiche, fast unaufhörliche Anwendung findet. Auch wir haben sie schon mehrfach vor Augen gehabt**. Dies ist nämlich

das Zusammenfallen des Endes eines Glieds oder Abschnitts mit dem Anfang des folgenden. Betrachten wir es gleich an bereits vorliegenden Fällen. In No. 129 haben wir das erste Glied eines Ganges vor uns gehabt, das offenbar im nächsten (vierten) Takte satzmässig schlies- sen wollte., Allein auf demselben Takte setzt ein neues Glied oder vielmehr die Wiederholung des ersten auf dessen Schlusston ein. Hier

135

nr

Zweites Glied iE?

T

I

* Hierzu der Anhang E. ** Man vergleiche hiermit das Th. II, S. 548 u. f. Gesagte.

Die Mittheilung hier und in No. 429 ist der Kurze wegen nicht genau.

Digitized by Google

Betrachtung der einzelnen Theile. 137

sehn wir beide Glieder in getrennten Systemen ; der vierte Takt des ersten Gliedes geht in den ersten des zweiten auf. Eben so fehlt in No. 130 der Schlusstakt für die ganze erste Hälfte des Gangs; er ist vom ersten Takte der zweiten Hälfte (No. 434) ver- schlungen. Und so hat selbst der Hauptsatz (No. 121) seinen Schluss eingebüsst; statt des Schlusstaktes tritt der erste Takt des beginnenden Gangs (No. 1 29) ein, oder der Schlusstakt hat sich in Gang aufgelöst.

Dass diese Konstruktion forttreibende Gewalt hat, da sie an die Stelle der erwarteten Abschlüsse und Ruhepunkte stets neue Bewegung, den Drang zu neuem Fortschreiten setzt, ist ohne Wei- teres einleuchtend. Und so erkennen wir eben in ihr eins der wichtigsten Binde- und Bewegungsmittel für alle zusammengesetzten Formen, deren Wesen ja das ist, verschiedne Bestandteile zu einem grössern, in ununterbrochner Verbindung sich entfaltenden Ganzen zu einen.

Nicht unbemerkt wollen wir den Einfluss lassen, den diese Kon- struktionsweise auf die für die Erläuterung öfters (z. B. S. 423) nöthige Taktzählung hat. So oft der Schlusstakt eines Satzes oder Gangs mit dem Anfangstakte des folgen- den zusammenfällt, wird er sowohl für jenen alsdie- sen gezählt; so dass in der Rechnung das ganze Tonstück mehr Takte zu enthalten scheint, als in der Wirklichkeit*.

* Hierzu der Anhang F.

Digitized by

13S

Dritte Abtheiluug.

Die grösseren Rondoformen.

Die bisherigen Rondoformen haben uns die leichtesten Kombi- nationen aller zusammengesetzten Formen, die einfachste Zusam- mensetzung gezeigt; neben dem Hauptsalze stellte sich noch ein zweiter Satz oder gar nur ein Gang auf, dies waren die bei- den Hauptpartien, die sich in jenen kleinern Formen vereinten.

Nun aber haben wir schon erkannt, dass neben den Hauptsatz entweder ein Gang, oder ein Seitensatz ireten, und dass diese beiden sehr vielfachen Inhalt haben, desgleichen, dass wir für den Seitensatz unter verschiednen Tonarten wählen können; so gut wir einen Seitensatz, er soll mit A. bezeichnet werden, er- greifen, eben so gut könnte es auch ein andrer, er soll B. heissen, sein ; und so gut wir denselben in der Parallele, eben so gut können wir ihn in der Unterdominante oder einem andern Ton (und umgekehrt) auftreten lassen.

So liegt es also nahe, einem Rondo statt eines Seitensatzes deren zwei zu geben; vorher sahen wir ein, dass es einen oder den andern haben könne, jetzt beschliessen wir, dass es einen und den andern haben soll.

Hiermit ist die Grundbestimmung für die grössern Rondoformen ausgesprochen. Sie sind solche, die

aus einem Haupt- und zwei Seitensätzen bestehn. Dass ausser diesen drei Hauptbestandth eilen auch noch andre Sätze und Gänge zutreten können, sehn wir schon vor- aus; haben doch auch die kleinern Rondoformen ausser ihren zwei Hauptpartien noch Gänge und Sätze zur Verknüpfung, zum An- hang u. s. w. gebracht.

In der verschiednen Anordnung, Verknüpfung und Verwendung der Hauptpartien und des sonstigen Inhalts, den wir allmählich ken- nen lernen werden, sind die neuen Formen begründet und unter- schieden, die wir nun einzeln zu betrachten haben.

Erster Abschnitt.

Die dritte Rondoform im langsamem Zeitmaasse.

Die dritte Rondoform besteht im Allgemeinen aus eineniHaupt- satz und zwei Sei ten tzen. An die Stelle des einen Sei ten-

Digitized by Google

Die dritte Rondoform im langsamem Zeitmaasse.

139

salzes, möglicherweise beider, kann auch eine gangartige Entwickelung treten ; nur würde, wenn beide Seitensätze sich gang- artig auflösten, in der Komposition ein Missverhältniss, zu viel des unsteten Elements, zu besorgen sein.

Wir haben bis jetzt die Form nur äusserlich nach ihren Haupt- bestandteilen bezeichnet. Wie ist aber ihre künstlerische Entstehung zu fassen? Die Antwort auf diese Frage wird uns sogleich Wesen und Gesetz der ganzen Form, und den Grund- gedanken der folgenden Rondoformen aufschliessen.

So viel ist von selbst einleuchtend:

wir haben uns die dritte Rondoform als hervorgegangen aus der zweiten oder ersten vorzustellen.

In diesen nämlich sind wir vom Hauptsatz abgegangen, um ein Anderes, einen Gegensatz gegen ihn zu suchen ; dann sind wir auf den Hauptsatz zurückgekehrt. Nun aber führt uns der innere Trieb abermals vom Hauptton ab auf einen neuen Seitensatz, und wir werden dann nochmals auf den Hauptsatz zurückkommen. Es sind gleichsam zwei in einander geschobne Rondo's erster oder zweiter Form,

G

HS— SS— HS

HS— SS— HS

die das Rondo dritter Form bilden. Nennen wir den Hauptsatz A., den ersten Seitensatz 2?., den zweiten C, so ist dies

A_B— A— C— A

das Schema der neuen Form.

Hieraus erkennen wir alle Gesetze derselben.

Der Ha uptsatz.

Erstens muss der Hauptsatz fähig sein, zwei Seitensatze zu ertragen. Er muss vor allem wichtig und kräftig genug, oder für neue Ausbildung besonders geeignet sein, dass wir ihn zwar zweimal verlassen dürfen, doch aber jedesmal angezogen sind, auf ihn zurückzukommen. Dann muss er nicht von so scharf abge- schlossnem Inhalte sein, dass man nicht im Stande wär', ihm ver- schiedne und doch auch nicht zu fremde Seitensätze entgegenzu- stellen.

In dieser Hinsicht würden wir den in No. 88 beschlossnen Hauptsatz zu einer Rearbeitung nach dritter Rondoform wenig ge- eignet finden. Er ist von einem so in sich abgeschlossnen Karakte r, dass im Gegensatz zu seiner feierlichen und gemessnen Haltung der eine bewegtere und sich erhebende Nebengedanke, der den Gang statt eines Seitensatzes angeregt hat, genügend erscheint, und

Digitized by

140

Die grösseren Rondo formen.

ein zweiter Gegensatz so weit hergeholt werden müsste, dass da- durch der Hauptsatz von unsrer Theilnahme hinweggedrängt, das Ganze uneinig in sich selber würde. Auch lässt jener Hauptsatz keine Umgestaltung, kaum Aenderungen und Zusätze ohne Beein- trächtigung seines Karakters zu.

Auch der in No. 94 angefangene Hauptsatz scheint wenig geeig- net für die weitere Ausführung in unsrer jetzigen Form. Wenn man ihm auch Antheil zuwenden wollte, so würde doch das ihm eigne weiche Wesen nicht inhaltreich und nachhaltig genug sein, um dreimalige Darstellung wünschenswerth zu machen. Gleich- wohl werden wir, um Raum zu sparen, diesen Hauptsatz mit sei- nem zweiten Theil und dem Seitensatze mit seinen verschiednen Rückwendungen zum Hauptsatze (also No. 94, 97, 402, 405) unsern , folgenden Versuchen zum Grunde legen.

Aus ähnlichen Ursachen würden auch die von Mozart No. 107, Haydn No. 409, Beethoven S. 4 49, und die andern angeführten Hauptsätze für die dritte Form wenig geeignet sein. Das Beet- hoven'sehe, S. 4 49 erwähnte Thema ist von zu weichem, wenig nachhaltigem Karakter; das S. 426 erwähnte, so wie das in No. 421 mitgetheilte ist von zu abgeschlossnem und unabänderlichem Karak- ter (das letztere auch zu kurz und schnell vorübergehend) , das in No. 4 48 bis 420 angeführte ist in sich selber so erschöpfend aus- geführt, dass man es nicht ohne Schmälerung des Antheils zum dritten Mal aufstellen möchte. Es versteht sich, dass diese Be- merkungen keinen Tadel jener Sätze, sondern vielmehr die Aner- kennung aussprechen, dass ihre Erfinder genau erkannt, welche Behandlung für jeden die angemessenste.

Die Seitensätze.

Zweitens müssen die Seiten tze beide mit dem Haupt- satz aus einer Grundstimmung hervorgegangen und dennoch beide gegen ihn in gegensätzlichem Verhältnisse sein. Dies versteht sich nach dem früher Erläuterten. Wir setzen aber sogleich hinzu:

die beiden Seitensätze müssen auch unter einander im Gegensatze stehen;

denn sonst wären sie mehr oder weniger blosse Wiederholung des- selben Inhalts und würden nicht nur das Ganze ohne Vortheil ver- breitern, sondern auch durch ihre Übereinstimmende Wirkung das Interesse vom Hauptsatz ab- und auf sich hinziehen.

Hieraus folgen sogleich äusserliche Entschlüsse, die zwar die Sache nicht erschöpfen, doch aber als Fingerzeige für den Neuling wohl merkenswerth sind.

Digitized by Google

Die dritte Rondoform im langsamem Zeitmaasse. 141

Wir wollen den beiden Seitensätzen verschiedne Tonarten zuert heilen. Steht der eine im Minore oder der Parallele, so mag der andre in der Unterdominante stehn, u. s. w.

Desgleichen wollen wir beiden Seitensätzen verschiedne Bewegung geben ; ist der eine bewegter, so sei der andre ruhi- ger, oder wenigstens in einer andern Form bewegt.

Wir wollen die beiden Seitensätze verschieden konstruiren;

wobei wir bekanntlich die WTahl zwischen Gangform (oder Satz- kette) , satzmässiger oder periodischer, zwei- oder dreitheiliger, fest abgeschlossner oder in Gangform sich auflösender Liedform haben. Das Weitere und Tiefere hängt von Stimmung und Anschauung jedes besondern Falles ab.

Verknüpfung.

Drittens können die Hauptpartien (Hauptsatz und Seitensätze) einander bald ohne, bald mit vermittelnden Sätzen und Gängen an- schliessen, kann der Schluss mit oder ohne Anhang gebildet, der Inhalt aller dieser Nebenpartien bald aus dieser, bald aus jener Hauptpartie genommen, sogar neu gebildet werden ; es kann endlich jede der Nebenpartien ihr besondres Motiv haben, oder auch nicht.

Dies und alles Nähere sei jetzt praktisch an besondern Fällen erprobt.

Unsre erste Aufgabe soll sich, wie gesagt, an den No. 94 auf- gestellten Hauptsatz knüpfen, ungeachtet er dazu (S. UO) weni- ger geeignet scheint. Wir behalten eben so den Seitensatz No. 97 mit der zu ihm gehörigen Ueberleitung bei.

Sollen wir diesen Seitensatz zweitheilig ausbilden, oder gang- artig ausgehn lassen, etwa wie in No. 134 angedeutet ist? Wir würden das Letztere vorziehn; denn dadurch wird die Gleichheit der Konstruktion aufgehoben und das Gewicht des Seitensatzes ge- gen den für die jetzige Form ohnehin zu schwachen Hauptsatz ge- mindert.

Nach diesem Seitensatze, wie er sich auch gebildet haben mag, kehren wir zum Hauptsatze zurück und wiederholen den- selben.

Nun stehn wir auf der Gränze beider Rondoformen. Wollen wir der frühern, zweiten Rondoform anhängig bleiben, so wird mit dem Hauptsatz allein, oder mit ihm und noch einem Anhange ge- schlossen.

Wollen wir zur dritten Form Übergehn und noch einen zweiten Seitensatz folgen lassen, so wird schon

der Rückgang vom (ersten) Seitensatze zum Hauptsatz eine Aenderung erfahren. Wir können diesen Rückgang leichter behandeln, weil er doch nicht zur letzten Hauptpartie führt, der

Digitized by

Die dritte Rondoform im langsamem Zeitmaasse. 143

(die Wiederholung der Theile ungerechnet) wiederkehren. Dann im ersten Seitensatze war Des dur und abermals 4sdur (zum Schlüsse des ersten Theils, als Dominante von Des) aufgetreten. Von die- sen Tonarten kann also nicht mehr die Rede sein.

Sollen wir uns in die Dominante des Haupttons, nach Cmoll, wenden? Dann würde Mollauf Moll folgen (Fmoll, Cmoll, Fmoll); auch ist die Stufe C schon am Schlüsse des ersten Theils des Haupt- satzes und beim Rückgang in letztern (No. 136} benutzt worden und wird bei jeder Wiederholung des Hauptsatzes und bei dem zweiten Rückgang in denselben noch wiederholt werden müssen.

Sollen wir die Unterdominante, £moll, wühlen? Auch hier hätten wir die trübe Folge von Moll auf Moll, durch den getrübten Karakter von 2?moll noch fühlbarer. Auch würde uns keine gün- stige Modulation offenstehn; denn die Dominante des neuen Tons * wäre der Hauptton selber, die Parallele wäre das schon im ersten Seitensatz gebrauchte Des dur. Wir wählen also das Maggiore, Fdur.

Und nun die Bewegung. Dem ersten Seitensatz ist eine er- reglere und fremde (dreitheilig statt zweitheilig) eigen; der zweite muss sich hiervon, wie vom Hauptsatz unterscheiden. Wir fuhren ihn No. 94 als Wiederholung des Hauptsatzes vorausgesetzt und mit Abänderung des Schlusstaktes so ein

Digitized by Google

Weiterer Nachweis dieser Form

145

ist der Satz Takt 6 bis 9 und dessen Wiederholung, die aber schon keinen Abschluss hat, sondern mit einem Trugschluss in einen Gang übergeht, worauf die letzten Takte auf den Kernsatz zurückführen und im Hauptton schliessen zu wollen scheinen, wenn sie nicht (etwa mit Hülfe einer Verwandlung des letzten h in ces nach As dur, und so fort) abermals in einen Gang übergeführt und endlich auf die Dominante des Haupttons geleitet werden, worauf dann der Orgelpunkt und die letzte Wiederholung des Hauptsatzes folgen und mit dieser oder noch einem Anhang (etwa einer aber- maligen, nur theil weisen und veränderten Wiederholung des Haupt- satzes) geschlossen werden mtisste. Wir würden Übrigens, wenn das Tonstttck in der höhern Form ausgeführt werden sollte, nach dem zweiten Seitensatz einen weitern Gang durch mehrere Tonar- ten rathsam finden. Denn da dieser Satz schon in F steht, so bleibt ohne vorherige Entfernung von diesem Tone kein Mittel, den Eintritt des Orgelpunkts und des Haupttons (Fmoll nach Fdur) vor Einfarbigkeit zu bewahren.

Zweiter Abschnitt. Weiterer Nachweis dieser Form.

Betrachten wir nun zwei unsrer Form angehörige Tonstticke. In beiden wird sich die Form in ihren Grundzügen bewähren; in beiden aber werden wir auch, wie wir längst schon an andern Formen erfahren haben, Abweichungen in einzelnen Punkten zu bemerken und nach ihren Ursachen und Folgen zu forschen haben.

Das erste Tonstück ist das bekannte Andante »£a consolation«. von Dussek.

Der Hauptsatz, 2?dur, hat zweitheilige Liedform. Dies

438 <

dol. .

P!

m 4'} h-drird * rf.-fcr--

4

|1 'IM fi'

*~ Ped. * 1

1 -

i l^L^ö

er Um

ist der Vordersatz; der Nachsatz wiederholt die ersten Takte mit geringer Veränderung und führt zum Schluss in der Parallele, G moll,

Marx, Komp-L. III. 5. Aufl. *0

Jigitized by Google

146

Die grössern Rondoformen.

eine in Dur (besonders in Dussek's Zeit) zwar ungewöhnlichere Schlusswendung, die aber in ihrem wehmüthigen Ausdrucke der vorgesetzten Aufgabe des TonstUckes entspricht und nach dem be- reits für den Vordersatz verwendeten Schluss in der Dominante dient, Eintönigkeit der Schlussfälle zu vermeiden. Der zweite Theil setzt mit dem Hauptmotiv des ersten in Cmoll (als der Unterdomi- nante von Gmoll) ein, geht von da in dessen Parallele £sdur (Un- terdominante des Haupttons), und wendet sich über # moll, mit einem ähnlichen Ausdrucke, wie am Schlüsse des ersten Theils, im achten Takte zu einem Schluss in Fdur. Dann folgt mit leich- ten Veränderungen die Wiederholung des ersten Theils, nur dass der Nachsatz sich schon vom zweiten Takte zum Schluss im Haupt- ton wendet. Wir nannten oben die Form eine zweitheilige. Man sieht, dass sie auch wohl für dreitheilig gelten könnte, nur dass der zweite Theil durch gehäufte und unstete Modulation, Cmoll, Es dur, Bdur und moll, £sdur und Fdur, und unvollkommnen, ja zweideutigen Schluss (er macht sich durch ges-b-des-e, weist also eher nach Moll) nicht festgebildet und abgeschlossen wäre, was Übrigens auch nicht nothwendig ist. Jeder der beiden Theile übrigens, die wir oben bezeichnet, wird wiederholt.

Nun setzt in B moll der erste Seitensatz ein, ebenfalls zw7eitbeilige Liedform. Sein Kern ist dieser Satz,

139 <

der gesteigert wiederholt wird, bis sich die Bewegung des Basses unter alle Stimmen vertheilt und der Satz figurativ in der Parallele, Des&uv, zu Ende geht. Der zweite Theil fasst das Hauptmotiv des obigen Kernsatzes in No. 139) auf, behält auch wenn- gleich nur in untergeordneter Weise die Sechzehntelbewegung bei, verwendet aber beide in ermuthigenderm Sinne,

HO <

•" J J" lJ

* i

-U—n 1

? \ ff f\ 1 ::

y r^y—

>y Google

Weiterer Nachweis dieser Form.

147

und geht so Uber Ges dur und Es moll nach B moll zurück, wo im fünfzehnten Takte die Wiederholung des Kernsatzes (No. 439) und seiner Steigerung, und nur in andrer und weiterer Ausführung der figurativ gebildete Schluss des ganzen Seitensatzes erfolgt. Auch hier liegt, wie man sieht, die Dreitheiligkeit, nur unentwickelt, in der Zweitheiligkeit zum Grunde.

Betrachten wir vor weiterm Fortschreiten den Seitensatz im Verhältniss zu seinem Hauptsatze, so finden wir nur eine leise, etwa im Hauptmotiv (a in No. 439) angedeutete Beziehung zum Haupt- satze, der ebenfalls das beruhigende Niedersinken auf den Haupt- takttheil festhält; man kann es sich so

Hauptsatz.

ri r—

Grun

durch Begleitung i dzug des Hauptsatze

fr n

mit

md Vortrag betont

s.

1

f.

Seite

m

nsatz.

1 5 =

t^-^

=±=- p=

veranschaulichen ; auch die Gleichheit der Tonika wirkt für innere Verbindung beider Sätze mit. Dabei aber tritt das veränderte Tongeschlecht (doch auch hierzu hat es im Hauptsatze nicht an Anklängen gefehlt) , die Form der Begleitung durch selbständig gewordnen Bass, der figurative Ausgang beider Theile des Seiten- satzes in entschiednen Gegensatz zum Hauptgedanken, wie schon an No. 439 zu erkennen gewesen. Man hat hier, wenngleich die Komposition nicht zu den tiefsinnigsten zu rechnen ist, doch wieder Gelegenheit, die Einheit von Inhalt oder Stimmung und Form zu beobachten. Der ganze Seitensatz spricht das Zurücksinken in Gram im Gegensatz zur trostvollen Erhebung des Hauptsatzes aus. Dem gemäss stellt er Moll gegen Dur, ruhende Accente gegen die ela- stischem Motive des Hauptsatzes (man vergleiche in No. 4 41), verschmelzenden Bassgang und fliessende Figuration gegen die fest- gegliederten Rhythmen des Hauptsatzes.

Zugleich bemerke man, dass der Seitensatz in seiner geschlos- sen hinziehenden Weise keine Wiederkehr, Veränderung, weitere Ausführung wünschenswerth macht, obgleich das alles bei ihm, wie bei jedem andern Satze möglich wäre. Nach einer Wiederholung jedes Theils ist er für immer abgethan.

Jetzt kehrt der vollständige Hauptsatz wieder; die Wieder- holung seines ersten Theils geschieht in veränderter, belebterer Gestalt,

Digitized by

148

Die grössern Rondo formen.

Ped.

W * 1

i.— LlIUj

r? f g . "C i-

hr~^' 1 1 - 1

= •)

442

die dann bis zu Ende des Ganzen beibehalten wird.

Darauf tritt, abermals ohne weitere Vermittlung, der zweite Seitensatz in £sdur ganz frisch und mit neuen Motiven auf. Dies

U3

con tplrito

8 8

ist der Kern des neuen Satzes, der sich wie die vorigen zweitheilig mit Wiederholung jedes Theils in ununterbrochner Bewegung voll- endet. Welchen entschiednen Gegensatz er in seiner Frische und Beweglichkeit gegen den grämelnden ersten Seitensatz und gegen den sanften, oft wehmüthigen Hauptsatz bildet, ist ohne Weiteres klar; seine Einheit mit dem Vorhergehenden beruht hauptsächlich auf der im Hauptsatze (No. 4 42) erhöhten und nun noch weiter ge- steigerten Bewegung und der naheliegenden Modulation in die Unter- dominante.

Bis hierhin sind die Sätze ohne alle Vermittlung neben oder nach einander aufgetreten und man könnte insofern zweifelhaft sein, ob die Komposition wirkliche Rondoform oder nur eine Folge von Liedsätzen darstellte, wie wir sie Th. II, S. 79 kennen gelernt. Nur das ständ' einstweilen der letztern Annahme entgegen, dass beide Seitensätze nicht fest genug gegliedert sind, um für sich selb- ständig zu bestehn, wie man vom Trio eines Marsches, Tanzes in der Regel erwartet. Sie sind nur im Verein mit dem Haupt- satze geltend zu machen; und darin eben offenbart sich ihr Karakter als der eines Seitensatzes und der richtige Formsinn des Kompo-

* Die Sextolen sind eigentlich Doppeltriolen. Vgl. d. Verf. Allgem. Musik- lehre, S. 86, U6.

Digitized by Google

Weiterer Nachweis dieser Form.

149

nisten. Jetzt aber trennen sich die nah verwandten Formen (Lied- kette und Rondo) unzweideutiger.

Nach dem Abschlüsse des letzten Seitensatzes wird die Bewe- gung in der Begleitung beibehalten und darüber ein neues Sätzchen eingeführt

t Schlusston

U4

con affetto

HE

i r m-

mm

Dies wiederholt sich mit einem Schluss auf Es, abermals mit einer Wendung auf die Dominante von Cmoll, wird da weiter aus- und auf die Dominante des Haupttons zu einem Orgelpunkte von neun Takten geführt, wrorauf der Hauptsatz wiederkehrt, erst mit leichten Aenderungen, dann von der Wiederholung des ersten Theils an abermals mit gesteigerter Bewegung,

"5 ZU

die vollständig durchgeführt und dann nebst dem Hauptmotiv zur Bildung eines Anhangs

446

von 16 Takten benutzt wird.

So zeichnet sich das ganze Tonstttck in folgendem Schema ab : HS SSI HS SS2 G u. OP HS Anhang. Die Wiederholungen der einzelnen Theile zugerechnet, haben diese verschiednen Theile folgende Längen:

4) der Hauptsatz 2x8 und 2x16 Takte

2) - 1ste Seitensatz 2-8 - 2-26 -

3) f- 2te - 2-8-2-8 -

4) - Gang mit Orgelpunkt 19 Takte

5) - Anhang 16 -

Die Modulation geht in den Hauptstücken den einfachsten Weg : JJdur, ßmoll, 2?dur, Zftdur, ifdur,

Digitized by

150

Die grossem Rondoformen.

kann sich aber im Innern der Sätze (wie oben gelegentlich bemerkt worden) um so freier gehn lassen.

Nur zweierlei kann auffallen : die Gleichförmigkeit in der Ge- staltung der drei Sätze und der Mangel verbindender Gänge vor und nach dem ersten und vor dem zweiten Seitensatze. Das Er- stere könnte allerdings zur Einförmigkeit fuhren, wenn nicht der Inhalt der drei Sätze so entschieden mannigfaltig wäre. Der Gänge aber bedurfte es nicht, da die Modulation sich im engsten Kreise bewegt (namentlich zu Anfang zwischen Bdur und J?moll hin und her) und überdies beide Seitensätze, besonders der zweite, selbst so viel des Gangartigen in sich haben, dass Zwischengänge allzu- viel Beweglichkeit in das Ganze gebracht hätten. In Bezug auf den zweiten Seitensatz (No. 143) scheint dies unwidersprechlich ; der erste Seitensatz hätte nach der Wiederkehr seines Anfangs im zweiten Theil auf der Dominante festgehalten und gangartiger von da in den Hauptsatz übergeleitet werden können. Allein einen we- sentlichen Gewinn hätte dies (ausser einem vielleicht noch frischern Eintritt des Hauptsatzes) nicht gebracht ; er schliesst auch jetzt mit acht figuralen Takten und hat daran genug*.

Die zweite Komposition, die wir zu betrachten haben, ist ein Rondo aus ,4moll von 31 o zart**, eine der feinsten und gefühl- vollsten Klavierkompositionen jenes Tondichters, obwohl der Behand- lungswreise des Instruments zu eigen gegeben, die schon der dama- lige Zustand der Instrumente und des Spiels bedingte.

Der Hauptsatz hat dreitheilige Liedform. Dieser Vordersatz des ersten Theils

And

ante.

p

* r_fr*r'i

cresc.

p

. -n-. -Fi-

M

r f

r

r

f T

wird mit feinen Aenderungen als Nachsalz wiederholt und im Haupt- tone geschlossen. Der zweite Theil tritt mit dem Hauptmotiv des ersten (a in No. U7) unmittelbar fn der Parallele, Cdur, auf; er fügt sich (wie Mozart oft liebt) aus kleinen Sätzen zusammen, einem von 4 Takten, mit Schluss in Cdur, einem abermals vier- taktigen, der über Cdur wieder in Cdur schliessen will, aber mit

* Hierzu der Anhang G. ** Band 6 der Breitkopf-Härtel'schen Gesammtausgabe ; No. 8 der neuen Ausgabe der einzelnen »Zwölf Klavierstücke«.

Digitized by Google

Weiterer Nachweis dieser Form

151

einem Trugschlüsse nach A moll wendet, und der Wiederholung des letztern mit vollkommnem Schluss in Cdur, während die vorigen zwei Schlüsse unvollkommen waren. Von dem Schlusstakte wird in dieser Weise,

Wiederanfang.

also mittels des Hauptmotivs zu dem ersten Theile zurückgelenkt und derselbe als dritter, wieder mit sinnigen AendeniDgen, wiederholt.

Hiermit sind Hauptton und Parallele einstweilen erschöpft. In welcher Tonart sollte der Komponist wohl den nun zu erwar- tenden Seitensatz aufführen? Der nächste günstigste Ton, die Par- allele, ist schon vorweggenommen. Die Dominanten, Z)moll und ismoll, wären, zumal bei der weichen wehmtithigen Stimmung des Hauptsatzes, zu trüb; abgesehn hiervon würde Dmoll den Vorzug verdienen, weil dann die Rückkehr zum Hauptsatz einen Auf- schwung böte. Diese Sachlage bewog den Komponisten*, sich nach der Parallele der ünterdominante, nach Fdur, zu wenden; akkordisch liegt diese Modulation (der Mediante, s. Th. I, S. 219) ebenfalls nahe.

* Nicht stark und oft genug kann man gegen die so oft falsch gefasste und ausgelegte Vorstellung protestiren, dass im Künstler das Schaffen »unbe- wusst« vor sich gehe und dass man lieber das Studium und Nachdenken lliehn solle, um nur jene »Naive tat« ja nicht zu stören, oder womöglich wieder heranzuträumen. Ganz gewiss waltet über den Schöpfungsmomenten des Künstlers ein Mysterium (können wir doch überhaupt nicht angeben, woher uns Gedanken kommen!), und sicherlich kann ein Kunstwerk nicht zu- sammengedacht und zusammengerechnet werden , aber eben so wenig zusammengeträumt. Was im Kunstwerk an den Tag kommt, muss zuvor im Künstler gewesen, muss ihm in Sinn und Geiste gekeimt und aufgewachsen sein. In welcher Form es ihm dann in der schöpferischen Stunde zugekom- men, ob z. B. Mozart bei der Komposition seines Rondo sich gesagt, dass und warum er den Seitensatz in die Parallele der Unterdominante stellen wolle, oder ob ihn eine rasche Empfindung der Verhältnisse in diesen Ton geführt, das ist sehr gleichgültig; er hätte aber fehlgegriffen oder würde nur zufällig einmal das Rechte ertappt und das nächste Mal vielleicht wieder fehlgegriffen haben, wäre nicht sein Geist schon vor dem Beginn der Komposition in ernstem Sinnen und Arbeiten durchgebildet worden.

Zufällig und glücklich für die Zweifelnden trifft es sich, dass Mozart über einen ganz ähnlichen Fall die Beweggründe seiner Modulation schriftlich hinterlassen hat. In der Arie des Osmin in Belmonte und Konstanze : »Solche hergelaufne Laffen« geht er aus bestimmten und bewussten Gründen, gleich den oben angeführten, von Fdur nicht nach Dmoll, sondern in die nächste Tonart, Jmoll. also den gleichen Weg, nur umgekehrt. Wie klar er seine Gründe darüber ausspricht, ist in der Nissen' sehen Biographie oder im Uni- versal-Lexikon der Tonkunst (in seiner Biographie vom Verf. dieses) zu lesen.

Digitized by Google

152

Die grössern Rondo formen.

In Fdur also tritt der erste Seitensatz auf, und zwar, wie hier

3^

U9 n

mag

,

?#

I

äff

i k

der Vordersatz (er schliesst bei f) zeigt, in ganz abweichender, nur durch die Stimmung des Ganzen an den Hauptsatz anlehnender Weise, wenn man nicht die Verzierung des Anfangs und die Erinnerung an ein Nebenmotiv (6 in No. 147) als formell bestimm- tere Anknüpfung aufnehmen will. Der obige Satz wiederholt sich und wird noch weiter, in die Dominante gewendet, benutzt ; so bil- det sich der erste Theil. Der zweite Theil führt die Motive des ersten über Cmoll und Fmoll weiter und wiederholt den ersten mit einer Schlusswendung in den Hauptton des Seitensatzes, Fdur. Der ganze Satz ist in der beweglichen Weise des oben gezeigten Anfangs lebhaft und sinnreich fortgeführt, bald Ober-, bald Mittel- oder Unterstimme haben die in No. 149 in der Mitte liegende Be- wegung zu unterhalten.

Von dem fremdern Fdur war aber kein unmittelbarer Rück- schritt zum Hauplton und Hauptsatze zu thun. Daher setzt auf dem Schlusstakte selber ein Gang ein, aus Motiven des vorigen Satzes gebildet, führt zuerst geradeswegs nach AmoW,

450

geht dann zu besserer Befestigung mit einem andern Motive des Seitensatzes nach B, wo mit einem dritten Motive des Seitensatzes

ein Orgelpunkt gebildet wird, der endlich zur Wiederholung des Hauptsatzes überführt.

Allein diese Wiederholung ist unvollständig; nur der erste

Theil des Hauptsatzes kehrt wieder. Woher diese Abweichung oder Abkürzung der Form ?

Weiterei' Nachweis dieser Form.

153

Erstens ist, wie wir schon erfahren haben, der Inhalt des Hauptsatzes so einfach, dass vollständige Wiederbringung und da- mit breite Wiederkehr der langsamen Bewegung nach der beseel- tem des Seitensatzes (man vergleiche No. 4 47 mit 149) eher lästig als günstig gefunden werden müsste. Wir werden jedoch bald die Folgen sehn.

Zweitens würde der zweite Theil des Hauptsatzes wiederum Cdur in aller Breite gebracht und keinen gleich frischen Ton in der Nähe des Haupttons für den zweiten Seitensatz übrig gelassen haben.

Der dritte Grund zeigt sich erst im zweiten Seitensatze. Dieser' tritt nämlich so ähnlich dem Hauptsatz

und mit so naheliegender Modulation (nach A moll A dur) auf, dass weitere Ausführung des Hauptsatzes durch den Seitensatz selbst überflüssig wird. Allein hierbei konnte es nicht bewenden ; der neue Gedanke musste mit dem vorangehenden in Gegensatz treten, so eng er sich ihm auch anfangs anschloss; der wehmüthigen Stim- mung des Hauptsatzes, aus der sich schon der erste Seitensatz er- muthigend losgerissen und erhoben, musste Mozart's liebreiches Wesen sanften, süss erheiternden Trost folgen lassen. So stimmt wiederum das Verlangen der Form mit dem psychologischen Her- gang im Gemüth überein ; nach dem sanften Anschluss an die Klage des Hauptsatzes belebt sich der Seitensatz zu lebendigerer Regung ;

aus gleichem Stoff und in gleicher Stimmung bildet sich der zweite Theil und schliesst mit dem eben angeführten Satz in 4 dur.

Hier war nun wieder ein Gang nöthig, um das Erscheinen des Hauptsatzes zu vermitteln und dem belebten Momente des Seiten- satzes (No. 152) vollen Spielraum zu gewähren. Es wird zunächst der zweite Takt von No. 152 als Motiv ergriffen, vom Bass in yldur, dann mit einer Wendung nach F/smoll, mit einer gleichen nach D dur gesetzt ; dann bildet sich aus diesem Stoff und harmo- nischer Figuration der weitere Gang nach Cw, H, A dur über A moll und 2? dur nach E zu einem abermaligen Orgelpunkte.

Digitized by

154

Die grössern Rondoformen.

Nun folgt ordnungsmässig die Wiederholung des Hauptsatzes, und zwar vollständig, wiederum mit Veränderungen.

Dass ein so weit geführtes Ton stück nicht leicht ohne Anhang enden wird, ist ohnehin vorauszusetzen ; denn der Schluss des Hauptsatzes, der für diesen allein genügt hat, kann schwerlich auch für die ganze so viel mehr umfassende Komposition befriedigen. Allein zum Anhang und für denselben wirken noch besondre Gründe mit.

Der Hauptsatz ist, wie wir wissen, bei seiner vorigen Wie- derholung abgekürzt worden, mit Recht, aber gleichwohl zu seiner Benachtheiligung. Sodann ist er ungeachtet der neuen und beweglicher geschmückten Ausführung doch im Ganzen zu ruhig, als dass er nach beiden bewegten Seitensätzen einen befriedigenden Schluss böte. Es muss zwar mit ihm, aber mit der erhöhten Be- wegung der Seitensätze geschlossen werden.

Daher führt Mozart zunächst den Schluss mit ähnlichen Mo- tiven weiter auf die Dominante und wiederholt dann den Kern des Hauptsatzes mit einer figuralen Gegenstimme, die zuerst vom Basse,

dann (ganz frei) von der Oberstimme (während der Bass den Satz übernimmt) geführt wird. Hiermit ist die Bewegung des ersten Seitensatzes repräsentirt; nun wird aber auch des zweiten gedacht; der Bewegungssatz desselben (No. 152) wird zweimal (natürlich im Haupttoni aufgeführt und mit gleich bewegter harmonischer Figu- ration und dem Hauptmotiv des Hauptsatzes (a in No. 147) ge- schlossen.

Die räumlichen Verhältnisse dieser Komposition sind folgende:

1) Hauptsatz: Th. I, 8, Th. II, 44, Th. III, 8 Takte;

2) erster Seitensatz : Th. I, H, Th. II, 23 Takte;

3) Gang und Orgelpunkt: 10 und 7 Takte;

4) Hauptsatz: Th. I, wie oben;

5) zweiter Seitensatz: Th. I, 9, Th. II, 15 Takte;

6) Gang und Orgelpunkt : 1 0 und 7 Takte ;

7) Hauptsatz : wie oben, und 4 Takte weiter geführt ;

8) Anhang: 20 Takte.

8ra - -- -- -- -

■ß-

Digitized by Google

Unterschied des langsamen and bewegtem Zeitmaasses. 155

Durchweg sind dabei diejenigen Schlusslakte, die zugleich An- fang eines folgenden Ganges sind, doppelt gerechnet. Die unregel- mässigen Taktzahlen übrigens: 8, 9, 11, 23 u. s. w. werden Nie- mand befremden, der unsern rythmischen Entwickelungen bei der Liedform (Th. II, S. V u. f.) gefolgt ist.

Dritter Abschnitt. Unterschied des langsamen und bewegtem Zeitmaasses.

Die kleinern Rondoformen haben wir (S. 95) im langsamem Zeitmaasse dargestellt, ohne zuvor nähere Bestimmung zu geben; wir haben einstweilen auf Erfahrung und Instinkt des Jüngers ge- rechnet. Nun aber ist Anlass und Nothwendigkeit vorhanden, den Einfluss des Zeitmaasses auf die Form zu erwägen; die dritte Rondoform bildet den Uebergang, insofern sie sich beiden Seiten, dem langsamem und schnellern Zeitmaasse geeignet erweist.

Wollen wir hier zu festen Resultaten gelangen, so müssen wir uns klar machen, welcher Sinn im Zeitmaasse liegt? Wir dürfen dabei alle feinem Abstufungen bei Seite setzen und nur den Unterschied vom langsamen und schnellen Zeitmaasse in das Auge fassen ; hiernach begreift sich der Sinn des mehr oder minder schnellen oder langsamen Zeitmaasses von selbst.

Die Bedeutung des Zeitmaasses ist keineswegs damit erschöpft, dass man sich sagt : das eine habe schnellere, das andre langsamere Tonfolge. Dieser Gegensatz kann in demselben Zeitmaasse dargestellt werden; ein Gang von Sechzehnteln oder Zweiunddreissigsteln im Adagio kann schneller sein, als ein Gang von Vierteln oder Achteln im Allegro; ein Adagio kann mehr solcher schnell folgenden Töne enthalten, als ein Allegro. Hier ist also die zufällige Bildung dieser oder jener Komposition allein waltend und ein wesentlicher Unter- schied nicht zu finden. Dennoch liegt er nahebei.

Der Sinn des langsamen Zeitmaasses ist: vorherrschendes Verweilen bei den einzelnen Momenten. Wenn im Komponisten diese Neigung waltet, so durchdringt sie das Ganze mit dem Hang, die einzelnen Momente tiefer, inniger und darum weilender zu fas- sen ; die Einzelheiten werden für sich wichtiger und selbständiger.

Der Sinn des schnellen Tempo ist: Vorherrschen der Be- wegung. Wenn im Komponisten diese Neigung waltet, dann bedingt sie schnelles Zeilmaass, indem sie das Ganze in allen Partien durchdringt, nicht bloss beiläufig, etwa in zufälligen Sechzehntel- oder Zweiunddreissigstelgängen und Verzierungen. Es tritt mehr die Bedeutung des Ganzen im kräftig einigen Flusse

Digitized by

156

Die grössern Rondoformen

hervor und die einzelnen Partien geben sich der Bewegung des Ganzen als dessen Theile hin.

Nun erinnere man sich der ersten Konstruktionsgesetze, so werden sich die Karakterzüge der Sätze in schnellem) Tempo im Gegensatze zu denen im langsamen Tempo sicher und leicht er- kennen lassen.

Welches ist die Grundform der Bewegung, nämlich die- jenige Grundform, in der die Bewegung vorherrscht? Der Gang. Folglich werden im schnellen Tempo Gänge, gleichviel, ob sie sich als blosse Tonreihe, oder als harmonische Folge oder als Satz- kette bilden, häufiger und in grösserer Ausdehnung stattfinden, als in Kompositionen langsamen Tempo's.

Welches ist umgekehrt die feste Form, gleichsam der ste- hend gewordne musikalische Gedanke? Der Satz. Dass dieser, wie die aus ihm hervorgegangnen Formen der Periode und des zwei- und dreitheiligen Liedes in keiner Komposition (das einfachste Vorspiel und die präludienhafte unterste Gattung der Etüde ausge- nommen) entbehrt werden können, wissen wir bereits. Wir sehn aber voraus : dass, wenn im schnellen Zeitmaasse der Trieb der Be- wegung vorherrschen soll, häufiger die Form des Satzes, als die der Periode und des zwei- oder dreitheiligen Liedes Anwendung finden werden. Denn die letzteren Formen bestehn aus zwei oder mehr Sätzen, gewähren also der Neigung zur Stetigkeit vorzügliche Geltung. Dagegen haben wir schon bei- läufig erkannt, dass in Sätzen langsamen Zeitmaasses gern die zwei- und dreitheilige Liedform ihre Stelle nimmt.

Wodurch endlich wird selbst im Satz oder in der Periode die Bewegung flüssiger und erregter? Hinsichts der Konstruktion durch fliessende, gleichsam an einander geschmolzne Glieder, durch fortgehende und gleichmässige Bewegung der einzelnen Theile; har- monisch durch einfachere, mehrere oder viele Melodienoten zu- sammenfassende und damit verschmelzende Akkordfolge; melodisch durch grössere Gleichheit der Bewegung (Tonfolge und Rhythmik) und Richtungen.

Dies sind die Gesetze, die uns bei der Bildung von Sätzen im schnellen Tempo leiten werden ; es sind Folgerungen aus Anschau- ungen und Grundsätzen, die uns längst* geläufig worden sind. Das Entgegengesetzte wäre für langsamer bewegte Kompositionen Gesetz.

Daher trägt dieses Thema aus Beethoven' s Ouvertüre zu Egmont,

* Th. [, S. 415 u. f.

Digitized by Google

Unterschied des langsamen und bewegtem Zeümaasses. 157

454

39

h3?

r '

oder dieses aus Mozart's Gmoll-Syniphonie,

oder dieses aus dem Allegro einer Sonate von Hummel

456

U. 8. W.

^i1 J U £g

limile " ^

den Karakter eines Tonstücks in schneller Bewegung an sich; alle diese Sätze mttsste man als Allegrosätze erkennen, wenn auch gar kein Tempo angegeben wäre; ja man mUsste sie als Adagiosätze geradezu schlecht nennen.

Wenden wir uns nun zu frühern Beispielen zurück und prüfen an ihnen die neuen Grundsätze.

Könnte wohl das Thema No. 94 schnelle Bewegung vertra- gen? — Gewiss nicht; es zeigt kleine rhythmisch und harmonisch von einander abgesonderte Glieder, mannigfache Motive der Melodie, ausgeführte, abwechslungsreiche Begleitung ; alles das will vernom- men und gefühlt sein und wiederstrebt daher schnellerer Bewegung. Für eine solche, z. B. für ein Rondo-AI legro, müsste sich der Satz etwa in dieser Weise

157

Digitized by Google

158

Die grössem Rondoformen.

umgestalten. Aus denselben Gründen, die hier entscheiden, würden die in No. 96 und 97 angedeuteten oder ausgeführten Sätze schon lebhaftere Bewegung vertragen, und das bei letzterm angezeich- nete Piü animato hat daher seinen innern Anlass. Dasselbe gilt von den Haydn 'sehen Thematen No. 109, 111, von den Beetho- ven'sehen No. 112, 114, so wie auch das Tempo des Beetho- ven'sehen Satzes No. 118 hiernach zu beurtheilen ist. Dieser letztere Satz ist, wenn man ihn nach den obigen Grundsätzen ermisst, weder der Tendenz des langsamen, noch des schnellen Tempo's unbedingt und ausschliesslich angeeignet, und darum hat er auch ein mittleres Tempo, ein Allegretto mit vorherrschen- der Viertelbewegung.

So viel über die einzelnen Partien für jetzt. Leichter noch begreift sich der Einfluss desZeitmaasses oder vielmehr des für das eine oder andre Zeitmaass geeigneten Inhalts auf die For- mu ng des Ganzen.

Im schnellen Zeitmaasse herrscht das Prinzip der Bewegung vor; folglich können wir nicht nur, wir müssen mehr Hauptpartien haben, die der Gegenstand dieser angeregten grössern Gemüths- und Tonbewegung sind. Im langsamem Tempo verweilend, vertiefen wir uns mehr in die Einzelheilen ; und darum können wir für we- niger Partien Zeit und Fassungskraft finden.

Daher kommt es, dass die kleinern Formen vorzugsweise für langsamere Sätze geeignet sind, und umgekehrt bewegte Sätze umfassendere Formen bedingen ; ja dass wie wir weiterhin sehn werden die umfassendem Formen, wenn man sie auf langsamere Sätze anwendet, gern abgekürzt werden. Es war also nicht Will- kür, sondern im Wesen der Sache begründet, dass die ersten Rondoformen an Sätzen langsamen Tempo's gezeigt wurden ; und hierin erkennen wir den letzten Grund, warum die Erhebung des in No. 94 begonnenen Andante zu einem Rondo dritter Form (No. 137) kein erfreulicheres Resultat geben wollte.

Die dritte Rondoform ist, wie schon die Ueberschrift des ersten Abschnitts (S. 138) andeutet, ebensowohl für schnelles als lang- sames Tempo geeignet ; an sie knüpft sich daher die Karakteristik des Tempo's und der Uebergang zu den Formen des schnellen Tem- po's am natürlichsten an, obwohl manche dieser letztem nach der geistig-beweglichen Natur alles Tonwesens sich rückwärts auf Sätze langsamen Tempo's übertragen lassen werden.

Allein in einer Beziehung neigt die dritte Rondoform schon mit Uebergewicht zu dem Vorherrschen der Bewegung hin; dies ist die grössere Anzahl ihrer Partien. Die dritte Form umfasst, die Wiederholungen eingerechnet, fünf Sätze, ungerechnet die

Digitized by Google

Unterschied des langsamen und bewegtern Zeitmaasses. 159

Gänge und den Anhang; und diese Sätze haben meist zwei- oder dreitheilige Liedform. Diese Reihe von Sätzen, die nach der Natur des langsamen Tempo zur Vertiefung in die Einzelheiten ihres Inhalts auffodern, ja nöthigen, muss in ihrer Ganzheit lastend, ja sie kann leicht ermüdend erscheinen, so anziehend auch jede ein- zelne Partie sein mag. Selbst die beiden zuvor betrachteten Ron- do's von Dussek und Mozart, so sinnig und anziehend sie besonders das Mozart 'sehe fast in jedem Zuge sind, scheinen uns doch eine gewisse Länge fühlbar zu machen; ja die Kompo- nisten scheinen diese gefühlt und Alles aufgeboten zu haben, um den Nachtheil zu mindern. Hierhin deutet bei Dussek die bei jeder Wiederholung des Hauptsatzes (No. 138) gesteigerte Bewegung (No. 142, 145), bei Mozart die zuletzt fast überladne Auszierung des Hauptsatzes und das Bedürfniss, denselben in der Mitte (S. 152) zu verkürzen. Auch darin spricht sich die Hinneigung zu der Form des schnellen Tempo's aus, dass bei Dussek die Sätze selbst (namentlich der zweite Seitensatz, No. U3 ganghaften Karakter annehmen, bei Mozart die Gänge und ganghaften Sätze sich aus- zubreiten und fast vorzuherrschen beginnen.

So viel für jetzt über die Bedeutung des Tempo für den Kom- ponisten. Dass nicht überall alle Karakterzüge getroffen, dass bald dieses, bald jenes Gesetz unberücksichtigt gelassen und das hier Versäumte auf andre Weise ergänzt oder ersetzt werden, dass es endlich gemischte und Mittelformen geben kann, wie eben das Rondo dritter Form : das alles ist wahr, kann uns aber nicht befrem- den, da wir fortwährend, schon in den ersten Theilen der Lehre, erkannt haben, dass mechanisch scharfes Abgränzen dem Wesen der Kunst nicht gemäss und darum weder ausführbar noch nöthig ist. Auch hier, wie früher bei der Fugenlehre (Th. II, S. 365) und anderwärts, muss ausgesprochen werden : dass der Begriff einer Kunstform vollständig in keinem einzelnen ihr angehörigen Werke, sondern in der Gesammtheit aller enthalten und zu suchen ist. Jede Kunstform ist nur ein allgemeinerer Gedanke, ein Gattungs- gedanke, dessen besondere Bethätigung in den einzelnen Kunst- werken alle Besonderheiten, eigenthümliche Wendungen und Abwei- chungen an sich haben darf und muss, die aus der besondern Idee des einzelnen Werks hervorgehn. Je vielfacher nun der Inhalt eines Kunstwerkes, desto häufiger ist auch Anlass zu solchen Be- sonderheiten, und so kann selbst bald mit Recht, bald mit Un- recht und aus Schwäche in einzelnen Partien vom Sinn und Streben des Ganzen mehr oder weniger abgewichen werden*.

* So kann z. B. durch die Begleitung (vergl. Th. I, S. 449 u. f.) ein und demselben Satz verschiedne Bedeutung und Richtung gegeben werden; der

Digitized by

160 Die grössern Rondoformen,

Nicht diese Abweichungen sind dem Jünger das zunächst Wich- tige und Lehrreiche, sondern die Grundform, aus der er die ganze Reihe der dahin gehörigen Gestaltungen und selbst die Abweichungen von ihr zu begreifen hat und von der auch seine ersten Versuche geleitet werden.

Vierter Abschnitt. Die dritte Rondoform im bewegtem Zeitmaasse.

Zur Einführung in die dritte Rondoform schnellen Tempo's ge- nügt nunmehr die blosse Hinweisung auf die vom Tempo bedingten Unterschiede, oder vielmehr auf die Unterschiede des Inhalte, welche sich zunächst in der Wahl eines andern Tempo kundgeben, von der Ausführung derselben Form im langsamen Tempo. Es werden also sämmtliche Gesetze und Reobachtungen, die sich im ersten und zweiten Abschnitt ergeben haben, auch hier ihre An- wendung finden ; nur wird der Inhalt von Grund aus andre Ten- denz und Gestaltung offenbaren.

Um diesen Unterschied scharf zu fassen, wenden wir uns auf unsern No. 94 aufgestellten Rondosatz zurück.

Es ist schon S. 157 angedeutet worden, warum der Inhalt dieses Satzes langsame Rewegung innerlich nothwendig mache und zu schneller Rewegung ungeeignet sei. Versuchen wir seine Um- gestaltung, wie sie in No. 457 schon begonnen ist, zu einem Satz im schnellen Tempo, des Raumes wegen nur in der Hauptstimme mit Andeutung der Regleitung.

Mozart'sche Satz No. 1 47 erscheint in No. 1 53 beunruhigt, und der Allegrosatz No. i 55 könnte durch lastendere Begleitung und eine nacbdruckvollere Rhythmik

£ J J5j . J ! -

158

I

SB

allenfalls in einen Andantesatz umgewandelt werden. Aber es geschähe nicht nur zum Schaden der lebenvollen Mozart' sehen Komposition, sondern es würde der so einfachen, lebendigen Fluss heischenden Melodie eine diesem Verhalten schnurgeradeentgegenlaufende Begleitung aufgeladen ; dieser innere Widerspruch würde das Ganze als unwahr aufweisen und jede lebendige Wirkung zerstören.

Digitized by Google

Die dritte Rondoform im bewegtem Zeitmaasse.

161

Tri T

Im ganzen Satze, No. 157 und 159, giebt sich ein schnelles Zeitmaass, etwa Allegro agitato, zu erkennen; die Stimmung von No. 94 erscheint in ihm leidenschaftlich gesteigert, die einzelnen Momente des Ganzen haben fliessendere, meist diatonische Gestalt (No. 157, Takt 1 bis 2, No. 159, Takt 3, Takt 5 bis 6) angenom- men, die Motive werden weiter und in einheitvollerer Richtung (No. 159, Takt 8 bis 11) benutzt; es bilden sich Abschnitte von je vier Takten statt der zweitaktigen von No. 94 ; die Abschnitte sind nicht, oder nicht bestimmt und trennbar gegliedert. Endlich ist das Ganze ein einziger Satz (der Vordersatz schliesst No. 159, Takt 4), dessen eigentlicher Schluss auf Takt 12 in No. 159 fällt; das Weitere ist Anhang.

Schon das würde in einem Rondo langsamer 'Bewegung nicht wohl angehn, dass der Hauptsatz aus einer einzigen Periode be- stände*; der umständlicher und feiner gegliederte Inhalt langsamer Sätze (namentlich der Hauptsätze) drängt von selbst zu einer Aus- einandersetzung in zwei oder drei Theilen. In einem Rondo schnel- ler Bewegung dagegen könnte eine voll ausgeführte, allenfalls durch Anhänge noch befriedigender abgeschlossne Periode, wie die vor- stehende, füglich als Hauptsatz gelten. Doch erscheint selbst hier die zweitheilige Liedform weniger die dreitheilige als die dem Grundgedanken des Rondo günstigere ; der eine Hauptsatz des Ganzen, auf den immer wieder zurückgegangen wird, erhält dadurch eine Fülle, die ihm stets das Uebergewicht zuwendet und ihn, gegen die Gänge und Seitensätze gehalten, als Hauptgedanken, auf dem alles Andre beruht, erscheinen lässt. Man kann aussprechen: der Hauptsatz im langsamen Tempo ist eher der Dreitheiligkeit zugeneigt, als der einfachen Periodenform; der Hauptsatz im schnellen Tempo würde eher die einfache Periodenform, als die Dreitheiligkeit ergreifen;

* Oder dieselbe müsste, wie der in No. 87 geschlossne, mit grösster Aus- führlichkeit gebildet sein.

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl.

14

Digitized by

162

Die grössern Rondoformen.

so dass beide Formen in der Zweitheiligkeit die ihnen gemeinsam erwünschteste Ausdehnung fänden*.

Bleiben wir vorerst bei der obigen Gestaltung des Hauptsatzes, so kann von ihm aus entweder unmittelbar oder mit einem kurzen Gang oder Zwischensatz auf den ersten Seitensatz übergegangen werden; wir setzen ihn z. B. nach dem Schlüsse des Haupt- satzes in der Parallele so

■J 7 p ^- ^F-^D:

/ * i r

FT! 1 i j i

p=ü j/y =t

"tfff 1 g J

ss | I L— ^.J

^U— I i | ' | ||||=|||

ein. Der Schluss des Hauptsatzes fällt hier auf das erste Achtel von Takt 2; sogleich tritt ein Satz von drei oder vier Takten ein (der Schlusstakt des Hauptsatzes kann füglich für ihn nochmals ge- rechnet werden), der uns in die neue Tonart versetzt, daselbst schliesst und mit Abänderungen wiederholt wird. Allein schon die Kürze, in der er abgefertigt wird, lässt vermutben, dass ein andrer Seitensatz folgen wird, wiewohl auch jener dazu hätte erhoben werden können. Der eigentliche Seitensatz tritt nun Takt 9 bei SS ein ; ihn vollständig hier auszuführen, dürfen wir uns nach dem bisher Erörterten aus Rücksicht auf den Raum erlassen; vielleicht würde der verbindende Satz (Takt 2) als Anhang und Fortleitung wiederkehren.

Wie sind wir auf den Zwischensatz geführt worden?

Durch die fliessende Bewegung in der Begleitung des Haupt- satzes (in No. 157 angedeutet) war das Bedürfniss festerer Rhyth-

Hierzu der Anhang H.

Digitized by Google

Die dritte Rondo form im bewegtem Zeitmaasse. 163

mik als Gegensatz hervorgerufen worden; daher schien es weder rathsam, sogleich einen bewegten Seitensatz, noch einen Gang an- zuknüpfen, der sich zunächst doch wieder in Achteln, wie die Be- gleitung des Hauptsatzes, hätte entfalten müssen. Oder hätten wir einen beweglern Gang, etwa in Achtel triolen, bilden sollen? Das wär' eine neue Gestaltung gewesen, die zu ihrer Ausführung brei- ten Raum verlangt hätte; so hätte sich hier ein weit geführter Gang gestaltet, ein gleicher wäre nach dem ersten, ein dritter nach dem zweiten Seitensatz nöthig geworden (vielleicht noch ein vierter vor dem letzten) , und so würde das Gangelement sich übermässig aus- gebreitet haben, um so bedenklicher, da der Hauptsatz selbst sich auf einfache Periodengestalt beschränkt. Wie sollen wir nun weiter gehn?

Vor allem muss der Seitensatz ausgeführt werden. Hier stos- sen wir auf das schon oben (S. 161) angedeutete Bedenken über die beschränkte Form des Hauptsatzes. Soll der Seitensatz (und zwar der erste, der sich jenem zunächst anschliesst) nicht das Ueber- gewicht über den Hauptsatz erhalten, so können wir nicht füglich über die Satz- und Periodenform hinausgehen ; dann aber wird unsre ganze Komposition, wäre sie auch in jedem einzelnen Momente be- friedigend, eine gewisse Hastigkeit annehmen (die Sätze zwischen den Gängen hätten zu wenig nachhaltige Fülle] , die nur in beson- dern Stimmungen zusagen könnte. Es bestätigt sich daher hier praktisch, dass in der dritten Rondoform auch im schnellen Tempo für den Hauptsatz zweitheilige Liedform vor der blossen Perioden- form im Allgemeinen den Vorzug hat. Geben wir also die erste Gestaltung des Hauptsatzes auf; wir haben erkannt, dass sie brauch- bar, aber auch, dass sie nicht besonders günstig wäre.

Vor allem muss also der Hauptsatz zu einem zweitheiligen Lied erhoben werden. Wie dies geschieht, ist uns längst bekannt: es könnte z. B. in No. 159 von Takt 9 an der erste Theil so

L I J I j*. i |

r T T f 1

' f > t r F

in der Parallele geschlossen und der zweite Theil nach bekannten Grundsätzen gebildet werden. Wir nehmen an, dies sei geschehn und so, wie in No. 160 im Haupttone geschlossen.

n *

Digitized by Google

164

Die grössern Rondo formen.

Nun entsteh n zwei Fragen.

In welchem Ton soll der erste Seitensatz auftreten*? Wäre die Paralleltonart, in der der erste Theil des Hauptsatzes schloss, mit Nachdruck und Fülle geltend gemacht, so würde deren noch- malige Benutzung (S. 151) bedenklich scheinen und ein fremderer Ton, vielleicht Desdur, vorzuziehen sein. Allein die Stimmung des Hauptsatzes hat den hellem Durton nicht ungestört lassen können, wir haben uns bald (No. 161, Takt 4) von ihm zurück nach Moll in den Hauptton und sogar in dessen Unterdominante (Bmoll, Takt 6 in No. 161) gewendet und nur die letzten Takte wieder in den Parallelton fallen lassen ; auch im zweiten Theil wird aus dem- selben Grunde wahrscheinlich mehr Gewicht auf den Hauptton und dessen Dominante (Cmoll) gelegt werden, als auf die Parallele. Wir können sie daher unbedenklich zum Sitz des ersten Seiten- satzes machen.

Wichtiger ist die zweite Frage : welche Gestalt diesem Seiten- satz die günstigste sei?

In den bisherigen Rondoformen haben wir in der Regel jedem der zwei oder drei Sätze zwei- oder dreitheilige Liedform gegeben. Dies war dort wohlgerathen, weil dem Satzelemente das Ueber- gewicht, also den einzelnen Sätzen breitere umfassendere Form ge- bührte; obwohl auch da sich schon (S. 118) eine Neigung zeigte, in den Seitensätzen den zweiten Theil gangartig aufzulösen, um der Einförmigkeit und zu grossen Umständlichkeit in den Sätzen zu ent- gehn. Allein in Rondo's schneller Bewegung würde mehrmalige Anwendung zwei- oder dreitheiliger Liedformen leicht den Gang des Ganzen zu sehr beschweren. Hier also hat im Allgemeinen Satz- oder Periodenform, namentlich auch jene entwickeltere Perio- denform, die aus drei oder vier Sätzen statt aus blossem Vorder- und Nachsatz* besteht, den Vorzug. Ja es kann sogar statt des einen Seitenthema's eine Folge von zwei, nicht enger verbundnen, sondern nur modulatorisch an einander gereihten Sätzen eingeführt werden.

Demnach kann sich unser Seitensatz folgendermassen gestalten :

Th. H, S. 46.

Digitized by Google

Die dritte Rondoform im bewegtem Zeitmaasse.

165

J J , W J J

11

Mf r r

r

Er knüpft Takt 2 mit einem Motiv des Zwischensatzes an, der in No. 160 statt eines Ganges zu dem dortigen Seitensatze führte. Allein der festere Eintritt, die breitere Ausführung, die gediegnere Theilnahme der begleitenden Stimmen*, die weitere Fortführung, alles giebt den hier auftretenden Satz als einen Haupttheil des Gan- zen, nicht als ein blosses Mittel- oder Verbindungsglied zu erken- nen. Auch ist offenbar das zuletzt (Takt 14 und 15) Anschlies- sende im Verhältniss zu den in Takt 2 und 8 eintretenden Sätzen das Untergeordnetere, während in No. 160 der neue, Takt 9 ein- tretende Satz, obgleich nur sein erster Abschnitt gegeben ist, sich als das Festergestaltete und dadurch als Hauptgedanke in dieser Partie der Komposition darstellt.

Welches ist nun die Gestalt unseres Seitensatzes?

Sein eigentlicher Kern ist der Satz Takt 2 bis 8. Dieser Satz hätte als Vordersatz des ersten Theils einer zwei- oder drei- theiligen Liedkomposition benutzt, der erste Theil dann in der Do- minante, z. B. von Takt 12 an so

* Es bedarf keiner Bemerkung, dass die Begleitung in No. 4 60 wie in vie- len andern Beispielen nur entwurfsmassig angedeutet ist.

Digitized by

166

Die yrössern Rondo formen.

... jg^-^^^M#

' t r f r

zum Schluss oder in den zweiten Theil hinein geführt werden kön- nen. Dies ist aber nicht geschehn, die Wiederholung des Kern- satzes vielmehr in einen ganz fremden Ton gewendet und damit die regelmässige Perioden- oder Theilform aufgegeben worden. Der Seitensatz besteht also wesentlich aus einem einfachen Satz und dessen Wiederholung; und dies erscheint hier nicht grundlos. Denn jener Satz ist in der Stimmführung umständlicher, als man nach der Gestaltung des Hauptsatzes wohl hätte erwarten sollen*; ja, er neigt fast zu einem etwas langsamem Tempo, als der Hauptsatz. Hätte er mit periodischer Strenge und den Umschweifen zweier oder dreier Theile ausgeführt werden sollen, so würden wir uns noch weit mehr in seine WTeise vertieft und von der fliessenden Bewe- gung des Hauptsatzes entfernt haben.

Hiernach wäre der Seitensatz oder doch sein wesentlicher In- halt mit Takt 14 geschlossen. In der That könnte von hier weiter gegangen werden; mit Motiven jener Sätze Hesse sich (wie mit jedem Motiv!) ein Gang anknüpfen,

* Wir müssen nochmals, wie in den ersten Theilen des Lehrbuchs, daran erinnern, dass man von Beispielen zur Lehre, die eben zu Gunsten ihres Zweckes während der Lehrentwickelung, in Einem Gusse mit dieser, erfunden wor- den, nicht jene Wärme und Einheit der Stimmung gewärtigen darf, die von einer rein künstlerischen Konzeption zu fodern oder doch stets zu wünschen sind. Die Lehrbeispiele sollen das Tonslück vor den Augen des Jüngers entstehn und je nach verschiednen Tendenzen bald in diesem, bald in jenem Theile sich anders- wohin wenden oder verwandeln lassen, ihm dadurch das künstlerische Bewusstsein, an das allein sich die Lehre wenden, das allein mit Sicher- heit und Bestimmtheit erzogen werden kann und für die Stunde der freien künst- lerischen Empfängniss schon erzogen sein muss, öffnen und befestigen. Dann

Digitized by Google

Die dritte Rondoform im bewegtem Zeitmaasse. 167

und von diesem aus auf die Dominante des Haupttons zum Orgel- punkt und Hauptsatze fortschreiten. Allein einestheils würden diese im Kernsatze No. 162 vorwaltenden Motive bei weiterer Ausfüh- rung leicht jene Hohlheit hervorbringen, die der harmonischen Fi- guration (Th. I, S. 450) eigen ist ; wie wir uns denn auch schon Takt 43 in No. 462 und Takt 5 in No. 164 zu andern Motiven bewogen finden mussten. Anderntheils erscheinen jene Sätze schon ihrer Modulationswendung wegen nicht genügend als alleinige Sub- stanz des ersten Seitensatzes. Dies ist der Grund, warum Takt 1 4 in No. 162 noch einen neuen, wenn auch mit den vorhergehenden nahe verwandten Satz anknüpft. Dieser Satz wird wahrscheinlich wiederholt werden müssen, auf denselben oder andern Stufen, verändert oder nicht, aber er kann nur dazu dienen, an den Kern des Seitensatzes den nun nöthigen Gang anzuknüpfen.

Dass dieser Gang vorzugsweise melodischen Inhalt haben, oder auf einer Harmonienfolge beruhen oder eine Satzkette sein kann, wissen wir. Er könnte von No. 162 aus so anknüpfen,

und von hier an sich in Achteltriolen (angeregt im fünften Takte) rein und gangmässig, oder in neu gebildeten Sätzen und Abschnitten fortbewegen.

Hier dürfen wir von der weitern Verfolgung des Beispiels ab- stehn. Es ist uns schon bekannt, wohin der Gang führen, wie sich der Orgelpunkt bilden, die Wiederholung des Hauptsatzes und alles Weitere machen muss. Nur zweierlei mag, wenn auch viel- leicht überflüssig, nochmals erwogen werden. Erstens, dass die Gänge in der grössern und schneller vorübereilenden Komposition weitere Ausführung fodern ; zweitens, dass bei der kurzgefassten Weise des ersten Seitensatzes der zweite, um dem Ganzen Hal- tung zu geben, wohl am besten breitere, zwei- oder- dreitheilige Form annehmen und sich auch durch seine Bewegungsweise von beiden vorhergehenden Sätzen unterscheiden wird.

erst ist es gerathen, ihn zu wirklichen, freien Kunstwerken zu führen, deren Motive zwar ebenfalls dem vernünftigen Bewusstwerden offen liegen, aber meist vielfach zusammenwirkenden Ursachen entsprungen sind, deren Umfang schon schwerer zu überschauen ist.

Digitized by

168

Die grössern Rondoformen.

Betrachten wir nun ein in dieser Form vollendetes Rondo, das Finale von Beethoven' s grosser Cdur-Sonate, Op. 53. Man muss sich, um seine Gestaltung besser zu verstehn, vergegenwär- tigen, dass schon der erste Theil der Sonate ein höchst bewegtes Wesen, reiches Tonspiel entfaltet hat. Es ist eine der glänzend- sten Klavierkompositionen, die jemals geschrieben worden; der Ka- rakter schneller Bewegung (S. 455) herrscht dergestalt vor, dass das Adagio nicht sowohl ein Mittelsatz zwischen dem ersten und letzten Allegro, als vielmehr Einleitung zu dem letztern ist; Beet- hoven nennt es auch Introduktion. Das letzte Allegro [Allegretto moderato, dann Pjestissimo) ist wie gesagt Rondo dritter Form. Von all' dem Reizenden und Merkenswerthen der Ausführung kann hier nicht näher geredet werden, sondern nur von der Konstruk- tion des Ganzen.

Der Hauptsatz giebt (zu harmonischer Figurirung in Sech- zehnteln) folgendes Sätzchen,

i

r

*-

y==

166

dem ein gleichgebildetes auf der Dominante

167

r

anschliesst. Takt a und b werden in Dur, dann Takt a nochmals in Moll wiederholt, der auf dem folgenden Takt sich vollendende Halbschluss aber verlängert und orgelpunklartig über elf Takte aus- gedehnt ; man muss daher einer dreisätzigen Periode gewärtig sein, deren dritter Abschnitt wahrscheinlich den ersten wiederholen und zum vollen Schluss führen wird. Dies wäre gleichsam ein dreithei- liger Liedsatz, nur dass statt der Theile Sätze ständen. Allein nicht bloss deswegen, sondern auch wegen der leicht dahin spielenden Weise, die Begleitung der Sätze ist die hier bei a gegebne,

168 " '

der Orgelpunkt, ein einstimmiger Gang, hat als Hauptmotiv die Fi- gur 6, musste ein solcher Satz dem Komponisten für einen Hauptsatz, zumal in einer grossartig und glänzend ausgeführten Komposition, zu gewichtlos erscheinen.

Daher wiederholt er, wie vorauszusehen war, nicht nur den ersten Satz, und zwar in erhöhter Gestaltung,

Digitized by Google

Die dritte Rondoform im bewegtem / nasse. 169

sondern auch noch den zweiten Satz und, nach einem Orgelpunkte von drei Takten, abermals den ersten, diesen zu rollender diatoni- scher Begleitung. Diese Reihe von fünf Sätzen (die Wiederholun- gen eingerechnet) , die durch Inhalt, Schlussweise und ununterbrochen fortflutende Begleitung als Eine Masse erscheint, dient als Haupt- satz; sie endet mit einem Ganzschluss, aber unvollkommen,

mithin weiterer Entfaltung entgegen führend.

Hier nun erbebt sich die Komposition. Noch als Nachklang der vorherigen harmonischen Figuration, aber gesteigert, wird mit diesem Satze,

der sich in höherer Akkordlage und Akkordumkehrung wiederholt, zu dem ersten Seitensatze übergeleitet; dass der vorstehende Satz nicht selber der Seitensatz ist, zeigt sowohl seine Gestalt, als seine Stellung im Tone des Hauptsatzes.

Der Seitensatz nun bricht tosender, in der Parallele, herein. Dies

Digitized by

170

Die grössern Rondoformen.

I

172

2

4=,

g-

ist sein Vordersatz, der sogleich in der höhern Oktave wiederholt wird, worauf der Nachsatz

173

3=5

^1 1 -4=1

und dessen im Bass veränderte Wiederholung, der Bass bildet sich so,

174

in der tiefern Oktave folgt. Ein Anhang über der schon zuvor angeknüpften Sechzehntelfigur im Basse,

der sich mit Verlängerung des letzten Sätzchen (a) wiederholt, führt allmählich beruhigend zum Schlüsse.

Ueberblicken wir hier das Bisherige, so überzeugen wir uns wieder (wie bei jedem wahren Kunstwerkel von der Vernünfligkeit und Folgerichtigkeit, mit der Eins das Andre bedingt und Eins

Digitized by Google

Die dritte Rondo form im bewegtem Zeitmaasse.

171

zum Andern sich verknüpft. Die Weise des Hauptsatzes kann na- türlich nur aus dem ganzen Zug der Sonate in ihrer Wahrhaftig- keit aufgewiesen und muss hier, wo dazu noch nicht Zeit ist, als die rechte vorausgesetzt werden. Nimmt man aber das an, erkennt man das erste Sätzchen (No. 1 66 und 1 68) für recht, so ist sogleich klar, dass dies Gebilde zu leicht war, zu einer förmlichen Periode als Hauptsatz für ein grosses Finale, oder vielmehr nach dem Vor- dersatzschluss auf der Tonika zu einem ersten Liedtheil ausgedehnt zu werden; oder würde ein Lied mit diesem ersten Theile

,7s l-^i^^^aEp^^^Brf j i j-4

(denn so ungefähr hätte er sich gestalten müssen) genügt haben, würde er nicht bei dem leichten Inhalt zu formell und beschwert mit einer gar nicht in ihm liegenden Bedeutsamkeit aufgetreten sein ? Ihm sagte die spielende Wiederholung (in No. 166) besser zu. Damit war der weitere Hergang des Hauptsatzes, aus dessen steter, erst sanfter, dann gesteigerter Bewegung dann wieder die Weise des Seitensatzes bedingt. Oder sollte derselbe nach dem sanften Hauptsatze noch ruhiger und damit schläfrig, oder im grellen Widerspruch mit der angeregten Stimmung scharf accentuirt, oder durfte er nach einundsechzig Takten voll Sechzehntel und Vier- tel wieder mit der Sechzehntel- und Viertelbewegung auftreten? So war seine Gestalt und namentlich seine Bewegung in Sech- zehnteltriolen und gegenüberstehenden Achteln nothwendig. Nun aber lag nichts näher, als unter Beibehaltung der Triolenbewegung die Auflösung der Achtel in Sechzehniel (No. 174) und damit (No. 175) die nöthige Beruhigung und Rückkehr in die Bewegung des Hauptsatzes, der jetzt, wie wir wissen, wiederholt werden muss.

Allein wie soll der Uebergang zu ihm geschehn? Ein Gang ist nicht anwendbar, da wir aus der lebhaften Bewegung noch nicht zur Ruhe gekommen sind und der zu erwartende Hauptsatz wieder Bewegung bringt. Dennoch bedarf es einer Ueberleitung aus A moll in den Hauptton.

Beethoven schliesst den Anhang förmlich ab und lässt ihm, in derselben Tonart, eine Erinnerung an den Hauptsatz folgen;

weil also das ganghafte Wesen bis jetzt vorgeherrscht hat, muss nun statt des erfoderlicben Ganges ein Satz, und zwar in höchster Einfachheit auftreten. Dieser Satz wird auf F wiederholt, setzt

Digitized by

172

Die grössern Rondoformen.

nochmals auf G ein, dehnt sich aber hier, im Dominantakkorde, über acht Takte aus und führt nun ohne Weiteres die vollständige und genaue Wiederholung des Hauptsatzes herbei.

Der zweite Seitensatz tritt in Cmoll und in der Bewe- gung des Hauptsatzes

sempre forte

178 <

auf. Dieser enge Anschluss ist durch den schon ausgeprägten aufgeregten und oft stürmischen Karakter des Ganzen motivirt ; aber es folgt auch sogleich daraus, dass hier abermals von keiner scharf geformten Perioden- oder mehrtheiligen Liedform die Rede sein kann ; die Rapidität des Ganzen fodert kurze rapide Sätze. So wird denn der erste Satz auf F wiederholt und mit einer Art von Nachsatz (in gleicher Ausführung)

V79 1 FrF^

4M, 1 1>* ,r J

X^Ui $ j y y

f r t

Sva

in i4sdur geschlossen. Dies ist der zweite Seitensatz, oder der Kern desselben. Er wird sofort vollständig, mit einer Gegenstimme in Sechzehnteltriolen , wiederholt, also nochmals in As geschlossen. Um diesen befremdenden Ausgang mit dem Haupttone (Cmoll) zu versöhnen, führt eine Umbildung des Satzes

180

air sva r . . . -

all' 8va

unter einem Gegensatz in Sechzehnteltriolen auf einen Schluss in Cmoll; auch dieser neue Satz wird wiederholt, und zwar in der Oberstimme, während der Bass die Triolenbewegung in freier Nachahmung Ubernimmt. Dann bildet ein Anhang, an den Nach- satz geknüpft, einen stark befestigten Schluss.

Auch hier kann von einem Gange zur Wiederholung des Haupt- satzes nicht die Rede sein, noch weniger wie nach dem ersten Sei- tensatze, da sich die Masse der Bewegung vergrössert und gestei-

Digitized by Google

Die dritte Rondo form ini bewegtem Zeitmaasse.

173

gert hat. Beethoven ergreift daher wieder den Satz (No. 4 77j, der vom ersten Seitensatze zurückgeführt hatte, jetzt zuerst in Jsdur, dann in Fmoll, und zum dritten Mal in Des dur. Hier wird der letzte Abschnitt zweimal wiederholt und mittels der Schluss- akkorde noch um drei Takte erweitert, und nun beginnt in dieser

ein Gang über desy as, es, 6, f, c, der sich nach nochmaliger Be- setzung von F auf C niederlässt. Mit breiten Arpeggien in Sech- zehnteln werden nun auf C, dann auf F, dann auf B orgelpunkt- artige Gangstücke (zu je dreimal zwei Takten) gebildet, mit ge- mischten Sechzehntelfiguren über es] as, des, g nach C und von da weiter auf die Dominante gegangen. Hier entfaltet sich ein breiter Orgelpunkt, der schon den Anfang des Hauptsatzes verneh- men lässt und zu demselben zurückfuhrt.

Ehe wir weiter gehn, zieht die Modulation der vorherigen Par- tie unsre Betrachtung an.

Beelhoven hat den zweiten Seilensatz in Cmoll eingeführt, also durch Tonika und Dominante in nächster Verbindung mit dem Haupt- satz und dadurch dem fliessenden Wesen der ganzen Komposition am angemessensten, während die Verwandlung des Tongeschlechts (nach Cdur Cmoll) den notwendigen Gegensatz vermittelt. Eine andre Molltonart war im Kreise der Verwandten nicht vorhanden, da ✓Imoll schon für den ersten Seitensatz benutzt worden : unter den Durtonarten wäre Gdur am wenigsten frisch (No. 167 u. a.i, Fdur zu wTeich und als Unterdominante eine Herabstimmung, ^4sdur zu feierlich, Fdur gegen den unschuldig spielenden Hauptsatz zu glänzend feurig* gewesen.

Hieraus folgt alles Weitere. Nach dem Karakter des ganzen Tonstücks und nach seinem eignen Eintritte (No. 178) konnte der Seitensatz nicht füglich strenge Perioden- oder mehrtheilige Lied- form annehmen. Daher wendet er sich weder in die Dominante (das ohnehin so viel gebrauchte G), noch in die Parallele, sondern in die Unterdominante Moll und von da in deren Parallele, um von da den umgekehrten Weg

Weise

Cmoll, Fmoll, ,4s dur, Fmoll,

As dur, Cmoll

Vergl. die Allgem. Mxisiklehre, S. 331 der 6. Auflage.

Digitized by

174

Die grössern Rondo formen.

zurückzumessen. Was also an der Modulation fremd und gewagt erscheint, wird nicht bloss durch die oben (S. 172) erwähnte Wieder- holung, sondern auch durch den gemessenen Rückgang erläutert und beschwichtigt.

Nun aber stehn wir wieder auf derselben Tonika, über der der Hauptton zurückkehren soll, oder vielmehr, wir haben sie im Wesentlichen noch gar nicht verlassen. Daher bedarf es eines breiten modulationsreichen Gangs, der die Tonart aus dem Sinn rücke, damit sie frischer wiederkehre.

Der Hauptsatz kehrt jetzt wieder, aber abgekürzt; sein erster Abschnitt tritt sogleich in der No. 1 69 gezeigten Gestalt auf, dann der zweite, dann der erste, der wie in No. 170 schliesst.

Hiermit ist der Rondoform im Wesentlichen genug gelhan; durch die lebendigen Seitensätze hat sich aber das Bedürfniss er- zeugt, auch den Hauptsatz zu erhöhter Lebendigkeit zu steigern; ohnehin bedarf der weit geführte Satz eines durch Anhänge be- festigten Schlusses.

Dies bereitet der Komponist schon durch abgekürzte Darstel- lung des Hauptsatzes vor; sie lässt dessen nochmaliges Erschei- nen voraussehn. Zunächst kehrt das Motiv des ersten Gangs (No. 171) wieder, leitet aber nicht zum ersten Seitensatze, sondern in bedeu- tenderer Ausführung abermals auf die Dominante zu breitem, bloss akkordisch ausgefülltem Orgelpunkt. Dann kehrt und zwar im Prestissimo der erste Satz des Hauptstücks wieder, wird figu- rirt, gangartig wreiter geführt; in F wiederholt, und nach [Darstel- lung des zweiten Satzes (No. 167) auf G und weit modulirenden Zwischengängen nochmals in Cdur und Cmoll, in ylsdur und Fmoll, und abermals in Cdur aufgestellt, worauf endlich der or- gel punktartig an der Tonika festhaltende Schluss (der letzte Ak- kord wird allein fünfzehn Takte weit figurirt oder wiederholt) er- folgt.

So endet dieser reiche, eben so feurig als leicht bewegte Satz. Hat man erst die Lebendigkeit und Wärme seiner Konzeption em- pfunden und dann die tiefe Vernünftigkeit seines Baues, die Folge- richtigkeit jedes seiner Schritte erwogen : so wird wieder einmal einleuchtend, dass die höchste Freiheit des Künstlers nichts Andres ist, als die höchste Vernünftigkeit, dass das wahre Kunstgesetz kein andres ist, als die Kunstvernunft, und endlich, dass Kunst und Kunstlehre nur dann aus einander kommen oder einander wider- sprechen können, wenn eine oder beide in der Irre gehn. Die räumlichen Verhältnisse dieses Rondo's sind übrigens folgende :

Hauptsatz 62 Takte,

erster Seitensalz mit dazu gehörigen Gängen oder Sätzen 52

Digitized by Google

Die vierte Rondo form.

175

Hauptsatz wie zuvor 62 Takte,

zweiter Seitensatz mit den Gängen ... 138

Hauptsatz bis zum Prestissimo 90

Anhang (Prestissimo) 144

Die Konstruktionsordnung und Verhältnissmässigkeit der einzel- nen Partien machen das Ganze eben so leicht beweglich als fasslich.

Fünfter Abschnitt. Die vierte Rondoform.

Ueberblicken wir die bisherigen Gestaltungen des Rondos, so hat sich die Entwicklung zunächst als eine quantitative, als ein Zuwachs an Massen der Komposition erwiesen. Wir gingen vom einfachen Lied aus, fügten einen Gang, dann einen Seitensatz, end- lich zwei Seitensätze nebst Gängen und Anhang zu. Es fragt sich, ob nicht noch eine wo nicht gar noch mehrere solche Erweite- rungen stattfinden, ob man nicht nach den bisherigen Formen ein Rondo mit drei oder noch mehr Seitensätzen aufstellen könne?

Unmöglich, das sieht man leicht, wär' eine solche Erweiterung nicht; aber sie würde keine erwünschten Resultate bringen. Ihr Schema

HS— SS 1— HS— SS 2— HS— SS 3— HS zeigt schon warum. Man müsste dreimal in den Hauptton zurück und dazu drei mehr oder weniger ausgedehnte Orgelpunkte auf der- selben Stufe bilden ; man müsste viermal den Hauptsatz bringen und gewärtigen, dass über dem zweiten und dritten Seitensatze der erste ganz vergessen würde; zum Schlüsse würde das Bedürfniss eines Anhangs in gleichem Verhältnisse mit der Ausdehnung er- wachsen und eine fünfte vollständige oder theilweise Aufführung des Hauptsatzes kaum zu umgehen sein. Diese bedenklichen Verhält- nisse wären nicht die einzigen ; es würde selbst dem begabtesten Komponisten selten vergönnt sein, in einer einzigen unabgebrochnen Komposition vier Gegensätze (den Hauptsatz und die drei Seiten- sätze) aufzustellen, die gleichwohl durch Stimmung und innere Be- züge eine einheitvolle Gesammtmasse bildeten ; es würde nicht leicht gelingen, für so viele Hauptpartien und die nöthigen Verbindungs- glieder einen einheitvollen und dabei nicht eintönigen Modulations- plan durchzuführen.

Wir befinden uns also hier an einer Formgränze, deren Ueberschreitung zwar möglich, nicht aber rathsam erscheint, und

Digitized by

176

Die grössern Rondoformen.

deshalb soviel dem Verfasser irgend bekannt auch noch nie- mals von einem namhaften Künstler unternommen worden ist. Sties- v sen wir doch schon in der dritten Form auf die Gefahr, weitschweifig und ermüdend zu werden ! Schon in ihr fanden wir uns mit so viel von einander geschiednen, im Grunde doch nur an einander ge- hängten, nicht in einander verwebten Partien beladen, dass wir Bedacht nehmen mussten, die Masse bald da, bald dort durch Abkürzung einzelner Theile zu erleichtern.

Aus dieser Erkenntniss geht das Streben nach innigerer Ver- webung der einzelnen Partien hervor und führt zu den weitern For- men des Rondo's und der Sonate. Auf der andern Seite ist hier der Grund zu suchen, warum die dritte Rondoform, besonders in schneller Bewegung, ungleich seltener angewendet worden ist, als die nun folgenden ; der Komponist fand sich entweder an den ersten Formen begnügt, oder über die dritte hinausgezogen zu fester aus- gebildeten.

Worin hat die Lockerheit, der Mangel an festerer Verbindung in der dritten Rondoform seinen Grund? Darin, dass stets ein Satz nach dem andern auf- und wieder abtritt, und nur auf den Haupt- satz mit Nachdruck zurückgegangen wird; die beiden Seitensätze fallen einer wie der andre dahin, um nie wiederzukehren; höch- stens kann im Anhang auf sie hingedeutet werden. Damit steht in Verbindung, dass zuletzt auch der Hauptton keinen hinlänglichen Inhalt bekommt ; in ihm kehrt der schon zweimal gehörte Hauptsatz wieder, der kaum durch den Anhang mit dem letzten Seitensatz und Gang in Gleichgewicht gesetzt wird.

Hier tritt die vierte Rondoform ausgleichend ein. Die dritte hatte der Hauptsache nach folgendes Schema :

HS SS 1 HS SS 2 HS.

Die vierte will den letzten Auftritt des Hauptsatzes, auch ab- gesehn vom Anhange, verstärken, greift also zum ersten Seiten- satze — denn der zweite ist ja eben dagewesen und lässt ihn dem Hauptsatz nochmals folgen. Dies ist der karakteristische Zug der neuen Form, deren Hauptbestandteile sich in diesem Schema

HS SS 1 HS SS 2 HS SS \

* " •>/ ' 's/"

darstellen.

So bildet Hauptsatz und erster Seitensatz eine enger zusam- mengehörige Masse. Dies war schon in den frühern Formen durch die meist engere Verknüpfung beider angedeutet ; jetzt wird es bei der gemeinschaftlichen Wiederholung beider entschieden und durch die Modulation noch mehr befestigt. Denn da nunmehr der Seitensatz, abgesehn vom Anhange, den Schluss macht, so versteht

Digitized by Google

Die vierte Rondoform.

177

sich von selbst, dass er zuletzt im Hauptton auftreten muss. Aber auch in seinem ersten Auftreten schliesst er sich nun gern dem Hauptsatze näher an , indem er seinen Sitz in einer nächstver- wandten Tonart (Oberdominante oder Parallele) zu nehmen liebt.

Die Abweichungen der neuen Form von der vorhergehenden sind sonach zwar entscheidend, doch aber nicht in dem Maasse neu- ernd, dass wir uns nicht auf den Nachweis an einigen bekannten Kompositionen beschränken dürften.

Den ersten finden wir im Finale von Beethove n's -4sdur- Sonate, Op. 26.

Der Hauptsatz hat periodische Liedform. Dies

Allegro.

simile

ist die Skizze des Vordersatzes; der Nachsatz

!S3

"■ja* Jffl J7]5i

simile

f trf

Er

bringt denselben Inhalt in der Umkehrung und macht ordnungs- mässig einen vollkommnen Schluss im Haupttone. So entspricht dieser Satz dem bei der vorigen Form in Bezug auf das schnelle Tempo Gesagten.

Es musste nun zum ersten Seitensatz fortgeschritten werden. Hierzu bedurfte es eines Uebergangs, und zwar in beweglichen oder doch abgesonderten Sätzen ; denn dem Sinne der ganzen Sonate gemäss und entsprechend der Tendenz, die das Finale schon durch den Hauptsatz erhalten, konnten auch die Seitensätze nicht füglich andre, als bewegliche Gestalt haben. Beethoven bildet jetzt diesen Satz,

der in der Umkehrung in £sdur und noch einmal, in erster Stimmlage, in ylsdur, hier aber mit einer abschliessenden Verlängerung, 2 2 und 4 Takle,

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 12

/

Digitized by Google

178

Die grösseren Rondoformen

wiederholt wird. Dieser ganze Satz von acht Takten wird noch- mals in der Umkehrung wiederholt. Nun erst wird aus den drei ersten Vierteln des Hauptsatzes (No. 182) ein Satz gebildet (er ist No. 188 a zu sehn), der uns nach Es bringt; er wird wiederholt und führt nach B.

Hier tritt sofort der erste Seitensatz ein. Dieser Ab- schnitt, — a,

wird erst wörtlich, dann in der Umkehrung (6) wiederholt, hier erweitert und in freier Weise, mit dem Satz a,

3 * * l

der noch zweimal erweitert ibei ö, zuletzt wieder eine Terz höher) wiederkehrt, beschlossen. Ein kurzer Orgelpunkt führt zur Wie- derholung des Hauptsatzes.

Ueber diesen ist, ehe wir weiter gehn, eine kleine Unter- suchung nothwendig; er zeigt eine neue Gestalt, die wir in spä- tem Formen öfters wiederfinden werden.

Oben haben wir kurzweg die in No. 182 und 183 skizzirte Periode als Hauptsalz bezeichnet; sie ist auch unstreitig der Kern desselben und in sich vollkommen abgeschlossen. Allein ihr Inhalt ist gangartiger Natur; wir sehn in No. 182 einen Gang, der nur in seiner zweiten Hälfte zu einem Satz abgeschlossen wird, und zwar wieder in fliessender gangartiger Weise ; sogar Vorder- und Nach- satz sind durch keine Unterbrechung des Sechzehntelflusses geschie- den. Dies genügt dem Komponisten als Grundlage seines Finale nicht, am wenigsten kann er nach einem ganghaften Satz noch einen Gang bringen. Daher stellt er, wo der Fortschritt zum Seitensatz erwartet wird, wieder einen Satz (No. 184) auf, und dieser Satz scbliesst sich mit seinen Wiederholungen abermals in periodischer, wenn auch nicht nach der Grundform geregelter Weise ab. So haben wir hier einen zweiten periodischen Bau im Sitze des Haupt-

Digitized by Google

Die vierte Rondoform. 179

satzes, den wir durchaus zum Hauptsatze rechnen müssen, da der Seitensatz (No. 185) erst später, und wie sich's gebührt in einer andern Tonart auftritt, auch der Gang nach dem Seitensatz erst nach jenem zweiten Liedsatz und mit andern Motiven erfolgt.

Oder ist der zweite Satz nur als zweiter Theil des ersten zu achten? Gewiss nicht. Er ist aus ganz neuen Motiven gebildet, und es müsste sonach ein dritter Theil folgen, der den ganzen oder doch den hauptsächlichen Inhalt des ersten Theils wiederbrächte; auch würde man nicht zwei oder drei Theile in dieselbe Tonart stellen und auf derselben Tonika schliessen.

Wir haben mithin

einen aus zwei Liedsätzen bestehenden Hauptsatz vor uns; jeder der Liedsätze ist ein für sich selbständig und befrie- digend abgescblossner periodischer Bau ; der zweite ist eingetreten, weil sich nach dem ersten weder der Seitensatz noch ein Gang günstig anknüpfen Hess; auch der zweite gab zu beidem keinen Anlass, und so wurde zum ersten zurückgegangen, um seine Motive jetzt gangartig zu benutzen. Ohne die Zwischenstellung des zwei- ten Satzes würde dasselbe Motiv, das schon im ersten Satze zehn- mal gewirkt hatte, für den Gang ermüdend abgenutzt worden sein, oder der Komponist hätte mit fremden Motiven einen Gang bilden und damit den Satz um alle Haltung bringen müssen. Es zeigt dieser zweite Liedsatz in einer höhern Bildung dasselbe, was wir schon S. \ 05 erfahren haben, wo wir statt eines Ganges einen überleitenden Zwischensatz rathsam fanden.

Nach der ersten Wiederholung des Hauptsatzes, und zwar beider Liedsätze aus No. 182 und 184 (so dass wir hier die letzte Bestärkung unsrer obigen Bestimmung erhalten), tritt ohne Weiteres der zweite Seitensatz in Cmoll ein. Er bildet einen regelmässigen ersten Theil mit einem Schluss in der Domi- nante Gmoll. Statt des zweiten Theils aber tritt der Kern des- selben mit einem zweitaktigen Satze nochmals in Gmoll auf, wie- derholt sich zweimal mit Schlussfällen auf Fmoll, noch einmal mit einem Schluss in £sdur, und hier wird mit einem kurzen Orgel- punkt zur Wiederholung des Hauptsatzes fortgegangen, die abermals beide Liedsätze desselben vollständig wiederholt.

Bis hierher ist nur die Doppelmasse des Hauptsatzes neu ge- wesen ; nun könnte möglicher Weise mit oder ohne Anhang ge- schlossen werden und wir hätten dann ein Rondo dritter Form vor uns. Allein es wäre weder rathsam gewesen, mit dem zweiten Liedsatze (No. 184) zu schliessen, noch aus dem Hauptsatze sofort (S. 1 78) einen Gang und Anhang herauszuheben ; auch der zweite Seitensatz, der phnehin eben dagewesen , hätte wie sein Kern

Digitized by Google

180 Die grösseren Rondoformen.

zeigt dazu keinen günstigen Stoff gegeben.

Hiermit war also der Uebergang zur vierten Rondoform gebo- ten. Beethoven geht nach dem Abschlüsse des Hauptsatzes, also- von dem in No. 184 angedeuteten Liedsatze, mit einem aus dem ersten Liedsatz (No. 182] entlehnten Sätzchen [a]

weiter nach Esdur, mit dessen Umkehrung nach l?moll, mit aber- maliger Umkehrung nach Fmoll und eben so nach Cmoll; darauf wird das Schlussmotiv (c) ergriffen und damit der Gang zu einem Halbschluss im Hauptton, also auf der Dominante Es, geführt, wo denn der erste Seitensatz eben so eintritt, wie das erste Mal auf der Dominante von iftdur, und vollständig durchgeführt wird. Nun ist es auch thunlich, aus den Motiven des eigentlichen Haupt- satzes (No. 184) einen Anhang zu bilden; es geschieht in Orgel- punktform auf der Tonika.

Ueberblicken wir den Modulationsplan in seinen Hauptpunk- ten, so ist er folgender: wir wollen die beiden Liedsätze des Hauptsatzes Ä und B nennen

HS SSI HS SS2 HS SSI

A B A B a"~^~B

Asdur Zftdur ylsdur Cmoll «dsdur Asdxxv.

Hier sowohl, wie bei der Abwägung der einzelnen Massen, Gänge und Anhang zu den vorangehenden Sätzen gezählt, HS SSI HS SS 2 HS SS 1 und Anhang 32 20 28 28 38 31 wird die grössere und innigere Zusammenordnung der Massen und die kräftigere Konzentrirung auf dem Hauptton einleuchtend ; beides verdanken wir dem Fortschritte zur vierten Form.

Noch eine Bemerkung knüpfen wir an dieses Rondo.

Es besteht fast nur aus Sätzen und dennoch ist nicht das Element des Satzes, sondern das des Ganges darin vorherrschend. Woher dies? Erstens, weil alle diese Sätze mehr oder weniger ganghaften Inhalt haben; zweitens, weil auf keinen besondres

Digitized by Google

Die vierte Rondo form.

181

Gewicht gelegt wird, wie etwa auf die Hauptsatze in den Formen langsamer Bewegung. Ja, der Hauptsatz besteht hier zum ersten Mal aus zwei vollkommnen Liedsätzen ; aber eben weil ihrer zwei in derselben Tonart neben einander gestellt sind, haben beide weniger bestehende Kraft, als ein einziger mehrtheiliger oder sonst (etwa durch Wiederholung, vergl. Anhang H, No. T£¥) mit Nachdruck ausgeführter.

Ein zweites Beispiel für unsre Form giebt das Finale der yldur- Sonate, Op. 2, von Beethoven.

Der ungemein reizende Hauptsatz hat zweitheilige Liedform. Dies

189

ist der Vordersatz; der Nachsatz wiederholt den ersten Abschnitt (Takt 2 e-fis auf dem Quintsextakkorde auf Wis) mit einem Schluss in iidur. Der zweite Theil hat einen figurativen Vordersatz auf dem orgelpunktartig festgehaltnen e; der Nachsatz bringt den ersten Abschnitt (No. 4 89) wieder und schliesst auf der Tonika.

Da dieser Satz keinen erwünschten Stoff zum Fortschreiten bie- tet, so wird ein zweiter beweglicherer

dolce

490

m

angeknüpft, der mit noch zwei Takten fester schliesst. Allein über den Schluss hinweg führt die ununterbrochne Sechzehntelbewegung zu einer Wiederholung in der höhern Oktave und da zu einem wiederholten Schlussfall in Edur. Man siebt hier einen Haupt- satz von festerm Kern, das Satzartige mehr wie im ersten Beispiel befestigt (das Tempo Grazioso ist auch ein weniger schnel- les) , und darum war der satzmässige Abschluss des zweiten Gedan- kens (No. 190) nicht, wie im ersten Falle, bedingt.

Mit dem Schlüsse des in No. 490 angeknüpften Ganges setzt nun der erste Seitensatz ein. Dies

191

Digitized by Google

182

Die grösseren Rondoformen.

ist, über fortgehender Sechzehntelbewegung, sein Hauptinhalt; zwei- mal wird dieses Sätzchen mit gesteigertem Anfang wiederholt und dann mit einem kurzen Gang über Z)dur, C&moll, Hdur nach Adur zu einem Halbschluss auf E geführt, worauf nach leichtem Orgel- punkte die vollständige Wiederholung des Hauptsatzes folgt.

Der weitere Verlauf wird uns die vierte Rondoform eben so bestimmt zeichnen, wie das erste Beispiel. Hier aber tritt noch ein, wenn auch nicht durchgehender, doch häufig anzutreffender

neuer Karakterzug dieser Form, und zwar

am zweiten Seitensatze

hervor.

Blicken wir noch einmal auf das erste Beispiel (S. 177) zu- rück, so zeigen sich beide Seitensätze, besonders aber der zweite, im Vergleich zum Hauptsatz in untergeordneter Entwickelung; es liegt sogar im Karakter jener Komposition, dass auf keinen der vier Sätze (S. 479) vornehmliches Gewicht gelegt wird, sondern alle flüchtig vor uns dahin eilen. Demungeachtet zeigte sich schon dort .

man betrachte nur das Schema S. 180) ein engeres Zusammen- gehören von Haupt- und erstem Seitensatze, theils durch die Modu- lation, theils durch das beiden gemeinsame Motiv (o in No. 183 und

185), endlich durch den Verein beider am Schlüsse, so dass ihnen gegenüber der zweite Seitensatz als isolirtere Masse unterschieden werden könnte.

Dies ist nun mit voller Bestimmtheit in dem jetzt vorliegenden Rondo der Fall und wird sich bei vielen, wohl den meisten Kom- positionen dieser Form zeigen. Es treten

drei Hauptmassen

hervor,

~^ I " II ^ III ^

HS SSI HS SS2 HS SS1

und damit kehrt im Grossen und Zusammengesetzten diedreithei- lige Form wieder. Ja, dieselbe ist schon im ersten Gliede dieser Gestaltung

I

1 2 3

HS SSI HS

vorhanden, und auch (abgesehn vom veränderten Sitze des Seiten- satzes) im letzten wieder zu erkennen, vorausgesetzt, dass ein Anhang, und zwar aus Elementen des Hauptsatzes, wie sich ge- bührt, gebildet ist.

Nun aber springt in die Augen, dass im obern Schema die Partie II unterliegen muss gegen die andern Partien, deren jede

Digitized by Google

Die vierte Rondoform.

183

aus zwei Sätzen und einer Wiederholung (oder Anhang) besteht; wofern ihr nicht besondres Gewicht ertheilt wird. Dies aber können wir jetzt an dem Beethoven'schen 4dur-Rondo beob- achten.

Man erwäge vor allem, dass der Hauptsatz vollkommen aus- gebildet, der erste Seitensatz aber ohne besondern Nachdruck (dazu hätte erst, nach Th. I, S. 219, in die Dominante der Dominante, von yldur über //dur nach isdur, gegangen werden müssen) eingeführt und nicht periodisch ausgeführt, nicht einmal bestimmt abgeschlossen und eben so gelinde in den Hauptsatz zurückgegangen ist.

Nun beginnt der zweite Seitensatz. Schon seine Aus- dehnung giebt ihm das üebergewicht gegen jeden vorigen Satz. Es hat nämlich unter Zurechnung der Gänge

der Hauptsatz 26 Takte,

- erste Seitensatz 14

- Hauptsatz (seine Wiederholung ohne Gänge) .16

- zweite Seitensatz mit den Wiederholungen 53 also fast gleiche Ausdehnung mit der vorhergehenden Masse.

Dieser Seitensatz tritt ferner, in A moll, mit einer ganz neuen Figur (Achteltriolen) und schon dadurch im scharfen Gegen- satze mit dem Vorigen auf. Es bildet sich ein scharf gezeichneter erster Theil mit vollkommnem Schluss in Cdur, und zwar der Vor- dersatz wie bei a,

[A moll) _a

192 <

i

staccato lempre

// ß-

der Nachsatz unter Umkehrung beider Motive (6) aus demselben Stoffe. Eben so fest geformt bildet sich aus demselben Stoffe,

193

unter Rückkehr auf den Anfang (No. 192 a), der zweite Theil, der seinen Vordersatz in EmoW (der letzte Akkord wird sogleich zum Dominant- oder Nonen-Akkorde von .dmoll), den Nachsatz aber in A moll schliesst. Der erste Theil war ganz wiederholt worden, auch der zweite wird wiederholt; vom vorletzten Takt an aber bildet sich ein Orgelpunkt, der nun den vollständigen, etwas ver-

Digitized by

184

Die grösseren Rondoformen.

änderten Hauptsatz zurückbringt. Eben so kehrt auch der erste Seitensatz wieder, und zwar im Haupttone; die Ueber- leitung bildet der schon zuvor (No. 190) gebrauchte Gang, nur dass der Schluss in Edur nur einmal gesetzt und dann e sogleich als Dominante festgehalten, also wieder auf den Hauptton zurück- gegangen wird.

Hiermit ist dem Wesentlichen der Form genügt. Es schliesst sich nun noch ein Anhang an, der mit mannigfachen Wendungen erst den Kern des Hauptsatzes, dann den des zweiten Seitensatzes, endlich nochmals den Hauptsatz bringt. Die reizendsten, gefühlte- sten Wendungen schenkt uns Beethoven in diesem Anhange; wer hätte sie empfunden und könnte auch nur eine davon auszu- löschen wagen ! Und dennoch wird man sich das Gefühl, dass hier etwas zu viel geschehn, wohl nicht ableugnen können. Der Haupt- satz ist nach seinem dreimaligen Auftreten erschöpft, und die aber- malige reiche Durchführung seines Hauptgedankens (No. 189), der nun schon neunmal zu uns gesprochen und im Anhange noch elf mal theils ausgeführt, theils angedeutet wird, erinnert uns an jene Gränze (S. 175), über die das Rondo schwerlich mit Glück hinausschreiten wird. Der innerlichst bewegte, in der Verein- samung der Taubheit und des Alleinstehens immer tiefer in sich versinkende Sinn des unsterblichen Tondichters hat oft, gegenüber dieser Unerschöpflichkeit seines Empfindens, die kltigliche zeitige Gränze zu bewahren versäumt, die weniger tief erregte Gemüther ohne Beschwer finden und achten; es war dies eine Bedingung seines Wesens, das, wie jedes sterbliche, seine mangelhaften Sei- ten haben musste. Solche Erkenntniss verträgt sich nicht bloss mit der reinsten Verehrung und liebevollsten Dankbarkeit, sie ist auch Pflicht gegen uns und die Jünger. An den Thaten der Vor- gänger sollen wir uns zu der Wahrheit erheben, die ihre wie unsre Aufgabe und Pflicht war, in der sie wahrhaft fortleben und fort- wirken. —

Ein drittes Beispiel giebt die Cdur-Sonate Beethoven' s, Op. 2, ebenfalls im Finale. Hier dürfen wir uns schon kürzer fassen und vornehmlich das vom Vorigen Abweichende hervorheben.

Der Hauptsatz ist, streng genommen, eine Periode von zweimal vier Takten, deren Vordersatz

B

Digitized by Google

Die vierte Rondoform.

185

nur etwa durch den Schluss nach Gdur hin bemerkensw erth ist. Nun setzt ein ganz abweichender Satz ein,

495

gleichsam ein zweiter Theil, der nach Gdur und zur Wiederkehr des obigen Vordersatzes (No. 4 94J führt. Dieser aber macht einen Schluss nach EmoW hin und geht mit dem Motiv a aus No. 194 weiter fort nach Z>dur. Hier wird die Tonika zur Dominante und auf ihr, also nun in Gdur, der erste Seitensatz gebracht. Es ist nur ein Satz, der frei ausgeht, wiederholt und noch freier ganghaft fortgeführt wird.

Hier nun wird Beruhigung nöthig; der letzte Gang

196

H. W.

zumal im Tempo eines Allegro assai ist zu unstät und hastig, als dass er unmittelbar in den Hauptsatz führen könnte; es wird erst ein Orgelpunkt (in diesem Sätzchen

197 §^

m

w=5

m

jk; 1 | 1 j-— -— y -~

-r

und dessen Wiederholung in höherer Oktave) gebildet und dann in leichterer WTeise zum Hauptsatze zurückgekehrt.

Allein nun zeigt sich, dass der Komponist den Hauptsatz eben so angesehn, wie oben wir, und den zweiten Satz (No. 495) nicht eigentlich dazu gerechnet hat. Dieses zweite Stück bleibt weg; dafür wird mit dem Kernsatze (No. \ 94) kräftig weiter gearbeitet,

198 {

und nach zwei Wiederholungen auf D und E (ohne Schluss der letz- ten) weiter gegangen zu dem sehr breit und ruhig ausgeführten zweiten Seitensatze.

Digitized by

186

Die grösseren Rondo formen.

Die nächste Wiederholung des Hauptsatzes geschieht vollstän- dig, oder vielmehr übervollständig; denn die ganze Periode (No. 194) wird in der ümkehrung (frei) wiederholt und dann auch noch der unwichtigere Satz No. 195 mit der Wiederholung des Kerns nach- gebracht. Der weitere Verlauf dieses feurig, voll genügend und doch nicht zu weit ausgeführten Salzes bietet nichts Neues für unsre jetzige Betrachtung.

Sechster Abschnitt. Die fünfte Rondoform.

In der vorhergehenden Rondoform traten schon immer deutlicher drei Hauptmassen hervor, deren erste und dritte aus der Vereini- gung von Haupt- und erstem Seitensatze bestand. Diese Vereini- gung sprach sich am kenntlichsten in der letzten Masse aus, wo der Seitensatz sogar seine Tonart verliess, um sich auch in dieser Hinsicht dem Hauptsatz eng anzuschliessen.

Hiermit ist allerdings in Vergleich zu den frühern Formen das Gewicht des Hauptsatzes vermindert, und es wird ein solches Ge- wicht auf die Vereinigung des Seitensatzes mit ihm gelegt, dass man Haupt- und Seitensatz vereint als ein einigeres Ganzes ansehen muss und mehr auf sie, als auf die nachfolgende (mittlere) Auffüh- rung des Hauptsatzes ankommt.

Diese Erkenntniss führt zur fünften Rondoform.

Ihr erster Karakterzug ist der, dass sie den Verein von Haupt- und Seitensatz bekräftigt, so dass derselbe

als besondrer Theil der ganzen Komposition dasteht. Dieser Theil schliesst mit oder nach dem Seitensatze; wie, das wird sich weiterhin zeigen. Darauf tritt der zweite Seitensatz

als zweiter Theil und die letzte Wiederholung von Haupt- und erstem Seitensatz

als dritter Theil auf, das Ganze hat mithin diese Form,

I II III

HS SS1 SS 2 HS SS 1

eine Form, die an das frühere Schema (S. 182) erinnert.

Man bemerkt hier, dass die mittlere Aufstellung des Haupt- satzes unterblieben ist. In der Thal erscheint sie und das ist der zweite Karakterzug aus Gründen, die wir gleich er- fahren werden, entbehrlich, oder doch im Vergleich zu den frühern

Digitized by Google

Die fünfte Rondoform.

187

Formen unwichtig. Wir erkennen, dass nur besondrer Antheil am Hauptsätze bewegen kann, ihn wie in der vorhergehenden Form zwischen erstem und zweitem Seitensatze zum zweiten Mal zu bringen. Allerdings haben wir aber an dieser Wiederholung des Haupt- satzes festen Abschluss der ersten Partie des Rondo's (S. 176) und Befestigung der Modulation gefunden.

Das Nächste und Wichtigste, was wir demnach zu betrachten haben, ist

der Abschluss des ersten Theils.

Kann mit dem ersten Seitensatze befriedigend geschlossen wer- den? — Nein. Denn erstens ist er von minderm Gewicht und loserm Gewebe, als der Hauptsatz; zweitens sind wir mit ihm eben in der neuen Tonart angelangt, und es bedarf noch eines besondern Nachdrucks, in ihr zur Ruhe zu kommen.

Auch ein Gang, der hinter dem Seitensatz folgte, würde diese Kraft nicht haben ; der Gang löst und führt weiter , thut also das Gegentheil von dem, was uns jetzt noth wendig ist.

Wir bedürfen also eines Satzes, der den Schluss unsrer zusammengesetzten Masse oder unsers ersten Theils befestige, also eines

Schlusssatzes, wie wir ihn bereits Th. II, S. 83 kennen gelernt haben. Blicken wir hierbei auf jene Urform aller musikalischen Bewegung,

Ruhe, Bewegung, Ruhe, Tonika, Tonleiter, Tonika,

zurück, die wir schon Th. I, S. 23 kennen gelernt und überall in steigender Ausbildung und Bewegung wieder gefunden haben, z. B. in der Liedform Th. II, S. 78). in der Fugenform (Th. II, S. 366), in den kleinern Rondoformen (S. 4 03): so sehn wir dieselbe hier abermals in grösserer Ausdehnung und Bedeutung als

Hauptsatz Seitensatz mit Gangen Schlusssatz

verwirklicht.

Hiernach ordnet sich die weitere Lehre sehr einfach. Wir müssen die Bildung des Schlusssatzes der einzigen neuen Ge- stalt an unsrer jetzigen Form und dann die Anordnung und Ent- wickelung des Ganzen kennen lernen. Der erstere ist früher Th. II], dem dortigen Standpunkte gemäss, nur als Zugabe behan- delt worden ; hier kommt er ernstlicher zur Erwägung.

A. Der Schlusssatz.

Die nächste Bestimmung des Schlusssatzes ist, zu schlies- sen; sein einfachster und zugleich nothwendigster Inhalt wäre da- her, auf den harmonischen Grundbegriff zurückgeführt, die bekannte aus Dominant- und tonischem Akkord gebildete Schlussformel.

Digitized by

188

Die grösseren Rondoformen.

Allein diese ist wohl für den Ausgang eines Satzes oder einer Periode geeignet (und auch da wird sie bekanntlich Th. II, S. 29 durch Zusätze erweitert und verstärkt), nicht aber zum letzten Abschluss einer Masse von Sätzen und Gängen genügend. Daher bildet man, je nach der Ausdehnung und dem Gewicht des Vorangehenden, Sätze von grösserm oder minderm Umfang, auch wohl Perioden, oder wiederholt die Sätze mit oder ohne Aenderun- gen, oder lässt sogar dem ausgedehntem noch einen kleinern Satz folgen. Alle diese Gebilde müssen aber ihrer Bestimmung, zum Schlüsse, mithin zur Ruhe zu bringen, getreu bleiben ; daher liegt ihnen allen mehr oder weniger die harmonische Schlussformel zum Grunde und ist der Inhalt aller mit seltenen Ausnahmen ein beruhi- gender.

Der unzählige Mal in Opernsätzen (Arien u. s. w.) und ander- wärts gehörte Anhang

t99

3=

kann hier als erstes und einfaches, wenn auch nicht einfachstes Beispiel dienen; dieser zweite.

200

(Bass bloss angedeutet)

=

Bim.

S?a

.(fr

r* im

u &r w ' ritt

der mit dem letzten Takt sich, mit der Melodie der Oberstimme im Bass oder einer Mittelstimme, zu wiederholen beginnt, hat

Digitized by Google

Die fünfte Rondoform.

189

wesentlich keinen andern, sondern nur breiter ausgeführten Inhalt, als der vorhersehende Schlusssatz. Er könnte von Takt 12 an sich mit einem Trugschluss in fremde Tonarten wenden, ja lange in den- selben weilen, wie z. B.,

oder es könnte, z. B. von Takt 10 an,

dolce

202 <

in einer fremden Tonart ein neuer Satz eingeschoben, wiederholt und dann nochmals im Hauption ein Schlusssatz gebildet, oder der vorige wieder benutzt werden : in all' diesen Fällen ist mehr oder weniger die Grundformel des Schlusses vorherrschend und die Neigung zum Enden des ganzen Tonstückes empfindbar, nur bald verzögert, bald durch Abschweife scheinbar aufgegeben, aber dann wieder ergriffen; wie z. B. die Abschweifungen in No. 201 und 202 sich schon durch ihre Fremdheit und die Plötzlichkeit ihres gar nicht weiter motivirten Eintritts als etwas, bei dem es

Digitized by Google

190

Die grösseren Rondoformen.

nicht bleiben kann, von dem auf den verlassenen Standpunkt zu- rückgegangen werden muss, zu erkennen geben.

Man sieht sogleich , dass es keiner Vorübung für Erfindung der Schlusssätze bedarf, wenn man sich nur ihre eigentliche Be- stimmung klar gemacht hat. Bildet man sie übrigens aus Motiven des Hauptsatzes, so bekommt das Ganze noch stärkern Zusam- menhalt. Doch ist dies weder nöthig, noch immer ausführbar ; es fragt sich, ob das Hauptmotiv zum Schlusssatze geeignet und ob es nicht bereits hinlänglich in Thätigkeit gesetzt worden ist.

B. Die Anordnung des Ganzen.

Nach der Erläuterung des Schlusssatzes ist die Gestaltung der fünften Rondoform leicht zu fassen. Sie zeigt (S. 186) drei ver- schiedne Theile.

Im ersten Theile tritt der Hauptsatz und unmittelbar nach ihm, oder durch einen Zwischengang oder Satz vermittelt, der erste Seitensatz auf; ersterer im Haupttone, dieser in der Dominante oder Parallele. Ihm schliesst sich, mit oder ohne Zwischengang, in derselben Tonart der Schlusssatz an. Hiermit ist entweder der erste Theil sofort abgethan, oder es wird derselbe vollständig wie- derholt, wobei es bisweilen einer Zurückleitung in den Anfang be- darf, dergleichen wir schon bei den Liedformen und anderwärts kennen gelernt haben. Statt der Wiederholung des ersten Theils wird auch wohl bloss der Hauptsatz oder dessen Kern wiederholt.

Der zweite Theil besteht aus dem zweiten Seitensatz und einem Gang und Orgelpunkt, der uns in den Hauptton und zum dritten Theile bringt.

Hier wird Hauptsatz, erster Seiten- und Schlusssatz wieder- holt, letztere beide treten aber nun im Hauptton auf, und zu diesem Zweck nehmen die vermittelnden Gänge, wie sich von selbst ver- steht, ihre Richtung auf den Hauptton, statt auf Dominante oder Parallele.

Ist der erste Seiten- und Schlusssatz anfangs in einem andern Tongeschlecht aufgetreten, ist z. B. eine Molltonart der Sitz des Tonstücks und der Seitensatz in der Parallel-Durtonart aufgestellt worden : so bringt der dritte Theil den Seiten- und Schlusssatz in der Regel wieder im Durgeschlechte des Haupttons, so dass eine Mollkomposition mit einem breiten Durschlusse zu Ende geht. Doch können auch durch Verwandlung des Geschlechts beide Sätze, oder wenigstens der Schlusssatz in Moll aufgestellt werden.

Eine scharf gezeichnete Anwendung unsrer Form findet sich im Finale von Beethoven's kleiner Fmoll-Sonate, Op. 2, das wir

Digitized by Google

Die fünfte Rondoform.

191

statt Überflüssigen Vorarbeitens hier benutzen. Wir werden (wie immer) mehr als eine Abweichung von der allgemeinen Skizzirung der Form gewahr werden, aber keine, die uns nach dem bisher Bemerkten irre machen könnte.

Schon der Hauptsatz zeigt sich darin auffallend, dass er nicht einmal vollständige Periodenform hat und aus zwei entschie- den fremdartigen Elementen besteht. Zuerst tritt dieser Satz

auf und wiederholt sich ; man könnte ihn für eine blosse Einleitung (Th. II, S. 32) halten, wenn nicht das Folgende sogleich in einem andern Ton aufträte Dem erstem Satze schliesst sich nämlich nun dieser ganz abweichende

(die beiden Unterstimmen in tieferer Oktave) an, seine ersten Ab- schnitte (bis f) werden im Hauptton wiederholt, im folgenden Takt aber eine rasche Wendung nach Gdur gemacht und von da nach einer orgelpunktartigen Befestigung in die Dominante des Haupttons gegangen, nach Cmoll.

Sowohl die Unstätheit in der Bildung des Hauptsatzes, der von Fmoll sich sofort nach Jsdur wirft, um über Fmoll in G zu schliessen (und zwar unvollkommen), als die Wahl der Molldomi- nante statt der Durparallele sind dem leidenschaftlichen , bis zu wildem Schmerz aufgereizten Karakterdes Finale beizumessen. Man sieht aber am Hauptsatze bestätigt, was uns schon S. 161 hat ein- leuchten müssen, und wird sich leicht Uberzeugen, dass ein solcher Hauptsatz durchaus ungenügend und unpassend gewesen wäre für die erstem Rondoformen, vielmehr die letztern herbeirufen musste.

In Cmoll tritt der erste Seitensatz auf, der diesen Kern

Erster Theil.

203

Digitized by

192

Die grösseren Rondo formen.

206

w f r r

6 5

6 5

6 5

*i 7

(5 7 4 $5 5

zum Schluss geht; auch dieser Abschnitt wird wiederholt. Wir haben also wieder einen blossen Satz mit unvollständiger Wieder- holung vor uns, von gleichem Ungestüm mit dem Hauptsatze, von gleicher rhythmischer Gestaltung, eng mit demselben verknüpft.

Nun fühlt sich das Bedürfniss des Schlusssatzes, der den ersten Theil beschwichtigend abrunde. Die Triolenbewegung kann zwar nach so heftiger Anregung nicht aufgegeben werden; aber sie ordnet sich unter, indem sie bloss als harmonische Figuration den Schlusssatz*

207

t—T

J>va

loco

J 1 I EjgEjE3

I

r t

begleitet. Auch der Schlusssatz wird, und zwar vollständig, wie- derholt. Man wird ebensowohl seinen abschliessenden, zur Ruhe bringenden Karakter, als die Einheit und vollständige Abrundung des ganzen Theils, entschieden über Alles hinaus, was die frühern Formen hierin leisten konnten, anerkennen.

Allein der Grundkarakter des ganzen Finale widerstrebt die- sem ruhigen Abschluss ; auch verlangt der so stürmisch, im Haupt- satze so unstät vorübergeeilte erste Theil Wiederholung, mithin Zurückführung in den vom Schlusssatze so verschiednen Anfang. Daher wird nach dem Schlusssatze der Anfangssatz (No. 203) in Cmoll aufgestellt und mit einer kleinen Verlängerung nach Fmoll, zur Wiederholung des ganzen Theiles umgebogen. Das zweite Mal wird in Cmoll förmlich geschlossen und dann mit dem dreimal einfach angeschlagnen Dominantakkorde nach ^4sdur gelenkt.

Diese Aufstellung des Anfangssatzes in Cmoll (sechs Takte lang bis zur Umlenkung nach Fmoll) nimmt fast das Ansehn eines zweiten Schlusssatzes an; oder man könnte auf den ersten Hinblick geneigt sein, sie als den einzigen Schlusssatz, und den vorhergehenden als ein zweites zum Seitensatz gehöriges Gebilde anzusehn. Allein die Ruhe dieses und die Heftigkeit des vermeint- lichen zweiten Schlusssatzes man vergleiche No. 203 und 207 sprechen zu bestimmt dagegen und für die obige Auffassung.

* Blosse Skizze, wie viele Anführungen.

Digitized by Google

Die fünfte Rondoform. Zweite r Theil.

193

Der zweite Seitensatz tritt nun in .4sdur, ruhig in vor- herrschender Viertelbewegung auf, ein entschiedner, gegen den bisherigen Ungestüm labsal voller Gegensatz. Er hat vollkommen abgerundete zweitheilige Liedform. Dies sempre piano e dolce

ist der erste Theil, der in höherer Oktave und feiner ausgeführt wiederholt wird. Der zweite Theil beginnt mit diesem Satze

209

im

i

□er.

tr

1

der fliessender wiederholt wird, worauf das Wesentliche des ersten Theils den Schluss macht und der ganze Theil wiederholt wird.

Nun knüpft lebhaftere Rückkehr zum ersten Satz (No. 203) an. Dieser Satz

4 - j , r-4 -I— -t

&Ta - -- -- -- -- -- -- -- loco

4-

.w

wird auf dem Dominant- (Terzquart-) Akkorde von Fmoll, dann auf F selber wiederholt; hier aber wird als letzter Akkord des-f-as aufgestellt und mit dem letzten Motiv (a in No. 210) nach Z>esdur, iJmoli und Cmoll gegangen. Statt Cmoll wird aber c-e-g ge- setzt und mit deutlicherer Hinweisung auf den Anfang

311

ein Orgelpunkt gebildet, der auf den Wiederanfang führt.

Dritter Theil.

Der dritte Theil bringt vor allem den Anfang des Hauptsatzes, die in No. 203 und 204 aufgewiesenen Sätze wieder. Auch die

Marx, Komp.-L. LH. 5. Aufl. *3

Digitized by

194 Die grössern Rondo formen.

Wiederholung der ersten Abschnitte von No. 204 im Haupttone ge- schieht, hier aber durch Umkehrungen

verdoppelt, eine nicht weiter folgenreiche Aenderung.

Nun aber wird nicht, wie anfangs, nach G und von da weiter nach Cmoll gegangen, sondern der Sitz der Modulation bleibt Fmoll, und auf seiner Dominante (C) wird die orgelpunktartige Ausführung gemacht, die anfangs auf der Dominante von Cmoll (G) statthatte. Hierauf wird der erste Seitensatz im Wesentlichen wie zu- vor, nur in andrer Richtung der Figuren (No. 205), und mit Schlussmodulation über Unter- und Oberdominante

ö ö 6 T~ 0 "7 6 1

5 6 5 5 Ü 4 q

(vergl. No. 206) nach ihm der Schlusssatz vollständig, aber im Haupttone, wiederholt. Auch der dem Anfang entlehnte Zusatz, der nach dem Schlusssatze des ersten Theils folgte, erscheint hier, nur in gesteigerter Bewegung,

f r .

wieder, so dass hiermit das Ganze in demselben leidenschaftlichen Schwünge zu Ende geht, mit dem es begonnen. Es ist eine der frühem und kleinern Kompositionen Beethoven' s, aber eine der karaktervollsten und gehaltensten, die je geschrieben worden.

Am Schlüsse des Ganzen überzeugt man sich, wie unnöthig und Übel angebracht die mittlere Wiederholung des Hauptsatzes ge- wesen wäre. In ihm gesellen sich (S. 191) zwei verschiedne Ele- mente, der heftige Anfang (No. 203) und der weichere, jener Hef- tigkeit gleichsam bittend entgegnende zweite Satz (No. 204), der

sich wenn auch von ganz abweichendem Inhalte, doch mehr der

Stimmung des zweiten Seitensatzes (No. 208) als der des Anfangs nähert. Was sollte nun zwischen dem ersten Theil und dem zwei- ten Seitensatze wiederholt werden? Der ganze Hauptsatz? Ab^er sein erster Gedanke war eben als Zusatz (S. 193) geltend gemacht, und der zweite Gedanke hätte den ähnlich gestimmten zweiten

Digitized by Google

Die fünfte Rondoform.

195

Seitensalz beeinträchtigt. Bloss der zweite oder erste Gedanke? Das hätte dieselben Bedenken gegeben. Oder hätte man dem Hauptsatz eine neue Form geben und den zweiten Gedanken voran stellen sollen? Dies wäre vor allen Dingen eine wesentliche Abän- derung des Hauptsatzes, nicht seine Wiederholung, sondern eine Umgestaltung seines Inhalts geworden, die dem Rondo nicht eigen ist, dergleichen wir vielmehr bei der Sonatenform finden werden ; das Tonstück würde mithin aus dem Kreis unsrer gegenwärtigen Beurtheilung fallen. Aber es wäre auch ein durchaus ungünstiger Ausweg, denn damit würde der Gegensatz des Heftigen und Mildern , der jetzt so grossartig zwischen erstem und zweitem Theile verhandelt wird, in kleinere, sich wiederholende Wechsel- sätze zersplittert sein. Schon zu Anfang, im Hauptsatze, musste der schnelle Wechsel der Stimmung und Gestaltung uns (S. 191) auffallen ; dort war er aber vorbedeutend und die Grundstimmung befestigte sich sogleich im Gang und ersten Seitensatze ; hier wär' er nur kleinlich und störend.

Ein zweites Beispiel bietet uns das Finale von Beethoven 's Sonate pathetique.

Erster Theil. Der Hauptsatz (Cmoll) hat vollständig ausgeführte Perio- denform; —

rffff

i

4

1 l

■*

der Nachsatz wird wiederholt und noch ein Anbang zugesetzt,

jÜ^ T-^3^

216

t

7

ebenfalls wiederholt, und dann ganz fest und vollkommen im Haupt- tone geschlossen.

Ein Zwischensatz (statt Ganges)

217

JE.

T

T

6

_ i-^ r r-t=£=f

stellt uns in Fmoll, seine Wiederholung bringt nach £sdur zum ersten Seitensatze.

13*

Digitized by Google

196

Die grössern Rondo formen.

Dieser ist ein sich wiederholender, aber mit der Wiederholung sich verwebender einfacher Satz, der bloss zur Erläuterung der Ver- webung hier aufgeführt sei;

<J23L JJ

1

3

148

T

7^

i

(Grundkonstruktion)

9

5^

vom sechsten Takt an wendet sich die Modulation nach £smoll und von da nach 2?dur. Hier wird mit ganz neuen Motiven ein gangartiger Satz

249

1

I

1

-*-7

nach ITsdur und in der Wiederholung über As dur zu einem Schluss in ifsdur geführt. Mit dieser ihrem Inhalt nach mehr gang- als satzartigen Ausführung kann der Theil nicht zur Ruhe gelangen; es folgt noch der Schlusssatz, von dem hier der Vordersatz

220

stehe, dessen Nachsatz sich ähnlich bildet und in Es dur schliesst. Allein auch dieser so kleine Schlusssatz kann nicht befriedigen ; das erkennt man, wenn man ihn mit dem in No. 207 aufgewiesnen vergleicht. Daher geht Beethoven mit dem schon in No. 219 an- geregten Gang abermals weiter, und zwar auf die Dominante des Haupttons. Hier wird der Hauptsatz1" vollständig wiederholt.

* Man sehe S. 498.

Digitized by Google

Die fünfte Rondoform. Zweiter Theil.

197

Der zweite Seitensatz hat zweitheilige Liedform. Dieser Vordersatz (a)

7

A

22 \

P-i

IT

j mL J

■$0—

j.

;

II I-

Sv»

1

hat einen ähnlichen, in der Dominante schliessenden Nachsatz zur Folge; der hiermit gebildete erste Theil wird mit leichten Aende- rungen (b) wiederholt ; der zweite Theil bringt einen kleinen frem- den Zwischensatz und dann die Wiederholung des ersten Theils in dieser Umgestaltung

Statt des Schlusses wird aber nach Gdur umgebocen und hier erst in Sechzehnteln, dann breiter in Achteltriolen ein Orgelpunkt in harmonischer Figuration ausgeführt, der uns auf der Dominante des Haupttons festsetzt.

Dritter Theil.

Nun tritt der Hauptsatz wieder auf. Da aber von ihm nicht nach Es dur gegangen, sondern der erste Seitensatz im Haupt- tone (Dur) aufgestellt werden soll, so fällt erstens der Anhang (S. 195), der im ersten Theile Cmoll noch fester einzuprägen diente, zweitens der Zwischensatz (No. 217), der nach Es dnr überführte, weg; drittens wird die Wiederholung des Nachsatzes in dieser

Sva -

7

gl

sim.

« . 1

S2

Digitized by Google

198

Die grössern Rondoformen.

fortgesetzt, um Über die Unterdominante (Fmoll) nach der Ober- dominante (Gdur) zu bringen und hier den Seitensatz im Haupt- ton, aber in dem ihm eigenthümlichen Geschlechte folgen zu lassen.

Er schliesst, wie zuvor, in der Dominante, hier also in Gdur; darauf folgt auch der Gang des ersten Theils (etwas verändert) in Gdur mit einem vollkommnen Schluss in Cdur; endlich, in derselben Tonart, der Schlusssatz. In seinem Nachsatz aber wendet sich schon der erste Abschnitt nach Cmoll, wiederholt sich in Esdur und fuhrt Uber Gdur in den Hauptton.

Hier bildet sich nun noch ein besondrer Anhang. Zuvörderst wird der Hauptsatz vollständig mit abweichender Wiederholung sei- nes Nachsatzes wiederholt; dann wird mit Elementen des ersten Ganges (No. 249) zweimal ein Satz in Fmoll mit Schlüssen im Haupttone gebildet, mit einem neuen Motiv

nochmals der Hauptton befestigt, nach einer Fermate in ^Isdur zweimal der erste Abschnitt des Hauptsatzes gebracht und endlich im Haupttone geschlossen.

Nur zwei Punkte scheinen nochmals Erwägung zu fodern.

Erstens die Aufstellung des vollständigen Hauptsatzes mit sei- nem Anhang in der Mitte, während in dem vorigen Beispiel die Wiederkehr des Hauptsatzes ganz unterbleiben durfte, sogar in der dritten und vierten Form (S. 153, 485) die unvollständige Anfüh- rung bisweilen genügte. Allein die Beschaffenheit des Seiten- und des Schlusssatzes foderten hier gewichtige Wiederkehr des Haupt- satzes. Der erste ist so flüssig und in seinem Ausgang unbe- stimmt, der zweite so kurz und karg gehalten, beiden sind nothwendig Gänge angehängt : dass in dieser ganzen Masse kein fester Anhalt und Abschluss zu finden war; nur der Hauptsatz mit seinem Anhange bot einen solchen, war mithin unentbehrlich.

Zweitens die weite Ausführung am Ende des dritten Theils nach dem Schlusssatze. Hier walteten jedoch, wie nun schon ein- leuchtet, dieselben Gründe ob, und noch stärker; weil jetzt die ganze Komposition abgeschlossen werden soll und der vorhergehende erste Seiten- und Schlusssatz fast durchaus in Dur verweilen, wäh- rend für die Stimmung des Ganzen Rückkehr und Schluss in Moll hier* nothwendig ist.

* Hier, aber keineswegs immer. Oft gestattet Stimmung und Ten- denz eines Tonstücks in Moll einen Schluss in Dur; es wird dann mit

Digitized by Google

Die fünfte Rondoform

199

Ist aber nicht dennoch in diesem Fall ein Rondo mit vier- maliger Aufstellung des Hauptsatzes gegeben, also eine (sechste) Form, die uns oben (S. 475) unrathsam schien? Nein. Der Hauptsatz erscheint zwar allerdings viermal; wir können ihn aber bei seinem letzten Erscheinen nicht als neue Hauptpartie, sondern nur als wiederholenden Anhang anerkennen, weil ihm keine neue Zwischenpartie (kein dritter Seitensatz, wie im Schema S. 475) vorangeht. Das Schema* dieser unsrer Form würde sein: Th. L Th. IL Th. EL

HS SS4 SZ HS SS2 HS SS 4 SZ HS oder Anhang.

Wir haben also wieder eine dreitheilige , nur weit reicher zusammengesetzte Konstruktion vor uns, deren dritter Theil Wie- derholung des ersten (mit den nöthigen Modulationsänderungen) ist.

Schlussbemerkung.

Hiermit sind wir an eine sehr bezeichnende Gränze der Rondo- formen gelangt, obwohl noch nicht das letzte Wort über dieselben gesagt werden kann.

Ueberblicken wir alle bisherigen Gestaltungen, so tritt uns aus allen als erster Karakterzug das entgegen:

dass das Rondo als Kern und Hauptsache einen liedförmigen Satz (Hauptsatz) aufstellt, von ihm aus auf Gänge und andre Sätze (Seitensätze) tibergeht, von diesen aber stets wieder auf den Hauptsatz zurückkommt. So ist also das Wesen der Rondoform Aneinanderkettung verschiedener Sätze und Gänge; hierin liegt sowohl die Ausdeh- nungsfähigkeit, die wir von Stufe zu Stufe der Rondoformen haben wachsen sehn, als die Lockerheit des innern Verbands ausgesprochen. Daher wurden eben je grössere und grössere Zu- sammensetzungen möglich, und wo man nicht wagen darf, den Haupt- satz zum vierten Mal mit einem dritten Seitensatze zu wiederho- len, da wiederholt man ihn ohne letztern, wenigstens theil weise im Anhange ; lässt ihn dafür aber auch ganz oder theil weise in der Mitte fallen.

Als zweiter Karakterzug tritt sodann in allen Rondos im Allgemeinen der leichtere, weniger wichtig genommene In- halt vor Augen. Jeder Satz eilt, sich liedförmig abzurunden, um

Seiten- und Schlusssatz in Dur geendet, oder auch der Anhang in Dur ge- setzt.

* SZ soll Schlusssatz bedeuten, die Gänge sind unerwähnt.

Digitized by

200 Die grossem Rondoformen.

dann andern Sätzen und Gängen Platz zu machen ; ja, die Seiten- sätze lösen sich ganz oder theilweise in Gänge auf und gewähren so noch leichteres Tonspiel. Dieser Karakterzug wird erst im Ge- gensatz zur Sonatenform, zu der wir jetzt fortschreiten, vollkom- men erkannt werden. Einstweilen vergleiche man, um sich vor- läufig zu orientiren, die Rondoformen in der Lockerheit ihres Zu- sammenhangs mit der uns schon bekannten Fuge. Die Fuge lässt ihren oder ihre Gedanken (die Subjekte) nie los, das Rondo lässt einen um den andern fallen ; die Fuge verwandelt ihre Hauptgrup- pen (die Durchführungen, oder das Thema selbst) unaufhörlich, das Rondo hält seinen Hauptsatz , von unwesentlichen Veränderungen abgesehn, stets, sogar in derselben Tonart fest. Diese Betrachtung muss an den Ursprung der Rondoform aus der Liedform und an die nahe Verwandtschaft derselben mit der Liedkette erinnern, eine so nahe, dass es bei einzelnen Kompositionen einen Augenblick lang (S. 115) zweifelhaft erscheinen konnte, ob sie der Rondoform angehörten, oder bloss Lied mit Trio oder Liedkette seien. Die Lockerheit im Verbände dieser letztern Formen ist aber bereits Th. II, S. 80 erkannt worden.

Beide oben bezeichnete Karakterzüge treffen am wenigsten in der vierten und fünften Rondoform zu, die aus Haupt- und erstem Seitensatz eine zusammenhängendere Masse zu bilden streben. Aber eben hier bildet sich auch der Uebergang zu einer neuen Form, zu der Sonaten form, die wir nun zu erkennen und zu üben haben.

Digitized by Google

Vierte Abtheilung.

Die Sonatenform.

Das lose Aneinanderreihen verschiedner Sätze und Gänge war als Karakterzug der Rondoformen erschienen. Nur ein Satz, der Hauptsatz, war ursprünglich im Rondo wichtig genug, um wieder- holt zu werden; er war dann aber auch das einzige Feststehende des Ganzen, und musste eben darum immer in derselben Weise (wenigstens im Wesentlichen) und in derselben Tonart wieder- gebracht werden. So hatte man an ihm steten Anhalt; aber zugleich war die Modulation durch ihren mehrmaligen Rückgang auf denselben Punkt, von freierer und energischer Entwickelung zu- rückgehalten, fast nur auf die Räume zwischen Haupt- und Seiten- sätzen beschränkt.

Die vierte und besonders die fünfte Rondoform sind über diesen beengenden Kreislauf hinausgegangen. Indem sie Haupt- und ersten Seitensatz zu einer einheitvollern Masse vereinen, besonders im dritten Theile beide (mit dem Schlusssatze, wenn ein solcher vor- handen) im Hauptton eng verbunden wiederbringen, giebt sich in ihnen eine andre und höhere Richtung zu erkennen. Nicht mehr

das Einzelne (einzelne Sätze) in seiner Vereinzelung soll gelten, sondern der innige Verein der Einzelheiten (einzelnen Sätze) zu einem Ganzen, also

das Ganze in seiner innern Einheit wird zur Hauptsache. In diesem Ganzen fängt auch das Einzelne an, sich aus seiner Starrheit zu lösen ; es ist nicht mehr bloss für sich da und muss auf sich beschränkt seinen Platz bewahren; es bewegt sich (wenigstens der erste Seitensatz) von seinem ursprüng- lichen Sitze zu einer andern Stelle (von der Dominanten- oder Par- alleltonart zum Hauptton), und zwar nach dem Bedürfniss des Ganzen, das nun in grösserer Einheit und mit grösserer Masse im Haupttone sich abschliessen will.

Nur der zweite Seitensatz ist dieser Tendenz fremd geblieben. Er steht für sich da, als ein Fremdes zwischen dem ersten und dritten Theil. Man werfe aus dem S. 186 gewiesenen Schema, oder aus dem S. 191 betrachteten Beethoven' sehen Rondo den zweiten Seitensatz mit seinen Anhängseln (Gang und Orgelpunkt) aus : so bilden erster und dritter Theil ein Tonstück von so fester

Digitized by

202

Die Sonatenform.

Einheit, wie keine der Rondoformen darbietet. Dass übrigens diese Operation an Beethoven' s Rondo schon aus innern Grün- den (die leidenschaftliche Unruhe des Ganzen fodert den im zweiten Seitensatze gebotenen beschwichtigenden Gegensatz) verwerflich sein würde, kommt hier nicht in Betracht

Die Sonaten form* vollführt, was die vierte und fünfte Rondoform begonnen bat. Sie thut dies im Allgemeinen in zwie- facher Weise. Einmal dadurch, dass sie das Fremde, den zwei- ten Seilensatz, das die fünfte Rondoform zwischen dem ver- scbmolznen ersten und dritten Theile noch festhält, aufgiebt (wie wir oben S. 201 bloss aus formellen Gründen vorgeschlagen) und sich auf die enger vereinigten Partien beschränkt. Dies ist die kleine Sonaten- oder Sona tinenform. Dann, indem sie einen neuen zweiten oder mittlem Theil bildet, und zwar in Ein- heit mit dem ersten Theil, also aus dessen Inhalte. Dies ist die eigentliche Sonatenform.

Beide Formen, oder vielmehr Arten der einen Sonatenform werden für Sätze schneller wie langsamer Bewegung angewendet. Wir werden sie zuerst an erstem studiren, weil sie eben hier, wo die Bewegung von einem Satze zum andern und die Beweglichkeit der Sätze vorherrscht, ihre Natur am deutlichsten enthüllen. Die kleine Sonatenform würde übrigens kaum einer besondern Aufwei- sung bedürfen, wenn wir nicht damit zugleich der eigentlichen So- natenform vorarbeiteten. Aus diesem Grunde sei sie im Folgenden genau durchgenommen.

Erster Abschnitt. Die Sonatinenform.

Diese Form ist bei dem ersten Hinblick als Zurückfübrung der fünften Rondoform auf zwei Theile durch Auswerfung des

mittlem erschienen. Allein es versteht sich, dass solche Auffas- sungsweise nur eine vorläufige Veranschaulichung beabsichtigte, uns

* Sonate heisst bekanntlich (wie weiterhin zu besprechen sein wird) ein aus mehrern abgesonderten Sätzen, z. B. aus Allegro, Adagio, Scherzo und Finale zusammengesetztes Tonstück für ein (oder zwei) Instrumente. Mit dem Namen Sonatenform aber bezeichnen wir in Ermanglung eines andern bereits geläufig wordnen Namens die ganz bestimmte Form eines einzigen Tonstücks. Der hin und wieder gebrauchte Name »Allegro« oder »Alle- groform« ist schon deswegen unangemessen, weil die Sonatenform auch häufig für langsame Sätze angewendet wird.

Digitized by Google

Die Sonatinenform.

203

nur vorläufig vergewissern sollte, dass wir alle Bedingungen und Voraussetzungen der neuen Form schon in Händen hätten. In der That aber wird diese Form wie jede durch den Inhalt des Ton- werkes, wie er sich in der Seele des Komponisten gebiert und aus- gestaltet, hervorgerufen, oder vielmehr : ist nichts als diese Ausge- staltung.

Hiermit verweist selbst jene äusserliche Anknüpfung auf den Inhalt und Antrieb der Sonatinenform.

Ein leichterer, flüchtig weiter führender Satz, der nicht sowohl für sich, vielmehr als Bestandteil eines grössern Ganzen beweglich in einander greifender Bestandteile gelten will : das ist der Keim eines solchen Tonstücks; leichte Fortbewegung und Verknüpfung ist hervortretender Karakterzug desselben.

Hier*

225 Aiiegretto.

I

7 j J =— * /— # 4

rit.

•4— &

7 fr, A 7 P D 7 A ^P-

=F=F=F p r

haben wir einen solchen Satz vor uns, der als Beispiel der So- natinenform in Dur dienen soll. Wollten wir auch annehmen, dass er irgend einen Grad von künstlerischem Interesse erweckt : so ist doch offenbar sein Inhalt ein nicht tief anregender, das Ganze aus leichten Motiven leicht und flüchtig gewebt. Der Satz erscheint für sich selbst nicht wichtig genug, reizt uns also zu raschem Fort- schreiten. Sollte er Hauptsatz eines Rondo's werden, so müssten

* In diesem und den folgenden Beispielen hat aus Rücksicht auf den Raum nur das Noth wendigs te gegeben, nur ein Entwurf auf einer Zeile gesetzt werden können. Die Unterstimme soll den Bass andeuten und ist dazu bald eine, bald zwei Oktaven tiefer zu stellen, bald als blosse Harmonie- Andeutung anzusehn. Diese Abfsssungsweise hat auch auf den Inhalt nach- theiligen Einfluss gehabt; er erscheint zu einseitig in die Diskantregion ge- drängt, nicht spielvoll, nicht klaviermässig, überhaupt nichts weniger als reich entwickelt.

Digitized by Google

204

Die Sonatenform.

wir ihn durch festern Abschluss wenigstens zu einer formellen Be- stimmtheit fördern, um ungeachtet der Leichtigkeit seines Inhalts genügenden Anhalt an ihm zu haben. Umgekehrt hat in dem S. \9\ betrachteten Beethoven 'sehen Rondo die leidenschaft- liche, in scharfen an einander gedrängten Gegensätzen sich kund- gebende Bewegung ersetzt, was dem Hauptsatz an fester Ausprä- gung der Form abgeht.

Wie haben wir nun den obigen Anfang (No. 225) weiter zu führen ?

Er zeigt sich als ein Vordersatz, fodert also anscheinend seinen Nachsatz, das heisst: vollendete Periodengestalt. Dagegen ist kein Antrieb zu zweitheiliger Liedform vorhanden; der Inhalt ist nicht so bedeutsam, dass er weitern Raum foderte; und der (auf die Dominante fallende) Halbschluss lässt eher einen Schluss im Hauptton, als in der Tonart der Dominante erwarten.

Wir gehn so weiter:

h i

i

4-

226

m

1

g r'jrif.r ton t«ij

Dass hier ein Salz geschlossen, ist klar. Aber wie? nicht einmal mit einem Ganzschluss, weder im Haupttone noch in der

Digitized by Google

Die Sonatinenform.

205

Dominante. Zwar zeigt sich im dreizehnten Takte der Dominant- akkord (oder gar nur verminderte Dreiklang) von Ddur; aber er tritt auf dem vierten Viertel, also auf dem leichtesten Takttheil, in einer Umkehrung und zu einer so beweglichen Kantilene auf, dass gar nicht das Gefühl des Schlusses, sondern das Bedürfniss weitern Fortgangs entsteht. Darauf folgt denn ein Halbschluss im Hauptton (wie in No. 225 bei dem Vordersatz), und zwar mit der Mollharmonie der Tonika, so dass man nicht einmal an einen sogenannten Kirchenschluss in D (Th. I, S. 319) denken kann. Die ganze Formel von Takt 3 bis zu Ende ist nichts, als ein befestig- ter Halbschluss im Haupttone.

Der Vordersatz hätte zu einem Hauptsatze für ein Rondo be- nutzt werden können ; jetzt, wo die Flüchtigkeit der Gestaltung zu der Leichtigkeit des Inhalts kommt, ist nicht mehr an die Stabili- tät eines Rondo, sondern nur an gleich leichten Fortschritt und somit an den fortdrängenden Gang der Sonatenform zu denken.

Allein ist denn der Inhalt unseres Satzes ein drängender? Dazu haben wir ihn wohl schon zu leicht befunden; er fodert leichtere Behandlung, wie im Bisherigen, so im Weitern.

Dies zeigt sich zunächst in der Weise, wie der Seitensatz an den Hauptsatz anschliesst; eine Weise, die der Sonatinenform eigen und ihr auffallendster Unterschied von der Sonatenform ist. Wir zeigen ihn gleich praktisch am vorliegenden Falle.

Der Schluss in No. 226 ist unstreitig ein blosser Halbschluss und die Tonart unverändert Gdur. Allein der letzte Akkord, also der Schlussakkord, ist der Dreiklang auf der Dominante, auf d. Nach einer längst uns geläufigen Vorstellung (Th. I, S 79) erinnert dieser Dreiklang an die Tonart seines Grundtons, an Ddur; ja, in der Modulationslehre haben wir schon (Th. I, S. 238) erkannt, dass ein nach einem Schlüsse frisch eintretender Dreiklang uns in die von ihm angedeutete Tonart versetzen kann, mittels eines Modulationssprunges. Ein solcher finde hier statt.

Wir sind zwar noch in Gdur, der Schlussakkord ist nur der Dominantdreiklang von C, aber er erinnert an die Tonart der Dominante, Ddur, und so bestimmen wir:

er soll der tonische Dreiklang dieser neuen Tonart sein.

Dies ist unstreitig die leichteste oder flüchtigste Weise, in die neue Tonart und zum Seitensatze gelangt zu sein; es ist die Mo- dulationsweise der Sonatine.

Wir fahren also, mit Wiederholung des letzten Taktes aus No. 226, so fort:

4 I

Digitized by

BAU

Sonatenfoim .

r r

1

._ -#

5J *L

w r r f lf

^ ^ J j j j

7 1

7 IS J..

f?

r ^

ÜE' ÜETtLif ggf §f

■i r

8 8 8

f

i t)

8va -

8va I

F 7f

=

* bis

iS

Ii! .

8

Der Seitensatz, der hier mit dem zweiten Takt anhebt, hat nicht einmal den Weg zu periodischer Bildung eingeschlagen; er besteht im Grunde nur aus einem einfachen auf dem vierten Takte schliessenden Satze, der mit einer Wendung nach ITmoll, dann noch zweimal in JEmoll, stets unter Versetzung aus einer Stimme in die andre, wiederholt wird; auch hier also offenbart sich die leichte Weise des Ganzen. Mit dem zehnten Takte wird in den jetzigen Hauptton (den Hauptton des Seitensatzes) zurückgegangen und derselbe nun festgehalten ; der zehnte bis zwölfte Takt wie-

Digitized by Google

Die Sonatinenform. 207

derbolt (wenigstens im Wesentlichen ) den Kern des Seitensatzes, so dass man denselben erst hier für geschlossen erachten muss.

Von diesem Abschluss des Seitensatzes an war jedenfalls noch ein weiterer Fortgang noth wendig, um das Ganze in der Tonart des Seitensatzes fester und befriedigender abzurunden ; dies war um so notwendiger, je loser die Modulation des Seitensatzes sich ge- bildet hatte. Daher beginnt nun vom zwölften Takt ein Gang, der in den letzten fünf Takten (die mit bis bezeichneten doppelt ge- rechnet) durch einen Schlusssatz den ersten Theil des Tonstücks endet.

Nach dieser Uebersicht des Ganzen ist zweierlei noch beson- ders nachzuholen.

Erstens: wir haben die Modulation des Seitensatzes eine losere genannt; ist sie folglich nicht tadelnswerth, da es ja bei uns stand, sie fester zu bilden? Nein. Obgleich man von Sätzen, die nur zur Veranschaulichung der Lehre und Arbeitsweise verfasst worden, nicht die tiefe Begründung fodern wird (S. 4 66 Anm.), die dem wahren Kunstwerk aus der Fülle des in ihn versenkten Künstlergeistes innere Notwendigkeit aller seiner Momente giebt: so ist doch die Bildung des Seitensatzes der des Hauptsatzes, also dem Sinn des Ganzen wohl entsprechend. Auch der Hauptsatz ist keine fest abgerundete Bildung, sondern besteht wesentlich aus dem Satz in No. 225 (oder dem Kern der zwei ersten Takte daselbst), dem nun statt eines abschliessenden Nachsatzes veränderte und weiter führende Wiederholung (No. 226; folgt. Ihm entspricht die Bildung des Seitensatzes, in welchem Takt 3 der kurze Kernsatz in wörtlicher Wiederholung, nur in einer andern Stimme, wieder- kehrt und erst am Schluss anders gewendet wird. Der Satz selbst ist hier befestigt; aber es hat sich an seiner Wiederholung eine neue Intention kundgethan : der Wechsel zweier Stimmen. Folg- lich musste auch dieser weitere Folge gegeben werden, wenn sie nicht als eine bloss zufällige und einflusslose wieder fallen sollte ; selbst wenn die Wiederholung der alternirenden Stimmen verzö- gert, z. B. so

Digitized by Google

208

Die Sonatenform.

mit einem Zusätze zu einem festen Satz (der hier mit dem sieben- ten Takte schliesst) abgerundet würde, könnte die Wiederholung nunmehr des ganzen Satzes (sie beginnt Takt 8 im obigen Bei- spiel) nicht wohl umgangen werden; sie war vielmehr bei der grös- sern Gewichtigkeit des Satzes um so nothwendiger geworden. Uebri- gens erkennt man an diesem Beispiel, dass ein fester gebildeter Seitensatz weniger dem Sinne des Tonstücks entspräche, als der in No. 227 festgesetzte.

Zweitens: ist das, was wir in No. 227 dem Seitensatze bis zum Schlusssatze zugefügt haben, wirklich ein Gang ? Wir haben es oben kurzweg so genannt, weil dieses Zugefügte jedenfalls an der Stelle oder anstatt eines Gangs ist; genauer hätten wir diese Bildung als eine jener zweideutigen oder Mittelgestalten bezeichnen sollen. Bei schärferer Betrachtung finden wir nämlich den auf den elften Takt des Seitensatzes fallenden Schluss in Takt 12 und 43 durch abermalige Schlussformeln verstärkt; mit dem letzten Takte beginnt ein Satz von vier Takten, der abermals auf einen wiederholten Schluss ausläuft; auch dieser Satz wird (obwohl sehr geändert) wiederholt, und hier erst wird der Schluss, nach- dem er verlängert worden, vom zweiundzwanzigsten Takte an gang- artig weitergeführt, um bald wieder in den Hauptton und zum Schlusssatze zu führen. Vorherrschend ist also hier die Satzform, und zwar mit fortwährender Neigung, einen Schluss im Haupltone zu machen oder zu befestigen; man könnte jeden der Sätze für einen Schlusssatz erachten, so wenig eigne Bedeutung hat er, so wenig ist einer derselben um seiner selbst willen da ; sogar der eigentliche Schlusssatz gewinnt durch seine Stützung auf die Unter- dominante festere Haltung. Aber eben darin spricht sich das Gang- hafte jener Sätze aus. Es hat sich nur dadurch verborgen, dass die Sätze insgesammt in derselben Tonart bleiben. WTären wir vod Takt 13 an so,

I I I 1 J J I

k±±J rfr?

Digitized by Google

Die Sonatinenform.

209

oder auch nur nach Festsetzung des ersten dieser Sätze vom sech- zehnten Takte so

glied- oder satzweise fortgeschritten, so würde die Natur des Ganges klarer hervorgetreten sein. Dann wäre aber bei der Beweglichkeit des Seitensatzes ein Uebergewicht der Bewegung , eine Erregung die Folge gewesen, die dem leichten Inhalt und Gange des Ganzen nicht angemessen schiene.

Hiermit haben wir

den ersten Theil unsers Tonstücks, ähnlich dem der fünften Rondoform, festgestellt.

Soll jetzt als zweiter Theil, wie in den letzten Rondoformen, ein zweiter Seitensatz folgen? Der Inhalt des ersten Theils ist zu leicht gefasst und abgefertigt, als dass er zu weiterm Fort- schreiten, zur Aufstellung eines Gegensatzes reizen könnte.

Daher geht nun unser Weg entweder ohne Weiteres zum Wiederanfang des Hauptsatzes, oder es erfolgt diese Rückkehr des Hauptsatzes nach einem überleitenden Gange, der entweder schon auf der Dominante des Haupttons orgelpunktartig steht, oder zu einem Orgelpunkte dahin führt.

Im obigen Beispiel würden wir den sofortigen Wiederanfang vorziehn, weil Harmonie und Melodie auf das Beste dazu bereit liegen. Wäre dies nicht der Fall, hätten wir z. B. für gut befun- den, den Schlusssatz lebhafter hinaufzuführen

eine Heftigkeit, die im Vorhergehenden gar nicht begründet wäre), so würden wir eines Ueberleitungssatzes bedürfen, um wieder auf den harmlosem Anfang zurückzukommen; wir könnten so

Marx, Komp.-L. HL 5. Aufl. 14

Digitized by Google

210 Die Sonatenform.

zum Anfang (im letzten Takte) zurückkehren. Gleiches Bedürf- niss tritt hervor, wenn Seiten- und Schlusssatz in einer fremdern Tonart stehn, z. B. in einem TonstUck aus Moll in der Parallele. Angenommen, unser Hauptton wäre HmoW gewesen und der Schluss ständ' also in der Parallele, Z)dur: so wär' es nicht wohlgethan, von da (nach No. 227) sogleich wieder nach //moll, mit der Quinte in der Oberstimme, zurückzuspringen; man hätte Grund zu einer vermittelnden Ueberleitung, die sich vom vorletzten Takte von No. 227 etwa so,

oder mit weiterer Ausdehnung so

hätte machen und in den Hauptton (das jetzt dafür angenommene //moll) und das erste Motiv hätte zurückführen können. Man er- kennt hier, und schon im Schlusssatze von No. 227, wie vorlheil- haft es für innigere Verknüpfung des Ganzen ist, wenn man am Schluss und vor dem Wiederanfang auf die ersten Motive zu- rückkommen kann. Technisch würde dies allerdings jederzeit mög- lich sein, nicht aber dem Sinn jeder besondern Komposition gemäss.

Digitized by Google

Die Sonatinenform.

211

Wir wollen uns also das Vortheilhafte solcher Ueberleitung nicht entgehn lassen, wohl aber auch hier uns hüten, aus einer bis- weilen oder oft erspriesslichen Maassnahme eine allgemeine zwin- gende Regel zu raachen.

Es ist noch ein dritter Fall (S. 207) möglich. Wir be- dürfen bisweilen einer Ueberleitung oder Einschiebung zwischen dem Schluss des ersten Theils und dem Wiederanfang, mögen aber dazu keins der schon vorhandnen Motive benutzen. Angenommen, unser erster Theil hätte den in No. 231 aufgewiesenen Schluss ge- habt und wir fühlten das Redürfniss, der damit gegebnen zu gros- sen Erregung eine um so entschiednere Reruhigung entgegen zu setzen: so könnte schon die in No. 232 gegebne oder jede ähnliche Rückleitung zu lebhaft, also für den jetzigen Zweck unge- eignet erscheinen. Wir wollen, um den bewegtem Schluss besser zu motiviren, abermals als Hauptton nicht Gdur, sondern Hmoll annehmen. Dann könnte sich eine Ueberleitung, wie die nach- folgende —

Mm

235

r r «f f f f

4i lLii.j> i n.

¥

^^^^^^^^

¥> f

7f?

7f

ergeben.

Hier sehn wir abermals, wie eng sich die Sonatinenform und durch sie die Sonatenform an die fünfte Rondoform anschliesst. Der in No. 235 auftretende Satz tritt offenbar an die Stelle des zwei- ten Seitensatzes. Nur reift er nicht zu einem solchen; er ist viel- mehr auf einfache Satzform und den Umfang von vier Takten be- schränkt, und führt nach einmaliger Wiederholung in einen Gang und zum Wiederanfang, so dass Niemand ihn für gleich gewichtig mit dem Haupt- oder ersten Seitensatz ansehn wird.

Digitized by

212

Die Sonatenform

Wie nun auch der Rückschritt zum Hauptsatz geschehn sei, mit seinem Eintritt beginnt

der zweite Theil der Sonatine. Hieraus ergiebt sich schon, dass sie nur aus zwei Theilen bestehen kann; der ehemalige zweite Theil (nämlich aus der fünften Rondoform der zweite Seitensatz) ist ja ausgefallen und damit der ehemalige dritte Theil zum zweiten geworden.

Der Inhalt dieses zweiten Theils nun ist aus der Rondoform bekannt; er ist aus

Hauptsatz, Seitensatz, Gang und Schiusssatz zusammenzustellen, die insgesammt im Hauptton also bei uns in Gdur auftreten.

Allein auch bei der Zusammenstellung waltet die leichtere Weise der Sonatinenform vor.

Im ersten Theil endete der Hauptsatz mit seinen Anhängseln in einem Halbschluss auf der Dominante des Haupttons, und wir setzten damals fest:

es solle diese Dominante für den Sitz der neuen Tonart Z)dur, für den Seitensatz gelten. Diese Annahme war willkürlich; eben so gut (oder vielmehr richtiger) konnte der damalige Schlussakkord als Dominante des Haupttons (Gdur) gelten, und wir erkannten nur in jener Leichtig- keit, uns aus einem in den andern Ton zu versetzen, einen Ka- rakterzug der Sonatine.

Jetzt im zweiten Theile " wird zuvörderst der ganze Hauptsatz mit seinem Anhange, bis zum Schlüsse von No. 226 wiederholt. Nun aber wenden wir uns auf die andre Seite obiger Modulationsannahme :

der Schlussakkord soll als Dominante des Haupttons geltend bleiben ;

und hiermit wird denn der Seitensatz mit Gang und Schlusssatz, wie er in No. 227 gebildet war, wiederholt, jetzt aber, zum Ab- schluss des Ganzen (wie im Rondo vierter oder fünfter Form) im Hauptton. Er setzt also so

v=f=f=l=3 7 Elf LLü^WfrTffli

ein und geht mit kleinen Abweichungen oder in wörtlicher Wieder- holung zu Ende.

Ob dann noch ein Anhang gebildet, ob in demselben oder gelegentlich bei Wiederholung des Seitensatzes, oder des nach- folgenden Ganges die Unterdominante berührt werden soll : das ist

Digitized by Google

Die Sonatinenform.

213

in jedem einzelnen Falle nach dem Bedürfnis desselben zu beur- theilen. Der Anhang sowohl als die Berührung der Unterdominante dienen bekanntlich zu festerer und ruhigerer Abschliessung eines Tonstücks ; es muss also aus dem Inhalt jeder besondern Komposi- tion entschieden werden, ob und wie weit es für sie einer solchen verstärkten Abschliessung bedarf. Im vorliegenden Falle scheint eine solche unmotivirt; bei dem leichten Inhalt und dem langen Verweilen des Gangs und Schlusssatzes in der Tonart des Seiten- satzes (No. 227), also zuletzt im Haupttone, bedarf es keiner wei- tern Befestigung des Schlusses. Wäre dem aber anders, so könnte gleich beim Eintritt des Seitensatzes die Unterdominante angeregt werden,

337

r

worauf das Weitere im Hauptton folgte, wie in No. 227 in der Dominante. Oder man könnte einen Abschnitt des Seitensatzes in die Unterdominante stellen

238

A

#I-J 1

ß a

r^= Jt

1 -&~ 4

¥^

1 i

Bei a hätte sich der Satz nach A moll wenden sollen , wie in No. 227 nach EmoU; statt dessen tritt er in die Unterdominante. Bei b hätte fortgefahren werden können, wie in No. 227 im neunten Takte des Seitensatzes ; statt dessen wird nun die Wen- dung nach ylmoll nachgeholt und erst im letzten Takte wieder in die ursprüngliche Weise eingelenkt, so dass der Seitensatz um zwei Takte erweitert ist. Oder endlich konnte im Gang oder einem An- hange die Unterdominante benutzt werden, was keiner weitern Auf- weisung bedarf.

Dies ist die Form der Sonatine. Sie zeigt wieder zweitheilige Konstruktion,

Theil I. Theil IL

HS SS G SZ HS SS G SZ

Digitized by Google

214

Die Sonatenform

dergleichen wir seit den Lied- und Ettidenformen nicht mehr ge- funden; ja, es ist sogar der zweite Theil der Hauptsache nach nichts als Wiederholung des ersten. Und dennoch : wie weit reicher und gesättigter ist hier die Form der Zweitheiligkeit, als zuvor! Gleichwohl herrscht dasselbe Konstruktionsgesetz, nur auf grössere Massen und zusammengesetztere Verhältnisse ange- wandt. Dieses Fortbestehn und immer weiter greifende Wal- ten unsrer ersten Grundsätze ist aber nicht bloss, wie wir Th. 1, S 7 vorhergesagt, eine Bestätigung derselben, sondern eine mäch- tige Hülfe bei der künstlerischen Konzeption : denn damit werden die so einfachen und doch so durchgreifenden Gesetze der Vorstel- lungs- und Denkweise dem Künstler wahrhaft zu eigen ; sie lenken, bestimmen, sichern seine Auffassungen vom ersten Keim an bis zur Vollendung des Werks.

Die

Sonatinenform in Moll

dürfte sich wohl seltener gerechtfertigt finden, da der Karakter des Mollgeschlechts dem leichten , flüchtigen Sinne der Sonatinenform weniger entspricht ; auch erinnern wir uns keines erheblichen Falls dieser Form.

Sollte sie zur Anwendung kommen, so müsste sie denselben Gesetzen folgen. Nur ein mehr leicht berührender als tief greifen- der Satz, z. B. dieser,

der nach erfoderlicher Weiterführung einen befestigten Halbschluss auf der Dominante machte, z. B.

Digitized by Google

Nähere Nachweise über die Sonatinenform.

215

würde gegründeten Anlass für die leichte Form geben. Nach dem Halbschlusse würde, eben wie in Dursätzen, im ersten Theile der Seitensatz in der Parallele eintreten, z. B.

im letzten Theil erfolgte derselbe Eintritt im Haupttone und zwar in Moll oder sogar in Dur,

242

und zwar in allen Fällen ohne eigentlichen Uebergang, und wenn man für gut befunden hätte, den Seitensatz auch zuletzt in Dur aufzuführen, so könnte Gang und Schlusssatz in Dur gesetzt, oder damit nach Moll zurückgekehrt werden. Im letztern Fall würde es wahrscheinlich eines weitem Anhangs bedürfen, um dem zurückgesetzten Moll noch das erfoderliche Gewicht zu geben.

Zweiter Abschnitt. Nähere Nachweise über die Sonatinenform.

Wir haben im vorigen Abschnitte die Sonatinenform an prak- tisch vor uns entstehenden Beispielen erläutert. Jetzt liegt uns der Nachweis derselben an einigen Werken der Meister ob. Wir wenden uns hier vornehmlich an Mozart; in der Richtung seiner Klavierkomposition war es bedingt, dass er sich der leichten Form häufiger bediente. Oft mag die Hast, die ihm durch Ver- hältnisse (wie er selber klagt) geboten wurde, dazu gedrängt haben ; stets kam ihm dann die geniale Leichtigkeit seiner Konzeption zu Hülfe, dergestalt, dass man bei keiner seiner hierher zu zählenden Kompositionen Anlass findet, sie anders oder statt ihrer eine andre zu wünschen.

Das erste Beispiel giebt uns der erste Satz der vierhändigen D dur-Sonate*.

Der Hauptsatz ist noch leichter gewebt, wie der unsrige ; nach einem aus zweierlei Motiven gebildeten Satze

* Heft 7, No. 3 der Breitkopf-Hörtel'schen Gesammtausgabe ; No. 1 der neuen Einzelausgabe.

Digitized by Google

216

Die Sonatenfoiw.

243

(die letzten beiden Takte werden wiederholt) folgt ein zweites Sätzchen

4 i

244

(das höchstens mit seinem zweiten Motiv an den ersten Satz erin- nert), und diesem ein drittes,

^ffT^fTriirn , | f J J |

I T

das mit einem Halbschlusse den ganzen Hauptsatz auf das Kürzeste und Leichteste endet.

Nun wird auf den Grund des Dominantdreiklangs angenommen, dass wir uns in der Tonart der Dominante befänden, und ohne Wei- teres ein eben so locker gewebter Seitensatz in Adur eingesetzt. Er besteht im Grunde nur aus dem Sätzchen,

246

das mit einer kleinen Aenderung wiederholt und leichtweg

«*7

m

%

r

geschlossen wird. Hier hängt Mozart eine ganghafte, aber satz- artig schliessende Stelle an

248

tr

f 1 1 f

(eine jener Mittelbildungen, die zwischen zwei Formen stehn und von beiden annehmen) , und endet mit eben so leichtem Schlusssatze. Nun folgt als Ueberleitung zum Wiederanfang eine Reihe von

Digitized by Google

Nähere Nachweise übei* die Sonatinenform.

217

einundzwanzig Takten. Bemerkt man, dass der ganze erste Theil nur dreissig Takte hat, so könnte der vorläufige Anblick zweifelhaft machen, ob wir nicht hier ein Rondo fünfter Form vor uns hätten. Allein die genauere Betrachtung zeigt uns, dass hier von einem zweiten Seitensatze nicht die Rede sein kann. Mozart stellt zuvörderst einen neuen, wieder aus zwei verschiednen Par- tien gebildeten Satz in der Dominantparallele auf,

und wiederholt ihn eine Stufe tiefer, also in A dur. Nun folgt ein Gang

1— TT ^

=T - |fe

250

e

7

6 6

von acht Takten, der auf einen Halbschluss auf der Dominante des Haupttons und zwei Takte weiter zum Hauptsatz zurückführt. Es ist klar, dass das viertaktige, in der Modulation sogleich weiter rückende Sätzchen in No. 249 nur ein vermittelnder, kein Seiten- satz sein kann. Von da an wird der Hauptsatz mit seinem Halbschluss unverändert wiederholt.

Dasselbe geschieht mit dem Seitensatze, der nun wie im vori- gen Beispiel ohne Weiteres im Hauptton auftritt, sieben Takte weit. Hier aber macht der Komponist einen vollkommnen Schluss und wiederholt den ganzen Seitensatz, aber die ersten Takte in Moll (ZJmoll), worauf dann Gang und Schlusssatz (dieser ebenfalls erweitert) das Ganze beenden.

Ein sehr ähnliches Beispiel bietet der erste Satz der vierhän- digen Ädur-Sonate desselben Meisters*, nur dass sie in allen Theilen energischer zusammengehalten ist; schon der Hauptsatz, noch mehr der Seitensatz (bei dessen Wiederholung sich ein artiges Spiel der Stimmen

251

m

J iJ I i J

n J J J

MM mnm

* In demselben Hefte No. 4 ; No. 2 der neuen Einzelausgabe.

Digitized by

218

Die Sonatenform.

XELFW3

macht) bezeugen das. Daher bedarf es eines kräftigern Schluss- satzes, der sich so

I

wie hier der dürftige Auszug andeutet) bildet, mit Versetzung der Stimmen wiederholt, und noch eine Durchführung des ersten Motivs aus dem Hauptsatze (gleichsam einen Anhang) nach sich zieht, die zu beruhigenderm Schluss und zugleich zur Rückführung in den Hauptsatz und UeberfUhrung in den zweiten Theil dient. Letztere macht sich einiger mit dem Vorhergegangenen und zu- gleich kürzer, als in der Z)dur-Sonate. Zu Ende des zweiten Theils wird der Schlusssatz in die Unterdominante gewendet,

253

I

^4

von da in die Oberdominante und den Hauptton, abermals wieder- holt und jene Reminiscenz aus dem Hauptsatze zu einem voll be- friedigenden Anhange benutzt.

Das letzte Reispiel gebe der erste Satz der freundlichen klei- nen Cdur-Sonate*. Es ist hier, nach allem bereits Erörterten, nur die ungleich reichere und buutere Zusammensetzung merkens- werth.

Ein Sätzchen von zwei Takten, das wiederholt wird, beginnt den Hauptsatz; ein bloss durch gleiche Regleitungsform und ver- wandte Stimmung mit dem ersten zusammenhängender zweiter Satz von vier Takten, abermals wiederholt, ein mehr gangartiger Zusatz von zwei Takten und dessen Wiederholung bilden den Hauptsatz, und nun folgt, mit Rerührung der Unterdominante, ganz kurz (in zwei Takten) der Halbschluss.

Der Seitensatz bringt zuerst folgenden Satz

* No. h des ersten Hefts; No. 1 der Einzelausgabe.

Digitized by Google

Nähere Nachweise über die Sonatinenform.

219

434

mm

mit seiner Wiederholung; dieser schliesst sich unmittelbar ein ganz verschiedener

255

ebenfalls wiederholter Satz an, dem nach einer kleinen Ausdehnung des Schlusses eine Periode, wieder ganz neuen Inhalts (statt des Halbschlusses hat der Vordersatz einen unvollkommnen Ganz- schluss in der Dominanttonart) folgt. Man könnte versucht sein, in diesem neuen Gebilde den Schlusssatz zu sehn, wenn nicht nun, wieder aus neuem Stoff, ein lebhafterer gangartiger Satz (statt Ganges) und endlich der eigentliche Schlusssatz folgte. Was diesen ersten Theil der Sonate von den vorhergehenden Beispielen und vielen andern Arbeiten in dieser Form unterscheidet, ist die Vielheit seiner Sätze, die in der zweiten Partie* (vom Seitensatz an, sie zählt vierzig, die erste achtzehn Takte) nur durch Ton- art und ungefähre Stimmung zusammengehalten werden.

Der zweite Theil beginnt mit einer Zwischenpartie (oder, wenn man will, Ueberleitung) von gleicher Beschaffenheit. Ein Satz von acht Takten in Gdur scheint zu einem Orgelpunkt führen zu wollen; allein es schliesst sich mit einer Wendung nach A moll ein zweiter an, und dieser erst bringt einen Orgelpunkt und, mit dem Eintritte des Haupttons, den Hauptsatz zurück. Auch hier also erhalten wir wenigstens einen, wo nicht zwei Sätze fremden, wenn auch verwandten Inhalts. Eine innere Notwendigkeit für dieselben möchte schwerlich nachzuweisen sein ; dem reichen Ton- dichter hat es beliebt, sich in angenehmen Vorstellungen zu erge- hen, deren keine ihn tiefer zu erregen und damit zu fesseln ver- mochte; in gleichem Sinn gemessen wir seine Gabe.

* Wenn Haupt- oder Seitensatz aus zwei oder mehrern Sätzen besteht, wollen wir um die ewige Wiederholung des Wortes Satz (das wir ohnehin so vielfach gebrauchen müssen) zu vermeiden gelegentlich die Ausdrücke Partie, Hauptpartie, Seitenplrtie benutzen.

Digitized by

220 Die Sonatenform.

Der Hauptsatz wird mit kleinen Aenderungen wiederholt und zu seinem Hauptschluss geführt. Jetzt tritt der erste Satz der Seitenperiode (No. 254) ein, in Gdur; a Hein sogleich auf dem vierten Takte wendet sich die Modulation in den Hauptton zurück, und von hier an bietet der weitere Verlauf nichts Abweichendes oder sonst der Erörterung Bedürftiges. Jene Einführung des Seitensatzes in der Dominanten- statt Haupttonart diente dem Kom- ponisten, sich um so bestimmter in die letztere zurückzuwenden, sie mit einem förmlichen Uebergang zu befestigen. Dies war ihm nicht nur gestattet, sondern auch nöthig, weil die Seitenpartie vier oder fünf Sätze (der Schlusssatz ist der fünfte) mit ihren Wiederholun- gen zählt. Er hätte also von der Wiederkehr des Hauptsatzes an zweimal sieben Sätze (und noch einen Anhang) in derselben Tonart eintreten lassen müssen, wenn er nicht jenen Ausweg ge- funden.

Ist nun die Mozart'sche Weise, dieses Aneinanderreihen vieler kleiner Sätze, nachahmenswerth oder tadelnswerlh ? Keins von beiden. Dem Tondichter, zumal einem so Vieles bringenden, muss frei stehn, sich gelegentlich auch in leichter Weise, wie der Schmetterling von einer Biüthe zur andern irrt, im artigen Spiel mit leichten Vorstellungen gewissermassen absichtlos zu er- gehen. Das Karakteristische des Spiels liegt aber eben in der Ab- sichtlosigkeit; der Komponist verlässt eine Vorstellung, einen Satz um den andern, nicht weil er es sich vorgesetzt hat, sondern weil diese Vorstellung nicht die Macht gehabt hat, ihn dauernder zu fesseln ; und das ist die innere Nothwendigkeit solcher Gestaltun- gen. Das aber bedarf keiner geflissentlichen Uebung; vielmehr das Gegentheil, Festhalten der Gedanken und Vertiefen in diesel- ben muss geübt und als eine besondre, eine der entscheidendsten Fähigkeiten für den Künstler erzogen werden.

Dritter Abschnitt.

Die Sonatenform.

Die Sonatinenform musste sogleich als eine der flüchtigen Mittelgestaltungen erscheinen, die zwar innerlich und in der Kette aller Kunstformen berechtigt und nothwendig, in denen aber ein bestimmter Formgedanke noch nicht zu seiner Reife und Fülle ge- kommen ist.

Die Sonatine strebte Über die Rondoformen hinaus zu einer noch innigeren Einheit des Inhalt%; aber sie erlangte dieselbe durch

Digitized by Google

«

Die SoncUenfoitn.

221

Aufopferung eines Theils des frühern Inhalts des zweiten Sei- tensatzes — mithin durch eine Verminderung des Gehalts. Und dann war sie doch wieder geneigt, statt des ausgefallenen Theils einen Zwischen- oder Ueberleitungssatz einzuführen; zum Beweise, dass der ausgeschiedne zweite Theil seine gute Berechtigung hatte. Aber das statt seiner Eingeschobne kann ihn nicht ersetzen. Da- her eignet sich diese Form nur für flüchtige Gebilde.

Diese Betrachtung führt zu der eigentlichen Sonatenform und sogleich auf ihren wesentlichen Karakterzug.

Die Sonatenform kann einen mittlem Theil (zwischen dem ersten und letzten der Sonatine) nicht entbehren, sie muss d rei- theil ig werden. Aber dieser mittlere oder zweite Theil darf nicht wie in den Rondoformen Fremdes einen zweiten Sei- tensatz — bringen und damit die Einheit stören, deren vollkomm- nere Erreichung eben die Aufgabe der Sonate ist.

Folglich muss der zweite Theil* der Sonatenform den Inhalt des ersten Theils festhalten, und zwar

entweder ausschliesslich, oder doch hauptsächlich.

Hiernach stellt sich nun die neue Form in ihren Hauptzügen folgendermaassen fest:

Theil 1 . Theil 2. Theil 3.

HS SS G SZ HS SS G SZ

und man erkennt sogleich, dass der erste und letzte Theil wenig- stens der Hauptsache nach aus der fünften Rondo- und Sonatinen- form bekannt, nur der mittlere Theil das wesentlich Neue ist.

Ehe wir jedoch zu diesem, als dem wichtigsten Gegenstande des neuen Studiums fortschreiten, ergeben sich schon aus der vor-

* Dem gewöhnlichen Sprachgebrauche nach erkennt man nurzweiTheile der in Sonatenform geschriebenen Tonstücke an. Der erste Theil, der gewöhn- lich wiederholt und durch das Wiederholungszeichen kenntlich abgeschnitten wird, gilt als solcher; alles Weitere, also zweiter und dritter Theil ge- meinschaftlich, gilt als ein einziger, als zweiter Theil ; so auch oft bei den Rondo's fünfter Form. Allein die Scheidung des zweiten und dritten Theils ist, wie wir schon jetzt wissen, so wesentlich, dass wir sie nicht Übergehn können, ohne die Anschauung der Form zu stören und ihren Vernunftgrund aus den Augen zu verlieren. Dies ist auch früher gefühlt worden und man hat im sogenannten zweiten Theil (dem vereinten zweiten und dritten) die Wiederkehr des Hauptsatzes und alles Weitere die Reprise, das Vorangehende aber die Durcharbeitung genannt. Das wären ja aber die drei Theile mit der wesentlichen Abscheidung des dritten vom zweiten ! Nur die Namen scheinen nicht genau (der dritte Theil ist keineswegs blosse Reprise oder Wiederholung, Durcharbeitung findet in allen Theilen und obenein in vielen andern Kunst- formen statt) und es wird beiläufig zur Erschwerung des Studiums als zweiter Theil zusammengeworfen, was gleich darauf doch wieder geschieden werden muss.

Digitized by Google

222

Die Sonatenform

läufigen Anschauung der Form einige Betrachtungen, die wir vor- weg nehmen.

Erstens. Stellen wir uns im Voraus ein Tonslück vor, das durch drei Theile an seinem Haupt- und Seitensatze festhält: so müssen wir diesem stetigen Inhalt eine tiefere Bedeutung beimessen, als dem der Sonatinenform ; oder was dasselbe ist : der Komponist muss sich von diesen Sätzen mehr angezogen, er muss sich be- stimmt fühlen, sich mehr mit ihnen zu beschäftigen. Daher werden Sätze, die für jene flüchtigere Form wohl geeignet sind, für die höhere Sonatenform zu leicht erscheinen. So würden die im vorigen Beispiel (No. 225 bis 238) aufgestellten Sätze für die höhere Form nicht eben so wohl geeignet sein, als für die Sonatine. Dasselbe darf von den Mozart'schen (No. 243 bis 255) behauptet werden; es ist damit nicht ein Tadel des verewigten Künstlers ausgesprochen, sondern vielmehr die Anerkennung, dass er auch in diesen Fällen jedesmal die geeignetste Form gefunden hat. Wenn wir dem- ungeachtet unsre Sonatensätze weiterhin auch als Beispiele für die höhere Form benutzen, so geschieht es nur um der Raumersparniss willen, und um an denselben Sätzen die abweichenden Modifikatio- nen der verschiednen Formen um so anschaulicher hinzustellen.

Zweitens. Die blosse Wiederholung eines Satzes zeigt schon das Interesse, ihn gleichsam als einen Besitz festzuhalten. So diente in den Rondoformen besonders der Hauptsatz als ein fester Moment des Ganzen, auf den man zurückkam, um ihn aber- und abermals zu wiederholen. Ein höheres Interesse zeigt sich in der Sonatenform. Es findet nicht mehr darin Befriedigung, den fest- zuhaltenden Satz gleich einem todten Besitzstück wiederzubringen, sondern belebt ihn, lässt ihn sich verändern, in andern Weisen, nach andern Zielpunkten bin sich wiederholen, es macht aus dem Satz ein Anderes, das gleichwohl als Ausgeburt des erstem erkannt wird und statt seiner gilt. Ein vorläufiges geringes Beispiel giebt No. 226, wo der Kern von No. 225 mit einer we- sentlichen Aenderung (Beugung in die Unter- statt Oberdominante) wiederholt wird. Das Rondo konnte sich auf wesentliche Aende- rung der Sätze nicht einlassen, sondern nur auf beiläufige, der- gleichen die Sonatenform auch zulässt und wir ohne weitere Er- wähnung in No. 228 gemacht haben.

In diesen Umgestaltungen des Satzes liegt nun offenbar die Kraft, mannigfacheres und gesteigertes Interesse für denselben an- zuregen, wie das selbst dem geringen Fall in No. 226 zugestanden werden kann. Daher ist es möglich, einen an sich weniger bedeu- tenden Satz zum würdigen und befriedigenden Gegenstand der grös- sern Form zu erheben; ja, es zeigt sich nicht selten eben an sol-

Digitized by Google

Die Sonatenform.

223

chen auf den ersten Anblick unwichtigem Anlässen die Kraft der Form und des Komponisten in vorzüglicherer Weise, obwohl es unkUnstlerisch scheint, dergleichen geflissentlich zu suchen, um daran eine Probe seines Kunstgeschicks abzulegen, und fahr- lässig, mit dem ersten besten Einfall ohne wahren Beruf dazu, ohne innere Erregtheit dafür sich an die Arbeit zu geben. Eins der glücklichsten Beispiele bietet der erste Satz von Beethoven' s Gdur-Sonate, Op. 31. Der geistreich von Humor sprühende Haupt- satz hat diesen Kern,

Allegro vivace.

den man, sollte er für sich allein und unverändert stehn bleiben, wohl erregt, nicht aber bedeutend nennen könnte. Und eben ihm gewinnt der angeregte Geist des Künstlers die geistvollsten Wen- dungen in reizendem Wechsel ab, die uns immer tiefer gefangen nehmen und zuletzt sogar weichere Anklänge der unerwartet ge- rührten Seele bieten. Es hiesse dem Meister ein kleines Schü- lerlob erlheilen, wollte man annehmen, er habe seinen Salz zu solchem Spiel technischer Gewandtheit erkoren. Hier war, bei dem Künstler ist nichts Technik; was der Künstlergeist ergreift, das wird unter dem Walten eifervoller Liebe seinem Geist eigen und lebendiges, lieberfülltes Zeugniss dieses Geistes. Das lässt sich an diesem Beethoven' sehen Satze, wie an jedem Kunstwerk erkennen und erweisen, und jeder Künstler weiss es. Der künst- lerischen Liebe aber ist Technik, äusserliches Geschick, oder gar eitles Spiel mit ihr ganz fern.

Drittens. In der höhern Sonatenform, in der das Ganze vom Drange nach einheitvollem kräftigen Fortschreiten und Fort- bilden durchdrungen und bedingt ist, kann jene leichte, in ihrer Willkürlichkeit auch oberflächliche Weise, in der die Sonatinen- forra vom Halbschluss des Hauptsatzes in den Seitensatz und seine

Digitized by Google

224

Die Sonaten form.

Tonart springt, nichj- mehr befriedigen. Hier macht sich ein förm- licher Uebergang nothwendig, der uns mit Bestimmtheit aus dem Sitze des Hauptsatzes in den des Seitensatzes führt und diesen be- festigt.

Dazu wird nach längst bekannten Grundsätzen im ersten T h e i l vom Hauptsatz und Hauptton aus in die Dominante der Do- minante und von da zurück in die letztere modulirt. Sollte z. B. unser Hauptsatz aus No. 225 und 226 für die grössere Sonatenform ver- wendet werden, so könnte schon vom neunten Takt in No. 226 an so*

257

*

r

1

1 äii iLlIiM £T7i iTü

r-fr

i

m

WM

WWW&

über A (moll und) dur nach dem Dominantakkord von Z)dur (im letzten Takt) und nach dem Seitensatz (im letzten Takte) gegangen werden. Dass übrigens hier ein Halbschluss auf der Dominante von A gemacht ist, geschah bloss, um den gemässesten Eintritt des Seitensatzes, wie er einmal in No. 227 angenommen, zu bewirken ; eben so gut konnte sofort nach Z)dur übergegangen werden, z. B. vom drittletzten Takt in No. 257 an,

Seitensatz.

258

t ff f r

* Es sei hier nochmals und zum letzten Mal erwähnt, dass die beschränkte Weise des auf eine einzige Zeile gedrängten Entwurfs auf den Inhalt selbst ungünstigen Einfluss geübt und diesen unabsichtlich und abgesehn vom äus- serlichen Anlass tadelnswerth in den hohem Tonregionen mit Ausschluss der tiefern gefesselt hat.

Digitized by Google

Der zweite Theil der Sonatenform.

225

wenn ein anderer Seitensatz (wie wir hier annehmen) eine andere Einführung loderte.

In Mollsätzen würde, wie uns ebenfalls bereits bekannt ist, in der Regel nicht in die Dominante, sondern in die Parallele zu moduliren sein. Nach denselben Grundsätzen würde im dritten Theil entweder vom Hauptsatz aus über Unter- und Oberdomi- nante zum Seitensatze modulirt werden müssen; z. B. vom zehnten Takt in No. 226 an,

und nun im dreizehnten Takte von No. 226 weiter; oder man könnte, wie im ältern Beispiel oder dem Mozart'schen, S. 218 erwähnten geschieht, sogleich den Seitensatz folgen lassen und die Unter- dominante, wie in No. 237 oder 238, spater nachbringen, wie es in jedem besondern Falle gelegen oder der Tendenz des Komponisten gemäss erscheint.

Von diesen leicht zu beseitigenden Punkten wenden wir uns nun zum wichtigsten, zur Konstruktion des zweiten Theils, die eine abgesonderte Betrachtung fodert.

Vierter Abschnitt. Der zweite Theil der Sonatenform.

Der zweite Theil, das steht bereits fest, erhält in der Sonaten- form im Wesentlichen keinen neuen Inhalt.

Folglich muss er sich wesentlich mit dem Inhalte des ersten Theils,

mit dem Hauptsatze,

mit dem Seitensatze,

auch wohl mit dem Schlusssatze, beschäftigen, und zwar

entweder nur mit einem,

oder mit zweien dieser Sätze, oder gar mit allen.

Marx, Komp -I, III. V Aul! 15

Digitized by Google

226

Die Sonaten form.

Allein diese Beschäftigung ist keineswegs, gleich der Behand- lung des Hauptsatzes im Rondo, blosse Wiederholung. Die wie- derkehrenden Satze werden vielmehr in jeder dem Moment der Romposition zusagenden Weise gewählt, geordnet und ver- knüpft, verändert.

So zeigt sich schon im Voraus der zweite Theil vorzugsweis als Sitz der Mannigfaltigkeit und Bewegung, und abermals treten uns die ursprünglichen Gegensätze, das Grundgesetz aller musika- lischen Bildung:

Ruhe Bewegung Ruhe

in den drei Theilen der Sonatenform vor Augen.

Im Karakter des zweiten (oder Bewegungs-) Theils liegt nun der Antrieb zu grosser Mannigfaltigkeit in der Anordnung und Verwendung des Stoffes. Die Aufgabe ist im Allgemeinen:

vom Schlüsse des ersten Theils mit dem aus ihm erwählten Stoffe zum Orgelpunkt auf der Dominante des Haupttons und zum Eintritte des dritten Theils zu führen.

Die Mannigfaltigkeit aber findet zunächst in der Anknüpfung, in der Weise, wie vom ersten Theil weiter geschritten wird; so- dann in der Durchführung des durchaus oder wenigstens der Hauptsache nach dem ersten Theil entlehnten Inhalts statt.

Es würde kaum möglich, gewiss aber unnöthig sein, alle Fälle und Abweichungen, die hiernach für den zweiten Theil der Sona- tenform eintreten können, aufzuzählen oder gar vorzuarbeiten; wir müssen und dürfen uns auf die w ichtigsten, welche Hauptrichtungen andeuten, beschränken. Ebensowenig ist aber Anlass vorhanden, ausser der Sonatinenform noch mehrere Unterarten der Sonatenform anzunehmen, wie bei dem Rondo geschehn müssen. Die Unter- schiede der Rondoformen sind wesentliche, insofern sie die Zahl der Haupttheile (Haupt- und Seitensätze) oder ihre Kombination zu grössern Partien betreffen. Die unterschiedlichen Wege, die der zweite Theil einer Sonatenform nimmt, können nicht als wesent- liche gelten, weil sie weder neue Haupttheile bringen, noch wesent- lich verschiedne Partien bilden.

Hiernach gehn wir nun die wichtigsten Momente des zweiten Theils gleich praktisch durch und legen, um den Raum möglichst zu schonen, das alte Beispiel (No. 225) fortwährend zum Grunde, ohne weitere Rücksicht, ob dasselbe zu jeder der verschiednen Entwickelungen am geeignetsten ist, oder nicht.

A. Sofortige Rückkehr zum Hauptsatze.

Der erste Theil ist wie in No. 227 geschlossen und es ist ein zweiter Theil zu erwarten. Der Schluss, wie der ganze Inhalt des ersten Theils war ruhig, nichts weniger als aufregend oder

Digitized by Google

Der zweite Theü der Sonatenform.

227

mächtig vordringend ; daher eben erschien die Sonatinenform für ihn als die genügende und geeignetste. Jetzt nehmen wir an, es sei Grund vorhanden, einen zweiten und dritten Theil zu bilden, also die Sonatenform zu benutzen. Da der Inhalt des Ganzen und namentlich der Schluss nicht besonders vordrängend ist, so kann nur ein lebhafter Interesse für irgend eine Hauptpartie weiter füh- ren. Dies kann aber im gegebnen Falle nur

der Hauptsatz

sein ; denn der Schlusssatz (das Letzte, das uns beschäftigt hat) ist beschränkt und so eben wiederholt dagewesen; der Seitensatz ist ebenfalls kurz zuvor gehört worden und besteht aus einer vier- oder fünfmaligen Wiederholung seines ersten Abschnittes.

Aber in welchem Tone soll der Hauptsatz auftreten? Nicht in dem schon genugsam besetzten />dur, nicht in dessen Dominante A dur (weil wir sonst einförmig von einer Dominante zur andern, G, Z), A, gingen), und noch weniger im Haupttone Gdur, der dem letzten Theil vorbehalten werden muss.

Die bequemste Anknüpfung wär', abgesehn von dem eben be- zeichneten Gegengrunde, unstreitig Gdur. Denn da der Hauptsatz mit der Quinte anhebt, so wäre sein Eintritt durch den Schlusston des ersten Theils ohne Weiteres motivirt. Da nun Gdur unzulässig ist, so würde sich die Aufstellung des Hauptsatzes in Gmoll Schluss v. Th. i.

i60

I I

in formeller Hinsicht am leichtesten machen. Allein diese Wendung scheint für die Stimmung des ersten Theils zu ernst und trüb, zu- mal da wir von Gmoll aus kaum den weitern Hinabschritt nach Cmoll (D, G, C) umgehn könnten.

Wir ziehn daher A/moll, als Parallele der letzten Tonart (Ddur) vor. Hätten wir Ursach', auch diesen Ton zu meiden, so würde sich zunächst JJdur (Parallele des Haupttons im Moll- geschlecht) darbieten, zu dem der Schlusston des ersten Theils, als Terz der neuen tonischen Harmonie, ebensowohl Vermittelung bietet, als zu moll. Letzteres ist jedoch näher verwandt, und J?dur mit seinen nächsten Umgebungen (F, Issdur, Gmoll) ist ebenfalls für die Stimmung unsers ersten Theils zu wenig hell*.

Allein für i/moll (wie auch für B dur) dient der Schlusston nicht zu so bequemer Anknüpfung, wie oben für Gdur oder moll. Folglich werden wir zu einer Aenderung am Hauptsatze gedrängt. Er trete nunmehr so ein:

* Vergl. für jetzt die Allgem. Musiklehre, 6. Aufl., S. 331.

45*

Digitized by Google

228

Die Sonatenform.

S6(

1

7 ff- "7f'f j^gPES? ~7tc7if¥fi

7TTT

Hier sollte zunächst bloss die erste Note geändert werden, um den Anschluss an die letzte des vorigen Theils zu bewirken. Dies zog schon die Aenderung des ersten Motivs nach sich; erst der Schluss des Abschnittes konnte in die ursprüngliche Form (No. 225) zurückkehren. Der folgende Abschnitt musste sich dem ersten, sei- nem nächsten Vorbilde, gleich oder ähnlich gestaltet anschliessen ; und so bildet sich eine theils verwandelte, theils getreue Wie- derholung des Vordersatzes, mit dem die Hauptpartie im ersten Theil eintrat.

Wenden wir uns hier einen Augenblick lang zu den Rondo- formen zurück, so ist der Unterschied der Sonatenform von ihnen und die ebensowohl energische als einheit vollere Entwickelung der Sonatenform mit dem ersten Zuge des zweiten Theils in das un- zweideutigste Licht gestellt. Auch hier tritt jetzt der Hauptsatz zum zweiten Mal auf, wie in der dritten und vierten Rondoform, und wird abermals, vielleicht unverändert, im dritten Theil erschei- nen. Aber er ist ein andrer geworden, und zwar in wesentlichen Wendungen (sogar im Tongeschlecht), nicht bloss in beiläufigen Zü- gen der Regleitung; wesentlich dürfen wir jene Abweichungen nennen, weil sie, wie gezeigt worden, aus den Verhältnissen, unter denen der Hauptsatz wieder auftreten müsste, als nothwendig be- dingte hervortreten. Schon das war entscheidend, dass der Haupt- salz hier seinen ersten Silz eben so geflissentlich zu vermeiden, als in den Rondoformen zu behaupten hatte; damit war das Prinzip

Digitized by Google

Der zweite Theil der Sonatenform.

229

der Bewegung, des Forlschritts zur Herrschaft erhoben gegen das untergeordnete Prinzip der Stabilität in den Rondoformen.

In No. 261 ist der Kern, sogar der ganze Vordersatz des Hauptsatzes zurückgeführt; wenn auch verändert, doch kenntlich genug. Bedarf es noch einer weitern Verfolgung des Hauptsatzes ? Nur deswegen, weil der vorangehende Halbschluss einen Nach- satz, und zwar (unter dein Einflüsse des in No. 226 Gegebnen) einen an das Hauptmotiv des Vordersatzes geknüpften verlangt. Sobald diesem genügt ist, können wir das im ersten Theil Gegebne ver- lassen und weiter gehen.

Das Einfachste ist hier, mit Motiven des eben aufgestellten Salzes einen Gang bilden, der zuletzt auf den Orgelpunkt und über diesen zum dritten Theil führt. Es könnte so

262

i

7 t

M ' I

| bis

i 7^, 7i

J 7 J-7

^ y -

rP ? P

4WW

uf Ctf

Digitized by Google

230

Die Sonatenform.

Pf tjpt

' LU

r

8

« 8

geschehn; der dritte Theil setzt hier mit dem Anfang des Haupt- satzes im letzten, der Orgelpunkt mit dem fünfundzwanzigsten Takte (wobei die wiederholten ausgezählt sind) ein.

Ueberblicken wir nun den ganzen Entwurf des zweiten Theils (No. 261 und 262), so kann uns freilich nicht entgehn, dass in demselben das Hauptmotiv (oben Takt 1) fast unausgesetzt verwendet und die Wiederkehr des Hauptsatzes gleich darauf im dritten Theil bedenklich worden ist. Hätten wir gleichwohl Uberhaupt ein wahr- haft tieferes Interesse am Hauptsatze (hier ist bloss ein solches an- genommen, um die Erörterung an das bereits vorhandne Beispiel zu knüpfen, S. 222), so würden wir eben in dieser ausdauernden Beschäftigung mit dem Hauptmotiv kein Uebermaass empfinden, oder wir würden von demselben freier und weiter, als oben (No. 262, Takt 7) geschehn, abschweifen und wieder zurückkehren. So hätte im Obigen schon das Motiv des siebenten Taktes weiter geführt, oder vom zwölften Takt mit einem andern Motiv, z. B. dem des zweiten Taktes,

rit.

tempo

rit.

263 <

forte

forte

TP

Ms

4 ^J&l

ff

m

n

weiter gearbeitet werden können, oder man konnte an irgend einer Stelle aus der erst im Vorstehenden unterbrochnen Achtelbewegung zu einer erregtem oder flüchtigem Übergehn, z. B. die letzten Takte von No. 263 so um- und weiterbilden,

Digitized by Google

Zweite Art der Anknüpfung uml Bildung des zweiten Theils. 231

und später (vielleicht erst über dem Orgelpunkt, am Schluss des- selben) in die ursprüngliche Bewegung zurücklenken.

Diese Andeutungen einiger von unzähligen Fällen genügen hoffentlich, um dem bisher mit uns fortgeschrittnen Jünger die Wege des Fortschritts auch an dieser Stelle zu öffnen. Hier wie überall kommt es vor allem darauf an, dass er sich überzeuge : es seien unerschöpfliche Mittel und Wege dem Kundigen bereit; dann: dass er sie alle durch Nachdenken, stetes Arbeiten und Studium der Meister (das Letztere aber erst, wenn er durch eigne Arbeiten sich dieser Aufgaben bis zur geläufigen Ausführung be- mächtigt hat, damit er nirgends nachahme, überall aus eigner Kraft schaffe) sich ganz zu eigen mache; zuletzt: dass er in ununter- brochner Ausführung des einmal begonnenen Werks und ungestörter Vertiefung in dessen Stimmung und Gedanken die einheitvolle Durchführung, getreu der ersten Anregung, sichre. Das Letzte ist in den obigen Versuchen schlechthin aus Rücksicht auf den Raum (S. 222) aufgegeben; namentlich scheinen sich die Fortfüh- rungen in No. 263 und 264 von der ursprünglichen Stimmung ganz zu entfernen; was man denn hier als gleichgültig auf sich beruhn lassen kann.

Fünfter Abschnitt.

Zweite Art der Anknüpfung und Bildung des

zweiten Theils.

Die im vorigen Abschnitt aufgewiesene erste Anknüpfungsweise des zweiten Theils kann insofern als die nächstliegende in der Reihe der Sonatenform gelten , als sie sich der einfachsten Sonati- nenform (S. 208) anschliesst und gleichsam Miene macht, den er-

Digitized by

232

Die Sonatenform.

sten Theil ohne Weiteres zu wiederholen. Nur dass dabei nicht der Hauplton (S. 210) oder doch wenigstens dessen andres Ge- schlecht (No. 260) ergriffen wird, nur das führt dann über die Sonatinenform hinaus.

Wie nun, wenn der Komponist keinen Antrieb hat, sofort zum Hauptsatze zu greifen ? Dann muss ein andrer Stoff für die Ein- führung des zweiten Theils gesucht werden. Es treten hier fol- gende Fälle ein, die wir dem ersten, im vorigen Abschnitt aufge- wiesenen anreihen.

A. Anknüpfung mittels eines fremden Zwischensatzes.

Es wird vorausgesetzt, dass sich für keinen der im ersten Theil aufgestellten Sätze ein Antrieb zu sofortiger Wiedereinfüh- rung zeigt, oder dass sogar Grund vorhanden ist, alles bisher Ge- gebne einstweilen bei Seite zu schieben. Einen solchen könnten wir im vorliegenden Falle wohl in der ununterbrochen Achtelbewe- gung finden, die einförmig und lästig wird, sobald wir die leichte Erfindung gegen ihren eigentlichen Sinn in die höhere Sonatenform hinauftreiben. Diese Achtelbewegung konnte früher, z. B. bei dem Seitensatze, verlassen, derselbe statt wie in No. 227 vielleicht so

365

ggjpi Lr— 1

eingeführt werden. Dies ist aber nicht geschehn, gleichviel, ob die frühere Bildung mehr zusagte, oder die drohende Einförmigkeit erst zu spät bemerkt wurde.

Hier retten wir uns nun aus ihr durch einen neuen Satz von andrer Bewegungs weise. Es kann der zweite Theil (also nach No. 227) so {eine Nachahmung von No. 235) eingeführt werden :

«66

SSO. 1 Iftaa. * fc

*

Der Satz ist nach allen Beziehungen, besonders in seiner rhyth- mischen Konstruktion, ein durchaus neuer. Sind wir durch seine Einführung auf die fünfte Bondoform zurückgegangen?

Digitized by Google

Zweite Art der Anknüpfung und Bildung des zweiten Theils. 233

Nein. Der zweite Seitensatz im Rondo muss sich, um den wiederholt auftretenden andern Partien das Gegengewicht zu halten, bestimmt liedmässig, wenigstens periodisch, und mit befriedigender Fülle ausbilden. Hierzu ist oben kein Antrieb vorhanden. Der neue Gedanke schliesst im fünften Takt in seiner Tonart ab und setzt sich dann in einer ganz andern, nicht einmal nächstverwandten fort. Dies ist die Weise einer Satzkette oder eines Gangs, nicht aber eines festen Liedsatzes; und so wird schon durch den Eintritt des neuen Satzes klar, dass hier so wenig wie bei dem frühern Fall in der Sonatine (S. 211) ein Rondo im Werden ist. Selbst wenn der Zwischensatz durch Wiederholung und weitere Ausfüh- rung, z. B. so

befestigt wird, kann man ihm nicht die Bedeutung eines zweiten Seitensatzes im Rondo beimessen. Diese Befestigung erscheint not- wendig, damit der neue Gedanke zur Reife und tiefern Wirksamkeit gelange ; auch die Rückkehr der einmal angeregten Achtelbewegung war, wenn nicht nothwendig, doch das Nächstliegende für das Ton- stück, wie es sich nun einmal gebildet hat.

Hiermit ist nun der zweite Theil eingeleitet, und zwar mit einstweiliger Beseitigung des im ersten gegebnen Inhalts. Nun muss zu diesem zurückgekehrt werden.

Was und wie viel wir von demselben ausheben, in welcher Ordnung und Verknüpfung wir es aufführen : das hängt in jedem einzelnen Fall von der Stimmung des Tonstücks, von der Tendenz und Geltung seiner einzelnen Sätze ab. Wir können nun

Erstens vom Zwischensatz aus, also am fuglichsten mit den in ihm bereits gegebnen Motiven, auf den Hauptsatz losgehn, z. B. nach No. 267 so -

Digitized by

234

Die Sonatenform.

268

Hl

r7 J71-- 7 "J

i

i

.

dg -1

i

loco

, Tu 7 TQ 7N i?Tj j>h

1 CD

i

"H3 7^ ip'

fortschreiten.

Hier will der Hauptsatz in Cdur, also in der Unterdominante des Hauptions, und in tiefer Lage wiederkehren. Beides war uns nahe gelegt. Der Auftritt des Zwischensatzes in fidur und Z>moll führte uns von allen erhöhten Tonarten [EmoW u. s. w.) ab, und so war die Unterdominante allerdings der nächstliegende Ton ; die tiefe Lage ergab sich mit gleichem Recht aus der vorhergegangnen Erhebung in die höchsten Tonlagen.

Allein unser Hauptsatz bedurfte wohl im Grunde keiner Wie- deranführung; sein leichter Inhalt findet Raum genug im ersten und dritten Theil. Und jedenfalls erscheint der Ernst der Unterdomi- nante und der tiefen Tonlage wenig ihm angemessen. Folglich begnügen wir uns mit seiner blossen Anführung oder Andeu- tung und gehen sogleich weiter zum dritten Theil,

269

a?

7

ff'

7

tempo

J. rit. ' . tempo

Ped. I X l

fcva

i

= r

T

7. -v

Himile

\T TT ' i^T * f

m

Digitized by Google

/wette Art der Anknüpfung und Bildung des zweiten Theils. 235

in

7

r

7 V I

oder können zuvor statt der beiden letzten Takle einen ausführ- lichem Orgelpunkt aufstellen und dann erst den Anfang des dritten Theils bringen. Hier erscheint übrigens der Orgelpunkt unnöthig, da die gewichtige Unterdominante und die bequeme, breite Modu- lation des Hauptsatzes (im dritten Theil) den Hauption genugsam befestigen.

Zweitens können wir, wenn der Seitensatz für Wie- derbenutzung vorzüglicher scheint, diesen zum Hauptmoment des zweiten Theils erheben. Von No. 267 ausgehend waren hierzu die ersten fünf Takte aus No. 268 zu benutzen, nach denen wir so

270

fortschreiten, auf H einen unvollkommnen Schluss (an der Stelle eines Halbschlusses) machen, und dann in J?moll den Seitensatz aufführen.

Hiernach fragt sich, ob derselbe vollständig und unverändert aufgeführt werden soll ? Im Allgemeinen ist wohl Beides nicht rath- sam, da der dritte Theil der Sonate (wie der fünften Rondoform) Seilen- und Hauptsatz mindestens vollständig wiederbringt und der Bewegungskarakter der Sonate sich auch darin (S. 228) ausspricht, dass er die wiederkehrenden Sätze, zumal im zweiten Theil,

Digitized by

236

Die Sonatenform.

dem vorzugsweisen Sitze der Bewegung, gern verändert. Nur bei ganz vorzüglicher Wichtigkeit und Gedrängtheit des Seitensatzes, wenn sich eine Abweichung ohne Nachtheil nicht ausführbar zeigen sollte, würde genaues Festhalten an der ersten Gestaltung rath- sam sein; aber selbst dann müsste wenigstens der Ausgang ein andrer werden, da der Seitensatz im ersten Theil zum Schluss in seiner Tonart, im zweiten Theil aber aus seiner Tonart heraus auf die Dominante des Haupttons drängt. Unser Seilen- satz z. B. stand im ersten Theil (No. 227) in Ddur und zog den Theilschluss in derselben Tonart nach sich ; jetzt tritt er in 2?mol I auf und muss sich auf die Dominante von Gdur wenden.

Im vorliegenden Fall also werden wir so wenig, wie in der ersten Ausführung des zweiten Theils mit dem Hauptsatz (No. 262) Anlass haben, den Seitensalz vollständig aufzuführen ; er giebt viel- mehr erwünschte Gelegenheil, uns noch einmal aus der Gleichför- migkeit der Achtelbewegung zu befreien. Wir stellen ihn mit sei- ner Fortführung bis zum dritten Theil so auf

/

Digitized by Google

Zweite Art der Anknüpfung und Bildung des zweiten Theüs. 237

Es bat sich hier aus dem Kern des Seilensatzes und in seiner ursprünglichen Form (mit einander antwortenden Stimmen) ein neues Gebild' ergeben, eben so, wie in No. 261 der Hauptsatz von einer andern Seite gezeigt worden war; gleichwohl ist in beiden Gebil- den der ursprüngliche Gedanke unverkennbar ausgeprägt. Erwägt man nun, dass es für solche Umbildungen in der That keine Gränze giebt, weil jeder Moment, jedes Motiv irgend eines Satzes An- knüpfungspunkt der mannigfachsten Neugestaltungen werden kann ; so muss der unerschöpfliche Reichthum der Sonatenform, ihre Be- wegsamkeit und lebendige Fortschrittskraft hier noch klarer als früher (S. 228) in das Auge fallen und uns die Gewissheit geben, dass diese Kraft mit jedem Schritt vorwärts sich in das Unberechen- bare vervielfältigen wird. Diese Ueberzeugung aber kann nicht früh und nicht stark genug eingeprägt werden, weil sie vor allem geeignet ist, die Schaffenslust des Jüngers von lähmendem Zweifel- muth, ob die Kraft zureichen werde? ob nicht der Künstler oder gar die Kunst selber (wie mancher unsrer Zeitgenossen aus eig- nem Ermatten oder missverständigen Folgerungen aus den Lehren eines grossen Philosophen annehmen wollen) erschöpft sei? zu befreien und den Eifer für seine Durchbildung, die unerlässliche Bedingung eines reichen Künstlerlebens, zu stählen.

Drittens können in der Durcharbeitung des zweiten Theils Hauptsatz und Seitensatz mit einander, oder vielmehr nach einander, benutzt werden, gleichviel in welcher Ord- nung. So hätten wir entweder nach der Ausführung von No. 261 und 262 an gelegner Stelle, statt auf die Dominante des Haupttons

Digitized by

Die Sonatenform

in eine andre Tonart moduliren, daselbst den Seitensatz (rein oder verändert) auffuhren, und von diesem endlich auf die Dominante des Haupttons gehn können. Oder umgekehrt konnten wir nach der Ausführung in No. 271 statt der Dominante D eine andre Ton- art ergreifen, in dieser den Hauptsatz aufstellen und dann nach einer langern Ausführung (damit der Eintritt des Hauptsalzes im dritten Theil durch die vorherige Ausarbeitung im zweiten nicht zu sehr verliere) auf die Dominante des Haupttons und den dritten Theil kommen. Ob diese allerdings weit umfassendere Ausführung durch die Wichtigkeit der Sätze, oder das besondre Interesse an ihrer Umgestaltung, oder aus irgend einem andern Grunde motivirt sei, muss nach den besondern Verhältnissen jedes einzelnen Ton- stücks beurtheilt werden. In keinem Falle bedarf es weiterer Anleitung, da die Ausführung wohl umfassender ist, mehr Haupt- momente, als bisher, begreift, aber keiner wesentlich neuen Mittel oder Weisen benöthigt wird.

Sechster Abschnitt. Die ferneren Anknüpfungen des zweiten Theils.

Die in den vorigen Abschnitten gezeigten Weisen, den zweiten Theil einzuführen, müssen wie gehaltvoll sie auch ausgeführt und wie richtig motivirt sie in einzelnen Fällen sein mögen doch nur als lockere Anknüpfungen gelten. Entweder geht dabei die Komposition auf einen Satz zurück, von dem im Augenblick des Schlusses am wenigsten die Rede gewesen (nämlich auf den Haupt- satz, von dem man durch Seiten-, Schlusssatz und Gänge getrennt ist), oder es wird ein ganz fremder Satz eingeschoben, der also mit dem Vorhergehenden vollends keine Verbindung hat.

Diese Betrachtung erschliesst uns die folgenden Anknüpfungs- weisen.

C. Anknüpfung mittels eines auf den Hauptsatz zurückweisenden

Schlusses.

Die erste Anknüpfung (die im vierten Abschnitte S. 227 ge- zeigte) mittels des Hauptsatzes nannten wir eben eine lose, weil zunächst vor dem Eintritte des zweiten Theils vom Hauptsatze nicht die Rede gewesen sei. Ist aber der Trieb, den Hauptsatz schleunig wieder zu bringen, rege, so gestaltet sich entweder der Schluss- satz aus Motiven des Hauptsatzes und dient selbst zur Ueberleitung in denselben, oder es wird nach dem Schlusssatz noch ein Anhang

Digitized by Google

Die ferneren Anknüpfungen des zweiten Theils. 239

(gleichsam ein zweiter Schlusssatz) aus Motiven des Hauptsatzes gebildet. Dann aber ist offenbar eine innige Verbindung beider Theile vorhanden.

Der erstere Fall ist offenbar bei unserm Modellsatz eingetreten ; der Schluss (in No. 227) lehnt deutlich genug an den Hauptsatz an, daher man auch, wenn einmal ein zweiter Theil gebildet werden sollte, die Anknüpfung an den Hauptsatz (No. 261) gar nicht un- motivirt finden wird, gleichviel, ob eben diese Weise seiner Be- nutzung angemessen erscheint.

Den andern Fall wollen wir zunächst an No. 231 aufweisen.

Hier ist zwar derselbe Schlusssatz, aber es ist in fremderer Weise Uber ihn hinausgegangen, worauf im folgenden Takte der Schluss des ersten Theils und (nach Belieben) dessen Wiederholung folgen würde. Statt dessen knüpfen wir jetzt an den achten Takt von No. 231 an und führen den Satz so

zum Schluss, um nach der Wiederholung des ersten Theils (oder sogleich) ohne Weiteres oder mit' leichter Verknüpfung, z. B. statt der letzten beiden Takte von No. 272 so

in den zweiten Theil und daselbst zunächst in den Hauptsatz ein- zuführen.

Dasselbe Verfahren würde auch bei einem dem Hauptsatz ganz fremden Schluss anzuwenden sein.

Setzen wir statt des ursprünglichen Schlusssatzes in No. 227 einen ganz neuen und fremden. Es werde vom sechsundzwanzig- sten Takt an so

Digitized by

240

Die Sonatenform.

soll er den zweiten Theil sofort beginnen, so müssen wir ihn ent- weder unvermittelt einfuhren, oder eine Vermittelung erst bewerk- stelligen. Ja, sogar die sofortige Wiederholung des ersten Theils würde aus demselben Grunde des innigem Zusammenhangs mit die- sem Schluss entbehren.

Deshalb knüpfen wir, so befriedigend der Schlusssatz für sei- nen nächsten Zweck gewesen sein mag, noch einen Anhang oder zweiten Schlusssatz an, der dem Hauptsatze wieder naher bringt. Statt der obigen zwei Schlusstakte gehn wir so

Digitized by Google

Die ferneren Anknüpfungen des zweiten Theils. 241

Ima" "Hda~~ i Jt - kfj;

holung des ersten Theils, mittels des Ilda volta eben so motivirt in den zweiten Theil zur Aufführung des Hauptsatzes geschritten.

Dass freilich diese Schlusssätze und diese Weise, den Haupt- satz wieder darzustellen, dem ursprünglichen Karakter unseres Modells nichts weniger als entsprechend sind , kann nicht über- sehn und nur den äusserlichen Rücksichten auf Raum und klare Aufweisung aller erheblichen Wendungen an demselben Stoffe bei- gemessen werden. Je weiter wir dringen, desto weiter müssen wir uns natürlicher Weise vom eigentlichen Bedürfniss und Karak- ter jener leichten Erfindung entfernen.

D. Einführung des zweiten Theils mittels des selbständigen

Schlusssatzes.

Im Obigen haben wir dem ersten Schlusssatze (dem in No. 274 aufgestellten) einen zweiten nachgesendet, weil jener uns nicht auf die Stelle brachte, wohin wir begehrten : zu der motivirten Rück- kehr des Hauptsatzes. Allein wir wissen ja bereits, dass es gar nicht nothwendig ist, den ersten Theil zu wiederholen und den zweiten mit dem Hauptsatze zu beginnen. Es kommt wesentlich nur darauf an :

in geschlossener Einheit und Folgerichtigkeit aus dem ersten Theile den zweiten zu entwickeln.

Hat nun der erste Theil mit dem Schlusssalze geendet, so ist es ja dieser, der uns zuletzt beschäftigt bat und an den wir zu- nächst anzuknüpfen haben, um weiter, in den zweiten Theil zu dringen. Am ursprünglichen Schlusssatz (in No. 227) ist dies we- niger klar zu zeigen, weil derselbe schon eine Anspielung auf den Hauptsatz enthielt, mithin ohne Weiteres am natürlichsten auf die- sen zurückführt. Wir benutzen daher den neuen Schlusssatz und gehen, vom vierten Takt aus No. 274 in den zweiten Theil zum Hauptsatze,

f f f

g m m m m

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl.

46

Digitized by

242

Die Sonatenform.

der hier in der Unterdominante auftritt, oder (an den fünften Takt von No. 276 anknüpfend) nach dem Seitensatze,

Tf

r ^

ff f r

der in Ädur aufgeführt werden soll. Im erstem Falle sind wir in den beiden oder vier letzten Takten auf das Motiv des Hauptsalzes selber gekommen; im letztern Falle kann schon das diatonische Motiv und die Synkope des zweiten und dritten Viertels im Schluss- satze, dann die ununterbrochne Viertelbewegung in der Unterstimme dem Eintritte des Seitensatzes (zumal in einer an No. $71 erin- nernden Darstellungsweise) zur Motivirung gereichen.

Alle bisherigen Einführungen des zweiten Theils lassen sich auf zwei Formen zurückfuhren : entweder wurde sogleich zu einem der Hauptstücke, und zwar (No. 260, 261) zum Hauptsatze gegrif- fen, oder man bediente sich irgend eines Salzes (des Schlusssatzes in No. 277, 275, oder eines fremden in No. 266) zur Vermittlung, das heisst also : um sich mittels seiner zu dem eigentlichen Haupt- momente (dem Haupt- oder Seitensatze) hinzubewegen. Im letztern Fall ist ohne Weiteres Bewegung das nächste Bedürfniss des

Digitized by Google

Die ferneren Anknüpfungen des zweiten Theils. 243

zweiten Theils; aber auch im erstem. Denn wenn auch sofort der Hauptsatz ergriffen wird, so muss er doch auch nach dem Karakter der Sonate sogleich in Bewegung gesetzt werden.

Daher ist es leicht begreiflich, dass noch eine letzte Weise für die Einführung des zweiten Theils, nämlich

E. die gangartige Einführung

möglich, und zwar diejenige ist, in welcher sich der Grundkarakter des zweiten Theils, vorherrschende Bewegung, am schnellsten und entschiedensten ausspricht.

Diese Einführung knüpft bald an einem beweglichen Motiv des Schlusssatzes an und führt dasselbe gangartig weiter, bis ein geeig- neter Punkt zur Einführung eines Hauptmomentes erreicht ist. Ein kleines Beispiel bietet hierzu No. 234, wo das letzte und beweg- lichste Motiv des Schlusssatzes (die Achtel eis, g, e, eis) benutzt wird, um von Z)dur über #moll nach Fisdur zu führen, wo ein andres dem Hauptsatz angehöriges und schon vorbereitetes Motiv weiter zum Hauptsatz in tfmoll leitet.

Bald wird zu gleichem Zwecke nach Beendigung des Schluss- satzes ein zuvor dagewesenes Motiv ergriffen und mit demselben ein Gang gebildet. So könnten wir vom vorletzten Takt in No. 227 auf das letzte Gangmotiv zurückkommen und damit weiter arbeiten,

»78 ^=J£f

f

r

f r f T

r r

8

£ U. 8. W.

Lf

oder wir könnten auf ein noch früheres Motiv zurückgehn, das mit dem letzten des Schlusssatzes besser zusammenhängt,

<6*

Digitized by

244

Die Sonaten form.

oder wir wttssten selbst einem anscheinend ungünstigem Motiv (aus dem vierzehnten Takt) eine geeignete Seite abzugewinnen,

und jeden dieser Gänge an das gesetzte Ziel zu führen.

Bald endlich wird geradezu ein neues, dem bisherigen wenig- stens nicht ganz widersprechendes Motiv ergriffen und zum Gange benutzt, freilich nicht mit jener Innigkeit und Kraft, die aus einheitvoller Durchführung eines oder weniger Hauptmomente ge- wonnen werden können, und nur dann am rechten Orte, wenn es eines erfrischenden Gegensatzes gegen die frühern einstweilen er- müdeten Motive bedarf oder eine besondere Intention des Kompo- nisten den Wechsel gebietet. Ein kleines Beispiel hierzu, das je- doch einen Orgelpunkt auf dem schon vorhandnen Halteton, keinen eigentlichen und freiem Gang bietet, findet sich in No. 231 ; der ganze Gegenstand ist zu einfach und bei frühern Anlässen schon zu genügend erläutert, als dass ihm hiermit nicht genug geschehn wäre.

Siebenter Abschnitt.

Nachträge über die Ausarbeitung des zweiten Theils.

Da die Einleitung des zweiten Theils mit der weitern Ausfüh- rung desselben ein unzertrenntes Ganze bildet: so ist, eingedenk der praktischen Tendenz und Methode des ganzen Lehrbuchs, gleich bei den verschiednen Weisen der Einführung in den zweiten Theil auch dessen weiterer Verfolg gezeigt worden.

Hierbei musste jedoch das Augenmerk zunächst auf die Einfüh- rung gerichtet und das Weitere auf dem kürzesten und einfachsten Wege beseitigt werden, so dass daraus zwar zu wiederholten Malen der volle Anblick des zweiten Theils gewonnen wurde, wenn auch nicht der ganze Reichthum seiner Gestaltungen aufgewiesen werden konnte.

Digitized by Google

Nachträge über die Ausarbeitung des zweiten Theils. 245

Unter diesen Umständen bedarf es zunächst einiger nachträg- lichen Winke über die Ausarbeitung des zweiten Theils, die sich jedoch mit wenig Worten geben lassen.

Zuvörderst also versteht sich

4.

von selbst, dass alle Momente, die wir im zweiten Theil aufgewie- sen haben, in grösserer Fülle und Ausdehnung auftreten können, als im Lehrbuche, wo des Raumes wegen die beschränkteste Ausfüh- rung, wenn sie nur die Sache in das gehörige Licht stellt, vor jeder w eitern und reichern den Vorzug haben muss. Besonders wird es für die Gänge und Orgelpunkte meist einer weitern Ausführung be- dürfen, als der hier gegebnen ; unsre Beispiele werden aber hoffent- lich genügen, da nach allem Vorangeschickten nichts leichter ist, als einen bereits angeknüpften Gang oder Orgelpunkt weiter zu führen. Wie weit übrigens gegangen werden soll, muss in jedem einzelnen Fall nach der besondern Tendenz desselben entschieden werden ; es lässt sich im Allgemeinen nur das rathen : dass man, wenn nicht besondre Gründe (die aus dem Inhalt und der Stimmung der Kom- position sich ergeben) ein Andres fodern, wohl thut, den ver- schiednen Partien ein gewisses Ebenmaass oder Gleichgewicht ge- gen einander zu ertheilen, so dass der zweite Theil ungefähr eben so lang sei, als der erste, die Partie des wiederkehrenden Haupt- oder Seitensatzes ungefähr der vorangehenden oder nach- folgenden Gangmasse gleiche, u. s. w. Dieses Ebenmaass der Ge- staltung ist der Ausdruck des ebenmässigen Antheils und Ueber- blicks, der im Komponisten für alle Partien seiner Schöpfung wal- ten soll, und ruft das Wohlgefühl des allgerechten und sichern Waltens auch im Hörer hervor, wenngleich dieser nicht berufen ist, nachzurechnen, vielleicht von dem ganzen Organismus, der ihn erfreut und fördert, gar kein heller Bewusstsein hat. Nur darf das Streben nach solchem Ebenmaass nie in ängstliches Nach- rechnen und Auszählen der Takte, zumal während der Kom- position, ausarten; dies würde der Tod jeder künstlerischen Re-^ gung sein. Haben wir doch schon bei der Liedkomposition, also in viel engerm und übersichtlicherm Raum, längst den Fortschritt vom Gleichmaass zum Ebenmaass gethan und uns überzeugt, dass es des erstem für das Wohlgefühl und die Vernünftigkeit des letztern nicht bedarf. Wenn wir schon damals gegen vier Takte mit fünf, sechs u. s. w. auftreten durften, so kann es jetzt in so viel umfas- sendem und mannigfaltigem Zusammensetzungen noch weniger auf einige Takte mehr oder weniger ankommen.

Wir wissen ferner schon seit dem ersten Auftreten der Poly-

Digitized by

24 G

Die Sonatenform.

phonie, dass Gänge und Sätze ebensowohl polyphon als homophon gebildet oder ausgeführt werden können. Daher versteht sich

2.

von selbst, dass auch in der Sonatenform und namentlich in den den zweiten Theil bildenden Durchführungen schon dagewesener Sätze und Gangmotive von der Polyphonie der ausgedehnteste Gebrauch gemacht werden kann. Durch sie vermögen wir bekanntlich einem Satze ganz neue Bedeutung zu ertheilen, namentlich durch die For- men der Umkehrung (Th. II, S. 424) einem bekannten Satz einen ganz neuen Gesichtspunkt abzugewinnen, und dem Ganzen bei allem Wechsel der Gestaltung eine Einheit und Festigkeit zu verleihn, die in grössern Ausführungen kaum anders, als mit den Formen der Polyphonie zu erlangen ist. Auch hierüber bedarf es nach den Uebungen des zweiten Theils keiner weitern Anleitung; die vor- stehenden Beispiele für den zweiten Theil der Sonate enthalten zwar nur sehr geringe, aber doch genügende Andeutungen. Hieraus folgt sogleich weiter, dass

3.

auch von der Fugenform in der Ausführung des zweiten Theils Ge- brauch gemacht werden kann. Es ist aber klar, dass hier keine förmliche und selbständige Fuge, sondern nur Benutzung ihrer Form für einen besondern Theil des Ganzen statthaben kann.

Als Thema der Fuge kann natürlich weder der Haupt- noch der Seitensatz dienen; es muss aus Motiven des einen oder an- dern, zunächst wohl aus dem Anfange, gebildet werden. In den meisten Fällen dürfte die Wahl hier auf den Hauptsatz fallen, da derselbe aus schon bekannten Gründen die energischste, für Fugen- arbeit zusagendste Gestaltung zu haben pflegt. Doch kann hieraus keine Regel gefolgert werden; sehr oft ist der Seitensatz für die Bildung des Fugenthema's geeigneter, oder im Verlauf des zweiten Theils für die Stimmung des Komponisten gelegner. Der Hauptsatz unsers Uebungsstücks {So. 225) würde z. B. für ein Fugenthema keinen günstigen Stoff bieten, man müsste denn zu einem Dop- pelthema und der Form der Doppelfuge,

Digitized by Google

Nachtrüge über die Ausarbeitung des zweiten Theils.

247

oder sogleich bei der Einführung des Thema's zu einem Gegensatze fContinuo oder Kontrapunkt)

greifen.

Ein so gebildetes Thema wird meistens nur einmal, wenn auch übervollständig, oder zweimal schnell hinter einander durchgeführt, und dann wird wie in der Fuge, also in der Weise der Zwischen- sätze, weiter gearbeitet bis zum Orgelpunkt, der mit oder ohne Wiederkehr des Thema's zum dritten Theil führt. Bei der Be- " deutsamkeit der Fugenarbeit wird gewöhnlich der gewichtigste Ton, die Unterdominante, zum Sitz des Fugato gewählt und nach dem- selben nicht noch auf andre Sätze, sondern wie gesagt gleich zum dritten Theil übergegangen, oder auch der zweite Theil ausschliess- lich der Fugen-Arbeit gewidmet; doch kann hieraus keine Regel ge- bildet, vielmehr in jedem einzelnen Falle nur nach den obwaltenden Verhältnissen entschieden werden.

Auch hier bedarf es keiner fernem Anweisung. Das einzige allenfalls Neue ist die Herausbildung oder Hervorhebung des Fugen- thema's aus einem Satze, der in seiner ursprünglichen Beschaffen- heit nichts weniger als zu einem solchen geeignet ist. Auch dies meinen wir durch die vorstehenden Beispiele (No. 281 und 282) an einem besonders ungünstigen Falle genügend angedeutet zu haben. Wie wir einst (Th. 11, S. 254) aus unzulänglichen Anfängen immer befriedigendere mannigfaltige Fugenthemate herausgebildet haben : so kommt es hier allein darauf an, einen liedförmigen oder doch für ein Fugenthema zu weit ausgedehnten und sonst ungeeigneten Satz auf seinen Kern zurückzudrängen und diesen fugenmässig auszuge- stalten.

Zuletzt ist

4.

noch zu erwähnen, dass bisweilen der zweite Theil nicht bloss durch Fortführung des Schlusssatzes eingeleitet, sondern ausschliesslich der Durchführung desselben gewidmet wird. Dies geschieht, wenn der Schlusssatz dem Komponisten vorzugsweis fesselndes Interesse ab- gewinnt, Haupt- und Seitensatz dagegen ihrer Beschaffenheit nach, z. B. wenn sie einen in mannigfacher Weise wiederholten Kern-

Digitized by

248

Die Sonatenform.

satz enthalten und schon bei ihrem ersten Auftreten genügend viel- seitig gezeigt worden sind, einer weitern Durcharbeitung weniger bedürfen. Auch hier bedarf es keiner weitern Anleitung. Wer überhaupt einen Satz durchzuführen versteht, und dafür genügen die vorangeschickten Bemerkungen, dem kann es gleichviel gel- ten, ob der durchzuführende Satz ursprünglich ein Schlusssatz war, oder ein andrer.

Uebrigens darf man wohl den Fall als einen Ausnahmfall be- trachten, da er das Hauptgewicht auf einen Nebensatz statt auf eins der Hauptstücke (Haupt- und Seitensatz) wendet.

, Achter Abschnitt. Der dritte Theil der Sonatenform.

lieber die Bildung des dritten Theils in der Sonatenform ist nach dem bei der fünften Rondoform (S. 193) und im dritten Ab- schnitt von der Sonate (S. 220) Gesagten nur Weniges nachzutra- gen, da derselbe im Wesentlichen ganz wie der dritte Theil jener Rondoform gestaltet wird.

Er beginnt mit dem Hauptsatze, der vollständig wiederholt, auch wohl an irgend einem besonders geeigneten Punkte verändert, vielleicht, besonders wenn sich der zweite Theil mehr mit dem Seiten- oder Schlusssatze beschäftigt hat, weiter ausgeführt wird. So könnte unser Hauptsatz vom zweiten Takt in No. 226 an sich auf die Unterdominante Moll [c-es-g) wenden und dann vom vier- ten Takte so weiter geführt werden,

. fiim.

-tj* r | i i Ti1 ~n

& - -

**==F=H

|

, «♦ ...

Digitized by Google

Der dritte Theil der SonatSiform.

249

und dann wie vom zwölften Takt in No. 226 zu Ende gehn, an- genommen, dass dieser Satz uns besonders anzeige und im zweiten Theil Ubergangen worden wäre.

Nach dem Hauptsatz folgt, wie wir bereits wissen, der Sei- tensatz, und zwar im Haupttone, zu dessen entschiedner Einfüh- rung bekanntlich die Berührung der Tonarten von Unter- und Ober- dominante (vergl. No. 213 und 250) dient. Die Berührung der er- stem kann leicht abgefertigt, ja allenfalls ganz unterlassen werden, wenn diese Tonart im zweiten Theile mit Gewicht hervorgehoben worden.

Diese Modulation nun macht sich nach den besondern Umstan- den jedes einzelnen Tonstücks verschieden.

In den meisten Fallen findet sie mittels einer gangartigen Fort- führung des Hauptsatzes in derselben statt; so ist in No. 259 ge- schehn ; dasselbe kann auf die mannigfachste Weise ausgeführt werden.

Bisweilen, wenn der Hauptsatz fest abgeschlossen worden, wird noch ein besondrer Gang oder eine Satzkette angehängt, und in die- ser — wie im ersten Theil die Modulation in die Dominante der Dominante so im dritten die in die Unterdominanle bewerkstel- ligt; die folgende Abtheilung wird uns dazu Beispiele liefern.

Bisweilen kann es angemessen erscheinen, den Seilensatz erst leicht einzuführen, dann aber mit ihm selber nach der Unterdominante und hierauf wieder zurück über die Oberdominante in den Hauptton zu moduliren. Hätte z. B. in unserm Modell der Hauptsatz vermöge des zweiten Theils ein grösseres Gewieht und entschiednere, kräf- tigere Haltung gewonnen : so könnte die Abschliessung, die ihm in den vier letzten Takten von No. 226, oder die weitere Ausfüh- rung, die ihm in No. 257 und 259 gegeben worden, unangemessen erscheinen, und dafür im dritten Theil vom dreizehnten Takte von No. 226 gleich ohne Weiteres in den Seitensatz gegangen, hier aber die Modulation in die Unterdominanle und der Rückgang in den Hauptton

fr * . y— fL^— J— -j 1-

» I

gelenkt werden.

I

Digitized by Google

250

Die Sonaten form.

Bisweilen kann diese Stelle zu einer nochmaligen Durcharbei- tung des Hauptsatzes oder seiner Motive, gleichsam als Nach- trag zum zweiten Theil, benutzt werden, wenn der Hauptsatz besonders wichtig oder ergiebig erscheint, oder wenn er im zweiten Theil nicht zur Erörterung gekommen ist.

Hätten wir also in unsrer Modell-Arbeit den Hauptsatz im zweiten Theil gar nicht, sondern dafür den Seiten- oder Schlusssatz mit Fülle durchgeführt: so würde die gleiche Berechtigung des Haupt- satzes uns auflodern, auch ihn irgendwo noch ausführlicher zur Sprache zu bringen. Hierzu wäre nun der Punkt, wo er im drit- ten Theil wieder aufgeführt und die Notwendigkeit einer weitem Modulation ohnehin vorhanden ist, zunächst geeignet. Wir könn- ten den dritten Theil mit der Wiederholung von No. 225 beginnen und vom vierten Takle in No. 226 an bis in den Seilensatz so

r

Iis

3

ff

37

r

7 *■

-J- j." J> J. J> 1. J>

T

Digitized by Google

Die Sonatenform in langsamer Bewegung. 253

fortschreiten. Hier ist durch die Abwendung von der ursprünglichen Weise des Hauptsatzes nicht bloss eine Erweiterung, sondern auch gleichsam eine abermalige Aufführung desselben (in /fmoll, im zwölften Takt anhebend) gewonnen worden. Erst von dieser aus wird nun über Unter- und Oberdominante in den Hauptton zurück zum Seitensatze gegangen.

Die Folge dieser neuen Aus- oder Durchführung kann dann, wie das obige Beispiel andeutet, eine ähnliche Abschweifung in der Ausführung des Seitensatzes sein.

Endlich kann auch der Schlusssatz oder der vorhergehende Gang erweitert oder ein Anhang zugefügt werden, der dann zunächst die Bestimmung hätte, den Hauptsalz noch einmal zur Geltung zu brin- gen. Alle diese Erweiterungen gehören nicht zum Wesen der Form, sind nicht nothwendig, können also (wie wir bei ähnlichen Zusätzen zur Rondoform, S. 184, gesehn) leicht zur Ueberlast werden. Es ist daher in jedem einzelnen Falle wohl zu erwägen, ob Anlass zu solchen Erweiterungen vorhanden, ob die Sätze der mehrmaligen An- und Ausführung bedürftig und werth und ob die abermali- gen Ausführungen im dritten Theil durch ihre Bedeutung ihr Da- sein rechtfertigen*.

Neunter Abschnitt. Die Sonatenform in langsamer Bewegung.

Die Rondoformen haben uns, aus der langsamen Bewegung an- steigend, zur schnellen Bewegung geführt ; dem Prinzip der letztern haben wir die Sonatenform am gemässesten befunden. Dies schliesst aber nicht aus, dass dieselbe Form nicht auch für Tonsätze langsa- mer Bewegung zugänglich wäre, da ja die Sonatenform wie jede andre auch ihre stehenden Momente hat, so gut wie umgekehrt die Rondoformen, selbst die ersten, ihre Bewegungspartie.

Das Prinzip der Stabilität spricht sich im Rondo (S. 228) vor- nehmlich darin aus : dass der eine Hauptsatz feststehender Mittel- punkt der ganzen Komposition ist, auf den immer wieder zurück- gekommen werden muss, namentlich am Schlüsse, nach Abfertigung

Hierzu der Anhang I.

Digitized by Google

Die Sonatenform.

der Seitensätze. Das Prinzip der Bewegung äusserte sich (schon in den höhern Rondoformen und dann) in der Sonatenform zunächst darin, dass man nicht bei dem einen Hauptsatze stehen blieb, son- dern zwischen ihm und dem Seitensatze hin und her ging, daher mit dem Hauptsatze zwar den Anfang machte, mit dem Seitensatz da- gegen (abgesehn von einem etwaigen Schlusssatz oder Anhang) endete.

Hierin spricht sich vor allem erhöhter Antheil am Seitensatz aus ,den man nach seiner einmaligen Aufführung nicht für immer auf- geben mag.

Nun ist aber leicht begreiflich, dass erhöhter Antheil eben- sowohl bei einem Tonstück erwachen kann, das nach seinem sonstigen Inhalt dem Prinzip der langsamen Bewegung, also eher den Rondoformen angehörig wäre. Dann würde diese Konstruktion (der wir beispielsweis die nächsten Modulationspunkte beifügen

HS SS HS SS Cdur Gdur Cdur Cdur entstehn, das heisst: eine Sonatenform, wenn auch in gedräng- tester Fassung.

Hiermit ist nun sogleich die ganze Lehre für die Sonatenform in langsamer Bewegung begründet.

Dem Prinzip der langsamen Bewegung und schon der äus- serlichen Rücksicht auf die längere Dauer langsam fortschreitender Komposition gemäss wird hier die Sonatenform sich in engem Schranken halten ; sie wird vor allem ihre eigentlichen Bewegungs- partien , die Gänge und besonders den zweiten Theil , entweder aufgeben oder doch beschränken ; auch die Sätze werden sich nur einfacher und beschränkter entwickeln. Da hiernach nichts Neues aufzuweisen ist, so genügen statt des Vorarbeitens einige Beispiele aus allgemein zugänglichen Werken.

Erstens : das Adagio aus Mozart s Fdur-Sonate, der dritten aus dem ersten Hefte der gesammelten Werke (No.3 der Einzelausgabe) . Der Hauptsatz tritt mit einem regelmässigen Vordersatz auf,

r £ r r T ' .

wiederholt sich dann in Moll und schliesst mit einem vollkommnen Ganzschluss

* Blosser Auszug; das Original ist reicher, zierlicher ausgeführt.

Digitized by Goog

Die Sonatenform in langsamer Bewegung. 253

auf der Dominante in Moll. Hier tritt sofort der Seitensatz aber ganz normal in Dur auf, wird durch Wiederholung und Anhang befriedigend ausgebildet, und zieht einen kleinen Schluss- satz nach sich, der aber zugleich den Orgelpunkt auf der jetzigen Tonika (Dominante des Hauptsatzes, mit unwesentlichen Verände- rungen und Verzierungen) mit seinem Schluss in der Tonart der Dominante diesmal Dur enthält,

288

r r 7 ,

>0 - 5

4 - 3

und nun schliesst sich, indem diesmal F als blosse Dominante des Haupttons aufgefasst wird, mit einfacher Rückwendung nach Ädur der Seiten- und Schlusssatz an.

Hier haben wir nun alle Bestandtheile der Sonate beisammen : nur fehlt vor allem der mittlere Theil, und der Rückschritt vom Schluss des Hauptsatzes in den Hauptton macht sich ebenfalls mehr nach der Weise der Sonatinenform. Ferner ist die Modulation zwischen Haupt- und Seitensatz dem erstem einverleibt und damit der besondre Gang zwischen beiden erspart; desgleichen sind, abermals mit Ueber- gehung eines Zwischenganges, Schlusssatz und Orgelpunkt

353 tj

"^jSSSrir-*8 d

zusammengefallen. Endlich sind auch alle Räume beschränkt; der Hauptsatz hat acht, der Seitensatz mit seiner Fortbewegung und dem Schlusssatz zwölf, das ganze Tonstück vierzig Takte.

Zweites Beispiel: das Adagio aus Beethoven's Udur- Sonate, Op. 22. Der Hauptsatz schliesst vollkommen im neun- ten Takt im Hauptton (.Esdur) ab und erhält dann noch einen An- hang von vier Takten, ebenfalls mit vollkommnem Abschluss. An diesen Anhang wird nun ein Gang von vier Takten über Fdur in die Dominante geknüpft und hier, also in Udur, der Seitensatz ein- geführt. Dieser beschränkt sich auf ein Sätzchen,

das unmittelbar (mit innern Veränderungen, ohne Einfluss auf die Gestaltung im Ganzen) wiederholt, mit einem kleinen Anhang (an

Digitized by

254 Die Sonatenform.

den vorherigen Gang erinnernd) befestigt wird und einen eben so kleinen Gang und Schlusssatz nach sich zieht.

Hier haben wir nun einen vollständigen ersten Theil (Haupt- satz, Gang mit der normalen Modulation über die zweite Dominante in die Dominante des Haupttons, Seitensatz, Gang und Schlusssatz) vor uns, allein in den Baum von dre issig Takten zusammen- gedrängt, ungeachtet der festen und sättigenden Ausbildung des Hauptsatzes.

Nun bildet sich aus dem Hauptmotiv des Hauptsatzes ein zwei- ter Theil. Nach dem Schlüsse des ersten in B ergreift der Bass g zunächst als neuen Grundton zu dem vorherigen 6; es wird aber dann der Dominantakkord von Cmoll darauf gebaut und hier, also in der Parallele des Haupltons, der Hauptsatz eingeführt. Schon im vierten Takte verwandelt er sich in einen Gang,

291

9

W

der von Unterdominante zu Unterdominante nach Jsmoll sinkt, dann über .Esmoll auf die Dominante B und mit einem Orgelpunkte zum dritten Theil führt; dieser wird ganz normal dem ersten nach- gebildet. Der zweite Theil hat sechzehn, der dritte ei nun d- dreissig Takte.

Als drittes Beispiel diene das anmuth- und empfindungsvolle Andante in M oza rt's A moll-Sonate, der sechsten des ersten Hefts (No. 6 der Einzelausgabe) . Hier schliessen Haupt- und Seitensalz im ersten und dritten Tbeile wieder in der Weise der Sonatinenform an einander. Der zweite Theil hebt in der Dominante (in der Seiten- und Schlusssatz des ersten Theils gestanden) mit leiser Erinnerung an den Hauptsatz an, bringt aber dann neue Motive zur Ausführung, bis endlich der dritte Theil die Einheit des Ganzen wieder be- festigt. — Man könnte zweifelhaft sein, ob nicht ein Bondo fünf- ter Form vorläge, wäre nicht jene Erinnerung an den Hauptsatz gegeben und der weitere Inhalt bis zum dritten Theil gänzlich gang- artiger Natur. Nur die ersten sechs Takte, eben die an den Hauptsatz anknüpfenden, bilden einen Satz, der aber unmöglich als zweiter Seitensatz in der fünften Bondoform (S. *92) genügen könnte. Zudem ist uns die Weise Mozart's, von Erfindung zu Er- findung lieblich zu schwärmen (S. 220), schon bekannt. Sie hat ihr gutes Becht, wenngleich ihr die Vertiefung Beethoven' scher Kon- zeption abgeht, die dann wieder an andern Orten auch jenem reich gesegneten Geiste vergönnt war.

Digitized by Google

Fünfte Abtheilung.

Nähere Erörterung der Sonatenform.

In der vorigen Abtheilung kam es darauf an, auf dem gerade- sten Weg in den Besitz einer Form einzuführen, deren Wichtigkeit sich immer mehr herausstellen wird, je weiter wir vordringen. Bei diesem raschen Gang konnte aber unmöglich eine vollgenügende Er- kenntniss gewonnen werden ; es würde auch dem Grundprinzip einer wahren Kunstlehre (die sich hierin von einer rein oder vorzugs- weise wissenschaftlichen Lehre wesentlich unterscheidet) zu- wider gewesen sein, hatten wir eher auf erschöpfende Einsicht, als darauf denken wollen, den Jünger auf dem kürzesten Wege wieder zum Bilden und Schaffen zu führen. Daher hielten wir fast aus- schliesslich an einem einzigen, nach den verschiednen Seiten hin- gewendeten Modell fest.

Nunmehr liegt Uns die nähere Erörterung und zugleich der Nachweis an Werken der Meister ob. Indem sich so zu den vor- läufig bethätigten Grundsätzen die Erfahrung an den Werken Andrer knüpft, wird Erkenntniss und Thatkraft gleichmässig und ungetrennt reifen, kann jene nicht zu einem abstrakten, für den Künstler todten und tödtenden Wissen, diese nicht zu einer bloss empirischen Nach- ahmerei [die stets Einseitigkeit und Manier droht) umschlagen.

Erster Abschnitt. Der Hauptsatz.

Vom Inhalt des Hauptsatzes aus wird nicht bloss die Form im Allgemeinen, sondern auch die besondre Weise ihrer Ausführung und zunächst der weitere Fortgang bis zum Eintritte des Seiten- satzes, so wie die Weise des letztern bestimmt. Aehnliche Bedeu- tung hatte der Hauptsatz schon in den Rondoformen, auf deren Er- kenntniss wir hier weiter bauen können.

In den ersten Rondoformen fanden wir die Hauptsätze meist oder oft in zwei- oder dreitheiliger Liedgestalt; allein schon in der vierten, noch mehr in der fünften Rondoform hatten wir Ur- sache, beweglichere Gestaltung vorzuziehen.

Dies ist auch bei der Sonatenform der Fall. Diese Form kann den Hauptsatz eben so oft und nach Belieben noch öfter aufstel- len, als irgend eine Rondoform. Aber sie versetzt, verwandelt ihn,

Digitized by Google

256

Sähere Erörterung der Sonaten form.

verschmilzt ihn mit den Übrigen Partien des Tonst ücks mehr zu einem innig einigen Ganzen; sie lässt ihn nicht stehen, wie im Rondo geschieht, sondern bringt ihn in Bewegung, nach an- dern Tonarten, zu andern Sätzen und Gängen hin. Daher ist hier die zwei- und dreitheilige Liedform viel zu fest abgeschlossen und stetig ; man wird sie nie, oder nur in seltnen Fällen (dem Verfasser ist keiner erinnerlich) angewendet und anwendbar finden. Die Sonate liebt vielmehr, ihrem Hauptgedanken

A. die Satsform

zu geben. Allein diese engste aller abschliessenden Formen würde, für den Hauptgedanken eines grossem und inhaltreichen Tonstücks angewendet, zu wenig Gewicht haben. Daher wird es Bedürfniss, 4) den Satz innerlich zu erweitern

und

2) durch Wiederholung zu befestigen.

So verfährt Beethoven in seiner geistreichen JEsdur-Sonate, Op. 29 oder 31. Dies

ist der Satz, der ihm als Hauptsatz, mithin als Hauptgedanke sei- nes ganzen Tonstückes dient. So eng begränzt er für diese Bestim- mung erscheint, so wollen wir doch nicht übersehn, dass er schon für sich als Satz einen ungewöhnlich reichen Inhalt hat ; der erste Takt wird wiederholt; das nächste Motiv (das in den beiden folgen- den Takten enthaltne) wird wiederholt und vorwärts geführt; das Ganze hat eine Ausdehnung von acht Takten und umfasst minde- stens drei verschiedne Motive, den siebenten Takt für Eins gerech- net. — Nicht also jeder Satz, nicht der Satz auf seiner untersten Stufe, sondern der entwickeltere und damit bereicherte erscheint für unsern Zweck geeignet. Wie aber ein solcher Satz sich bildet, wird aus Tb. II, S. 27 u. f. als bekannt vorausgesetzt.

Dieser Satz nun muss nach seiner wichtigen Bestimmung und nach dem Reichthum seines Inhalts eingeprägt, gewichtiger werden. Beethoven geht daher vom Schlusston mit diesem Gange

!

* Hier und in den meisten folgenden Beispielen können und müssen Aus- züge und allerlei Abkürzungen und Andeutungen genügen.

Digitized by

Der Hauptsatz.

257

weiter und wiederholt seinen Satz; hierbei wird der erste Takt, wie No. 293 andeutet, in der Höhe, der zweite (die Wiederholung des ersten) eine Oktave tiefer, die beiden folgenden noch eine Oktave tiefer, die beiden nächsten zwei Oktaven höher, die letzten auf der alten Stelle (wie No. 293, eine Oktave unter den vorhergehenden) genommen ; so dass das Ganze, auf- und abschwebend um seinen ursprünglichen Standpunkt, sogleich jene Beweglichkeit annimmt, die die Sonatenform (S. 252) karakterisirt.

Aber hiermit noch nicht befriedigt ergreift der Komponist nun sein erstes Motiv, bildet daraus abermals einen Satz, gleichsam einen Anhang zum vorigen,

i-f-r-r nrirrr±h rjHCff

294

r7f r 0

und wiederholt auch diesen. So hat sich der eine Satz (No. 294 zu No. 292 gerechnet) schon jetzt über 25 Takte ausgebreitet, seinen Inhalt zugleich eingeprägt und doch beweglicher, fortschreitender erwiesen, als die mehrtheilige Liedform oder selbst die Periode ge- konnt hätte; die Beweglichkeit liegt in den mehrmaligen Abschlüs- sen und in der steten Verwandlung desselben Inhalts ; Eins nach dem Andern wird abgelhan und das Wiederkehrende neu gestaltet. Und nach alle dem werden wir weiterhin (S. 271) erfahren müssen, dass der Komponist seinen Satz noch nicht losgelassen hat.

Uebrigens ist unser Beispiel als solches nicht ganz ohne Zwei- fel. Die in No. 294 aufgewiesne Bildung ist zwar durchaus dem Hauptmotiv des eigentlichen Satzes (in No. 292) entsprossen und durfte insofern ein blosser Anhang genannt werden; allein sie kann ebensowohl als ein für sich bestehender Satz gelten. Will man der letzlern Auffassung beipflichten, so würde der Fall nicht in diese erste, sondern in die letzte Kategorie, die wir unter E. zu besprechen haben werden, gehören.

Ein schärfer ausgeprägtes, wenngleich ebenfalls nicht ausser allem Zweifel stehendes Beispiel bietet Beethoven's Sonate pa- thdtique, Op. 13. Der Hauptgedanke

295

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl.

Digitized by Google

258

Nähere Erörterung der Sonaten form.

ist ein breit ausgelegter, im Hauptton ganz abschliessender Satz. Auf dem Schlusstone wird derselbe bis zum achten Takte wieder- holt, da aber kurz in die Dominante gewendet

296 I^Bg^jl

* 1

Es ist ein Uebergang in die Tonart der Dominante und ein Ganz- schluss ; aber so flüchtig gehalten, dass man ihm nur die Wirkung eines Halbschlusses beimessen dürfte. Was diesen Fall einiger- massen zweideutig macht, wird spater zur Sprache kommen.

Bei den Vorzügen , die sich schon hier für die Sonatenform am Satze zeigen, ist klar, dass der letztere für den Hauptsatz günsti- ger und befriedigender befunden wird, als

B. die Periode.

Beobachten wir eine solche, die Dussek's Es dur-Sonate, Op. 75, als Hauptsatz dient,

rE-fr— «

n^rj »ff ff

Wir finden (was schon bei der ersten Anschauung dieser Form, Th. I, S. 29, einleuchtend geworden) den Gedanken durch die gleichmässige Bildung von Vorder- und Nachsatz, so wie durch die beiden einander entsprechenden Schlüsse (der letzte Dreiklang des Vordersatzes bei f ist durch den folgerechten Fortgang der Me- lodie zu einem Dominantakkord erweitert) so sicher und befriedigend abgeschlossen , dass in ihm selber gar kein Trieb zum weitern Fortschreiten liegt. Und man beherzige, dass dies nicht etwa in dem mindern Interesse, das sein Inhalt in Vergleich mit dem Beet ho ven'schen vielleicht erweckt, sondern nur in der ab- schliessenden Form seinen Grund hat.

Daher findet nun auch der Komponist (dem denn doch sein Gedanke werth gewesen sein muss, er hält' ihn sonst nicht festge- halten) keinen Anlass, aus ihm etwas zu entwickeln, ihn weiter zu

Digitized by Google

Der Hauptsatz.

259

führen oder zu wiederholen, sondern er fügt ihm einen Anhang, gewissermassen einen Schlusssatz zu,

bis

29S

der zuletzt anfangt zu gehen, dann aber doch nicht weiter führt.

In gleicher Lage befindet sich Beethoven in seiner Cdur- Sonate , Op. 2, an der man lebendige Bewegung so wenig wie in- neres Interesse vermissen wird. Der Hauptsatz hat, wenn auch in gedrängtester Kürze, Perioden form,

299

4

4 -

führt daher auch nicht weiter. Es wird ein neuer Satz, und zwar aus demselben Motiv heraus, gleichsam ein Anhang,

300

fr

r

gebildet, mit Versetzung der Melodie in den Bass wiederholt und abermals geschlossen. Weiler konnte dieser Satz auch nicht fuhren, da sein Interesse schon in ihm und der Periode, aus der er als Anhang hervorgeht, erschöpft ist.

Hieraus begreift sich nun eine Wendung, die überaus häufig genommen wird. Der Satz für sich ist meist zu unbefriedigend, die Periode zu abschliessend, und zwar wie wir längst erkannt durch den Abschluss des Nachsatzes, der durch den Vordersatz- schluss vorbereitet und verstärkt ist. Es kommt also darauf an, die Vortheile des Satzes und der Periode zu vereinen , und dies geschieht durch

C. die Periode mit aufgelöstem Nachsatz ;

es wird nämlich ein regelmässiger Vordersatz gebildet, der Nach- satz aus den Motiven desselben begonnen, dann aber nicht zum periodischen Abschlüsse gebracht, sondern gangartig weiter geführt zum Seitensatze. Hierbei wird aber der Vordersatz, als eigent- licher und alleiniger Kern der Hauptpartie, in genügender Fülle aufgestellt. Betrachten wir einige Beispiele von Beethoven.

Das erste nehmen wir aus der kleinen Fmoll-Sonate, Op.3. Hier -

47*

Digitized by

260

Nähere Erörterung der Sonatenform.

301

6>y 1 i'^j Fi 'tpft

A4

1+

6 6 4

haben wir einen Satz vor uns, aus dem sich die Hauptparlie bil- den wird, und zwar einen Vordersatz, da der Schluss auf die Dominante fallt*. Der Nachsatz hebt mit dem Hauptmotiv (a in No. 301) an, spielt sich mit dem zweiten Motiv (6 in No. 304) weiter,

303

findet aber keinen Abschluss, sondern läuft gangartig zum Seiten- satze hin.

Ein zweites Beispiel giebt der Hauptsatz des Finale der Cis moll -Sonate, Op. 27. Er setzt so

104

; simil

e

~ simil«

r

w r im.,-4- -^H

#f ! 7

* Allerdings weicht die Modulation einigermassen ab ; zwischen den toni- schen und Dominant-Dreiklang schiebt sich in der zweiten Hälfte des siebenten Taktes der Sextakkord b-des-g\ man hätte b-des-f erwarten sollen (den Schlussfall von der Unter- in die Oberdominante) , wäre nicht die Folge der zwei Sextakkorde fliessender gewesen.

So wird der Vordersatz einer sonst regelmässigen Periode, die der liebli- chen Fdur-Sonate von Beethoven (Op. 4 0) als Hauptsatz dient,

*

i

1

r

durch den unhemrobaren Zug der Melodie zu einem Schluss in die Unterdomi- nante gelenkt, während im Uebrigen (die vier ersten Takte sind Vorspiele Th. II, S. 32 die vier folgenden Vordersatz der Periode) die periodische Form klar hervortritt.

Digitized by Google

Der Hauptsatz.

261

6 X6 5 5 *

6 4

5 6 * 4

5 *

w

« 8

ein (nicht einmal die Bezifferung ist zuletzt genau, nur das Nö- thigste sollte angedeutet werden), endet also mit einem Halbschluss oder einem Schluss in der Tonart der Dominante, der aber nur die Bedeutung eines Halbschlusses hat, stellt sich mithin als ein Vordersalz dar. In der That wollte sich nun auch ein Nachsatz bilden ; es wird wieder mit dem Hauptmotiv (dem Abschnitt Takt 1 und 2 in No. 304) eingesetzt. Allein der Nachsatz fuhrt gangartig zum Seitensatz in Gzsmoll (also Dominante Moll für Parallele Dur), statt sich und die ganze Periode fest zu schliessen.

Dergleichen Gebilde vereinen die Beweglichkeit, die ein kurz abbrechender und dann wiederholter oder veränderter Satz bietet, mit der innerlichen Zusammengehörigkeit und Abgeschlossenheit einer Periode. Der Vordersatz No. 301 mit dem Nachsatz No. 303, der Vordersatz No. 304 mit seinem Nachsatze sind zusammengehöriger, als selbst die Sätze No. 292 und 294, obgleich diese aus ein und demselben Motiv hervorgegangen. Dabei sind sie verhältnissmässig kurz abgefertigt und vermeiden die Einförmigkeit mehrmaliger Schlussfälle gleicher Art; No. 292 schliesst auf Es, die Wieder- holung ebenfalls, der Nachsatz No. 294 desgleichen; No. 301 schliesst auf der Dominante C, der Nachsatz No. 303 führt nach As und wird noch weiter, nach Es gehn, bevor der Seitensatz in As eintritt.

Aehnliche Vortheile bietet

D. die erweiterte Periode,

schon wenn sie wirklich periodisch abschliesst, noch mehr, wenn auch ihr Nachsatz in Gang aufgelöst wird.

Ein Beispiel ersterer Art bietet der tiefsinnige erste Satz von Beethovcn's £moll-Sonate, Op. 90. Dies ist im dürftigen Auszuge

305

Digitized by Google

262

Nähere Erörterung der Sonatenform.

/Tn -

g

i

r

I 6'

I

I

r

die Periode des Hauptsatzes. Das Hauptmotiv breitet sieb Uber vier Abschnitte (a, 6, c, d) von je zwei Takten aus, von /imoll Uber d nach Gdur, von Gdur Uber fis nach //moil; ein fünfter (zweigliedriger) Abschnitt (e) weilt in G dur, ein sechster aus ihm enlstandner (/') macht endlich einen lialbschluss im Hauptton. Die- sem weiten Vordersatze (wenn der Name noch gelten darf) von sechzehn Takten stellt sich der Nachsatz (g) von vier Takten ge- genüber und muss, um zu befriedigen, nach einem Trugschlüsse wiederholt werden.

Hiermit ist allerdings der Gedanke eben so sättigend und jede weitere Fortbewegung eben so entschieden ablehnend, wie jene Dussek'sche Periode (No. 297), abgeschlossen; und man kann sich an ihm tiberzeugen, dass auch bei Dussek nicht etwa minderes Interesse am Inhalte, sondern nur die erwähnte Form Hinderniss weitern Fortgangs war. Dabei aber hat die vielgliedrige Periode Beethoven' s innerlich alle Beweglichkeit und Mannigfaltigkeit, die der Sonate zukommt.

Eine erweiterte Periode mit gangartig auslaufendem Nachsatze sehn wir als Hauptsatz in Bee thove n's glanzvoller Cdur-Sonate, Op. 53. Zuerst erscheint ein Satz,

306 Allegro con brio.

j£_ # I L. I l 1 0 1 11 «f * T~ ! < 'I

i - " " a Ä i 4--;- - "i

tttW ir tttt p P

der für einen Vordersatz gelten könnte, wenn nicht statt des Nach- satzes eine Wiederholung auf der tiefern Sekunde (Ä) folgte, die also nach F (erst Dur, dann Moll) führte ; dann erst wird in dieser Weise

Digitized by Google

Der Hauptsatz.

263

307

r ¥

das Ganze als Vordersatz geschlossen. Hierauf kehrt, man muss nun annehmen, als Nachsalz, der erste Satz (No. 306) mit einer uns hier nicht wichtigen Aenderung wieder; auch wiederholt wird derselbe, aber nicht auf der tiefern, sondern jetzt auf der höhern Sekunde, auf D ; und nun wird sofort weiter modulirt nach dem Seitensatz hin.

Aehn lieh gebildet, nur noch weiter ausgeführt und dabei inner- lich noch einiger aneinandergcschlossen ist der Hauptsatz der den dun- kelsten Tiefen eines mächtig aufgeregten Geistes entstiegnen Fmoll- Sonate, Op. 57, von Beethoven, eines der Werke, in denen der Geist des Künstlers, ganz erfüllt von seiner Aufgabe, das, was der Unkundige oft als unvereinbare Gegensätze ansieht, freiesten Schwung der schöpferischen Kraft und tiefste Folgerichtigkeit, Ver- nünftigkeit, — als Untrennbar-Eins offenbart *. Die Untersuchung des Satzes darf ohne Weiteres jedem Nachstudirenden überlassen bleiben.

Von der erweiterten Periode, die mehrere in ihrer Form zu- sammengefasstc Sätze aufführt, ist nur noch ein Schritt zu der letz- ten Form, die der Hauptsatz der Sonate anzunehmen pflegt, und zwar zu der inhaltreichsten und in Vergleich zu dem Hauptsatz der Rondoformen eigenthümlichsten ; das ist

E. die Satzkette,

eine Folge von Sätzen, die zwar durch Stimmung, durch Modula- tionsordnung, durch verbindende Mittelglieder, durch gemeinsame

* Es ist lange genug von Fachmännern, die mit ihrer Bildung nicht über einen beliebigen, rückwärts gelegnen Punkt hinaus haben vorwärts schreiten Wullen, und den nachsprechenden, ihre Unbildung hinter technische Phrasen versteckenden Aesthetikcrn, Rezensenten u. s. w. dem Beethoven Exzentri- zität, Losgebundenheit von der Form, wo nicht Ausschweifung oder Ab- schweifung und Formlosigkeit, beigemessen worden, während man ihm Phantasie, Genie zugestand. Eine tiefere Erkenntniss vom Wesen der Form würde gezeigt haben, dass ebener, nächst und neben Seb. Bach, die ener- gischste Formbildung, das heisst die tiefste Folgerichtigkeit und Vernünftigkeit in seinen Werken beweist, eine tiefere, als meistens Mozart, dem aus angeerbter und von Jugend her bestehender Gewöhnung auch hier ein gar nicht zu rechtfertigender Verzug beigemessen zu werden pflegt.

Digitized by Google

264

Nähere Erörterung der Sonatenform.

Motive zu einander gehören, nicht aber durch die fest einende Pe- riodenform zu einer nothwendigen Einheit verschmolzen sind.

Hier müssen wir vor allem jenes schon besprochncn Falles von No. 292 bis 294 gedenken. Der letzte Salz ist dem ersten verwandt, kann aber auch ohne ihn selbständig bestehn.

Ein entscheidender Beispiel giebt Beethove n's aus Zartheit und sprühender Laune geborne G dur-Sonate, Op. 31. Zuerst scheint sich (man sehe No. 256) ein Vordersatz zeichnen zu wollen, aber weit ausgedehnt, mit einem Ganzschluss auf der Dominante statt des Halbschlusses, und aus zweierlei verschiednen Motiven zusam- mengesetzt. Nun werden zuvörderst die ersten drei Abschnitte eine Stufe tiefer, auf F, wiederholt, dann aber das Hauptmotiv (a in No. 256) auf die Quartsextharmonie von C, zu einem Ganz- schluss auf C, auf die Quartsextharmonie von G und zu einem drei- mal wiederholten Ganzschluss auf G geleitet, so dass der ganze Hauptsatz aus vierzehn Abschnitten in dreissig Takten besteht. Und damit ist, wie wir weiterhin erfahren werden, das Walten des Hauptsatzes noch nicht erschöpft.

In diesem Beispiel waren die einzelnen Abschnitte zum Theil so unbedeutend (nämlich für sich allein), dass man gleich erkennen musste : nicht in ihnen, sondern im Ganzen sei der Gedanke des Komponisten zu fassen, jeder einzelne Abschnitt für sich sei nur ein im Ganzen geltender Zug. Das Entgegengesetzte sehn wir in dem gross- und edelsinnigen Hauptsatze der Sonate Op. 28 von Beethoven. Dies

308

ß ß ß ß w~w

MI I

117

:r"ql 4'"*=

rr r r r

ist der erste (auf einem Orgelpunkt ruhende) , für sich befriedigend abgeschlossnc Satz. Er wird in höherer Oktave wiederholt; dann folgt ein ähnlicher, aber anstrebendercr,

309

=TT

r

ffr T

der nach der in den letzten Takten sich aufschwingenden üeber-

Digitized by Google

Der Hauptsatz.

265

leitung abermals in höherer Oktave wiederholt und im Haupttone geschlossen wird.

Hier hatte der zweite Satz eine deutlich ausgesprochne Ver- wandtschaft mit dem ersten. Als Beispiel loserer Aneinanderreihung diene Mozart's anmuthige Fdur-Sonatc*, in der Mannigfaltigkeit des Inhalts und Fülle jedes Satzes dasjenige, was jeder der vorigen Fälle nur theilweis zeigte, vereint darzulegen. Die Sonate beginnt mit einem Satze,

der ungeachtet des ganz fremdartigen Inhalts seiner zweiten Hälfte und der durch den Orgelpunkt unbestimmt gewordnen Form des llalbschlusses für eine Periode gelten mag und im zwölften Takte vollkommen im Hauption absch Messt. Nun folgt (da die Perioden- form nicht weiter führt) ein ganz neuer Gedanke, ein Satz,

der sich mit unwesentlicher Aenderung wiederholt und einen voll- kommnen, noch zweimal wiederholten Schluss abermals im Haupt- tone macht. Mag man nun den ersten Gedanken (No. 310) für eine Periode, oder nur für einen periodenähnlichen Satz anerkennen : das steht fest, dass nach ihm ein neuer Satz kommt und somit der Hauptsatz aus zwei oder drei ganz von einander verschiednen Ge- danken zusammengestellt ist. Dass aber der letzte Satz (No. 311) ungeachtet des vorhergehenden vollkommnen Abschlusses zum Haupt- satze gehört, zeigt zunächst die Gleichheit der Tonart, dann noch enlschiedner der weitere Verlauf der Komposition, den wir später zu betrachten haben werden. Nur erscheint hier die Benennung Hauptsatz nicht füglich noch anwendbar ; man würde passender die Benennung

Hauptpartic für den Inbegriff alles bis zum Seitensatz oder zur

Sei tenpa r tie

Gegebnen brauchen.

* Im ersten Heft der Breitkopf- Härtcl'schen Gosamrat- (No. 3 der Einzel-) Ausgabe.

i

310

Digitized by

266

Nähere Erörterung der Sonaten form.

Noch freier schreitet Beethoven in seiner Ddur-Sonate, Op. 10, vorwärts. Zuerst führt er eine Periode mit verlängertem Nachsatz auf,

Presto. , ^ I

SS

«

312

der Nachsatz wird, leicht figurirt, wie hier bei a,

b

313

I

*

wiederholt ; dann wird auch der Vordersatz bis Takt 4 wiederholt und, wie in No. 343 b zeigt aber ebenfalls mit unwesentlicher Aenderung, weiter geführt. Allein nach dem Halbschluss auf der Dominante von H (bei b) erscheint nun ein neuer, nach Tonart und Inhalt dem ersten ganz fremder Gedanke,

eine Periode in // moll und auf dessen Dominante schliessend, die man ungeachtet des ungewöhnlichen Schlusses in der Dominante statt Parallele als ersten Theil eines liedmässigen Satzes anzu- sehn hat. Der zweite Theil führt nicht auf den ersten zurück, schliessl auch gar nicht, sondern läuft in einen Gang aus, der über A dur und Fis moll Dach E dur (Dominante der Dominante) und von da nach A dur bringt. Hier wird förmlich und vollkommen ge- schlossen und dann erst der Seitensalz in ildur, eine förmlich aus- gebildete Periode, deren Wiederholung weiter führt, gebracht.

Es würde leicht, aber überflüssig sein, die Beispiele zu ver- vielfältigen, auch deren von noch mannigfacherer Zusammensetzung (man prüfe die Hauptsätze in Beethove n's grosser ßdur-Sonate, Op. 106, oder in K. M. v. Wcbcr's As dur-Sonate) beizubringen.

Digitized by Google

Der Fortgang zum Seitensatze.

267

Ueberall würden uns, wie in den vorhergehenden, schon aus dem Hauptsatz als Karakterzüge der Sonatenform erhöhte Beweglichkeit, reicherer, unter steter Verwandlung festzuhaltender Inhalt entgegen- treten. Wo diese Beweglichkeit durch scharf abgeschlossne Satz- oder Periodenform gehemmt werden könnte, muss ein neuer Satz {dann entsteht die Satzkette' , oder eine Auflösung der strengen Pe- riodenform (dann erscheint die erweiterte Periode oder die gang- artige Fortführung des Nachsatzes), oder eine weiter führende Wie- derholung des Satzes eintreten, oder der Karakter der Sonaten- form wird beeinträchtigt, es hatte eine andre Form gewählt werden sollen.

Beobachten wir nun das fernere Walten dieses der Sonate eignen Triebes.

Zweiter Abschnitt.

Der Fortgang zum Seitensatze.

Wollen wir uns hier vor übereilten und einseitigen Urtheilen oder Regeln bewahren, so muss uns stets vor Augen bleiben, wie höchst mannigfaltig sich der Inhalt der Sonaten form schon in den wenigen Hauptsätzen erwiesen hat, die wir im vorhergehenden Ab- schnitte betrachtet. Sätze, Perioden aller Art, Folgen verwandter und verschiedner Sätze haben wir bereits als Hauptpartie gesehn; in der Orchesterkomposition werden noch polyphone Hauptsätze man- nigfacher Art dazu kommen. Keine von all' diesen Weisen ist ver- werflich, keine schlechthin vorzuziehen. Aber

jede will ihrer Natur gemäss fortgeführt sein.

Dieser Grundsatz, das einzige Gesetz, das sich rechtfertigen lässt, ist an sich wohl ohne Weiteres einleuchtend; es ist der- selbe, der uns immerfort und überall geleitet hat. Seine Anwen- dung ist indess um so sorgfältigerer Erwägung bedürftig, da es hier zunächst auf die Auffassung des Inhalts eines jeden einzelnen Ton- stücks ankommt.

Die Bildung des Hauptsatzes ist das erste Ergebniss der Idee, der Stimmung, kurz*des Antriebes zu der Komposition, die wer- den soll. Sic bestimmt alles Weitere.

Zuerst bestimmt sie, dass die beginnende Komposition über- haupt Sonatenform haben soll. Man durchlaufe die im vorigen Ab- schnitt und sonst mitgctheilten Hauptsätze, und es wird wenigstens das sogleich ausser Zweifel sein, dass keiner von ihnen als Lied- satz für sich bestchn, oder als Hauptsatz für ein Rondo erster bis vierter Form geeignet sein kann. Ob nicht für ein Rondo fünfter

Digitized by

268

Nähere Erörterung der Sonatenform.

Form? das kann bei einigen Hauptsätzen zweifelhaft sein, weil diese Rondoform den Uebergang zur Sonalenform bildet und be- kanntlich auf den Uebergangspunkten die Formgränzen in einander M i essen ; je sonatenhafler aber ein Hauptsatz gebildet ist (die unter den Rubriken D. und E., S. 261 und 263, meinen wir), das heisst je enlschiedncr er sich von der Lied- und allgemeinen Rondoweise lossagt, desto weniger wird er auch für die fünfte Rondoform ge- eignet erscheinen.

Sodann bestimmt die Rildung des Hauptsatzes auch die Weise, wie von ihm zum Scilcnsatze fortgeschritten werden muss. Man hat die Wahl unter verschiednen Weisen des Fortschrittes; aber diese Wahl ist nicht der Willkür anheimgegeben (die wir überall vom Wesen der Kunst ausgeschlossen sehn) , sondern bestimmt sich vernunftgemäss aus dem Inhalt und Wesen des Ganzen, zu- nächst des Hauptsatzes, der von dem künftigen Ganzen allein dasteht.

Es lassen sich besonders drei Weisen des Uebergangs unter- scheiden, die wir nach einander zu betrachten haben.

A. Fortführung des letzten Gliedes vom Hauptsatze.

Diese Weise , aus dem Hauptsatze fortzuschreiten , muss i m Allgemeinen die nächstliegende und folgerechteste genannt werden ; sie bildet einen geraden Forlgang von dem eben zuletzt aufgestellten Gedanken und aus ihm vorwärts. Allein sie muss, um vernunftgemäss eintreten zu können , ebensowohl im Inhalt und der Formung des Hauptsatzes begründet sein, wie wir das bei den andern Weisen finden werden.

Wo können oder müssen wir nun unmittelbar aus dem letzten Gliede des Hauptsatzes fortschreiten?

Da, wo die Gestaltung des Hauptsatzes diesen in sich selber unvollendet, eines Fortschritts bedürftig zeigt. Dies ist zunächst bei den (im ersten Abschnitt unter C. aufgeführten) Perioden mit unvollendetem oder aufgelöstem Nachsatze der Fall.

Das Finale von Reethovens Cis moll-Sonate zeigt als Haupt- salz einen breit ausgelegten Vordersatz, No. 304. Der Vordersatz foderl seinen Nachsatz. Dieser folgt auch, mit den ersten zwei Takten des Vordersatzes eintretend. Allein das arpeggirende Motiv, der ganze Inhalt ist für jetzt schon befriedigend dargestellt, es be- darf nach der Fülle des Vordersatzes des Nachsatzes nicht mehr um des Inhalts willen, sondern nur um der Form willen, die durch Modulation und Halbschluss des Vordersatzes bedingt ist. Daher löst sich der Nachsatz sofort auf; nach der Wiederholung der er- sten beiden Takte wird das Motiv derselben hier

Digitized by Google

Der Fortgang zum Seitensatze.

209

auf den ersten zwei Takten wiederholt, und mit diesen zwei Akkorden (oder vielmehr gleich mit dem ersten) ist die dem Seiten- satz bestimmte Tonart Gwmoll erreicht, im folgenden Takte tritt ohne Weiteres der Seitensatz auf.

So reissend schnell konnte hier vorgeschritten werden, weil der wesentliche Inhalt des Hauptsatzes, namentlich das Hauptmotiv, schon an sich gangartiger Natur, und letzteres, wie gesagt, schon befriedigend genug aufgeführt war. Aehnlich verhält es sich mit der grossen C-Sonate, von deren Hauptsatze der Vordersatz in No. 306 und 307 milgetheilt worden ist. Nach dem Schluss des Vordersatzes (No. 307) kehrt (wie schon S. 203 gesagt) der erste Abschnitt (No. 307) wieder und wird eine Stufe höher wiederholt. Dann wird mit dem letzten Motiv weiter, (Iber 77 nach E modulirt,

s « 5 6 * 4 # 4

und nach noch sechs Takten, die auf der Dominante von E ruhn, in dieser Tonart der Seitensatz gebracht. Es ist fast derselbe Fall, wie der vorige, nur dass die Dominante der Dominante wenigstens angeregt, dann aber eine völlig orgelpunktartige Ueberleitung ge- bildet wird. Auch hier ist der Kern (No. 306) des Hauptsatzes zur Genüge, viermal, aufgestellt und die Ueberleitung (No. 316) durch die ahnliche Schlusswendung des Vordersatzes (No. 307) motivirt.

Noch kürzer fasst sich die in No. 301 angeführte kleine Fmoll- Sonate. Schon im fünften Takte des Nachsatzes (No. 303) ist die Parallele, in der der Seitensatz eintreten soll, erreicht; ein leichter Anhang (nach No. 303) bestärkt die Modulation, indem er die Do- minanttonart der Parallele

Digitized by

270 Nähere Erörterung der Sonatenform.

317

zweimal (die letzten beiden Takte werden wiederholt) anregt; und nun tritt der Seitensatz ein, im ersten Augenblick sogar in der Dominanttonart. Eine gleiche Ueberleitungsweise, nur in grössern Verhältnissen ausgeführt, ist in der grossen Fmoll-Sonate, Op. 57, zu beobachten.

Das letzte Beispiel dieser Reihe bietet uns die S. 264 ange- führte Sonate. Wir wissen, dass nach einer Periode, von der zu- erst der Nachsatz, dann der Vordersalz wiederholt wurde (No. 313), ein ganz neuer Satz (No. 314) gleich dem ersten Theil eines Lie- des in //moll, mit einem Schluss in F&moll, auftrat. Aus den Motiven dieses neuen Satzes oder doch auf sie anspielend will sich ein zweiter Theil bilden;

gis a h ein h a gis a b

318

eis

allein, nachdem sein erster Abschnitt in 4dur sich wiederholt hat, löst sich der Satz gangartig auf

319

und führt über yldur, F/smoll, Fdur nach yldur zum Seitensatze.

Fassen wir alle angeführten und sonst hierher gehörigen Falle zusammen, so ergiebt sich: dass der nächstliegende Fortgang aus dem zuletzt ausgesprochnen Gedanken dann erfolgte, wenn entwe- der dieser der einzig wesentliche des Hauptsatzes, oder ein voran- gegangner Satz befriedigend abgethan war. Ist nun das Letztere nicht der Fall, hat der Komponist einen Gedanken angeregt und ohne Befriedigung verlassen, so motivirt sich zunächst

B. die Rückkehr auf den früheren Gedanken,

der damit als Hauptmotiv des Hauptsatzes bezeichnet wird.

Dies können wir in rechter Fülle an den S. 223 und 256 er- wähnten Sonaten in Es und G von Beethoven beobachten. Nach dem ersten Gedanken der Fs-Sonate (No. 292) ist ein zweiter (No. 294) aus dem Hauptmotiv des ersten hervorgegangen und wie- derholt worden. Von hier scheint sich schon ein Gang bilden

Digitized by Google

Der Fortgang zum Seitensatze.

271

320

und in ftdur, das hier schon ergriffen ist, zum Seitensatz fuhren zu wollen. Allein der erste und vornehmste Gedanke ist durch den zweiten (so untergeordneten, dass wir ihn nicht mit Unrecht S. 257 einen blossen Anhang nennen konnten) zu früh verdrängt worden. Man muss auf ihn zurückkommen ; und nun erst wird mit seinem zweiten, ausgedehntesten Motiv in die Dominante der Do- minante, —

das zweite und dritte bis wird in der höhern Oktave ausgeführt, und zum Seitensatze fortgegangen.

Noch sprechender ist das in der Gdur-Sonate vorliegende Bei- spiel. Der Kern des Hauptsatzes ist mit seinem bezeicbnetsten Motiv a in No. 256 gegeben. Es wird ganz getreu auf der tiefern Stufe, also in Fdur, wiederholt, schliesst also hier in C, wie es vorher in D geschlossen hatte. Nun wird mit dein Hauptmotiv a, oder vielmehr dem letzten Abschnitte von vier Takten

382

i

6 4

die Schlussformel zweimal wiederholt, und dann, in Erinnerung an das erste Motiv (Takt 1 in No. 266), ein ungestüm herausfahrender Gang gebildet,

3*3

t

u. s. w.

BT

sim.

der nach vierzehn Takten mit einem Halbschlusse zur Ruhe kommt. Dieser Wurf war durch das Motiv des ersten Taktes und durch die Abgebrochenheit alles Fernern doppelt noth wendig bedingt.

Digitized by Google

272

Nähere Erlirtentng der Sonatenform.

Allein zugleich ist damit das Hauptmotiv a verdrängt und eine Hast in die Komposition gebracht, die ihrem Hauptinhalte nach nicht vor- herrschen darf. Folglich kehrt Beethoven zu seinem Anfang zurück, kommt also von jenem überraschenden Wurf auf das Motiv, das ihn vorbereitet und erzeugt hatte (Takt \ in No. 256), zurück und von da, in weiterer Verfolgung des Kernsatzes, auf das steti- gere Hauptmotiv. Im achten Takte wird aber, statt nach />, wie anfangs, jetzt nach (// und) Fisdur gelenkt

und diese Wendung durch einmalige Wiederholung des Ganzen und zweimalige der Schlusstakte befestigt. Dann tritt nach einer figu- rirten Verlängerung des Schlusstons

der Seitensatz in //dur ein. Für den Jünger in der Kunst wie für den bloss betrachtenden sinnigen Kunstfreund ist diese ganze Hauptpartie (mit Einschluss der befremdenden Tonart des Seiten- satzes) ein besonders lehrreicher Belag zu der wiederholt aus- gesprochnen Ueberzeugung, dass es im wahren Kunstwerke nur vernünftige Freiheit, keine Willkür gebe. Die ganze Partie kann dem ersten flüchtigen Hinhören wohl den Eindruck eines nur von willkürlicher Laune, fast zusammenhanglos hinge worfnen Ton- ergusses machen ; schon aus dem ersten Motiv folgt das zweite (a) nicht im Mindesten, steht vielmehr mit ihm in geradem Wider- spruch. Aber tieferes Eingehen offenbart immer heller die Fol- gerichtigkeit des Ganzen. Jenes fahrige erste Motiv, das in fessel- loser Laune gleich einem augenblicklichen Einfall daherfliegt, konnte (wie später auch geschieht) einen Gang, nicht aber einen Satz her- vorrufen. Daher muss es stocken, muss ihm wie im Besinnen je- nes zweite (o) folgen oder vielmehr entgegentreten ; dieses ist es, das sich steigern und dabei zu einem Satz ausrunden kann. Nun ist aber das erste verdrängt und zugleich vorschnell (dem hastigen Sinn des Ganzen eben hierin gemäss) die Tonart der Dominante betreten. Folglich muss das erste Motiv, folglich nach diesem wie- der das zweite zurückkehren. Dem flüchtigen Karakter des Ganzen wär' es dabei nicht entsprechend gewesen, hätte dies auf der allen Stelle in G, oder in der bereits angeregten Dominante D geschehn sollen; die Modulation macht also einen Sprung (jeder förmliche Uebergang wäre für die flüchtige Abgebrochenheit des Satzes zu

^iy* JJJJ Ij

Digitized by Google

Der Fortgang zum Seitensatze.

273

schwerfällig gewesen) nach F. Hier aber erhält das zweite Motiv (bei der Noth wendigkeit , nach dem Hauptton zurückzukehren) noch grösseres Uebergewicht Uber das erste, der Komponist ist um an einen alt bekannten Ausdruck, Th. II, S. 103, zu erinnern

noch mehr Schuldner jenes Motivs geworden, er muss es end- lich gewähren lassen; und da bringt es (No. 323) hervor, was es kann: einen Gang, und zwar seinem Karakter gemäss einen höchst flüchtigen. Sollte nun mit diesem Gange zum Seitensatz hingeeilt werden? Dann wäre das tüchtigste Motiv (a) aus dem Sinne gekommen und die ganze Hauptpartie hätte ihre Haltung ver- loren. Sollte also jenes Hauptmotiv sofort wiederkehren? es war nicht mehr motivirt, wie anfangs, da das andre Motiv für sich zu Ende gekommen war. Es bedurfte offenbar einer Vermit- telung, und die bot der Wiederanfang, aus dem sowohl jener Gang, als früher schon die Notwendigkeit des Motivs a hervorgegangen war. Hiermit war auch als nothwendig ausgesprochen, dass nicht jener Gang, sondern das Satzartige der Hauptpartie den üebergang zur Seitenpartie machen müsste; das Bedürfniss nach einem ganghaften Hinüberkommen (Satz auf Satz bricht sich ver- bindungslos) zog zuletzt noch jene vermittelnde Figur No. 325 herbei.

Auf den Seitensatz und seine Tonart kommen wir später zurück.

Aehnliche , in derselben Weise zu begreifende Fälle zeigen sich in Beethoven's Sonate pathetique (No. 295), in Mozart's Cmoll-Sonate (mit vorangehender Phantasie), und vielen andern Kom- positionen. Die Mozart'sche Sonate stellt zuerst einen periodi- schen Hauptsatz auf,

dessen beide Schlüsse unvollkommen sind (der Halbschluss fällt auf einen verminderten Septimenakkord ), mithin weiter treiben. Allein die beiden Motive der Periode sind für jetzt befriedigend und fertig hingestellt; folglich tritt mit diesem Anhange,

der unter Umkehrung der Oberstimmen wiederholt wird und mit ganz andern Motiven fortgeht,

327

m

Mar x , Komp.-L. III. 5. Aufl.

Digitized by Google

274

Nähere Erörterung der Sonatenform.

?

ein neuer Satz ein. Allein der Hauptgedanke darf nicht aufgege- ben, am wenigsten durch einen nach Inhalt und Form schwächern Gedanken verdrängt werden. Folglich kehrt jener wieder und führt mit einem Schlage zum Seitensatze ; nach Wiederholung der beiden ersten Takte von No. 326 ergreift der Bass das Hauptmotiv, die Oberstimme einen Kontrapunkt,

319

i

i

S

& IT) fr r^Ufrfö

T

8

i

1 r r

und im folgenden Takt erscheint in Iftdur der Seitensatz. Es ist hier abermals die Dominanttonart des neuen Tons [Bdur) ver- säumt worden; die Folgen werden wir im nächsten Abschnitte sehn.

In all' diesen Beispielen finden wir einen gemeinsamen Zug: das entschiedne und kurz gefasste Hindringen auf den Seitensatz, sobald einmal der Hauptsatz abgemacht ist. So tritt klar hervor, was einmal zur Hauptsache bestimmt ist: Haupt- und Seitensatz; die bloss vermittelnden Theile müssen sich, wie es ihrer untergeord- neten Bedeutung gemäss ist, beschränken; doch nehmen auch sie gern (so viel bei ihrer Bestimmung möglich ist) Satzform an und bezeugen in beiden Beziehungen die Energie und durchgreifende Uebersicht ihrer Bildner.

Blicken wir zum Schluss auf jene Dussek'sche in No. 297 angeführte Sonate zurück. Der Hauptsatz, eine Periode, gewährte keinen Fortgang ; sein Anhang oder der zweite Satz (No. 298) wollte ebenfalls nicht dazu genügen, hat aber doch den eigentlichen Hauptsatz zurückgedrängt. Dieser muss also wiederkehren und soll durch einen lebhaften Kontrapunkt oder Continuo

330

Siffig J^"^^^^r^5 '^i+tzs

fr . . . . .... y'^U

Digitized by Google

Der Fortgang zum Seitensatze.

275

(der Bass eme Oktave tiefer als geschrieben zu lesen) beweglicher werden. Allein dies ist nicht durch eine äusserlich zugethane Figur, sondern nur durch die innere Konstruktion, durch das Wesentliche des Satzes, zu erreichen, und diese ist hier unverändert, so unbe- wegsam wie zuvor, geblieben. Es wird also wenigstens die perio- dische Form beseitigt und im vierten Takt in der Dominante ge- schlossen.

Hierdurch ist ein gewissermassen neuer Satz gebildet, der aber nur durch den baldigen Schluss in der Dominante eine gewisse Fortschrittskraft vor der Periode No. 297 voraus hat. Der neue Satz fodert befestigende Wiederholung, die Form Fortschritt. Es wird also (unter Verlegung des Kontrapunkts in die Oberstimme) derselbe in Bdur mit einem Schluss auf F und zum dritten Mal (der Kontrapunkt tritt wieder in den Bass) in Fdur wiederholt; in der That kann diese Weise des Fortschritts, wo auf der jedes- mal nächsten, in gleicher Weise erreichten Stufe wieder gestanden werden soll (dies spricht die Satzform aus), eher ein Fortgescho- benwerden heissen.

Dies fühlt der Komponist und löst in der letzten Wiederholung vom dritten Takt an den Satz gangartig auf, um zuletzt

mit der letzten Hälfte des vierten Taktes abermals auf den Hauptton und den Ueberleitungssatz (No. 330) zurückzukommen, der endlich geradezu nach F geführt wird, um da orgelpunktartig die Haupt- partie zu schliessen.

So liegt also ein Hauptsatz von acht oder mit dem anhän- genden Satze von vierzehn Takten vor, nach welchem es einer Partie von vierundzwanzig Takten zur Ueberleitung in die Sei- tenpartie bedarf; wesentlich sind in der That nur die acht Takte der Periode, Nebensache die übrigen dreissig Takte.

Warum ist der Komponist nach dem ersten Gange (No. 331)

18*

Digitized by Google

276

Nähere Erürtertmg der Sonatenform.

nochmals auf den Satz in Zssdur zurückgegangen, stall mit einer nahe liegenden Wendung

T

1

! « -

(No. 331 nachgebildet) sofort die Dominante der Dominante zu be- festigen? Offenbar, weil die einförmige und unbewegsame Weise, wie er von Dominante zu Dominante Satz auf Satz nach F gescho- ben, ihm selbst als nicht genügend, nicht genugsam ganghaft und rasch entschieden fühlbar wurde. Ob er nicht demungeachtet frischer an das Ziel gekommen wäre durch eine Wendung, wie die in No. 332, als durch die Rückkehr nach dem Hauptton und Anknü- pfung eines zweiten Ganges zu dem bereits erreicht gewesnen Ziel, kann um so billiger dahingestellt bleiben, weil derselbe Komponist sich so vielfältig formgewandt bewiesen hat. Aber eben darum springt uns der Grund und Kern der hier sichtbaren, schwerlich in Abrede zu stellenden Schwäche um so deutlicher in die Augen. Es war zuerst ein Hauptsatz aufgestellt worden, dem durch seine Form selbst die Kraft der Fortbewegung entzogen sein musste. Sodann war für den nöthigen Fortschritt nicht das energische Mittel ergrif- fen; die zur Bewegung bestimmte Partie zeigte sich wieder still- stehend — und endlich, dadurch bei ihr wieder aufgehalten, verlor der Komponist den rechten Gesichtspunkt zur Würdigung von Haupt- und Nebensache, räumte er der letztern gleichen, ja vielmehr über- wiegend zugemessenen Raum ein.

Es würde sich nachweisen lassen, dass bei allen Komponisten, die ihre Aufgabe mit minderer Energie, mehr äusserlichen als lief- innerlichen Antrieben folgend, lösen, dieselbe Vorbegünstigung der Nebensache, der Gangpartien, eintritt, wie das bei den sogenannten Virtuosen- und Salonkomponisten (die zu be- sondern Gunsten eines Instruments, oder für besondre Spielweise, Bravour, Mode setzen) überall, aber auch bei den Meistern zu bemerken ist, wenn diese, etwa in Konzertstücken, sich ausnahms- weise solchen äussern Zwecken fügen. Im vierten Theil dieser Lehre wird bei Gelegenheit der Konzertkomposition hiervon näher zu handeln sein ; um so weniger bedarf es hier einer genauem Er- örterung.

Wir sind hier gelegentlich aufmerksam gemacht worden, dass der Hauptsatz nicht immer günstigen Stoff zum Fortschreiten giebt. Dies führt auf die dritte Uebergangsweise :

Digitized by Googl

Der Fortgang zum Seitensatze.

277

C. Fortschreitung zum Seitensatz durch neue Motive.

Den ersten Fall dieser Art giebt die in No. 299 und 300 ange- führte Sonate. Die Periode sowohl, die als Hauptsatz gelten muss, als der aus ihr gezogne Satz mit seiner Wiederholung bewegen sich in kurz abgebrochnen Rucken. Man könnte und bei welchem Satze wäre das nicht möglich? mit denselben Motiven, z. B. aus der Wiederholung von No. 300,

333

i

m

r

vorwärts nach D und G zum Seitensatze gehn. Aber würde damit das spielende Hauptmotiv, das wir in seiner Kurzangebundenheit zu- vor schon viermal gehört haben, nicht abgenutzt? und wie viel Zeit würden wir brauchen, um diese kurzen, stets so deutlich absetzen- den Glieder endlich in Fluss und Schwung zu bringen, der eben nach solchem Anfang doppelt wtinschenswerth scheint?

Beethoven, stets im richtigen Gefühl der ganzen Sachlage, reisst sich rasch entschieden von seinem Hauptsatze los und knüpft auf dem Schlusston selbst einen neuen ganghaften Satz an,

334

ijhl

sim.

±_ sim.

s

J j J j .1— j.j ; j , ,

der im nächsten Takte wiederholt, aber sogleich (im dritten Takte) über j4moll und Ddur nach Gdur geführt wird. Zur Befestigung dieser Tonart und zum entschiednen , gerundeten Abschluss der Hauptpartie dient ein orgelpunktartig auf G weilender Satz,

tr

J.

der wiederholt und mit einer taktlang hinabgeführten Tonleiter in Sechzehnteln beschlossen wird. Es ist ein angehängter Halbschluss

Digitized by Google

278 Nähere Erörterung der Sonatenform

in der Weise der Sonatine, gleichsam ein Schlusssatz zur Haupt- partie. Dann folgt sofort der Seitensatz.

Die Aehnlichkeit dieses Falles mit dem vorhergehenden ist un- verkennbar. Auch hier ist eine Periode und ein ihr angehängter Satz, die beide nicht haben weiter führen wollen. Beethoven er- kennt nicht bloss dies, sondern auch eben so klar, was seinem Haupt- satz an Beweglichkeit (oder Fluss) und Schwung fehlt; er giebt das Fehlende mit einem Zuge und hat nach dreizehn Takten, die dem Hauptgedanken gehören, in vierzehn Takten (der dreizehnte des Haupt- und erste des Bewegungssatzes fallen zusammen) sein Ziel erreicht. Auch Dussek erkennt, was seinem Hauptgedanken zu wei- term Vordringen an Beweglichkeit fehlt ; aber er will es durch Bei- werk, durch den zugefügten Kontrapunkt, gewinnen, was denn frei- lich in der Hauptsache nichts ändert. Der Satz in No. 330 ist so wenig fortbewegend, als der in No. 297 ; er ist in der Hauptsache (abgesehn von dem Unterschiede zwischen Satz und Periodej ein und dasselbe.

Ein zweites Beispiel bietet Mo zart's Sonate, deren zwei erste in der Hauptpartie auftretende Sätze wir in No. 310 und 311 ken- nen gelernt haben.

Der erste derselben (die Periode) konnte nicht weiter fuhren. Man hätte, wenn man von ihm aus fortschreiten wollte, den Nach- satz ausdehnen, auf die Dominante leiten (also einen ersten Theil bilden) müssen ; dann musste aber auch auf den Vordersatz zurück- gegangen, und endlich (da dieser weniger bewegsam ist) auch der Nachsatz noch einmal angeregt werden. Hiermit wTäre indess dem ganzen, anmuthigen, nicht aber sehr bedeutenden Gedanken viel zu viel Breite gegeben und bei alle dem kein lebhafter Fortgang gewonnen worden, zu dem kein Motiv vorlag.

Auch der zweite Satz (No. 311) bot, obgleich lebhafter als der erste, keinen hinlänglich frischen Fortschritt. Seinem ersten Ab- schnitte musste vor allem eine Wiederholung folgen, wie auch bei Mozart geschieht. Sie hätte, statt auf derselben Stelle, auf irgend einer andern Stufe, z. B. höher und in Moll

- j k J J J i ji i_j

cl;;;lcfc-p5S=

^s^j , | III I

(hier hat das bewegte Motiv a, das bei Mozart einen Takt früher eintritt, verspätet werden müssen, damit bei der fremden Tonart der innigere Anschluss des Motivs beruhige) , geschehen und in irgend einer Weise zu einem Gang nach der Dominante

Digitized by Google

337

Der Fortgang zum Seitensatze.

279

4

3

ausgeführt werden können. Allein auch hier würde die artige Er- findung ungebührlich breit geworden und der leichte Gang des Gan- zen verloren sein; abgesehen davon, dass Mozart ohnehin zu fein und flüchtig hinschwebendem Spiel geneigter war.

Der Meister traf auch hier, wie Beethoven, das einzig Rechte. Er verlässt den zweiten wie den ersten, und bildet einen dritten ganghaften Satz,

338

m . bis

Eftf tU—

T-r

6

5

wiederholt diesen mit einer Wendung nach Drooll, steigert hier sein Hauptmotiv zu höherer Bewegung

339

und geht damit nach Cmoll, auf dessen Dominante ein Halbschluss <He Hauptpartie endet. M o z a r t hat hier nach zwei voran geschick- ten Sätzen dasselbe gethan, was Beethoven in dem vorangehen- den Beispiele.

Aehnliche Fälle, z. B. in der bei No. 306 angeführten Sonate, bleiben der eignen Betrachtung überlassen ; nur aus andern Gründen werden wir auf den hier genannten bei No. 349 zurückkommen. AHein auf die kolossale Bdur-Sonate von Beethoven, Op. 406, sei noch zuletzt ein Blick geworfen. Wie durchweg, so hat dieses Meisterwerk schon als Hauptpartie ein« ganze Reihe tiefer und machtvoller Gedanken aufzuführen. Nach einer energisch empor- reissenden Einleitung

340

AUegro.

5t

i

sim.

*

1

TT ffFTT i

tritt der erste voll ausgeführte Gedanke der Hauptpartie auf, eine Periode mit diesem Vordersatze

l

v rit.

8

n t f y

i f-

Digitized by Google

280 Nähere Erörterung der Sonaten form.

Auf dem Schlüsse dieser Periode wird nun mit diesem neuen Satze (o),

der sich viermal (auf den bei b angedeuteten Punkten) steigernd wiederholt, zu einem Halbschluss auf der Dominante vorgerückt. Es . versteht sich von selbst, dass nach so mächtigem Beginn und für solchen Gedanken reichthum der Halbschluss nicht genügen, und dass der für jetzt nur hingeworfne Anfang (No. 340) nicht ohne Nach- hall, ohne Fortwirkung bleiben kann. Er kehrt wieder, fasst aber mit den letzten Schlägen der Harmonie d-fts-a (statt d-fis-a-c) und hat so in kühnem Uebergriffe die Tonart des Seitensatzes, Gdur, erlangt. Erwägt man nun, dass die vorhergegangnen Sätze sehr harmoniereich waren (viel mehr, als in No. 341 und 3 42 an- gedeutet ist) und dass jener kühne Griff in die neue Tonart dem Karakter des Ganzen durchaus angemessen ist; so begreift man auch, dass es nun keiner weitern Vermittlung oder Stärkung des neuen Tons durch die Dominante bedarf, dass eine solche umständlichere und umschweifende Modulation nur die Macht des Ganzen abschwä- chen könnte. Und so nimmt Beeth o ven die Tonart für entschie- den an, macht uns aber durch einen breit geführten gangartigen Or- gelpunkt, der an das Hauptmotiv von No. 340 anknüpft, in derselben einheimisch, ehe der Seitensatz folgt. Die Einleitung hat vier, die Periode dreizehn, der gangartige Satz achtzehn Takte, von denen der erste mit dem vorhergehenden Schlusstakte zusammen- fällt; der Einleitungsgedanke hat wieder vier, der Orgelpunkt fünfundzwanzig Takte, auf deren letztern der Seitensatz be- ginnt. Es stehn also fünfundzwanzig Ueberleitungstakte (oder vielmehr den erfolgten Uebertritt befestigende) gegen achtund- dreissig den wesentlichen Sätzen zugehörige. So sehen wir hier nur im erweiterten Umfang alle bisher erkannten Grundsätze befolgt.

Die letzte Betrachtung führt uns schliesslich dahin,

D. die Modulation des Fortgangs zum Seitensatze

nochmals zu erwägen.

Die Regel war, den Weg über die Dominante der Dominante zu nehmen, damit man sich vom Hauptton entschieden losmache und aus einem höhern Punkt in die neue Tonart mit Ruhe niederlasse, um hier den neuen Gedanken (den SeitensaU) festzustellen. Der obige Fall hat schon eine Ausnahme gezeigt; die Sonatinenform

Digitized by Google

Der fernere Verlauf des ersten Theils. 281

weicht ebenfalls ab, weil ihr ungewichtigerer Inhalt solcher Um- ständlichkeit und Feststellung nicht bedarf. Beethovens Fdur- Sonate, Op. 10, bringt eine abermalige Abweichung. Hier bedarf Haupt- und Seitensatz der Abtrennung um so mehr, da sie einander in Stimmung und Form nahe verwandt sind. Gleichwohl (und zum Theil eben deshalb) würde der Hauptsatz durch weitere Ausfüh- rung nach G und C zerfliessen in Marklosigkeit, und das Ganze durch Einschiebung eines Ueberleitungssatzes zerstreut und aus der Stimmung gebracht; auch würde Gdur fremd ansprechen. Beet- hoven geht daher in die andre Verwandtschaft von Cdur, nach AmoU. Allein auch die Trübniss von Moll entspricht dem Satze nicht. Folglich geht er auf die Durdominante von A moll (und zwar durch den E und A zweifelhaft lassenden Mischakkord /-a-c-dis), macht so einen Halbschluss, der den Fortgang in 4 moll erwarten Hesse, und wendet sich nun erst leicht und kurz angebunden nach Cdur. Es war der einzige nach allen Seiten hin befriedigende Weg.

Dritter Abschnitt. Der fernere Verlauf des ersten Theils.

Vom Seitensatze gilt, was wir schon bei dem Hauptsatz erkannt haben : er kann die Gestalt des Satzes, der Periode, sogar der zwei- theiligen Liedform haben, oder eine Beihe von Sätzen darstellen. Stets folgt sowohl seine Bildung als die fernere Entwickelung des ersten Theils dem Gesetz, das die Bildung des Hauptsatzes und der fernere Gang der Hauptpartie geben; wir dürfen daher diese ganze zweite Masse des ersten Theils zusammenfassen und uns hauptsächlich nur auf die Betrachtung solcher Beispiele beschränken, an denen diese folgerichtige Entwickelung nach ihren verschiednen Richtungen sichtbar wird.

Allein die Bildung der Seitenpartie folgt nicht mechanisch der der Hauptpartie ; etwa so, dass der Seitensatz eine Periode sein müsse, wenn der Hauptsatz eine Periode gewesen sei, u. s. w. Viel- mehr hat die Seitenpartie nur in gleichem Sinne zu vollenden (für den ersten Theil nämlich), was die Hauptpartie begonnen, zu ergänzen, was diese aus irgend einem Grunde unbefriedigend hin- gestellt hat: und dies kann nicht bloss, es m u s s Öfters in ganz andern Formen geschehen, als die im Hauptsatz vorausgegangen.

Im Allgemeinen wissen wir vom Seitensatze Folgendes:

Erstens. Er hat mit dem Hauptsatze durch innere Stimmung, wie äusserlich durch den Sitz seiner Modulation und gleiche Takt-

Digitized by

282 Nähere Erörterung der Sonatenform.

art (beides nicht ohne Ausnahmen) ein Ganzes zu bilden, folglich eine gewisse Einheit und Einigkeit zu bewahren, dabei aber

Zweitens sich von ihm entschieden als ein Anderes, alsein Gegensatz loszulösen durch den Inhalt, namentlich durch die Modu- lation, gern auch durch die Form ; Haupt- und Seitensatz stehn als Gegensätze einander gegenüber, die in einem umfassenden Ganzen zu höherer Einheit sich innig vereinen.

In diesem Paar von Sätzen ist Drittens der Hauplsatz das zu- erst, also in erster Frische und Energie Bestimmte, mithin das ener- gischer, markiger, absoluter Gebildete (8. 1 29) , das Herrschende und Bestimmende. Der Seitensatz dagegen ist das nach der ersten ener- gischen Feststellung Nachgeschaffne, zum Gegensatz Dienende, von jenem Vorangehenden Bedingte und Bestimmte, mithin seinem We- sen nach nothwendig das Mildere, mehr schmiegsam als markig Ge- bildete, das Weibliche gleichsam zu jenem vorangehenden Männ- lichen. Eben in- solchem Sinn ist jeder der beiden Sätze ein Andres und erst beide mit einander ein Höheres, Vollkomm neres.

Aber in diesem Sinn und der Tendenz der Sonatenform ist auch Viertens begründet, dass beide gleiche Berechtigung haben, der Seitensatz nicht bloss Nebenwerk, Nebensatz zum Hauptsatz ist, mithin im Allgemeinen auch gleiche Ausbildung und gleichen Raum wie der Hauptsatz fodert; wobei natürlich von kleinlichem Taktabzählen nicht die Rede sein darf.

Was nun weiter auf den Seitensatz folgt, Gang und Schluss- satz, ist, wie wir wissen, nur sein oder auch des Hauptsatzes Ergebniss.

Auf diese schon bekannten Grundsätze gestützt, gehn wir ohne Weiteres an die Beleuchtung einzelner Fälle, die wir nach den For- men des Seitensatzes ordnen.

A. Satz form.

In Beethoven's Asdur-Sonnte (No. 292) haben wir die Haupt- partie bei aller Stetigkeit des Hauptmotivs mannigfaltig genug aus- gebildet befunden. Nach einem ersten Satz bildet sich ein zweiter (No. 294), beide in ihren Wiederholungen veränderlich; nach einem neuen satzartigen Gang (No. 320) kehrt der erste Gedanke (No. 32f ganz umgestaltet zurück; alle diese Sätze, besonders der Haupt- gedanke, bewegen sich in kurz abbrechenden Abschnitten und Glie- dern. Wie ist nun die Seilenpartie gestaltet?

Wie sie musste, um die Hauptpartie fortzusetzen und zu er- gänzen..

Vor allem tritt der Seitensatz (schon mit Hülfe der Begleitungs- form, aber auch durch seinen wesentlichen- Inhalt) inniger zusam- menhängend und fliessender auf,

Digitized by Google

Der fernere Verlauf des ersten Theih.

283

um nach den abgebrochnen Hauptsätzen mehr Halt und Fluss in das Ganze zu bringen. Nach einem phantasiefrei geführten Lauf von vier Takten (wie oben der dritte Takt an die Hauptpartie leise er- innernd) wird dieser Seitensatz noch beweglicher wiederholt, und es scheint sich schon hier ein Schlusssatz

344

(der eine Oktave höher wiederholt wird) bilden zu wollen. Allein so gewiss der Gegensatz der Sehen- gegen die Hauptpartie ein günsti- ger für das Ganze, so mag doch der stetige Komponist die letztere nicht ohne Weiteres aufgeben. Er führt seinen Gang Über diesen vermeintlichen Schlusssatz hinaus, zieht in ihm Motive des Gangs in der Hauptpartie (No. 320) wieder hervor und bildet selbst den Schlusssatz

345

7

I

nicht ohne leisen Anklang (Takt 2 und 3) an das Hauptmotiv. So sind Haupt- und Seitenpartie nicht bloss durch die im Ganzen herrschende Stimmung, durch nächste Verwandtschaft der Tonarten und Gleichheit des Taktes, sondern selbst durch gemeinschaftliche oder zurückgerufne Motive einander angehörig und dabei doch in einem solchen Gegensatze, dass auf der einen Seite gegeben wird, was auf der andern versagt bleiben musste.

In kleinern Verhältnissen lässt sich das bei der No. 301 ange- führten Sonate beobachten. Der Hauptsatz baut sich aus zweitak- tigen aufwärts strebenden Abschnitten ; der Seitensatz antwortet fast wörtlich genau durch ein abwärts gewendetes Motiv,

346

5

aimile

das, durch zusammenhängende und gleichmässige Begleitung (die

Digitized by

284 Nähere Erörterung der Sonatenform.

der Hauptsatz nicht hatte) fliessend, dreimal wiederholt, das dritte Mal in einem schön geschwungnen Gang gleicher Bewegung ausge- führt wird, bis der Schlusssatz, ebenfalls dreimal wiederholt, zu der Bewegung und Begleitungsform des Hauptsatzes zurückkehrt.

Das Gleiche würde an der in No. 256 angezognen Gdur-So- nate nachzuweisen sein; hier aber beschäftigt uns vor allem der Modulationspunkt. Der Seitensatz tritt nicht in Ddur, sondern in

tfdur auf; dies wäre nach der Verbindungsreihe der Durtonar- ten die vierte, wenn man von Ddurdie Parallele und dann deren Durgeschlecht nimmt, die dritte Tonart in der Reihe der Ver- wandtschaften. Woher nun diese bedeutende Abweichung von dem Grundgesetz (Th. I, S. 21 9 Anm.) der Modulation?

Diese Frage und alle ähnlichen können hier nicht rein ge- löst werden. Denn bei der Beurtheilung jeder einzelnen Komposi- tion kommen nicht bloss die allgemeinen Gesetze und Bedingungen ihrer Form, sondern es kommt auch der besondre Inhalt, die Idee, Stimmung u. s. w. eben dieses besondern Werks in Betracht; so wie bei der Beurtheilung eines einzelnen Menschen und seiner That nicht bloss die Verhältnisse des Menschen überhaupt, der Nationa- lität, des Alters, Geschlechts, Standes u. s. w., sondern auch das Wesen und besondre Verhältniss eben dieser bestimmten Person. Demungeachtet geben jene allgemeinen Verhältnisse (wie wir bereits bei andern Fällen vielfältig gesehn) doch schon für sich genugsam helles Licht, um erkennen zu lassen, dass auch hier wieder nicht nach Laune, sondern aus Gründen, die in der Sache liegen, von einem Grundgesetz abgewichen ist.

Beethoven bedurfte hier, wie in dem ersten Fall (S. 283 )

und noch mehr, da der Hauptsatz noch kürzer und häufiger ab- gebrochen ist, eines fester, zusammenhängender gebildeten Sei- tensatzes, der dem Ganzen die nöthige Haltung zu geben vermöchte und der eben zu diesem Zweck von besonderer Wichtigkeit war. Wohin hätte er nun den Seitensatz stellen können?

Nach der Oberdominante Z)dur? Allein diese ist gleich zu Anfang (No. 256) mit einem förmlichen Uebergang, dann mit jenem kräftig eingreifenden Gang (No. 323) und der sechs Takle breiten Arpeggiatur des Schlussakkordes mit einem so entscheiden- den Halbschluss eingeprägt worden, dass ein abermaliges Zurück- kehren zu ihr jeder Frische und Energie entbehrt hätte.

Der nächste Gedanke war also die Parallele desjenigen Tons (ßdur), den man sich versagen musste, //moll. Allein dem lau- nig heitern, sprühend lebendigen Karakter dieser Sonate, namentlich des vorangegangenen Hauptsatzes, konnte das trübe Moll nicht zu- sagen; folglich verwandelte es sich in Dur.

Nun beobachte man aber den fernem Einfluss dieser Wande-

Digitized by Google

*

Der fernere Verlauf des ersten Theils.

285

rung über Z)dur und J/molI nach #dur. Das Letztere war not- wendig erschienen, aber näher lag /fmoll und zunächst Ddur; diese Vorstellung konnte nicht ohne Einfluss bleiben. Zunächst wird also der Seitensatz in //dur

347

t

•vv-

aufgestellt und mit einer festen Schlusswendung wiederholt. Dann, gleichsam in Reue Über die ttbergangnen Töne, tritt derselbe Satz in H moll auf (die Melodie im Basse, die Begleitung in Sech- zehnteln), wendet sich bei der Wiederholung nach Ddur; von hier weiter nach Fis, E, D zu einem Schluss in H moll, abermals nach D und dann denselben Weg zu einem abermaligen Schluss in //moll. Hier folgt der kleine Schlusssatz in // moll. der aber dann wieder an das zuerst so nothwendige und dann doch zurück- gewichne Hdur

moll dur moll (viermal)

348

erinnern muss. So ist zwar dem ersten Antriebe zu Dur (//dur) genügt und derselbe nicht vergessen worden, aber die nähere Moll- tonart hat ihr Recht, und das nächst gelegne Ddur in dreimaliger Berührung so viel Genugthuung erhalten, als ihm unter diesen Umständen zukam. Reizend frisch, wie ein anmuthiger Liedklang aus der Fremde, hat // dur uns angesprochen, und unbeschadet des zusammenhaltenden Wesens, das hier dem Seitensatz nothwendig war, ist ein so anregender Wechsel in die Modulation dieser Partie gekommen, dass sie dadurch dem gaukelnd muthwilligen Wesen der Hauptpartie erst ganz entspricht*.

Zuletzt in dieser Reihe bringen wir zwei Fälle zur Sprache, in denen der Seitensatz aus Rücksicht auf die Hauptpartie von einer bedeutendem Entwickelung zurückgehalten werden musste.

Den ersten bietet uns die in No. 305 angezogne Beethoven - sehe Sonate, eine der tiefsinnigsten Schöpfungen (wenigstens ihrem ersten Satze nach) , die in der Musik überhaupt uns vergönnt worden, in deren erstem Satze kein Zug gefunden wird, der nicht der unmittelbare und reinste Ausdruck eines tief bewegten Geistes wäre. Der Hauptsatz ist als erweiterte Periode reich bis zu voll- ster Befriedigung ausgestaltet, voll emphatischer Beredtsamkeit auf uns eindringend, dann in sich geschlossen, nicht weiter führend. Es tritt also ein neuer Satz ein, der sich bald gangartig

* Hierzu der Anhang K.

Digitized by Google

286 Nähere Erörterung der Sonatenform.

empor- und losreisst, die gangartige Hülfe in j4moll und .Bdur wie- derholt, dann mit der ersten Hälfte den Akkord ats (aus b)-cis-e-g erbaut, und nun, Schritt für Schritt voll beredtesten Gesangs, über // nach Fis und damit sogleich nach H in oll zurück zum Seitensate geht. Dass hier der Seitensatz nicht in der Parallele G dur, sondern in der Molldominante auftritt, ist leicht zu begreifen. Die Paral- lele ist für die Mollkonstruktion nur darum (Th. I, S. 245) der regelmässig nächste Modulationsmoment, weil in der Regel der Inhalt der Komposition nicht das tiefere Düster von Moll auf Moll fodert oder zulässt; wo nun das Gegentheil stattfindet, fällt von selbst die Regel mit ihrem Grunde weg; übrigens tritt im vorlie- genden Fall zwischen beiden Moll tönen Cdur (No. 349) und Bdur mit Nachdruck auf.

Allein der Seitensatz selbst erscheint im Verhältniss zum Haupt- satze von geringer Entwickelung ; er ist fast nichts, als die Ent- gegnung auf den ersten Abschnitt des zweiten Satzes (No. 349) der Hauptpartie,

wird auch in der gesteigerten Wiederholung (Takt 7) nicht reicher entfaltet ; und gleich auf dem Schlüsse der Wiederholung setzt der SchlusssaU (vier Takte, Wiederholung, Anhang) ein. Es kann hier nicht davon die Rede sein, wie leidenschaftlich einschneidend, wie schmerzvoll dahinsterbend beide Sätze sind; dieser Inhalt und selbst die dem Tondichter gewordnen Motive hätten weitere, noch tiefer eindringende Ausführung zugelassen. Allein beiden Momenten sollte und durfte kein grosserer Raum gestattet werden, weil das

Digitized by Google

Der fernere Verlauf des ersten Theils.

287

Männlichere, Würdigere und zugleich Tiefere sich zu fest in der Hauptparlie ausgeprägt hatte, als* dass es sich durch die leidenschaft- lichen Hingebungen der Seitenpartie hätte aufwiegen lassen dürfen. Die Hauptpartie hat diesmal vierundfunfzig, die Seitenpartic siebenundzwanzig Takte. Es ist übrigens bemerkenswert h. dass jenes Verhältniss der Haupt- und Seitenpartie sich in dieser Sonate in grösserm Verhältnisse wiederholt. Der erste, oben be- sprochne Satz ist den übrigen, namentlich dem zarten, innigen, aber hinschmachtenden Finale eben so machtvoll tiberlegen, wie in ihm die Haupt- der Seitenpartie. Es konnte nicht anders sein.

Das Gleiche ist an K. M. Weber's gehaltvoller ^sdur-Sonate zu beobachten. Die Hauptpartie hat sich in so breiten Lagen ent- faltet (ein Satz von elf, ein zweiter von acht, ein dritter, der die Ueberleitung herbeiführt, von vierundzwanzig Takten), dass der Seitensatz nach einer Vorbereitung in den zwei letzten Takten sich auf zwei Takte die wiederholt werden beschränkt, weil er Alles, was satzmässig gesagt sein will, schon bis zur Sättigung ausgesprochen findet, und seine gleichmässige oder ähnliche Ausfüh- rung zur höchsten Ueberladenheit des Ganzen führen würde. Hier- mit wär' indess dem Ebenmaass gar zu wenig Rücksicht ge- gönnt; auch dem Inhalte nach gewährt der Seitensatz nicht die Er- hebung, die nach der edlen, aber zu weit ergossnen Sentimentalität der Hauptpartie so wünschenswerth war. Daher reiht sich nun (anfangs satzartig} ein breiter Satz, eine schwunghafte Passage an, die nach achtzehn Takten zum Schluss oder vielmehr zur Rückkehr in den Anfang und zum Fortgang in den zweiten Theil mittels eines dem ersten Satz entlehnten Motivs hinführt. Die nähere Betrachtung bleibe anheimgestellt.

B. Periodenform.

Einen periodenmässig gebildeten Seitensatz finden wir in der Sonate patheltque. Nach den breiten Satzbildungen (No. 295) der Hauptpartie tritt eine gleich volle, dabei aber doch leichter geglie- derte Periode als Gegen- oder Seitensatz auf. Auch hier hätte die Freundlichkeit der Paralleltonart dem Sinn des Hauptsatzes nicht entsprochen ; ja, wenn im Gegensatze gegen die breite Führung des Hauptsatzes die Seitenpartie leicht gegliedert auftreten sollte, so wäre sie wohl gar in Dur kleinlich oder Weichlich erschienen. Beet- hoven geht daher auf dem oben (S. 284) bezeichneten Wege über Es dar nach jFsmoll; hier stellt er seinen Seitensatz auf,

gtrli. t ]— p— f-

-ff—

\, y. 3 | l—

mm

4 1

4

der seinem düster und ungestüm emporstürmenden ersten Gedanken

Digitized by Google

286

Nähere Erörterung der Sonatenform.

mit unruhvollen Klagelauten antwortet. Aber auch hier will die eigentlich nächslberechtigte Tonart sich nicht vergessen lassen; in ihr, in £sdur, bildet sich ein zweiter muthvoli andringender Satz (gangartig und an Ganges Statt), und wird mit stärkerm Ausgange wiederholt. Auch der Schlusssatz steht in Dur.

Einen gleichen Fall giebt die grosse C-Sonate (No. 306), in der die periodische Gestaltung des Seitensatzes (beiläufig gesagt) unzwei- deutiger erscheint, als in der vorerwähnten Komposition. Die Mo- dulation (der Seitensatz tritt in l?dur auf) wird man sich nach dem oben Gesagten unschwer erklären.

C. Zweitheilige Liedform des Seitensatzes.

An einer ganzen Reihe von Fällen haben wir schon die tiefe Vernünftigkeit in Beethove n's (und aller wahren Künstler) Wer- ken anzuerkennen gehabt. Diese Vernünftigkeit äussert sich zu- nächst darin, dass stets der jedesmaligen Idee gemäss, aus ihr her- aus das Ganze und jeder Zug desselben geschaffen wird. Die andre Seite dieser höchsten Kunstlereigenschaft ist aber, dass sie in der Gesammtheit aller Werke die höchste Mannigfaltigkeit, eine stets wahrhafte Originalität* hervorbringt, weil eben nicht nach irgend einer allgemeinen Formregel oder Schablone**, sondern in jedem Werke nach dessen besonderm Wesen gebildet wird.

Und so finden wir abermals in einem Beethoven, in der grossen Bdur-Sonate (No. 340) sogar die zweitheilige Liedform wenigstens einen Ansatz dazu für den Seitensatz angewendet. Dies

' '8 ' r rrr r r

ist der erste Theil; er möchte seiner Kürze nach sich für einen blossen Vordersatz ausgeben, hat aber Vordersatzschluss (im zwei- ten, oder, wenn man auf die einfache Taktart zurückgeht, vom drit- ten zum vierten Takte) und förmlichen Theilschluss in der Tonart der Dominante. Der zweite Theil wird dann weiter und zu einem breiten satzartigen Gange fortgeführt, der mit allem Nachkommen- den hier keiner weitern Erörterung bedarf; der Seitensatz nimmt,

* Die wahrhafte Originalität geht mit der wahrhaften Treue; die falsche Originalität sucht das, was nicht in der Sache begründet ist, als das vermeint- lich Neue, Ueberraschende, Wirksame herbei und zerstört damit das Werk und den Karakter des zu ihr verirrten Künstlers.

** So heissen bekanntlich jene durchbrochnen Formen, über die mit dem dicken Farbenpinsel hinfahrend die Anstreicher ihre Kanten, Rosetten u. s. w. fix und gleichmössig, wie Salonkoroponisten, an die Wand werfen.

Digitized by Google

Der fernere Verlauf des ersten Theils.

289

wie man bemerkt, dieselbe modulatorische Stellung zum Hauptsatz ein, wie jener der Gdur-Sonate S. 284, wendet sich aber nicht nach seinem Moll, sondern in Folge der höhern Kraft und Rüstigkeit des Ganzen nach seiner Unterdominante Cdur mit Anspielungen auf Cmoll im Schlusssatze zurück.

D. Satzkette als Form der Seitenpartie.

Oben (S. 285) haben wir Beschränkung der Seitenpartie aus Rücksicht auf die Hauptpartie beobachtet. In den folgenden Fällen finden wir Ausdehnung der Seitenpartie aus derselben Rücksicht; und zwar entweder bloss um zwischen beiden Partien ein gewisses Cbenmaass oder Gleichgewicht zu erhalten, auf das man ohne be- sondre Gründe nicht gern verzichtet, oder um zu ergänzen, was in der Hauptpartie etwa ungeschehen blieb.

Das erstere Streben (bei dem aber, wie schon gesagt, nicht an ängstliches Taktabzählen zu denken ist) beobachten wir zuerst an Beethove n's Es dur-Sonate, Op. 7. Nach einem einleiten- den Ansätze

-4

m-a W7~

8

tritt mit dem Abschnitte 6 (der bei c auf der Dominante, sodann wieder, eine Oktave über o, auf der Tonika wiederholt wird) der Hauptsatz auf. Seine sehr freie Umkehrung führt gangartig auf das Einleitungsmotiv a, das zu einem neuen Sätzchen

354

wird, zurück, und mit diesem weiter über Fnach B zum Seitensatze. Dieser ist dem Hauptsatze wenigstens durch fortlaufende Achtel- bewegung und freie Umkehrung bei der Wiederholung ähnlich. Es fehlt also an einem beruhigenden Satz als Gegengewicht gegen den zweiten aus a gebildeten Gedanken der Hauptpartie ; und noch darf nicht an den Schlusssatz [der beruhigen könnte) gedacht werden, weil beide Hauptgedanken durch die gleichmässig fortlaufende Ach- telbewegung fast gangartig wirken und dem Ganzen die nöthige

Marx, Korap.-L. III. 5. Aofl. 19

Digitized by Google

290 Nähere Erörterung der Sonatenform.

Haltung noch fehlt. Daher tritt ein zweiter, in halben Schlägen ruhig wandelnder Satz a

355 *

auf, der zuletzt und bei der Wiederholung (6) freilich wieder die angeregte Achtelbewegung in sich aufnehmen muss. Allein, so ge- wiss dieser reich und seelenvoll ausgeführte Gedanke nothwendig war, so bedarf es doch wieder der feurigen Erhebung zu dem lebendigen Anfang und noch Uber ihn hinaus. Es muss also ein dritter Satz, in Achteln und Sechzehnteln gangartig empordringend, in der Wiederholung noch stürmischer gesteigert, eingeführt seiu, der statt eines Gangs (es sind ja von fünf Sätzen schon drei gang- artig) einen in Sechzehnteln harmonisch figurirten Orgelpunkt nach sich zieht. Hiermit ist nun allerdings die Seitenpartie (bis hier- her 87 Takte) der Hauptpartie (40 Takte) an Ausdehnung und Ge- halt überlegen, hat sie aus unserm Sinne verdrängt. Folglich kehrt der Schlusssatz zu einem wohl ausgeprägten Motiv der Hauptpartie (dem zweiten in No 354) zurück, um diese gegen die überlegne Seitenpartie selbst innerhalb derselben zu unterstützen.

Aehnlich verhält es sich mit der Seitenpartie in der No. 342 angeführten Sonate. Die Hauptpartie brachte nach dem ersten Satz einen zweiten (No. 314), durch Tonart und Inhalt fremden. Die Seitenpartie stellt ihren ersten Gedanken in der Dominante [Adur auf und wiederholt ihn, gleichsam ungewiss, unsicher werdend, in i4moll auf dem verminderten Septimenakkord unbefriedigt anhal- tend. Dann muss ein zweiter Satz folgen, um anfangs (a)

r u

356

i i

fr

WI0

r

i

r

leise, später (6) entschiedner an das Motiv des ersten Hauptsatzes zu erinnern. Er führt zum Schlusssatze (o),

357

Zt

* Eine Oktave tiefer zu lesen.

Digitized by Google

Der fernere Verlauf des ersten Theils. 291

der sich an dasselbe Motiv lehnt und einen zweiten Schlusssatz in ruhigen Halbschlügen nach sich zieht. Und nochmals bildet sich aus demselben Motiv ein Satz, der zum Anfang zurück- und in den zweiten Theil hineinfuhrt.

In der Cdur-Sonate Op. 2 ist der erste Satz (No. 299) zu sin- nig und dabei zu fest die Tonart aussprechend, der zweite, der sich zum Gang ausbildet (No. 334), zu frisch und fest abermals im Haupt- ton hingestellt, der Schluss dieser Partie endlich ebenfalls so scharf und fest auf der Dominante des Haupttons gebildet, als dass nicht, wenn der Seitensatz nun sogleich auf derselben Dominante, dem all- gemeinen Gesetz nach wieder in Dur aufträte, das Ganze eine an Frivolität grenzende Munterkeit und Helligkeit annähme, wovon der besondre Inhalt der Hauptpartie, namentlich der keck hinein- geworfne zweite Satz vorzüglich Ursach wäre. Solche Wendung sagt aber dem Komponisten nicht zu; er führt lieber seinen Sei- tensatz in Gmoll (statt Gdur) ein und wiederholt ihn in Dmoll. Allein so sinnig diese Wendung und Gegenstellung gegen die kurz angebundne Hauptpartie : so entlegen, abpeirrt vom eigent- lichen Pfad erscheint sie doch in modulatorischer Hinsicht. Folglich muss sich jener erste Seitensatz, gleichsam als wär' er nicht der rechte gewesen, von seinem G- und Z)moll nach i4moll (Hauptpar- allele) wenden und eine kurze Satzkette über GmoU zu einem festen Schluss in Z)dur fuhren. Nun erst erscheint, gleichsam als waV er erst der rechte, ein neuer, ruhig und sicher in G dur aus- geführter zweiter Seitensatz. Allein mit alle dem ist die Hauptpartie weit zurückgestellt. Da tritt, eben so keck wie das erste Mal, jenes frische Motiv (No. 334) zu einem Gang auf und macht sich nach dem, ähnlich dem ersten Gedanken (No. 299) abbrechenden Schlusssatze nochmals als letzten Schluss geltend.

Hier handelte es sich darum, einer Einseitigkeit auszuweichen, die auf dem geraden Wege von der Hauptpartie zu dem regelmäs- sigen Standpunkte des Seitensatzes hervorgetreten wäre; dann von dieser Aus- oder Abweichung wieder einzulenken. In der No. 302 angeführten Sonate ist, wie dort schon bemerkt, gar keine Modu- lation in die Dominante (viel weniger über die zweite Dominante, von F über G nach C) erfolgt, sondern nach einem kurz gefassten Schluss auf der Dominante von ylmoll der Seitensatz

eingetreten, also nicht bloss ohne den vorbereitenden modulatorischen Nachdruck, sondern in unverkennbarer Aehnlichkeit mit dem ersten

49*

Digitized by Google

292

Nähere Erörterung der Sonaten form.

Hauptgedanken , folglich ungeachtet seiner Anmuth als zwei- ter Hauptgedanke ungenügend. Dies Verhältniss treibt den Kom- ponisten weiter; der Satz wird zum Gange nach Gdur, diese Ton- art (die zweite Dominante) wird nachdrücklich eingeprägt und nun folgt ein zweiter Satz (Cdur, dann Cm oll, weil Cdur schon dop- pelt in Wirksamkeit gekommen) , Gang und Schlusssatz. In ähn- lichem Sinne bringt Mozart's Cmoll-Sonate (No. 326) die Do- minante der Seitenpartie (Ädur von Es dur) nach dem ersten Satze der letztern nach und lässt dann einen zweiten Satz folgen. In bei- den Fällen ist rascher und frischerer Fortgang gewonnen und dem Modulationsgesetz doch Genugthuung geworden.

Vierter Abschnitt.

Der zweite und dritte Theil.

Nach dem bisher, namentlich im vierten bis achten Abschnitte der vorigen Abtheilung, Vorgetragnen können wir uns hier an we- nigen zusammenfassenden und ergänzenden Hinblicken genügen las- sen ; sowohl die wesentlichen Momente, welches die Bestim- mung und der Inhalt des zweiten und dritten Theils sei , als die in Anwendung kommenden Gesetze der Satz-, Perioden-, Gangbildung, der Auflösung jener in Gänge u. s. w., sind schon bekannt und an Beispielen genugsam aufgewiesen.

A. Der zweite Theil.

Dieser ist in der Sonatenform wie in allen Formen der Be- wegungstheil. Auch die Sätze und Perioden, die in ihm auf- treten, gehören dem Elemente der Bewegung an; dies zeigt sich schon darin, dass sie nicht in dem Hauptton und der nächstgehöri- gen Tonart auftreten, dass sie in sich selbst verändert, also aus ihrem ursprünglichen Wesen herausgeführt, dass sie gangartig auf- gelöst oder zu Ende und in andre Sätze übergeführt werden, ja, dass ihr Dasein im zweiten Theil überhaupt nicht nothwendig ist, son- dern bald der Haupt-, bald der Seitensatz, und bei dem Vorhan- densein mehrerer Sätze in der Haupt- oder Seitenpartie bald dieser, bald jener vorgezogen, die andern aber übergangen werden können. Nun aber ist das Wesen der Bewegung seinem Begriffe nach ein schrankenloses, im Gegensatz zu dem scharf bestimmten des Satzes oder Ruhemoments. Der Satz muss sich abgränzen, er muss sich sein Ende setzen, und zwar ein bestimmtes und notwendiges .

Digitized by Google

Der zweite und dritte Theil.

293

Der Gang hat an sieb selber gar kein noth wendiges Ende; er wird abgebrochen, weil er eben nicht ewig fortgeführt werden kann und weil höhere Rücksichten auf das Ganze den Komponisten ab- rufen zu andern Gestalten. So auch hat der Satz einen bestimmten Modulationssitz; er gehört einer Tonart ganz oder doch vornehm- lich an und muss gewissen Modulationsgesetzen, ohne die es keinen Schluss giebt, gehorchen. Der Gang dagegen hat keinen bestimm- ten Modulationssitz ; er kann ebensowohl durch beliebige Tonarten gehn, als in einer bleiben, kann jedes beliebige Motiv befolgen oder auch verlassen.

Dieselbe Freiheit in der Wahl des Stoffes, in seiner Anord- nung, in der Modulation, in der Ausdehnung ist dem zweiten So- natentheil eigen.

1. Inhalt des zweiten Theils.

Hat der Hauptsatz vorwiegendes Interesse, so beschäf- tigt sich der zweite Theil ausschliesslich oder vorzugsweis mit ihm. So in Beethove n's Sonate pathttique, wo nach einem aus einer Einleitung genommenen Zwischensatze (der dem eigentlichen Be- stand der Hauptmasse ganz fremd ist) der Hauptsatz oder we- nigstens ein ihm nachgebildeter Satz

(man vergleiche a mit 295) zweimal in der Oberstimme, dann (der Hauptsache, a, nach) dreimal im Bass erscheint, in 2?moll, G Z), F. B und Cmoll, und dann mit kurzer gangartiger Fortführung zum Orgelpunkt gelangt. So in der £moll-Sonate, Op. 90, in der der Hauptsatz schon im ersten Theil das überwiegende Interesse auf sich gezogen hatte; Im zweiten Theile wird erst sein Hauptmotiv (a inNo. 305), dann sein zweites (der Abschnitt e), jedes besonders, mit innigster Versenkung in den das Ganze beseelenden Sinn durch- geführt. So in der bei No. 292 betrachteten Sonate, in der beide Satze der Hauptpartie (No. 292 und 294) zur Geltung kommen.

In andern Fällen ist es der Se itensatz, der im zweiten Theil Aufnahme findet. Dies sehn wir am entschiedensten in der gros- sen Esdur-Sonate von Haydn (Anhang I. N. -yir)> wo nach einer

Digitized by

294 Xähere Erörterung der Sonaten form.

kurzen Erinnerung aus dem Schlüsse des ersten Theils der Seilen- satz in JEdur und nach einer weiten gangartigeo Ausführung aber- mals in Cdur auftritt.

Häufiger scheinen die Fälle, in denen Haupt- und Seiten- satz mit einander benutzt werden. Dies ist im Grunde schon bei der eben erwähnten Komposition zuzugestehn; zwar tritt der Seitensatz auf das Entschiedenste als Hauptsache hervor, doch fin- det im Gang auch eine Partie des Hauptsatzes Gelegenheit, sich gel- tend zu machen. Umgekehrt dient in der Cis moll-Sonate [No. 304) das Motiv des Hauptsatzes zur Einleitung, um von der Ober- zur Unterdominante zu bringen. Hier wird der Seitensatz vollstän- dig in der Oberstimme vorgetragen, in der Unterstimme mit einem Schlussfall nach Gdur, hier mit einer Wendung nach Ci-smoll wie- derholt, und unter Benutzung seines letzten Motivs gangartig auf die Dominante zum Orgelpunkt geführt.

Dasselbe sehn wir in der bei No. 301 betrachteten Fmoll-So- nate. Der erste Theil hat in .dsdur geschlossen, der zweite tritt mit dem ersten Abschnitte des Hauptsatzes (No. 301 a) in demsel- ben Ton auf, stellt sich unter Wiederholung des letzten Taktes auf die Dominante, wiederholt da den Abschnitt a und geht, wieder mit Wiederholung des letzten Taktes, auf die Dominante von 2? moll, also in die Unterdominante des Haupttons. Hier nun tritt der Seitensatz acht Takte lang mit einer Wendung nach Cmoll (Oberdominante des Haupttons) ein, wird da zweimal zwei Takte lang (No. 346 wiederholt) von der Oberstimme, wieder zwei Takte lang vom Bass, nochmals von demselben auf der Dominante von 2? moll und aber- mals auf der von l.s inoll (das Moll der Parallele, ein schritt- weises Hinabgehn von C nach B nach As moll) aufgestellt, und nun ganz gangmässig auf den Orgelpunkt geführt, wo zuletzt ein Motiv des Hauptsatzes [a in No.303) zu demselben und damit in den driüen Theil einladet.

Auch in der grossen Fmoll-Sonate (S. 263) geht Beethoven denselben Weg. Der erste Theil hat in As moll geschlossen; der zweite tritt in einer Wendung von da nach J^dur (as-ces-es, gis-h-dis, gis-h-e) mit dem Hauptsatz auf und bildet nun aus dem Hauptmoment desselben

eine Satzkette, die von hier aus, von zwei zu zwei Takten abwech- selnd in Ober- und Unterstimme den Satz aufstellend (die ersten Noten fallen in der Oberstimme weg, weil sie neben der ebenfalls bedeutsamen Gegenstimme keinen Raum finden), diesen Weg

Digitized by Google

Der zweite und dritte Theil

295

361

2,

2,

a

2,

2,

t ><=>

2.

4 Takt«.

7

b7 1

1

auf die Dominante von Desdur* geht, auf welcher orgelpunktartig die schon im ersten Theil gegebne Einleitung zum Seitensatz nur noch weiter ausgeführt , und nach ihr auf der Tonika Des der Seitensatz selber erscheint. Dieser wendet sich mit seinem Schlüsse nach ifmoll, wiederholt sich da vollständig, wendet sich ferner nach Gesdur, und führt hier erst, nach abermaliger Aufstellung seines ersten Abschnittes,

mit dem letzten Motiv (b) und dann in freien Arpeggien zum Orgel- punkt, auf dem aber sofort der dritte Theil mit dem Hauptsatz eintritt.

Und abermals dasselbe ist in Mozart's Cmoll-Sonate (No. 326) zu sehn. Hier wird nach dem Schlusssatze schon im ersten Theil der Vordersatz des Hauptsatzes in l&dur gebracht und mit einer Wen- dung auf die Dominante von Cmoll geschlossen. So dient er zuerst, um auf den Anfang (und die Wiederholung des ersten Theils) zurück-, dann, um in den zweiten Theil überzuführen. Dieser führt mit dem Hauptmotiv (a) und dem aus No. 329 bekannten Gegensatze

nach der Unterdominante, wo der erste Satz der Seitenpartie (vier Takte) auftritt, dann aber wieder das Hauptmotiv in Fmoll, auf Do-

* Beethoven verbirgt für den ersten Hinblick die letzte in No. 361 ange- gebne Harmonie, indem er um leichter gelesen zu werden in derselben statt 66 ein a setzt ; er wechselt mit den Akkorden a-c-es-ge$ und c-es-ges-bb, was oben als unwesentlich nicht angegeben worden ist.

Digitized by Google

296 Nähere Erörterung der Sonatenform.

minante und Tonika von G moll, auf Dominante, Tonika und aber- mals Dominante von Cmoll auftritt und nach kurzem Orgelpunkte (fünf Takte) der dritte Theil anhebt.

Bisweilen zieht statt des Seitensatzes der Schlusssatz ne- ben dem Hauptsatze das Interesse auf sich. Dies tritt sehr ein- fach in Be.ethoven's Z) dur-Sonate, Op. 28, hervor, in der sich der (erste) Seitensatz vollkommen dem Sinn des Ganzen gemäss, nicht aber in einer Weise gebildet hat, die ihm im zweiten Theile neben dem Hauptsatz oder statt desselben Geltung verschaffen könnte. Der edelsinnige Hauptsatz (und zwar der erste, No. 308) tritt zuerst hier wieder, in der Unterdominante Gdur, auf und wird mit anzie- hender Veränderung in Gmoll wiederholt. Nun ist das Interesse an ihn gefesselt und kann nicht sobald ihn verlassen. Die letzten Takte mit einem neuen Gegensatze

werden auf der Dominante, dann unter Umkehrung der Stimmen (so dass sich gleichsam ein kleines Fugato macht) wieder auf Tonika und Dominante ausgeführt und, von hier, meist mit dem Motiv des letzten Taktes, ein weiter Gang und Orgelpunkt auf der Dominante von H gebildet, der sehr ruhig zu Ende geht. Hiermit ist nun der Hauptsatz so weit befriedigt, dass man ihn weder weiter verfolgen, noch sogleich mit dem dritten Theil wieder bringen dürfte. Der sehr stille Seitensatz kann hier auch nicht lösen; folglich tritt für ihn der reizende Schlusssatz in 7/dur ein, wiederholt in //moll, und nun wird mit Wiederholung seines letzten Gliedes zum Hauptton und in den dritten Theil gegangen.

Noch schneller mischt die Es dur-Sonate Gedanken des Haupt- und Schlusssatzes. Nach dem ersten des Hauptsatzes (No. 353 a) und einem freien Achtelgang zweier Stimmen wird ein ziemlich weit geführtes Spiel mit einem Motiv des Schlusssatzes geübt und dann wieder zweimal auf das erste Motiv des Hauptsatzes (mit neuer Fortführung) zurückgegangen.

In der C dur-Sonate (No. 306) dient der letzte Abschnitt des Schlusssatzes zur Einführung (von 2? moll und Cdur) in die Unter- dominante, wo der Hauptsatz auftritt, der mit Hülfe eines Gangmo- tivs, das im ersten Theil an den Seitensatz anschloss, auf den Or- gelpuukt und zum dritten Theile leitet.

Und so sehn wir endlich in der grossen 5-Sonate (Op. 106 im zweiten Theile die umfassendste Benutzung der Hauptpartie und des Schlusses ; so müssen wir uns hier ausdrücken, weil dieses

Digitized by Google

Der zweite und dritte Theil. 297

umfassendste aller Klavierwerke neben mehrern Sätzen der Haupt- und Seitenpartie auch zwei Schlusssätze, einen zur Beruhigung nach dem hoch gesteigerten Seitensatze, den andern zu muthvollerm Abschluss und Fortschritt in den Wiederanfang und in den zweiten Theil, aufstellt. Der letzte Schlusssatz (Gdur), der noch einen Anklang an das erste Motiv des Ganzen nach sich gezogen hatte, führt uns zu Anfang des zweiten Theils nach Cmoll und Es&uv. Hier wird aus jenem ersten Motiv (die vier ersten Noten in No. 340) ein weit geführter Nachahmungssatz erst zweistimmig,

dann drei- und vierstimmig gebildet, der zum ersten Schlusssatz in tfdur führt und in derselben Tonart wieder anhebt, um nach üdur und sofort in den dritten Theil fortzugehn*.

So mannigfaltig die Benutzung des Inhalts, so mannigfach ist

2. die Modulation

des zweiten Theils. Allerdings bestehn im Allgemeinen die modu- latorischen Grundsätze fort. Man wird also im zweiten Theil nicht die dem ersten und dritten Theil angehbrigen Töne, den Hauptton und in Dur die Dominante, in Moll die Parallele, hervortreten las- sen, oder letztere nur dann, wenn sie im ersten Theil nicht zur Anwendung gekommen sind. Ferner wird man sich eher zu den nächstverwandten und nächstnöthigen, als zu entferntem Tonarten hinwenden. Allein hiervon sind im Bewegungstheile mehr als ir- gendwo sonst zahlreiche und die freiesten Abweichungen mög- lich und statthaft, sobald sie in dem Gang und Inhalt des Ganzen ihren Grund haben. Es bedarf hierzu keiner ferneren Beläge, da deren schon genugsam im Vorhergehenden gegeben sind; eben so wenig dürfen wir uns nochmals über die Beweggründe zu fremdern Modulationen einlassen, Uber die schon im Bisherigen so viel Aufklä- rung gegeben ist, als die Formlehre ohne Ergründung des be- sondern Inhalts der Kunstwerke darbietet.

B. der dritte Theil

hat vornehmlich die Wiederholung des ersten zur Aufgabe, je- doch bekanntlich in der Weise, dass auch die Seitenpartie in den Hauptton gestellt wird. Allein wir dürfen dabei nicht aus den Augen lassen, dass er im engsten Verbände steht mit dem vorher-

* Hierzu der Anhang L.

Digitized by Google

298 Nähere Erörterung der Sonaten form.

gehenden zweiten und ersten Theile, mithin auf deren Gang ort- während Rücksicht nehmen und nötbigcnfalls das, was in jenem hat versäumt werden müssen, ersetzen muss. Dies aber kann in der mannigfaltigsten Weise geschehn, wovon wir nur wenig Beispiele zur Anregung weiterer Forschung geben.

1.

In der Fdur-Sonate (No. 302) war der erste und anziehendste Gedanke der Seitenpartie ohne hinlängliche modulatorische Vorberei- tung (S. 291) aufgetreten und dem Hauptsatze so nah verwandt, dass man ihn eher zur Hauptpartie zählen möchte, wenn nicht die Ton- art selber widerspräche. Der dritte Tbeil benutzt dies; er hängt diesen zweifelhaften Satz sogleich an den Hauptsatz, so dass beide eine durch kein Yermittlungsglied erst an einander gehängte, sondern unmittelbar verschmolzne Masse, gleichsam einen einzigen Ge- danken bilden. Erst mit diesem Seitensalze wird dann zur Domi- nante gegangen und von da an regelmässig weiter.

2.

Die Sonate pathetique hat ihren Seitensatz (No. 351' von Cmoll aus nicht in iftdur, sondern in 2&moll aufgestellt, und ist erst später nach Iftdur gegangen; im zweiten Theil ist sogar £moll als Hauptmoment der Modulation erschienen, weil in ihm der Hauptsatz aufgeführt wird. Der dritte Theil geht vom Hauptsatz in Cmoll nach der Unterdominante Fmoll, um hier den Seitensatz zu bringen; erst die Wiederholung desselben geschieht in Cmoll. Mit jener Wen- dung ist der Seitensatz eben so scharf in sein eignes Licht gestellt, wie im ersten Theil durch sein Issmoll, es ist aber zugleich der Hauptton (Th. I, S. 248) befestigt. Demungeachtet wird wohl nicht ohne Rücksicht auf das Vorangegangne zuletzt in einem An- hange noch einmal auf die Einleitung und den Hauptsatz, natürlich im Hauptton, zurückgegangen.

3.

In der Cis moll-Sonate ist der Hauptgedanke (No. 304) bei aller Energie seines Inhalts (oder vielmehr um derselben willen) ein- fach auf das eine Motiv seines Vordersatzes gestellt und der begin- nende Nachsatz fast nur eine Wiederholung des erstem. Der dritte Theil wirft diesen Nachsatz ganz weg und geht von dem breiten Schlüsse des Vordersatzes nach Sonatinenart unmittelbar zum Sei- tensatze. Nun aber wird nach vollständiger Ausführung des Seiten- und Schlusssatzes in einem Anhange das Motiv des Hauptsatzes nochmals in die Unterdominante gestellt, und der Hauptgedanke der Seitenpartie mit neuem Ausgang und zuletzt dem alten Schlusssatz im Haupttone wiederholt. Es ist, nur aus anderm Grunde, dieselbe Gestaltung, wie oben bei 1.

Digitized by Google

Der zweite und dritte Theil.

299

4.

In der grossen Cdur-Sonate (No. 306) war der Seilensatz be- kanntlich (S. 269) in £dur aufgetreten und der erste Theil in £moll geschlossen worden. Abgesehn von der tiefern Begründung dieser Wendung muss man diese sofort für auffallend und schon durch ihre Fremdheit reizend anerkennen. Sie darf also im dritten Theile nicht verloren gehn; der Seitensatz würde hier gegen den ersten Theil einbüssen, wenn er gleich normal in Cdur aufträte. Nun ist jenes ii'dur im ersten Theil (S. 269) eigentlich statt EmoW und dieses statt Gdur gesetzt. In gleicher Weise tritt im dritten Theil der Seitensatz in i4dur (statt ,1m oll, statt Cdur) auf; hier aber bleibt er nicht (wie im ersten Theil in Isdur), sondern wird sofort in - 1 1 1 1 oll mit einer Wendung nach C und dann noch zweimal in Cdur wiederholt, macht also thatsächlich den Weg, den wir gedan- kenmässig dem Komponisten zugeschrieben hatten*, durch. Dann folgt das Weitere ganz normal ; da aber der sinnig-ruhige Schluss- satz für das glänzende, feurig bewegte Ganze keinen befriedigenden Ausgang gewährte, so wurde mit ihm nach Des dur (Anfangs der Sonate von C nach B und von C nach D) gerückt, hier der Haupt- satz und, nach einer weiten Ausführung, nochmals im Haupttone der Seiten- und zuletzt der Hauptsatz gebracht. Dieser umfassende An- hang gebührte dem reichen und kühn modellirten Satze.

5.

Das Gleiche sehn wir in der Gdur- Sonate. Ihr Seitensatz war im ersten Theil (No. 346) in //dur und //moll aufgetreten; im dritten Theil erscheint er daher in £dur und JS'moll, wird aber dann noch zweimal in Gdur aufgestellt. Hiermit ist aber der Haupt- satz in bedenklicher Weise zurückgedrängt, um so mehr, da er zu- vor nicht, wie im ersten Theile, wiederholt worden. Folglich wird nun in einem Anhang zuerst der ihm angehörige Gang (No. 323) mit dem breiten Halbschlusse wieder gebracht, dann aus dem Haupt- motiv selber

r

* Noch einmal sei das Missverständniss zurückgewiesen, als nähmen wir an, der Komponist habe sich seinen Weg in logischer Vollständigkeit und Um- ständlichkeit herausgedacht. Ihn hat wohl nur der Glanz und überhaupt der Sinn seines Seitentons (£dur) mächtig angezogen. Dass dies aber kein ver- führerisches Blendwerk, keine Verirrung gewesen, zeigt sich eben bei der ge- dankenmässigen Prüfung.

Digitized by Google

300 Nähere Erörterung der Sonaten form.

ein reizend zarler und das launig-gaukelnde Getriebe des Hauptsatzes zuletzt noch mit innigerer Rührung durchhauchender Schluss gebil- det, bei der anziehendsten Verwandlung doch dem Grundton der Stimmung treu, wie sich etwa mitten im muthwilligen Kindergetän- del sinnigere Schwärmerei, die eher dem jungfräulichen Alter eigen, überraschend ahnen lässt, doch bald wieder in der spiegelhellen Kinderlust verschwunden ist.

6.

Die weitumfassende Udur-Sonate (No. 340) setzt auch im drit- ten Theil ihre kühne Modulation durch. Der erste Hauptsatz tritt im Hauptton, der zweite in Oes dur, dann wieder der erste in tfmoll (Unterdominante von Fis—Ges) auf; von hier kehrt die Modulation in den Hauptton zurück, in dem nun erst die vollständige Seiten- partie, unterstützt von einem weiten, aus dem Hauptmotiv des ersten Gedankens machtvoll herausgebildeten Anhang, die befriedigende mo- dulatorische Abrundung und Ruhe herstellt.

Digitized by Google

Sechste Abtheilung.

Mischformen und verbundne Formen.

In dieser Abtheilung fassen wir zweierlei, streng genom- men nicht zusammengehörige Gegenstände zusammen, weil beide nur einer leicht fasslichen und, nach dem Studium alles Voran- gegangnen, leicht anwendbaren Einweisung bedürfen. Wir haben es hier noch mit zwei Reihen von Formen zu thun.

Die erste bringt solche Tongebilde, die aus der unvoll- ständigen Anwendung einer der bisherigen Formen hervorgehn, mithin nicht bestimmt sind, für sich selber und durch sich allein zu befriedigen, die nicht selbständig sind, sondern auf ein andres und befriedigendes Tongebilde hinzuführen; ferner solche Tongebilde, die aus der Vermischung der bisher aufgewiesnen rei- nen Formen hervorgehn. Wir werden hier die Einleitung , das sonatenartige Rondo, und die figurale und fugenartige Sonate kennen lernen.

Die zweite Reihe zeigt die Verknüpfung zweier oder mehrerer selbstündiger oder unselbständiger Tongebilde zu einem grössern Ganzen. Hier haben wir die Sonate und die Phanta- sie kennen zulernen und die Verknüpfung der Einleitung mit Hauptsätzen zu beobachten ; noch andre Kombinationen und Gestal- tungen, die gar wohl für die Klavierkomposition anwendbar wären, bleiben der Lehre vom Orchestersatz vorbehalten, weil sie sich bis jetzt nur in diesem gezeigt haben.

Die tiefere Lehre von der Verbindung der Formen, namentlich von der Sonate, kann nicht hier, sondern nur in der Musik- wissenschaft gegeben werden; hier haben wir es nur mit der Formenlehre zu thun.

Erster Abschnitt. Die Einleitung.

Die Einleitung oder Introduktion ist bekanntlich, wie schon ihr Name zeigt, bestimmt, auf einen andern Satz, der als Hauptsache gilt, vorzubereiten und hinzuführen. Sie ist also nicht um ihrer selbst willen da, kein Selbständiges, für sich selber Befrie- digendes, sondern nur zur rechten oder kräftigern Auffassung eines andern Satzes, zur Anregung und Stimmung des Hörers (und vor ihm des Komponisten) bestimmt. Das Aeusserlichste, was ihr hier-

Digitized by Google

302 Mischformen und verbundne Formen.

nach obliegt, ist : auf die Tonart des Hauptsatzes durch deren An- gabe vorzubereiten ; das Tiefere : auf den Sinn, in die Stimmung desselben einzudringen, oder dieselbe durch den Kontrast, da- durch, dass zuvor eine entgegengesetzte oder doch verschiedne an- geregt wird, im Voraus zu erhöhn, zu schärfen.

Nach diesen Andeutungen über die Bestimmung des einleiten- den Tonsatzes ergeben sich die Formen, in denen er auftritt, sehr leicht.

Als unterste Form der Einleitung ist der vorspielartige Eintritt unmittelbar im Ton und Tempo des Hauptsatzes anzusehn. Eine solche haben wir schon Th. II, No. 34 bis 33 kennen gelernt; die einleitenden Takte sind nichts, als ein fast melodieloses, nur akkordisches Vorspiel, ohne nähere Beziehung auf den nachfolgenden Liedsatz. Ob dieser geringe und leicht fassliche Satz einer vorbereitenden Einleitung bedurft hätte oder nicht, das ist uns hier gleichgültig; genug, die Einleitung ist da und führt wenigstens in Tonart und Taktmaass ein.

Aehnliche Einführungen haben wir bei Beetho ven's Sonaten Op. 7 und 106 gefunden. In der erstem (No. 353) tritt der eigent- liche Hauptsatz erst mit dem vierten Takte (bei b) ein ; die vorher- gehenden vier Takte (o) gehören zu diesem Satze nicht, sind auch harmonisch und melodisch zu wenig entwickelt (sie haben nur einen Akkord, also nicht die kleinste Bewegung oder Gegenstellung von einem Akkorde zum andern), als dass sie als Satz gelten könnten. Sie sind bloss Einleitung in Ton und Bewegung des Hauptsatzes. Dasselbe gilt von den vier ersten Takten der Ä-Sonate, No. 340; sie sind, wenn auch bedeutender als die erstem, doch wesentlich nichts Andres. Beide Einleitungen werden Übrigens, wie wir schon wissen, im Verlaufe des Hauptsatzes mehrfach benutzt. Auch das Finale der Beetho ven'schen Fmoll-Sonate (Op. 57) wird in ähnlicher Weise, wenngleich umständlicher, eingeleitet. Das vor- hergehende Andante in Des dur macht einen Trugschluss auf dem verminderten Septimenakkorde von Fmoll. Dieser Akkord wird zwei- mal, mit Halten verlängert, angegeben, dann hiermit tritt das Finale Allegro ma non troppo ein rhythmisirt wiederholt (o) ,

und nun folgt ein ganz neues Gangmotiv (6), das, in der tiefern Oktave wiederholt, gangartig weiter auf die Dominante, abermals weiter auf die Tonika des Haupttons und damit in den Hauptsatz des ' Finale führt, in dem es als Gegenstimme fortwirkt.

Digitized by Google

Die Einleitung. 303

Die höhere Form der Einleitung ist nun ihre durch Tempo, bisweilen auch durch Tongeschlecht und Taktart vom Hauptsatze losgelöste Aufstellung.

In solcher abgesonderten Einleitung besinnt und sam- melt sich der Komponist für den Hauptsatz ; in der Regel hat also die Einleitung langsamere Bewegung.

Der Eintritt der Einleitung ist in modulatorischer Hinsicht frei: er kann mit jedem beliebigen Akkorde, kann in fremder Tonart anheben. Aber der Schluss der Einleitung fällt in der Regel auf die Dominante des Haupttons, weil von ihr aus der Hauptsatz im Hauptton am geläufigsten und zum Besten vorbereitet eintritt. So hebt z. B. Beethoven die Einleitung seiner grossen C moll-Sonate (Op. 411) in einem Maestoso (der Hauptsatz ist ein Allegro con brio ed appassionato) in Gmoll

1

-P

i - 1

r »/ ------

ff

0^=* •«-•■ 0

;> «

Hrri

resc. # --

1 ■»"* #

4 §—

^ /

F

V%J

i u y

P #

F

mit dem verminderten Septimenakkord, zuletzt mit einer Andeutung von Gdur oder Cmoll? an.

Was nun näher den Inhalt der Einleitung und dessen Aus- gestaltung, die Form, betrifft : so spricht sich in ihm die eigentliche Bedeutung der Einleitung deutlich aus.

Der Komponist setzt sich in ihr gleichsam in die Verfassung zu seinem beginnenden Werke; er setzt fest, dass nun dasselbe beginnen solle, hat also entweder sich in dem Tonreich über- haupt erst eine Stätte gleichsam zu suchen, dann gestaltet sich, mehr oder weniger umschweifend, die Einleitung präludienhaft aus einer Reihe von einfachen oder figurirten Harmonien, aus einem ein- oder mehrstimmigen Gange. Oder es ist schon ein be- stimmter Gedanke, den er erfasst, der also die Form eines solchen, also mindestens Satz form haben muss; dann erst bildet sich eine wirkliche, festen, positiven Inhalt habende Einleitung.

Dieser Gedanke der Einleitung ist aber nicht der hauptsäch- liche, welcher letztere vielmehr erst im Hauptsatze gegeben und durchgeführt werden soll ; er ist im Verhältniss zur Hauptsache der Nebengedanke, als einführender ungefähr in ähnlichem Ver- hältnisse, wie der Schlusssatz, der in den höhern Rondo- und So-

Digitized by Google

304

Mischformen und verbundne Formen.

natenformen zur festern Abrundung dient. Daher nimmt der Ge- danke der Einleitung in der Regel Satzform und keine der hö- hern und umfassendem Gestaltungen Periode u. s. w.) an. So war der vorstehende Beet ho ven'sche Gedanke (No. 368) ein Satz; so wird die Sonate pathetique mit einem wenn auch weiter aus- geführten — Satze begonnen, Grave.

?7T7 r

0 2 7

der in der Parallele schliessl.

Allein, wenn auch der Satz der Einleitung nicht der vor- nehmste, nicht oder nicht in den meisten Fällen der Kern des ganzen Werks sein soll, so ist er doch der erste, von dem der Komponist ergriffen, der vom Komponisten in der ungebrochnen Energie des ersten Wurfes gefasst und hingestellt wird. Und dies letztere geschieht überdem in dem Vorgefühl, mit dem Bewusstsein, dass man über den Satz hinausschreiten, dass er weichen müsse der kommenden Hauptsache. Beides bedingt nun den Inhalt und die Verwendung des Einleitungssatzes. Er bildet sich in der Regel scharf und stark, sein Motiv festhaltend und nachdrücklich ausprä- gend, ja nicht selten schroff aus, in der ganzen Ilerbigkeit und Sprödigkeit des ersten Angriffs und im Gefühl des Bedürfnisses, schnell zur Vollendung und entschiednen Wirkung zu kommen.

Beiden vorstehenden Beispielen wird man den oben bezeichneten Karakter in grösserra oder geringerm Maasse zuerkennen, zumal wenn man sie mit den Gedanken des nachfolgenden Hauptstücks [zu No. 369 vergleiche man No. 295) vergleicht. Selbst die weh- müthig stille, von ängstlichem Vorgefühl der Trennung eingegebne Einleitung zu Beethoven's unvergänglichem Seelengemälde, der Sonate ,,Les adieux, Vabsence, le retour",

Adagio.

S70 <

P espr.

£ £3

r

Digitized by Google

Die Einleitung.

305

spricht sich in schärfern Accenten und gesteigert aus, während im nachfolgenden Hauptsatze derselbe Gedanke

zwar harmonisch gewichtiger, aber in allen Stimmen fliessender, in der Melodie gleichmässiger und sinkend, im Rhythmus weniger scharf und bald zu noch grösserer Ruhe gewendet erscheint.

Dass demungeachtet in besondern Stimmungen auch das Entge- gengesetzte stattfinden, ein sehr stiller, zarter Satz zur Einleitung in einen scharf gezeichneten, mächtig oder leidenschaftlich gebildeten Hauptsatz dienen und durch den Gegensatz denselben noch in seiner Wirksamkeit fördern kann, soll nicht unbemerkt bleiben. Ein wenig- stens einigermassen passendes Beispiel finden wir in Mozart's geistvoller vierhändiger Sonate in Fmoll und dur*, deren stilles, tiefsinniges Adagio

wenigstens in den einzelnen Zügen nicht so scharf gezeichnet ist, als der nachfolgende Hauptsatz, obwohl es den Grundkarakter der Einleitung jedenfalls insofern festhält, dass sein Hauptgedanke in Einem Zuge mit voller Bestimmtheit und Befriedigung hervortritt, während der Inhalt des nachfolgenden Hauptstückes vielmehr in dem ganzen Verlauf desselben zur Entwickelung kommt.

* No. i im siebenten Hefte der Breitkopf-Hörtel'schen Ausgabe (No. 3 der neuen Einzelansgabe).

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 20

Digitized by Google

306

Misch formen und verbundne Formen.

Ein solcher bestimmt und scharf hingestellter Einleitungssatz, zumal wenn er sich modulatorisch nicht ruhig entfaltet, wie No. 372, sondern wie wiederum im Karakter der Einleitung liegt in kühner oder umhersuchender Modulation erst dem rechten Stand- punkte, dem Hauptton, zustrebt, bedarf in der Regel der Wieder- holung, — bisweilen der mehrmaligen, so wie er aus gleichem Grunde zu nachdrücklichem Festhalten der Motive geneigt ist, um sich recht eindringlich auszusprechen, bevor er für immer oder für längere Zeit dem Hauptsatze weicht. So wiederholt sich No. 368, nachdem es sich von Gmoll nach der Dominante von C gewendet, buchstäblich in Cmoll mit einer Wendung in die Domi- nante von F; No. 369 wird ähnlich in der Parallele, £sdur, auch No. 370 wird, zu noch schmerzlicherm Ausdrucke gesteigert und noch unruhiger modulirend, wiederholt, während in jenem Mo zar lo- schen Satze (No. 371) schon der volle Ausdruck seines Inhalts ge- funden war und mit Recht ohne Wiederholung weiter geschritten werden konnte.

Ist nun der Satz der Einleitung genügend ausgesprochen, so muss er verlassen, es muss von ihm zum Hauptsatze vorgedrungen werden. Folglich bedarf es eines Ganges, und zwar (S. 303) in der Regel auf die Dominante des Haupttons.

Dieser Gang wird in der Regel aus dem Satze hervorgehn und in gedrängter Kürze zu seinem Ziele führen. Doch kann er sich auch satzartig weiter ausspinnen, wie in dem Moz art'schen Ada- gio der Fall ist, oder er kann, wenn der vorangehende Satz kein günstiges Motiv zu seiner Anknüpfung darbot, sich aus neuen Mo- tiven bilden.

Der Scbluss kann orgelpunktartig zu einem Ruhemoment aus- gedehnt werden, ja, die Form eines Schlusssatzes annehmen, so Beethoven in der Cmoll-Sonate (No. 368), wo eine dritte Wie- derholung des Einleitungssatzes gangartig auf die Dominante und hier zu einem Schlusssatze führt,

373 <

*

der eine Oktave tiefer wiederholt wird.

Endlich kann mit dem Schlussakkord abgesetzt, oder von hier an in rhythmischer Bewegung, gangweise, in harmonischer Figura-

Digitized by Google

Das sonatenartige Rondo

307

lion ohne Unterbrechung zum Hauptsätze fortgegangen werden. Dies Alles bestimmt .sich nach dem Sinn des Ganzen und kann nach allem Vorausgegangnen keiner weitern Erörterung bedürfen.

Zweiter Abschnitt. Das sonatenartige Rondo.

Die höhern Rondoformen und die Sonatenform haben wir bereits als nächstverwandte kennen gelernt, ja, es haben sich im Laufe der Untersuchung schon Momente gezeigt, z. B. in den neuen Einlei- tungssätzen zum zweiten Sonatentheil und in den in den Anhängen E. und L. betrachteten Kompositionen, wo eine Form Miene machte, in die andre überzugehn. Schon damals konnte man errathen, dass die beiden an einander gränzenden Formen sich irgendwo auch ver- mischen, — ihren Unterschied aufheben würden. Dies bleibt uns hier an einigen Beispielen zu betrachten, deren erstes noch nicht als Mischform, sondern als erklärender Uebergang zu derselben an- zusehn ist.

Wir entnehmen dieses erste Beispiel dem Finale der rei- zend beredtsamen Gdur-Sonate Op. 14 von Beethoven. Dieses Finale ist ein Rondo dritter Form.

Der Hauptsatz bildet sich in anmuthiger fast barocker Laure aus diesem Motiv,

das, in der höhern Oktave wiederholt und einen vollkommnen Schluss auf G machend, den ersten Theil des Hauptsatzes abgiebt; den zweiten beginnt ein eben so launiges, kurz abgebrochnes Spiel auf dem Dominantakkorde, worauf das Hauptmotiv (No. 374) wieder- holt und zum Schluss geführt wird. Es folgt ein eben so kurz an- gebundner erster Seitensatz und die vollständige Wiederholung des Hauptsatzes mit seinem Schluss in Gdur. Hier hätte nun der zweite Seitensatz, in Cdur, unmittelbar eintreten können. Beethoven führt lieber das Spiel des Hauptsatzes fort, indem er den Anfang seines zweiten Theils von der Dominante auf die Tonika versetzt und so den Schlussakkord zum Dominantakkorde der neuen Tonart erweitert. Hiermit ist die Modulation noch inniger vermittelt und zugleich das barockste Spiel des Hauptsatzes mit dem sangvollern, zärtlichen neuen Seitensatze in unmittelbaren Gegensatz gebracht.

*

' Digitized by Google

30$

Mischformen und verbundne Formen.

Ist nun der Seitensatz vollständig durchgeführt, so wird nicht aus ihm, sondern durch das Hauptmotiv (No. 374) der Rückgang von Cdur in den Hauptton bewerkstelligt. Nach Vollendung des Hauptsatzes, der offenbar zu flüchtig und abgebrochen für den Schluss einer ganzen Sonate erscheint, muss nun noch ein Anhang gebildet werden. Dies leitet sich wieder, wie der Uebergang zum zweiten Seitensatz ein, führt nach Fdur, abermals zum Hauptmotiv, und endlich zu einem ganz neuen, weit ausgeführten und wiederholten Schlusssatze, nach welchem doch noch zu allerletzt das Hauptmotiv wiederkehrt.

Hier machte sich also vor und nach dem zweiten Seitensatze das Bedürfniss fühlbar, an dem Hauptsatze festzuhalten und wenn auch nicht ihn vollständig, doch seine Theile auf andre Modulations- stufen zu versetzen. Nur haben diese Theile bloss die Bestimmung, zu verknüpfen, zu vermitteln; in allen wesentlichen Partien steht die Rondoform unzweideutig fest. Dass übrigens ein ganz frem- der Schlusssatz eingeführt wird, mag ebenfalls an die Sonaten- oder fünfte Rondoform erinnern; es war hier nothwendig, weil Haupt- und erster Seitensatz zu flüchtig zum Abschluss, der zweite Seiten- satz aber zu sehr im Gegensatz mit der Grundstimmung des Ganzen war, um ein günstiges Scblussmotiv zu bieten.

Das zweite Beispiel führt uns nun die im vorigen nur an- gedeutete Mischform unzweideutig vor. Es ist das Finale der be- reits bei No. 256 angeführten Sonate.

Der Hauptsatz bildet aus diesem Vordersatz

Allegretto.

einen ersten, auf der Tonika schliessenden Theil (das Ganze hat einen bequem dahinschlendernden Sinn, der nach manchem feuri- gem Aufgähren immer wieder Herr wird) und aus diesem einfach wiederholt werdenden Satz

einen zweiten Theil, der also abermals, und zwar zweimal auf der Tonika schliesst. Der erste Theil wird in einer Unterstimme, ge- gen die der Diskant kontrapunktirt , dann auch der zweite Theil mit Umkehrung der ersten Abschnitte (o in No. 376) wiederholt,

Digitized by Google

Das sonatenartige Rondo.

309

mit dem zweiten Abschnitte (6) wird über £moll und Ddur nach ytdur gegangen. Hier wird geschlossen, auf dem Schlusston aber tritt der Seitensatz in D ein, dem sich auch ein Schlusssatz anhängt.

So weit hätten wir den Anblick eines ersten Theils der So- naten- oder fünften Rondoform vor uns; allein sofort ändert sich Alles. Beethoven hat mit dem Gang aus dem Seitensatz und mit dem Schlusssatz eine Erregtheit geweckt, die er, ohne den Sinn des Ganzen zu verletzen, nicht gewähren lassen kann. Daher kommt schon der Schlusssatz

nicht zu einem wirklichen Schlüsse, sondern wendet sich bei der Wiederholung mit dem dritten Akkorde des dritten Taktes auf die Dominante des Haupttons, die noch drei Takte lang festgehalten wird und den vollständigen Hauptsatz nach sich zieht; gleichsam wie die dritte oder vierte Rondoform, nur dass diese den Schluss- satz nicht kennen.

Allein auch diese Formen werden nicht festgehalten. Der erste Theil des Hauptsatzes wird mit einem Kontrapunkt in der Ober- stimme, ähnlich wie anfangs nur in Moll, wiederholt und dann gangartig weiter geführt nach £sdur. Hier mischt sich ein ganz neuer Satz ein,

bei dessen Eintritt man einen zweiten Seitensatz erwarten könnte. Allein auch hier würde weitere Ausführung des heftig andrängenden und einschneidenden Gedankens von dem Sinn des Ganzen entfrem- det haben. Beethoven schreitet daher wie im zweiten Theil der Sonatenform fort. Wie zuvor muss der erste Abschnitt des Haupt- satzes (a in No. 375) zu einem Gange von Es nach Craoll dienen, wo jener neue Satz (No. 378) sich wieder aufstellt, dann nach Fmoll, wo jener wieder anbebt, ohne zu Ende zu kommen. Diese Mischung aus Haupt- und neuem Satz führt endlich auf die Do- minante.

377

Digitized by Google

310

Mischformen und verbundne Formen.

Von hier folgt, ganz wie in der Sonaten- oder fünften Rondo- form, Wiederholung von Haupt-, Seiten-, Schlusssatz mit einem aus dem ersten gebildeten Anhange.

Wir sehn also eine Komposition vor uns, deren erster und dritter Theil durchaus sonatenhaft ist, deren zweiter aber

\) eine Wiederholung des Hauptsatzes wie die dritte und

vierte Rondoform, Ä) den Ansatz zu einem zweiten Seitensatze, und 3) eine sonatenartige Durcharbeitung aus dem Haupt- und dem neuen Satze bringt, unverkennbar eine Mischung von Sonaten- und Rondo- formen/die gleichsam ein thalsächlicher Beweis von der Verwandt- schaft derselben, ja von ihrem Ursprung aus einander ist, jede so weit und nicht weiter angewendet, als eben der besondre Sinn dieser Komposition rathsam macht.

Ein drittes (oder vielmehr zweites) Beispiel giebt das Fi- nale der ersten Sonata quasi una Fantasia von Beethoven, Op. 27, in £sdur.

Der Hauptsatz ist wieder zweitheilig; der erste Theil schliesst nach diesem Vordersatz

Allegro vivace.

im Haupttone, der zweite desgleichen ; aus dem ersten Abschnitte des Hauptsatzes (a), besonders aus dessen Schlüsse (b) wird ein Gang Über Cmoll und Cdur nach F gebildet, und hier tritt eine Art von Seitensatz ein

3S0

mit kaum kenntlichem Halbschlusse, der wiederholt und gangartig weiter geführt wird zu einem Schlüsse in J?dur; er ist das reine Ergebniss des ruhlosen Forttreibens, das sich schon im Hauptsatz und Gange herausgestellt hat und auch den Schlusssatz (der sich mehr akkordisch bildet) durchdringt, und sogleich über den Schluss in die Wiederholung des Hauptsatzes führt.

Allein auch hier läuft der zweite Theil gangartig aus nach Gesdur. Hier tritt nun, aus dem Hauptmotiv des Hauptsatzes her- ausgebildet, das Thema einer Doppelfuge hervor,

Digitized by Google

Das sonatenartige Rondo.

311

381

§5£

das sehr frei und nur zweistimmig kurz durchgeführt wird und gangartig zur Dominante des Haupttons leitet. Hier erscheint der Seitensatz,

382

i

4

fT3

?.w-

wird in Ces und i4smoll wiederholt, nach B und Es und auf die Dominante B geführt, und geht sofort in den Hauptsatz zurück. Von hier bildet sich der dritte Theil sonatenhaft aus.

Hier liegt uns demnach ein noch einfacherer Fall vor. Der fremde Satz, der im vorigen Beispiel an einen zweiten Seitensatz denken Hess, war hier unnöthig ; der zweite Theil hat sich streng sonatenhaft aus Haupt- und Seitensatz gebildet, und nur die Wie- derholung des Hauptsatzes zwischen erstem und zweitem Theil ist dem Rondo entlehnt; dabei müssten wir aber, abgesehn von der Bildung des ersten und dritten Theils, an ein Rondo zweiter Form (in schneller Bewegung) denken, weil von einem zweiten Seitensatz nicht einmal eine Spur sichtbar wird.

Lockerer gestaltet sich das Finale zu Dussek's Sonate »Le retour ä Paris«.

Der Hauptsatz (idsdur) legt sich spielend (obwohl der saftigen und stets an das Sentimentale streifenden Manier Dussek's getreu) in breiten Abschnitten, in drei Theilen (62 Takte lang) auseinan- der, fest im Haupttone schliessend. Ihm folgt : also schon nach Sonatenart, wo die Hauptpartie aus mehrern Sätzen bestehen kann, ein zweiter Salz (8 Takte), der auf der Dominante schliesst und dessen Wiederholung gangartig nach der Dominante Es führt.

Hier und zwar in Moll tritt der Seitensatz auf, führt aber wieder zu einem neuen Satz in Es dur, und von diesem führt ein dritter zum ersten (diesmal in Dur) zurück. Auf dem Schlusston knüpft orgelpunktartig ein neuer Gang an, nur durch die Triolen- bewegung mit dem Vorherigen in Einheit, und führt zum ersten Satze der Hauptpartie zurück.

Nach seiner vollständigen Aufstellung erscheint in der Unter- dominante (Des) in periodischer Form ein zweiter Seitensatz, dem sich nun der zweite Satz der ersten Seitenpartie anschliesst. Ein Gang führt nach dem Haupttone zurück.

Digitized by

312

Misch formen und verbundne Formen.

Hier erscheinen: zuerst (in /l.sinoll der erste Satz der ersten Seitenpartie, dann gangartig auslaufend der hauptsächliche Inhalt des ersten Hauptsatzes, endlich der dritte Satz der ersten Seiten- partie, der wieder gangartig auf die Dominante führt und den we- sentlichen Inhalt des Hauptsatzes bringt.

Ein schlussartiger neuer Gedanke leitet nun das Ende des Ganzen ein, das sich (nach Wiederholung des Gangs aus der ersten Seitenpartie) aus dem Hauptsatze bildet.

In dieser weiten Komposition (die sich in allen Theilen eben- mässig mit dem ersten Satze der Hauptpartie entwickelt hat) er- scheint vor allem die Haupt- und erste Seitenpartie normal rondo- mässig, nur dass beide aus verschiednen Sätzen bestehn, hierin also an dem beweglichen Reichthum der Sonate Theil nehmen.

Nun will sich eine zweite Seitenpartie bilden. Allein in den zahlreich vorangegangnen Sätzen ist das Satzelement schon so reich ausgeschöpft, dazu hat sich über alle Sätze, bei allem Streben nach Verschiedenheit in den Motiven, so fühlbare Monotonie aus- gebreitet: dass der Komponist mit vollem Recht Bedenken tragen musste, noch eine zweite Seitenpartie und zwar im Verhältniss zu den vorigen Partien wieder aus zwei, drei Sätzen zu voll- enden. Eben so wenig konnte, bei der Breite und geringen modu- latorischen Regsamkeit des bisher Gegebnen, sofort mit dem Haupt- satze nach zweiter Rondoform geschlossen werden. Es blieb also die sonatenartige Fortführung, die Bildung eines zweiten Sonaten- theils der günstigste Weg. Allein nun konnte es bei der Anzahl und Breite der angeregten Sätze nicht zu eigentlicher Durcharbei- tung kommen, sondern nur zu einem Aneinanderreihen von Sätzen aus verschiednen Partien ; und dies Aneinander musste um so nothwendiger in den dritten Theil oder Schluss hinübergehn, weil das Hauptmotiv bereits erschöpft, und auch keiner der übrigen Sätze zu weiterer Verarbeitung und zum Schlüsse sich geneigt er- weist.

Aebnliche Gestaltung aus gleichen Gründen weist das Finale von K. M. Weber's S. 287 erwähnter iüdur-Sonate, das der Be- trachtung des Jüngers überlassen bleibe.

Fassen wir nochmals das Wesentliche aller erwähnten oder noch hierher gehörigen Fälle zusammen, so beruht es auf einer Ver- mischung der Rondo- und Sonatenfonn, auf einer Gestaltung, die sich bald diesem, bald jenem Prinzip anlehnt, weil der Inhalt weder an dem einen, noch am andern vollkommen Genüge finden konnte. Auch hier, wie überall, ist also die Form nicht willkürlich ergriffen, oder wo es geschieht, zeigt es sich gewiss irgendwie von Nach- theil, — sondern durch den Inhalt nothwendig bedingt. Entweder

Digitized by Google

Die figurale und fugenartige Sonatenform. 313

ist der Sinn des Ganzen ein rondomässiger, wie jenes bequem da- hinsei] lendernde Finale (No. 375) von Beethoven, der aber von Zeit zu Zeit energischer und darum sonatenhaft einheitvoll sich aufrafft; oder es erweisen sich die einzelnen Partien, wie im Düs- se k'schen Falle, zu bedeutend für kleine und wiederum zu ange- füllt für grosse Rondoform, dabei aber ungeeignet für rechte sona- tenhafte Durcharbeitung, so dass eine Mischung aller dieser nur bedingt geeigneten Formen eintritt. Sogar in der Zusammenstellung eines grössern Ganzen kann gegründeter Anlass zu solcher Misch- form liegen ; auch dies mag wohl in beiden oben erwähnten Fällen stattgefunden haben.

Für die Lehre hat diese Mischform die wichtige Bedeutung, dass erst durch sie die beiden verwandten und doch wieder wesent- lich geschiednen Formen gegen einander frei und vollendet werden, indem jede sich so weit verfolgen lässt, dass sie in die andre über- greift, und bei noch weiterem Fortschreiten sich in die andre verwandeln mtisste. Hiermit ist also die Vollständigkeit der beiden Formengebiete nach ihrer Richtung gegen einander erwiesen.

Zugleich ist hiermit gerechtfertigt, dass diese letzten Gestalten weder bei dem Rondo, noch bei der Sonatenform, sondern erst nach beiden behandelt worden.

Dritter Abschnitt.

Die flgurale und fugenaiüge Sonatenform.

Schon vielfältig haben wir bei der Sonatenform Erinnerungen an die Fuge, Benutzung dieser energischen Gestaltungs weise ge- funden, noch zuletzt in jenem Beethoven'schen i&dur-Finale bei No. 381. Die Fugenarbeit trat zunächst da in die Sonatenform, wo diese sich zu ihrer höchsten Energie erhob, wo sie ihre Gedan- ken oder einen derselben stetig durcharbeitete, im zweiten Theile. Dagegen traten im ersten und dritten Theile die Sätze mehr lied- förmig, und in ihrer Verknüpfung mehr rondomässig (mit den schon bekannten Unterschieden vom eigentlichen Rondo) , nämlich an ein- ander gereiht, als fugenmässig, nämlich durch und mit einander ver- arbeitet, auf.

Allein ein Fugenthema oder das Doppelthema einer Doppelfuge ist auch ein Satz, und eine ganze Durchführung ist ebenfalls für eine zusammengehörige Partie, mithin für geeignet zu achten, den

Digitized by

314

Mischformen und verbundne Formen

Haupt- oder auch Seitensatz in der Sonaten form abzugeben ; gleichviel für jetzt, ob man sich oft oder jemals geneigt finden wird, eine so energische Form für den Seitensatz zu verwenden, da der Natur der Sache nach (S. 282) die höchste Energie dem Hauptsatze zuföllt.

Ja, endlich wissen wir längst (Th. II, S. 193), dass auch die Fi- guralformen fähig sind, selbständig abgeschlossne Massen, die also für Partien, im freien und höhern Sinn des Wortes für Sätze geachtet werden dürfen, zu bilden. Wir sehn voraus, dass dergleichen Mas- sen ebenfalls Partie eines Sonatensatzes sein können ; und so öffnet sich hier wieder ein weiter Gesichtskreis , eine grosse Reihe von Gestaltungen, die ihren Ursprung aus einer Verschmelzung der Fi- gural- und besonders Fugenform mit der Sonatenform haben , die sich (wie wir an dem Bee tho ven'schen Beispiel S. 310 gesehn) in das sonatenartige Rondo hinein verlieren, dem eigentlichen Rondo aber, bei seiner Neigung zu satzartiger und liedförmiger Abrun- dung, fern wenn auch nicht absolut versagt bleiben.

Allein von diesen Formen wird, wenn wir unserem jetzigen Kreise treu bleiben wollen, hier nur Weniges zur Sprache kom- men. Bei der Unfähigkeit des Klaviers, polyphone Sätze mit sol- cher Fülle und Wirksamkeit zur Aussprache zu bringen , wie das Quartett, Orchester und der mehrstimmige Gesang vermag, sind jene Mischformen weit weniger in Klavierkompositionen, als in Or- chester- oder auch Quartettwerken angewendet worden. Eher hat man sich bereit gefunden , ganze Sätze einer Klavierkomposition etwa der Fugenform zu überweisen, wie z. B. Beethoven die Fi- nale's der Sonaten Op. 106 und 110, als die eine Partie eines Sonatensatzes mit allen Mitteln des Klavierspiels satzartig, und die andre in ungünstigerer Ausgestaltung fugenartig zu bilden.

Die erschöpfendere Behandlung dieser Formen überlassen daher auch wir dem wohl begründeten Beispiel der Praxis folgend der Lehre vom Instrumentalsatz im vierten Theile des Lehrbuchs, und werfen (mehr zur Erinnerung und Anfrage) nur auf drei Kla- vierwerke einen flüchtigen Blick.

Das erste ist der Hauptsatz der schon S. 305 erwähnten Sonate* von Mozart. Nach einem im selben Tempo einleitenden homophonen Satze, der uns hier nicht angeht, tritt als eigentlicher Kern der Hauptpartie der erste, bald gangartig auslaufende poly- phone Satz auf,

* Die Sonate ist vierhändig geschrieben und soll ursprünglich für ein mechanisches Flötenwerk bestimmt gewesen sein ; der Inhalt, so anziehend er durchaus, so grossartig er stellenweis ist, widerspricht dem nicht.

Digitized by Google

Die figurale und fugenartige Sonaten form.

315

Allegro.

der ganz normal über G nach Cdur zum Seitensatze führt. Auch dieser

384 <

ist polvphon gestaltet; er führt gangartig zum Schlüsse des ersten Theils.

Weiter ist hier nichts zu bemerken. Der einleitende Satz führt in den zweiten, dann in den dritten Theil, macht sich auch am Schlüsse nochmals geltend; dass der zweite Theil figurativ gebildet, versteht sich von selbst, da er im ersten Theile keinen andern Inhalt für sich vorgefunden; kurz, das ganze Tonstück ist durchaus sonatenförmig, nur dass seine Sätze vorherrschend poly- phon sind, wie die Sätze der eigentlichen Sonaten (z. B. No. 379) beiläufig. Es mag gelegentlich erinnern an polyphone Satzbildung ; reifere Ergebnisse des hier bloss Angedeuteten bringt, wie gesagt, der vierte Theil.

Das zweite Werk ist der erste Satz von Beethove n's Cmoll-Sonate, Op. 4M.

Hier tritt folgender Satz

erst einleitend und gangartig verlaufend, dann in vollkommner ho- mophoner Ausgestaltung

386

jT-ig-if-fg

auf, wird wiederholt und weiter zum Schluss geführt.

Digitized by Google

316

Mischformen und verbundne Formen.

Aber so bedeutsam und gewichtig er ist, so wenig verlangt er und der Sinn des Ganzen, den wir hier jedoch nicht mit erwä- gen können, weitere satzartige und damit vorherrschend homo- phon Ausbildung ; eher würde er, wie sich schon anfangs gezeigt hat, gangartig weiter gehn, wenn das nicht noch zu früh und zu oberflächlich für das Ganze wäre. Auch ein neuer Satz kann noch nicht eintreten, denn jener gewichtige Gedanke ist noch nicht durch- gesprochen. Folglich bildet Beethoven aus seinem Hauptgedan- ken ein Doppelthema,

387

I

das mittels seines letzten Gliedes (a) weiter nach 2&dur geführt, hier in der Umkehrung wiederholt, und nach As dur geführt, hier abermals umgekehrt wiederholt wird.

Das ist der Hauptsatz. Nach der ersten homophonen Auf- führung ist er polyphon geworden und bietet den Anblick einer Fugendurchführung, nur dass die Eintritte der Stimmen, der ganze Modulationsgang von der Fugennorm durchaus abweichen. Der mächtige, sturraartige Einherschritt des Ganzen gestattete nicht jenes Fugenschaukelspiel zwischen Cmoll und Gmoll, sondern führte vom Haupttone sogleich in die überlegne Dur-Parallele. Nun konnte zum Schluss nicht mehr in diese übergegangen werden, folglich ver- senkte sich Beethoven in deren ernstere Unterdominante.

Hier erscheint der durchaus homophone Seitensatz. Er ist nothwendig, damit man nach dem Sturm des Hauptsatzes getröstet aufathme ; aber nur Einen Moment der Beruhigung kann er gewäh- ren, jenen mächtigen Grundgedanken und Grundzug nicht länger aufhalten. Derselbe tritt vielmehr (unter einer Gegenstimme in Sechzehnteln harmonischer Figuration) breiter und mächtiger im Basse, dann reicher in den Gegenstimmen ausgebildet

388

I

i

i

-m-

3

4*

tr

im Diskant auf und beschliesst so den ersten Theil.

Digitized by Google

Die figurale und fugenartige Sonaten form.

317

389

Der zweite Theil führt mit demselben Gedanken in die zuvor versäumte Dominante Gmoll und bildet hier aus dem ersten Thema (No. 385) und der Vergrößerung seines ersten Abschnitts wieder ein Doppelthema,

(Eine Oktave tiefer.) tr

das, in fortwahrenden Umkehrungen auf Gy C, Fmoll auftretend, wieder den Anblick einer freien Fugendurchführung gewährt, gang- artig auf die Dominante zum Orgelpunkt und von da in den dritten Theil führt. Hier wird der Hauptsatz vorerst wieder homophon aufgestellt, dann in derselben Weise wie im ersten Theile nach Fugenart, jedoch ganz frei diesmal auf Fmoll, Bmoü und Desdur auftretend durchgearbeitet, worauf alles Weitere im Hauptton, wie zuvor in ylsdur, folgt.

Auch hier, wie bei Mozart, ist die Sonatenform vollkommen ausgeprägt (statt der Schlusssätze wird das Ende durch einen mäch- tig ausgrollenden Anhang bekräftigt), nur dass der Hauptsatz, folg- lich auch der zweite Theil von der Fugenform Wendungen und Kräfte entlehnt hat, die in der von Grund aus mehr homophonen und liedmässigen Sonatenform nicht zu finden wären. Wiederum hat sich aber die Fugenform dem Sinn des Ganzen und seiner all- gemeinen Ausgestaltung bequemt. Namentlich hat der Komponist aus der fugenmässigen Arbeit stets wieder in das Homophone zu- rücklenken, die Modulation nicht nach den abstrakten Gesetzen der allgemeinen Fugenform, sondern nach dem besondern Sinn dieser seiner Tondichtung bestimmen, in den polyphonen Partien aber sich an der Zweistimmigkeit gentigen lassen müssen, da die Eigenschaften des Klaviers (S. 22) keine mehrstimmige Durchführung in solcher Energie, wie dieses Werk vor vielen foderte, gestatten.

Das dritte Werk ist das Finale von Beethoven's Fdur- Sonate, Op. 10. In diesem reizenden Fa-fresto- Impromptu wird mit Sonate und Fuge muthwilliger Scherz getrieben; die letztere nimmt sich dabei aus, wie ein Greis, den ein Kind am Bart zupft, man könnte allenfalls bestreiten, dass nur ein Gedanke an Fuge dabei sei.

Das Finale (Presto) setzt dieses Thema an,

beantwortet es auf den letzten Taktschlägen in der höhern Oktave,

/

' Digitized by Google

318

Mischformen und verbundne Formen.

dann aber wieder mit einer höhern Stimme auf der Dominante. Von hier wird mit dem Motiv der letzten Takte (o) gangartig und leicht weiter gearbeitet und mit diesem Satze

i

r r r- ^

geschlossen. Offenbar ist er ein Nachhall aus dem Thema; will man ihn Schlusssatz, oder gar Seitensatz nennen? Oder soll man ein im Gange aus der ersten Durchführung entstehendes und figurirt wiederholtes Sätzchen

m

392

(das aber offenbar aus dem Hauptsatz und seinem Gange hervor- getreten ist) für den Seitensatz und No. 391 für den Schlusssatz nehmen? Es ist alles mit einander Ein Muthwille.

Der zweite Theil stellt sich mit einem Gang aus dem verkehr- ten Motiv a in ylsdur, bringt hier zweimal das Thema (No. 390) auf der Tonika und arbeitet sich etwas eigensinnig mit demselben Motiv nach B} F, C, G, Z)moll und auf dessen Dominante A, um dann hell und hold und lieblicher gestaltet in Z)dur den Schlusssatz (No. 391, der etwaige Seitensatz No. 392 kommt nie wieder zum Vorschein) zu bringen. Mit seiner letzten Hälfte wird nun weiter gearbeitet zum Orgelpunkt auf der Dominante.

Hier bringt der dritte Theil das Thema (No. 390) in der tief- sten Oktave, mit einem frischern Gegensatze,

wiederholt es unter Umkehrung der Stimmen auf derselben Stufe, wiederholt diese ganze Partie in Gmoll, dann in 2?dur, wo das Thema zuletzt figurirt und weiter geführt wird zum Schlusssatze No. 391. Auch dieser erfahrt ausführlichere Behandlung ; und so hat sich das Ganze zu Ende gespielt und gescherzt, man würde ohne Hülfe des zuletzt dreinschlagenden Fortissimo kaum gewiss sein, das eben jetzt geschlossen wäre.

Digitized by Google

Zusammenstelluny verschiedner Sätze zu einem grossem Ganzen. 319

Dass nun diese Mischform von Sonate uud Fuge noch ganz andre Ausführungen zulässt, ist leicht zu ermessen. Auch sie und vornehmlich sie wird im vierteu Theile vollständiger in Be- tracht kommen*.

Vierter Abschnitt.

Zusammenstellung verschiedner Sätze zu einem grössern

Ganzen.

Von diesem Abschnitt aus haben wir einen Blick auf die Kla- vierkompositionen zu werfen, die aus mehrern für sich bestehenden und für sich abceschlossnen oder doch nur mit formell unvvesenl- iichen Bindegliedern an einander gehängten Tonstücken, nun wieder im weitesten Sinn »Sätze« genannt, bestehen.

Die Formen dieser einzelnen Sätze sind uns nunmehr bekannt; einzelne beiläufige Entlehnungen aus andern Gebieten (z. B. die Einmischung rezitativischer Sätze in Seb. Bach's chromatischer Phantasie und Beetho ven's /)moll-Sonate, Op. 31) können als Sel- tenheiten, die keinen wesentlichen Eintluss auf die Form im Ganzen äussern, dahingestellt bleiben. Wir haben es daher nur mit Zu- sammenstellung der Sätze zu thun; es fragt sich:

1) welche Sätze können und sollen zusammengestellt werden ?

2) nach welcher Ordnung und Weise,

3) aus welchem Grunde soll dies gcschehn?

Hier wird aber sogleich einleuchtend, dass der letzte Punkt, von dem aus offenbar auch die andern ihre letzte Entscheidung zu gewärtigen haben, auf nichts Anderem, als dem Inhalte, der Tendenz jedes besondern Werkes beruhen kann. Warum wird nach einem ersten selbständigen Satz [im obigen Sinn des Wortes), den wir komponirt und der Form nach vollkommen abgeschlossen haben, ein zweiter und vielleicht noch dritter und vierter Satz not- wendig? Was bewegt den Komponisten, seinem Werke zwei, drei selbständige und verschiedne Sätze auzusinnen ? Und worauf beruht die innere Einheit dieser Sätze, die zwar verschieden sein müssen (sonst fielen sie ja in Einen Satz zusammen), doch aber wiederum durch ein inneres Band vereinigt zu einem grössern Ganzen?

Der äusserliche Bescheid: man schreibe ein Tonstück (z. B. eine Sonate) in drei u. s. w. Sätzen, weil es eben solche Tonstücke gebe, kann uns nicht tröstlich und hülfreich sein. Er erklärt nichts, denn wie ist man jemals darauf gekommen, dergleichen Kompositionen zu bilden? und hilft uns nicht Über die Gefahr

* Hierzu der Anhang M.

Digitized by Google

320 Mischfarmen und verbnndne Formen.

einer ungeschickten und unfruchtbaren Nachahmerei, über die stete Gefahr ewigen Misslingens hinaus, die dem bewusstlo9en , unauf- geklärten Nachmachen droht.

Es ist, wie gesagt, klar, dass jene Fragen nur aus der An- schauung des Inhalts jeder besondern Komposition erledigt werden können. Wenn die Erregung, die Empfindung, die Idee des Kom- ponisten in dem einen ersten Satze nicht vollständig zur Aussprache gekommen, so bedarf es, damit dies geschehe und der Geist des Komponisten wie des Hörers sein Genügen habe, eines zweiten oder mehrerer Sülze, die mit dem ersten zusammengenommen den einen Zweck haben, also eine Einheit, ein umfassenderes Ganzes bilden, dem jeder Bestandtheil (Satz) unbeschadet seiner Abschlies- sung für sich als blosser Theil zugehört.

Ob also nach dem ersten Satze noch fernere, ob zu dem ersten oder einem andern eine Einleitung erfoderlich und welchen Zweck und Inhalt die verschiednen Sätze haben, das bestimmt sich nach dem Sinn des Ganzen. Hierbei gelangt man allerdings wieder zu Grundgedanken oder Hauptrichtungen, da gewisse Bedingungen und Verhältnisse sich in ganzen Reihen von Kompositionen wieder- holen müssen; so bildet sich z. B. für die Sonate eine gewisse Grundgestalt aus, die fast das ganze Gebiet beherrscht, und von der die seltenen Abweichungen nur als Ausnahmsfälle angesehn werden dürfen.

Allein diese ganze Erörterung muss der Kompositionslehre nach deren durchaus auf Ausübung gerichteter thatsächlicher Ten- denz versagt bleiben ; sie findet als ausschliesslich kunslphiloso- phische ihre gebührende Stelle in der Musikwissenschaft. Nur da ist sie gründlich durchzuführen ; hier kann nur so viel Notiz gegeben werden , als zur Einweisung in die Praktik erfoderlich und ohne vorgängige kunstphilosopbische Begründung möglich ist.

Vervollständigung hat auch diese Formenreihe im vierten TheiK in der fernern Instrumentallehre, zu erwarten.

Fünfter Abschnitt. Die Sonate in drei Sätzen.

Schon früher (S. 202) haben wir den Unterschied angemerkt, den wir zwischen Sonatenform, der uns nun bekannten Ge- staltung eines für sich abgeschlossnen Satzes, und Sonate, so auch zwischen Sonatinenform und Sonatine zu machen haben.

Digitized by Google

■* Die Sonate in drei Sätzen. :V21

Die Sonate ist bekanntlich eine Komposition, die aus mehrern* selbständigen, aber dann wieder als Theile eines grössern Ganzen (eben der Sonate) einheitvoll zusammengehörigen SMzen besieht.

Die Sonatine ist ein in gleicher Weise zusammengesetztes** Werk, nur von leichterem Gehalt und beschränkterer Ausdehnung.

Bei der erstgenannten Form unterscheidet man ferner die eigent- liche Sonate von der grossen Sonate; letztere hat einen be- deutendem, grossartigern Inhalt und in der Regel mehr Satze, als die eigentliche Sonate. Dass dieser Unterschied, wie auch der von Sonatine und Sonate nicht allzuschnrf durchzuführen ist, sieht man voraus; ra der That werden von Komponisten und Lehrern die Benennungen ziemlich willkürlich durch einander gebraucht, und namentlich versagt man sich für sein Werk bald den prunkenden Namen einer grossen Sonate, bald sucht man ihn hervor, um etwa jenem ein vermeintlich grösser Ansehn zu geben. Uns kann hier wie Uberall an scharfer Durchfechtung der Formgränze nichts gelegen sein; wir wissen längst, dass scharfe Abgren- zung der Kunstformen dem freien Wesen der Kunst zuwider ist und auf jeder Gränze die Formen in einander Übergehn. Eine Ab- iheiluna vollends nach der mindern oder mehrern Grossartiskeit des Inhalts ohne absolute äussere Merkmale ist gewiss nicht scharf durchzuführen, und wenn, jedenfalls ohne allen Vortheil.

Wir haben uns vielmehr auf die Unterscheidung von zwei Rei- hen der Sonatengebilde zu beschranken, die sich mit Bestimmtheit und Erfolg durchsetzen lässt. Es ist die der regelmässigen und der ausnahmsweisen Gestalt der Sonate. Die regelmässig ge- bildete Sonate besteht aus drei oder vier verschiednen Sätzen, denen sich bisweilen, als Nebensatz, eine Einleitung in den ersten oder auch letzten Satz zufügt. Sie ist es, die wir hier zuerst betrachten.

Wenn die Sonate sich aus drei Sätzen zusammenstellt, so sind dieselben in der Regel schon

durch das Tempo

von einander unterschieden ; der mittlere Satz wird in der Regel im langsamem Tempo (als Adagio, Andante u. s. w.) geschrieben, und bietet gleichsam einen Ruhepunkt, ein Moment zur innem Samm- lung zwischen den lebhaftem (als Allegro, Presto u. s. w.) ersten und letzten Sätzen.

* Bei altern Komponisten führt auch oft ein einzelner Satz den Namen Sonate, Klang- oder Tonstück.

** Auch die Sonatine beschränkt sich öfters auf einen einzigen Satz in So- natinenform, so dass dann der obige Unterschied wegfallt.

Marx, Kv/mp.-L. III. 5. Anfl. 21

Digitized by Google

322 Mischformen und verbundne Formen.

Obgleich hier auf tiefere Erörterung des Warum hat verzich- tet werden müssen, so ist doch so viel klar, dass dieser Gegen- satz von lebendigerer und gemässigter Bewegung, und der Ruhe- moment zwischen erregten Partien günstig und wohlthuend für den Hörer, naturgemäss im Gemüthe des Komponisten eintritt. Wenn er daher bisweilen weniger scharf durch das Tempo hervorgehoben wird, so sucht er sich dann durch andre Mittel zu verstärken. So ist der Mittelsatz der Fdur-Sonate von Beethoven, Op. 10, Me- nuetto Allegretto überschrieben, und, wenn der Verfasser nicht etwa dieses Werk des Komponisten missversteht, so muss seine Bewegung, Viertel gegen Viertel, ja fast Takt gegen Takt gemes- sen, eine lebhaftere sein, als die des ersten und letzten Satzes. Demungeachlet wirkt dieser Mittelsatz durch Ruhe und Gleichmas- sigkeit des Rhythmus, der Melodie und Modulation beruhigend im Gegensatz zu dem strebend, verlangend-andringenden ersten und dem launig kecken letzten Satze.

Der Gegensatz, der in den drei Partien der Sonate liegt, ist klar; aber ebensowohl die Einheit, die sich aus der Rückkehr zu der schnellen Bewegung ergiebt. Es ist das Umgekehrte zu dem Gegensatz, den wir zu allererst entdecken mussten : Ruhe, Bewe- gung, Ruhe. Dass auch diese Form des Gegensatzes sich gelegent- lich in der Anordnung einer Sonate ausgeprägt hat, werden wir später bemerken. In der Regel ist aber begreiflich, dass dem ersten Satz in jeder Hinsicht, auch in Bezug auf Bewegung, höhere Energie, also auch schnelleres Tempo zu Theil, und hiermit die Umkehrung jenes Gegensatzes nach dem Wesen der Sache geboten wird.

Eine »weite Scheidung der drei Sätze liegt

in der Tonart

derselben. Man giebt es ist uns auch nicht eine Ausnahme be- kannt — dem zweiten oder langsamem Satz eine andre Tonart, als dem ersten : der dritte Satz muss dann als Schluss des Ganzen als Finale, wie er oft genannt wird) wieder die Tonart des er- sten Satzes haben, so dass diese als Hauptton des ganzen Werks einheitvoll abschliesst. Auch in Hinsicht der Modulation wird also neben dem WTechsel auch die Einheit des Ganzen festgehalten und der Gegensatz von^ *

Ruhe, Bewegung, Ruhe

durch die gleich bedeutenden Momente von

Hauptton , Ausweichung . Hauptton

ausgesprochen. Nur das geschieht bisweilen, dass, wenn der erste Satz in Moll stand, das Finale in derselben Tonart in Dur gesetzt wird. Wir wissen längst, wie enge Beziehungen die Dur- und Moll-

Digitized by Google

, 1 Die Sonate in drei Sätzen. 323

v

lonart derselben Stufe zu einander haben, und aus welchem Grunde Moll ein trüberes und insofern gewissennassen weniger befriedigen- des Wesen ist als Dur. Daher kann uns besonders bei sich auf- heiternden Kompositionen diese Versetzung des Finale aus Moll in Dur des Haupttons nicht weiter auffallen.

Aber welche Tonart gebührt dem Mittelsatze*? Dies kann nur nach dem Sinn des ganzen Werkes bestimmt werden. Biswei- len wird es genügen, bloss das Geschlecht zu wechseln, in einer Dur-Sonate dem Mittelsatze Moll desselben Tons zu geben ; so hat Beethoven in der vorerwähnten Sonate aus Fdur den Mittelsatz in Fmoll gesetzt. In der Regel wird man die nächstverwandten Tonarten wählen; so hat Mozart den Mittelsatz seiner S. 265 erwähnten i7 dur-Sonate in die Unterdominante Udur, den seiner Cmoll-Sonale (S. 273) in die Parallele £sdur gestellt. v Seltener wird man sich in Dur zur Oberdominante entschliessen, weil diese schon im ersten Satze stark zur Geltung gekommen sein muss und dabei keinen so entschiednen Gegensatz bietet, als die Parallele. Nur bei leichtern oder sanftem Kompositionen fällt jenes Bedenken ohne Weiteres weg; so stellt Haydn das Andante seiner kleinen freundlichen Es dur-Sonate* in jßdur auf. Bisweilen werden statt der ersten Verwandten die in der nächsten Reihe stehenden gewählt. So wendet sich Beethoven in seiner Sonate pathetique von Cmoll nicht nach Es dur, sondern nach dessen Unterdominanle yisdur, der Parallele seiner Unterdominante; in gleicher WTeise in seiner Fmoll-Sonate, Op. 57, nach Ztesdur. Auch Mozart geht diesen WTeg in seiner vlmoll-Sonate**, deren Mittelsatz in Fdur steht; es wird also hiermit die im ersten Satze schon gebrauchte Parallele vermieden, wie wir zuvor die in Dursätzen gebrauchte Oberdominante weniger zusagend fanden. Auch entlegnere Be- ziehungen werden nicht selten angetroffen. So setzt Haydn das Adagio seiner grossen Es dur-Sonate in lfdur, indem ihm der Hauptton Es als Dis, als die nach E verlangende Terz des Domi- nantakkordes von ZTdur (als sogenannter Leitton) erscheint und eine überraschende, aber doch vertraut ansprechende Wendung gewährt.

Ueberall wird man bei den Meistern Freiheit und Mannigfaltig- keit in der W:ahl der zweiten Tonart finden, nie aber eine andre Entscheidung, als die durch den Sinn des ganzen Werks gebotne, bei der sich dann auch eine allgemeinere modulatorische Beziehung wie in den vorstehenden und manchen früher erwähnten Fällen (z.B. S. 284), herausstellen wird. Niemals also wird willkürlich ent-

* Diese, wie die andre £s-Sonate, im ersten Heft der Breitkopf-Harter- schen Gesammtausgabe [No. 3 und No. < der Einzelausgabe).

*♦ Im ersten Heft der Breitkopf-Härtcrschen Gesammtausgabe (No. 6. der Einzelausgabe!.

21 *

Digitized by Google

324

Mischformen und verbundne Formen

schieden. Es war ein ärmliches Hülfsinittel, wenn man durch die willkürliche Einmischung einer fremden, beziehungslosen Tonart seinem Mittelsatz einen bosondern Reiz zu geben dächte; .Befrem- den und Zerstreuung würde statt des gewünschten künstlerischen Reizes die Folge solcher Versuche sein.

Eine dritte Scheidung liegt in der Wahl

der Taktart.

Selten oder nie wird man den drei, nicht leicht auch nur zwei auf einander folgenden Sätzen gleiche Taktart zuertheilen ; und wenn die Takttheile gleich sein sollten und müssten, so würde man we- nigstens die Gliederung durchweg scheiden, würde z. B. neben Sechs- achteltakt, also neben zweitheilige Taktordnung mit dreiteiliger Gliederung, wenigstens nur eine solche zweitheilige Ordnung stel- len, die zwei- oder viergliedrig zerfiele, z. ß. Zweivierteltakt mit seiner Gliederung von zwei Achteln und vier Sechzehnteln. Diese allgemeinern Regeln ergeben sich schon aus der Rücksicht auf Man- nigfaltigkeit der verschiednen Sätze. Andre Bemerkungen knüpfen sich an die Bestimmung der Sätze selbst.

Der erste Satz, als der aus frischester Energie hervorgetretne wird in der Regel eine breitere und dabei mannigfaltiger accentuirle Taktart, z. B. lieber Vierviertel- als Zweivierteltakt, lieber Sechs- achtel- als Dreiachteltakt haben. Der zweite Satz, als der lang- samer bewegte, wird gern engere Taktmaasse, z. B. lieber Zwei- als Viervierteltakt, der dritte Satz, der das Zu-Ende-Gehn fühlt uiul fühlbar macht, wird sich gern schon in der Wahl der Taklart flies- send, ruhig und gleichmässig zum Schluss eilend gestalten, daher öfter zwei- oder viertheilige als dreitheilige Ordnung, öfter Allabreve- bewegung wenn sie auch meist nicht ausdrücklich angezeigt wird als eigentliche Viertbeiligkeit annehmen.

Die vierte, ungleich folgenreichere und entscheidendere Gegen- stellung der Sätze beruht auf der Wahl

der Ku nstf orm für jeden. Hier ist wieder bei dem Meister ein eben so reicher und stets sinngemässer Wechsel zu beobachten, wenn man ganze Reihen von Werken befrägt, bei dem nicht Durchgebildeten Ein- förmigkeit oder Willkür. Das Geringste und Aermste wär\ immer dieselbe Form zu wiederholen ; das Rechte ist, stets die jedem Satz und zwar in jedem besondern Kunstwerk angemessne zu er- greifen. Was nun in jedem einzelnen Kunstwerke das Rechte sei, kann natürlich nicht hier gefragt werden ; diese Erörterung, die zum Theil Untersuchungen aus der Musikwissenschaft voraussetzt, ge- bührt dem Komponisten in der Periode des Schaffens, oder der Kri- tik. Doch ergeben sich auch hier aus der Bestimmung der ein- zelnen Sätze gewisse allgemeine Regeln . die wenigstens festen

Digitized by Google

4 Die Sonate, in drei Sätzen. 325

Fuss fassen helfen, bis tieferes Studium und reifer* Anschauungs- und t rtheilskraft weiter führen.

Der erste Satz, wieder vermöge seiner vorzugsveisen Ener- gie, kann, um dem Reichthum und der Vertiefung des schöpferischen Geistes den günstigen Schauplatz zu eröffnen, kaum eint andre als Sonatenform annehmen. Hier ist eine den Rondoforme.i gleich- kommende oder überlegne Satzerfindung, eine an Einheit nur von der Fuge übertroflne, an Mannigfaltigkeit sie übertreffende Durch- führung der Gedanken, innerhalb welcher sogar die Fugenform üelber noch Zutritt findet, eine ausgebreitete und doch sinnvoll gehaltne Modulation, kurz nach allen Seiten der günstigste Spielraum für alle Kräfte des Komponisten geboten. Daher wird man unter hun- dert Sonaten und den ihr gleichgestalteten Orchester- und Quartett- werken kaum eins finden, dessen erster Satz eine andre, als Sona- tenform hätte.

Engere oder leichtere Werke beschränken sich in ihrem ersten Satz auf die Sonatinenform. Dies wäre der einzige formelle Unterschied , den wir zwischen Sonate und Sonatine anzugeben wüssten*.

Der zweite Satz nimmt als mittlerer, dann, weil er sich schon vermöge seiner langsamem Bewegung länger bei seinen Gedanken aufhält, in der Regel eine leichtere, einfachere Form an. Biswei- len genügt ihm schon die Liedform, wie wir an Beethovens Fdur-Sonate Op. 10 sehn, die statt des Andante Menuettform (mit Trio bringt. Oefter ist zwar der Gedanke der Liedform, nicht aber die Enge derselben an sich und im Zusammenhang des Ganzen ge- nügend. Dann bietet sich die Form der Variation, die nach Bavdn's Voraana von Niemand so reich und glücklich ausgebeutet worden, als von Beethoven; wir wollen nur die (rdur-Sonate, Op. 14, und die aus fnioll, Op. 57, als Beispiel anführen. Weit häufiger gestaltet sich aus dem anfänglich ergriffnen Liedsatz eine der kleinen Rondo formen, die sich überall günstig erweisen, wo der erste Salz nicht volles Genügen an sich selber bietet und auch nicht zu der höhern Gestalt der Sonalenform anregt. An der Stelle der gewöhnlichen Rondoform kann auch die bereits Th. II, S. 329 auftrewiesne Verbindung von Liedsatz, Fuyato und Wieder- holung des Liedsatzes zur Anwendung kommen. Ein Beispiel giebt des Verfassers lfmoll-Sonate (bei Siegel in Leipzig); aus Or-

* Die Zahl der Safte bietet sicherlich kein Unterscheidungsmerkmal. Drei der grössten Sonaten von Beethoven, Op. 53, 57 und 441, die erste sogar Grande Sonate genannt, haben nur drei und zwei Sätze. Zwei kleine, leichte Werke von Mozart (lieft 4. No. 3 und 4), dercn^rsle Salze Sonatinenform haben, werden vom Komponisten Sonaten genannt. Liszt hat eine grosse So- nate in einem Satze geschrieben; sie ist bei Breitkopf u. Härtel herausgegeben.

Digitized by Google

V

32t5 Misch formen und verbundne Formen.

ehester- und Quartett werken Hessen sich deren mehrere anführen. Oefters findet sich (S. 254) auch die Sonate n form für Mittelsätze benutzt, da^n aber auf ihren engsten Raum zurückgeführt, meist ohne Durcharbeitung eines zweiten Theils.

Der dritte Satz endlich fodert schon als Schluss des Ganzen und vernbge seiner erhöhten Bewegung wieder eine ausgedehntere Form. Er führt das Ganze zu Ende, also zur Ruhe, folglich eignen sich für ihn die leichtern und in sich selber stetig zum Ende hin- weisenden Formen. Dies sind vor allem die Rondoformen, weil sie gleichsam an sich selber Schlusssätze oder Schlüsse im grössten Sinn und Umfang stets wieder auf Hauptton und Hauptsatz, also auf die Schlussmomente zurückführen. Daher wird man die meisten Finale's in Rondoform, und zwar zunächst in der dritten und vierten Rondoform, weniger häufig in der fünften, oder in Sonatenform, oder statt in beiden letztern auch in der sonatenartigen Rondoform gesetzt finden. Oft mag, selbst bei trefflichen Komponisten, die hier wieder erwähnte Mischform (S. 307} aus keinem andern Grund ergriffen sein, als um der Wie- derholung der schon benutzten reinen Sonaten- und Rondoform aus- zuweichen.

Zuletzt kommen wir auf

* den Inhalt

der Sätze zu sprechen. Hier lässt sich nur das Allgemeinste fest- setzen, alles Nähere hängt von der besondern Stimmung oder Idee jedes einzelnen Werkes ab.

Zuvörderst versteht sich von selbst, dass in der Regel jeder Satz seinen besondern Inhalt haben wird, eben weil er ein besondrer und nicht ein blosser Theil des vorangehenden oder nach- folgenden Satzes ist. Es kann unter Umständen wohl einmal ein Gedanke, ein Motiv aus einem Satz im folgenden wiederkehren, allein dann wird das Motiv in einem wesentlich verschiednen Sinne verwendet, oder es hat eine solche Erinnerung an den Inhalt des frühem Satzes besondern Anlass in der Idee des Ganzen.

Der besondre Inhalt jedes Satzes muss aber zugleich der Be- stimmung und Form desselben entsprechen, oder umgekehrt : die be- sondre Bestimmung jedes Satzes wird nothwendig einen besondei n Inhalt für jeden herbeiführen, und dieser wiederum dem Satze die rechte Kunstform geben. Hier würde also jede weitere Anleitung, da sich der individuelle Inhalt jeder Komposition nicht voraussehn und vorauserwägen lässt, nur auf die Karakteristik der Formen zurÜckgehn und dabei doch nur in den Fällen frommen können, in denen eine künstlerische Gestaltung nicht schöpferisch von innen, aus der Idee oder dem Gefühl des Komponisten herausgetreten, son-

Digitized by Google

Die Sonate in drei Sätzen.

327

dem nach vorbestimmten Zwecken und Formen unternommen wird. Auch auf solchem Weg ist viel Erfreuliches geleistet worden , und es lässt sich nachweisen, dass selbst die bedeutendsten Künstler ihn oft gegangen sind. Demungeachtet ist er nicht der Weg, der uns das Höchste hoffen lässt, und für ihn giebt eben die Erkenntniss der Formen genügende Anleitung.

Nur eine Bemerkung scheint hinsichts des Finale noch der Erwägung werth, zumal wenn es Sonatenform oder sonatenartige Rondoform hat. Im erstem Falle steht es alsdann dem ersten Satze gleich, im andern sehr nahe. Demungeachtet ist seine Bestimmung eine ganz andre, als die des ersten Satzes, und dies kann nicht ohne wesentlichen Einfluss auf den Inhalt bleiben. Der erste Satz ist es, in dem das ganze Werk frisch geboren heraustritt in die Welt, kräftig und entschieden die Wirksamkeit des Ganzen beginnt; der letzte Satz ist es, mit dem diese Wirkung sich vollendet, also zu Ende geht, die Erregung und Bethätigung des Komponisten also zur Ruhe des Vollendethabens zuneigt. Wie spricht sich dies in der Ausgestaltung des Satzes aus?

Dadurch, dass das Finale in welcher Form es auch erscheine sich gleichsam als Ein grosser Schlusssatz , oder noch ent- schiedner gesagt: als Ein Schluss bezeige. Und zwar in allen Elementen der Komposition.

Die modulatorische Konstruktion wird im Finale zu- sammengehaltner ; sie entsagt nicht bloss im allgemeinen Verlauf des Tonstücks dem grossen Umfang, dem freien Schweifen in viele und fremde Tonarten, sondern wird auch innerhalb der einzelnen Sätze ruhiger und richtet sich gern und oft auf die Schlussakkorde. Wenn bisweilen für einzelne Sätze eine entlegene Tonart ergriffen wird, so geschieht dies nicht sowohl, wie im ersten Satz einer Sonate, in kühnem, aber fest vorbereitetem Andringen, und hat eine weitere oder langsam und in Fülle der Ausführung zurückkehrende Modula- tion zur Folge: sondern es geschieht die Ausweichung und die Rückkehr in raschem Zuge, gleichsam ruckweis, so dass das Ganze die Natur eines Trugschlusses annimmt, nur dass nicht ein Paar Akkorde, sondern ein ganzer Satz in den fremden Ton gerückt werden.

Der Gang der Melodie, oder vielmehr aller Stimmen wird in Tonfolge und Rythmus ruhiger, gleichmässiger, we- niger kühn anstrebend, als zur Ruhe führend, weniger scharf ge- gliedert, als verfliessend, ja, wo in der Hauptslimme schärfere rhyth- misch-melodische Zeichnung eintritt, bildet sich als Begleitung gern eine um so gleichmässiger fliessende Gegenstimme aus.

Nicht alle diese Karakterzüge treffen in jedem Finale zusam- men ; aber man kann sie überall gewahr werden, wo nicht eine ganz

Digitized by

328

Misch formen und verbundne Formen.

besondre Idee den Komponisten auf andre Wege geleitet bat. So findet man, um wenigstens ein Paar Beläge zu geben, das ganze weiter und energischer, als die frühern Sätze ausgeführte Fi- nale von Beethove n's Fmoll-Sonate, Op. 2, durchweg in Sätzen und Gängen nur mit Ausnahme des zweiten Seitensatzes in Achteltriolen begleitet, das ganze Finale der grossen D moll-Sonate, Op. 31, fortwährend, nur mit ein Paar ruckenden Achtelnoten und einer kleinen Stelle im Anhang in Sechzehntelbewegung. Dasselbe ist der Fall bei dem grossen Finale der F moll-Sonate, Op. 57, mit wenigen Abweichungen. Das letztere ist auch eins der merkenswerthesten Beispiele für die gleichsam schlussartige, stets an den Schluss mahnende Modulation, die den Finale's gern eigen wird ; die Untersuchung dürfen wir jedem Einzelnen überlas- sen, da doch Niemand den Besitz eines der tiefsinnigsten Werke unsrer Kunst sich versagen wird. Dagegen erwacht in Beetho- ve n's Ddur-Sonate, Op. 40, im Finale ein erneutes angeregteres Leben, das gleich zu Anfange dem Rhythmus einen beseeltem Puls- schlag ertheilt. Auch die S. 325 erwähnte £moll-Sonate hat nach der Stimmung, aus der sie hervorgegangen, ein durch Tongeschlecht, Rhythmik (besonders des Hauptsatzes) und überhaupt den ganzen Inhalt energischer gebildetes Finale erhalten.

Wir haben die Verschiedenartigkeit der einzelnen Sonatensätze beobachtet; nun aber muss zuletzt

die Einheit

derselben, als Theile eines einigen Ganzen, wieder zur Sprache kom- men, die sich im Inhalte zu offenbaren hat.

Bisweilen bezeichnen zurückkehrende Sätze, Anklänge aus den erstem Partien der Sonate, die man in die spätem, z. B. in das Finale hinübernimmt, diese Einheit schon äusserlich erkennbar; so bringt Beethoven in seiner wunderwürdigen A dur-Sonate, Op. 4 0 1 , zur Einleitung des Finale den Hauptgedanken des ersten Satzes wieder. Allein dergleichen Rückblicke sind weder nothwendig, noch stets anwendbar, das heisst: in der Idee des Ganzen begründet.

Es ist vielmehr die Idee des Werks und die dafür festgehaltne Stimmung, aus der die innere Einheit desselben hervorgeht. Hier tritt begreiflicher Weise jede Lehre zurück und überlässt das Werk rein dem eignen Walten des künstlerischen Geistes und Karakters im Komponisten. Es kann hier nur noch ein Rath ertheilt werden, der sich wahrscheinlich jedem gereiftem Künstler von selbst ergiebt. der aber, je früher man sich ihn zu beherzigen gewöhnt, um so glücklichere Folgen hat.

Dieser Rath, oder diese

Maxime

ist keine andre, als:

Digitized by Google

Die Sonate mit mehr Sätzen

H29

dass man nie an die Ausführung eines Werkes gehe, ohne des- sen Idee wenigstens in den Hauptmomenten gefasst, durchge- lebt oder geistig durchgearbeitet zu haben. Man muss trachten, vom Gange des Ganzen, also aller seiner Sätze wenigstens eine allgemeine Vorstellung, gleichsam An- klänge; Grund klänge von seinen Hauptmomenten festzuhalten; wie der Maler jedes grössere Bild erst mit den flüchtigsten, nur das Allernothwendigste andeutenden oder umreissenden Zügen gleichsam aufzuhaschen trachtet und erst dann in oft wiederholten Entwürfen und Studien zur reifen Vollendung führt.

Wenn in diesem ersten Akt der Schöpfung das Ganze so weit eingelebt und befestigt ist im Künstler, dass nun das eigentliche (schriftliche) Entwerfen beginnt: so ist ferner im gleichen Sinne rathsam :

dass man wo möglich das ganze Werk in einem Gusse sei es auch in den flüchtigsten Zügen von Anfang bis zu Ende entwerfe.

Dies sichert am besten die Gleichheit der Stimmung und Ein- heit des Ganzen, und entzündet schon durch die Aufregung der Geistesarbeit zu höherer Glut.

Allerdings wird aber dieses Glück uns nicht immer, ja verhält- nissmässig selten zu Theil ; bald versagt die Kraft, bald stören un- abweisliche Verballnisse. Dann ist wenigstens das höchst rathsam : dass man wo möglich keinen Satz im Entwurf unvollendet lasse und auch von dem vollendeten Entwurf eines Satzes nicht scheide, ohne wenigstens die ersten Momente des folgenden gewonnen und festgehalten zu haben.

Sie sind der Funke, an dem sich in einer zweiten schöpferi- schen Stunde das Feuer wieder entzündet, an dessen geheimem Fort- glimmen die Stimmung sich hinüberlebt und glückliche Einheit des neuen Satzes mit dem ersten verbürgt.

Wie viel nun einem Jeden und in jedem einzelnen Falle hierin Glück beschieden und Arbeit erspart oder auferlegt sei : das muss Jeder an sich erfahren und danach seine Arbeitsweise regeln.

Sechster Abschnitt.

Die Sonate mit mehr Sätzen.

Im vorigen Abschnitte wurde die Gestaltung der Sonate aus drei Sätzen betrachtet. Sie darf als Grundgestalt gelten, weil jene drei Sätze den nothwendigen Gegensatz (S. 322) aussprechen und in allen regelmässigen Gestaltungen vorhanden sind.

Digitized by Google

330

Mischformen und verbundne Formen.

Dieser Umkreis ist aber auf mehr als eine Weise erweitert worden: durch Einfügung eines vierten Satzes, gewöhnlich Me- nuett oder Scherzo genannt, durch Einleitung in das Ganze oder den ersten Satz, durch Einleitung in andre Sätze. Das sind die Momente, die wir hier zu überblicken haben; einer eigentlichen Lehre bedarf es dabei nicht.

I. Menuett.

Der entschiedenste Schritt über die Dreisatzigkeit der Sonate geschieht durch Zufügung eines neuen Satzes lebhafterer Bewegung, früher stets Menuett, seit Beethoven bald Menuett, bald Scherzo, auch wohl gar nicht besonders genannt.

Die Stelle dieses Satzes war früher, namentlich bei Haydn, der hier als wahrer Begründer zu nennen ist, stets nach dem langsamen Mittelsatze; er sollte gegen den Ernst oder die tiefere Versenkung desselben einen erheiternden Gegensatz, zwischen ihm und dem bedeutenden Finale einen Moment leichtern Ergehens ge- währen. Seit Beethoven (auch früher, z. B. bei Dussek) tritt dieser Satz auch bisweilen vor dem Mittelsatz auf. Die Entschei- dung über diese beiden Stellen ist nur nach der Idee und dem Bedürfniss jedes einzelnen Kunstwerkes zu treffen. Wenn z. B. Beethoven' s so strebsam, so lebensfrisch beginnende Dd ur- Sonate, Op. 10, im Largo einer tiefen, bis zu unheimlicher Vergrä- mung hinabsinkenden Schwermuth Raum giebt: so bedarf es nach diesem Satze des trostmilden, im Trio frisch ermuthigenden neuen Satzes (Menuett genannt) , um aus jener Nacht des Grams zu neu- erfrischtem, gesundem Leben sich aufzuraffen, das im Finale sich regt und das ganze Werk einheitvoll abschliesst. Und wenn wiederum derselbe Tondichter in seiner As dur-Sonale, Op. 110, dem ersten Satz, obwohl mit Moderato (also Allegro moderato) bezeichnet, den unverkennbaren Karakter eines Adagio (er setzt auch dem Moderato ein cantabile molto espressivo zu) ertheilen muss : so folgt schon hieraus, abgesehn von den Beweggründen, die aus der Idee des Ganzen hervortreten, dass nun nicht sofort ein Adagio (gleichsam ein zweites Adagio) folgen könne, sondern ein Satz lebhafter Bewegung folgen müsse. So erscheint es auch in der grossen JJdur-Sonate, Op. 106, sogleich unausführbar, dass nach dem Übergewaltigen ersten Allegro ein ihm entsprechendes Adagio folge. Je tiefer letzteres sich gebären mtisste, um dem ersten Satz ebenbürtig und zulässig zu sein, desto unvereinbarer und unerträg- licher würde der Gegensatz beider, in gewissem Sinne des höch- sten Allegro und des tiefsten Adagio in der Sonatenwelt, auf- fallen; es bedarf des vermittelnden Zwischensatzes, den Beetho- ven Scherzo vivace assai überschreibt.

Digitized by Google

Die Sonate mit mehr Sätzen.

331

Schon diese flüchtigen Hinblicke zeigen, dass der neu zutretende Satz, wie er auch heisse, oft viel tiefere Bedeutung im Zusam- menhang des ganzen Werks habe, als die anfangs wohl allein her- vorgetretne eines gewissermassen zur Erholung dienenden Mittel- satzes ; die Musikwissenschaft wird sich auf diese mannigfach wech- selnde tiefere Bedeutung einzulassen haben. Hier aber folgt schon so viel daraus : dass die Benennungen Menuett und Scherzo (beson- ders die erstere aus der frühern Periode uns überkommne) für den jedesmaligen Inhalt keine bestimmtere, bindende Bedeutung haben. Diese Menuette sind oft himmelweit vom Karakter der Tanzmenuett oder auch der in der frühern Periode, besonders von Haydn umge- schaflhen Menuett verschieden, wie schon die obige Andeutung über die sogenannte Menuett in Beethoven's Z)dur-Sonate zeigt; so auch darf bei der Benennung1 Scherzo keineswegs immer an einen durchaus heitern, scherzhaften Inhalt gedacht werden ; in seiner ,4s dur-Sonate hat Beethoven sogar diesen Namen verbannt und nur die Tempobezeichnung gegeben.

Daher ist auch die Form keineswegs immer die der Menuett; mindestens wird der zweite Theil so weit ausgeführt, wie in der eigentlichen Menuett (Th. II, S. 94) in der Regel nicht denkbar; Öfters tritt statt der Menuettform die erste oder zweite Rondoform in lebhafter Bewegung ein; die der Menuett eigne Führung wird ebenfalls nicht streng, bisweilen gar nicht beibehalten, selbst das Taktmaass verlassen und Zweivierteltakt oder ein andrer dafür eingeführt, wie es die Idee des Ganzen und die Stimmung des Kom- ponisten eben erfodert. Diese Wandelbarkeit und Mannigfaltigkeit In Form und Inhalt kann nicht auffallen, da das Scherzo nur als vermittelnder Nebensatz zwischen den ersten und zweiten oder zweiten und dritten Hauptsatz tritt, sich also von ihnen und nach seiner Stellung zwischen einem von beiden Paaren (vor oder nach dem Adagio) bestimmen lassen muss.

Was nun zuletzt seine modulatorische Stellung anlangt, so ist auch sie und durch sie die modulatorische Stellung der vier Sonatensatze überhaupt eine sehr mannigfache, oft weit mehr als die der drei Sätze einer einfachem Sonate. Auch hier ist na- türlich die Idee des Ganzen der letzte Bestimmungsgrund; daher wird man bei den Meistern nie willkürliche Abweichungen vom Grundgesetze der Modulation finden.

Bisweilen fodert diese Idee eine sehr einfache modulatorische Konstruktion. Eine solche zeigt Beethoven'sD dur-Sonate, Op. 1 0 . Dass der schwermüthige zweite Satz (Largo, moll) auf denselben Stufen auftritt, auf denen gleich zuvor im Hauptsatze (Z)dur) das frischeste Leben andrang, macht den Schmerz gleichsam zu einem vertrautern,

Digitized by Google

332

Mischformen und verbundne Formen

gräbt ihn ein in dasselbe Bett, in dem der Lebensstrom so rüstig weit dahinschoss. Dann muss der Trost des dritten Satzes (Me- nuett und Trio) wieder denselben Fusstapfeü folgen, um sich ganz anzuschmiegen, und muss sich die fester, gesicherter auftretende Er- muthigung in der Unterdominante (Trio, Gdur) aufstellen, von da der Aufschwung in den Hauptton zum Finale erfolgt. Eine eben so nahe Modulationsfolge zeigt Beethoven's Fmoll- Sonate, Op. 2 : Fmoll, Fdur, Fmoll und wieder Fmoll; der abweichende Karakter der Sätze ist demungeachtet genügend ausgesprochen. Ein drit- tes Beispiel bietet die A dur-Sonate, Op. 2 : 4 dur, Z)dur, Adur und nochmals 4 dur.

Andre Sonaten haben wenigstens Einen fernem Schritt gethan. Die Beethoven'sche Sonate Op. 7 stellt z. B. den ersten, dritten uud vierten Satz in Es dur, das Largo aber in Cdur auf (diese Tonart ist schon im ersten Satze angeregt) ; die C dur-Sonate, Op. 2, hat ihr Adagio in Fdur, die grosse B dur-Sonate, Op. 106, das ihre in Fismoll aufgestellt.

Noch mannigfaltiger modulirt unter andern Dussek in seiner Es dur-Sonate, Op. 44; die Einleitung steht in Fs moll, der erste Satz in Fsdur, das Adagio in //dur, die Menuett und Trio in Gis (As) moll und As dur, das Finale in Es dur. Der auffallende Mo- ment ist das nach Es dur folgende //dur; doch ist die modulatori- sche Verknüpfung, wie Jeder selbst erräth, nicht zu fernliegend. In der S. 325 erwähnten Fmoll-Sonate tritt die Einleitung in A dur auf, der erste Satz steht in Fmoll, das Adagio in .4 dur, das Scherzo (bloss Prestissimo genannt) in //moll, das Trio desselben in Gdur, das Finale (nach einer Einleitung in Fmoll) in Fdur. Die Gründe für diesen Gang könnten nur aus dem Inhalt erkannt werden.

2. Einleitung.

Zweck und Form der Einleitungen haben wir schon S. 301 kennen gelernt. Es bleibt hier nur zu bemerken, dass in der So- nate nicht bloss zum ersten Satze, sondern bisweilen, namentlich zur Vermittlung entlegner Karaktere und Modulationspunkte, zu spätem Sätzen Einleitungen nothwendig erscheinen. So bedarf Beetho- ven in seiner As dur-Sonate, Op. 110, nach dem wildfrechen Scherzo einer Einleitung in das tief klagende (Adagio) Arioso, in der B dur- Sonate, Op. 106, schon der Modulation wegen, nach dem Adagio FismoU in das Finale B dur.

Hat aber einmal eine Einleitung sich mit Nachdruck ausgespro- chen, so tritt sie oder doch ihr Hauptmotiv auch gelegentlich im Verlauf der Komposition wieder auf. Dies können wir an der So- nate pathdtique beobachten, deren Einleitungsmotiv (No. 369) zwei-

Digitized by Google

Die ungewöhnlichen Gestaltungen der Sonate. 333

mal, zur Einleitung des zweiten Theils und des Anhangs vom ersteu Satze, wiederkehrt; eben so an der No. 370 angeführten Einleitung, aus deren Hauptmotiv der seelenvolle Schluss und Anhang des ersten Satzes erwachsen ist, wie es sich schon im Seitensatze wieder fühlbar gemacht hat.

Siebenter Abschnitt. Die ungewöhnlichen Gestaltungen der Sonate.

Neben den drei- und viersätzigen Sonaten, deren Gestaltung in den vorigen Abschnitten als Grundform mit sehr unwesentlichen Ab- weichungen in einzelnen Zügen aufgewiesen worden, finden sich nun noch mehr oder weniger abweichende Zusammenstellungen, diegleich- wohl dem Namen und der Hauptsache nach der Sonate zugehören. Wir können hier folgende Abweichungen unterscheiden.

Erstens begegnet uns die im Ganzen vollkommen ausgeführte Gestalt der Sonate, nur dass einer der Sätze sich nicht zu fester Form und Selbständigkeit vollendet hat.

Das erste Beispiel bietet Beethove n's Cdur-Sonate, Op. 53. Der erste und letzte Satz haben in Fülle und Bedeutsamkeit des Inhalts das Interesse fast ausschliesslich auf sich gezogen ; das Adagio ist dabei nicht selbständig geworden, es ist gleichsam nur Zwischen- satz, nur Ueberleitung zum Finale, wie schon äusserlich seine Kürze

eine Seile gegen dreizehn und abermals dreizehn kundgiebt. Ein einleitender Gedanke (Fdur) führt zu einem bestimmten Satze (Fdur), nach dem jener erstere wieder anschliesst und sofort mithin ohne Abschluss des Ganzen auf die Dominante des Haupt- tons und in das Finale (Cdur) führt.

Reicher und doch im Wesentlichen nicht anders gestaltet sich das Andante der Sonate »Les adieux«, in dem das öde Gefühl des Alleinseins bei der Abwesenheit des Geliebten unruhig und nirgend befriedigt sich her und hin wendet, nirgend eine Stätte findet, auf der man weilen könnte. So tritt ein Satz in Gmoll, Gdur auf, wie- derholt sich in C moll, sucht hier vergebens sich zu erfüllen , muss wieder nach Gmoll, und zieht nun in Gdur einen zweiten Gedanken

wie weinende Hoffnung und schmerzliche Erinnerung (Gmoll) nach sich. Noch einmal wird dieser Kreis schwankender Gedanken in fremden Tönen durchlaufen und nun, ohne Abschluss auf die Dominante des Haupttons (iFsdur) gelangt, stürmt die Stunde des Wiedersehns mit allen Freudenglocken und mit den seligen Rufen: »Ich habe dich wieder!« im Finale und seiner Einleitung darein!

Digitized by Google

334

Mischformen und verbundne Formen.

Zweitens sehn wir bisweilen den Kreis der Sätze unvoll- ständig — oder vielmehr unvollzählig gezogen. So fehlt in Beethove n's i?moll-Sonate, Op. 90, der Mittelsatz, das Adagio, ganz; was dieses hätte aussagen können, ist in dem tief gefühlten ersten Satze mit aller Energie eines ersten Allegro und aller In- nigkeit eines Adagio schon zur Sprache gebracht. So besteht die Cmoll-Sonate, Op. Hl, nächst der Einleitung nur aus einem ersten Satze (Cmoll) und einem Adagio, einer Ariette (Cdur) mit Varia- tionen. Die Idee des Tongedichts wollte es so; kann sie auch nicht hier zur Erörterung kommen, so fühlt doch Jeder schon ohne ihre Enträthselung, erkennt man schon an der Fülle des zweiten Satzes, dass kein dritter folgen konnte und durfte. Auch die Ct$ moll-Sonate gehört hierher, die Adagio, Menuett oder Scherzo (Allegretto genannt) und Finale, also die drei letzten Sätze einer viergliedrigen Sonate ohne den ersten Satz aufstellt ; wiederum der tiefen Idee getreu, die sie schuf.

Drittens finden wir bisweilen den Karakter der vollständig vorhandnen Sätze wesentlich anders bestimmt. Einigermassen könnte schon Beethoven's S. 256 angeführte Es dur-Sonate hierher ge- rechnet werden. Nach dem Hauptsatze giebt sie ein Scherzo (in sehr frei modulirter Sonatenform) , dann statt des Adagio eine Me- nuett, obwohl in mässiger Bewegung, dann das Finale. Entschied- ner ist das Beispiel der Beethov en'schen As dur-Sonate, Op. 26. Statt der Sonatenform, die im Allgemeinen unstreitig die angemes- senste für den ersten Satz ist, bringt diese Sonate ein Andante mit Variationen, dann folgt ein Scherzo ; statt des Adagio oder als solches ein Marsch (Marcia funebre sulla morte dun' eroe) , nach ihm das Finale. So giebt auch Mozart in der zweiten Sonate des ersten Hefts (No. 2 der Einzelausgabe) erst Variationen, dann ein Tempo di Minuetto, als Finale das bekannte Alla turca. Der erste und letzte Satz des Mozart'schen Werks (dem wir mehr als ein ähnliches zufügen könnten) ist reizend, die Beethov en'sche So- nate ist in jedem Satze bedeutend ; doch würden wir nur bei den beiden letzten Beetho v en'schen Sätzen die Idee dieser Kombina- tion mit einiger Sicherheit aufzuweisen vermögen.

Einen anziehenden , unstreitig tiefer begründeten Fall sehn wir in der A dur-Sonate, Op. 101. Nach dem ersten Satze folgt in Fdur und #dur ein Scherzo in der Form eines mächtig sich em- porkämpfenden Marsches mit Trio ; das Adagio (hauptsächlich A mollj ist unselbständig, wie die S. 332 erwähnten, mehr eine Ueberleitung zum Finale; doch wird zwischen beiden noch der Hauptgedanke des ersten Satzes zurückgerufen. Das letzte hierher gehörige Beispiel bietet endlich die Sonata quasi una Fantasia in Es dur. Der erste Satz ist ein Andante, das einen zweitheiligen Liedsatz,

Digitized by Google

Die Fantasie.

335

einen zweiten ebenfalls zweitheiligen, abermals in Es duv stehenden, stark nach Cdur hinwendenden Liedsatz bringt und mit der Wie- derholung des ersten Liedsatzes schliesst. Nun folgt, gleichsam als Trio zu dem Vorangegangnen, ein lebhaftes Allegro (zwei- theiliges Lied) in Cdur, und dann die Wiederholung des ersten Liedsatzes in Es, mit einem Anhange. Diese ganze Masse ist als erster Satz anzusehn, wenigstens ein abgerundeter Inbegriff von Gedanken an der Stelle eines ersten Satzes. Darauf folgt als zweiter Satz ein Allegro molto vivace, ein normal ausgebildetes Scherzo, ein Adagio (4sdur) und das S. 310 besprochne Finale. Dieses aber schliesst nicht unmittelbar ab, sondern zieht nach einem Halt auf der Dominante den Hauptgedanken des Adagio, diesmal im Haupttone (jEsdur), nach sich; nun erst wird im Tempo und aus Motiven des Finale wirklich geschlossen.

Achter Abschnitt. i Die Fantasie.

Ueberall haben wir, von einer Grundform als Kern eines ganzen Formengebiets ausgehend, eine Reihe von Gestaltungen ge- funden, die sich von jener Grundform aus mannigfachen Gründen mehr und mehr loszulösen, zu emanzipiren suchten, selbst bis zur Granze einer andern Form und über sie hinaus. So hat sich auch in der letzten Reihe von Fällen ein immer grösseres Loslösen von der Grundform der Sonate ergeben, so dass in den letzten vom Re- griff der Sonate im Grunde doch nur das Allgemeine blieb : sie sei ein Inbegriff verschiedner selbständig geformter und abgeschlossner, durch eine das Ganze durchdringende oder schaffende Idee und Stimmung einheitlich zusammengehöriger Sätze. Und auch das nicht ; mehrmals fanden wir das Adagio nicht selbständig abgeschlossen; sogar die Rildung einzelner Sätze, z. R. des ersten in der zuletzt erwähnten Komposition, wich von den regelmässigen Formen mehr- fach ab.

So sind wir denn in der That bereits zu dem Punkte gelangt, wo wir jede der bisher festgestellten Formen, Satz und Gang, Lied und Fuge, Rondo und Sonate, und wie wir sie sonst noch nennen und gegen einander stellen mögen, frei ergreifen und frei wieder verlassen, wie uns die höhere Idee eines grössern Gan- zen oder auch die ziel- und fessellos schweifende Laune gerade eingiebt. Wissen wir doch (Th. II, S. 93) längst, dass sich eine willkürlich reiche Zahl von Liedsätzen, etwa wie eine Folge

Digitized by

336 Mischformen und verbundne Formen.

lyrischer Gedichte, oder wie eine unbestimmt weit gehende Folge von Gestalten im Basrelief, an einander reihen lässt, nur durch eine allgemeine Idee oder Stimmung, vielleicht gar nur durch einende Modulation zusammengehalten. Einer solchen Folge fehlt die ge- drungne Kraft einer ihren Inhalt mit und durch einander verarbeiten- den und innerlichst einenden Form. Aber nicht überall ist diese Kraft, folglich die sie hervorbringende Form Bedttrfniss. An die Stelle jener fest ausgeprägten Formen kann eine tiefere, kräftig einende Idee andre frei gewählte und frei wechselnde setzen. Und zuletzt hat im heitern Kunstleben auch das leichte Schweifen und Umherirren sein gutes Recht, ohne Ziel und Zweck als sich selber.

Hiermit erst, indem wir erkennen, dass es möglich und statthaft sei, jede voraus bestimmte Form aufzugeben, daranzugeben an die Freiheit unseres Geistes, der kein andres Gesetz erkennt, als sich selber, hiermit erst ist die ganze Formenlehre an ihrZiel geführt, sind wir inund mit ihr unddurch sie frei geworden. Es ist aber das nicht die vermeintliche Freiheit des Ungebildeten, der in seiner Armuth und Beschränktheit sich frei dünkt, weil er nicht vorauszusehn vermag, wie oft und wie überall er auf die Schranken und in die Irr- und Rückgänge seiner Wegesunkunde gerathen wird, sondern die sichere Freiheit dessen, der alle Richtungen und Wege kennt t folglich jeden mit dem andern vertauschen, auch wohl querfeldein gehn kann ohne Gefahr sich zu verirren.

Die Gestaltungen, in welchen sich dieser letzte Schritt zur Freiheit thut, fassen wir mit dem Namen

Fantasie

zusammen, ohne weitere Rücksicht auf die bisweilen nebenbei auf- geführten Namen der Tokkate (wenn sich in der Fantasie ein besondrer Spielreichthum zeigt), des Capriccio (wenn besonders eigensinnige Gedanken oder Spielweisen geltend werden), des Potr- pourri (meist ein Ragout aus Andrer Schüsseln) und andrer, die den besondern Inhalt der Komposition unterscheiden sollen.

Es liegt im Begriff der Sache, dass die Fantasie keinen be- stimmten Weg gehn, keine bestimmte Form haben kann ; denn ihr Wesen beruht ja eben darauf, von jeder bestimmten Form abzu- gehn. Daher ist auch für sie schlechthin gar kein Gesetz, nicht einmal das zu geben: dass ein Hauptton festgehalten oder zuletzt wiedergebracht werden müsse, obgleich das Letztere meist zu- treffen mag. Wir können vielmehr beobachten, dass die Gestalten der Fantasie von einer festen, nur frei gewählten Formung an bis in das freieste Sicbgehnlassen wechseln, werden also auch ge- fasst sein müssen, hier wie auf jeder Formgränze Gestalten zu

Digitized by Google

Die Fantasie.

337

begegnen, von denen sich gar nicht mit Bestimmtheit sagen lässt, ob sie hüben oder drüben zu Hause sind.

So hat Beethoven zwei Sonaten (ü'sdur und C&moll, Op. 27) den Beinamen »quasi una Fantasia« gegeben, um die Ab- schweifung von der festern und vollständigen Sonatenform anzudeu- ten ; es liegt in der Benennung selbst ausgesprochen, dass sich nicht habe festsetzen lassen, ob die Kompositionen Sonaten oder nicht viel mehr Fantasien seien. Umgekehrt hat uns Mozart mit zwei Kompositionen (sie gehören zu seinen schönsten Klavierwerken) beschenkt, die so fest geformt sind, ja noch einheitvoller, als irgend eine Sonate, gleichwohl von der Grundform der Sonate ent- schieden abweichen. Die eine bringt nach einem einleitenden Adagio (No. 372) einen sonatenförmigen Satz (No. 383) als Hauptpartie des Ganzen und kehrt von ihm auf das einleitende Adagio zurück, das in weiterer, tief ernster Ausführung den Schluss des Ganzen bil- det; die drei Sätze, Fmoll, f'dur, /?moll, sind formell eng verbunden, indem die beiden ersten auf der Dominante schliessen, also zum weitern Fortgange drängen*. Die andre Komposition** hat eine sehr ähnliche Konstruktion. Sie stellt zuerst nach einer Einleitung im selben Tempo (Allegro, Fmoil) ein Fugato auf, das in kühner Modulation zum Einleitungssatze zurückgreift und auf der Dominante schliesst. Hier also ohne Abschluss folgt in Xsdur ein seelenvolles Andante, das wieder auf die Einleitung (erst i46'dur, dann .Fmoll) zurückführt, und zwar ebenfalls ohne festen Abschluss. Auch das Fugato, mit einem neuen Gegensatz und neuer Behandlung, kehrt wieder, der Einleitungssatz giebt aber- mals den Schluss und damit das Ende des Ganzen. Diese letztere Komposition steht der Grundform der Sonate insofern noch näher, als die erstere, weil sie mit lebhaften Sätzen beginnt und schliesst und einen langsamem in die Mitte stellt. Gleichwohl hat Mozart diese Fantasie und jene Sonate genannt, ein offenbares Zeugniss, dass auch er strenge und sichere Bezeichnung der Form un- möglich fand. Von der Sonate unterscheiden sich übrigens beide Kompositionen nicht bloss dadurch, dass ihre Sätze stets in einan- der überführen, sondern auch durch die Bückkehr auf den ersten Satz, während die Sonate zwar an denselben erinnern kann, stets aber ein eigentümliches Finale bringt.

Freier gestaltet sich schon Mozart's Fantasie und Fuge***

* Hier ist der alte, S. 322 in Erinnerung gebrachte Gegensatz: Ruhe Bewegung Ruhe, also Norm geworden.

** Sie ist ebenfalls vierhändig und findet sich im achten Heft der Breitkopf- Härtel'schen Ausgabe (ist in neuer Ausgabe auch einzeln erschienen). Vergl. Th. II, S. 475.

*** Im achten Heft (No. 4 der einzeln herausgegebnen »Zwölf Klavierstücke«).

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 22

Digitized by Google

338 Mischformen und verbundne Formen.

in Cdur. Eine Einleitung (Adagio) führt zu einem weit, geistreich und schwunghaft geführten vorspielartigen Satz (er hat keine be- stimmte Tonart, sondern fangt in Z)moll an, schweift ganz frei weiter, unterbricht sich endlich auf D- und A moll, führt nochmals weiter auf die Dominante), worauf eine ziemlich streng durch- geführte Fuge (Cdur) das Ganze beschliesst.

Noch weit mannigfaltiger stellt sich die grosse Fantasie und So- nate aus Cmoll* von Mozart dar. Den Gipfel des Ganzen bil- det die Sonate, von der schon S. 273 und 295 Einiges erwähnt worden, so dass die Fantasie zu ihr gewissermassen die Einleitung bildet, aber eine so umfassende, dass sie vielleicht eher für sich befriedigen, als noch auf Weiteres und gar auf eine neue Kom- position in drei abgesonderten Sätzen hindrängen mag. Ein einlei- tendes Adagio, Cmoll, führt zu einem neuen Satze (der uns An- dante scheint) in Ddur; ihm folgt ein Allegro, in AmoW eintretend, diesem einAndantino inifdur, dann ein neues Allegro in G moll, end- lich im Hauptton und erster Bewegung der erste Salz, jedoch in neuer Ausführung; so dass wir bis zur Sonate fünf oder sechs Partien zu unterscheiden haben, die alle in einander überführen und deren jede nach Mozart'scher Weise aus mannigfachen Sätzen und Zügen gebildet ist.

Und hier müssen wir zuletzt noch auf unsern Altmeister Se- bastian Bach zurückkehren, der sich auch in der Fantasie viel- fach auf das Glücklichste und oft auf das Tiefsinnigste bewegt und bewährt hat; die meisten seiner Fantasien (oft auch Tokkaten ge- nannt) werden dann, wie man vom Fugenmeister schon erwarten muss, von einer Fuge gekrönt. Von allen sei nur seine chro- matische Fantasie** in Erinnerung gebracht, eins der reich- sten und tiefsinnigsten Werke, in jedem Zuge des Geistes voll, auch nicht in einem einzigen wie man wohl gelegentlich selbst von guten Musikern hören muss ein leeres, der veralteten Mode jener Zeit ( ! ) verfallnes Tonspiel. Man lerne sie nur kennen und gehe mit der Pietät heran, die einem der grössten Meister aller Kunst gebührt, um sie ganz zu durchdringen.

Nur ungern versagen wir uns hier nach der Bestimmung und den nothwendigen Schranken des Werks näher Eingehn auf ein unsterbliches Werk, dem nicht nur die Abwendung vieler Zeit- genossen, sondern eine wie uns scheint missverständige Tra-

* Heft 6 der Breitkopf-Httrtel'schen Gesammt-, No. M der Einzelausgabe ; die Fantasie ist auch besonders als No. 7 der einzelnen »Zwölf Klavierstücke« erschienen.

** Band 4 der Peters'schen Gesamratausgabe. Eine näher auf ihre Idee ein- gehende Abhandlung vom Verf. findet sich in No. 3 der Allgem. musik. Zeitung von 1848.

Digitized by Google

Die Fantasie.

339

dition über die Vortragsweise des Komponisten und seiner Nächst- angehörigen in Wirkung und Verbreitung hinderlich geworden. Bloss das Eine sei angemerkt, dass aus hastig, unstät vortiberja- gender Tonflucht sich endlich feste Harmoniemassen emporheben und als Hauptpartie der Fantasie ein tief bedeutungsvolles Rezitativ gar Viel zu klagen und zu erzählen hat, ehe die Fuge ihren festern Gesang anstimmt und denselben zur Macht eines grosssinnig klagen- den Hymnus emporhebt.

Hier deutet schon die wesentlich nicht der Instrumentalmusik eigne Form des Rezitativs an, dass dem Tondichter wohl eine be- stimmtere Idee vorgeschwebt haben müsse. Ein Gleiches Hesse sich von der zuvor erwähnten Cis moll-Sonate von Beethoven nach- weisen, deren drei Sätze eine durchaus psychologische Folge von Seelenzuständen enthüllen. Gleichen Antrieben, jedoch von ganz abweichendem Inhalt, ist der Verfasser sich bewusst, in seinen vier- bändigen Fantasien »Um Mitternacht« und »Am Nordgestadear * gefolgt zu sein. Das Fugato, das die erstere eröffnet, der Ueber- gang desselben zu einem Arioso oder Monolog, der heftige Allegro- satz, in dem Liedform und Doppelfuge sich mischen, die Erinnerung an den Anfang : das Alles mochte wohl nicht ohne innere Notwen- digkeit so geworden sein, da äusserlich bequemere, annehmlichere, gewohntere Gestaltungen näher oder eben so nahe gelegen hätten. Allein dem Künstler stellen sich bisweilen andre Aufgaben, als die zunächst liegenden und zunächst fasslichen ; er geht nicht ihnen, sie gehen ihm nach und er muss ihnen gehorchen.

In andern Fantasien ist eine bestimmtere Idee nicht nachweis- bar; wenigstens wüsste der Verfasser sie in der andern Sonata quasi una Fantasia (aus Zssdur) von Beethoven, in den zahl- reichen Fantasien Seb. Bach's (mit Ausnahme der chromatischen), sowie in Mozart's Cdur- und dessen grosser Cmoll-Fantasie nicht aufzufinden. Hier waltet eben die fessellos schweifende Phan- tasie des Tondichters und reiht Stimmungen an einander, die sich nicht weiter haben bestimmen lassen. Es tritt hier die andre Seite der Musik (und des Seelenlebens) hervor, die nicht sowohl aus An- regungen zu bestimmtem Gefühlen und Vorstellungen vorschreitet, sondern vielmehr umgekehrt das Feste, das in Bewusstsein oderStim- mung vorhanden war, auflöst und wie im Halbschlummer oder Traum eins um das Andre vorüber- und dahinschwinden lässt auf den luftigen Ton wellen und gleich ihnen.

Man würde eben so arg fehlen, wenn man diese oft so reiz- vollen, oft wahrhaft beseligenden Träume verbannen oder gering achten, als wenn man jene Bildungen von bestimmtem) Inhalt verkennen

* Bei Hofmeister in Leipzig herausgegeben.

22*

Digitized by

340

Mischformen und verbundne Formen.

wollte, oder gar der Tonkunst die Fähigkeit dazu abzusprechen sich unterfinge; alle Meister ohne Ausnahme haben für Beides (wenn auch nicht alle in der Form der Fantasie) Zeugniss abgelegt. Jeder Künstler nimmt, was ihm gegeben oder in ihm gezeitigt wird, dank- bar und pflichttreu auf und bildet es mit Liebe und Hingebung aus. Am wenigsten ziemt es dem Jünger, Eins oder das Andre zu suchen oder zu bannen. Ohnehin ist ihm aber die Fantasie keine zur Uebung gestellte Form, das absolut Freie kann nicht nach Vor- schrift gebildet werden, sondern nur eine solche, die er kennen muss, die im Kreise der gesammten Formen nicht übergangen wer- den durfte.

Dass endlich gar oft Künstler unter dem Titel von Fantasien, auch mit bestimmterer Angabe des Inhalts, bei ihren Kompositionen Gemüthzustände und Vorstellungen im Sinne getragen, die musika- lisch zu offenbaren ihnen nicht gelungen oder überhaupt nicht mög- lich war (man denke an so viele Schlacht- und Naturgemälde älte- rer Tonsetzer, an die zahllosen Souvenirs de Paris u. s. w. unserer Virtuosen, an die parfttmirt-poetisirenden Titel oder andeutenden Motto' s aus »Faust« oder andern Gedichten in neuester Zeit) kann und soll nicht geleugnet werden. Allein beweist das Misslingen oder Irren in noch so viel einzelnen Fällen etwas gegen eine ganze aus dem Wesen der Kunst und so viel gelungnen Werken voll- kommen festgestellte Kunstrichtung? Oft sogar liegt das schein- bare Verfehlen nur in einer nicht bezeichnend genug gewählten An- deutung des Inhalts, oder in der Natur desselben, wenn dieser zwar ein künstlerisch darstellbarer, aber dem Vorstellungskreis der Meisten weniger nahe liegender ist. Denn allerdings ist jenes Wort Goethe's

Wer den Dichter will verstehn, Muss in Dichters Lande gehn

nicht Jedermanns Sache; und stets hat das dem Gewohnten Näher- liegende, das Leichtfassliche, das Alte unter dem Scheine der Neu- heit vor dem Tiefern, Fremdern, Neuen die erste und ausgebrei- tetste Gunst davon getragen.

Wie es sich aber auch damit verhalte (die Musikwissenschaft wird darauf ernstlicher eingehn müssen) , so liegt doch in der Zwei- felhaftigkeit solcher Unternehmungen hinlänglicher Grund, den Jün- ger nicht zu ihnen hinzulocken, sondern eher von ihnen abzumah- nen, — bis innere, unabweisbare Nothwendigkeit ihn dahin zieht*.

* Hierzu der Anhang N.

Digitized by Google

Siebentes Buch,

Die Elementar- und reine Vokal

komposition.

I. Vorbemerkung

Der Gegenstand dieses Buches ist in mehrfacher Hinsicht von vorzüglicher Wichtigkeit.

Die Gesangkomposition ist die eine Hälfte unsrer Musik, und zwar diejenige, welcher die umfassendsten Kunstaufgaben, das Oratorium und die Oper, angehören.

Sie ist zugleich als die ursprüngliche Musik, als die dem Menschen eigenste und treueste anzusehn; denn sie ist nicht bloss wie alle Kunst Erzeugniss seines Geistes, sondern auch in der Ausführung folglich im vorempfindenden Sinne des Künst- lers gleichermassen unmittelbare und reine, durch keine Ein- mischung fremder äusserer Werkzeuge zerstreute und getrübte Aeusserung des Lebensorganismus selber. Darum empfinden wir in ihr am tiefsten und können an ihr sicher treffende Beobachtun- gen und Erfahrungen über das innerste Wesen aller Musik über- haupt sammeln, die zu unsrer höchsten Ausbildung nöthig, auch in unsrer rein instrumentalen Kunstthätigkeit, richtig verwendet, vom wichtigsten Einflüsse sind.

Endlich schliesst sich auf ihrem Gebiete der Bund zwischen Musik und Sprache, Tonkunst und Dichtkunst. Hiermit ver- doppelt sich zunächst Kraft und Reichthum des Künstlers, erwächst ihm aber zu gleicher Zeit die Pflicht, sich auch in dem neuen ver- wandtschaftlichen Gebiet einheimisch zu machen, damit ihm nicht der Angewinn zur Belästigung und Hemmniss werde, statt zur För- derung und Kräftigung. Sodann aber werden ihm durch den Zutritt des heller bewussten Geistes in der Sprache Einsichten in die eigne Kunst eröffnet oder bestätigt, die er in dem verhüllten Wesen der Musik gar nicht oder nicht mit gleicher Sicherheit gewinnen könnte.

Aus diesen Gründen muss ernstlichst ausgesprochen werden, dass ohne tiefes Studium der Gesangmusik die Bildung des Künst- lers nicht nur unvollständig und einseitig, wie bei jeder Lückenhaf- tigkeit (Th. I, S. 13) bleiben, sondern auch der tiefsten Begründung und Befestigung entbehren würde. Wer nicht singen kann, gleichviel ob mit schöner oder weniger schöner Stimme, ob mit Sängerfertigkeit (Bravour) oder nicht, wer nicht mit vollem An t heil der Seele singt oder gesungen hat: dem kann Voll- endunginderMusikschwerlich zuTheil werden; oder,

Digitized by Google

344

Vorbemerkung.

wenn doch, nur mit unberechenbar grösserm Arbeits- und Zeitauf- wand und stets wieder von Zweifeln beunruhigt und gestört, die dem Sangeskundigen und eignen Sanges Frohen gar nicht mehr nahen können.

Aber wiederum ist künstlerische Vollendung des Gesangs oder der tiefsten Empfänglichkeit und Verständniss dafür ohne Aus- bildung der Sprache, ohne befruchtenden und bildenden vertrauten Umgang mit der Dichtkunst, überhaupt mit der Litteratur, nicht wohl denkbar, wie oft uns auch einseitige, aber dabei hohe Begabung eines Sängers vergnügen, ja entzücken und jener höchsten Foderung vergessen machen möge.

Und so gelangen wir allerdings zuletzt zu der Einsicht: dass man vollendeter Mensch sein müsse, um vollende- ter Künstler zu sein, und dass die Bildung für eine Kunst, wenn sie sich vollenden will, weit über die Grenzen dieser Kunst hinaus sich auszudehnen habe, weil eben wie wir oft gesehn im Leben des Geistes keine scharfe Gränzlinie, innerhalb deren man sich absperre und genüge, gezogen werden kann*.

Sollen aber die vornehmsten Helfer in diesem Studium mehr dürfen wir uns hier nicht gestatten zum voraus bezeichnet wer- den: so nennen wir die Namen Seb. Bach, Händel, Gluck aus der Reihe der Musiker, die Luther'sche Bibel und Goethe aus dem weiten Reiche der deutschen Litteratur als diejenigen, de- ren vertrautester Umgang, deren tiefstes Studium Niemandem ohne unersetzlichen Schaden entbehrlich ist. Es versteht sich dabei von selbst, dass Gluck nur in der Sprache, für die er komponirt hat, mit seinen französischen und italienischen Urtexten, wahrhaft er- kannt werden kann. Bei Handel in Bezug auf seine englischen Texte hindert den Verfasser Mangel an vertrauterer Kenntniss der englischen Sprache an einem bestimmten Urtheil. Die Verwandt- schaft dieser Sprache mit der unsrigen scheint der Erkenntniss des Komponisten auch mit deutscher Uebersetzung förderlich ; zudem möchte manche Eigenthümlichkeit des englischen Idioms für reine und edlere Musikwirkungen dem deutschen Sinne störender sein, als der Verlust, den jede Uebersetzung in Vergleich mit dem Ori- ginal bringt. Doch hindert, wie gesagt, zu grosse Unkunde der Sprache, dieser Vermuthung den Nachdruck eines vollkommen be- gründeten Unheils zu geben. Die Sprache Shakespeare^ und B y ron's birgt wohl Schönheiten andrer Art, die sich nur dem Ver- trauten erschliessen.

* In des Verf. Methodik (Die Musik des neunzehnten Jahrhun- derts und ihre Pflege) ist dieser Gedanke befriedigender ausgeführt und der Weg zur höchsten künstlerischen Vollendung gebahnt.

Digitized by Google

345

II. Allgemeine Uebersicht.

Alle Gesangmusik wird ausgeübt entweder von blossen Sing- stimmen und heisst dann

reine Vokal- oder Gesangmusik, oder von Singstimmen unter Mitwirkung eines oder mehrerer In- strumente und heisst dann

begleitete Gesangmusik. Ferner ist eine Gesangkomposition entweder zum Vortrag durch einen einzelnen Sänger gleichviel ob mit oder ohne Begleitung bestimmt und heisst dann

Sologesang,

der Sänger aber

Solosänger;

oder sie enthält mehrere durch einzelne Sänger (Solosänger) aus- zuübende Stimmen und heisst dann

Ensemble,

und zwar nach der Zahl der Singstimmen Duett, Terzett, Quartett u. s. w.; oder es soll die eine Singparlic oder von meh- rern Singstimmen eine jede von mehrern oder vielen mit einander wirkenden Sängern, im Tutti, ausgeführt werden; dann heisst sie

Chor,

oder es sollen zwei Chöre (Doppelchor) oder Chor und Solo u. s. w. vereint wirken.

Im gegenwärtigen siebenten Buche kommen von den Formen des Sologesangs nur zwei in Betracht, das Rezitativ und das Lied, von den Chorformen ebenfalls das Lied, dann die Figural- und Fugenformen, und die Motette. Es sind dies Formen, die, ohne tiefere Rücksicht auf Begleitung erfassbar, allen weitern im Studium vorangeschickt werden müssen. Die andern Gesangformen können erst nach der Lehre von der Orchester- behandlung (im zehnten Buche) befriedigend und mit Erfolg dar- gestellt werden.

Digitized by Google

Krstc Abtheilung.

Vorstudien.

Der Gesang ist ohne eine der Berücksichtigung bedürfende Ausnahme* mit der Sprache, mit Worten, die gesungen wer- den und in dieser Beziehung bekanntlich der Text oder Gesang- text heissen, verbunden. Abgesehen hiervon ist der Gesang eine durch die menschliche Stimme zu verwirklichende Musik , d i e S t i m m e ist das Gesangorgan.

Dieser Hinblick auf das neue Gebiet zeigt uns die nächsten Gegenstände unsers Studiums. Wir müssen uns mit dem Gesangorgan,

mit der Sprache im Allgemeinen, zufolge ihrer Vereini- gung mit dem Gesang, mit dem Text, den für Gesang bestimmten sprachlichen

Sätzen, und den Bedingungen, unter welchen die Sprache sich zur Vereinigung mit dem Gesang und zur Verwendung für bestimmte Kompositionen eignet, vertraut machen.

Diese Gegenstände sind in unserm Kreise neu und zugleich die nächstnöthigen, da ohne sie keine Gesangmusik besteht. Ihnen ge- sellt sich noch ein vierter Gegenstand,

die Begleitung des Gesangs durch Instrumentspiel, an. Er ist unstreitig ein höchst wichtiger. Dennoch kann er für unsern gegenwärtigen Standpunkt nur untergeordnete Geltung haben; denn einestheils ist die Begleitungslehre schon Th. I, S. 389 und anderwärts, so wie die Behandlung wenigstens eines zur Gesang- begleitung vorzüglich geeigneten Instruments, des Klaviers, Th. III, S. 17 zur Berücksichtigung gekommen; anderntheils kann die Be- gleitung bei dem Gesänge bald ganz entbehrt werden, bald in höchst untergeordneter Weise genügen; endlich aber kann das Höchste, was sie zu leisten hat, erst nach der Bekanntschaft mit dem Or- chester, im vierten Theil, seine gebührende Stelle finden.

Daher wird die Begleitung in den nächstfolgenden Abtheilungen nur als beiläufiges Hülfsmittel zur Sprache und Anwendung kommen.

* Die Ausnahmen wären: 1} Solfeggicn, bekanntlich blosse Stiromübun- gen (gangartig, präludienartig, Med- oder auch wohl arienförmig) ohne bestimm- ten Text; 4) bloss begleitende Singstimmen zur Unterlage einer mit Text ver- sehenen Hauptstimme. Spontini hat in seiner Nurmahal einen Genienchor bloss auf A vokalisirend gesetzt, um ihm ätherische Durchsichtigkeit zu ertheilen.

Digitized by Google

Organ des Gesangs u. seine künstler. Gesetze.

347

Erster Abschnitt.

Das Organ des Gesangs und seine künstlerischen Gesetze

im Allgemeinen.

Das Organ des Gesangs ist bekanntlich die menschliche Stimme, die einen ganzen Kreis von Organen des Körpers für sich in An- spruch nimmt.

Jede Stimmäusserung erfolgt bekanntlich mittels des Athems, der durch die Thätigkeit der Lunge und der dieser dienenden Mus- kulatur der Brust iu einer Weise ausgeströmt wird, die sich zur Ton- und Klangerzeugung eignet. Diese Ton- und Klangerzeugung geschieht im Kehlkopf, in dem vorzugsweis so genannten Stimm- organ. Der hier geschaffne Ton und Klang findet im Munde Verstärkung und theils durch den Bau und die Haltung desselben weitere Modifikation im Klange, theils auch tritt durch die im oder am Munde konzentrirten Sprachwerkzeuge dem Tonklange noch die Artikulation (die Bildung der Sprachlaute) zu. So nehmen wir also bei dem Gesang zunächst die Thätigkeit dreier Organe (oder Systeme von Organen) wahr: \) das Organ der Athmung,

2) das Organ der Ton- und Klangbildung,

3) das Organ der Lautbildung oder kurzweg der Sprache,

deren nähere Zergliederung und Erkenntniss wir uns hier erlassen dürfen.

Diese Organe offenbaren vor allem eine karakteristische Eigen- schaft, die wohl zu beherzigen ist, weil sie sogleich eine Reihe höchst wichtiger Lehren anschaulich und eindringlich macht. Sie sind nämlich

recht eigentlich die Organe, aus denen die Musik des Menschen, die musikalisch und zu musikalischer Aeusse- rung erweckte Seele, der von Musik erfüllte und in ihr zur Bethätigung kommende Geist des Menschen, unmittel- bar sich kundgiebt.

Der Athem das Brustleben ist vor allem erste Aeusse- rung des entbundnen Lebens, seine Bewegung, seine Kraft u. s. w., unmittelbarer Ausdruck der grössern oder mindern Erregtheit und Kraft des Lebens; die Modulation von Ton und Klang im Kehlkopf und Mund ist unmittelbarer Ausdruck der musikalischen Empfindung, Vorstellung im Menschen; die Lautbildung ist theils derselben Sphäre zugehörig, theils die musikverwandte Grundlage für die Sprache, für das eigenste Organ des Gedankens. So ist die

Digitized by Google

348

Vorstudien.

Bethätigung der Singorgane das unmittelbare Erzeugniss und der unmittelbare Ausdruck der musikalischen Regung ; diese Regung und jene Aeusserung oder Bethätigung sind so innig verbunden, wie Leib und Seele.

Nicht in gleicher Weise verhält es sich mit der instrumentalen Hervorbringung der Musik. Bei allen Instrumenten wird der Schall aus einem todten Werkzeug hervorgerufen und hängt zunächst und hauptsächlich von dessen Beschaffenheit ab ; die Einwirkung des Menschen auf diese Instrumente ist aber Vor- zugs weis eine mechanische, obwohl bei dem Druck der spie- lenden Hand und noch mehr bei dem Einhauch in das Blasinstrument und der Mitthätigkeit des Mundes eine gewissermassen sympathe- tische Theilnahme des Gefühls nicht unbeachtet bleiben kann.

Aus dieser Anschauung des Gesangorgans ergiebt sich so- gleich, dass demselben nur solche Bethätigung gemäss und durch dasselbe zweckmässig wirksam sein kann, die eben so unmittelbar und einfach aus dem Gefühl der musikalisch angeregten Seele her- vorgeht, die die reinen, gleichsam ursprünglichen Regungen des Em- pfindens musikalisch wiedergiebt. Wie weit auch die Musik fähig sei, Vorstellungen, Ideen mannigfacher Art zu verwirklichen, oder ahnen zu lassen, eine Frage, die erst in der Musikwissenschaft erörtert werden kann, und wie weit und reich sich auch zu solchen Zwecken der Kreis ihrer Mittel und Gestaltungen in der Instrumentalmusik ausdehne : die Gesangmusik ist schon durch das Wesen ihrer Organe Vorzugs w eis mit nicht entscheidenden, erst in der Musikwissenschaft zu berührenden Ausnahmen auf den reinen Ausdruck der menschlichen Seelenbewe- gungen angewiesen, da sie in all' ihren Elementen schon gar nichts Andres ist, als Ausbruch, Ausdruck dieser Erregungen.

Von Grund aus hat daher vor allem die Gesangkomposition die- sem ihrem Ursprung unverbrüchlichste Treue zu bewahren ; Verir- rung, Willkür oder Unwahrheit ist in ihr um so viel mehr störend und verletzend, je enger sie organisch mit dem Gefühl im Menschen zusammenhängt. Dafür spricht aber auch die Wahrheit und Tiefe der Gemüthsbewegung aus ihr um so viel mächtiger, als aus den dem Menschen entlegnem Organen der Instrumentalmusik.

Alle Gesetze ferner, die wir überhaupt in der Musik erkennen, werden in der Gesangmusik von doppelter Wichtigkeit, Verstösse gegen jene werden in dieser von doppeltem Nachtheil sein. Ueber- blicken wir alle Grundgestaltungen der Musik, so ergiebt sich aus obiger Ueberzeugung eine Reihe leitender Bemerkungen, die sich weder für ganz erschöpfend ausgeben wollen (denn wer kann hoffen, alle Wege und Abwege der schöpferischen Thätigkeit vorauszusehn ?) ,

Digitized by Google

I

Organ des Gesangs u. seine künstler. Gesetze. 349

noch für durchaus unverbrüchliche Kunstgesetze (Th. [, S. 15), wohl aber das Nachdenken wecken und die Erkenntniss schärfen und be- festigen können.

\. Die Rhythmik des Gesanges.

Schon längst haben wir erkannt, dass im Rhythmus ordnende und bestimmende Kraft liegt, dass erst durch seinen Zutritt (Th. I, S. 26) die Tonfolge zur Melodie wird. Die Mittel des Rhythmus sind bekanntlich zweierlei : stärkere Betonung und längeres Verwei- len. Durch eins oder beide wird ein Ton , ein Glied einer Ton- reihe u. s. w. vor dem andern oder mehrern andern hervorgehoben als Hauptsache vor der Nebensache; durch die Mannigfaltigkeit die- ser Unterscheidungen gewinnt die Komposition an geistiger Beweg- lichkeit, durch die ebenmässige Anordnung derselben an Wohlge- stalt. Beides ist in jeder künstlerischen Schöpfung von hoher Be- deutsamkeit, vorzüglich im Gesänge. Daher ist umgekehrt Man- gel an rhythmischer Belebung nirgend empfindlicher, als wieder im Gesänge; denn hier ist nicht bloss die unrhythmische oder wenig rhythmische Gestaltung unbefriedigend für den Geist, sondern schon in Widerspruch mit dem Gefühl und Wesen des Organs.

Nichts ist für das Gesangorgan ermüdender und ihm widri- ger als länger dauernde Gleichförmigkeit der rhythmi- schen Bewegung, zumal im langsamem Tempo. Eine Reihe von Sechzehnteln oder Achteln in schneller oder doch mässiger Bewegung lässt sich, wenn sie nicht gar zu ausgedehnt ist, noch ohne grosse Beschwer durchlaufen; eine grössere Reihe von Vier- teln oder halben Noten * ist ebensowohl für das Gesangorgan er- schöpfend, als für den Geist des Ausübenden und Hörenden ermü- dend. Der Geist begehrt Ordnung, Anordnung der einzelnen Momente (Töne u. s. w.) zu einem fasslich geordneten Ganzen, Unterordnung der Nebenmomenle unter die Hauptmomente, Haupt- niomente, auf die er sich stützen, auf denen er ruhen, Neben- momente, über die er leichter hin wegeilen, bei denen er es sich leicht machen kann. Dasselbe Bedürfniss geht unmittelbar auf das Organ über.

Aus gleichem Grunde sind alle rhythmischen Formen schon dem Gesangorgan, wie dem im Gesang am regsamsten sich erwei- senden Gefühl unbequem, die Störung oder Verhüllung der rhyth- mischen Ordnung in ihren Hauplmomenten hervorbringen. Es sind dies besonders zwei Formen. Erstens die (in der Mitte des vorigen Jahr- hunderts einmal zur unvermeidlichen Mode gewordne) Synkope,

* Aus diesem Grunde hat schon Nägel i in seiner Gesangschule auf den Nachtheil, den zu häufiges Choralsingen in den Singstunden für das Organ hat, aufmerksam gemacht.

Digitized by Google

350

Vorstudien.

wenn sie sich über ganze oder gar mehrere Takte ausdehnt, und die- jenige Art der Bindung, die die Haupttheile des Taktes durch Ver- schmelzung mit vorhergehenden kleinern Taktgliedern ihrer rhythmi- schen Kraft beraubt, ohne auch nur einen andern Takttheil statt ihrer mit Nachdruck hervorzuheben. Von dieser Art ist eine Figur, die Beethoven im Amen seiner unsterblichen D dur-Messe* durchführt,

a - men, a - men, a - men.

in der der Fiuss der Stimmen durch das Hangenbleiben vom vierten zum fünften Achtel u. s. w. gehemmt, oder der Sänger gegen die Vorschrift des Komponist!) zum Vorstossen des zweiten der gebundnen Achtel genöthigt wird.

2. Die Tonfolge.

Von der Toufolge gilt vorerst, was wir eben von der rhythmi- schen Bewegung gesagt haben : Gleichförmigkeit, zu lange forlgesetzt, ist dem Musiksinn, der sich im Gesangorgan besonders angeregt fühlt, wenig zusagend. Daher gelingen chromatische Ton folgen von grösserer Ausdehnung, zumal in schnellerer Bewegung, nicht nur den wenigsten Singenden, sondern sind auch bei dem besten Gelingen von kleinlicher oder gar peinlicher Wirkung ; daher macht sich die uns schon früher (Th. I, S. 415) bekannt gewordne Einförmigkeil und Leere lang fort-

Op. 4 23, bei Schott in Mainz in Partitur, obige Stelle Seite 479. Die- ses Werk steht so gewiss unvergleichlich da in Tiefe und Macht der Konzep- tion, namentlich in seinem Credb, als es leider unleugbar! durch man- cherlei Rücksichtlosigkeiten in Bezug auf Stimmumfang und Behandlung (von denen der letzte unsrer grossen Vorgänger auch in andern Werken sich nicht frei gehalten) die Aufführung erschwert und die Verbreitung bis jetzt we- nigstens — gehindert hat.

Digitized by Google

Organ des Gesangs u. seine künstler. Gesetze. 351

gesetzter harmonischer Figuration im Gesänge doppelt fühlbar. Dass übrigens chromatische Läufer und so auch ausgedehnte arpeg- gienartige Figuren (z. B. in Rossini's Semiramis) als besondre Kraft- und Kunststücke der Bravoursängerinnen oft bewundert wor- den, spricht nicht gegen, sondern für obige Ansicht; es werden damit jene Figuren, besonders die chromatischen, als Seltenheiten, mithin als das dem Organ und Sinne n i c h t Natürliche und Genehme bezeichnet. Auf der andern Seite sagen aber auch zu bunt ge- bildete, durch Vorhalte mit verzögerter Auflösung und ähnliche Um- schweife zu häufig verzierte oder herumgeführte Weisen dem Ge- sang — wie dem einfachen unverstellten Gefühl weniger zu.

Vermöge des im Gesang und für denselben erwecktem Sinnes sind auch Abweichungeu von der nächstgehörigen Fortschreitung der Harmonien, die wir uns aus mancherlei Gründen gestatten, z. B. die Septime des Dominantakkordes hinauf, die Terz hinab zu führen u. s. w., im Gesang empfindbarer und insofern bedenk- licher, als im Instrumentale. Jeder, auch der geübteste und unter- richtetste Sänger, wird bald gewahr, dass dergleichen Fort- schreitungen (z. B. in g-h-d-f das f nach g oder das h nach g) für seinen Gesang etwas Befremdendes haben, dass er sie seiner Stimme gleichsam abzwingen muss, und dass er dabei leichter als sonst unrein singt, und zwar bei dem wider den ursprünglichen Zug der Harmonie erzwungnen Hinaufschreiten zu hoch, bei dem Hinabschreiten zu tief. In gleicher Weise fühlt aber auch der Hö- rer das Erzwungne solcher Schritte, selbst wenn sie dem Sänger vollkommen gelingen.

Dieses wachsame Gefühl sträubt sich selbst gegen solche Fort- schreitungen, Harmonien und Modulationen, die vollkommen folge- recht gebildet, aber in der Reihe der Harmonieentwickelungen die alierentlegensten und darum (vergl. Th. I, S. 530) dem unmittel- baren Gefühl fremdartig sind. Hierhin gehören die überweiten, die Oktave und Dezime übersteigenden Intervalle*, weil sie nicht bloss das Stimmorgan zu heftigen Dehnungen oder Zusammenziehungen in die entgegengesetzten Haltungen nothigen, sondern auch in der Regel unmotivirt, ohne innere Nothwendigkeit erscheinen.

Von den Harmonien sind hier besonders die im System zuletzt erschienenen, nicht einmal einer bestimmten Tonart angehörigen Mischakkorde zu erwähnen. Sie sind, wie sich von selbst ver- steht, nicht unzulässig ; aber ihre Zweideutigkeit, ihr schillerndes, unbestimmt schwankendes Wesen wird im Gesänge fühlbarer, sogar

* Auch sie sind eine Zeit lang hei Sängern und Komponisten Mode gewe- sen, zuletzt besonders von Righini und Reicbardt (und dem Nachahmer des letztern, Zelter) gepflegt.

Digitized by Google

352

Vorstudien.

ihre Ausübung ist unsichrer, als die der näher am Quell der Har- monie gelegnen Akkorde; und so erhalten wir hier noch nach- träglich einen Erfahrungsbeweis für die Wahrheit des Harmonie- systeras.

An den Modulationen ist noch zuletzt das Wesen des Gesang- organs und des in ihmjbesonders wachen Musiksinns zu beobachten. Während die Instrumentalmusik allerdings eines weiten Gebiets von Tonarten bedarf, um sich in diesen Räumen (Th. 1, S. 249) nach dem Erforderniss ihrer Idee oft sehr wechselvoll, oft in kühnen Wen- dungen zu ergehn und auszusprechen, scheinen dem Gesang so zahl- reiche, oder so kühn schlagende Modulationen weder nöthig, denn seine Aufgabe ist, sich in den herrschenden Affekt zu verliefen, ihn zu steigern oder zu sänftigen, oder auch nach der Natur des Ge- fühllebens in den einfachen Gegensatz überzugehn, noch zu- sagend ; zahlreiche und entfernte Modulationen gelingen und wirken im Gesang weniger, als im Instrumentale.

Es wäre, wie schon gesagt, ein Miss verstand, der das Wesen der Kunst aus den Augen liesse und der Freiheit des Künstlers ein Ende machte, wenn man diese Bemerkungen zu Gesetzen erhebeu, etwa dem Komponisten vorschreiben wollte, welche Rhythmen, Ton- folgen, wie viele und wie weite Modulationen u. s. w. er in Gesang- kompositionen nicht gestatten dürfe. Vielmehr ist hier wie Uberall das dem System nach entfernteste, das aus allgemeinen Rücksichten Bedenklichste zulässig, wenn die besondre Idee der Komposition es als das ihr eigne oder Zusagende fodert. Daher wär' auch nichts leichter, als zu jeder der obigen Bemerkungen eine Reihe von Fäl- len aufzufinden, in denen das als bedenklich Bezeichnete mit Glück und Recht angewendet worden ; auch lässt sich das an sich Ungün- stige durch mancherlei Hülfsmittel erleichtern, wie z. B. jenen Beet- hoven'schen, den Rhythmus verwischenden Bindungen in No. 394 der scharf markirende Gegensatz befestigend zu Hülfe kommt. Al- lein auch abgesehn von solchen htil freichen Nebenumständen würden alle diese Fälle nur beweisen, was wir überall bestätigt gefunden : dass das oberste Gesetz für jede Kunstschöpfung nur in ihrer eig- nen Idee zu finden ist. Auch hier also wollen wir uns vor abs- trakten Gesetzen verwahren , wohl aber das Wesen der Kunst von seinen allgemeinsten bis zu den besondersten Beziehungen uns klar und vertraut zu machen streben. Und hierzu können jene Bemer- kungen, kann die durch sie alle hindurchgehende Wahrnehmung: wie tief und stark das Musikgefühl im Gesangorgange lebt und wie tiefwirkend darum jeder Zug in der Gesangkomposition, wie bedenk- lich eben hier jeder Fehlgriff ist, allerdings die Bahn eröffnen.

Digitized by Google

Das Stimmorgan

353

Zweiter Abschnitt. Das Stimmorgan.

Wir lassen jetzt das Spraehorgan ganz bei Seite und betrachten das eigentliche Stimmorgan im Verein mit dem Organ des Athems, durch das jenes erst in Wirksamkeit gebracht wird.

1. Der Athem.

Das Erschallen der menschlichen Stimme, die Kraft und Dauer desselben hängt zunächst von der Masse und Verwendung des Athems ab. Die letztere ist ein wichtiger Gegenstand des Singstudiums, das durch sparsame und wohlgerichtete Verwendung des Athems rich- tige Intonation und möglichste Ausdauer im Gesänge zu fördern hat; für uns liegt dieser Gegenstand seitwärts, obwohl seine Kenntniss wie überhaupt das Gesangstudium jedem Komponisten wichtig ist. Wie sehr nun auch das Studium der Athemverwendung zu Hülfe komme, jedenfalls bedarf der Sänger häufiger Erneuung des Athems, und zwar einer um so häufigem, je tiefbewegter oder leidenschaftlicher der vorzutragende Gesang ist. Jedes Einathmen ist aber Unterbrechung des Gesangs, und es liegt nicht bloss dem Sänger, sondern schon dem Komponisten ob, dafür zu sorgen, dass diese Unterbrechungen ohne Nachtheil für den Sinn der Kompo- sition geschehen können. Der Sänger benutzt dazu Pausen und die Absätze der Abschnitte und Glieder in der Melodie wie im Texte. Der Komponist aber hat zu weite Abschnitte oder Sätze möglichst zu vermeiden und das Gefühl für das Athembedürfniss des Sängers in sich rege zu halten, damit die Komposition sich auch in dieser Hinsicht schon instinktartig sangmässig gestalte, und dem Sänger we- der unnöthige Anstrengung, noch sinnwidrige Zerstückelung der Me- lodie aufgenöthigt werde.

Was nun

2. die Stimme

selbst betrifft, so ist sie bekanntlich einer bedeutenden Kraft und Fülle des Schalls, und innerhalb ihres Umfangs aller Ton- abstufungen fähig, nicht bloss der in unserm Tonsystem aufge- nommnen Ganz- und Halbtöne, sondern aller dazwischen liegenden, die zwar nicht genannt und vorgeschrieben, wohl aber als Vortrags- mittel, durch Ueberziehn von einer festen Tonstufe zur andern, benutzt werden können. Innerhalb dieses Tongebiets ist die Stimme fähig, durch die mannigfachsten Stärke grade, durch An- und Abschwellen, Binden undStossen der Töne, durch

Marz, Komp.-L. m. 5. Aufl. 23

Digitized by Google

354

Vorstudien.

Aushalten einzelner oder schnelle Folge verschiedner Töne (in den sogenannten Passagen und Verzierungen) und durch Darstellung aller möglichen Tonverbindungen jeder Regung und Wendung des Gefühls zu entsprechen. Sie gewahrt sogar mehr, als dem reinen im Gesang waltenden Gefühl eigen und genehm ist, dann aber lässt sie, wie oben gesagt, das Unangemessene um so deutlicher fühlen.

3. Das Stimmgebiet.

Jede Stimme hat einen gewissen Umfang, den sie entweder gar nicht, oder nur mit Verlust ihrer Kraft, Anmuth, ihrer Ausdrucks- fähigkeit und zum Nachtheil des Organismus tiberschreitet. Inner- halb dieses Umfangs kann man drei Gebiete unterscheiden,

d i e M i tt e, wo die Stimme am bequemsten und ruhigsten ist, die Tiefe, nach welcher hin sie schwächer und dumpfer

wird bis zum Erlöschen, die Höhe, nach welcher hin sie stärker, schärfer, hefti- ger wird, bis endlich auch hier die Gränze erscheint.

In den Mitteltönen setzt jede Stimme am bequemsten ein und kann sich in ihnen am ausdauerndsten bethätigen ; in ihnen ist auch in der Regel der Klang am wohllautendsten. Dagegen ist Höhe und Tiefe für den ersten Einsatz weniger günstig, bei anhaltender Ver- wendung für Ausdauer und Wohlklang erschöpfend. Hierzu kommt, dass auch die Aussprache in der Mitte der Stimme am deutlichsten, wohllautendsten und bequemsten erfolgt.

Hieraus ergeben sich für den Komponisten nicht genug zu beherzigende Lehren für den Gebrauch der Stimmen. Vor allem muss er sich auf den allgemeinen Umfang der Stimmen zu beschränken wissen ; selbst das darf ihn nicht verleiten, die allgemeine Gränze zu überschreiten ausser etwa in Sologesängen für bestimmte In- dividuen von ausserordentlicher Begabung*, dass sich allerdings stets einzelne, das gewöhnliche Maass der Höhe oder Tiefe weit überschreitende Stimmen finden. Denn diese Einzelnen können die nothgedrungne Ausschliessung der grossen auf das gewöhnliche Stimm- maass angewiesnen Mehrzahl nicht ersetzen, und auch bei ihnen tritt (nur später) jene Scheidung ein, dass ihre hohen und höchsten Töne heftig und gewaltsam, ihre tiefen schwächer und erlöschend heraus- kommen**.

* So hat Mozart die Arie« der Königin der Nacht für seine besonders begabte Schwägerin Lange und eine, wie es scheint, verloren gegangne Arie bis zum viergestrichnen C für die Italienerin la Bastardella gesetzt.

** Man könnte sich versucht fühlen, diese Regel für höchst überflüssig zu halten, weil sie sich ja von selbst verstehe, wenn sie nicht selbst von ein- sichtigen Männern, ja von bedeutenden Komponisten so oft schon verabsäumt worden wäre. Statt vieler Beläge wollen wir nur auf Milton's Morgengesang

Digitized by Google

Das Stimmorgan.

355

Sodann wird der sangeskundige Komponist seine Stimmen am liebsten in den Mitteltonen einführen und vorzüglich in ihnen be- schäftigen. Von hier aus gelingt das Fortschreiten zur Höhe oder Tiefe, selbst zu den äussersten Punkten, zumal, wenn nach diesen hin nur in den stimmgemässesten Weisen, akkordisch oder diato- nisch, gegangen wird ; hier erholen sich die Stimmen, wenn sie durch Bethätigung in der äussersten Höhe oder Tiefe augenblicklich ermü- det oder angegriffen sind, hier vermählt sich Wohllaut des Gesangs mit Deutlichkeit im Vortrag des Wortes*. Allerdings wird sich in einzelnen Fällen die Nothwendigkeit eines weniger günstigen Ein- satzes oder eines für die Stimme angreifenden längern Verweilens in der Höhe oder Tiefe ergeben. Allein in den meisten Fällen wird man auch hier das, was der richtige Gedankengang fodert, mit dem, was Rücksicht auf das Stimmvermögen gebietet, übereinkommend finden. Denn mit seltenen Ausnahmen wird auch die Gesangkompo- sition in ruhigerer Stimmung beginnen, sich erst allmählich zu grös- serer Heftigkeit des Affekts steigern, und die Momente der höchsten Steigerung wie des tiefsten Versinkens werden nach der Natur der Seelenbewegungen die seitnern und schneller vorübergehenden sein; dies entspricht aber so ganz dem, was der Stimme das Natur-

von J. F. Reichardt verweisen, wo Seite 3, 6, 12, 22, 23, 1\ der Partitur die Bässe bis zum grossen Es und C hinunter- und bis zum eingcstrichnen g hin- aufgeführt werden. Mag er auch vielleicht damals in der F a sc hi sehen Sing- akademie, für die er jene Hymne schrieb, einige so umfangreiche Stimmen ge- funden haben : so kann doch durch einige Indiviiuen nicht eine Kraft gleich der eines vollen Chors in der Allen zugänglichen und bequemen Tonregion dargestellt werden.

* Wenn daher, um wieder nur Ein Beispiel statt vieler, und von einem unsrer grössten Meister zu geben, Beethoven in seiner letzten Messe ein Fugenthema im Diskant (Seite i 67 der Partitur und öfter) nach Pausen, wie bei a

b

3^

cu - Ii. Qui

se - des ad dex - te - ram pa-tris.

einsetzen und an einer andern Stelle (S. 68) abermals auf dem hohen b ziem- lich bewegt, im Larghetto, sprechen lässt: so hat er zwar die Granze der Dis- kantstimme nicht überschritten, aber er hat dem äussersten Punkt etwas zuge- muthet, was in solcher Weise in freiem Einsatz, mit Tonwiederholung, mit emphatischen Textworten zu jeder Note nie, oder nur höchst selten vom Chor geleistet werden wird. Bei der höchsten dem unsterblichen Tondichter ge- bührenden Ehrfurcht dürfen wir doch solche Wahrheit, so warnend für alle Schwächern eben an dem Grossen, uns nicht verhehlen.

28*

Digitized by Google

356

Vorstudien.

^emässe und Zusagende ist, dass man auch hier die innigste Ueber- einstimmung des Seelenorgans mit dem Seelenleben anerkennen muss, und der Komponist auch für die Stimme kein andres Gesetz auf sich zu nehmen hat, als das im Sinn seiner Aufgabe, in der Idee seines Werks liegende.

4. Die Stimmregister.

Jede Stimme umfasst in ihrer gesammten Tonreihe verschiedne Klangarten, Arten, die Töne hervortreten zu lassen, mit merk- licher Veränderung des Stimmklangs und der Stimmbrauchbarkeit, die man Register oder Stimmregister nennt. Mit Uebergehung der feinern Unterscheidungen, die dem Gesangstudium von Bedeutung sein müssen, ist für den Komponisten wenigstens die wichtigste und fühlbarste Scheidung hervorzuheben.

In jeder Stimme besonders hervortretend und gebraucht aber in den hohen, Tenor und Diskant erscheint in der Höhe eine Reihe von Tönen, die sich von den andern ziemlich auffallend unterschei- den, obgleich es die mehr oder weniger ausführbare Aufgabe jedes Sängers bleibt, diese Verschiedenheit in seiner Tonreihe möglichst auszugleichen oder doch zu verbergen. Die Töne dieser Reihe oder dieses Registers heissen

Falsett oder Fistel-Stimme

und unterscheiden sich von der Reihe der unter ihnen liegenden Töne, die im Gegensatz zu jenen

Brusttöne oder Bruststimme

genannt werden, vor allem durch einen mehr flötenartigen als sprachlichen Klang und durch das nicht bloss im Sänger vorhandne, auch auf den Hörer übergehende Gefühl, dass sie durch ein gewisses zwanghaftes Zusammenziehn im Stimmorgan hervorgebracht werden.

Den unter den Stimmbildnern streitigen Punkt, ob eine höhere Tonreihe der weiblichen Stimme, Kopftöne oder Kopfstimme genannt, dem Brust- oder Falsettregister angehöre, können wir hier bei Seite lassen.

Der sprachlicheKlang wir wollen damit den der Sprache, dem Sprechen zusagendsten bezeichnen ist der Bruststimme eigen; in ihr tritt das Wort naturgemäss und in kräftigster, aus- drucksvollster, austönendster Artikulation hervor und spricht mit der vollen, überzeugenden Gewalt des in ihn gelegten Gefühls zum Her- zen des Hörers. Auch im Register des Falsetts kann gesprochen werden ; aber es ist ein gleichsam falscher, zurückgedrückter und gekünstelter Beiklang, der sich hier zu den Accenten der Sprache mischt und ihr den vollgewichtigen Ausdruck der Aufrichtigkeit und

Das Stimmorgan.

Offenheit nimmt oder verkümmert*. In dieser Hinsicht wird man also das, was mit Gewicht, mit Eindringlichkeit gesprochen werden soll, in der Komposition nicht dem Falsett, sondern der Region der Brusttöne anzuvertrauen haben.

In Bezug auf den blossen Stimmklang, abgesehn von der Sprache, zeigt sich die Bruststimme kernig, fest, voll, aber weniger beweglich, die Falsettstimme von geringerer Kraft und Ausdauer, aber oft wei- cher oder flötender und beweglicher, besonders für engere, z. B. dia- tonische Tonfolgen. Jedenfalls ist die Tonreihe des Falsetts für die meisten Sänger (besonders für Sopran und Tenor) nicht zu entbeh- ren. Man wird daher von der Bruststimme, als der vornehmsten, ausgchn und ihr, so viel der Gang der musikalischen Gedanken zu- liisst, besonders das kräftig und ausdrucksvoll Vorzutragende anver- trauen, die Falsettstimme aber für leichtere Bewegungen, z. B. Läufe und Koloraturen, oder da, wo es eines weitern Tongebiets zur Aus- führung der musikalischen Idee bedarf, benutzen. Auf die Frage, wo die hiernach so wichtige Gränze der Register zu finden, werden wir bei den Stimmklassen zurückkommen. Es sei nur gleich im Voraus bemerkt, dass auch hier eine scharfe Gränze nicht zu ziehen ist ; denn eines Theils findet sie sich bei den einzelnen Singenden, auch derselben Stimmklasse, um eine, zwei drei Stufen höher oder tiefer gestellt, andern Theils kann jeder nur einigermassen ge- übte Sänger seine Bruststimme um ein Paar Töne höher führen und die Falsettstimme um ebensoviel tiefer eintreten lassen.

Eine noch höhere Reihe, als die gewöhnlich im Gesang gebrauch- ten Falsetttöne, ein zweites und bisweilen ein drittes Register der- selben (man könnte sie Vogel töne nennen), entfernt sich noch weiter von der Region des ausdrucksvollen und sprachlichen Ge- sangs. Sie kann nur im Sologesang in sogenannten Bravoursätzen oder Koloraturen zur Anwendung kommen, hier aber allerdings (wie Mozart in den Arien der Königin der Nacht gezeigt hat) eigen- thümlichen Reiz üben. Nur ist dieser Reiz, die ganze Wirkung der hohen und höchsten Falsetttöne gcwissermassen mehr instrumen- taler als gesangartiger Natur; denn das, was den Kern und Werth des Gesangs ausmacht : Seelenausdruck und innigste Beseelung der Sprache, tritt hier noch mehr, wie bei dem untern und häufiger angewendeten Falsett zurück.

5. Die St i m m k 1 asse n.

Die Singstimmon unterscheiden sich bekanntlich zunächst nach dem Geschlecht in männliche und weibliche; den letztern werden wegen der gleichen Stimmlage und unentwickelten Mann-

* Die Frauen sprechen meist in solcher Stimmlage ; daher ist ihre Laut- gebung so oft undeutlich und unkräftig. Sie flöten mehr als sie sprechen.

358

Vorstudien.

haftigkeit die Knaben- und Kastratenstimmen zugezählt, auf deren Besonderheiten hier nicht weiter einzugehen ist. Die weib- lichen Stimmen sind weicher, singender, fliessender und beweg- licher, die männlichen sind kerniger, voller, mehr für energische Tonfolgen, sie sind ausserdem in der Regel geeigneter für tiefen und karakteristischen Ausdruck und für die volle Gewalt der Sprache, während die weiblichen sich in der Regel mehr von dem Sprechen- den und bestimmt Karakteristischen zum allgemein-Singenden oder allgemein-Musikalischen hinneigen. Es spricht in den Stimmen der volle Karakter der Geschlechte sich aus.

Hiernach erst sind die Stimmklassen selbst in Betracht zu ziehen. Bekanntlich stehn deren vier, Sopran (Diskant), Alt, Tenor und Bass, fest. Diese Stimmen werden jede in ihrem Schlüssel*, Diskant und Alt (auch der Tenor) bisweilen auch im Violinschlüssel (der Alt bisweilen auch im Diskantschlüssel) notirt.

Diskant. Alt. Tenor. Bass.

Ihren Umfang giebt dieses Schema an

Sopran.

... , r

p i

e l

l T

Alt.

^rrf ,

J j

Tenor.

4T

Bass.

=*=^

Die mit einem Bogen überzognen Noten umfassen die Mitte der Stimme, die mit Viertelnoten bezeichneten Töne in der Tiefe fehlen manchem sonst gutbegabten Sänger und sind bei den meisten schwä- cher und weniger hellklingend ; die als Viertel notirten hohen Töne stehn ebenfalls nicht allen Sängern zu Gebot und haben bei den meisten härtern, heftigem, auch wohl gellenden Klang.

Die Kopf- oder Falsetttöne setzen im Sopran meist bei dem zweigestrichnen e oder /*, das Falsett im Tenor meist bei dem eingestrichnen f oder g ein , obwohl , wie schon S. 357 ge- sagt, diese Gränze bei verschiednen Individuen abweichend und bei demselben Individuum beweglich ist. Der Alt macht wenig, der Bass selten oder nie von jenem Register Gebrauch; jener könnte sie nur im Nothfalle für das zweigestrichne c oder d, dieser für das eingestrichne es oder e gebrauchen, worauf hier keine wei- tere Rücksicht zu nehmen ist.

* Kenntniss der Schlüssel und Hebung in ihrem Gebrauch müssen hier (allenfalls unter Hinweisung auf die Allgem. Musiklehre des Verf., S. 20) vorausgesetzt werden.

0

Digitized by Google

Das Simmorgan,

359

Von den Gränzbestimmungen der vier Stimmklassen ist mehr oder weniger dasselbe zu sagen ; man findet in jeder Klasse Indi- viduen, deren Umfang nach Tiefe oder Höhe bedeutender oder ge- ringer, deren Mitteltöne etwas mehr nach der Höhe oder Tiefe ge- rückt oder ausgedehnt, deren tiefe Töne stärker, deren hohe mil- der sind*. Demungeachtet werden sich obige Bestimmungen als Grundmaass für die Mehrzahl der Sänger wohl bewähren, und eben auf ein solches Grundmaass kommt es dem Komponisten hauptsäch- lich an.

Zwischen diesen vier Hauptklassen treten nun noch Mittel- klassen auf, von denen wir nur den Mezzosopran eine Stimmgattung, die die Mitte hält zwischen Sopran und Alt und etwa vom kleinen 6 oder a bis zum zweigestrichnen f oder g, und den Bariton eine hohe, sich dem Tenor nähernde Bassstimme, die vom grossen A bis zum eingestrichnen f reicht anführen ; die Mitte beider Stimmen würde etwa von f bis c oder d gehen. Der Mezzosopran wird jetzt stets im Diskant- oder Violinschlüssel gesetzt**, der Bariton im F-Schlüssel. Ausserdem unterscheidet man auch wohl hohen und tiefen Sopran, Tenor und Bass, Alt und Kontraalt (contr'alto, tieferer Alt) *** ; doch sind alle diese Neben- abtheilungen nur von untergeordneter Bedeutung.

Wichtig aber in hohem Grade ist das Studium und die lebendige, für immer festgestellte Einprägung der Hauptklassen. Zunächst muss es einleuchten, wie übel berathen ein Komponist ist, der den Stim- men etwas zumuthet, das sie nicht oder doch nur unbefriedigend zu leisten vermögen; und wie voll sind, wenn wir eine Masse von Kompositionen durchgehn, die Stimmblätter von Sätzen, die stark

* Daher kann es nicht befremden, wenn man auch bei den Lehrern abwei- chende Bestimmungen findet; in früherer Zeit wollte man sich mit Einem Schema für alle Stimmen

behelfen, was denn wohl mehr bequem als richtig erscheint. Selbst die Zeit ändert hier vielfach. So haben Bach und Händel ihre Altstimmen bis zum kleinen f (der Vcnetianer Be nedetto Ma reell o sie bis zum kleinen d) hin- unterführen dürfen, weil ihre Chöre mit Knaben mit grellem und tiefern Stimmen besetzt wurden, während unsre Sängerinnen, mit denen unsreChöre meist besetzt werden, selten so tiefreichende und in der Tiefe so kräftige Stimmen haben. Wir werden schon hier gewahr, dass das Studium selbst der bewähr- testen Meister ohne Berücksichtigung der Verhältnisse leicht irre führen kann.

** Er erhielt früher auch wohl seinen C-Schlüssel auf der zweiten Linie, so dass die fünf Linien von klein a bis eingestrichen h reichten. Wohl ange- messen — wenn die Unterscheidung wichtig wäre.

*** Ziemlich von gleicher Stimmlage war die von den Franzosen, z. B. zu Gluck's Zeit, mit haute-contre bezeichnete Stimme, ein um drei, vier Stufen höher liegender Tenor.

360 Vorstudien.

erschallen sollen und in zu grosser Tiefe matt verloren gehn, oder von zu hoch gelegten, die falsettirt oder heftig herausgestossen werden müssen und beiläufig die Sänger erschöpfen, während sie sanft, ausdrucksvoll, edel hervortreten sollten ! und wie viel schöne, tiefgefühlte Gedanken sind auf solche Weise ihrer Wirkung zum Voraus verlustig!

Dann aber und dies erachten wir wegen seiner Rückwirkung auf den Geist des Komponisten für noch wichtiger bietet jede Stimmklasse durch ihren besondern Umfang, durch die eigenthttm- liche Lage ihrer Mitteltöne u. s. w., durch den hierdurch unterstütz- ten Karakter ihres Klangs und ihrer ganzen Weise dem Komponi- sten ein festes Karakterbild, bieten alle vier Klassen ihm einen Kreis bestimmter, karakteristischer Ideal-Personen und befördern so im Komponisten das, worauf zuletzt in der Kunst Alles ankommt : sie heben ihn aus dem Allgemeinen, Abstrakten, Unbestimmten in das Gebiet der bestimmten Wahrheit, des Individuellen und Karakteri- stischen; und zwar in grossartiger Weise, frei vom allem kleinlich und eng Persönlichen. Es sind hier nicht einzelne Menschen mit den Zufälligkeiten und Besonderheiten, die an jedem haften, sondern es sind in grossem Styl*, in grossartiger Auffassung die bedeu- tungsvollen Gegensätze, die sich in der Natur des Menschen her- ausstellen : der Diskant und Alt weiblich, der Tenor und Bass männlich; der Diskant jugendlich, jungfräulich, zu froher leichter Bewegung, auch zu heisser weiblicher Leidenschaftlichkeit geneigt, der Alt mehr matronenhaft, ernster und inniger, weicher elegischer Rührung, tiefer Klage und Trauer seine Weisen darbie- tend, der Tenor jünglinghaft, bald für schmelzende Innigkeit, bald für glühende Leidenschaft erregt, der Bass männlich reifer, von kernig nachhaltiger Kraft, würdig und ruhig, aber gewaltsamer Aus- brüche der Leidenschaft fähig ; die hohen Stimmen, Diskant und Tenor, heller, beweglicher, die tiefen Stimmen, Alt und Bass, dunkler, ruhiger.

Alle diese Andeutungen denn wer könnte ohne förm- liche Abhandlung so inhaltvolle Karaktere erschöpfend schildern ! können eben nur Hinweisungen auf den reichen und in jedem Zug bedeutsamen Gegenstand sein ; weder sie noch eine viel vollständi- gere Schilderung können ihn erschöpfen, sie können und sollen nur aufmerksam machen, die eigne Beobachtung wecken und leiten. Diese aber darf kein Komponist sich erlassen oder vor dem Angewinn einer sichern und tiefen Verständniss fallen lassen ; überall muss er den Klang und die ganze Weise jeder Stimmklasse an ganzen Mas- sen im Ghorgesang, wie an möglichst vielen Einzelnen beobachten

* Vergl. Th. I, S. 339; Allgem. Musiklehre, S. 450.

Digitized by Google

Das Stimmorgan.

361

und sich möglichst klar machen, dabei jede Besonderheit sei sie auch noch so reizend, die er an diesem oder jenem Sänger ge- wahrt, sorgfältig von dem Bilde des Ganzen absondern, so dass ihm nur das reine, aber volle BiJd des Klassenkarakters vor dem innern Auge bleibt. Die rein persönlichen Besonderheiten, die an Einzel- nen karakteristisch hervortreten, sind ebenfalls, aber nicht hier, sondern auf einer andern Stufe, ein wichtiger Gegenstand für das höhere Studium. *

Es ist wohl nicht zu leugnen, dass die altern Komponisten, na- mentlich Händel und Seb. Bach und vor allen der erstere, in der treuen Beobachtung der Stimmkaraktere es den neuern zu- vorgethan haben, und dass dieser Treue ein grosser Antheil an dem Erfolg ihrer Kompositionen beigemessen werden muss; namentlich ist dies von ihren Chorkompositionen, besonders bei Händel, zu erweisen, der oft mit nicht eben tief erfundnen oder energisch ver- arbeiteten Sätzen entschieden bedeutendere Wirkung erlangt, als seine Nachfolger mit ihren oft geistig-tiefern und reicher entwickel- ten Gedanken. Dies liegt zunächst darin, dass keiner Stimme so leicht etwas zugemuthet wird, was sie nicht gut gewährt, dann, dass schon durch die gewissenhafte Scheidung der Stimmgebiete die vier Grundkaraktere festgestellt und aus einander gehalten wurden. Der alte Meister hatte das w ahrhaft dramatische Prinzip*, das in aller (mehr als einstimmigen) Komposition lebt, erkannt und sich zu eigen gemacht:

er wollte nicht selber sprechen, sondern die Per- sonen seines Drama's, die Stimm en sollten spre- chen, jede wie es ihr eigen und recht wäre. So eewann er vier lebensvolle, frei bewegte, innii* und eigen-

O 7 Ks J W O

thümlich beseelte Persönlichkeiten, deren Wechselrede und Gegen- spiel schon als Ausdruck frischer und gesund-selbständiger Wesen anzieht, wenn selbst das, was sie eben mit einander zu verkehren haben, von minderer Anziehungskraft wäre. Im Gegensatze dazu wollen neuere Komponisten oft nur sich selber hören lassen, und die Stimmen sind ihnen nur Werkzeuge zu beliebigem Gebrauch, Un- terthanen, die ohne eignen Willen und Karakter sclavisch nur sagen und thun sollen, was der Alleinherr eben will. Da wird denn der Alt in den Diskant, der Bass in den Tenor hinaufgetrieben, jedem wird zugemuthet, was ihm nicht recht und eigen ist, und somit das reizende Gegenspiel mannigfaltiger Karaktere in einer nirgends ge- rechten Uniformität aller Stimmen gehemmt und unterdrückt.

* Vergl. Th II, S. 4 64

362

Vorstudien.

Dritter Abschnitt.

Die Sprache nach ihrer musikalischen Natur.

Wenn der Verein von Sprache und Musik im Gesang ein sinn- gemässer , kein gegenseitig störender sein soll , so muss es ver- wandtschaftliche Beziehungen für beide, etwas Gemeinsames in bei- der Natur geben, und der Komponist muss sich dessen bemächtigen. Dieses Gemeinsame muss nicht bloss in dem geistigen Inhalt liegen (eine Gemeinsamkeit des geistigen Inhalts, der Idee kann auch zwi- schen unvereinbaren Künsten, z. B. zwischen Poesie oder Musik und Malerei, statthaben ohne Macht, die unvereinbaren zu verschmel- zen), sondern in ihrem wirklichen geist-leiblichen Wesen. Und dies ist allerdings zwischen Sprache und Musik vorhanden.

Wir finden in dem geist-leiblichen Wesen der Sprache alle mu- sikalischen Elemente wieder, nur allerdings in der den Sprachzwecken gemässen Gestaltung. Eben hierauf beruht die Möglichkeit, beide sinngemäss zu verschmelzen. Die tiefe Auffassung jener Elemente ist eine der wichtigsten Grundlagen für Gesangkomposition.

1. Die Laute.

Erstens bietet uns die Sprache eine grosse Reihe von Klän- gen dar in ihren Lauten. Hier werden bekanntlich zuerst die Selbstlaute (Vokale) von den Mitlauten, und in beiden Reihen die Mittel- und Mischlaute von den einfachen, so wie hier wieder die im Wesentlichen gleichen, aber im Grade der Schärfe oder Milde von einander abweichenden unterschieden.

Am wichtigsten sind uns hier die Selbstlaute, die wir in folgender Reihe

I, E, A, 0, U

aufstellen ; wir haben den spitzesten und feinsten vorangestellt, gehen von da zu dem Mittelvokal A und von diesem weiter zu den dunk- lern und dumpfern. Im A tritt die Stimme vollkommen ungehemmt aus der für ihren Vollklang günstigsten Mundhaltung und Mundöff- nung hervor, im E und noch mehr im I wird sie durch die innere Mund- und Zungenhaltung zusammengedrückt und geschärft, im 0 und noch mehr im U wird sie durch die äussere Mundhaltung im Heraustreten gehemmt und verdunkelt.

Es folgt schon hieraus : dass man die Gesangpartien, die am hell- sten, ungetrübtesten hervortreten sollen, mit keinem Laut günstiger, als mit dem A, mit keinem ungünstiger, als mit I und U verbinden darf.

Jeder dieser Vokale hat Abstufungen grösserer Helle und Schärfe und Dumpfheit, es ist z. B. ein spitzeres und milderes I (Yj,

Digitized by Google

Die Sprache nach ihrer musikalischen Natur. 363

ein dreifaches E zu unterscheiden ; ferner stellen sich zu den Vo- kalen noch die Doppellaute, die Iheils wieder nur Färbungen der ursprünglichen Vokale sind, z. B. Ü und Ä nichts als Modifika- tionen von I und E, theils Verknüpfungen von verschiednen auch in der Verbindung noch getrennt bleibenden Vokalen, z. B. Au, Ei u, s. w.* Wir haben also auch hier einige Kerngestalten, die mannigfache, zuletzt in einander übergehende Umgestaltungen oder ümfarbungen erfahren.

Zu den Vokalen als ihr Vor- oder Nachlaut kann sich zunächst der Hauchlaut H gesellen, die fühlbar und hörbar gewordne Aus- athmung, das Zeichen einer heftigem Erregung im Athemlebens- prozess.

Die Mitlaute (Konsonanten) endlich sind besondre mittels dieser oder jener Organe des Mundes gebildete Klänge, die sich den Vokalen zugesellen (wie auch ihr Name zeigt) und ihre körperli- chere Abgränzung bilden. Auch sie stellen sich in gewisse Grup- pen zusammen, z. B. die Folgen von w-v-f-ff, b-p, d-t-th, s, ss, c, oder verknüpfen sich nach Art einiger Doppellaute unter- scheidbar mit einander, z. B. pf, st, z oder ct.

So bietet uns also die Sprache eine Reihe mannigfacher Klänge in verschiednen Graden und Verschmelzungen, deren jeder seine be- sondre musikalische Wirksamkeit, seinen besondern Klangkarakter hat. Wenngleich nicht hier, sondern erst in der Musikwissenschaft hierauf näher eingegangen werden kann, so musste doch an diese Seite der Sprache erinnert werden ; denn jedes lebhafte und fest- gehaltne Gefühl von dem Ausdrucksvollen und Bedeutenden in der Sprache kann im Komponisten zu einem karaktervollen Moment der Komposition erwachsen. Es ist auf das Bestimmteste, namentlich an Gluck, dem grossen Sprachmeister unter den Musikern, nach- zuweisen : dass der vollendete Gesangkomponist nicht bloss den all- gemeinen Sinn seiner Aufgabe, nicht bloss die Bedeutung des ein- zelnen Wortes, sondern auch den Klang jedes bedeutsam eintreten- den Lauts in den Kreis seiner Empfindung und daher seiner Schö- pfung zieht, dass bei ihm die Weise, der Ton das Wort, aber auch der Laut den Ton färbt, gestallet, belebt, und dass so das

* Es ist vielleicht nicht überflüssig, anzumerken, dass alle unterscheid- bar bleibende Doppellaute im Gesang womöglich dergestalt umgewandelt wer- den, dass der erste Laut als A erscheint ; z. B. Geist, Einer, Euer wird wie Ga-ist, A-iner, A-üer ausgesprochen, die zweite Hälfte des Doppellauts gleichsam zum nachfolgenden Laut gezogen. So gewinnt der Gesang eine Reihe günstiger A's, die die Sprache nicht hat.

Digitized by Google

361

Vorstudien.

ausgebildete Gefühl und Bewusstsein vom Körper der Sprache zu einer mächtigen Hülfsquelle der Komposition wird*.

2. Der Rhythmus.

Das zweite Gemeinsame der Sprache mit der Musik ist der Rhythmus, der sich in beiden durch Längen und Kürzen, durch grössere oder mindere Stärkegrade, Betonung ausspricht. Für die Musik sind diese rhythmischen Mittel, ist der Rhythmus überhaupt von weit höherer Bedeutung und Nothwendigkeit, als für die Sprache, deren Sinn in den Worten ungleich bestimmter und darum fassli- cher und schnelltreffender ist. Daher wird man leicht gewahr, dass die Sprache sowohl viel ärmer ist an Abstufungen der Betonung und des Verweilens, wie wenig hat sie unsrer Reihe von Be- tonungen vom härtesten fortissimo des ganzen Orchesters bis zum säuselnden, ganz verhallenden pianissimo, oder vom flüchtigsten Hundertachtundzwanzigstel bis zur Taktnote oder mehrern verbund- nen Taktnoten entgegenzustellen! als auch viel unbestimmter; denn bei ihr sind jene genauen Abmessungen, die unser Takt- system gewährt, nicht vorhanden, weil sie ihrer nicht bedarf, ja, sie sind eben deswegen gegen den Geist der freien, für sich bleiben- den Sprache. Bei aller dieser Unbestimmtheit oder mindern Be- stimmtheit hat aber die Sprache bekanntlich ihre feststehenden Mo- mente der Betonung und des Verweilens, die entweder aus dem Sprachbau oder aus dem gegen einander abzuwägenden Sinn der einzelnen Worte hervorgehn.

Diese feststehenden Momente müssen nun auch im Gesang fest- gehalten werden ; eine kurze oder betonte Silbe, ein dem Sinn ge- mäss hervorzuhebendes Wort darf nicht unbetont bleiben oder zu- rücktreten in der Komposition.

Allein mit dieser allgemeinen Regel ist noch wenig gethan. Denn nun kommt erst die bestimmtere und reichere musikalische Rhythmik und Betonung herzu und hebt die sprachlichen Accente aus ihrer Unbestimmtheit und Beschränktheit zu sich empor; auf der andern Seite muss aber in gewissen Verhältnissen die Musik von ihrer scharfen Bestimmtheit nachlassen, um die frei fliessende Sprache nicht unzeitig und unangemessen zu hemmen und zu zwängen. So bildet sich aus dem Rhythmus der Sprache und der Musik, so einig beide ihrem Grunde nach und so verschieden in ihrer Ent- wickelung, ein drittes Wesen, das man nicht zu beherrschen hoffen darf, wenn man nicht jede Seite, also namentlich den sprach-

* Eben dies ist der Grund, warum man seine Werke nur mit ihrem Ur- text (S. 344) vollkommen erfassen und mit vollem Erfolg studiren kann.

Digitized by Google

Die Sprache nach ihrer musikalischen Natur.

365

liehen Rhylhmus, für sich tief empfunden, erkannt, sich angeeig- net hat.

Man betrachte einige im sprachlichen Rhythmus ziemlich über- einkommende Zeilen :

4) Gemächlich schreitet er,

2) Geduldig leidet er,

3) Gelinde zieht der Bach,

4) Gewaltig reisst der Strom,

5) Gebrochen sinkt er hin,

6) Gestürzt erbebet er.

Sie lassen sich in sprachlicher Beziehung kleine Abweichun- gen (zwei lange Silben statt einer kurzen und einer langen) bei Seite gelassen füglich auf ein einziges Grundmaass,

auf den Wechsel von kurzen und langen Silben bringen. Aber welch eine Mannigfaltigkeit erwächst hier durch den Zutritt der bestim- menden musikalischen Rhythmik! Unterscheidet man die sechs Zei- len nur obenhin nach dem ungefähren Gewicht ihres Inhalts, so er- geben sich gleich zunächst fünf oder sechs verschiedne Rhythmen ;

o | J i J J ^J-J ^

S) -a_J | J J-4-+J J— +-J

3, JL)_J JL_jJ £_4_J

4, ■^L+JJU j! | J=j 1

5) _4_J j-J—p-J 1 J i- j 1 J n

6) _| J|J r 7-J*| o1 7 /*[ o1 r> J

geht man aber auf den Sinn und das Gewicht der einzelnen Momente in den Texten näher ein, so ergeben sich noch ganze Reihen ver- schiedner, bald in einer, bald in einer andern Beziehung ausdrucks- voller Rhythmen; es könnte z. B. der zweite Text so

l J | J. J | J J J

3 J | J J_|_r J | J

f-i+J J i-^nqij-j-j—

der dritte so

| jf—|7 } * * i jrpj g 1 jr~p/ j> / | jrpj

Digitized by Google

360

Vorstudien

der sechste so

| J1 1 J | 7 / / / J |

aufgefasst werden. Dass beide Reihen von Fällen die hier möglichen und wirksamen Gestaltungen des Rhythmus nicht erschöpfen, ist klar.

Ein rhythmisches Klangmittel ist noch besonders zur Sprache zubringen; das ist der Reim. Dieser rundet die Versformen so entschieden, so sinnlich nachdrucksvoll (und bisweilen so innerlich beziehungsvoll) ab, dass ihm in der Komposition schwer widerstrebt werden kann. Aber eben deswegen, und weil Jeder des Reims und seiner Gewalt von selbst inne wird, haben wir nicht nöthig, hier weiter von ihm zu handeln.

Das dritte Gemeinsame endlich zwischen Sprache und Musik ist

3. der Tonfall.

Die Sprache hat ihre Melodik so gut und durchaus von glei- chem Sinne, wie die Musik. Die Stimme des Sprechenden hebt und senkt sich, stetig oder schweifend, jenachdem seine Stimmung sich gestaltet, erregter oder beruhigter, stetiger oder schwankender wird ; die Sprache hebt und senkt sich in weitern oder mässigern, gleichern oder ungleichem Schritten, jenachdem die Stimmung ge- waltsamer oder gemässigter ist ; ja , im lebendigsten Affekt treten sogar Andeutungen bezeichnender Intervalle, Ueberziehn aus einer Tonstufe in die andre, kurz alle Elemente des (melodischen) Ton- wesens hervor. Dies Alles ist nicht oder nur ausnahmsweise in den Momenten des höchsten Affekts so bestimmt und so klar fasslich, wie in der Musik, eben weil in der Sprache neben den festbestimmten Ausdrücken des geistigen Inhalts die Laute des ver- hülltem Seelenlebens nur den zweiten Rang einnehmen. Allein wenn auch verhüllter, so behalten doch alle diese Tonbewegungen ihre Redeutung und werden durch den Eintritt der wirklichen Musik in die Sprache bestimmter und damit gesteigert. Dass also dieser tonische Inhalt der Sprache von der höchsten Redeutung für die Komposition, dass ein vollkommnes Gelungensein der letztern ohne Einklang des Tonischen oder geradezu genannt Seelischen in Sprache und Musik nicht denkbar ist, bedarf hiernach wohl keines weitern Reweises.

Fassen wir nun diese eesammten Sprachmittel wieder zu einem jetzt in allen seinen Gliedern oder Restaudtheilen erkannten Körper zusammen : so können wir an der Sprache in ihrer Ganzheit die- selben zwei Grundbestimmungen inne werden, die sich auch in der Musik (überhaupt in allen Künsten) herausstellen.

Zunächst ist die Sprache fähig, sich in einer gewissen Wohl- gestalt, in einem mannigfaltigen und doch ebenmässigen Spiel

Digitized by Google

Die Sprache nach ihrer musikalischen Natur.

367

aller ihrer Elemente zu zeigen; dies ist die Anmut h oder allge- meine Schönheit der Form. Sie beruht erstens auf einem wohl geordneten Wechsel der Laute, namentlich der Vokale, in dem so- wohl die eintönige Anhäufung desselben Lauts, als das grelle und zu häufige Widereinanderstossen der einander zu fremden, zu wi- derstrebenden Laute vermieden und ein sanfter oder lebensvoller Schwung der Lautirung gewonnen ist; zweitens auf einer eben- müssigen und doch frei entfalteten Rhythmisirung ; auf einem anmu- thig wechselnden und ebenmässigen Spiel der Accente in Länge und Kürze, Schwere und Leichte der Betonung; drittens auf einem Tonfall des Redenden, der in schwungvoller und dabei sanfter, von heftiger Bewegung wie von starrem oder trägem Stehnbleiben gleich entfernter Weise in der Sprache selbst eine Ahnung, einen Abglanz von Melodie durchschimmern lässt, ohne doch die Gränze von Sprache und wirklicher Musik zu Uberschreiten. Dies ist die allgemeine oder äussere Schönheit der Sprache, der Ausdruck von dem sichern, an- muthig leichten Walten und Wohlgefühl des Redenden in derselben. Sie ist mehr oder weniger in der Sprache jedes Volks vorhanden und in jeder durch den ausgebildeten Sinn des Redenden zu erhöhen ; in der deutschen Sprache ist sie nach dieser oder jener Seite vielleicht nicht so schimmernd als in mancher andern, aber dafür mannigfaltiger als in den meisten, selbst die griechische nicht aus- genommen, — die italische nun gar nicht. Der höchste Meister aber scheint hier Goethe zu sein. Seine Sprache im rechten Munde darf Musik heissen; manches seiner Gedichte, z. B. der Fischer

»Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll«, müsste selbst den des Inhalts unkundigen Ausländer bewegen und ihm, bei erwecktem Musiksinn, schon durch den Klang der Worte und den Ton der Silben eine Ahnung von dem Element, in dem es lebt, erwecken.

Sodann berührt aber, wie wir oben angedeutet haben, die Sprache schon in ihrer Aeusserung vielfältig und oft höchst mäch- tig dieselben Saiten der Empfindung, der Leidenschaft, die durch den feststehenden Sinn der Worte zum Hörer sprechen, und hier kann sich im Ganzen keine Sprache mit der unsrigen messen; we- nigstens ist ihr keine eben hier überlegen.

Nach allen diesen Beziehungen muss die Sprache beobach- tet, in ihren vorzüglichsten Schriftstellern und Dichtern studirt, es muss im Leben selbst der Ausdruck der verschiednen Stimmungen und Affekte, vom Zustande der Beruhigung bis zur höchsten Auf- regung der Leidenschaften, belauscht, es muss die eigne Sprachweise zur Reinheit jedes Lauts, zu jener Wohlgestalt der Sprache, zu dem treffenden Ausdruck der Affekte durch Lautlesen und aufmerk- sam geregeltes Selbstreden ausgebildet werden. Je getreuer man

Digitized by

368

Vorstudien.

sich hier einarbeitet, je feiner und tiefer man beobachtet, je hinge- gebner man sich der leidenschaftlichen Gewalt des lebendigen Worts überlässt und sie damit zu seinem Eigenthum macht : desto reicher wird der Geist für Gesangkomposition, für Musik überhaupt befruch- tet werden.

Vierter Abschnitt. Der Inhalt des Gesangtextes.

Die nächste und folgenreiche Betrachtung gilt dem Inhalt, der sich in der Sprache für Gesang darbietet, durch den das Wort der Sprache zur Aufgabe, zum Text für den Gesang wird.

Hier tritt uns vor allem vor Augen, dass der Geist durch das Organ der Sprache ungleich bestimmter und damit schnel- ler entschieden, schneller verstanden sich kundgiebt, als durch das Organ der Musik. »Ich liebe, ich hasse, ich freue mich, ich traure« jedes dieser Worte ist sofort und unzweideu- tig verstanden, sobald es vernommen ist. Wie viel Umschweife, welchen Aufwand von einzelnen Anregungen braucht die treffendste Musik, um eine dieser Stimmungen in der Vorstellung des Hörers hervorzurufen! Allerdings hat sie dann auch mehr gethan, als dem einfachen Ausdruck der Sprache möglich war.

Hiermit tritt eine wichtige, durchgreifende Wahrheit für die Gesangkomposition vor das Auge. Im Bunde der Sprache und Mu- sik ist

die Sprache, der Text das Bestimmende und die Musik das Bestimmtwerdende

vermöge der höhern Kraft der Bestimmtheit in der erstem.

Nach dem Inhalte des Textes ist vor allem zu bestimmen :

ob derselbe zur Komposition geeignet? Es ist aber dann weiter nach ihm zu bestimmen,

in welcherWeise er komponirt werden kann?

oder um es auf den uns schon geläufigen Ausdruck der Kunstlehre

zurückzuführen :

die Form aller Gesangkomposition bestimmt und entwickelt sich nach den vom Text gebotenen Ver- hältnissen.

Wrir werden in diesem und im zehnten Buch (im vierten Theil des Lehrbuchs) sehn, dass in der Gesangkomposition, abgesehn von einigen neu hinzukommenden, alle uns bisher bekannt ge- wordnen Kunstformen wiederkehren. Sie alle werden ergriffen und

Digitized by Google

Der Inhalt des Gesangtextes. 369

>

umgebildet nach dem Erfodern des jedesmaligen Textes. Der letz- tere Punkt, in welcher Weise ein an sich komponirbarer Text behandelt werden könne oder müsse, wird in den folgenden der Gesangkomposition gewidmeten Abtheilungen Schritt für Schritt zur Erörterung kommen. Hier beschäftigt uns die erste Frage, die wir genauer jetzt so fassen :

welcher Inhalt der Sprache ist geeignet zur Kom- position? —

Alles nun, was überhaupt durch die Sprache offenbart wird, lässl sich auf drei Formen des Bewusstseins , oder des geistigen Lebens zurückführen.

Die erste ist die Form der Vorstellung oder Schilde- rung, die sich darin bethätigt, einen irgendwie wahrgenommnen äussern Gegenstand ohne weitere Beziehung auf das Innerliche des Anschauenden festzuhalten oder dem Hörer zu geistiger Anschau- ung zu bringen. Schon die blosse Nennung eines Gegenstandes: der Baum, der Horizont, noch bestimmter jede Verknüpfung die- ser Nennung mit näherer Bezeichnung: der blütenbedeckte Frucht- baum, der Nachthimmel in seiner Sterne Fracht, eben so jede Erzählung eines wirklichen oder vorgestellten Ereignisses : die Schlacht ist geschlagen, oder jenes Homerische

Eos mit Rosenfingern entstieg dem Bett des Tithonos,

Sterblichen Menschen das Licht und unsterblichen Göttern zu bringen

fallt unter den Begriff dieser Form, gleichviel wie gedrängt oder ausgedehnt, wie anziehend (und in welchem Sinn) oder nicht die Aeusserung, und welches ihr Gegenstand ist. Der Beschreibende oder Schildernde kann daher auch sich selber zum Gegenstand sei- ner Darstellung werden: »ich bin so oder so gestaltet, ich wanke gebeugt dahin, mir ist die Stirn vom stolzen Lorbeer umkränzt, von der dunkeln Cypresse überschattet « dies alles sind Aeusserun- gen derselben Klasse.

Die zweite Form umfasst die Aeusserungen des in unzähligen Gestaltungen der Zu- und Abneigung, des Verlangens und Abwei- sens u. s. w. sich bewegenden Gefühls - oder Seelenlebens. Alle Ausdrücke des Wohlgefühls oder des Leidens, des Hoffens oder Zagens, der Liebe und Freude, des Hasses und der Trauer können als Beispiele gelten.

Die dritte Form ist die der Vernunft thätigkeit. Alles, was die Vernunft als absolut nothwendige Grund- oder aus andern Vernunftsätzen gefolgerte Wahrheit feststellt, z. B. die Grund- und Lehrsätze der Wissenschaft, die Gesetze des Rechts und der Sitte, die Glaubenssätze einer Religion, gleichviel ob einer dieser Sätze in künstlerischer Form erscheint, z. B. jene Verse des Dichters :

Marx, Komp.-L. HI. b. Aufl. 24

Digitized by Google

370

Vorstudien.

Das Leben ist der Güter höchstes nicht I In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne !

gehören hierher.

Nur die zweite Reihe von Aeusserungen ist der Musik, der Sprache des Gefühls- oder Seelenlebens, gleichartig. Die Bewegun- gen der Seele, von der einfachen Empfindung an bis zu den Ketten von einzelnen bald einstimmigen, bald einander fremdern oder widersprechenden Gefühlsmomenten, die wir als Sti mmungen, als ganze Lebensperioden der Seele auffassen, die uns einen Einblick in das ganze Geistesleben, eine Ahnung der in ihm waltenden Idee gönnen : das alles ist der Musik eigen, folglich von ihr theilnehmend aus der sprachlichen Aeusserung auf- zufassen und wiederzugebären. Dagegen sind die Sphären der rei- nen Vernunftthätigkeit und der Schilderung, ist Gedanke und Bild oder Anschauung dem Wesen der Musik fremd. Es wird keines wreitern Beweises bedürfen, dass alle Beispiele, die wir für die erste und dritte Reibe sprachlicher Aeusserungen gegeben, an sich selber nicht musikalisch, nicht zu musikalischer Auffassung geeignet sind. Aller- dings kann man zu jenen Worten Töne gesellen, wo wäre das nicht möglich?* aber der Inhalt beider wird nicht zusammengehö- ren, eins wird dem andern widersprechend und störend, das Wort gereicht der Musik zur blossen Last und Hemmniss, die Musik er- stickt das ihr fremde Wort mit seiner Bedeutung.

Wir haben hier von einer scharfen Sonderung des sprachlichen Inhalts ausgehn müssen, um feste Anhaltpunkte zu gewinnen, durf- ten uns dabei sogar von solohen Momenten nicht ganz abwenden, bei denen schwerlich irgend ein nur oberflächlich mit der Musik Be- kannter — und nicht durch äusserliche Verhältnisse Genötbigter oder Verleiteter an Komposition denken wird; wem kann es ernst- lich einfallen, sittliche oder wissenschaftliche Wahrheiten für sich selber in Musik setzen zu wollen *? Allein in dem Gebiete, wo vor- aussetzlieh allein von Komposition die Rede sein kann, tritt der In- halt des Textes nicht so rein einseitig hervor; er ist entweder ein gemischter, so dass Schilderung und Gedanke (wie in jenen Homerischen Versen) oder Schilderung und Gefühl (wie bei jenem Redenden, der seine Stirn vom stolzen Lorbeer, von der trau- rigen C\ presse uuizogen sieht) Gefühl und Gedanke , oder alle drei Formen geistiger Thätigkeit sich verknüpfen ; oder er ist 2) ein solcher, der noch eine tiefere Beziehung verschwiegen oder angedeutet in sich trägt, zu der das Geäusserte nur Andeutung ist, gleichsam wie das Rathsei zu seiner Lösung. Ein Beispiel letzterer Klasse ist jenes Goethe'sche Gedicht:

* Gretry erl>nt »ich scherzweis, eine holländische Zeitung zu kouipnniren.

Digitized by Google

Der Inhalt des Gesangtextes. 371

Ueber allen Gipfeln ist Ruh',

In allen Wipfeln spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde;

Warte nur, balde

Ruhest du auch.

Die Schilderung tiefster, stillster Naturruhe ist hier nur die Hülle, die die geheime Hoffnung eines verwundeten Herzens, bald zur letzten, stillsten Ruhe zu gelangen, denn für das Begehr einer andern wäre das Gedicht zu viel und seine Bewegung, so still und so tief J zu innig, uns mehr verräth als offenbart. Eben dies zart jungfräuliche Geheimniss ist der Reiz, die Seele, der wahre Inhalt des Gedichts; in Verhältniss zu ihm wird die geschilderte Umgebung, wie die Natur im Verhältniss zum Menschen, zur Allegorie.

Ja, endlich kann 3) ein an sich selber bloss gedankenmässigcr oder beschreibender Inhalt durch irgend ein Verhältniss zu un- sermSeelenleben eine solche feststehende Bedeutung für das Ge- fühl erhalten haben, dass wir dieses in ihn hineinzutragen gereizt sind, sobald er sich uns auf künstlerischer Bahn nähert. Dies ist unter andern mit den Glaubenssätzen der Fall. Das Bekenntniss, dass wir an Einen Gott, Schöpfer Himmels und der Erden glauben, enthält an sich einen gleichviel aus und mit welchem Grunde von der Vernunft für wahr angenommnen Gedanken, mit dem das Gefühl unmittelbar gar nichts zu thun hat. Wird aber das

Credo in unum Deum, factorem coeli et terrae!

aus gläubigem Mund, oder gar im Namen Alier, die sich in erhe- bendem Weihegefühl, in Freudigkeit und Hoffnungseligkeit zu dem Einen bekennen , angestimmt : so sind es nicht mehr die Worte und ihr nächster Inhalt, uicht jener Vernunftsatz, es ist die Bedeu- tung, die das erweckte Gemüt h an ihn knüpft und durch ihn sich neu angewinnt, die durch die Worte spricht und ihnen eine der Musik zugängliche Beziehung erst verleiht.

In all' diesen gemischten Verhältnissen ist allerdings die Entscheidung nicht so einfach und leicht, wie in den einfachen, von denen wir ausgegangen. Die Verknüpfung von Schilderung und Gedanke kann nicht zur Komposition führen , da beide Faktoren nicht musikalisch sind. Die Verknüpfung von Gefühlsmomenten mit Momenten der Schilderung oder Vernunftthätigkeit, oder der Hinzutritt einer nur verhüllt angeregten oder von aussen herzu- getragnen Stimmung und Erregung des Gefühls kann das Ganze in die musikalische Sphäre heben.

Allein hier kommt, wie Jeder voraussieht, alles auf die Macht und Ausdehnung an, die jedes der verschiednen Mo-

Digitized by Google

372

Vorstudien.

mente im Verhältniss zu den andern an sich hat. Wo Ge- danke und Schilderung nach der in sie gelegten Bedeutung und der ihnen gegönnten Breite der Darstellung vorwalten, da wird das Ge- fühlsmoment zurücktreten und Komposition gar nicht, oder nur in untergeordneter Weise statthaben können ; wo das Gefühl mächtig den Vorrang behauptet, wird es in der Komposition die an sich unmusikalischen Momente der Gedankenform oder Schilderung über- tragen.

Die entschiedensten und darum am kräftigsten verdeutlichenden Beispiele der erstem Reihe bieten uns die Dichter des klassischen Alterthums Überali. Auch nicht Ein Gedicht von einiger Bedeutung wird sich aufweisen lassen, in dem nicht ganz gemäss dem ob- jektiv nach aussen gewendeten Sinn der Alten Schilderung und Gedanke mit höchster Uebermacht vorwalteten. Selbst von den Choren, in denen ihre Dramatiker auf die höchste Mitwirkung der Musik* rechneten, selbst von denjenigen Chören, in denen die Wellen des Affekts am höchsten aufschlagen, gilt dies durchaus. So, wenn in den »Schul zf ieh enden« desAischylos (Ueber- setzung von Droysen) die Danaiden in bitterster Angst vor den nahe drängenden Verfolgern ausrufen :

Du holmreich Land ! du theures Heiligthum ! Was wen] ich dulden, ach in Apia wohin Entfliehn, wo dunkle Stätte finden, auszuruhn? Ein schwarzer Rauch möcht* ich fliehn, Zeus Wolken nach von hinnen ziehn,

Lautlos verschwinden, Möcht' ein leiser, leichter Staub Emporgeweht flügellos verfliegen!

Nein fluchtlos bliebe hier nicht meine Furcht! Und dunkelwogend pocht das Herz in meiner Brust! Des Vaters Wort, es traf mich, ich vergeh' vor Angst! So werd' der Tod eh' mein Theil, Hoch aufgeknüpft im bittren Seil,

Eh' diesen Busen Rührt der Gottverfluchten Hand, Eh' will ich todt, will ich des Todes Raub sein.

Wo lind' ich einen Ort nur, hoch in luft'ger Höh',

Um den die nebelfeuchte Wolke wird zu Schnee,

Ein stilles, jähes, gemseneinsames, abgrundschwindelndes,

Adlernistendes Felsgehäng,

Tiefen Sturzes Zeuge mir, Eh' dieser Brautnacht dunkelem Fluch mein brechend Herz

anheimfällt?

* Nur dass die griechische, überhaupt die alte Musik eine ganz andre war, als die unsre. Man vergl. einstweilen die Artikel des Verf. über griech i - sehe Musik im Universallexikon der Tonkunst.

Digitized by Google

Der Inhalt des Gesangtextes.

373

und so fori! Angsl, liefe Bekümmerniss, heftige Gemüthaufre- gung bis zum Entschlüsse des Selbstmords erfüllen hier die Seele der Redenden, sprechen aus dem Ganzen des Gedichts; aber stets und tiberall, fast in jedem einzelnen Zuge tritt die Empfindung in das ausserlich Anschaubare über, das der Musik fremd, der Komposition unerreichbar ist, ja, ihr ungeachtet der zum Grunde liegenden Gemütsbewegung widerstrebt. An die Stelle des unmittelbaren Gefühlsausdrucks sind Reflexionen in Gestalt von Gleichnissen oder Nennung und Schilderung von Stätten getreten, deren in der Angst gedacht, zu denen hin verlangt wird. Dies alles ist dem reinen und unmittelbaren Gefühlsausdruck der Musik fremd uud unerreichbar, also störend ; die reinen Accente der Klage oder Angst, oder welcher andern Empfindung, die die Musik auf »holm- reich Land Apia ein schwarzer Rauch Zeus Wolken nach« u. s. w. fallen lassen muss, werden lächerlich gemacht durch den Widerspruch mit dem Textinhalt aller dieser Momente. Und um- gekehrt werden alle diese Züge des Gedichts in dem allgemeinen, ihnen fremd bleibenden Musikaufguss ertränkt. Und dies ist eins der musikgünstigsten Beispiele, die man in der gesammten Poesie der Hellenen finden wird*.

Zwischen den sprachlichen Aeusserungen also, die durchaus der Musik fremd, und denen, die ihrem Eintritt unzweifelhaft günstig sind, steht eine Reihe solcher, in denen musikalische und wider- musikalische Tendenzen sich in unzähligen Abstufungen mischen, so dass man allerdings in jedem einzelnen dieser Fälle zu erwägen hat, ob und wiefern hier Komposition statthaft sei. Diese Prüfung ist nicht bloss dazu nöthig, das durchaus der Komposition Unzugäng- liche zu vermeiden, sondern sie zeigt sich auch, wie wir wei- terhin sehen, bei der Form der Komposition von erheblichem Einfluss.

* Dass man auch zu solchen ungeeigneten Gedichten Noten setzen kann, versteht sich, wie es denn auch schon öfter nicht bloss in neuester Zeit, sondern früher von Reichard t, ja schon vor drei Jahrhunderten geschehn ist. Auch können sich in solcher wie in jeder andern Komposition anziehende Momente zeigen und diese sowohl, wie die Neuheit oder Seltenheit des Unternehmens, die nie ganz zu ertödtende Mncht des alten Dichters, der scenische Reiz können auch solchen Unternehmungen Gunst gewinnen. Demungeachtet kann nie ein Kunstwerk im höhern Sinne des Worts entstehn, wo ein unversöhn- licher Widerspruch der beiden zu demselben sich vereinenden Künste das Wort durch den Ton und den Ton durch das Wort aufhebt oder entkräftet.

Digitized by Google

374

Vorstudien.

Fünfter Abschnitt. Ausdrucksweise des Textes im Allgemeinen.

Setzen wir nun im Dichter oder Redenden einen der Musik zugänglichen Inhalt voraus, so kommt es zunächst auf die Weise an, wie dieser Inhalt vom Redenden zu erkennen gegeben wird. Im Allgemeinen lässt sich ein Gedanke oder Gefühl entweder ge- radezu und aufrichtig aussprechen, oder er soll verneint, verborgen, verleugnet werden. Dies kanu geschehen mit der Absicht der Unwahrhaft igkeit, um zu täuschen, zu verhehlen u. s. w., oder in der Absiebt, die Wahrheit suchen, er- rathen zu lassen, z. B. aus Neckerei, Koketterie, Ironie u. s. w. In all' diesen Fällen besagen die Worte etwas Andres, als der Redende eigentlich für wahr hält; das innere Bewusstsein desselben ist mit seiner Aeusserung in Widerspruch.

Das Gefühl aber kennt an sich nur eine gerade, unumwundne Aeusserung; nur der Verstand kann seinen Inhalt ebensowohl ver- neinen, verkehren und verstellen, als aufrichtig hingeben, er kann also auch das, was er am innern Gefühl wahrgenommen, verneinen, verleugnen oder verstellen. Nicht das Gefühl ist Verstellung oder verstellt, sondern an die Stelle seiner stets aufrichtigen Aeusserung wird vom Verstand eine andre geschoben.

Diese Verleugnungen oder Verfälschungen nun vermag die Musik so wenig als das Gefühl sich wahrhaft anzueignen; sie kann nur durch den Widerspruch, in den sie mit dem Worte des herr- schenden Verstandes tritt, die Falschheit errathen lassen, kann die Stimmung, welche die Falschheit im Redenden antrifft oder her- vorruft, verrathen und damit allerdings den Ausdruck, das Karakterbild des sich verleugnenden, Verstellenden vollenden. In den allermeisten Fällen wird aber der innere Widerspruch ihre Kraft brechen, oder doch ihre Wirkung schwächen.

Aus diesem Gesichtspunkt ist es der Musik leichter, sich be- jahenden, als verneinenden Aeusserungen anzuschlicssen. Ich liebe dich nicht, ich freue mich nicht, dies sind Aeusse- rungen, die das Gefühl, was sie nennen, zugleich verneinen. Die Gleichgültigkeit, die Belrübniss (oder welcher Gegensatz nun im Sinne behalten wird) ist im Gemüth und muss also der Inhalt der Komposition sein ; aber sie trifft mit dem Ausdruck Liebe, Freude zusammen, und in diesem Widerspruche von Wort und Musik kann die letztere nicht mit so sichrer, ungestörter Kraft treffen, als wenn sie vom übereinsli turnenden Worte bestätigt und bestärkt wird.

Aus gleichem Grunde sind Ironie und Verstellung der Musik nicht zusagende und sie nicht begünstigende Formen. Es

Digitized by Google

Ausdrucksweise des Textes im Allgemeinen. 375

hiesse allerdings, der schöpferischen Geistesmacht ungerecht miss- trauen und der Kunst unbefugt Schranken ziehn, wollte man diese und ähnliche Formen schlechthin als unstatthaft bezeichnen; doch scheint es wöhlgerathen, auf die in ihnen liegende Schwierigkeit hinzudeuten, damit sie nicht dem Schaffenden unerwartet als ein unenträthseltes Hemmniss störend werde. So kann denn allerdings in Nebenmomenten eines grössern Ganzen, oder bei leichter zu fas- senden oberflächlichen Aufgaben, z. B. bei komischer Musik, auch Ironie und Verstellung als zulässige Form gelten. Wollte man sie aber für ein grösseres und ernstlichen Tendenzen bestimmtes Ganze, oder auch nur für Hauptmomente eines solchen gebrauchen: so würde der Musik schon durch diese Form des Textes ihre eigent- liche Sphäre die der aufrichtigen und darum tief treffenden, das (lemüth tief bewegenden Wahrhaftigkeit verschlossen.

Ein schlagend Beispiel giebt hierzu das Goethe'sche Gedicht »die erste Walpurgisnacht «, wenn man es für musikalische Behandlung bestimmen will, wie von Mendelssohn* geschehn ist. Dies Gedicht stellt bekanntlich die Anhänger der alten deut- schen Gottheiten dar in ihrer Bedrängniss durch die Bekenner des Ghristenthums, in ihrer Zuversicht, dass das reine Licht (angeblich ibr Glaube) doch siegen werde, wie sie sich als Hexen und Zau- berer verstellen, um die abergläubigen Christen zu verscheuchen und ungestört den nächtlichen Götterdienst auf dem Brocken feiern zu können. Abgesehn von allem, was sich Über die Grundidee des Ganzen zu bedeuken giebt und was schwerlich einem in der Idee und im Bewusstsein unsrer Zeit lebenden Tondichter es gewähren konnte, mit der Kraft und Glut eigner Ueberzeugung auf sie ein- zugehn, sind diese Hexen- und Spukchöre, die das Gedicht fodert, kein wahrer Spuk: ihr Inhalt ist nicht von denen, die sie darstel- len, geglaubt und darum für sie subjektiv wahrhaftig; sondern es ist von ihrer Seite und für die Hörer verübte Verstellung, und zwar nicht eine im leichten Scherz verübte, sondern zu ernst- hafter Wirkung, auch im Gedicht zu einer solchen bestimmte. Die Komposition kann hierauf nur mit Ernst eingehn; auch sie kann nicht im leichten Scherz darüber hingleiten, sondern muss uns den Spuk in all' seiner vorgeblichen Wirklichkeit, Wildheit u. s. w. darstellen; und doch ist es kein Spuk, ist alles nicht wahr. Diese Unwahrheit oder Halbwahrheit und Halbheit (aus dem mu- sikalischen Gesichtspunkte) konnte zu interessant unterhaltenden und anregenden Momenten in der Komposition, zu Beweisen vom Talent des Komponisten Anlass geben, nicht aber zu den tiefern, weil wahr- haftem Wirkungen, die bei gleichem Talent eine dem Wesen der Musik eignere Aufgabe möglich gemacht hätte.

* Auch von Löwe, aber allzuflücktig abgefertigt.

Digitized by Google

376

Vorstudien.

Nächst der rednerischen Form des Ausdrucks ist sodann auch das äusserliche Maass desselben, die Länge der Rede, von Bedeutung für die Komposition. Allerdings ist das Wort in gewisser Beziehung gleichsam nur Thema für die Musik, das sie nicht bloss auszusprechen, sondern auszulegen und auszuführen, durch Wiederholung und Ausführung reich zu erfüllen und tiefer zu beseelen hat. Allein hierzu darf eben das Wort, der Text nicht zu ausgedehnt sein, um der Musik nicht noch weitere Ausdehnung oder fluchtiges Ueberhingehn aufzudrängen, und eben so wenig zu eng gemessen, damit sie für ihre Ausführung auch genügenden materiellen Anhalt finde ohne ungebührliche Wiederholung des Wor- tes. So finden sich z. B. in den Dramen des Galderon ganze Partien, die dem Inhalte nach zur Koniposition gar wohl geeignet wären, wenn sie nicht das der Musik noch zuträgliche Maass über- schritten. Umgekehrt sind viele der zur Komposition bestimmten und dem Inhalte nach durchaus ja verführerisch musikalischen Gedichte in Goethe's Singspielen (z. B. in Jery und Bätely, Scherz, List und Rache u. a.) für die geeignete, ja nothwendige Kompositionsform zu kurz. Dass übrigens auch hier besondre Ver- hältnisse die zu kurzen wie die zu langen Texte annehmbar machen können, bezeugen sogleich die unzähligen Kompositionen von Kyrie eleison und Amen.

Dieses Hinderniss verknüpft sich mit dem früher erwähnten in einer, den Dichtern wohl zusagenden Form, in der Antithese. Mag diese nun gedrängt wie etwa »Sieg oder Tod!« »Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!« oder in wiederho- lender Fortführung (wie oft bei Calderon) auftreten, immer wird der Raum für den Ausdruck der beiden Seiten fehlen, von denen die eine, die zur Hebung der andern angeregt wird (z. B. in jenem Wort der Jungfrau von Orleans die Erinnerung an den entschwin- denden Schmerz bei der Vorahnung, dem emporfltigelnden Gefühl der Seligkeit), doch nicht unempfunden bleiben kann.

Nur so viel, mehr Andeutung als Abhandlung, rausste und .durfte hier zur Sprache kommen. Das Weitere und Tiefere findet seine günstigere Stelle in der Musikwissenschaft, weil es mehr mit der allgemeinen humanistischen Bildung und der Wissenschaft, als mit der Kompositionslehre in Beziehung und Zusammenhang treten kann.

Digitized by Google

Die äussere bovin des Textes.

\M1

Sechster Abschnitt. Die äussere Form des Textes.

Es ist bekannt, dass alle Rede sich ungebunden, in Form der Prosa, und in gebundner Form, als Vers gestalten kann. Beide Formbegrill'e kommen auch an dem zur Komposition bestimmten Texte zur Erscheinung. Ks ist daher wenigstens ein Ueberblick über ihr Wesen und die besondern in ihnen enthaltnen Gestaltungen hier Pflicht, obgleich eine tiefer gehende Betrachtung ebensowohl wie der Gegenstand des vorigen Abschnitts eine günstigere Stelle erwartet.

Zuvörderst leuchtet ein, dass gerade die äussere Form der Rede zunächst von der Komposition berührt und ergriffen wird ; vor allem schlügst sich der Ton an den Laut, die Tonweise an die Laut- und Worlreihe, erst nach dieser Vereinigung oder Ver- schmelzung ist die Frage aufzuwerfen, ob der Sinn der Töne auch mit dem der Worte, des Textes zusammentrifft. Es ist klar, dass diese Hauptfoderung an alle Gesangkomposition durch die äussere Textform in ihrer Erfüllung begünstigt oder gehemmt werden kann.

A. Die ungebundne Rede.

Die ungebundene Rede hat bekanntlich kein ander Gesetz, als das allgemeine der Sprache zu beobachten und sehliesst sich, so weil es diese erlaubt, unbedingt dem Gedanken und Gefühl des Re- denden Schritt für Schritt an. Sie ist in dieser Hinsicht der reinste und unverholenste Ausdruck ihres Inhalts. Daher aber begünstigt sie auch den reinsten und tiefsten Ausdruck der Musik, die (wie wir oben erkannt) als Gefühlssprache ebenfalls nur den geradesten, aufrichtigsten Ausdruck ihrem Wesen gemäss findet. Mit dem freien Worte schaltet die Musik, so weit es nur das allgemeine Sprach- geselz erlaubt, durchaus frei ; sie verweilt und eilt, betont und er- leichtert, wie es der Sinn der Rede in jedem einzelnen Momente fodert. Neben diesem Sinn ist nur die musikalische Form (der Sätze, Gänge u. s. w.) zu beobachten; ihre Herstellung aber ist so leicht wie möglich, weil keine Nebenbedingungen stören. Selbst über das niedergeschriebne Wort hinaus stehen dem Komponisten die rednerischen Formen der Wort- und Satzwiederholung, Unter- brechung u. s. w. offen, so weit der Sinn des Textes es erlaubt, und helfen ihm bei dem Gestalten. Wo es daher auf den freiesten, stärksten, tiefsten Ausdruck ankommt, ist in der Regel die unge- bundne Rede für Komposition die günstigste Form.

Digitized by Google

378

Vorstudien.

B. Der Vers.

Der Vers bildet sich bekanntlich aus dem Wechsel von Länge und Kürze, Betonung und Nichtbetonung der Silben und wird bisweilen durch die Anklänge des Reims noch bestimmter ge- zeichnet. In ihm stellt sich eine mehr oder minder feste äussere Gestaltung der Rede dar, die keineswegs dem eigentlichen Inhalte Punkt für Punkt oder auch nur in der Hauptsache streng anschliesst, sondern neben demselben auch blosse Wohlgestalt, eine theils be- deutsame, theils anmuthvolle oder anregende Sprachmelodie gleich- sam sein will, entsprechend dem Wohlgefühl und der Bewegtheit, mit denen die Seele des Dichters über ihrem Gegenstande schwebt und die sie in die Seelen der Hörer überwallen lässt.

Hier also findet der Komponist zweierlei aufzufassen : den un- mittelbaren Inhalt, und die keineswegs mit diesem durchaus überein- kommende Form des Textes. Seine Aufgabe ist daher eine zusam- mengesetztere, und nicht immer wird es gelingen können, beide Seiten gleich vollkommen zu befriedigen ; bald wird der Inhalt we- niger erschöpfend zum Ausdruck kommen, bald wird die Versforni einen leichten Eineriff erdulden müssen. Nicht bloss das Erstere, auch das Letztere kann bedenklich werden ; denn die Versform zumal die scharf ausgeprägte bleibt auch durch Abweichun- gen hindurch fühlbar, schon weil sie selbst den gewandtesten Vers- künstler oft zu Wortstellungen und Wendungen nöthigt, die nur in ihr, nicht im realen Inhalt der Rede ihren Grund haben. Es bringt der Versbau dem Komponisten eine festere Sprachgestaltung, die er annehmen kann, wenn sie ihm günstig ist, mit der er ringen inuss, sofern sie seiner musikalischen Intention widerstrebt. So ist er durch den Vers stets gereizt, bisweilen gefördert, biswerlen gehindert; sind aber die Hindernisse nicht unübersteigbar, so kön- nen sie dazu dienen , den Tondichter zu ungewöhnlichen , neuen Gestaltungen zu führen.

Welche Verse nun sind dem Musiker am meisten und welche am wenigsten förderlich?

Gehn wir zunächst auf das Wesentliche und von der obigen Bemerkung (S. 374) aus, dass die Musik nur im schlichten g e r a - den Ausdruck des Gefühls, nicht in dessen Verleugnung, Verhehlung u. s. w. ihre volle Kraft bewährt: so folgt hieraus, dass diejenigen Versarten ihr die günstigsten sind, die sich am in- nigsten dem natürlichen Gang der Rede anschmiegen und damit dem Tondichter das Gleiche gewähren. Jenes Goethe'sche Gedicht, das man S. 371 liest, hat für seinen Versbau dem natürlichen Redegang nicht das mindeste Opfer abgefodert, ist daher durch den Vers- bau dem Musiker nicht im Mindesten störend, so unerreichbar es

gitized by Googl

Die äussere Form des Textes.

379

ihm dem Inhalte nach, so tiefe zartverschwiegne Seelenregung in so engem Räume ! sein dürfte. Die gleich dahinter (S. 372) folgenden Verse des griechischen Dichters, wie tiefbedeutend sie seien und wie glücklich übersetzt, entfernen sich schon entschieden von dem einfachem Redegang; sie tragen neben dem nächsten Aus- drucke des natürlichen Gefühls das Pathos der Tragödie und ihres erhabensten Helden Aischylos, gewahren also auch von dieser Seile dem Musiker nicht freie That.

Dies ist eine Seite. Die andre Seite der Musik ist, dass sie nicht bloss dem Gefühlsausdruck Punkt für Punkt und im Ganzen zu genügen hat, sondern auch zu ihrer Wirkung fasslicher gleich- oder ebenmässiger Formen bedarf. Wir wissen, dass sie ihre Satze in gleichmassigen Taktzahlen (zu 2, 4, 8 Takten) zu bilden, in Gleichmassigkeit (2 gegen 2, 4 gegen 4, 2 mal 2 gegen 4, weniger gern schon 3 gegen 3 Takte u. s. w.) gegen einander zu stellen , kurz vom Kleiusten bis zum Grössten Ebenmaass und Gleichgewicht zu erhalten liebt. Sie kann diese Wohlgestalt, diese Leichtigkeit und Sicherheit des Baues in einzelnen Fällen auf- geben ; aber das sind eben nur Ausnahmfalle und zwar selten, nur aus tiefern Gründen zu rechtfertigen, und selbst dann das Be- dürfniss nach ebenmässigern Gestaltungen nur noch schärfer hervor- rufend.

Hieraus erkennen wir, dass im Allgemeinen diejenigen Vers- arten der Form nach am günstigsten für Komposition sind, die dem Musiker ebenmässiges Gestalten erleichtern, also zunächst Versarten von gleich langen und gleich gebildeten Strophen und d»»bei von leicht theilbarer Strophenzahl, von 2, 4, zweimal 4, zweimal 3 Strophen u. s. w. Namentlich für alle ruhiger, leichter, fliessender sich aus- sprechenden Zustünde sind diese Formen die günstigen. Allein beschränkt hierauf ist der Musiker keineswegs. Längst kennen wir die Erweiterungen der Sätze und Perioden durch Anhänge u. s. w., die uns bereits auf Gestalten von 3. 5 Abschnitten oder Sätzen geführt haben, mithin den ungleichmässigern Versarten ent- sprechende Form bieten ; auch haben wir bereits S. 365 angeschaut, auf wie vielfaltige, bald engere, bald gedehntere Weise das Wort gefasst werden kann. Ja, es ist vorauszusehn, dass im Vokalsatze, wo das Wort den Sinn der Musik erläutert, noch kühner vorge- schritten werden kann*, als im Instrumentalsatze.

* In der That hol sich auch der musikalische Rhythmus nirgends freier, mannigfaltiger, kühner entfaltet, als im Gesänge. Gluck 's Kompositionen, be- sonders die Buiidischc Iphigenie, in der seine Idee sich am entschiedensten ver- wirklicht hat, sind voll von Belägen; sie könnten vielen unsrer Zeitgenossen, die eben hier oft zaghaft und befangen auftreten, heilsam werden gleich einem

Digitized by Google

380

Vorstudien.

So wenig man also hier (wie anderswo im geistigen Gebiet) eine bestimmte Gianze ziehn, einige Versarten für anwendbar, an- dre für nicht anwendbar erklären kann : so ist doch klar, dass die Komposition um so mehr erschwert, von den natürlichem und im Allgemeinen günstigem Formen abgelenkt wird, je ungünstiger der Versbau für ebenmässige Musikgestaltung ist. Es leuchtet ein, dass eigenwillig und dabei scharf ausgeprägte Versformen, so anziehend sie auch an sich, so gewiss sie dem Musiker bisweilen zu eigen thumlichen Wendungen Anlass und Sporn sein können, doch in den meisten Füllen gar leicht dem Komponisten zur Fessel werden und ihn nöthigen, entweder den Versbau aufzulösen, oder um seiner Erhaltung willen den Sinn des Gedichts hiermit aber auch die tiefere Bestimmung der Komposition fallen zu lassen. Eins oder das Andre ist namentlich bei der Komposition antiker Versmaasse oder neuerer, ihnen nachgebildeter Verse (z. B. Klopstock's und Platen's) kaum zu vermeiden. Wenn z. B. Mendelssohn gleich im ersten Chor der Sophokleischen Antigone singen lasst: 397 (Tenöre und Basse im Einklang.) a b

hl*-?

t-w-g '[■ p

x

m

Strahl des He-li-os, schönstes Licht, das der siebenthorigen Stadt Thebe's üe-ber unserem Dach um-gähnt' er den siebenthorigen Mund mit blut-

-i i-

i

■h r

nimmer zu-vor er -schien, du strahlst endlich, des goldnen Tags Auf-blick lech-zenden Speeren rings, und floh, e - he mit un-serm Blut' er voll

r f r r r

herr-lich her - auf. u. s. w.

Gier-de den Schlund füllen mocht' und e - he der Thurm' Um - krän - zung

kräftigenden Stahlbad. Auch in den ächten Volksliedern deutscher Zunge (und in den schottischen, scandinavischen und französischen} waltet eine rückhalt- los freie Rhythmik ; hat sich doch sogar das Lied vom »Prinz Eugen« mit innerer Notwendigkeit (man sehe die Volkslieder von Erk und Irmer) im Künfvierteltakt gestaltet. Und ein andres, Jahrhunderte altes Volkslied (aus Win- terfeld's Evangelischem Kirchengesang, Tb. I) mischt, wie man hier

3=

396

Wo soll ich mich hin-keh-ren, ich Wie soll ich mich er - näh - ren? mein

ar - mes Brü - der- Gut ist viel zu

lein? klein.

Als

ich ein We-sen ha'n, so

ich

Digitized by Google

Die äussere Form des Textes. 381

so Hann nicht übersehn werden, dass die Einschnitte, die die Musik

unter der Herrschaft des Versmaasses in die zusammengehörenden

Worte bringt,

Strahl des Helios, schönstes Liebt,

Das der siebenthorigen Stadt

Thebe's nimmer zuvor erschien, Lieber unserm Dach umgahnt'

Er den siebenthorigen Mund

Mit blutlechzenden Speeren rings,

Und floh, ehe mit unserm Blut' er voll Gierde den Schlund

Füllen mocht' und ehe der Thurm' Umgränzung Tilgt' Hephaistos in Fackelglut.

gegen Sinn und Zusammenhang der Rede Verstössen, dass hier das Versmaass und nicht der Inhalt des Gedichts dem Komponisten die Gliederung seiner Musik vorgezeichnet hat. Die Abschnitte bei a, by c trennen Zusammengehöriges, verknüpfen Unzusammengehö- riges ; und das sind nicht etwa einzelne zufällige Fehlgriffe, sondern Gleiches findet sich in diesem Werke wie in andern derselben Rich- tung überall. Dies hätte nur dadurch vermieden werden können, dass der Komponist den Versbau aufgelöst und sich getreu dem In- halt — und zwar nicht bloss der allgemeinen ungefähren Stimmung, sondern tiefer allen Rewegungen und Vorstellungen des Gedichts hingegeben und gewidmet hätte. Allein das war wieder unmöglich ; denn der Inhalt dieses Chors , wie der aller griechi- schen Poesie , erwies sich für unsre Musik , für das , was die Musik im Laufe zweier Jahrtausende geworden und uns nach unser aller Bedürfniss und Bewusstsein wirklich ist, unzugänglich und unerregend. Der Fehler hat also seinen ersten Grund in der Wahl eines Gedichts*, das der Komponist als ungeeignet zur Komposi-

Irr J J l

p— n w~

1 1 t-

—4 C i

bald da

E3=

von. Was ich heut soll ver-zeh-ren, das

hab' ich

z:

ferd ver - than.

beobachten kann, zwei- und dreitheilige Takte unbefangen und mit richtigem, feinem Gefühl durch einander. Auch der Verf. ist in seinen »Spanischen Ge- sängen« und noch viel früher in den »Zwölf Gesängen« auf solche Bildungen geleitet worden. Dergleichen willkürlich etwa aus dem Verlangen, neu zu sein oder original herbeiführen wollen, wäre freilich klägliche Verirrung. Wohl aber mag eben an dieser Stelle, wo die Bedingungen des Verses abgewo- gen werden, eine Erinnerung an die weit ausdehnbare Macht freien Gestal- tens ziemen.

* Es ist bekannt, dass Me nd c I ssoh n die Komposition der Antigone und später des Oedip in höherm Auftrag übernahm Allein der äusserliche Anlass

Digitized by Google

382 Vorstudien.

tion erkennen musste; er trat nur deutlicher heraus auf den An- stoss des selbständig und energisch ausgebildeten Versbaues, der nicht füglich aufgegeben werden konnte zu Gunsten eines Textes,, der dennoch unmusikalisch bleiben musste.

So viel, um im Voraus auf die Momente hinzuweisen, die bei der Gesangkomposition von erstem Einflüsse sind. Das Nähere kommt theils bei den einzelnen Kompositionsformen, theils in der -Musikwissenschaft zur Sprache.

Ueberleitung.

In allen folgenden, der Gesangkomposition gewidmeten Abthei- lungen der Lehre knüpft nun die Entwickelung, getreu dem oben (S. 368) ausgosprochnen Grundsatze, bei dem Text an und fragt, nachdem festgestellt worden,

dass und wiefern derselbe überhaupt für musikalische Auffas- sung geeignet, also ein wirklicher Gesangtext ist, bei jedem einzelnen nach:

in welcher Weise er zu komponiren sei? Hier ergeben sich zuerst die verschiednen Formen der Gesangkomposition, jede in ihrer innern Noth wendigkeit, sodann knüpft sich hier die Betrachtung an, wie jede dieser For- men für jeden besondern Text, oder wie jeder Text nach seiner Besonderheit und in jeder seiner Partien aufzufassen und zu be- handeln sei; mit einem Worte: das Textstudium. Es versteht sich von selbst, dass jede Lehre, wie weit man sie auch aus-

kommt bei der ßeurtheilung eines Kunstwerkes nicht in Betracht. Der Künstler niuss selber dafür einstehn, ob ein an ihn gelangender Auftrag ausführbar ist ohne Beeinträchtigung der Foderungen, die sich im Wesen der Kunst begrün- det erweisen ; übernimmt er zumal ein so unabhängig gestellter und durch alle Verhältnisse begünstigter Künstler den Antrag, so hat er ihn unbe- dingt zu vertreten.

Uebrigens slehn diese Unternehmungen nicht allein. Abgesehn von der Komposition der Euripideischcn Mcdea, die Herr Kapellmeister Ta u he rt nach der Antigene zu unternehmen hatte, sind schon einige Jahre früher Horazische Gedichte von Löwe herausgegeben worden, talentvoll und zum Theil höchst reizend gesetzt, aber demselben Fehl unvermeidlich denn er liegt ja nicht in der Ausführung, sondern in der Aufgabe verfallen. Aehnliches ist schon vor Jahrhunderten vielfältig geschehn, stets mit Benachtheiligung der Musik oder des Gedichts; ein Theil der Kompositionen aus Goethe's Faust and sonst mancher neuere Versuch gehört eben hierher.

Um so mehr schien es Pflicht, den Jünger auf das Bedenkliche dieser Rich- tung aufmerksam zu machen, zumal wenn so viel Talent und äussere Gunst sich einen, die Verirrung zu verbergen oder gar als eine neue und edle Bahn zu bezeichnen. An andrer stelle w ird erschöpfender hierauf zurückzukommen sein.

zed by Goo

Die äussere Form des Textes.

383

dehnen mag, hier nur anleiten und eine Strecke weit zu grös- serer Sicherung geleiten kann, während das Textstudiuni an jeder einzelnen Aufgabe für Komposition einen neuen Gegenstand für seine Bethätigung findet und für jeden Komponisten nur mit dem Knde seiner Thätigkeit mit Fug sein eignes Ende erreicht.

Die Wichtigkeit dieses Studiums ist wohl Jedem einleuchtend; man darf aber zusetzen : sie ist grösser, als bisher von den mei- sten Komponisten angenommen worden. Wie viel Werke, wie viel Opern und Oratorien namentlich sind gefallen, sind schon vor der ersten niedergeschriebnen Note zum Untergang unrettbar be- stimmt gewesen, wie viel Talent und Arbeit ist verloren gegangen durch entscheidenden Fehlgriff in der ersten Grundlage, in der Wahl, Ausbildung, Verwendungsweise des Textes!

Und doch ist vielleicht die Rückwirkung solcher Fehlgriffe auf den Künstler noch verderblicher. Auf der einen Seite die Erschüt- terungen des Misslingens, um so herber, je unerklärlicher sie mit dem gerechten Bewusstsein von Talent und redlicher Arbeit zusam- menstossen ; auf der andern Seile das noch gefährlichere sich Drein- ergeben in eine Bethätigung seines Berufs bei dem geheim nagen- den Bewusstsein innerer Un Wahrhaftigkeit ; und selbst bei äusserlich glücklichem Erfolg der Gedanke, dass dieser Erfolg mit seinem gan- zen Gewicht in die Wagschale der Halb Wahrheit oder Unwahrhaf- tigkeit fällt. Denn das Falsche oder Unwahre wirkt und wuchert in seinen Folgen so gewiss fort, wie das Wahre, um so nach- drücklicher, je bedeutender Talent und Ruf des Irrenden und je glücklicher der äussere Erfolg, der sich leicht an den schon ander- weit erworbnen Ruf hängt und kaum die Möglichkeit eines Grund- irrthums begreifen lässt. Nach allen Seiten Beweggründe genug, auch das ernstlichste Textstudium nicht zu schwer, nicht erlässlich zu finden.

Wir kehren zur Entwickelung zurück.

Schon oben (S. 373) ist darauf hingewiesen worden, dass zwi- schen den beiden Extremen, dem durchaus musikalischen und dem durchaus nichtmusikalischen Text, eine unberechenbar ab- gestufte Reihe von solchen Texten stehe, die bald mehr, bald we- niger für musikalische Auffassung geeignet seien ; auch ist bereits ausgesprochen, dass der Grad und die Weise musikalischer Befähi- gung eines Textes und sein näherer Inhalt von Einfluss sei auf seine Behandlung; endlich, dass ein an sich weniger oder gar nicht musikalischer Text durch mitwirkende Verhältnisse für die Musik gewonnen werden könne.

Auf diesem Punkt ergiebt sich uns schon die erste Kunst- Gestaltung, in der Wort und Musik zusammentreten, die jedoch

384

Vorstudien.

nicht der Gesangmusik angehört, auch keiner besondern Unterwei- sung bedarf, daher hier in der Einleitung betrachtet und beseitigt werden kann. Es ist

das Melodrama.

Im Melodrama wird bekanntlich das Wort des Dichters ge- sprochen, nicht gesungen; es ist also an sich oder unter den obwaltenden Umständen nicht geeignet oder bestimmt, selbst Musik, im Gesang aufgenommen zu werden. Allein dies schliesst zweierlei nicht aus.

Erstens das einfache Vorhandensein der Musik und ihr nur äusserliches, nicht verschmelzendes Zusammentreffen mit dem Wort. Wie dies im wirklichen Leben zufallig geschieht, so kann es in einen« Kunstwerk absichtlich zu künstlerischer Wirkung herbei- geführt werden. Wenn also in einer dramatischen Scene kriegeri- schen Inhalts von ferne (z. B. bei der Scheidung des Max Picco- lomini von Thekla und Wallenstein) die Rufe der andrangenden oder abziehenden Schaaren gehört werden, so erkennen wir in dieser Einmischung der Musik eine nähere Bezeichnung der hier eingreifenden Verhältnisse. Wenn zu dem Monolog der Jungfrau Die Waffen ruhn, des Krieges Stürme schweigen

nach der Anordnung des unsterblichen Dichters »hinter der Scene Flöten und Hoboen« ertönen : so bedeuten sie uns nicht bloss äus- serlich Klänge des Friedens, wie sie wirklich bei solchem Anlass gehört werden mögen ; sie giessen auch den Balsam des Friedens- gefühls in die Brust, die die Kriegsnoth der Franken mit empfun- den, und lassen die schmerzliche Klage der Jungfrau

Doch mich, die all' dies Herrliche vollendet, Mich rührt es nicht, das allgemeine Glück

durch den Gegensalz tiefer uns zu Herzen gehen. Auch Ge- samte können in solchem Sinne melodramatisch neben dem Wort erschallen, so z. B. das Hochamt im Faust neben den Angstworten Gretchens und den Zuflüsterungen des bösen Geistes.

Diese Art des Melodrama bedarf offenbar keiner weitern An- leitung. Wie die erfoderlichen Tänze, Märsche, Gesänge zu kom- poniren, ist oder wird anderwärts gelehrt; welcher Musik es be- darf, bestimmt das Gedicht.

Zweitens kann aber auch die Musik im Melodrama nicht als ein bloss äusserliches, gleichsam zufällig mit der Rede zusam- mentreffendes Ereigniss, sondern als ein andres Organ des Dichters geltend werden, um in freier künstlerischer Weise die Stimmung des Redenden, oder auch die seine Stimmung moliviren- den Verhältnisse, z. B. die Nähe unsichtbarer, geheimnissvoll

gitized by Google

Die äussere Form des Textes. 385

einwirkender Geistesmaeht, oder (mehr materiell andeutend) einem Klagenden gegenüber die hart schlagende Schicksalsmacht u. s. w. zur Ahnung, oder der Vorstellung näher zu bringen. So fodert Goethe für die phantastisch-poetischen Momente des Euphorion im Faust melodramatische Musikbegleitung, um jenem Flügelflammen- leben die einzig eigne Atmosphäre zu bilden.

Hier ist die Musik ganz formfrei, sie ist Fantasie in weitester Bedeutung des Worts, nähert sich der Weise, wie Re- zitative begleitet und mit Zwischensätzen u. s. w. durchflochten werden, findet also die nöthige Anweisung wiederum an andern Orten der Lehre.

Die nähere Würdigung der Gattung des Melodrama gehört nicht hierher, sondern in die Musikwissenschaft. Uns aber dient ihre Betrachtung zum Uebergang in die Gesangkomposition.

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl.

25

Digitized by Google

Zweite Ablkeiluug.

Das Rezitativ.

Erster Abschnitt. Allgemeiner Anblick der Form.

Wir haben schon jenen Gegensatz in das Auge gefasst: Das Wort (die Sprache) kann ganz ungeeignet sein, in Musik überzugehn, oder es kann durchaus dazu geeignet, durch- aus musikeigen sein.

Das Letztere ist der Fall, wenn sich im Worte nach Inhalt und Form bestimmt und genügend ein Moment des Seelenlebens, das Musik werden kann, ausspricht.

Ist dies der Fall, ist ein solches Moment bestimmt und in ge- eigneter Form ausgesprochen, so muss ihm naturnothwendig auch bestimmte Form in der Musik entsprechen, die Musik muss Satz, Periode, Lied werden, oder irgend eine zusammengesetzte, aber bestimmte und fest abgeschlossne Gestalt haben.

Nun ist aber ein Mittelfall und zwar in mancherlei Weisen möglich. Es kann ein Text sich aus der Sphäre der natürlichen Sprache in die der Musik erheben, aber noch nicht zu fester Musik- form hinführen, mithin eine Form hervorrufen, die zwischen derWeisederSpracheundder Musik mitten inne steht.

Dies ist die Form des Rezitativs. Sie wird also eben- falls durch die Weise des Textes bedingt.

Ein Text kann nämlich erstens über die Sphäre des Nicht- musikalischen hinausgehn, er kann musikalisch angeregt, erregt sein : aber die Anregung ist nicht kräftig oder bestimmt genug, um be- stimmte, feste Musikform hervorzurufen. Wenn z. B. im Evangelium des Lukas die Geburt Christi verkündigt ist und die Erzählung (2, 43) fortgeht,

Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heer- schaaren, die lobeten Gott, und sprachen:

so ist hier so freudige Erregung durch die Botschaft und in der Erwartung des himmlischen Lobgesanges erweckt, dass man in die Saiten greifen und die Rede in Gesang überführen möchte. Aber

Jigitized by Google

Allgemeiner Anblick der Form.

387

noch ist die musikalische Erregung nicht fest geworden, nicht in jenen Worten, sondern im folgenden Vers ertönt der wirkliche Lob- gesang. Jene Worte sind , musikalisch zu reden , der Gang zu dem festen Satze des Lobgesangs; sie bedingen die Rezitativform.

Oder der Text kann zweitens an sich selber kein Bedürfniss musikalischer Gestaltung haben, aber er ist Theil eines grössern Ganzen, das der Musik angehört, das komponirt wird. So, wenn Jesus in der bekannten Erzählung des Matthäus (26, \Q) zu den Jüngern spricht:

Was bekümmert ihr das Weib? Sie hat ein gutes Werk an mir gethan.

Hier ist in den Worten des Textes kein Bedürfniss musika- lischer Gestaltung vorhanden. Nehmen wir aber an, dass derselbe in einem grössern und komponirten Gedichte aufgenommen würde, wie er denn in der grossen Passionsmusik Seb. Bach's seine Stelle gefunden: so könnte und müsste auch er in die Musik aufge- nommen werden, und so ergäbe sich für ihn wiederum die Form des Rezitativs.

In dieselbe Form gehören drittens solche Aeusserungen, die wenn auch rein aus dem Gefühlsleben entgegengesetzte Stim- mungen gedrängt neben einander stellen. So ist die Verkündigung des Jesaia (54, 8),

Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen ; aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen,

in der vorherrschend die tröstliche Versicherung, aber dicht dabei die Erinnerung an den bangen Augenblick des Zorns zum Ausdruck kommt.

Desgleichen viertens solche Aeusserungen, die, wenngleich von einer einigen Stimmung voll, doch dieselbe in der Form der Anschauung oder Schilderung laut werden lassen, wie z. B. der Zuruf aus dem Jeremias (25, 34):

Heulet nun, ihr Hirten* und schreiet, wälzet euch in der Asche, ihr Gewaltigen über die Heerde! Denn die Zeit ist hier, dass ihr geschlachtet und zerstreuet werdet und zerfallen müsset, wie ein köstliches Gefäss.

hr all' diesen Fällen stellte sich die Form des Rezitativs als noth wendig dar, weil der Text in sich selber noch nicht zu der Bestimmtheit oder Ausschliesslichkeit einer festen Stimmung gelangt war, die eine feste Musikform motiviren konnte. Nun aber ist zu- letzt fünftens noch des Falls zu gedenken, dass ein Text zwar durchaus musikalischer Stimmung und Form ist, die erstere aber

* Es sind, wie sich von selbst versteht, die Fürsten gemeint.

25*

Digitized by Google

388

Das Rezitativ

in so gewaltsamer Aufregung, in so überwältigender Leidenschaft ausbricht, dass für sie jede festere Musikform nur ungehörige Schranke, unwahre Mässigung wäre. Hier also würde der festere Gesang sich wieder auflösen in rezitativische Form; ein Fall, der nicht hier, sondern erst bei der Form der Scene im vierten Theil zur Sprache und Anwendung kommen kann.

Wir haben schon oben das Rezitativ als Mittelform der na- türlichen und der Musiksprache bezeichnet. Beide haben bekannt- lich (S. 362) dieselben Elemente der Stimmung und ihres Ausdrucks, Klang, Rhythmus, Tonfall, in sich, nur dass diese, und nament- lich Tonfall und Rhythmus, besonders aber der erstere, in der Sprache unbestimmt bleiben, in der Musik sich aber zur Bestimmt- heit erheben. Dies ist also der Grundunterschied in der Form der Rede und des Gesangs; folglich liegt hier auch der vermittelnde Uebergangspunkt. Die Rede geht in Gesang überr wenn sie ihren unbestimmten Tonfall (und Rhythmus) bestimmt; der Gesang wird zur Rede* wenn er von dem bestimmten Tonfall und Rhythmus) der Musik zu dem unbestimmten der Sprache zu- rückgeht.

Jetzt können wir das Wesen des Rezitativs ganz einfach be- zeichnen :

DasRezitativ ist eine zu musikalischer Bestimmt- heit erhobne Rede.

Es behält also in allem Uebrigen die Eigenschaften der Rede, namentlich die höchste Worttreue und die Freiheit von jeder fest abgeschlossnen Musikform, erhält aber für den unbestimmten Ton- fall der Rede bestimmten, oder, im allgemeinen Sinne des WTorts, (Th. I, S. 26) Melodie.

Die Melodie des Rezitativs kann aber nicht eine bestimmt in sich abgeschlossne Form (des Satzes, der Periode u. s. w.) für eine entschiedne Stimmung, sondern nur die Form des Gan- ges haben, wiewohl wir längst und vielfältig erfahren, dass diese sich der festern Form des Satzes annähern kann. Dies folgt aus dem bei dem Text und Anlass des Rezitativs Vorausbemerkten.

Da sich in jeder Melodie irgend eine harmonische Grundlage

* Dieser Fall mag seltner motivirt und erfahren sein, er ist aber weder unerhört, noch unberechtigt. Wer die grosse Dramatikerin Schröder-De- vrient gehört hat, z. B. in Meyerbeer's Hugenotten, der wird bemerkt und tief mit empfunden haben, wie sie in den äussersten Momenten des Entsetzens den Gesang auf Augenblicke fallen und das Wort mit seiner unbestimmtem Mo- dulation — gleichsam wie sich im Schreck oder Entsetzen die Glieder ent- stricken, ihre Haltung und Bestimmung verlieren, walten lasst, wo jede festere Tonfolge ein unwahrer Halt und Trost wäre.

Digitized by Google

Allgemeiner Anblick der Form

389

ausspricht, so fehlt diese auch der Melodie des Rezitativs nicht ; das Rezitativ bewegt sich über irgend einem Akkord, oder irgend einer Reihe von Akkorden. Aber da es überhaupt keine bestimmt ge- schlossne Form hat, so bedarf es auch keines bestimmten Modu- lationsgesetzes. Es wählt seine harmonische Unterlage nur nach dem innern »Bedürfniss seines Inhalts und ist sogar an die im Wesen ge- wisser Akkorde oder der Modulation überhaupt liegenden Gesetze (nothwendige Fortschreitung gewisser Töne oder ganzer Akkorde, Zusammenhang der auf einander folgenden Harmonien) weniger streng gebunden, als irgend eine andre Musikform. Es ist daher auch nicht im Mindesten zu Einheit der Tonart oder Schluss in einer Hauptton- art — etwa der zuerst ergriffenen genöthigt, obwohl es in der Regel ebensowohl wie die ganz unmusikalische Rede das Bedürfniss haben wird, sich ein bestimmtes und deutliches Ende zu setzen, also einen musikalischen Schluss zu machen.

Zur schnellern und treffendem Angabe der Harmonie, wie zur äusserlichen Unterstützung des Gesangs (damit er die richtige Ton- folge sicher treffe und festhalte) bedarf das Rezitativ einer Beglei- tung. Allein diese kann von Haus aus nur untergeordnete Bedeu- tung haben, da die Rede noch nicht eigentlich Musik geworden ist ; sie ist zunächst nichts, als Befestigung der Tonfolge.

Wir haben schon oben darauf hingedeutet, dass der Unterschied von Rezitativ und Rede mehr in der Bestimmung der Tonfolge als in der Bestimmung des Rhythmus, oder der Längen und Kürzen liege. Jene ist durchaus nothwendig; denn ohne sie würden wir eben die bloss natürliche, gar nicht musikalische Rede vor uns haben. Dagegen ist bestimmte, festgeformte und festgehaltene Rhythmik dem Rezitativ, das eben keine bestimmt ausgeprägte Form hat, nicht eigen, sondern eher zuwider. Daher ist ihm auch schär- fere Ausmessung der Längen und Kürzen, Takthalten in genau gegen einander abgemessenen Vierteln, Achteln u. s. w. durchaus fremd. Es unterscheidet nach den Gesetzen der Sprache und des Redeinhalts Längen und Kürzen, accentuirte und nicht accen- tuirte Momente, und zwar in verschiednen Abstufungen; aber es bleibt hierbei der Ungebundenheit der Rede getreu oder doch näher, als der Bestimmtheit des musikalischen Taktes. Wenn demunge- achtet die Rezitative mit Noten bestimmter Geltung und in der Re- gel im Viervierteltakte geschrieben werden, so geschieht dies nur, um dem Sänger und der Begleitung, zumal im Orchester, festern Anhalt zu geben. Die niedergeschriebnen Viertel, Achtel, Sechzehntel u. s. w. sollen nicht streng gemessen werden, sondern nur Längen und Kürzen bedeuten, allenfalls in mannigfaltigen Ab- stufungen, — so dass also Achtel um ein Unbestimmtes kürzer als Viertel, aber um ein Unbestimmtes länger als Sechzehntel u. s. w.

390

Das Rezitativ.

gehalten werden ; oft greift der Komponist zu längern oder kürzern Geltungszeichen, bloss um den einmal erwählten Viervierteltakt aus- zufüllen. * Dieser aber ist ebenfalls nur eine äusserliche Form, um dasGesammte von Gesang und Begleitung übersichtlicher zu machen: daher man eben ein für allemal** diese breite Taktart gewählt hat, ohne besondre Bedeutung, also ohne die Nothwendigkeit, bisweilen zu andern Taktarten zu greifen.

Hieraus folgt schon von selbst, dass das Rezitativ auch kein eigentliches bestimmtes Zeitmaass hat, sondern hierin wieder nur der Stimmung der Rede folgt. Die Angabe des Zeitmaasses soll ebenfalls nur Andeutung des Grades von Bewegung sein, der der Erregung der Stimmung entspricht. Für die Begleitung, sofern sie zwischen die Gesangpartien als selbständiger Zwischensatz tritt, hat die Angabe des Tempo bestimmtere Bedeutung.

So viel Über das Wesen und die Form des Rezitativs im All- gemeinen.

Nun ist aber klar, dass dasselbe als eine Mittel- oder Ueber- gangsstufe noch mehr wie bestimmtere Gestaltungen geneigt sein wird, sich bald der einen, bald der andern Formgränze zu nähern, bald der freien Rede getreuer zu bleiben, bald sich mehr und mehr der ausgebildeten Musik anzuschliessen.

Das letztere geschieht zunächst in der Begleitung. Von Grund aus ist diese bloss äusserliche Stütze des Gesanges. Allein sie ist nun einmal da, und da geschieht es leicht, dass der Kom- ponist auch sie inniger in sein Gefühl nimmt und sich ihrer bald zu äusserer Hülfsleistung bedient, um den Takt auszufüllen, bald zu wesentlicher Mitwirkung, zu vollständiger Ausprägung seiner Idee bemächtigt, um die Stimmung oder Vorstellung des Sängers, oder die Verhältnisse, in denen (unter deren günstigem oder be- drängendem Einfluss) er erscheint, zu bezeichnen.

Hiermit ist der erste Unterschied in der Gattung des Rezitativs begründet. Das Rezitativ mit bloss äusserlich helfender Begleitung heisst

einfaches Rezitativ

* Um diese mehr äusserlich aufgedrungenen, als innerlich wahren Be- zeichnungen wenigstens möglichst zu ersparen, hat J. F. Reich ardt bei der Komposition Goet he' scher Monologe ohne alle Takteintheilung, in einer fort- laufenden Reihe von Achteln, Vierteln u. s. w. geschrieben. Allein der Vor- theil dieser Auskunft deren man bei richtiger Erkenntniss vom Wesen des Rezitativs ohnehin nicht benöthigt ist wiegt den Verlust an Uebersichtlich- keit nicht auf; in Orchesterwerken wäre jene Abfassungsweise schlechthin ver- wirrend und störend.

** Ausnahmsweise wird auch bisweilen der Dreivierteltakt gefunden. Dies kann gelegentlich bequemer sein, hat aber nach Obigem keine weitere Bedeutung.

Jigitized by Google

Allgemeiner Anblick der Form. 391

(recitativo secco), im Gegensatz zu dem

begleiteten Rezitativ (recitativo accompagnato) , in welchem die Begleitung selbständige Bedeutung gewonnen hat. Einer solchen Begleitung kann dann da, wo sie als Einleitung, Zwischensatz und Schluss des Rezitativs er- scheint, jede ihrem Inhalt gemässe Taktart und Bewegung zuer- theilt werden.

Macht sich eine Begleitung von besondrer Bedeutung und Ge- staltung nicht bloss zwischen den Momenten der Rede, sondern auch während derselben geltend, ist sie in ihren ausgeprägtem und festbestimmten Partien nicht bloss Zwischensatz, sondern wirk- liche Begleitung, gleichzeitig mit dem Gesänge : so versteht sich von selbst, dass der Gesang selbst sich mehr oder weniger genau dem Taktmaass . der Begleitung anschmiegen muss; diese Weise des Re- zitativs heisst

taktmässiges Rezitativ (recitativo a tempo), wird übrigens ebenfalls so frei vorgetragen, wie das nöthige Zusammentreffen mit der Modulation der Beglei- tung nur irgend gestattet.

Hiermit ist der rezitativische Gesang selber dem festern Wesen der Musik schon näher gekommen. Dies kann ebensowohl aus dem Inhalte des zu Singenden unmittelbar hervorgehn. In einem rezi- tativischen Texte können einzelne Partien so entschiedne und kon- zentrirte Stimmung haben, dass sie für sich allein feste Musikform, wenn auch vermöge ihrer untergeordneten Stellung keine selb- ständige Komposition veranlassen. Diese erhalten dann Satz- oder sonst liedartige Form und heissen

Arioso.

So könnte z. B. der Anfang des 79. Psalms,

Herr, es sind Heiden in dein Erbe gefallen, die haben deinen heiligen Tempel verunreiniget und aus Jerusalem Steinhaufen gemacht.

Sie haben die Leichname deiner Knechte den Vögeln unter dem Himmel zu fressen gegeben und das Fleisch deiner Heiligen den Thieren im Lande.

Sie haben Blut vergossen um Jerusalem her, wie Wasser; und war niemand, der begrub.

abgesehen von seiner psalmodischen Bestimmung und Stellung, die aus später zu erörternden Gründen auch ganz andre Formen zu- liesse, füglich keine andre, als rezitativische Form erhalten, in den letzten Worten aber

Und war niemand, der begrub sich zu bestimmterer Gestaltung, zum Arioso, erheben.

Digitized by Google

392

Das Rezitativ.

Zweiter Abschnitt.

Das einfache Rezitativ.

Endlich beginnen wir nun, nach langen theoretischen Vorbe- reitungen, die praktische Gesangkomposition. Ueber jene mag uns das trösten, dass sie ein ganz neues Kunstgebiet zu eröffnen be- stimmt und nöthig waren.

Die erste Aufgabe, die uns hier entgegentritt, ist die Kompo- sition des einfachen Rezitativs.

In demselben ist, wie wir wissen, die Begleitung auf ihre ein- fachste Bestimmung beschränkt; sie soll, ohne eigenthümlichen In- halt, bloss äussere Stutze des Gesanges sein. Dieser ist also mit höchstem Uebergewicht Hauptsache, er ist fast Alles in Allem. Eben darum beginnt die Lehre mit ihm.

Das Studium des einfachen Rezitativs ist aber von doppeller und höchster Wichtigkeit. Erstens um der Kunstform selbst willen, die in grössern Werken (oft sogar auch in kleinern) kaum zu umgehn ist. Zweitens, weil wir in ihm zuerst und auf das Leichteste und Kräftigste zugleich die Fähigkeit erwerben, ohne die ein wahrhaftes, tieferes Gelingen in der Gesangkomposition schlecht- hin unmöglich ist: das Wort zur Musik werden zulassen, Wort und Musik auf das Innigste zu verschmelzen. Wo das nicht gelingt, da kann vielleicht eine interessante Musik neben dem Worte hergehen, kann auch im Allgemeinen und Oberfläch- lichen (S. 382) die Stimmung vom Inhalte des Textes hergenommen sein. Aber alles Tiefere, Besondre und Karakteristische, die volle, ganze Wahrheit, die volle Einigkeit, Einheit und Ganzheit des Kunst- werks in seinen beiden wesentlichen Bestandteilen wird unerreicht bleiben, Wort und Ton werden sich in jedem einzelnen Moment (wenn nicht zufällig einmal das Rechte getroffen wird) fremd und störend berühren, das Wort wird in der Verhüllung einer ihm fremden Musik seine Bedeutung, ja seine Fasslichkeit verlieren, die Musik wird mit Worten beladen, die für sie ohne eigentliche Be- deutung, ihr nur ein unnützer, störender Beiklang sind; sie würde sich, wenn man nicht an die Mitwirkung des vernünftigen Worts gewöhnt wäre, alsSolfeggio, etwa auf dem wohl- klingenden A gesungen, freier bewegen und besser ausnehmen.

Diese innigste Vereinigung von Wort und Ton ist nun das einzig Wirksame, oder doch mit höchstem Uebergewicht Vorwaltende im einfachen Rezitativ. Die Begleitung ist, wie gesagt, im höchsten Grade untergeordnet: eine fest ausgebildete Musikform ist nicht vor-

Digitized by Google

Das einfache Rezitativ.

393

handen, selbst des Arioso wollen wir uns vorerst enthalten ; die Tonfolge und Bewegung der Singstimme bestimmt sich einzig nach dem Sinn und Ausdruck der Rede, verzichtet also damit auf jeden Reiz einer selbständig entfalteten Melodie. So bleibt unser einzig Geschäft und unsre einzige Kraft die Ueberführung des Worts in Musik, also die wahre Grundlage aller Gesangkomposition.

Wer auf dieses Studium mit Ernst, Anhaltsamkeit und immer tiefer eindringender Reobachtung eingeht, dem werden sich für die Gesangkomposition neue, oft ungeahnte Kräfte und Mittel ergeben. Wer es versäumt, wer das Rezitativ, das selbst von vielen be- deutenden Komponisten oberflächlich abgefertigt wird, nur nach hergebrachter Routine übt und anwendet (was sehr, sehr leicht ist , der versäumt ein nach unsrer festen Ueberzeugung kaum zu ersetzen- des Bildungsmittel.

Wir beginnen mit den einfachsten und unschwersten Aufgaben, mit der Komposition von Texten, die kurz, leichten Inhalts und günstiger Form sind. Die günstigste Textform ist aber für das Rezitativ die, welche ihm als der freiesten Gesangweise die freieste Bewegung gestattet, ungebundne Rede. Von den Vers- arten sind die einfachsten (z. R. die jambischen) die günstigem, je eigenthümlicher das Versmaass und je schärfer es, z. R. mit Hülfe des Reims, ausgeprägt ist, desto mehr hemmt es den freien Fluss der Rede und den Ausdruck ihres Inhalts. Eine vorzügliche Fund- grube für Rezitativtexte ist die Bibel.

\. Textwahl und Textstudium.

Wir wählen als ersten Text die Worte:

Da traten herzu die obersten Väter unter den Leviten und redeten mit ihnen im Lande Kanaan und sprachen:

aus Josua 21, \ 2.

Dieser Text hat an sich gar nicht die Restimmung musika- lischen Vortrags ; er ist eine vollkommen gleichgültige , wenigstens nicht höher gestimmte Erzählung. Nur im Zusammenhang eines grössern, für Gesangvortrag geeigneten und bestimmten Ganzen als untrennbarer Theil desselben (S. 387) könnte diese Rede Musik und dann nichts anderes, als Rezitativ werden. Wir nehmen an, dass wir es mit einem solchen Rruchstück eines im Ganzen musi- kalischen Textes (vielleicht eines Oratoriums) zu thun hätten. Hier- mit sind wir berechtigt zur Komposition und haben nun eine der einfachsten Aufgaben vor uns.

Die Stimmung des Textes kann nur eine höchst ruhige, um nicht zu sagen untheilnehmende sein ; nur einigermassen tritt eine gewisse Spannung oder Erhebung in sie, da wir auf die Rede der »obersten Väter«, als auf etwas Wichtigeres, hingewiesen werden.

Digitized by Google

394

Das Rezitativ.

Nach dieser hier sehr leichten vorläufigen Verständigung lassen wir nun das Wort des Textes in uns sinnlich-lebendig werden, indem wir ihn mit dem ihm gebührenden Ausdruck wieder- holt laut aussprechen*; wär' er tiefern Gehalts, so würden wir trachten müssen, uns in seine allgemeine Stimmung zu versenken. Beobachten wir uns nun bei dieser lauten Rede, so werden wir inne, dass der ganze Text sich in folgende mehr oder weniger

scharf getrennte Glieder auseinander stellt:

1 2 3

Da traten herzu die obersten Väter unter den Leviten und 4 5 6 7

redeten mit ihnen im Lande Kanaan und sprachen.

von denen das zweite Glied den Gipfelpunkt des ganzen Textes bildet. Die Accente der Rede fallen hauptsächlich auf die mit 1 bis 7 bezeichneten Silben.

2. Wahl der Stimme und Tonart.

Sobald es vom Komponisten abhängt, wird er für jeden Text diejenige Stimme wählen, deren Karakter der Stimmung des Textes am entsprechendsten. Unser Text ist so wenig antheil- oder stim- mungerregend, dass wir in ihm keinen Grund finden, eine oder die andre Stimmklasse vorzuziehn. Wir wählen also ganz will- kürlich — den Tenor; er ist wenigstens als höhere Stimme an- regender und als männliche geeigneter für redenden Ausdruck.

Ebenso wird die Stimmung des Textes dem Komponisten auch die Tonart angeben, mit welcher er eintritt; dass er an deren Festhaltung nicht gebunden ist, wissen wir bereits. Unser Text erweist sich auch hierin gleichgültig; wir dürfen ohne Weiteres die indifferente Tonart Cdur als Standpunkt wählen, von dem wir aus- gehn, gleichviel ob wir in dieser Tonart bleiben, oder nicht.

3. Entwurf der Komposition.

Sobald wir nun den ersten Standpunkt festgesetzt haben, es soll hier also Cdur und zwar der tonische Dreiklang sein, gelten uns zunächst die Stufen des ergriffnen Akkords als die Ton- punkte, auf denen und durch die unsre in bestimmte Intervalle über- gehende Rede sich zu bewegen hat.

Jeder Akkord ist uns jetzt wieder (Th. I, S. 249} ein Raum, innerhalb dessen sich unsre Melodie bewegt, bis sie ihn verlässt, um einen andern Raum, also einen andern Akkord, zu betreten. So auch ist jede Tonart ein grösserer Raum für die Entfaltung der musikalischen Rede. Innerhalb eines Raumes bleibt die ganze melodische Entwickelung auf das Einigste und In-

* Der Verf. hat sehr förderlich gefunden, anfangs den Schülern dergleichen Textsätze vorzulesen und zwar wiederholt, mit stets beibehaltnem Tonfall der Rede und sie diesem Tonfall gemäss notiren zu lassen.

zed by Google

Das einfache Rezitativ. 395

nigste verbunden ; mit dem Austritt aus dem einen Akkord also in einen andern wird auch ein Fortschritt oder Abschnitt der Rede ausgesprochen, mit dem Austritt aus einer Tonart in die andre ein wichtigerer Fortschritt.

Es kommt also zunächst darauf an, einen Akkord so lange festzuhalten, dass er für den ihm zufallenden Redetheil ausreiche, ohne die Tonfolge zu sehr an wenige Stufen zu fesseln. Hierzu dient erstens die Wiederholung der Akkordstufen durch den ganzen Umfang der erwählten Stimme; unser Dreiklang z. B. bietet dem Tenor folgende Tonreihe:

^ oder:

Zweitens kommt uns hier jene innerliche Erweiterung der Akkorde zu statten, die wir in der Elementarlehre (Th. I, S. 107) mit Hülfe des emphatischen und benutzen gelernt; aus

wird c-e-g und 6,

c-e-g - b und d oder des, > oder e-g-b-d oder des, u. s. w. Jene erste Erweiterung treibt uns in die äussersten Regionen der Stimme, die andre erschliesst den innern Reichthum der Harmonie.

Hiernach entwerfen wir nun mit Rücksicht auf die Zergliede- rung des Textes unsre Tonfolge folgendermassen :

< _2 _

399

T Da tra-ten her - zu die o - bersten Va -ter un-ter den Le- 3 4 5 6 7

I

vi-ten und re-de-ten mit ih-nen im Lan-de Ka- na -an, und sprachen :

Hier sind vor allem die beiden Hauptabschnitte des Textes durch den Harmoniewechsel und durch vorläufige Taktstriche bezeichnet. Noch genauer hätten auch die letzten Silben des ersten Abschnitts der ersten und die des zweiten der zweiten Harmonie zuertheilt werden sollen :

400

=#T ß ß i 1

\ und

* T. t ß-

un-ter den Le - vi-ten Ka-na-an, und sprachen:

Allein dann wäre nach dem ersten Abschnitt eine Lücke, gleich- sam ein Riss in die Rede entstanden, und das letzte Wort »und

Digitized by Google

396

Das Rezitativ.

sprachen« hätte alles Gewicht verloren, mit dem es auf die nun zu erwartende Rede der Väter hinweist.

Prüfen wir in altgewohnter Weise, was wir in No. 399 ge- leistet und was daran falsch oder ungenügend ist: so findet sich zuerst die Stimme in ihrer ruhigen Mitte, also mit Ruhe des Aus- druckseingeführt; dann steigernd empor, bei dem Schlüsse des ersten Textabschnitts (Leviten) wieder beruhigend hinab, noch einmal hin- auf und zum Schlüsse des Ganzen wieder hinabgeführt, doch in höherer Lage, als der Anfang hatte, endend. Wir finden ferner die Accente des Textes (S. 394) bei 1, 2, 4, 5, 6, durch Empor- schritte herausgehoben, bei 3 und 7 durch Schlusssenkungen be- zeichnet.

Dagegen fehlt vor allem die Takteintheilung. Diese soll uns nicht bloss Ordnung bringen, sie soll auch die rednerischen Accente dadurch verstärken, dass sie sie auf Haupttheile des Taktes fallen lässt. Dies ist bei 3 und 7 schon der Fall, es soll auch noch bei 1 und 5 geschehen ; hiernach richten wir unser Rezitativ so ein :

d d

401

T Da tra-ten her - zu die o - ber-sten Va-ter un-ter den Le-

e

T

vi-ten und re-de-tcn mit f a tempo.

6 5

in - nen im Lan-de

W

Ka - na-an, und

r h tt

spra-chen :

II

Der Anfang erscheint nun als Auftakt, das »herzu« erhält den ihm gebührenden hinw eisenden Nachdruck, die accentuirten und nicht accentuirten Silben sind durch Haupt- und Nebentakttheile oder Takt- glieder angemessen betont.

Ferner bewegt sich unsre Tonreihe noch in aller Steifigkeit und Leerheit harmonischer Figuration. Wir helfen uns hier mit Durch- gängen und Vorhalten, die der Kürze wegen mit Buchstaben über den abzuändernden Noten bezeichnet sind.

Endlich entspricht es dem beweglichen Karakter einer leicht ge- haltnen Erzählung, dass wir die Begleitung nicht auf dem festge- stellten Grundakkorde c-e-g, sondern auf seinem Sextakkord ein- treten lassen. Hiernach wäre der erste Basston zu ändern.

Nun konnte das Rezitativ allenfalls gelten. Es hat allerdings einen zu unbedeutenden Text nicht bedeutender machen können, spricht ihn aber doch in einer nicht ganz unangemessnen WTeise

Digitized by Google

Das einfache Rezitativ.

397

aus. Nur Folgendes wäre hinsichts der Treue gegen die Redeaccente zu bemerken. Erstens ist kein Grund vorhanden, das »herzu« so bedeutend, wie hier durch die auf die Tonika schlagende Quarte und den Haupttakttheil geschieht, hervorzuheben. Zweitens ist noch weniger Anlass, die Worte »Kanaan und« durch gesteigerte Ton- folge auszuzeichnen; die richtigere Würdigung des Textes erkennt vielmehr in ihnen eine nur untergeordnete Bestimmung und würde eher die Stimme sinken lassen, wie hei A,

A

und re-de-tenmit ih-nen im Lan-de Ka na-an, und sprachen:

& *;' '■ i j •■ - ; i

Ka - na - an, und sprachen : als erheben. Allein eben die Rede und folglich ihr getreuer Aus- druck erscheinen hier so wenig gewichtvoll, dass wir uns allenfalls eine so geringe Abweichung von der Worttreue gestatten durften, um damit ebenmässigern Aufschwung für die Tonfolge zu ge- winnen. Je wichtiger freilich der Inhalt des Textes, desto nach- theiliger und unstatthafter wäre jede Abweichung von der ihm ge- bührenden Redeweise. Drittens endlich könnte das Ende des Re- zitativs, wie es in No. 401 steht, zu fest und abschliessend für einen Text sein, der uns erst auf ein Weiteres hinführt. Dies ist in No. 401 durch das a tempo und den weiter schreitenden Bass an- gedeutet, der einen neuen Abschnitt oder sonst einen festern Satz erwarten lässt; es könnte auch wie in No. 402 bei B geschlossen werden, wo das letzte Wort ganz abfällt, die Singstimme einen Quartsextakkord andeutet und die Begleitung den damit vorbereiteten Schluss übernimmt, der dann irgend eine neue Folge nach sich ziehen würde.

Wir geben denselben Text nochmals in andrer Weise. g e ^

t> Da tra-ten her - zu die o - bersten - ter un - ter den Le-

r v 9 if

6 6

vi-ten und re-de-ten mit ih - nen im Lan-de Ka - na-an, und sprachen : Hier ist der Eintritt auf dem Sextakkord des Dominantdrei- klangs beweglicher, der Einhergang der Erzählung zu Anfange mil-

Digitized by Google

398

Das Rezitativ.

der und fliessender, die unmotivirte Steigerung von No. 4(M bei der Nebenbemerkung »im Lande Kanaan« vermieden, dagegen ein andres Wort, »Leviten«, eben so unbefugt hervorgehoben; man hätte eher so

404

un-ter den Le-vi-ten und re-de-ten mit ih-nen im Lan-de

(oder di8 im Bass)

Ka - na - an, und sprachen :

setzen können, wäre aber dabei auf neue Wendungen der Modu- lation gefuhrt worden.

Mit der fliessenden Bewegung in No. 403 war auch erhöhte Bewegung in der Modulation angeregt. Daher schreitet der erste Sextakkord nicht auf dem nächstliegenden Weg in den tonischen Dreiklang, sondern in dessen Sextakkord, der sich bei »redeten« zu einem Quintsextakkord (c-e-g u n d 6) erweitert und in die Un- terdominante, dann mittels eines Trugschlusses in deren Parallele führt, durch beides eine ernstere, vielleicht trübere Fortsetzung der Rede andeutend. In No. 404 macht sich an derselben Stelle durch die Andeutung von .1 moll und dann durch die Wendung nach der Oberdominante zuerst unsichre, bedenklichere, dann aufgeklärtere Stimmung fühlbar; erst die Folge des Textes würde entscheiden, ob eine dieser Wendungen hier motivirt wäre.

Dergleichen Wendungen der Harmonie in das Fernere statt Nächstliegende sind dem Rezitativ bei der Armuth seiner musika- lischen Mittel oft nöthige Hülfen. Die weitere Prüfung, nament- lich auch der bei No. 403 mit Buchstaben angedeuteten Aenderun- gen bleibe Jedem überlassen. Wir finden einige Schlussbemerkungen wichtiger.

Erstens. Hier sind nun zwei Kompositionen desselben Textes gegeben; sollte nicht schon daraus folgen, dass eine oder gar beide falsch oder unzulänglich wären? Doch nicht. Je unbestimmter und gleichgültiger ein Text, desto weniger fodert er oder macht er nur möglich eine bestimmte, innerlich nothwendige Ausdrucks- weise. Je tiefer eine Wahrheit, desto bestimmter muss nothwendig ihr Ausdruck sein, je oberflächlicher, allgemeiner, vielumfassender und vieldeutiger ein Gedanke, desto freiem Spielraum findet der Ausdruck, der sich bald dieser, bald jener Seite des Gedankens anschliessen kann, ohne falsch genannt zu werden.

Zweitens. Der Jünger verschmähe doch ja nicht, sich an- fangs recht anhaltend mit ruhigen, ja gleichgültigen Texten zu be-

Höhere Beispiele.

399

schäftigen, und bewähre seine Treue und Wahrhaftigkeit darin, dass er sich ihnen in der Komposition ganz anspruchslos anschliesse, ohne das Bestreben, ihnen in der Musik ein Interesse, eine Bedeut- samkeit aufprägen zu wollen, die sie nicht in sich haben. Nur so wird er das lernen, worauf hier Alles ankommt : die Accente der Rede zu belauschen und in Musik zu Übertragen. Dies aber muss bei jeder neuen Aufgabe mit gleicher genauester Beobachtung geübt werden. Die erzählenden Partien in der Bibel bieten ihm über- genug des Uebungsstoffes, sobald er (wie wir oben) voraussetzt, der Text gehöre einem grössern für Musik bestimmten Ganzen zu. Anfangs hüte er sich dabei vor zu weiten Texten und vor solchen, die durch Anhäufung fremder, nichts bedeutender Namen oder Neben- umstände der Komposition ungünstige Last aufbürden. Ist übrigens ein Text im Ganzen gut, so kann er durch Auslassung des Unnützen und Belästigenden verbessert werden; so würden wir bequemer und besser haben schreiben können, wenn wir die für uns unnütze Nebenbemerkung

»im Lande Kanaana

weggelassen hätten.

Drittens endlich muss diese Uebung über alle vier Stimm- klassen erstreckt, es müssen besondre Rezitative für den Diskant, Alt u. s. w. geschrieben werden, damit man sich gewöhne, für jede den ihr eignen Sprachton (S. 354) zu finden. Den Anfang mache aber Jeder in der Stimmklasse, zu der seine eigne Stimme gehört, und trage sich diese sowie nach Vermögen alle Gesangkompo- sitionen wiederholt so gut und mit so aufmerksamer Prüfung wie möglich vor*.

Dritter Abschnitt.

Höhere Beispiele.

Sobald der Jünger sich so weit geübt hat, dass er Sätze, wie den in No. 401 und 403 gegebnen, mit Sicherheit, Gewandtheit und Bewusstsein der bestimmenden Gründe hervorbringen kann, aber nicht eher, ist es für ihn Zeit und noth wendig, Rezitative der Meister, und vor allen andern der nachbenannten, zu studiren. Dies muss zuvörderst mit der ganzen Unbefangenheit des Kunst- freundes geschehn, der keine weitere Absicht hat, als sich am Kunst- werke zu erfreuen, und der sich ihm darum am unbedingtesten hingiebt. Dann muss das Rezitativ zergliedert und in allen Be-

* Hierzu der Anhang 0.

Digitized by Google

400 Das Rezitativ.

Ziehungen und Theilen geprüft werden, und zwar vom Text aus

ohne Scheu vor dem Namen des Meisters, den wir nicht höher ehren können, als wenn wir die letzte Wohlthat, die er uns darbietet,

Aufklarung und Lehre, dankbar und achtsam von ihm an- nehmen, damit er, damit das, was in ihm das Wahrhafte und Ewige ist, durch uns weiter fortwirke.

Zur Anknüpfung dieses Studiums diene zuerst ein kleines Rezi- tativ aus Hände Ts Messias.

"f^ -TT-

405

7 4 2

Es wa - ren Hir - ten da - selbst auf dem Fei -de, die

4

=

~" ""— ,(f.d/

- te - ten ih - re Heer -den des Nachts.

Der Text (Lukas 2, 8) ist, abgesehn von dem was weiter folgt, eine eben so schlichte, ruhige Erzählung, wie die in No. 401 behandelte, ja noch kürzer und darum leichter zu fassen. Daher nimmt die Komposition fast denselben Gang; der erzählende Auf- schritt aus der unbestimmten Quinte des Akkords zur Tonika, die Senkung in den Raum des neuen Akkords bei dem Schlussfall des ersten und zweiten Textabschnittes, das Ganze kürzer und darum noch ruhiger, enger zusammengehalten. Nur der orgelpunktartige Rass findet aus dem Text selber nicht, sondern aus dem Nachkom- menden seine Erklärung.

Und siehe, der Engel des Herrn trat zu ihnen heisst es im Folgenden; und so bleibt die Modulation des ersten Rezitativs an ihren Grundton gefesselt, gespannt bis zu jenem Fortschritte stehen.

Das zweite Studium wendet sich an ein Rezitativ aus Glucks Iphigenia in Aulis*. Die hochsinnige, fürstlich vornehme Klytem- nästra ist mit der Tochter im Laser der Griechen angelangt, ver- meintlich zur Vermählung der Tochter mit dem glänzendsten Hel- den, Achilles, sie selber die stolze Gemahlin des Heerführers, dem ganz Griechenland mit allen seinen Königen sich beugt. Jetzt ist sie und die Tochter von den Festliedern und Tänzen der huldigen-

* Wir werden unsre Gluck'schen Beispiele ausschliesslich aus dieser Oper entlehnen, die sich zwar auf der Bühne nicht in gleicher Gunst hat erhalten können (aus Gründen, die hier nicht hergehören), wie die andre Iphigenia, Ar- mide und Alceste, die aber in Hinsicht auf Wahrheit und Tiefe der Diklion, Karakterentwickelung und innern mannigfaltigsten Reichthum als das höchste Werk Gluck's und als wichtigster Gegenstand für das Studium erscheint.

Digitized by Google

Höhere Beispiele.

401

den Jugend begrüsst worden und hat sich der mütterlichen Freude

an der Tochter in gemildertem Stolze hingegeben.

Que faime ä voir ces hommages flatteurs, Qu'ici Von s'empresse ä vous rendre. Pour une mere lendre Que ce spectacle a de douceurs;

mit diesen Worten hat sie (in Liedform, Gdur) ihr Gefühl aus- gesprochen und wendet sich nun im Rezitativ an die Tochter.

406*) <

De - meu-r6z dans ces lieux, ma fil - le, et sans par-

I )a - ge re - ce - vcz les bonneurs, qui nous sont a - dres -

Je vais voir, si lc roi, de nos voeux em-presse, con-

1

sent ä re - ce - voir l'hom-ma -

6 4

7 ff

Vor niiherm Kingehen auf dieses kleine Meisterstück müssen wir noch anmerken, dass die Stimme der Klytemnüstra ein tieferer Sopran (Mezzo-Sopran) ist ; hiernach hat man die Stimmlage zu be- urtheilen. Dem Karakter aber der Klytemnästra ist durchweg eine gewisse fürstliche Herbigkeit eigen, die ihr später Kraft leiht, sich gegen den vermeintlich treulosen Achill feindlich-stolz zusammen- zufassen, gegen den erhabnen Gemahl, ja zuletzt gegen die Götter

* Auch hier nöthigt uns die Rücksicht auf Raumersparnis* zu gedrängterer Abfassung. Der Bass der Begleitung liegt eine Oktave tiefer.

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 26

Digitized by Google

402

Das Rezitativ

selbst sich mit erhobner Stirn zu behaupten, die schon hier die Möglichkeit ahnen lässt, dass der Mord des Gatten ihr nicht unaus- führbar sein wird zur Sühne des beleidigten Mutterrechts; es ist eine der tiefsten Karakterentwickelungen, die je irgend einer Kunst geworden. Hier ist die herbe Kraft des Karakters verhüllt (die Instrumente ziehn ihre Akkorde über die Singstimme bedeckend weg), er ist unter so beglückenden Verhältnissen im vorhergehenden Gesänge (Gdur) zu einer gewissen Freudigkeit und Freundlichkeit geschmeidigt worden, wenn auch nicht zu reiner Hingebung und Heiterkeit, die ihm fremd sein müssen, gelangt. Auch die weitere Rede das vorstehende Rezitativ ist eher mild und herab- lassend, als heiter; daher die Wendung nach Zsmoll.

Fasst man diesen Gesichtspunkt, so ist einleuchtend, dass aus dem Karakter der Redenden und aus den Verhältnissen eine höhere Bewegung in die Rede kommen musste bei aller Gehaltenheit oder Bemessenheit mütterlicher und fürstlicher Würde, die sich der inner n Bewegung nicht hingeben darf. Daher hebt die Modulation auf dem beweglichen Sextakkorde der Dominante an und wendet sich in so engem Räume von £moll nach #moll, nach 4dur, während die Singstimme den Umfang einer kleinen Sexte nicht tiberschreitet und nie einen grössern Schritt als eine Quinte macht.

Die drei Tonarten sind die Räume für die drei Hauptabschnitte des Textes:

4) Demeure'z dans ces lieux, ma fUle, %) et sans partage receve'z les honneurs, qui nous sont adressts. 8) Je vais votr, si le rot, de nos voeux empressi, consent ä recevoir l'hommage.

Der Uebertritt erfolgt aber so, dass mit dem entscheidenden Akkorde jedesmal das entscheidende Wort, nsans partage« nie roi«, hervorgehoben wird. Die Akkorde, als untergeordnete Räume für den fortschreitenden Redeinhalt, dienen gleichem Gesetze ; sie runden die untergeordneten Abschnitte bei den Worten »fille* » adresse's « »consent« ab. Die letzten zwei Takte sind Arioso, kommen also für jetzt nicht weiter zur Betrachtung, ob- wohl sie demselben Gesetz folgen.

IIiemächst endlich dient auch die taktische Anordnung zur Herausstellung aller accentuirten Silben durch Haupt- oder gewe- sene Haupttheile* des Taktes, so dass die verständige Anordnung des Textes Zug um Zug in die Komposition übergegangen ist.

Gehen wir nun auf das Innere der Komposition näher ein, so zeigt sich zuerst in der rhythmischen Anordnung neben dem, was die Einrichtung des Viervierteltaktes und die Berücksichtigung der Redeaccente im Allgemeinen foderte, eine vorherrschende Nei-

* Allgem. Musiklehre, S. 4 05.

Digitized by Google

Höhere Beispiele.

403

gung zu anapästischer Bewegung (zwei kurze und eine lange Silbe oder Note als Versfuss oder rhythmisches Motiv) , in der sich Gluck 's energischer Karakter Uberhaupt gefallt und bezeichnet, die aber auch dem erregtem, thatkräftigen Sinne der Klytemnästra wohl zusagt. Allein diese Bewegung, die die Verskuost nur in einer Form kennt, nimmt in der Komposition zweierlei Gestalten an: eine energischere , schnelltreffende (zwei Sechzehntel vor einem Viertel) bei den Worten »demeurez recevez je vais voir de nos voeuxii, die das Bestimmende oder (gemäss dem Stolze der Fürstin) das Leichtabfertigen bei »de nos voeux« aussprechen , und eine sinnigere, weilende (zwei Achtel und ein Viertel) bei ndans ces lieux les honneurs si le roi empresse1«, gemäss der Be- deutung dieser Worte. Wenn auch allerdings (S. 389) die Gel- tung der Noten im Rezitativ vom Vortragenden nicht nach der sonst erfoderlichen Schärfe abgemessen werden soll, so deutet sie doch den Sinn und die Absicht des Komponisten an, zumal wenn eine andre Abfassungsweise so nahe lag, wie hier.

Was endlich den Tonfall betrifft, so haben wir schon auf dessen Bemessenheit hingewiesen, in der sich die vornehme Zurück- hallung und die Ruhe und Milde der jetzigen Stimmung zeichnen. Gleichgültig fällt das »et sans partage«, vornehmkühl das »nous sont adresse'sa (mit absichtsloser, vornehm gewohnter Betonung des »nows«) hin ; die eigentlich bestimmenden Worte »demeurez je vais voir« erhalten in der bestimmten, auf den Grundton hinauf- schlagenden Quarte ihre Betonung, und so findet sich, dass in der That kein Wort anders gesprochen werden kann, ohne dass irgend ein feiner Karakterzug dabei verloren ginge. Man versuche vorerst die Worte im Sinn des oben geschilderten Karakters zu sprechen, sodann spreche man sie nach Anleitung der Noten in den von diesen bestimmten grössern oder kleinern Hebungen und Senkungen (wenn auch, nach Art der Rede, nicht in bestimmten Inter- vallen) : und man wird mit voller Befriedigung den Gang der Rede und der Komposition Übereinkommen sehn ; oder endlich versuche man irgendwo Aenderungen (wie sie uns bei No. 401 so leicht und schadlos gelangen), um sich zu überzeugen, dass keine ohne Nach- theil erfolgen würde. Setzen wir z. B. den Anfang anders, A B

Deraeuröz dans ces lieux, ma fil-le, demeu-rözdansces lieux, ma fil-le

so wird bei A das dreimal betretne fis eintönig ermüdend, und das »ma fillea wird den warmen mütterlichen Accent einbüssen und kalt oder klagend heraustreten. Oder setzen wir im dritten Takte, wie hier,

26*

Digitized by

404 Das Rezitativ.

A B

Re-ce-vez les honneurs, re - ce - v6z les hon-neurs, qui

^=5- S' f =

nous sont a - dres-s6s.

so wird bei A das »receväz* den verbindlichen Ausdruck des Ori- ginals gegen den eines ganz unmotivirten sentimentalen Verlangens verlieren, bei B wird dieses Wort einen kalten Accent fühlen lassen,- die »honneurs« werden sich wichtig thuend vordrängen, das mous« wird vollends auf die Spitze getrieben und der Schluss dabei klagend ausklingen. Und dies alles, wenn man einmal so anfangen wollte, wär' ohne noch lästigere Eintönigkeit nicht zu vermeiden.

Der letzte Gegenstand unsrer Betrachtung sei ein Rezitativ aus der Kirchenmusik, die Seb. Bach zu Luther's Choral: »Ein' feste Burga geschrieben hat. * In tiefsinniger Weise wird das Kirchenlied mit anderswoher genommenen Betrachtungen durch- flochten, und so wird schon der zweite Vers

Mit unsrer Macht ist nichts gethan, in Verbindung mit einem andern Texte

Alles, was von Gott geboren,

Ist zum Siegen auserkoren, u. s. f.

in streitfertigster protestantischer Freudigkeit durchgeführt. Darauf folgt unser Rezitativ:

Erwäge doch, Kind Gottes, die so grosse Liebe, da Jesus sich mit seinem Blute dir verschriebe, womit er dich zum Siege wider Sa- tans Heer und wider Welt und Sünde geworben hat. Gieb nicht in deiner Seele dem Satan und den Lastern statt, lass nicht dem Herz den Himmel Gottes auf der Erden zur Wüste werden, bereue deine Schuld mit Schmerz, dass Christi Geist mit dir sich fest verbinde.

Die letzten Worte

dass Christi Geist mit dir sich fest verbinde

sind als Schluss und Resultat des Ganzen Arioso geworden, mit- hin von unsrer musikalischen Betrachtung jetzt ausgeschlossen.

Dieser Text, eine religiös-moralische Ermahnung, fodert für sich nicht musikalische Behandlung. Nur der hohe Eifer des Predigers so darf gewiss der Redende hier heissen und die Stellung inner- halb eines durchaus musikalischen Ganzen gestatten die Ueber- tragung in Musik. Hiermit (und mit Rücksicht auf die Stellung im Zusammenhange des Werks) war rezitativische Form bedingt.

In Partitur herausgegeben bei Breitkopf und Härtel.

)igitized by Google

Höhere Beispiele

405

Bach hat hier und anderswo den Karakt er und die That eines Predigers mit solcher innerlichen Hingebung und Macht ergriffen, dass man von ihm sagen darf : er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten, und dass in einer an Schwächeres und Her- kömmliches oder Nachgeahmtes gewöhnten Zeit auch jenes andre Wort (Matthäus 7, 28) bisweilen in Erfüllung gehen mag : es ent- setzte sich das Volk über seine Lehre. Wir haben in unserm Re- zitativ einen ganz von seinem Beruf und von dem, was der Augen- blick, was sein Vorhaben im Ganzen und jedes Wort dabei will, erfüllten Mann Gottes, einen Eiferer um den Herrn wie man in religiös-erhobner Zeit sagen würde vor uns, der gewaltig, un- widerstehlich, glaubens- und zuversichtsvoll seine ganze Kraft in jedes Wort legt. So ist denn die Rede von einer Heftigkeit, ist das einzelne Wort bald von einer Uebermacht des Andringens, bald von einer Zuversicht oder verklärten Freudigkeit erfüllt, die uns befremden, ja, die als Uebertreibung ansprechen können, so lange wir uns nicht ganz erfüllt haben mit dem Bild und Gefühl einer glaubensvollen Zeit und eines Eiferers um den Glauben. Dann erst verstehen wir Bach und erfahren zugleich an seinem Werke die hohe Macht der Kunst und der Kunstform, die wir uns jetzt ange- winnen möchten.

Es versteht sich, dass Bach für diese Aufgabe keine andre Stimme als den männlich kräftigen und würdevollen Bass erwählen konnte. Dies ist das Rezitativ, bis zu dem Arioso.

Digitized by Google

406

Das Rezitativ.

ggjjjglll

worben hat. Gieb nicht in deiner Seele dem Satan und den Lastern statt,lass

i

«

5

B7

nicht dein Herz den Himmel Got-tes auf der Er-den zur - ste

i

2

fc-P*-

Arioso. a tempo.

SS-.

wer-den, be-reu - e dei - ne Schuld mit Schmerz.

=1=

st

6

5?

■i

3

Die entscheidendsten Betrachtungen knüpfen sich an dieses Meisterwerk. Möge sich erst ein Jeder aus vollem Herzen hinein- singen und hineinfUhlen, und dann dem Wenigen, was wir uns zu bemerken erlauben, sein weiteres Nachforschen folgen lassen.

Zuvörderst, ehe wir auf die Komposition selbst eingehn, sprechen wir zweierlei aus, das Jeder, der es nicht schon in sich erfahren oder von ächten Künstlern vernommen, am vorliegenden Meisterwerk und sonst sich zurecht zu stellen suche.

Erstens. In dem rechten Kunstwerke giebt es keine nur einseitig lebendige oder einseitig wahre, sondern nur eine voll-leben- dige und ganz-wahre Auffassung. Der rechte Komponist giebt nicht bloss den Sinn der Worte (wenn auch tief aufgefasst oder ausgelegt) und nicht bloss die allgemeine Stimmung der Rede, und nicht bloss dies Beides zusammen. Sondern vor ihm, vor dem emporgehobnen Auge seines Geistes steht der Redende selber, wie er leibt und lebt, wie er fühlt und gestimmt ist, wie er redet und jedes Wort empfindet und denkt mit all dem unausgesprochnen bei den Worten Empfundnen und Gedachten seines Geistes. So hat Bach hier und anderwärts den Redenden mit dem Geredeten geschaut und ver- nommen, — gleichviel ob er sich dessen so klar bewusst geworden, dass er es mit besondern Worten hätte bezeugen können.

Digitized by Google

Höhere Beispiele

407

Zweitens. In einem solchen Werke des begeisterten denn dies Schauen, in dem ein neuer Geist gleichsam* in uns tritt, ist Begeisterung und durchgebildeten Künstlers erfüllen sich dann alle jene Bedingungen, die jedes Kunstwerk und namentlich die besondre Aufgabe eben dieses Werkes als inbegriffen in seine Aufgabe anerkennen muss, wie von selbst, und jede so vollbefrie- digend, als wär' es nur um sie zu thun gewesen.

So zeigt der erste Anblick des Bach'schen Rezitativs eine Entfaltung und Darlegung der Stimme, die nichts zu wünschen lässt. Dem bedeutenden Inhalt und der hohen Stimmung des Textes gemäss entfaltet auch die Stimme des Redenden ihr ganzes Vermögen. Sie wird von der Tiefe {A) bis zur äussersten Höhe (eingestrichen e) in Bewegung gesetzt ; dies geschieht durch- aus in schwungvoller Weise, in mannigfach wechselnden besonders mächtigen Schritten, auf das Günstigste für den Basskarakter ; zu den äussersten Punkten, namentlich zu dem hohen e, wird die Stimme stufenweis vorbereitend und mit tiefern zur Erholung dienenden Zwischentönen emporgeleitet; selbst die weitesten Schritte, z. B. gleich der Anfang ais-g-e-cis, sind durchaus sangbar, ja leicht und sicher zu treffen, da sie innerhalb eines einzigen und fasslichen Akkordes liegen. Das alles ganz abgesehen von seiner tiefern Bedeutung lässt nichts zu wünschen übrig.

Lassen wir noch immer den nähern Inhalt bei Seite und bleiben nur dabei stehn, dass die Stimmung eine hoch und ernst bewegte ist: so müssen wir anerkennen, dass die allgemein-musika- lische Gestaltung (das Abstrakt-Musikalische) jener Stimmung auf das Eigenste entspricht. Die Modulation von 7/moll nach Fismoll, Z)moll, idmoll, Ddur, £moll, //moll, C?sdur, ist reich und nicht abschweifend, aber energisch geführt. Die Ak- korde sind fest an einander geschlossen, doch aber gelegentlich auch mit starker Eigenwilligkeit gewendet; man beachte (mit Rückblick auf S. 389) die ausbiegende Auflösung in Takt 2 und 10 zu 11; dabei sind sie von der Singstimme reich ausgelegt. Die Kantilene der letztern aber ist mannigfaltig und vorherrschend in grossen Richtungen bewegt; schon vor dem Arioso, das den Schluss des Ganzen macht, nähert sie sich im dritten Takt (und einen Augen- blick lang auch im drittletzten) dem festern Gesang des Arioso. Die Stimmung des Ganzen war so entschieden und andringend, dass nur der Gedanken reichthum des Textes, das Gewicht, das jedes Wort für den Redner hat und in seinem Munde für uns haben soll, festere Gestaltung statt der Rezitativform** ausschliessen.

* Vergl. »Die alte Musiklehre im Streit mit unsrer Zeit« S. 51. ** In der That hat Bach einen ähnlichen Text (in der bei Simrock in Bonn

Digitized by

408

Das Rezitativ.

Und nun gehe man erst auf den Inhalt ernstlicher ein. Der Hauptton der ganzen Kirchenmusik und namentlich des dem Rezi- tativ vorausgehenden Satzes war das feurige, kriegsfertige Ddur. In der Parallele, in dem trübheissen tfmoll tritt der eifernde, dring- liche Bussredner des Rezitativs auf, und zwar innerhalb des vermin- derten Septimenakkords, des schwankend beweglichen Restes aus dem weitgetriebnen bangen kleinen Nonenakkorde. Hier fällt das »Erwäge doch« auf Grundton und Septime, die aber eigentlich Terz und None sind, das »Kind Gottes« auf die ursprüngliche Sep- time und Quinte, jeder Ton aus dem innersten Gefühl des Worts, das Ganze in mächtigen Schritten rasch andringend, das »Kind Gottes« hoch erhoben, wie ein weckender Namenruf, der dir deine höhere, wahre, einzige Bedeutung und Bestimmung als Abwehr »wider Welt und Sünde« vorhält, und doch wieder liebreich gemildert durch den Aufschritt der sanften Sexte. Der folgende Textabschnitt wendet sich in das schwülere F/smoll, dann aber mit heller Zuversicht des Sieges nach />dur, wobei wir die zelotische Ereiferung bei den Worten »wider Satans Heer und wider Welt und Sünde« nicht übersehn wollen.

Es ist nicht unsre Absicht, dem mit uns Gehenden die Unbe- fangenheit und erhöhte Freude eignen Versenkens und Forschens durch eine erschöpfende Zergliederung zu beeinträchtigen. Die we- nigen Andeutungen genügen, um zu bezeichnen, wie tief und durch- dringend hier der Geist gewaltet hat; es ist in der That auch nicht eine Note anders, als nach dem innerlichsten Gebot der Wahrheit gesetzt. Wer sich erst in dieses Meisterwerk hineingesungen und mit Gefühl und Ueberlegung hineinversetzt hat , der prüfe nur ohne Furcht vor dem Namen des Tondichters, durch den es uns gegeben worden, ob er irgendwo eine Note ohne offenbare Be- einträchtigung des Inhalts ändern könnte.

Zum Schluss noch eine allgemeinere Bemerkung. Wer dieses Rezitativ und andre Bach'sche mit derjenigen Weise des Rezitativs, die wir durch die Mehrzahl der Kompositionen (selbst der vorzüglichsten) gewohnt worden, vergleicht: dem kann im ersten Augenblick die Bach'sche Weise übertrieben erscheinen. Und ferner, was im Grunde dasselbe ist, wer die Bach'sche Redeweise, wie sie sich in seinem Rezitativ ausprägt, mit der Redeweise zusammenhält, die wir in den gewöhnlichen Lebensver- hältnissen an uns und andern gewahr werden : der kann zweifelhaft werden, ob jene Bach'sche Redeweise natürlich, ob sie mit der Weise der natürlichen Sprache übereinstimmend, ob sie nicht viel-

herausgegebnen Kirchenmusik : »Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben«) in eigenthümlicher und wunderwürdiger Weise als Arie behandelt.

Digitized by Google

Höhere Beispiele.

409

mehr baare Uebertreibung und Unnatur ist? Dieser doppelte Zweifel beseitigt sich, sobald man nur beherzigt, wie unendlich weit der Inhalt und Eifer des Bach'schen Rezitativs über dem in den meisten rezitativischen Aufgaben und in der Überwiegenden Masse alles dessen, was im gewöhnlichen Leben zur Sprache kommt, erhaben und überlegen ist. Die felsenstarke üeberzeugung des gläubigen und der Feuereifer des pflichtgetreuen Seelsorgers, dem jedes Wort, das er ja nicht aus sich, sondern aus dem ge- heiligten Schatz des Evangeliums und der auf ihm festgegründeten Kirche spendet, dem also jedes Wort eine That, ein Schlag ist im Kampfe gegen das Böse, oder ein Siegesruf zur Weckung und Auf- richtung der Schwachen und Verzagenden: das lebte in Bach so stark und glühend und freudig, wie je in Luther oder einem andern der vorangeschrittnen Glaubenshelden. Von jedem Worte ganz er- füllt, legt er die ganze Macht seines Gemüths in jedes Wort, und so spricht es uns allerdings unendlich Tieferes und Reicheres aus, als die Werkeltagstunde der gewöhnlichen lauen Stimmungen, die sonst wohl unsern Reden und Rezitativen schlägt. Hier ist nichts blosses Wort oder Gleichniss, alles ist baarer wörtlicher Ernst. So ungestüm mit vorbewegten Armen und Händen und weit offnen, den ganzen Menschen in sich aufnehmenden Augen dringt der Pre- diger mit seinem Anruf zu Anfang auf das Beichtkind ein, wie jene ersten Noten, die wir oben erwogen. So beweglich ist ihm selber bei der Erwähnung Jesu, als seine Stimm- und Bassmelodie (Takt 3) es zeigt. So muthig und stark ist ihm bei dem verheissnen Siege, und so ereifert er sich mit geflügelten, übereilt stürzenden Worten bei der Erwähnung des Feindes; ihm und seiner Zeit ist »Satans Heera kein blosses Gleichnisswort, er lässt das, was das Gleich- niss (wenn es ihm eins wäre) uns bedeuten könnte, das »Welt und Sünde« gewichtvoll nachfolgen und gönnt sich hier keinen Ruhepunkt, so sorglich genau (aber auch bedeutungsvoll) sonst, z. B. Takt \ und 9, für die Athemmomente gesorgt ist. Und eben so gewiss hoben sich ihm, wie er »dein Herz den Himmel Gottes auf Erden« nannte, Seele, Blick und Haupt und beide Arme mit offnen Händen wie zum Anschaun und Empfangen empor. Hat man zuerst das Rezitativ so geprüft, dass man sich den Text vor- gelesen und danach die Komposition beurtheilt : so kehre man nun die Probe um. Man versuche ohne absichtliche Uebertreibunt: oder Steifigkeit, aber mit Muth und Hingebung die Worte nach der Andeutung der Noten zu lesen, ohne Scheu vor den durch sie gebotenen weiten Aufschwüngen u. s. w. : und man wird Überrascht auf eine eifervolle und durchaus dem Inhalt und der Stimmung des Moments getreue Redeweise geführt sein, die man allerdings nicht für seine alltägliche, wohl aber für eine dem

Digitized by Google

410

Das Rezitativ

hohen Standpunkte jenes Moments ganz natürlich eigne erkennen wird.

Umgekehrt folgt aber hieraus, dass es noch keineswegs ein Vorwurf ist, wenn die meisten Rezitative, besonders in Opern, nicht auf der Höhe des Bach'schen Rezitativs stehen. Denn wie ungleich leichter und geringer ist bei jenen meistens der Inhalt der Rede und die Bedeutung des Moments ! Meistens sind sie im grös- sern Ganzen nur Uebergänge von einem bedeutenden Punkte zum andern, die als solche gewissermassen Augenblicke der Erholung nach einem vorangehenden und der Sammlung zu einem neuen Hauptmomente bieten. Sie mit solcher Tiefe und Gewalt aussprechen, wie Bach's Rezitative, wär' üebertreibung und Unwahrheit und zugleich eine Zerrüttung im wohlbedachten Bau des ganzen Kunst- werkes, in dem sich wie überall die Nebenmomente den Haupte momenten unterordnen müssen. Ein Grund mehr, das Studium des Rezitativs bei leichtern und gleichgültigem Aufgaben zu beginnen (S. 398) und lange festzuhalten.

Vierter Abschnitt. Das begleitete Rezitativ und das Arioso.

Sobald das Wesen des Rezitativs erfasst ist, bedarf sein Ueber- gang (oder seine Hinneigung) zu festerer Form, den wir schon S. 390 bezeichnet haben, nur eines Hinblicks, keines besondern und weit- geführten Einarbeitens. Es ist vielmehr rathsam, so lange als mög- lich an der Form des einfachen Rezitativs sich genügen zu lassen und von der selbständigem Begleitung nur, wo es der Sinn des Ganzen gebieterisch fodert, Gebrauch zu machen.

Die Schritte, die das Rezitativ über seine ursprüngliche und einfachste Weise hinaus thut, sind folgende.

4. Fortklingende Begleitung.

Die Begleitung hat ursprünglich nur die Singstimme durch An- deutung der Harmonie zu stützen ; so ist in No. 404 und 402 ge- sehe Im. Die Harmonie wird hier wie überall nicht bedeutungslos bleiben, aber sie macht noch nicht Anspruch , anders , als in der Singstimme zu eigentlicher Geltung zu kommen.

Der erste Fortschritt ist nun der, dass das Dasein der Har- monie in der Begleitung im Gegensatz zum Gesang hervortreten soll. So hat es Händel schon in dem kleinen Rezitativ No. 405 gewollt. Das orgelpunktartige Ausklingen fesselt die Erwartung und

Digitized by Google

Das begleitete Rezitativ und das Arioso.

411

bereitet auf das Nachfolgende vor. In dem Gluck'schen Beispiel No. 406 dient das Fortklingen der Harmonie, deren Oberstimme meist Über der Singstimme liegt, zur Verschleierung und Milderung der letztern. Es ist ein Karakte rzug, der erst tiefer nachwirkt und gefasst wird, wenn Klytemnästra gleich im folgenden Rezitativ mit nackter, harter Stimme

410

j "tu »

II faut sau - vor notre gloi-re of-fensee, ma

Iphigenie.

) fil - le , il faut par-tir ä l'in - stant de ces lieux, Par-

tir, sans voir A - chil - le?

6 Dieux !

t

M

17

ff r

die fröhlichen Tänze der Jugend zerreisst in der Entrüstung über Achilles' vermeintlichen Treubruch. Der herrische Befehl: Allez ! der erste Ausbruch dessen, was die Stolze zuerst fühlt und erkennt il faut sauver notre gloire offenste*} , steht nackt und hart da, ohne Zweifel, ohne Einspruch des Herzens, ohne Schleier. Bei der Wendung an die Tochter, die hinweg soll aus der Nähe des Geliebten, fast vom Altar des süssen Bundes, scheint sich ein leises Mitgefühl wie ein Flor in den fortklingenden Akkorden über die Worte zu legen. Iphigeniens erste Frage tritt im ersten Schreck eben so nackt hervor; sie kann nicht fassen, dass Er . . . »de qui

tardeur empressee« diese Worte, vom obigen 6 Dieux!

an, sind wieder von der fortklingenden Harmonie verschleiert. In denselben fortklingenden Akkord tritt wieder das befehlerische Wort der weiblich aufgeregten Mutter:

AchiUe dtsormais doii vous Hre odieux.

Digitized by Google

412

Dos Rezitativ

Nun aber, wenn sie in ihrem guten Rechte (denn sie ist ohne Schuld getäuscht) fortfährt:

Indigne de l'honneur, promis a sa tendresse, dans de nouveaux liens ses voeux sont retenus.

und

Fuyons la honte d'un refus et ne lui montrons point une Idche faiblesse.

slehen die Worte wieder hell und bloss zu Tage, Iphigeniens Schmerz- ruf aber

Qu' entends je ? 6 ciel ! ist von der Begleitung verhüllt, und ihr letztes

Hölas !

fällt auf die Schlussakkorde.

In einem andern und doch nahverwandten Sinne hat S e b. Bach den Fortschritt zu mitklingenden Akkorden und den Gegensatz von einfacher Begleitung geltend gemacht. In seiner Matthäi'schen Pas- sion spricht der Evangelist, dessen Erzählung den Anhalt aller der bald dramatischen, bald lyrischen Momente des grossen Ganzen bildet, stets (mit einer Ausnahme, wenn er das Erdbeben und die Aufer- stehung der Todten bei Jesu Hinscheiden erzählt) im einfachen Re- zitativ ; so auch die andern im Rezitativ Redenden alle. Nur wenn Jesus redet, legen sich die Akkorde in weiten Lagen (die Geigen ganz hoch) und leisem Zug der Stimmen, wie ein verklärender und zugleich umhüllender Heiligenschein um die Worte. Wenn er aber am Kreuze ausruft:

Mein Gott, mein Gott! Wie hast du mich verlassen!

dann ist der Heiligenschein erloschen; so fehlt er auch, wenn dem Landpfleger die einzige Antwort wird, die er erhalten sollte.

2. Figurirte Begleitung.

Sobald die Begleitung in energischerer Weise fortwirken soll, genügt der ruhig ausgehaltene Ton oft schon deswegen nicht, weil er in solcher Weise auf manchen Instrumenten, z. B. den Streich- instrumenten und dem Klavier, nicht in gleicher und voller Kraft fortdauert. Dann tritt also schon aus äussern Gründen die Not- wendigkeit der Tonwiederholung ein.

Die einfachste Weise ist das Tremolo, die schnelle Tonwieder- holung ohne nähere oder doch ohne für sich bedeutende rhythmische Gliederung. Ein solches Rezitativ finden wir am Schluss der ersten Scene von Gluck's Iphigenie in Aulis. Agamemnon betet zwischen Bangen und Hoffen zu den Göttern um Rettung der Tochter, hat aber selber schon Vorsorge getroffen, ihre Ankunft im Lager, die

Digitized by Google

I

Das begleitete Rezitativ und das Arioso.

413

sie dem Opfertode zuführen würde , durch List zu hindern. Hier am Schluss seiner Arie (des Gebets), tritt das Rezitativ ein,

ah <

9^1 =-

^=

=?-

p >

Si

ma

fil-

le ar-ri -

ve en Au

- Ii -

de,

_

si

m n

=£=

6 2

6

son fa - ta! de -st in la con - duit en ces lieux,

Ö 7 6

5 * 5

n'en ne peu( /o sawver du Iransport homicide de Calchas des Grecs et des Dieux.

und wird von verbundnen Akkorden, in den Oberstimmen im Tre- molo, eingeleitet und durchweg bis zum Schluss begleitet. Dass dieses Beben der Instrumente, nur gezUgelt durch die festern Takt- streiche des Basses, mit der Stimmung des Vaters sympathisirt, der selber die Tochter hat herbeirufen müssen und im Zweifel, ob sie noch gerettet werde, bebt, wird Jeder von selbst gewahr.

Aeusserlich ganz verschieden und doch verwandt ist das unter- brochne, aber gemessen wiederholte Anschlagen der Akkorde. Schon am Schlüsse von No. 410 hat sich diese Form gezeigt; ausgebildeter finden wir sie in einem andern Rezitativ Iphigeniens, die sich eben- falls an Achilles7 Treue hat zweifelhaft werden lassen und nun beim ersten Wiedersehn den Glauben der Liebe wiederfindet.

41*

Mon trouble , mnt ennnmM mnn ri^-nit. ma rinn-

m

mes soupgons, mon dtf-pit, ma dou-

r

r

FT

8 8

f

leur, tout vous a prou - ve" ma len-dres - se.

Das Stocken der Beschämung, das Geständniss der scheu sich verrathenden Zärtlichkeit lassen hier keine ununterbrochne Rede zu,

by Google

414

Das Rezitativ.

und die Begleitung schliesst sich wie die Geberde der Rede an, beide von gleichem Gefühl getrieben und gehemmt. Auf dem Gipfel bei dem Hout vous a prouve1« tritt ein starker Akkord ein und deckt das Geständniss.

Selbständiger bildet sich die Begleitung unter andern in jenem Rezitativ aus, das in Händel's Messias nach dem in No. 403 mit- getheilten folgt. Nach der Erzählung, es seien Hirten Nachts auf dem Felde gewesen, tritt zu den rezitativischen Worten:

Und siehe, der Engel des Herrn trat zu ihnen

die hier bei A

tiotirte und weiter in einem vierten Rezitativsatze

Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heer- schaaren

die bei B angegebne Begleitung (die Oberstimmen Geigen, die Un- terstimme Bratsche und Violoncell) ein, im leisen Wehen das Her- annahen der Himmelsboten und ihr schwebendes Dasein oder, wenn man dies nicht erkennen will, die höhere Erregtheit bei ihrer Erwähnung andeutend.

An die bisher aufgewiesnen Gestaltungen knüpfen sich noch zwei zu bemerkende Gegenstände.

Zunächst ist klar, dass bei den bestimmten! Figurationen der Begleitung die Nothwendigkeit eines mehr oder weniger scharf zu beobachtenden Taktmaasses eintritt. In dem Falle von No. 441 ist der Takt wenigstens schärfer bestimmt, als in den Beispielen bis No. 440; in No. 442 muss Begleitung und Gesang schon genlauer in einander greifen; die Begleitungen in No. 443 und ähnliche fodern festgemessene Bewegung, wenngleich der Gesang innerhalb jedes Akkordes so taktfrei sich ergehen mag, als dem Ausübenden und Dirigirenden Recht scheint. Wir sind also bei der stufenweisen Ausbildung der Begleitung zu dem

3. taktmässigen Rezitativ

(recilativo a tempo) gelangt.

Sodann hat der Zwischen tritt der Begleitung zwischen Ab- schnitte der Singstimme, wie wir an No. 440 und 442 beobachten können, allerdings seinen eigentlichen und gerechten Anlass in der Stimmung und den Verhältnissen, unter denen das Rezitativ her- vortritt. Aber eine andre Seite hiervon ist doch auch die, dass

Digitized by Google

Das begleitete Rezitativ und das Artoso.

415

durch solchen Zwischentritt die auch im Rezitativ nicht ganz zu entbehrende Ordnung des Taktes (S. 389) und die verständige Glie- derung des Textes durch Loslösung seiner Abschnitte von einander höchlich befördert wird. Dies wird bewirkt, indem

4. die Begleitung als Zwischensatz zwischen die Abschnitte des Gesanges tritt. Schon in No. 410 ge- schieht dies im ersten Takte mit vier Akkorden. Dasselbe findet von No. 442 an statt; nach vier Zwischenakkorden geht das Re- zitativ weiter:

Ah, qu'il vous est aisö de tromper ma faiblesset

A vous croire mon coeur n'est que trop empressi.

Der in No. 442 anhebende Zwischensatz trennt und verbindet das Vorhergehende und das hier Folgende ; ein zweiter Zwischensatz tritt zwischen die beiden Hälften des letzten Textes.

Auch solche Zwischensätze können in selbständiger Bedeutung mannigfacher Art den Ideengang des Rezitativs unterstützen. Wenn z. B. in unsrer Iphigenie endlich das Schicksal sich trotz allem Widerstreben zu erfüllen droht, Iphigenie selbst sich dem Willen des Vaters und der Götter kindlichfromm unterworfen und die Mutter der Obhut ihrer Frauen überlassen hat; erhebt diese sich zum Gipfel ihres Karakters ; dem Gemahl, dem versammelten Griechenland, den Göttern selbst wird sie die Tochter streitig machen. Mit gewaltig- stem Ausbruche, im höchsten Tone der Leidenschaft ruft sie,

4U <^

I

v v 7

-g C g g S ß"fe

Dieux puissans, que j'at - te-ste! non, je ne le souffri - rai

* " " ^ Ufr

-

Digitized by Google

416

Das Rezitativ

und gewaltsam reisst nach ihrem Nein ! das Orchester hinein , wie die Fürstin sich den hemmenden Armen des Gefolges entreissen und der Tochter nacheilen will zum Altar. Durch das Folgende :

Privte-moi du jour, que je de'teste, dans ce sein maternel en- fonctz le couteau, et qu'au pied de lautet funeste je trouve du moins mon tombeau

kehren bei jedem Absätze diese Schläge des Orchesters wie wissen- der Seelenschmerz wieder, bis bei den Worten

Ah, je succombe ä ma douleur mortelle!

Klytemnästra besinnungslos niedersinkt. Das Orchester schliesst mit zwei dürren Akkorden in //moll.

Nun scheinen Rufe im Orchester und seufzende Accente den Moment des Todesopfers, das sich bereitet, naher zu rücken.

Moderato. ^________________. .

bis

Es ist hiermit ein neuer Moment und ein neuer Seelenzustand für Klytemnästra eingetreten. Sie erwacht aus der Betäubung

f^— PP

3

4*6

Ma til-le!

je la

8

r f * x>

vois sous le fer in-hu-main

zu dem Anblick dessen, was ihrer Tochter bevorsteht, bis die Kraft der Mutter aus der Mutterangst neu ersteht. Das Weitere gehört nicht hierher. Hier bietet sich also die Begleitung zu wieder- holten Zwischensätzen und hat in ihnen zwei oder drei verschiedne, aber für die Scene höchst bedeutsame Vorstellungen gezeichnet. Die Handlung selbst würde ohne diese Zwischensätze gar nicht darstell- bar sein, aber auch das Seelenbild würde ohne jene nur durch die Begleitung ausführbaren Züge durchaus unvollständig bleiben. Zuletzt ist noch

5. das Arioso, der vorübergehende Eintritt fester geformten Gesangs in das Rezi- tativ, zu erwähnen.

Digitized by Google

Das begleitete Rezitativ und das Arioso. 417

Von der allgemeinen musikalischen Stimmung, die bei jedem Rezitativ vorausgesetzt wird, bis zu einer bestimmtem und darum auch bestimmtere musikalische Gestalt fodernden Stimmung ist oft nur ein kleiner Schritt, Daher treten kleine Regungen dieser Art Läufig mitten im Lauf eines Rezitativs gleichsam unabsichtlich her- vor, z. R. in No. 409 bei dem Wort »Wüste a und noch bedeu- tender im dritten Takte. In den meisten Fällen aber wird erst durch den Verlauf und daher am Schlüsse des Rezitativs die Stim- mung zu feslerer Form erhoben, und erst diese Sätze pflegen durch den Namen Arioso ausgezeichnet zu sein. Als Reispiel stellen wir liier das Arioso zu dem in No. 409 gegebnen Rezitativ her.

Chri-sti Geist mit dir sich fest ver-bin - - de, mit

dir sich fest ver-bin - - de, sich fest ver-bin-

ä

de.

1

Dass die Vermahnung des Rezitativs zu festester Zuversicht hinleite, dass diese Zuversicht im Prediger zuletzt sich unerschüt- terlich und mächtig erweise, ist so natürlich, als dass sie dann auch in der Musik feste Form annehme. So bildet sich also mit Nothwendigkeit der Satz von Anfang bis in den dritten Takt aus, dessen Tonfolge zwar im Allgemeinen dem Wortausdruck so getreu folgt, wie im freien Rezitativ, aber schon durch scharfe Gemessen- heit des Taktes und das rein-musikalische Tonmotiv bei dem Wort »verbinde« Uber die Gränze der bloss zur Musik erhobnen Rede- weise (des Rezitativs) hinausgeht. Dieser Satz wird ganz und Theile von ihm werden noch zweimal wiederholt. Auch die natür- liche Rede kennt Wiederholungen, und das freie Rezitativ kann sie nachbilden. Aber sie sind weder so umfassend, noch bedürfen sie der Mehrmaligkeit; denn die Rede ist schon ohnedem sicher, in jedem Wort ihres Inhalts schnell und deutlich verstanden zu wer- den, während die Gemüthstimmung sich auslassen, voll ergiessen und an ihrem eignen Ausdruck ersättigen will, mithin wo sie

Marx, Komp.-L. III. 5. Aull. 27

Digitized by Google

418

Das Rezitativ.

über das Wort hinaus zur vollen Herrschaft kommt die grössere Ausführlichkeit der Musik, die wir Uberall kennen gelernt, bedingt.

Einer eigentümlichen Anwendung des Arioso ist hier noch zu gedenken, wenngleich wir sie seit Seb. Bach nirgends, oder doch nirgends in so bestimmter Gestaltung wieder gefunden.

Es finden sich nämlich bei jenem Meister, namentlich in seiner Matthäischen Passion, öfter Sätze, die er als Rezita tive bezeich- net. Der Gesang wird in ihnen von einer oft so eigen gezeichneten und reich benutzten Begleitung getragen, wir geben hier ein Paar Begleitungsmotive,

dass der Satz ohne Frage taktmässig vorgetragen werden muss. Dabei herrscht in der Singstimme zwar der Redeausdruck vor, neigt sich aber bei jedem Anlass den bestimmtem musikalischen Motiven zu. Diese Motive werden nicht nach der Weise musika- lischer Formen durchgeführt, es entsteht kein Lied (wie wir es aus Th. II, S. 48, kennen), keine Arie (vielmehr folgt eine Arie in der Regel für dieselbe Stimme nach), sondern eine Mittelform zwischen dem freien Rezitativ und dem Liede, die vom erstem den Inhalt, vom letztern die festere Form und selbständige Abschlies- sung, wenn auch nicht die Einheit der Tonart an sich hat, mit letzterer aber sich auch vom eigentlichen Arioso unterscheidet, das nur ein ungetrennter Theil eines Rezitativs ist. Mit dieser Mitte 1- oder Mischform ist also die Kunstform des Rezitativs systematisch abgeschlossen, denn in ihr geht sie zu andern For- men über.*

Ueberblicken wir nun alle aus dem einfachen Rezitativ hervor- gegangnen Formen, so erkennen wir jede in ihrer Notwendigkeit für die mannigfachen, dem Rezitativ eignen oder sich aus ihm ent- wickelnden Ausdrucksweisen. Aber wir tiberzeugen uns zugleich, dass das für Belehrung und Ausbildung zunächst und hauptsächlich Wichtige das einfache Rezitativ bleibt. In ihm lernen wir musikalisch sprechen, und zwar ist es nur die reine musikalisch gewordne Rede, die es bietet, die wir aber als etwas bis jetzt uns ganz Neues und nirgend so unbedingt rein Wiederkehrendes als vorzüglichen Gegenstand für unsrc Ausbildung anzuerkennen haben. Dagegen ist alles Weitere, die Bildung von Sätzen, die Durchführung musikalischer Motive, das Liedför-

* Zu bestimmterer Anschauung geben wir als Beilage I eins dieser Re- zitative im Klavierauszug.

Digitized by Google

Anhang.

419

mige, iheils schon anderweit gewonnen worden, theils wird es noch anderswo und günstiger zur Uebung kommen. Somit kehren ' wir also auf den Rath (S. 398), das einfache Rezitativ hauptsächlich zu Üben, ernstlich zurück.*

Anhang.

Bei der Lehre vom Rezitativ haben wir bis jetzt ohne Weiteres angenommen , es werde von einer einzelnen , von einer S o 1 o-S limme gesungen. Nach unsrer Weise, stets vom Einfachsten auszugehn und jede Lehre und jeden Lehrbegriff erst in dem Augenblick ein- zuführen, wo sie auch sogleich zur Anwendung kommen könnten, durften wir Sologesang als das Einfachste voraussetzen und dürfen wir auch noch jetzt die Feststellung des Begriffs vom Chorgesang bis zu dem Moment, wo er in das Leben tritt, verschieben. So viel ist schon bekannt, dass eine Chorstimme von mehrern oder vielen einzelnen Sangern, die dieselbe Weise vorzutragen haben, gleichzeitig gesungen wird; und einleuchtend ist, dass der Verein verschicdner Chor- oder Solostimmen zu gleichzeitigem Gesang eine taklinässig festgeordnete Komposition bedingt.

Auch ohne tieferes Eingehn abzuwarten, wird man erkennen, dass das Wesen des Rezitativs den Sologesang bedingt. Bei der Verschiedenheit menschlicher Karaktere, Gefühlsweisen, Vorstellungen u. s. w. kann eine Anzahl von Individuen wohl in einem allgemeinen Gedanken oder einer allgemeinen Stimmung übereinkommen, nicht aber in allen Einzelheiten einer Reihe von Vorstellungen. Im erstem Fall ist also vermöge des Zusammenstimmens auch Zusammensingen möglich; es entsteht dann Chor- oder Ensemblegesang, und zwar gemäss dem Inhalt in irgend einer festern Kunstform. Im andern Falle ist Zusammensingen vernünftiger Weise eben so un- denkbar, als die Uebereinstimmune in allen von Wort zu Wort eintretenden Vorstellungen; folglich kann hier nur Sologesang ein- treten, und zwar in der Form des Rezitativs.

Demungeachtet ist von einem neuern Meister ein Chor-Re- zitativ gewagt worden, von Spontini.** In seinem Fer- dinand Cortez, bei der Empörung des Heeres gegen den Helden, erschien dem Ungestüm seines grossartigen napoleonischen Karakters die mürrische Beschwerde im Munde Einzelner zu gewichtlos, auch materiell zu matt im Verhültniss zu den vorangehenden und nach- folgenden Schlägen. Er Hess diese Sätze, die einen rezitativischen Dialog bilden, von vier und vier Individuen vortragen. Dem Wesen

* Hierzu der Anhang ** Dass und mit welchem Recht andre Komponisten diese Form nachge- braucht haben, kommt in der Musikwissenschaft zur Prüfung.

27*

Digitized by Google

420

Das Rezitativ.

des Rezitativs als der freien Musiksprache ist dies wohl fremd zu erachten, weil das Miteinandersprechen verschiedner Individuen in derselben Weise für jeden Einzelnen die Freiheit aufhebt. Was hier, abgesehn von dem mächtigen Wollen eines so eigentümlich und grossarlig schaffenden Künstlers, das wenigstens subjektive Berechtigung hat, für den Komponisten spricht, ist der beschränkte soldatische Gesichtskreis, die dem Soldaten auch geistig anwachsende Uniform, die das Individuelle und die Freiheit des Subjekts aufgehn lässt im esprit de cor/w, so dass ganze Rotten (im soldatischen Sinn des Worts) wie Ein Mann auftreten. Es kann und soll dies keine Rechtfertigung einer wie uns scheint an einem inner- lichen Widerspruch leidenden Gestaltung sein, sondern nur dazu dienen, mit dem Widerspruch, so weit es angeht, zu versöhnen.

Es ist dies eine von den Gestaltungen, die ihr Recht so viel sie dessen haben nur aus der Eigentümlichkeit ihres Schöpfers und den ihn bewegenden besondern Verhältnissen herleiten, deren Nachahmung oder Wiederholung von Andern, ohne diese Eigenthüm- lichkeit, ohne den Adelsbrief der Originaliliit, um so weniger zu rathen und zu billigen wäre.

Digitized by Google

Dritte Abtheilung.

Die Liedform.

Das Rezitativ war die geeignete Form für solche Texte, die zwar durch ihren Inhalt (oder auch nur durch ihr Verhältnis» als Theile eines grössern musikalischen Ganzen) sich in die Sphäre der Musik erhoben , aber noch nicht zu einer der festen Musikformen gelangen konnten, weil sie keine feststehende Stimmung an sich hatten, durch die ein bestimmter musikalischer Ausdruck möglich geworden wäre. Daher musste sich die Musik dem Wort, der Rede in allen ihren einzelnen Momenten bei- und unterordnen. Für das Wort, für jeden einzelnen Zug wurde sie bedeutend, und allerdings ver- breitete sich von da aus auch eine allgemeine, dem Sinn des Textes im Ganzen entsprechende Stimmung. Aber nicht diese war ihr wesentliches Ziel, sondern jener Einzelausdruck; das Allgemeine ergab sich beiläufig, so weit es eben ging ; das Besondre von Moment zu Moment war die eigentliche Kraft der Komposition.

Jetzt kehrt sich das Verhältniss um. Ein Text, z. B. ein Ge- dicht bietet uns in seinem ganzen Zusammenhang feste ftlr Musik geeignete Stimmung, während seine Einzelheiten entweder für be- stimmte musikalische Auffassung durchaus nicht geeignet sind, oder doch für dieselbe einen weniger günstigen Stoff bieten, als die Stim- mung, der Seeleninhalt des Ganzen.

In diesem Fall ist es die Stimmung des Ganzen, die der Kom- position zur Aufgabe wird. Diese Stimmung ist dann ein fester, be- stimmt zu fassender Gegenstand; es ist Freude, und zwar kindliche, oder Naturfreude, sanfte oder stürmischer erregte, oder es ist Trauer, Wehmuth, Zärtlichkeit u. s. w.t oder der Uebergang aus einem dieser Gemüthzustände in den andern, die Folge zweier Zu- stände, — also wieder ein in sich einiger und darum bestimmt zu fassender Moment des Seelenlebens. Und weil die Stimmung, die den eigentlichen oder vornehmsten Inhalt des Gedichts ausmacht, eine bestimmte ist: so ruft sie auch in der Komposition eine bestimmte Form, weil sie eine einfache ist, ruft sie eine einfache Form hervor. Die bestimmte und einfache Form der Musik ist aber, wie wir wissen, Satz, Periode, Liedform; im Gegensatz zu der unbestimmten Form des Gangs (und Rezitativs, wie wir jetzt zu- setzen können) und den zusammengesetzten Formen des Rondo u. s.w., die wir einstweilen nur als Instrumentalformen kennen gelernt.

422

Die Liedform.

Die Stimmung ist ein allgemeines Element. In ihr können daher verschiedne, viele Individuen übereinkommen. Hieraus folgt, dass die Liedform ebensowohl für Ein Individuum (einen Solo- sänger), als für mehrere gleichzeitig wirkende Einzelne (Solostimmen), als endlich für verbundne Massen (Chor) geeignet sein kann. Mehrere, ganze Massen können gleichzeitig von Freude, Schmerz und zwar von diesem bestimmten Schmerz u. s. w. er- griffen werden, mithin in dem allgemeinen Ausdruck des gemein- samen Gefühls übereinkommen, das heisst, auf Musik Übertragen, ein Lied mit innerer, psychologischer Wahrheil gemeinsam singen. Im Einzelnen hingegen, wenn auf dasselbe vorzugsweise Gewicht gelegt werden sollte, würden sie auseinandergehn, es würde sich sogleich die Verschiedenheit der Einzelnen, von denen der eine lebhafter, der andre träger ist, der eine diesen, der andre jenen Punkt leben- diger auffasst u. s. vv. , geltend machen, und ein Zusammenbleiben mit psychologischer Wahrhaftigkeit nicht denkbar sein, wie S. 449 in Bezug auf das Rezitativ angedeutet worden.

Wir haben uns zuerst mit dem Lied für eine einzelne Stimme, dann mit der Liedkomposition für mehrere und Chor zu beschäftigen. Die für beide Gattungen des Lieds bestimmte Liedform selbst ist von ihrer rein-musikalischen Seite bereits aus Th. II, S. 48, be- kannt. Wie eine Komposition, und so auch ein Lied, den bestimmten Ausdruck einer vorgesetzten (vom Gedicht angeregten) Stimmung haben könne, wie ferner ein Gedicht nach seinem gesammten und besonders auch nach seinem Gefüblsinhalt zu verstehen: das alles fällt ausserhalb des Gebiets der Kompositionslehre. Naturell und allgemeine Bildung müssen den Komponisten über den Sinn seines Gedichts aufklären ; eignes Gefühl und die zum eignen Er- lebniss gewordne Kenntniss vom Wesen der Musik, dann der Zusammendrang aller Kräfte im schöpferischen Augenblick müssen ihm die Weisen des Ausdrucks erschliessen. Die Kompositionslehre zeigt bloss, wie er das, was in ihm ist, zur Gestalt zu bringen hat.

Hier also wo auch diese Gestalt wenigstens abstrakt schon bekannt ist bleibt der Lehre nur wenig zu thun. Sie hat nur nachzuweisen, welche Gedichte und wie diese Gedichte in Musik, und zwar in Liedform zu übertragen sind. Die Lehre hat eine leichte, der Komponist eine unerschöpfliche Aufgabe.

Digitized by Google

Der Liedtext.

423

Erster Abschnitt. Der Liedtext.

A. Der Inhalt desselben.

Aus den Vorkenntnissen (S. 368) ist uns schon klar geworden, welche Texte überhaupt für Musik geeignet sind. Wir setzen also hier einfach zu: dass ein Uberhaupt musikalischer Text seinem In- halt nach dann für Liedkomposition geeignet ist, wenn die allgemeine aus ihm sprechende Stimmung ein überwiegendes, der Inhalt in seinen Einzelheiten aber ein untergeordnetes Interesse bietet, wenn diese Einzelheiten nicht sowohl um ihrer selbst, als um der durch sie und in ihnen angeregten Stimmung willen aufgefasst und zur Sprache gebracht worden sind.

An dem Goethe'schen Nachtgesang

0 gieb, vom weichen Pfühle, Träumend, ein halb Gehör! Bei meinem Saitcnspicle Schlafo! was willst du mehr?

Bei meinem Saitenspiele

Segnet der Sterne Heer

Die ewigen Gefühle ;

Schlafe! was willst du mehr? u. s. w.

können wir uns dies Verhaltniss, das die Liedkomposition begrün- det, zu festerer Anschauung bringen. Was einzeln darin erwähnt wird, der weiche Pfühl, das Saitenspiel, der Sterne Heer, das sind nur einzelne Striche und Farbenpunkte zu dem Bilde der Geliebten, die sich der Sänger im Schlummer auf weichem Pfühle, träumend unter den halbvernommnen Klängen seines Spiels, vor- stellt. Aber auch dieses Bild ist nicht der Kern des Inhalts, das eigentliche Leben und Herz des Liedes ; die süsse, liebesandächtige Hinneigung seiner Seele ist es, die den Sänger erfüllt, die jene Vorstellung der Schlummernden erst geschaffen oder ihr erst die wahre Bedeutung gegeben, und nur um ihrer selbst willen alle das Bild vollendende Einzelheiten gewahr geworden ist und ausgesprochen hat. Dies ist so entschieden , dass der Dichter selbst seinem Ge- dicht musikalische Weise gegeben hat. Die letzte Strophe klingt (als Refrain) wie ein musikalisches Motiv immer wieder an; die dritte jedes Verses kehrt bei dem folgenden Vers als erste wieder (der dritte Vers z. B. beginnt »die ewigen Gefühle«), und so ver- einigt sich Alles, um das Ganze zu einem stillbewegt dahinfliessenden Erguss zu verschmelzen.

Digitized by Google

424

Die Liedform.

Man vergleiche diesen Text mit einem rezitativischen, z. B. mit dem Bach'schen aus No. 409 und 417, so werden Rezitativ und Lied sich gegenseitig erläutern. Auch im Rezitativ kann eine allgemeine und einheitvolle Stimmung walten ; in jenem Bach'schen z. B. der ernstliche, zuversichtvolle Eifer des Ermahnenden. Allein es würde wenig gethan sein, wenn man in der Komposition nur diesen Grundton des Ganzen träf; es ist wichtig, die einzelnen Momente des Textes mit Energie zur Sprache zu bringen. Das ist die eigentliche Aufgabe des Komponisten, die Stimmung des Ganzen tritt aus der richtigen Auffassung des Einzelnen von selbst hervor. In jenem Liede dagegen kann der Musik gar nichts darauf ankom- men, die Einzelheiten hervorzuheben, die nur Mittel zum Zweck sind; ja, sie ist ganz unfähig, sich hierauf einzulassen ; das Heer der Sterne, der weiche Pfühl sind Gegenstände für das Vorstellungs-, nicht für das Gefühlsvermögen . Hier tritt als Hauptsache und als das der Musik allein Erreichbare die Stimmung des Sängers, die Seele des Gedichts hervor.

Blicken wir hier noch einmal auf Mendelssohn's (und der andern S. 380 Genannten) Kompositionen klassischer Gedichte zu- rück, so linden sich dieselben hauptsächlich in Liedform gesetzt; es hat also die allgemeine Stimmung des Gedichts anklingen sollen. In der That war dies noch die einzige künstlerisch mögliche einen künstlerischen Eindruck zulassende Weise der Auffassung, da jene Gedichte (namentlich die Chöre der Tragödie) in den einzelnen Momenten keine oder höchst seltene Anregung ßtr Musik bieten. Daher kann die Formwahl, wenn einmal komponirt werden musste, nicht zum Vorwurf und im Auge des sachkundig Nachdenkenden ebensowenig zu besonderm Verdienst gereichen ; sie war eine un- vermeidliche.* Allein eben so unvermeidlich war nun die Beiseit-

* Wie die Griechen selber ihre Chöre aufgeführt, gehört nicht hier- her (Einiges hat der Verf. darüber in seinen Artikeln über griechische Musik im Universallcxikon der Tonkunst gesagt, mehr wird an einem andern Orte folgen), wo es bloss darauf ankommt, zu erörtern, welches Yerhaltniss u n s rc heutige Musik zur Dichtkunst, zu den sich ihr darbietenden Texten haben kann. Hierzu gaben klassische Gedichtsatze schlagende Beläge und Lehren; zugleich schien es, wie gesagt, nothwendig, einer Verirrung so manches talent- vollen Kunstgenossen warnend entgegen zu treten, die darin besteht, die Kom- position unkomponirbarer Gedichte (verführt von ihrem absoluten dichterischen Werth und vielleicht ihrer Neuheit für Musik) zu unternehmen und damit beide Künste und sein eignes Talent in ungünstige Lage zu bringen. Die Gunst und der Ruhm, die namentlich der Mendelssolm'schen Antigone gespendet worden, kann (wie überhaupt der Erfolg) ein auf das Wesen der Sache sich gründendes ürtheil nicht erschüttern, sondern nur die Pflicht eindringlicher Prüfung unerlösslicher zeigen. Es ist in dieser und andern Richtungen von allen Seiten von Schaffenden und Aufnehmenden dem Gefühl unsrer Zeit, der

zed by Go

Der Liedtext.

425

Schiebung und Verdunkelung des besondern Inhalts, aller dieser tief gefassten und tief ergreifenden Anschauungen, Erinnerungen, Ge- danken, deren reicher Strom dem Hörer allzuviel Theilnahme und Mitthätigkeit abfodert, als dass nicht das Untertauchen in die allge- meinstimmende Weise eine Beeinträchtigung des Gedichts und wiederum das Herleihen der Musik zu so untergeordnetem und missgenügendem Dienst ein Unrecht an dieser Kunst genannt wer- den müsste, die in ihrer rechten Sphäre ganz Andres vermag.

Jenes Goethe'sche Gedicht nun stellt sich als eine unzwei- deutige Aufgabe dar; der Dichter selbst hat es durch die musika- lische Form bekräftigt. In andern Fällen kann es zweifelhafter sein, ob ein Gedicht Uberhaupt Musik fodere und ob nicht das Einzelne ein eben so grosses Recht auf den musikalischen Ausdruck habe, als die allgemeine Stimmung, oder gar ein überwiegendes. So spricht sich z. B. in einem andern Goet he'schen Gedichte, dem andern kophtischen, das der Dichter unter die »geselligen Lieder« stellt, ein männlich-rüstiger, seiner selbst behaglich sicherer Sinn aus. Allein der Inhalt selbst, in allen einzelnen Momenten,

Geb ! gehorche meinen Winken,

Nutze deine jungen Tage,

Lerne zeitig klüger sein!

Auf des Glückes grosser Wage

Steht die Zunge selten ein; u. s. w.

fällt nicht in das musikalische, sondern in das Gebiet der Reflexion, die sich der Form nach als Lehre des welterfahrnen Mannes für den Jüngling ausspricht. Wiederum in jenem unsterblichen Gedicht, das ein Grundstein genannt werden mag für die Philosophie der Kunst und den Glauben des Künstlers (im Westöstlichen Divan),

drangvollen Ahnung : dass ein Fortschritt, dass Neues kommen müsse, Folge gegeben. Und da geschieht es wohl, dass man Verirrung für Vorwärtsschritt und Hervorholen des einstmals Lebendig- und Herrlich-Gowesncn, für uns aber durchaus Unlcbensfähigcn für das verheissne Neue hält, währen»! das wahrhafte Neue, der Lebensfunke eines heilem und herrlichem Morgen, entweder wirk- lich noch nicht entzündet ist, oder übersehen und misskannt fortglimmt, bis die Augen »wacker geworden sind, zu schauen«. Denn das neu aufgeschmücklc Alte ist leichter zu erkennen als das von innen heraus Neue.

Eine unschuldigere, aber ganz unfruchtbare Auffassung antiker Gedichte sei ebenfalls erwähnt: die rezitativische, die in unsrer Zeit versucht, aber nicht der Oeffentlichkeit übergeben worden, oder auch die blosse Uebertragung des Versmaasses in melodische Form, die im sechzehnten Jahrhundert (und früher) unternommen worden. Es haben dergleichen Versuche wohl anfangs, besonders bei Gelehrten und Enthusiasten für das Alterthum, Aufschn erregen, nie aber fortleben können. Am erfolgreichsten waren die florentiuischen Ver- suche (des Vinzentio Galilei u. A.), die klassische Tragödie wieder her- zustellen. Sie konnten natürlich ihr eigentliches Ziel nicht erreichen, führten aber zum Entstehn der Oper.

Digitized by Google

426

Die Liedform.

Selige Sehnsucht.

Sagt es niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebend'ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet.

ist jeder Zug durchglüht von jenem begeisterten Gefühl des Ewigen in uns, das unser wahres Sein, ohne das unser äusserliches Leben nur Tod, für das unser Dahingehen, unser Tod, Geburt zum wahren Leben ist,

Und so lang' du das nicht hast, Dieses : Stirb und werde ! Bist du nur ein trüber (last Auf der dunkeln Erde.

ist jedes Wort Uberfliessend voll jener seligen Sehnsucht, die nach Flammentod und Wiedergeburt hinzieht : dass durchaus und überall die Seele strömt in Musik. Und doch tritt die Fülle des Gedan- kens im Worte so Ubermächtig heraus, zieht so tief unsern Geist in den Prophetenspruch des Dichters hinein, dass auf die allgemeine Fühlung, also auf das Gesang-Werden des Gedichts wenig anzu- kommen scheint, ja, dass man fürchten möchte, den tiefen Sinn des Worts verschleiert zu finden durch die in Musik hervorgehobne Stimmung des Ganzen.

In so zweifelhaften Fallen liegt die Entscheidung oft in der augenblicklichen subjektiven Stellung des Komponisten zum Gedicht. Jenes kophlische Gedicht giebt in seinen Lehren zu denken ; in solchem Sinne weist es die Musik zurück. Allein sind uns die Lehren nicht mehr neu , sind wir mit ihnen dem Gedanken nach fertig, so gewähren sie uns das Bild des lebensfriseben Mannes, der sie selber erprobt, und sein Gefühl dabei kann dem Komponisten Musik werden. J. F. Reichard t hat in der That das Gedicht in diesem Sinne glücklich gefasst. Auch das andre Gedicht ist von Zelter handwerksmässig genug, und wenn wir nicht irren, für Männerquartelt in Noten gebracht worden. Wenn wir auch in diesem besondern Falle nicht zustimmen können, so ist wenigstens zuzugestehn , dass es für die einzelnen Fälle nicht immer dass es oft allgemeine Entscheidung nicht giebt; dem Einen kann die musikalische Seite lebendiger hervor- und näher treten als dem Andern, ohne dass darum dieser oder jener durchaus un- recht hätte. Nur so viel darf als allgemein gültig ausgesprochen werden : je zweifelhafter es ist, ob ein Gedicht überhaupt Musik und ob es besonders Liedform fodert, desto schwieriger und zweifel- hafter ist der Erfolg der Komposition.

Digitized by Google

Der Liedtext.

427

B. Die Form des Liedtextes.

Von der musikalischen Liedform wissen wir schon : sie ist ein Satz; oder, wenn dieser sich zu eng begränzt erweist, Periode, Lied in zwei oder mehr Theilen. Hierzu muss nun, wie sich von selbst versteht, der Text A n I a s s und Spielraum geben ; so findet sich denn auch hier, dass ein dem Inhalt nach liedmässiger Text der Form nach mehr oder wenig günstig sein kann.

Da die Liedform eine bestimmte, fest abgerundete ist, so er- scheinen rhythmisirte, versifizirte Texte (Gedichte), insofern sie schon eine bestimmte Form mitbringen, im Allgemeinen günstiger, als Texte in ungebundner Rede. Es versteht sich von selber, dass auch solche liedförmig gefasst werden können und oft gefasst worden sind. Doch widerstreben sie nicht selten da oder dort der liedmässigen Form, oder fuhren schon durch die verlockende Freiheit des Worts darüber hinaus; ungefesselt durch die Versform, wird der Komponist, je tiefer er von seinem Gegenstand erfüllt ist, um so mächtiger hineingezogen in den vollen Ausdruck der wichtigsten oder aller Momente, und muss so die enge Liedform überschreiten. Irgend einige Sätze aus der Bergpredigt, z. B.

Selig sind die Sanftmüthigen ; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit ; denn sie sollen satt werden.

könnten in Liedform gefasst werden; aber ihr tiefer Inhalt und noch mehr der Gedanke an das Gemüth des Verkünders würde, fessellos wie er dasteht, weit über die Liedform hinausführen. Besonders dem Anfänger ist daher im Gegensatze zu dem S. 393 für das Rezitativ Empfoblnen dringend anzuralhen, für die Lied- komposition Gedichte zu wählen.

Bei dem Gedichte nun bestimmt wieder die Form des Verses den musikalischen Bau. Zunächst kommt hier wieder die Aus- dehnung in Betracht. Ungünstig für Komposition müssen im Allge- meinen die zu weiten und die zu eng begränzten Verse genannt wer- den, weil sie die Liedform zu überladen oder zu beschränken dröhn. Die S. 372 mitgetheilte Aeschyleische Strophe, oder jene gött- lichen Verse der sich panthelstisch in die Allnatur wieder auflösen- den Gestalten aus dem Gefolge der Helena (aus Gocthe's Faust)

Wir in dieser tausend Aeste Flüsterzittern, Säuselschweben, Reizen tändelnd, locken leise, wurzelauf des Lebens Quellen Nach den Zweigen; u. s. w.

würden auch abgesehn von der Ungeeignetheit des Inhalts nur schwer und ungünstig in Liedform eingehn. Doch kann diese Schwierig- keit durch die Kraft des Komponisten noch leichter bewältigt wer- den, als die entgegengesetzte zu enger Begränzung. Einige der

Digitized by Google

428

Die Liedform.

dem Inhalt nach musikgünstigsten Gedichte Goethes erscheinen aus diesem Grund unerfasslich für einfache Liedkomposition ; z. B. das glückselige Mailied,

Wie herrlich leuchtet Mir die Natur! Wie glänzt die Sonne! Wie lacht die Flur!

das für feuriges Entzücken beflügelten Einherschritt verlangt, und dem Komponisten zu einem Strom von Lust und Wonne nur wenig Augenblicke gönnt.

Die Geeignetheit eines Gedichts einmal vorausgesetzt, bestimmt seine Form auch die der Komposition. Der vorstehende Vers mit seinen zweimal zwei Zeilen bedingt offenbar zwei Sätze (oder Vor- der- und Nachsatz) in der Komposition. Ein anderes Gedicht von Goethe, der Abschied,

i Lass mein Aug' den Abschied sagen,

Den mein Mund nicht nehmen kann! a Schwer, wie schwer ist er zu tragen!

Und ich bin doch sonst ein Mann.

fodert ebensowohl zwei Sätze, deren jeder (oder der zweite) sich wieder in zwei Abschnitte gliedert. Dieselbe Eintheilung im Grossen bedingt der Musensohn,

1 Durch Feld und Wald zu schweifen,

Mein Liedchen wegzupfeifen,

So gehl's von Ort zu Ort! * Und nach dem Takte reget,

Und nach dem Maass beweget

Sich alles in mir fort.

dessen ersler Satz in drei, dessen zweiter ebenfalls in drei oder zwei Abschnitte zerfallen dürfte. Zuletzt das Gedicht an L u n a

1 Schwester von dem ersten Licht,

Bild der Zärtlichkeit in Trauer!

Nebel schwimmt mit Silberschauer

Um dein reizendes Gesicht; 4 Deines leisen Fusses Lauf

Weckt aus tagverschlossnen Höhlen

Traurig abgeschiedne Seelen,

Mich und nächt'ge Vögel auf.

zeigt wieder zwei Sätze, der erste von zwrei Abschnitten und wie- derum der erste Abschnitt von zwei Gliedern gebildet, während der zweite Satz keinen oder nur einen Einschnitt fodert. Gedichte von fünf Strophen, z. B. Goethe's Märzlied,

Es ist ein Schnee gefallen, Denn es ist noch nicht Zeit, Dass von den Blümlein allen, Dass von den Blümlein allen Wir werden hoch erfreut.

Digitized by Google

Liedkomposüion.

429

das dem Wortinhalt nach vierteilig ist, durch die Wiederholung der dritten Strophe aber ftlnfzeilig wird, ferner von sieben Strophen, z. B. das Burschenlied in Auerbachs Keller,

Es war eine Ralf im Kellernest, Lebt' nur von Fett und Butter, Halt' sich ein Kanzlein angemäst't, Als wie der Doktor Luther. Die Köchin hat ihr Gift gestellt: Da ward's so eng ihr in der Welt, Als hätte sie Lieb' im Leibe.

oder sonst ungleich abgezahlten oder ungleich lang ge- bildeten Strophen verhindern auch in der Komposition gleich- massige Satzbildung, wofern sie nicht doch durch ungleiche Behand- lung der einzelnen Momente (durch Dehnung der zu kurzen und Zusammendrängen der zu weiten Partien des Gedichts) hergestellt werden kann. Wer aber aus Th. II. S. 27 u. f. die Erweiterungen der Satz- und Periodenform , die freiem und ungleichmässigern Rhythmen sich geläufig gemacht hat, wird in solchen Versformen keineswegs ein unübersteiglich Hinderniss finden , selbst wenn die Zurttckführung auf das Gleichmaass unthunlich sein sollte.

Wir haben bis hierher nur einen einzelnen Vers des Gedichts erwogen. Die meisten für Liedkomposition bestimmten Gedichte haben aber deren mehr. Soll nun ein solches Gedicht von mehrern Versen rein liedmässig aufgefasst, das heisst, die Stimmung des- selben alle Verse hindurch in einer einzigen Liedweise festgehalten werden : so ist nicht nur das nöthig , dass in allen Versen diese Grundstimmung fortwalte, sondern auch, dass der Bau aller Verse derselbe bleibe. Dies bedarf kaum einer Erwähnung, wie denn Uberhaupt bei der Ausbreitung der Liedkompositionen schon bis hier- her eher viel zu viel als etwas zu wenig gelehrt sein mag. Nur das Eine sei noch angemerkt, dass bei zu kurzem Versbau bis- weilen die Zusammenziehung von zwei und zwei Versen hülfreich werden kann, wofern sie nach Inhalt, Bau und Verszahl möglich ist.

Zweiter Abschnitt.

Liedkompo8ition.

Auch über die Komposition des Lieds ist bei der Einfachheit der Aufgabe und der überall verbreiteten Anschauung nur wenig zu sagen. Die Stimmung eines Gedichts allgemeinhin zufassen und wiederzutönen, diese Grundaufgabe aller Liedkomposition, das

Digitized by Google

430

Die Liedform.

ist zu jeder Zeit empfänglichen und kompositionsfähigen GemUtbern leicht gelungen, und begreiflicher Weise haben Diejenigen, die sich hieran ohne Weiteres genügen Hessen, oft und zu jeder Zeit Anklang gefunden, sogar mehr, als die tiefer Auffassenden. Denn die Stimmung, oberflächlich aufgefasst, diese allgemeine Angeregt- heil des Gemüths nach der lichtem oder dunklern Seite hin, in der der Kern der bestimmtem, dem Bewusstsein nähern Empfindung schwimmt, wie das Dotter im Eiweiss, diese allgemeine Stim- mung ist in jeder rührsamen Brust vorhanden ; in ihr finden sich begreiflicher Weise ungleich mehr Gebende und Empfangende zu- sammen, von denen jeder die kleinen eignen Abweichungen und Ergänzungen, die sich in seinem Fühlen und Sinnen regen, still- schweigend hinzuthut oder hinzudenkt. Seltener ist das tiefere Ein- dringen bei einer äusserlich so einfachen Aufgabe, eben so viel seltener bei den Sängern als bei den Dichtern ; von Allen wird jener allgemeine Anklang von Freude, Zärtlichkeit, Wehmuth (oder was sonst) leicht gefasst ; von den Wenigsten dagegen begriffen und fest- gehalten, dass jede Stimmung in verschiednen Persönlichkeiten und unter verschiednen Verhältnissen und Einflüssen eine wesentlich andre wird. Diese spezifische Wahrheit, die eigentlich das einzig Ganz-Wahre und darum für das Geroüth einzig Ergiebige und Fördernde ist, hat sich stets nur Wenigen ergeben, nur Wenige haben, sie zu erkennen und in treuer Widmung ihr nachzutrachten, Beruf und ernstlichen Willen gehabt. Auch geben nur wenig Ge- dichte im Verhältniss zu dem allverbreiteten Grundwasser unsrer Lyrik dem Musiker Anlass zu solch tieferm Schaffen, und dann führt ihn seine innigere Vertiefung oft unvorhergesehn aus den Schranken der Liedform anderswohin.

Diese Verhältnisse zeigen sich schon in unsern deutschen Volks- liedern. Hunderte schwimmen in dieser allgemeinen, Alles und Nichts, wie man es nehmen will, entfaltenden GemUth lieb keil dahin, kaum Eins vom Andern unterscheidbar; einzelne treten in felsfester Bestimmtheit hervor, herb oder süss, muthig oder entsagend, al>er ganz voll und treu. Dasselbe Hesse sich durch die ganze Reihe der Liedkoni ponisten nachweisen , vom alten H i 1 1 e r , Schulz, Reichardt, Mozart, über Härder, bis zu unsern Zeitgenossen, Methfessel, Weber, Schubert, Kurschmann, Kücken, Meyerbeer, Proch, Truhn, Mendelssohn, Reissiger, Hoven, R.Franz w er kann die beliebten Namen alle aufzählen 1 und wer mag heraussuchen, wie viel allgemein Annehmliches und wie viel tiefer Gefasstes, spezifisch Wahres dem Einen oder Andern ge- lungen ist? Löwe hat besonders in seiner ersten Zeit Unschätzbares im letztern Sinne gegeben; Beethoven (z. B. in seinen Gellert- schen und den schottischen Liedern), auch L. Berger und wie

Digitized by Google

Liedkomposition.

431

manchem oben Genannten oder Uebergangnen verdanken wir Glei- ches, das der künstlerischen Unsterblichkeit fähig und würdig ist. Denn das in sich Vollkommne, Ganz-Wahre hat allein eigenthüm- liches Leben und einen gleichsam persönlichen Fortbestand, während das Allgemeine, Superfizielle mit seines Gleichen zusammenrinnt, wieder in die Elemente gleichsam zurückgeht und aufgesogen wird.

Welcher Sinn und welches Ziel nun auch dem Liedkomponisten gegeben sei, jeder kann nur von der Auffassung des Gedichts in seiner Ganzheit ausgehn, wenngleich es oft geschieht, dass zuerst irgend ein einzelner Zug ihn vor dem Uebrigen angezogen und zu Tönen erweckt, ihm vielleicht das Motiv zum Ganzen, oder einen entscheidenden Satz gegeben hat. Das ganze Gedicht giebt die Stimmung (oft schon der erste Vers, dass man sich kaum von ihm losreissen und Über ihn hinweg die andern mit in den ersten schöpfe- rischen Akt hineinziehn kann), und so die Form des Ganzen auch die Grundlinien für die Komposition. Dies ist bereits im vorigen Abschnitt angedeutet worden ; in welcher Form der Musiker die ein- zelnen Sätze des Gedichts auffasse, ob als Satze und Glieder, ob als Perioden oder verschiedne Theile, das hängt theils von der Ausdehnung und dem Sinn der Verse, theils von der Anschauung und Stimmung des Musikers ab, und lässt keine Vorausbestimmung zu. Eben so steht es bei dem Musiker, ob er durch strophische Wiederholung die Form des Gedichts erweitern und ebenmässiger ausbilden, oder einen Hauptzug verstärken will. Oefters zeichnen die Dichter (z. B. Goethe in dem S. 423 und den beiden zuletzt angeführten Gedichten) solche Wiederholungen vor, oder nöthigen dazu durch allzukurze Fassung ; die Überflüssigen Wiederholungen gereichen meistens zur Schwächung des Eindrucks.

Die bestimmende Kraft des Gedichts bleibt übrigens, wie sich von selbst versteht, nicht auf die allgemeinen Umrisse beschränkt ; sie dringt durch bis zu den Einzelheiten der musikalischen Ge- staltung. Denn obwohl sich diese zunächst der Stimmung, dem allgemeinen Gemüthsleben des Gedichts zuwendet und widmet: so darf doch, wie ohne Weiteres einleuchtet, der Inhalt desselben in seiner nähern Bestimmung nicht aufgegeben oder versäumt werden.

Zunächst also durchdringt Ordnung und Sinn des Gedichts den rhythmischen und tonischen Bau der Komposition, bestimmt nicht bloss das Allgemein-Nothwendige, etwa, dass im Musen söhn die betonten Silben auf die Haupttheile, die leichten auf Nebentheile des Taktes fallen,

J I J J i J J | J J

oder, damit sich sogleich die Viertaktigkeit (Th. 1, S. 27)

Digitized by Google

432

Die Liedform.

herausstelle und der Auftakt regelmässig weil er verfolgt werde, vielmehr so:

419

3S=

*fp?l =

durch Feld und Wald zu schwei-fen, mein Lied-chen u. s. w-

sondern entscheidet auch, ob und wo statt dieser nächslgelegnen und einfachsten Rhythmisirun^ andre in andren Taktarten (Vier-, Dreiviertel u. s. w.) und mit mannigfacher Gliederung eintreten, ob z. B. die erste Strophe an Luna in dieser einfachsten Gliederung,

_ g J J— i-J J | J J | J

oder vielleicht in dieser accentstärkern,

r a

er - sten

Schwester von dem er - sten Licht

als dreitaktiger Rhythmus, oder mit einem die Viertaktigkeit ergän- zenden Nachspiel gefasst und wie jede dieser Weisen weiter geführt werden soll.

Wie weit nun das Gedicht in seine Einzelheiten verfolgt und diesen neben der allgemeinen Grundstimmung genügt werden könne, leidet und fodert keine besondre Anweisung. Nur als letztes oder vielmehr einziges Beispiel für den ganzen Abschnitt folge hier eine Komposition des G o e t h e'schen M ä r z 1 i e d e s. Es ist dem Wortinhalt nach vierstrophig, wird aber, wie schon oben an- gemerkt, durch Wiederholung der dritten Strophe fünfzeilig.

Andantino con moto.

Mi <

4—7-

1

Es

dolce legato

ist ein Schnee ge - fal - len, denn

es ist noch nicht Zeit,

dass von den Blümlein al - len, dass

Der Liedtext

433

von den Blümlein al - len wir wer - den

hoch

I

er - freut.

6=

iÜllS^li^l

Der

'WS

Hier schliesst der Vordersatz mit dem vierten Takt der Sing- stimme und hat zwei Abschnitte von je zwei Takten ; am gleich- mässigsten hätte sich also auch der Nachsatz mit zwei Abschnitten von je zwei Takten gebildet. Allein der Text des ersten dieser Abschnitte wird vom Dichter selbst wiederholt und damit auch in der Musik die Wiederholung des Abschnitts, also eine Summe von zwei Abschnitten oder zweimal zwei Takten bedingt. Nun konnte ein letzter Abschnitt von zwei Takten folgen,

422

m

und damit das Ganze kurz angebunden abschliessen. Hier war indess in der Wiederholung der Strophe, durch die Steigerung aus

Marx, Komp.-L. III. b. Aufl.

28

Digitized by Google

434

Die Liedform.

dem Dominant- in den Nonenakkord, ein innigeres oder elegische- res Gefühl (wie man es zu bezeichnen beliebt) angeregt worden, und führte zu einer Dehnung des Schlussabschnitles, so dass folgende Konstruktion

Vordersatz (Nachsatz) 2 -4- 2 = 2 ■+- 2 ( so 4) -f. 4 Takte entsteht. Wäre jene Wiederholung leichter oder heiterer genommen worden, z. B.

6

so konnte auch leicht, wie in No. 422, geschlossen werden.

Dass auch von Seiten des Musikers dergleichen Wort- oder Satzwiederholungen (wofern sie nur sinngemäss für das Gedicht er- scheinen) eingeführt werden können, ist schon oben (S. 431) gesagt. Sie dienen zunächst zur Verstärkung des Ausdrucks, dann aber auch zur Vollendung oder Erweiterung des musikalischen Periodenbaues.

Dritter Abschnitt. Das durchkomponirte Lied.

Im vorigen Abschnitt ist das Lied in seiner einfachsten Gestalt angeschaut worden, eine einzige Liedkomposition, die für alle Verse des Gedichts gelten soll. Dies setzt voraus, dass die Komposition auch zu allen Versen nach Form und Inhalt passe.

Was die Form anlangt, so kann, wie sich von selbst ver- steht, eine einzige Komposition dann nicht für alle Verse passen, wenn letztere von verschiedner Grösse oder (S. 429) zu abweichen- der Gestalt sind. Beispiele für beide Fälle giebt Goethe's Mai- lied —

Zwischen Weizen und Korn und dessen »Auf dem See«

Und frische Nahrung, neues Blut.

Im erstem steht zwischen zwei fünfstrophigen Versen ein acht- zolliger, auch innerlich abweichend im Rhythmus ; im andern steht zwischen zwei achtzeiligen, abweichend rhythmisirten Versen einer von vier Strophen. Bisweilen sind die Abweichungen der Verse von einander nicht so bedeutend, es zeigt sich nur irgendwo eine Silbe mehr oder weniger, ein veränderter Versfuss. Goethe's Erl- könig bietet gleich in den ersten Versen ein Beispiel. Beide

Digitized by Google

Das durchkomponirte Lied.

435

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hält den Knaben wohl in dem Arm, Er fasst ihn sicher, er hält ihn wann.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Krön' und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.

weichen in der ersten, zweiten und vierten Strophe ab, wie hier

*) w T w w I '

w •— | w w

2) - | [ ~ -

*) - I I |

das ungefähre* prosodische Schema zeigt.

In jenen erstem Fällen ist offenbar die Romposition des einen Verses zu dem ganz abweichend gebildeten andern gar nicht an- wendbar, und es bedarf einer besondern Romposition für jeden der abweichenden Verse. Bei den geringem Abweichungen dagegen genügen eben so leichte Aenderungen in der im Wesentlichen bei- behaltnen Romposition. J. F. Reichardt z. B., der den Erlkönig liedmässig komponirt hat (und wenn er liedmässig gesetzt werden sollte, so ist die Komposition meisterhaft), bildet die erste Strophe für den ersten und zweiten Vers ungefähr so,

424

fc

wie hier aus sehr früher Erinnerung angeführt ist.

Was den Inhalt anbetrifft, so können hier zuvörderst kleine Abweichungen stalthaben (in den obigen Versen des Erlkönig z. B. hat die zweite und dritte Strophe im zweiten Vers den Sinn einer Frage, im ersten nicht), denen nötigenfalls mit eben so ge- ringen Aenderungen in der Romposition entsprochen werden kann.

* Um die hellste Ansicht zu befördern, sind nicht genau, aber für den Zweck genügend alle Versfüsse auf zwei zurückgeführt, die dem Musiker gleich die einfachste Uebertragung in das zwrei-oder dreitheilige Taktmaass, z. B.

u. s. w.

-I-

andeuten.

3 4

28

O. 8. W

u. s. w.

Digitized by Google

430

Die Liedform

Oftaber zeigen die verschiednen Verse ganz abweichende Stimmungen, oder es zeigt der folgende Vers eine so gesteigerte, wenn auch gleichartige, dass die ganze Komposition, so gewiss sie für den ersten Vers geeignet war, für den zweiten unpassend oder un- genügend erscheinen muss. Ja, man muss endlich erwägen, wie psychologisch undenkbar es Uberhaupt ist, dass eine Seelenstimmung unverändert, gleichsam erstarrt stehen bleibe. Die Stimmung, die der erste Vers in uns gefunden oder angeregt, muss vielmehr noth- wendig durch den neuen Inhalt des zweiten in irgend einer Weise verändert, wenigstens gesteigert oder gemildert werden. Sogar die Wiederholung desselben Inhalts würde eine von diesen beiden Folgen haben ; sie würde tiefer eindringen und aufregen, wenn der Gegen- stand noch frische Sympathie in uns fände, oder im andern Fall

*

ermatten.

Hiermit bietet sich nun wieder eine Reihe von Möglichkeiten für den Komponisten, über die er in jedem einzelnen Falle zu ent- scheiden hat.

Erstens kann er, wie im vorigen Abschnitt angenommen wurde, eine einzige Komposition für alle Verse seines Gedichts zureichend finden, wenn dies im Wesentlichen eine einzige Stimmung festhält und allenfalls die Vortragsmittel des Sängers zu den nöthigen Steige- rungen und Nüancirungen genügen.

Zweitens kann er einzelnen geringen Abweichungen des Ge- dichts in Form oder Inhalt durch ähnliche unwesentliche Aenderung der Komposition zu entsprechen suchen. So haben wir in No. 424 gesehn.

Drittens kann (wie wir aus der Begleitungslehre, Th. I, S. 393, wissen) schon durch verschiedenartige Begleitung derselben Melodie der Ausdruck des Ganzen mannigfach gesteigert, gemildert, verändert werden. Das Höchste hat hierin Beethoven in seinem früher längere Zeit fast übersehenen Liederkreis »an die Entfernte« geleistet.

Viertens endlich kann für verschiedne Verse eine ganz ab- weichende Komposition gegeben werden. Hiermit entsteht dann eine Kette von Liedsätzen für den Gesang , wie wir sie für die Tanz- formen, Th. II, S. 92, kennen gelernt haben. Erst diese Form heisst

das durchkompon irte Lied, wiewohl man auch die vorige so nennen darf, wenn die Verwand- lung und Durchführung der Begleitung von wesentlichem Gehalt ist.

In dem durchkomponirten Lied nun folgen für einen oder meh- rere Verse neue Weisen auf die des ersten Verses; es kann selbst Anlass sein, eine oder die andre Stelle rezitativisch zu behandeln, also vom Lied zum Rezitativ zurückzugehn, wie wir S. 418 gesehn haben, dass das Rezitativ sich der Liedform nähert. Findet sich

Digitized by Google

Das durchkomponirte Lied

437

Gelegenheit, auf die erste Weise gleichsam als Hauptsatz zurückzukommen, so befestigt sich die innere Einheit des Ganzen. Die äussere Einheit bedingt in der Regel Festhalten eines Haupt- tons, also Rückkehr zum Uauptton, wenn er bei den neuen Sätzen verlassen worden. Alles Weitere bleibt der Stimmung des Kom- ponisten und der Auffassung des Gedichts überlassen.

Eine besonders hervortretende Stelle nimmt in der Galtung des durchkomponirten Liedes

die Ballade

ein, wie sie von Zumsteeg geschaüen und von Löwe (besonders in seinen ersten Werken) mit überlegner Kraft weiter gebildet wor- den ist; der mannigfache und entschiedne, oft in scharfen Gegen- sätzen heraustretende Wechsel von Zuständlichkeiten und Stim- mungen, der der Ballade vor dem eigentlichen Lied eigen ist, führte hier schneller und bestimmter auf die Notwendigkeit des Durch- komponirens.

Die Kompositionslehre hat nach dem bereits über Liedform Aus- geführten hier kein weiteres Geschäft. Jede einzelne Gestaltung, die im durchkomponirten Lied eingeführt werden kann, ist uns schon geläufig ; Wahl und Zusammenstellung bleiben dem Urlheil und der Stimmung des Komponisten in jedem einzelnen Fall überlassen. Die liefere Lehre gehört der Musikwissenschaft an.

So viel über das einfache und durchkomponirte Lied. Eine aus- führlichere Lehre scheint schon deshalb unnöthig, weil es (wie ge- sagt) Niemandem an praktischer Anschauung, an Kennlniss zahl- loser Lieder aller Art und vieler gelungner fehlen kanu, und jeder zu Komposition Angeregte in der Regel zuerst und früh sich an Liedern versucht, hier auch in der Thal ein glückliches Naturell und eine erregte Stimmumz eher als bei den meisten Kunslaufgaben ohne tiefere Bildung genügen mag.* Ja, eine ausgebreitetem oder tiefer dringende Lehre würde hier leicht nachtheilig werden.

Denn das, worauf es bei dem Liede zunächst ankommt, ist eben das Hervorheben der allgemeinen Stimmung aus dem Gedicht in die Musik ; dieses Allgemeine ist hier das durchaus Vorwaltende, das Einzelne dagegen, der spezielle Inhalt ist das Untergeordnete. Jenes Allgemeine kann aber nicht gelehrt werden, es ist (S. 422) un- mittelbares Erzeugniss des Naturells, der allgemeinen Bildung und der augenblicklichen Stimmung. Daher ist auch nicht zu leugnen, dass

* Zu allen Zeiten hat es daher Liederkomponisten gegeben, die ohne tiefere Bildung, ja selbst ohne tiefe Begabung viel Erfreuliches, bisweilen Ausgezeich- netes im Liedfache geleistet und sich und ihren Gesängen ausgebreitete wenn auch in der Regel nur vorübergehende Gunst erworben haben.

Digitized by Google

438

Die Liedform.

der Liedkomposition vom höhern künstlerischen Standpunkt an- gesebn bei aller in ihr erschliessbaren Innigkeit u. s. w. oft, ja meist eine gewisse Oberflächlichkeit eigen ist, die ihren Grund in der Abstraktion von dem Besondern des dichterischen Inhalts hat, so dass in dieser Hinsicht eben die inhaltreichern Gedichte, z. B. viele Goethe'sche, bei der Komposition ein Edleres (den Ge- danken- und Vorstellungs-Inhalt) zu verlieren scheinen gegen den Gewinn der hervorgehobnen allgemeinen Stimmung, die bei nicht durchkomponirten Liedern doch meist nur für den ersten Vers ge- nügend erfasst wird. Ja, es kann diese Superfizialität der Liedkom- position bei solchen Komponisten, die sich dieser Gattung ausschliess- lich oder mit zu weitgehender Hingebung widmen, leicht zu einer gewissen Verflachung oder Karakterlosigkeit führen; Öfters schon hat sich das an den grössern Werken glücklicher Liederkomponisten gezeigt, während umgekehrt Künstler, die auf das Tiefere und Ka- rakteristische sich hinwendeten, leicht über die Gränze des Liedes hinausgeführt wurden und bei diesen kleinen, scheinbar leichtern Aufgaben oft weniger glücklich waren. Wir scheuen uns nicht, hier Beethoven als Beispiel anzuführen, der so leicht geneigt war, über die eigentliche (einfache) Liedsphäre in »Adelaide«, in »Herz mein Herz«, im »Liederkreis« (hier wenigstens mit der Begleitung) u. s. w. hinauszugehn und im einfachen Lied minder begabte Künstler (z. B. Reichardt in manchem Goethe'schen Liede) keineswegs übertroffen hat.

So viel, um der Ueberschätzung des Lieds, die sich aus einem auferwecklen und ausgebreiteten Dilettantismus her von Zeit zu Zeit herausstellt und von einer falschen oder übertriebenen Einmischung des Prinzips der Einfachheit, Natürlichkeit, Volkstümlichkeit unter- stützt wird, wenigstens eine flüchtige Erinnerung entgegen zu stellen.

Dagegen über den hohen Reiz, über die Bedeutung und den mäch- tigen Einfluss des Lieds auf Sänger und Hörer zu reden, scheint durchaus überflüssig; wer hätte das alles nicht schon empfunden? Für die Bildung des Gesangkomponisten aber ist das Lied die andre Grundlage, wie das Rezitativ die erste. Im Rezitativ wird er des Worts, des Inhalts in seinen einzelnen Momenten Herr; im Liede wird er der Grundstimmung, eines treffenden und zusammen- gefassten Ausdrucks derselben, wie sie das Gedicht giebt, mächtig. Die Stimmung aber, das ist das Erste und Letzte , was die Musik vermag, und in diesem Sinn ist allerdings wahr, was wir selbst zum Anbeginn der Lehre und bei den vom Lied entferntesten For- men erfahren: dass alles musikalische Gestalten immer wieder zum Lied, zum abgeschlossnen Ausdruck einer Stimmung hinführt. Nur nicht einer gefesselten, sondern einer lebendig fortschreitenden. Und diese führt uns eben über das Lied hinaus, sobald der Inhalt des

Digitized by Google

Das Chorlied und das Lied für mehrere Solostimmen. 439

Gedichts, oder die Lebendigkeit und Energie unsrer Theilnahme an seinem Inhalt uns mehr darbieten, als den Grundklang des Ganzen.*

Vierter Abschnitt. Das Chorlied und das Lied für mehrere Solostimmen.

Die allgemeine Stimmung eines Liedes kann ihrer Natur nach von mehrern Einzelnen oder ganzen Massen von Menschen gleich- zeitig und gleichartig empfunden werden. Dass dieselbe Anregung genau genommen in jedem Individuum nach dessen besondrer Natur und Lage anders wirkt, eine andre Stimmung hervorruft, dass z. B. Liebe oder Freude, auch dieselbe Freude (z. B. an der Natur, am Tanz u. s. w.) in vcrschiednen Menschen sich verschieden gestaltet, wird hier bei Seite gelassen ; die Stimmung wird so weit nur ge- fasst, als sie in allen Theilhabenden eine gleiche ist, eben wie die Stimmung eines Gedichts in der Liedkomposition nur in so weit zum Ausdruck kommt, als sie die allgemeine aller Verse ist, abge- schn von den besondern Schattirungen oder Umstimmungen, die sie bei den einzelnen Versen erfährt.

Mit dieser Betrachtung ist die Komposition des mehrstimmigen und des Chorliedes begründet. Der besondere Anlass, ein Gedicht nicht für Sologesang einer einzelnen Stimme, sondern für mehrere Solostimmen oder Chor als Lied zu komponiren, kann bald in dem blossen Behagen am vollem Klang und Gehalt der Mehrstimmigkeit liegen, bald in der eigenthümlichen Bestimmung des Gedichts.

Ueber den erstem Fall ist für jetzt (die folgen.de Abtheilung bringt Näheres) nur das zu sagen, dass man wenigstens nicht solche Gedichte zu mehrstimmigem Gesang herbeiziehen sollte, die ihrem Inhalt nach jede Gemeinsamkeit oder Oeffentlichkeit ausschliesson. Jenes S. 371 mitgetheilte Gedicht von Goethe,

Ueber allen Gipfeln ist Ruh', oder ein träumerisch-sinniges von H. Heine, Ein Fichtenbaum steht einsam,

beide sind nur die stille Betrachtung eines Einzelnen, und besonders bei dem ersten ist das geheime Verlangen des wundenmüden Her- zens so entschieden abgeneigt, laut zu werden, dass man nicht ein- mal einem einzelnen laut werdenden Sänger, geschweige einer ganzen Schaar das verschwiegne Wort ausliefern möchte. Gleich-

* Hierzu der Anhang Q.

Digitized by Google

440

Die Liedform.

wohl sind beide Gedichte für Männerchor komponirl worden. Es kann ungeachtet eines solchen Missgriffes dabei wie Uberall manches Anziehende und Talentvolle hervortreten; allein die Wahr- heit des Gedichts, sein eigentlicher Sinn ist schon durch die erste falsche Auffassung verletzt, und dies wird an der Komposition wie am Komponisten nicht ohne nachtheilige Folge bleiben.

Zu den Gedichten, die mehrstimmige Komposition fodern, ge- hören Wecbselgesänge (z. B. Goethe's »Trost in Thräncn«), gesellige und Chorlieder, überhaupt alle, die dem Sinne nach ganz oder theilweis (z. B. mit einem wiederkehrenden Refrain, der den allgemeinen Gedanken ausspricht, wie in Goethe's »Rechenschaft«) in den Mund eines Vereins oder einer Masse von Menschen gelegt sind. Hierbei darf aber selbst den vorzüglichem Dichtern nicht ohne Weiteres geglaubt und gefolgt werden. Sie haben, was man ihnen nicht verübeln darf, zunächst ihre eignen Vorstellungen und Ge- danken zu Herzen genommen, haben dabei vielleicht eine flüchtige, unbestimmte Vorstellung vom Zutritt der Musik, vom Chorusmachen (das bei geselligen Liedern so ermunternd wirkt) , oder von der Feierlichkeit, Pracht, Gewalt u. s. w. eines Chorgesangs herzu- getragen, ohne zu schärferer Anschauung und Prüfung Beruf zu fühlen, oft ohne tiefere Einsicht in das Wesen der Musik, oft auch wohl durch das täuschende Vorbild des griechischen Chors verleitet, der ja auch (nur zu andrer Musik und in einer Zeit, die nicht mit unserm Musiksinn zuhörte!) gesungen worden. Da ist denn von ihnen Vieles als »geselliges Lied«, oder als ein chormässig zu sin- gendes bezeichnet worden, was sich dem Musiker nicht als solches, vielleicht Überhaupt nicht als komponirbar zeigt, und an dem Goe the's Verheissung

Was wir in Gesellschaft singen, Wird von Herz zu Herzen dringen

durch Komposition überhaupt, oder durch die vom Dichter selbst an- gerathne Chor- oder Ensembleform verhindert wird, in Erfüllung zu gehn. Goethe selbst, so Unschätzbares er auch dem Kom- ponisten oft dargeboten, hat unter seinen geselligen Liedern gar manches, das sich nicht zum Chorgesang eignet, obwohl es durch jene Bezeichnung und die angeführten verheissenden Verse dazu be- stimmt scheint; so z. B. das Stiftungslied,

Was gehst du, schöne Nachbarin,

die glücklichen Gatten, offne Tafel und Mehreres.

Allein so rathsam es ist, auch bei der Form des mehrstim- migen oder Chorliedes wenigstens darauf Bedacht zu nehmen, dass man nicht das geradezu Ungeeignete wähle, oder mit dem Sinn des Gedichts durch die Form der Komposition in Widerspruch gerathe :

Digitized by Google

Das Chorlied und das Lied für mehrere Solostimmen. 441

so ist doch eben diese Form eine lässliche zu nennen, weil es schon in ihrem Sinne Hegt, dass sie sich leicht und ohne tieferes Bedenken dem Komponisten hergiebt. Denn das Lied hat es, wie schon gesagt, zunächst nur mit dem Wiederklingen der allgemeinen Stimmung zu thun; der Chor wird eben so allgemein aufgefasst, jede Stimme wirkt nur, insofern sie im Allgemeinen die Stimmung der andern und des Ganzen theilt. Hiermit tritt denn jedes tiefere Eingehn auf die einzelnen Züge des Gedichts, wie auf die einzel- nen im Chor oder Ensemble zusammentretenden Stimmen zurück ; die Komposition kann genügen, wenn nur die allgemeine Stimmung getroffen, wenn nur im Allgemeinen Mehrstimmigkeit zulässig und jede der Stimmen nicht gegen den Karakter, wenigstens nicht mit Verletzung des Stimmumfangs u. s. w., den ihre Klasse fodert, behandelt ist.

Das Tiefere der Ensemble- und Chorkomposition ist also durch die Liedform nicht herausgefodert, es wird vielmehr durch deren Ten- denz mehr oder weniger entschieden ausgeschlossen. Daher ist auch hier gar nicht der Ort, es zur Erkcnntniss und Uebung zu bringen ; die folgende Abtheilung wird zu den geeignetem Formen das Chor- studium, das zehnte Buch die Komposition des Ensemble bringen. Wer sich beides angeeignet hat, dem wird es dann rückwirkend auch bei den Chor- oder Ensemble-Liedern frommen, wird diesen Liedern erst höhere Vollendung geben.

Hier ist erschöpfende Einführung demnach nicht zu erwarten und Jedem rücksichtsloser Ergeh n in Liedern für Chor oder En- semble ungestört zu überlassen.

Digitized by Google

442

Die Begründung der Chorkomposition.

Vierte Abtheiliug.

Die Begründung der Chorkomposition.

Die Chorkomposition bedarf wegen ihrer Wichtigkeit und wegen des Reichthums an Mitteln und Formen, den sie in sich fasst, einer vorbereitenden Lehre. Diese ist der Inhalt der jetzigen Abiheilung; die folgende führt uns zu den Chorformen.

Erster Abschnitt.

Chor und Cliortext.

Der Chor ist bekanntlich (S. 345) die Vereinigung einer Mehr- zahl oder Masse von Singenden zur Ausführung einer oder, bei mehrstimmigem Salze, zur Ausführung einer jeden der den Satz bildenden Stimmen. Alle die verschiednen Individuen, die im Chor zum Vortrag einer Stimme, z. B. des Diskants oder Basses, ver- einigt sind, stellen eine einige Person dar.

Sie sind eine Person, nicht aber ein einzelner Mensch. Die Person, welche durch eine Chorstimme also durch eine Masse von Individuen dargestellt wird, ist viel mehr; sie ist ein ideales Wesen, das eine ganze Klasse von Menschen, die Jungfrauen, die Jünglinge, die Männer, die Matronen (S. 360) oder wie man sie sich vorstellen will, in die feste und machtige Einheit einer Person bringt. Dies ist sie für den Künstler; seine Aufgabe ist, auch in der Vorstellung des Hörers diese Idee zu beleben.

Jede der Chorstimmen ist also eine ideale Person für sich, die ihr eignes Leben und Wesen, ihren eigenthümlichen Karakter, ihre eigentümliche Gefühls- und Ausdrucksweise (S. 357) hat. Was wir schon in den abstrakten Uebungen der Begleilungs-, Figural- und Fugenlehre erkannt und als Ziel vorgesetzt haben, die Bedeutsamkeit und der Reichthum der Mehrstimmigkeit, besonders der eigentlichen Polyphonie, die Karakleristik und Gegensetzung der Stimmen : das tritt nun in das Leben ; und zwar an den bedeutendsten Organen, an den Menschenstimmen, in der aufklärenden Verbin- dung mit der Sprache. Hier ist also der Punkt, das Studium der Polyphonie und zugleich das der Stimme und musikalischen Rede

Digitized by Google

Chor und Chortext.

443

auf den Gipfel zu führen ; es zeigt sich uns hier die Wichtigkeit der Chorkoniposition als einer der bedeutendsten und zugleich aus- bildendsten Gattungen.

Hiermit haben wir den innern Reichthum des Chors in dem polyphonen Gewebe der ihn zusammensetzenden Stimmen vor uns ausgebreitet liegen. Auf der andern Seite kann aber der Chor nun auch unzergliedert, in der ganzen Pracht des mehrstimmigen Klanges vieler Singenden auftreten, alle Stimmen wie aus Einem Munde, wie das Wort Eines Mannes schallend. Hier wird zwar jede Stimme, so weit das eng geschlossne Ganze gestattet in ihrer Weise, wenigstens in ihrer Tonlage aufgeführt, aber die Besonderheit einer jeden ist aufgegeben, sie sprechen allesammt nur eine, die ihnen allen gemeinsame Stimmung ohne weitere Unterscheidung, wie mit Einem Wort aus. Dies Wort ist dann das Allgemeine, in dem Alles übereinkommt. Hier also ist der ganze Chor ein Indi- viduum geworden, wie zuvor alle zu einer Stimme des Chors Verbundenen.

Nachdem wir uns hiermit einen vollem Anblick vom Chor ver- schallt, wird

der Chortext

im Allgemeinen und nach den verschiednen Tendenzen und Formen der Komposition leicht kenntlich werden.

1. Allgemeinheit seines Inhalts.

Der Chortext ist bestimmt, vom Chor, also von einer Masse von Individuen verschiedner Karaktere u. s. w. ausgesprochen zu werden. Diese Masse von Individuen kann nalurgemäss nur im Allgemeinen einer Stimmung, einer Vorstellung u. s. w. überein- kommen. Wenn sie nicht bloss im Allgemeinen, sondern auch im Besondern, in einzelnen Momenten des Gefühls, der Vorstellung zusammenstimmte, so wäre gar keine geistige Verschiedenheit der Individuen vorhanden ; dies aber ist nicht bloss unwahr, es ist auch die ärmlichste und darum unkünstlerischste Vorstellung, die man vom Leben und Chor fassen könnte.

Folglich kann der Chortext nur jene allgemeinen Vorstel- lungen oder Stimmungen aussprechen, in denen naturgemäss das Uebereinkommen Aller denkbar ist. Das Vaterunser spricht allgemeine Gedanken aus, zu deren jedem sich die Masse der Menschen bekennen und vereinen kann; wir Alle können das

Unser Valor, der du bist im Himmel,

oder das

Und führe uns nicht in Versuchung mit Erhebung, mit Sorge u. s. w. aussprechen und sind darin einig,

Digitized by Google

444

Die Begründung der Chorkomposition.

während die nähere Vorstellung, die Weise und der Grad der Er- hebung, in jedem Geschlecht, bei der Jugend und dem frühem Alter, ja zuletzt bei jedem Individuum abweichen vom andern. Jene Worte des Urtextes können also wohl als Chortexte gefasst wer- den. — Nun aber sind bekanntlich von verschiednen Dichtern (z. B. Klopstock, Mahlmann) Umschreibungen , dichterische Ausfuhrungen und Auslegungen des Vaterunser gegeben worden. Diese können für irgend einen besondern Standpunkt, mithin für ein Individuum, das sich auf ihn versetzt, durchaus wahr und geeignet sein. Je weiter sie aber über das Allgemeine des Urtextes hinausgehn, desto gewisser sind sie, ihre Kompositionsfähigkeit überhaupt vorausgesetzt, bloss als Ausdruck eines Individuums zu fassen und eben darum ungeeignet für Chorkomposition.

2. Einfachheit, Kürze, Bedeutsamkeit.

Das Allgemeine aber, in dem Massen von Individuen Überein- stimmen, kann auf der einen Seite nicht anders als von einfachem und kurzem Ausdrucke sein, weil alle mehr in das Besondre, Individuelle gehende Ausführung dem Gedanken des Chors, der Gemeinsamkeit widerspricht und dem Sologesang, der Aeusserunu; der Individuen zufällt. Auf der andern Seite muss das, was nicht bloss einem Einzelnen, sondern ganzen Massen, Allen eigen werden soll, auch von vorzüglicher Bedeutung für Alle, von der Macht erfüllt sein, Alle zu ergreifen und zu erfüllen. Jenes Heine'sche Gedicht (S. 439), das von der Sehnsucht der Fichte im Norden nach der Palme im heissen Süden träumt und ein Sinn- bild geheimen und ewig ungestillten Verlangens, ewig weiter Scheidung von dem Gegenstand desselben bietet, kann nur in der Dichterbrust und in irgend einem einsam da dort mit ihm sinnig Träumenden Bedeutung haben, nicht die Massen eines Chors er- greifen. Das kophtische Lied (S. 425) kann als Aeusserung tüch- tigen, thatkräftigen Mannsinnes Musik werden, aber nicht Chor; als Bekenntniss, Wahlspruch, Ausdruck einer Masse müsste die Reihe von Gegensätzen, die dem Einzelnen so behagen und ziemen, auf den gedrängtem und energischem und darum kürzern und einfachem Ausdruck des Sich geltend Machens, Sich Gewähren- lassens, oder Sich Behauptens zusammengefasst werden.

3. Die Sphäre seines Inhalts näher bezeichnet.

Die vorzügliche Bedeutsamkeit des Chortextes ist aber zunächst darin zu setzen, dass derselbe nicht bloss im Allgemeinen von Ge- wicht und von einfacher, schlagender Fassung, sondern dass er auch vorzüglich geeignet sei, in musikalischer Behandlung als Chor-

Digitized by Google

.1

Chor und Chortext

445

komposition diese Bedeutsamkeit heraustreten zu lassen, dass er noch entschiedner als andre Musiktexte in der musikalischen Sphäre geistiger Aeusserung walte. Jene grossen Worte der Bibel, in denen das Gefühl, die Stimmung eines ganzen Volks in unmittelbarer, ein- fachster und. stärkster Weise zum Ausdruck kommt, freudiges Lob Gottes (Psalm 9, 2, Psalm 47, 2),

Ich freue mich und bin fröhlich in dir, und lobe deinen Namen, du Allerhöchster !

Frohlocket mit Händen, alle Völker, und jauchzet Gotte mit fröh- lichem Schall 1

oder der Seufzer der Busse und Sorge (Psalm 6, 2, Psalm 4, 2),

Ach, Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm!

Erhöre mich, wenn ich rufe, Gott meiner Gerechtigkeit, der du mich tröstest in Angst; sei mir gnädig, und erhöre mein Gebet!

sie bieten dem Musiker die günstigsten Chortexte und ihm oder dem Dichter die lehrreichsten Vorbilder. Auch die mehr der Form des Gedankens oder Begriffs (S. 370) zugeneigte Aeusserung ist wohl- geeignet für Ghorkomposition, wofern der ausgesprochne Gedanke aus einem Gefühlsmoment als Resultat der wirklich erlebten Empfin- dung heraustritt und daher Macht hat Über das Gemüth. So jener Satz aus Psalm 47, 3,

Denn der Herr, der Allerhöchste, ist erschrecklich, ein grosser König auf dem ganzen Erdboden!

der uns mit Schauern vor der Macht und Herrschaft des Allerhöchsten erfüllt, weil diese Schauer schon in der Seele dessen erlebt wor- den sein müssen, der den Herrn einen Erschrecklichen nennt. Weniger geeignet für Chorkomposition erscheinen Aeusserungen in der Form der Anschauung, Schilderung, des Gleichnisses. Denn das , was sie zunächst aussprechen , ist nicht Gefühl , das wir (S. 370) als das unmittelbar Musikalische erkannt haben, sondern nur ein Gegenstand, an dem das Gefühl erwachen kann, öder durch den es bezeichnet werden soll. Dies ist aber weder der einfachste und unmittelbar treffende Ausdruck des Gefühls, noch ist der Zu- sammenhang zwischen dem anregenden oder bezeichnenden Gegen- stand und dem vielleicht! durch ihn angeregten Gefühl ein so sicherer, zuverlässiger, noch endlich ist es naturgemäss, psycholo- gisch wahr, dass eine Masse von Individuen nicht bloss im Gefühl, sondern auch in dem anregenden oder gleichnissweis bezeichnenden Gegenstand Übereinkommen sollte. Viele, eine Masse von Men- schen, können in dem Verlangen nach Gott, nach seiner Nähe im Glauben oder in der Stunde der Bedrängniss übereinkommen, sie können zusammenstimmen in dem Rufe des Verlangens, auch noch

Digitized by Google

446

Die Begründung der Charkomposition

in dem zwar schon gleichnissweisen, aber doch nächsten und ein- fachsten Ausdrucke des Psalm 42, 3 :

Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Dem Einzelnen kann sich dann auch jenes wunderschöne Gleich- nisswort V. 2 desselben Psalms

Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine

Seele, Gott, zu dir!

beseelen, er kann sich, fern von Gott, vereinsamt, verirrt, ver- schmachtend fühlen, wie das bange Wild im dunkeln Forst nach der Labung des Quells lechzt. Dass aber eine Menge, ein Chor mit dem Ausdrucke des allgemeinen Verlangens auf dieses selbige Gleichniss gelangte, ist schon nicht wohl anzunehmen; und wenn demungeachtet ein Komponist für diesen Text Chorkomposition wählt, so wird ihm der inbrünstige Ausdruck des Gleichnisses versagen, oder er wird sich dahin gedrängt sehn, für den Chor nicht chor- mässig zu schreiben.*

4. Unmittelbare Bestimmung für den Chor.

Dass ein Text, der sich schon seinem Inhalte nach als Aus- druck einer Vereinigung von Individuen bezeichnet, hierdurch vor- zugsweis die Chorkomposition fodert, vorausgesetzt, dass er die anderweiten Bedingungen derselben erfüllt, ist ohne Weiteres einleuchtend. Allein mit gleichem innern Recht können auch solche Texte für Chorkomposition benutzt werden, die nur zulassen, dass man sie als Ausdruck einer Menge von Individuen auffasse, gleich- viel, ob es unbestimmt geblieben, wem der Dichter sie in den Mund hat legen wollen, oder ob sogar feststeht, dass sie eigentlich als Aeusserung eines Einzelnen gelten sollen. Die S. 4 55 ange- führten Psalmen verse können ebensowohl als Aeusserungen eines Einzelnen, als einer Mehrzahl gelten. Das

Miserere mei, Dens, secundum magnam misericordiam tuam (Psalm 51) ist, so viel wir wissen, als Gebet eines Einzelnen, Davids, angenommen; demungeachtet darf der Komponist das Re ch t der ümdichtung in solcher Weise üben, dass er diesen Satz oder Psalm, wie alle obigen Sätze, da sie es ihrem Inhalt nach zulassen, in den Mund des Chors lege.

Unberechtigt und un wahrhaft muss dagegen erscheinen, wenn ein Salz im Widerspruch mit seinem Inhalt, der nur im Mund eines

* Der obige Psalmvers wie der S. 447 angeführte sind von Mendelssohn für Chor gesetzt worden ; Aehnliches Hesse sich von filtern and neuern Kom- ponisten anführen. Allein weder die Gellung eines beliebten Namens, noch das Talent, das bisweilen einer Verirrung vom Wahren und Einzigrechten be- schönigende Reize leihen mag, noch das sinnliche Wohlbehagen am Vollklang des Chorgesangs (oder gar die Berechnung, wie viel Mangel und Wahrheit- widrigkeit sich damit zudecken lasst) darf uns gegen die künstlerische Treue in Stadium und Selbstthat gleichgültig oder schlafT und zaiihafl werden lassen.

Digitized by Google

Chor und Chortext

447

Einzelnen gedenkbar ist, als Chor aufgefasst wird. Auf diese Ueber- zeugung sind wir schon (S. 439) bei zwei Gedichten geführt wor- den, deren Inhalt wie sinnig und dichterisch wahr er auch befunden werde doch nur als Ausdruck einer ganz besondern, nur in diesem oder jenem Einzelnen gedenkbaren Stimmung oder Phantasie aufgefasst werden kann. Allein dasselbe gilt auch von Sätzen, deren Inhalt im Wesentlichen wohl ein allgemeiner, mög- licherweise Vielen gemeinsamer, deren Ausdrucksweise (die nähere Bestimmung des allgemeinen Inhalts) aber durchaus die eines Ein- zelnen ist. Die Hoffnung auf Gott mitten aus unsern Aengsten heraus ist ein ebensowohl für eine vereinigte Menge als für den Einzelnen denkbares Gefühl. Sie ist der Grundgedanke des Verses (6, Psalm 42) :

Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, dass er mir hilf mit seinem Angesicht.

Allein hier ist der allgemeine Gedanke durchaus zu dem Aus- druck eines Einzelnen geworden. Dieses Insichkehren , in dem der eignen Seele, dem geheimverschwiegnen Innern, dem unruhig klopfenden Herzen zugesprochen wird , dies beschwichtigende Zureden zu stillem Ausharren, dies zartinnige Hinwegeilen des frommen Gemüths zu dem Labsal des Dankens, bevor noch der Hülfe gedacht worden, diese stillgeistige Bezeichnung, dass Gott mit dem Hinblick, mit dem gnadenvollen Hinwenden seines Ange- sichts allein schon geholfen habe: alles das kann nur im Innern eines Einzelnen, in der Stille eines von der lauten Welt abgezognen wir möchten sagen, weiblich zarten und magdlich frommen Ge- müths, nicht im Gedrüng oder kompakten Verein einer lauten, schon in sich festen oder in ihrer Masse viel materieller empfin- denden und zu ergreifenden Menge erlebt und gedacht werden.

5. Erhebung der Einzelrede zum Chor.

Ja, es können im Gegensatz zu der (S. 446) voran geschickten Frage Texte, die nach ihrer äusserlichen Bestimmung nicht für eine Menge, sondern nur als Aeusserung eines Individuums sich darstellen, durch besondre Bedeutung und Gewichtigkeit ihres Inhalts in die Sphäre des Chors erhoben werden; die äusserliche prosaische Wahrheit wird einer höhern poetischen oder idealen Wahrheit mit Recht zum Opfer gebracht. So ist z. B. Erzählung und Schilderung nur im Mund eines Einzelnen (oder mehrerer sich ablösender Einzelner, aber immer nur Einzelner) denkbar ; denn der Zweck ist hier nicht Ausströmung des gemeinsamen Ge- fühls, sondern Mittheilung irgend eines Wissens, zu der der einzelne Mittheilende genügt, ja besser als eine nie ganz einige

Digitized by Google

448

Die Begründung der Chorkomposition.

Menge genügt. Demungeachtet ist sehr oft zu dergleichen Mit- theilungen der Chor verwendet worden. Wenn Händel in seinem Messias auszusprechen hat:

Durch Einen kam der Tod, durch Einen kommt auch der Todten Auferstehung !

oder Haydn zu Anfang seiner Schöpfung erzählt:

Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach : Es werde Licht. Und es ward Licht.

so sind das Worte der Ueberlieferung und Erzählung, die nach dieser ihrer nächstliegenden Bestimmung nur einen Erzählenden oder Ver- kündenden fodern. Allein in Wahrheit handelt es sich hier nicht um eine Erzählung, deren Inhalt als längst bekannt gelten darf; das Bekannte wird vielmehr nochmals erwähnt, ausgesprochen, dass wir sein volles Gewicht empfinden, dass wir es in seiner ganzen Bedeutsamkeit beherzigen. Dieses Aussprechen muss nicht nur in der höchsten Macht, also durch den Chor, geschehn , sondern ist auch eben so gewiss im Munde Vieler psychologisch und künstlerisch wahr, als Viele zu der gleichzeitigen Beherzigung einer ihnen allen eindringlichen Wahrheit kommen können.

Noch kühner und eben so rechtmässig legt Händel in seinem Israel in Aegypten die Worte:

Sie konnten nicht trinken das Wasser, denn der Strom war ver- wandelt in Blut.

dem Chor in den Mund, obgleich deren Inhalt zunächst blosse Er- zählung ist. Der Chor aber hat diese Worte nicht bloss mit Nach- druck auszusprechen, wie bei den vorigen Sätzen, sondern er jede seiner Stimmen, versetzt und versenkt sich in die Lage jener Aegypter, die lechzend sich zum Strom drängen und voll Abscheu klagenvoll zurückgestossen werden; aus der Erzählung ist ein dramatisches Bild von ergreifender Lebendigkeit geworden. Und von tiefer Wahrheit; denn auch der wirkliche Erzähler kann vom Gegenstand seiner Schilderung so erfüllt, ergriffen werden, dass er mit ihm in ihm lebt und fühlt, dass er Ton und Geberde dessen annimmt, von dem er als ein dritter Vermittelnder nur zu berichten hat. Wenn dagegen in demselben Werke Wrorte wie :

Und es kamen unzählige Fliegen und stechende Mücken in ihre Häuser, und der Heuschrecken dunkler Schwärm verzehrte schnell die Frucht auf dem Feld.

ebenfalls dem Chor übertragen werden und zwar einem reich ausgeführten achtstimmigen Doppelchor : so ist die Kleinlichkeit der vorgestellten Gegenstände im Widerspruch mit der Grossartigkeit der gewählten Kunstform. Allerdings sind diese Gegenstände, die

Chor und Chortext.

449

Fliegen und Mücken, nur das Mittel; es ist die Plage, die Gott über Aegypten gesendet, die auf sein Er sprach

(Worte, die dem Komponisten als würdiger und wiederkehrender Anhalt glücklich zu Hülfe kommen) sie straft und mahnt, diese ist der eigentliche Inhalt des Chors, wie denn die Aufzählung der einzelnen Plagen eine Reihe von Hauptmomenten für das ganze Oratorium geworden ist. In solchem Sinne nun und in einer Zeit und Gesinnung, der das Wort der Bibel schon als sqjches ein hochwichtiges war, konnte auch dieser Chor der Grossartigkeit, die wir so vielfach an Handel zu bewundern haben, nicht ganz ver- lustig gehn ; allein die Kleinlichkeit des Textes hat eben so gewiss eingewirkt. Nicht bloss in der Begleitung wird das Sumsen und Schwirren der Insekten gemalt; der Chor selbst kann sich der Vor- stellung des beweglichen kleinen Lebens nicht entziehn, er geräth in kleine Bewegsamkeiten,

Andante Larghetto.

(Sopran und Alt.)

425

Und es ka-men un-zfih-li - ge Flie - gen,

m

und

7

426 <

un - zäh - Ii - ge Flie - gen. Chor II.

nr

Und es

PS

kamen un - zäh - Ii - ge Fi

cen in

ie-gen und jü-c&

ytü jii^ j i i

Chor I.

I i

ih - re HUu-ser.

Und es

r

Marx, Komp.-L. III. 5. Aafl.

29

Digitized by Google

450

Die Begiiindung der Chorkomposition.

Und so giebt uns das Beispiel eines der grössten Komponisten zu beherzigen, wie unvermeidlich der Einfluss eines ungünstig ge- wählten oder zu ungeeigneter Form bestimmten Textes* auf die Kom- position, wie wichtig also Wahl und Bestimmung des Textes ist.

Zweiter Abschnitt. Die musikalische Gestaltung des Chors im Allgemeinen.

Ehe wir auf die besondern Formen der Chorkomposition ein- gehn, wird es dienlich sein, einen Ueberblick der Chorkräfte und ihrer Verwendung oder Gestaltung im Aligemeinen zu gewinnen. Zweierlei kommt hier in Erwägung: die Stimm wähl oder äussere Anlage des Chors, und die Stimm verwen du ug.

A. Die Stimmwahl.

Wie viel und welche Stimmen einem Chor zukommen, das be7 stimmt sich nach seiner etwaigen Stellung und Bedeutung in einem grössern Ganzen.

Die Normalzahl ist hier wie überall die Vierstimmigkeit, dargestellt durch Diskant, Alt, Tenor und Bass. Von hier steigt der Chor bei besonders wichtigen oder grossartigen Anlässen zur Fünf-, Sechs-, Achtstim migkeit, oder zieht sich bei leichtem Aufgaben, oder um die einzelnen Stimmen mit besondrer Klarheit und Freiheit wirken zu lassen, auf Drei - und Zweistimmigkeit zurück. Nicht unerhört sind einstimmige Chöre; doch müssen sie, wo nicht ein besondres Verhältniss sie rechtfertigt, als unvoll- kommne Gestalten gelten, da sie eine Menge von Individuen auf den engsten Begriff einer einzigen Person bringen.

Die Normalzahl ist fast in allen Werken der Meister so vor- herrschend, dass gegen sie die mehr- oder minderstimmigen Sätze als blosse Ausnahmen erscheinen. Händel z. B. ist in der Mehr- zahl seiner Oratorien vierstimmig, nur in Israel in Aegypten legt er es häufig auf Achtstimmigkeit (oder Doppelchörigkeit) an, wiewohl auch da meistens zwei oder mehr Stimmen zusammenfallen, der Satz also sieben- oder sechsstimmig wird. Der Komponist scheint hier den Pomp der Mehrstimmigkeit besonders darum nöthig gefunden zu haben, weil dies Oratorium statt wahrhaft dramatischer Entwickelung nur eine Reihe vereinzelter Momente (die Plagen Aegyptens, den Untergang im Meer und Lobgesänge) bietet, zum Theil von untergeordneter musikalischer Bedeutung, mithin im

* In wie weit der Zusammenbang eines umfassenden Werks den Kompo- nisten zu willkürlicherer Bestimmung über einzelne Partien seines Textes bewegen könne und wie dies hier bei Handel der Fall gewesen, kommt in der Musikwissenschaft zur Sprache.

Digitized by Google

Die musikalische Gestaltung des Chors im Allgemeinen. 451

Ganzen, wie für einzelne Momente einer vorzüglich erhebenden Darstellungsweise bedurfte. Im Messias sind die Chore vierstimmig ; der eine aber, »Hoch thut euch auf«, wird fünfstimmig, nicht bloss weil er besonders feierlich ertönen soll, sondern weil er sich in Frage und Gegenrede doppelchörig zerspaltet, so dass nun zwei gegen drei Stimmen treten. Baeh ist in den meisten Werken vier- stimmig; in der hohen Messe (//moll), die er mit besondrer Feier- lichkeit und Fülle gesungen, herrscht Fünfstimmigkeit vor und steigert sich zur Sechs- und Achtstimmigkeit. Ohne tiefern Grund hat Cherubini dreistimmige Messen, zartsinnig Pergolese sein jungfräuliches Stabat maier zweistimmig gesetzt; Bach liisst in seiner Kirchenmusik zu Luther's fester Burg den dritten Vers, »Und wenn die Welt voll Teufel wärV, gegen das streitlustige Orchester im Einklang aller Chorstimmen einstim m ig singen.

Schon längst ist uns klar geworden, dass mit der Zahl der Stimmen die Freiheit ihrer Führung und somit die Wirksamkeit einer jeden nothwendig im umgekehrten Verhaltnisse steht , dass folglich bei mehr- und vielstimmigem Satze zwar an Pracht und Vollklang gewonnen wird, nicht aber ohne Verlust an der innern Bedeutsam- keit des Stimmgewebes. Dies muss bei dem beschränktem Tongebiet der Singstimmen (das man nicht Uber drei und eine halbe Oktave ausdehnen kann) noch mehr der Fall sein, als in der Instrumental- komposition. Hiermit erklärt und rechtfertigt es sich, dass im Chor- satze die Vierstimmigkeit als Norm gilt. Auch wir wollen uns für unsre Studien auf sie beschränken, da sich hier weder eine innere Notwendigkeit ergeben kann, von ihr abzuweichen, noch es für den, der der Vierslimmigkeit mächtig ist, einer besondern Anleitung zu mehr- oder minderstimmigem Salze bedarf.

Soll nun aber von der Normalzahl , oder auch von den nor- malen Stimmklassen abgewichen werden, so fragt sich, welche Stimmen zu wählen seien ! Hier entscheidet der Inhalt der Komposition gemäss dem Karakter der Stimmen. Je nachdem das Ernstere oder Leichtere, Kräftige oder Zarte, Feste oder Bewegliche vorherrschen soll, je nachdem wird man zu tiefern und männlichen, oder höhern und weiblichen Stimmen ausschliesslich greifen, oder ihnen dasUeber- gewicht über die andre Seite geben ; ein fünf- oder sechsstimmiger Satz mit zwei Sopranen oder Tenoren, oder mit Verdopplung beider Stimmen wird heller, jugendlicher, mit Verdopplung von Alt und Bass wird ernster und dunkler erklingen. Dies alles ergiebt sich dem Stimmkundigen von selbst; um so auffallender scheint es, dass verhältnissmässig nur selten von solcher karakteristischen Wahl der Stimmen Gebrauch gemacht worden. Die Komponisten des sech- zehnten Jahrhunderts haben es gethan ; aber es kann uns davon unmittelbar wenig zu Gute kommen, da die Kunst jener Zeit

29*

Digitized by

452

Die Begründung der Chorkomposition.

noch zu unentwickelt erscheint, als dass sie für uns wahrhaft künstlerische Bedeutung hätte; wir haben einen unschätzbaren Reichthum in der Entfaltung der Melodie, Harmonie, Polyphonie, der Kunstformen, der Instrumentation voraus. Es folgt aber daraus nicht, dass wir auch nur jenes eine geistig bedeutsame und sinnlich reizende Mittel der Vorzeit ausser Acht lassen müssten.

B. Stimmverwendung.

Schon haben wir die grossen Gegensätze homophoner und poly- phoner Schreibart in Bezug auf den Chor (S. 442) in Erinnerung gebracht; beide gewinnen erhöhte Bedeutung durch das Organ be- seelter und begeistigter Stimmen und durch die Mitwirkung des Textes. Ein durchaus homophoner Chorsatz, z. B. dieser aus Hände Ts

Israel in Aegypten,

Grave.

Chor I. |

427 <

f

4

Er ge-bot es der Meerflut,

t

t

5

und sie trockne -te aus.

"7i7

Chor II.

*

Et?

Er ge-bot es der Meerflut,

m

r

y y \ t t

und sie trockne- te aus.

1

i

Er

ge-bot es der Meerflul,

und sie trockne- te aus.

I

7:

n

Er

ge-bot es der Meerflut,

g 7 ?

-

r

und sie trockne -te aus.

I

by Google

Die musikalische Gestaltung des Chors im Allgemeinen. 453

in dem keine Stimme einen wahrhaft eigentümlichen Gang nimmt, ein wahrhaft karakterislischer Inhalt weder in der Melodie, noch im Rhythmus, noch in der Harmonie aufzuweisen ist, wirkt doch durch das edelste Organ, die Menschenstimme, durch den höchsten Aufwand desselben, die Vielstimmigkeit, in einer Weise, die neben aller anderswo zu findenden Wirkung geradezu unerreichbar, unersetzbar zu nennen ist. Der Chor ist eine einzige Person gewor- den, — kaum das kann man hier sagen, wo es an jeder entfalteten Karakteristik mangelt, er ist bloss der Mund, durch den der Tondichter das inhaltschwere Wort ausspricht, bloss ausspricht mit Ernst und Gewicht : und schon hier übt das Tonwort eine Macht aus, die nur von der Macht des bewegten, das Wort des Dichters zu vollem Lebenslauf erhebenden Geistes überragt wird. Nicht un- bemerkt wollen wir lassen, das Händel in künstlerischer Weisheit hier das Rechte gegeben, nicht Weiteres geben konnte und durfte. Das Gebot Gottes und die Erfüllung, beides ist nur ein Moment, der nur ausgesprochen, nicht in Weisen durchgelebt und ausgebreitet sein wollte; sein Gewicht, seine Bedeutung mag Jeder im stillen Geist erwägen, seine Folgen mag der Fortgang des Oratoriums bringen.

Es ist höchlich zu wünschen, dass der Jünger sich ganz erfülle von der Macht der einfachsten Chorweise, damit sie ihm in ihrer Fülle zu rechter Zeit zu Gebote stehe. Erst von ihr aus ist der Fortschritt zu den reichern Gestaltungen mit vollem Gefühl und Er- folg zu thun.

Sobald wir nun den leichtesten Fortschritt aus dieser absoluten Einigkeit aller Chorstimmen hinausthun, erfahren wir, mit wie überlegner Gewalt das Wort des Dichters zur Beseelung und Wirk- samkeit dringt, wenn die Chorstimmen aus ihrer Fessel treten, sich individualisiren zu eigenthümlichen Personen. Hier kommt uns, wie geschaffen zur Uebergangsstufe, eine Behandlung des Chorals

«» pmm^mm r ? r i r r '

Chri-stus, der ist mein Le - ben, Ster-ben ist mein Ge-winn.

von Seb. Bach* zu Hülfe. Der Choral wird, wie schon seine erste Strophe zeigt,

* Aus der musterhaften Ausgabe von «J. S. Bach's vierstimmige Kirchen- gesänge (Choräle), geordnet und mit einem Vorwort von C. F. Becker« (S. 43, bei Friese in Leipzig, 1843), deren Anschaffung und Studium jedem Musiker sicher und reich lohnen wird.

Digitized by Google

454

Die Begründung der Chorkomposition.

in schön geführten, aber durchaus homophon bei einander bleibenden

Stimmen gesungen. Da hat der Text der zweiten Strophe, dieses

Sterben ist mein Gewinn! den Sänger tief ergriffen, Stimme auf Stimme fallt mit schmerzlich- sehnsüchtigem Verlangen in das Wort »Sterben«, das ihr der Ruf zur Seligkeit ist. Wie hier jede gleichsam mit langem, verlangen- dem Hinblick auf dem »Sterben« weilt, wie sich der ersten Stimme die zweite, dieser die dritte anschliesst in den tiefern Septimen, endlich der Bass gegen die drei vorhaltenden obern Stimmen eintritt und das eine Wort im Dominantakkorde weiter verlangend ausklingt, dann der Gesang so lieblich schmeichelnd weiter geht: das alles ist so einfach und so tiefempfunden, dass man aus technischem Punkte bezweifeln mag, ob hier Uberall von Polyphonie die Rede sein könne, während aus höherm Gesichtspunkt angesehn doch jede Stimme im tiefsten Gefühl wie frei und allein auftritt und sich zum Ganzen fügt.

Werfen wir zuletzt noch einen Blick auf nachstehenden Chor aus Bach's Matthäischer Passion,

430 _^ m. JfX^

Wahrlich,dieser, dieser ist Got

tes Sohn ge-we sen.

c. b. i r

Wahrlich, die

ser ist Gottes Sohn

ge-we - sen.

id by Google

Die musikalische Gestaltung des Chors im Allgemeinen. 455

so haben wir im engen Raum eines kleinen Satzes den vollkommnen Anblick polyphoner Gestaltung, vier Stimmen, jede in eigenthüm- licher melodischer Gestaltung, alle zu einem Ganzen vereint. Die tonische Gestaltung ist uns schon seit den Studien des zweiten Theils nichts Neues. Bemerkenswerth ist aber hier, wie nicht bloss das Ganze die Stimmung des Moments, fromme Zuversicht eines tief gerührten, nun endlich bis zur Verwunderung klar und gänzlich überzeugten Gemüths, austönt, sondern auch jede einzelne Stimme dasselbe in ihrer eigenthümlichen Weise spricht und singt, dass Uberall dem Wort und der Ton folge und der Empfindung volles Recht wird.

Es handelt sich also dies sei nochmals wohl beherzigt hier nicht um die Technik des homophonen und polyphonen Ge- staltens, die wir uns längst angeeignet haben müssen. Sondern darum : das Heraustreten aller Gestalten aus dem Wort des Textes und aus dem Gefühl des Moments im Chor zu beobachten und sich auf gleiche Geburten aus dem eignen Innern gefasst zu machen, zu ihnen zu sammeln und anzuschicken.

Auf diesem Punkte hat sich in der Lehr- und Lernübung eine kleine vorbereitende Arbeit oft fördernd erwiesen , die hier ihre Stelle findet. Sie besteht darin, dass irgend ein fruchtbares, nicht aber zu scharf karakteristisches Wort (weil es sonst keine mannig- fache Behandlung zulässt) erst in einfachster, dann immer bedeu- tungsvollerer Weise für den Chor gesetzt wird. Die einfachste Auffassung wie jeder Fortschritt müssen sich aus der unbefangen anknüpfenden und immer tiefer dringenden Betrachtung des Textes ergeben.

Wir wählen zu einem kurz gefassten Beispiel den Text:

Ich rufe zu Gott, dem Allerhöchsten.

Dieser Text setzt eine andächtige Bewegung des oder der ihn Aussprechenden voraus, giebt aber von ihrer eigentlichen Stimmung, ob sie sich in Freude oder Leid, mit Fassung oder Erregtheit, oder gar Leidenschaft zum Allerhöchsten wende, keine nähere Kunde ; jenes allgemein Übliche, der blossen Reflexion entsprungne Beiwort deutet auf eine nicht zu tiefe, Über die Sphäre gewöhnlicher Andacht nicht zu leidenschaftlich übergreifende Stimmung.

Das Nächste nun ist, dass das Wort des Textes musikalisch ausgesprochen werde. Hier

Digitized by Google

456

Die Begründung der Chorkomposition.

434 <

i

Andante.

r

n

1/

r

i

f

m

zu Gott, dem AI - 1er - höch -

ist dies in einer dem Sinn des Wortes wenigstens nicht wider- sprechenden Weise geschehn ; der Rhythmus des Textes ist beobachtet, durch taktischen und tonischen Accent treten die Accente desselben hervor, das »zu Gotta wird wenigstens in der Hauptstimme betont. Dagegen ist jenes Beiwort, »dem Allerhöchsten«, nur eben hin- gesprochen; es sinkt, statt uns mit sich zu erheben. Die Unler- stimmen sind ohne selbständigen Inhalt.

Beseitigen wir vor allem jene Schwäche des Redeausdrucks. Hier

3

432 i

r r

Ich ru - f e

zu Gott, dem AI - 1er - höch

UM

sten.

*

strebt die Oberstimme empor zur Mitte) stelle des vorher (No. 431) versäumten Ausdrucks, während Bass und Tenor das vergleichende

Vorwort, »dem Aller höchsten«, hervorheben. Noch sind die

Stimmen, zumal rhythmisch, an einander gebunden ; aber schon gehen sie in der Betonung und damit so zu sagen in der Auslegung jenes Beiworts aus einander, sie geben zwei Rede- und Auffassungs- weisen statt der einen im ersten Satze.

Allein wir müssen schon zu unsrer ersten Auslegung des Textes zurück. Nicht jenes Beiwort, sondern dass wir uns »zu Gott!« wenden, das ist der Kern des Satzes. Ob man nun dieses Haupt- wort in höherer Erweckung treffender, nachdrücklicher, inniger aussprechen könne, als oben geschehn, und wie? das bleibe hier ganz bei Seite. Genug, uns hat es sich jetzt so und nicht anders ergeben, und wir bleiben dabei. Gleichwohl haben wir die Angemessenheit nachdruck vollem Ausdrucks einmal erkannt; es bleibt also nichts Übrig, als durch Wiederholung zu erlangen, was in unserm ersten Zuge weniger genügen mag.

Digitized by Google

Die musikalische Gestaltung des Chors im Allgemeinen. 457

433 <

i

P-h

rfi i i

Ich ru-fe zu Göll, zu Gott, dem AI - ler-htich - sten. II'*

Hier ist das »zu Gott« wiederholt, und zwar mit einer Steige- rung in der Hauptsümme, der ganze Salz wird dadurch zu höherer Erhebung bewogen und den Stimmen ein erregterer Gang eigen ; ob bei dem »Alle r- höchsten« nicht eine ruhigere Fortschreitung, z. B.

434 <

zu Gott, dem AI - 1er - höch - - - sten.

m

i

erwünschter sei, bleibe dahingestellt.

Allein eben hier, wo das Wort, das wir für den Kern des Ganzen erkannt, durch Wiederholung bekräftigt werden soll, kommt die Unzulänglichkeit oder Unwahrhaftigkeit des homophonen Satzes für den Chor an den Tag. Wenn bisher alle Stimmen mit einander den Text nur so hinsprachen, wie es jeder gegeben war: so konnte das gelten , weil der Text für jede derselben gleichen Antheil und darum auch gleichzeitigen gewährt. Nun aber soll ein Moment durch Wiederholung bekräftigt werden. Ist das durchaus not- wendig ? Nein ; nur dann ist es recht, wenn eine höhere Erregtheit eintritt. Dies aber kann bei einer Stimme geschehn, bei der andern nicht, bei einer früher, bei der andern später; ja, es ist natur- gemäss und zugleich die reichere Anschauung, dass Stimmen von verschiednem Karakter hierin sich unterscheiden. So sehn wir in diesem Satze:

Digitized by Google

15$

Die Begründung der Chorkomposüion.

435 i

^5

1

Ich ru-fe zu Gott,

zu Gott,

dem Aller-

Bgj=f=f=g=g

str-

ich ru-fe zu Gott, zu Gott,

zu

mm

Gott, e

dem

Ich ru -fe zu Gott,

ich ru - fe zu Gott,

dem

-3-

Ich ru-fe zu Gott,

ich ru-fe zu Gott,

EE

/ _

hoch

sten.

AI

ler - höchsten.

;fScS

AI - ler hoch

sten.

5

dem AI- ler - höchsten.

Der Alt hat sich aus seiner Ruhe erhoben und das Hauptwort steigernd wiederholt, der Diskant Überbietet, die Unterstimmen wiederholen den ganzen ersten Abschnitt des Textes. In gleicher Weise tritt hier

436

WS

Ich ru-fe zu Gott,

zu Gott,

dem

£££

Ich ru-fe zu Gott,

ich ru

fe zu

Ich ru-fe zu Gott, zu Gott,

zu

t

i

Ich ru - fe zu

Gott,

zu Gott,

dem

by Googl

Die musikalische Gestaltung des Chors im Allgemeinen. 459

ler - hoch

sten.

Gott, dem AI -ler -hoch - sten.

Gott, dem AI -ler - hoch

sten.

AI

1

ler - höch

sten.

der Tenor, nach seinem Karakter berufener zu einer Steigerung als der Alt, mit der Wiederholung hervor. Ist seiue Tonlage zu niedrig, um die Wiederholung eindringlicher zu machen, so kommt ihr doch die Harmonie (Uass der vorgreifende Ton Vorhalt wird) zu statten; es könnte auch die weitere Führung der Stimme, z. B. vom zweiten Takt an,

-p,b p-

P

3zz:

- 0

±

m

1

Gott,

zu Gott,

zu

Gott, zu Gott, dem

«37 s

Gott,

ich ru - fe tu Gott, dem

3ee

Gott, zu Gott,

ich ru - fe zu Gott, dem AI - ler-

2&

P

Gott,

■fc-T g f

zu Gott,

zu

Gott,

dem

m

AI - ler - höch - sten.

1

höch - - - sten.

IC

l 1,

AI - ler - höch - sten. das Hervortreten steigern und als karakteristisch rechtfertigen.

Digitized by Google

460

Die Begiiindung der Chorkomposition.

Schon hier (in No. 436) tritt der Bass wenn auch ohne tiefere Bedeutung den übrigen Stimmen voraus. Dies führt uns auf die letzte Gestaltung, der hier Raum gegönnt werde.

438 <

Ich ru - fe zu

Ich ru - fe zu Gott,

ich ru - -

Ich ru - fe zu Gott, dem AI - 1er -

-m-

Ich

Gott,

dem AI - 1er - hoch - sten.

fc zu Gott, dem AI - ler - hoch - sten.

■t.

höch - - sten, dem AI - ler - höch - sten.

ru

fe de

e dem AI - ler - höch-sten.

Hier treten alle Stimmen selbständig, jede für sich ein und bilden erst später eine Masse, deren Fortschritt nicht weiter hierher gehört. Es ist dies die letzte Gestaltung, an die wir hier zu er- innern nöthig haben ; dass ausser ihr noch unzählige Umbildungen und Fortbildungen des gegebnen Satzes möglich sind, versteht sich. Keine der aufgewiesnen oder noch hervorzurufenden Gestalten bietet für den bis hierher mit uns Fortgeschrittnen technisch etwas Neues oder neu zu Uebendes. Was daran zu beobachten und zu üben, ist einzig und allein : wie diese Tongebilde im Ganzen und in jeder Stimme aus dem Wort hervorgehn; wie zuerst nur daran ge- dacht wird, das Wort auszusprechen (No. 431) und dabei jede Stimme ihrer Lage gemäss und sonst schicklich, wenn auch nicht karakteristisch oder ausdrucksvoll , zu bethätigen ; wie dann No. 432) wenigstens in der Hauptstimme derSinn des Worts berichtigt und, sobald dies zum Bewusstsein kommt, auch in

Digitized by Google

Die musikalische Gestaltung des Chors im Allgemeinen. 46 t

den Nebenstimmen der Ausdruck gelegentlich bedacht wird; wie ferner (No. 433) der Hauptpunkt durch Wiederholung ge- steigert, sogleich aber (No. 435, 436) die Wiederholung wechselnden Stimmen übertragen und damit in das Feld der Polyphonie übergegangen wird, die dann endlich (No. 438) als reichste Entfaltung des Chors frei hervortritt, sofort aber (wenn auch nicht immer so schnell, als des Raumes wegen in No. 438) das Verlangen nach dem homophonen Ausschallen der Chormasse in ihrer Einheit als der schlagendsten Kraft des Chors erweckt.

Die nähere Erwägung, wie das alles hier geschehn und wie es weiter hätte geschehn können, bleibe Jedem Uberlassen ; sie wird zur sorgsamen und weitgeführten Uebung locken und diese sicher Frucht tragen.

C. Chorkräfte.

Zum Schlüsse dieser gesammten Vorbereitungen überblicken wir noch einmal alle Vermögen, die sich uns überhaupt im Gesänge, besonders im Chorgesange, darbieten.

Der Sänger hat vor allen Dingen den Ton, oder noch allge- meiner gefasst den Schall,

\. das Ausschallen seiner Stimme

von grosser innerlicher Macht (im Zarten wie im Starken) und äusserlicher Gewalt. Dies Element ist mächtiger in einer Chorstimme durch die, vereinte Kraft vieler Einzelner, am m ä c h - tigsten im vereinten Chor, wo es (nach bekannten Grund- sätzen) den weiten Akkord zu glanzvollem Klange, den engliegenden zu gedrungner Kraft, die Oktavverdopplung zu mächtigem Andringen, den Einklang zu schmetternder Eindringlichkeit fördert.

Der Sänger hat sodann die Ton Verbindung; im allgemeinen Sinn aufgefasst, wollen wir sie

2. das Singen

nennen zum Unterschied (in der Lehre) von »dem Gesänge«, welcher Ausdruck dem künstlerischen vereinten Wirken von Ton- und Wortgeben zukommt. Dieses Singen ist die Tonbewegung, sofern sie nicht dem unmittelbaren Ausspruche des Worts angehört, also z. B. die Tonreihen, die in No. 434 bis 434 auf die Silbe »Höch stena, die in No. 435 im Alt und in No. 436 im Tenor auf das Wort »Gott« fallen.

Das Singen erschallt, wie sich von selbst versteht, in einer Chorstimme voller und mächtiger, als in einer einzelnen. Aber

462

ie Begründung der Chorkomposition.

die Tonfolge wird auch dabei undeutlicher, erstens weil jeder stär- kere Schall vermöge seines kräftigern Aushallens mehr Zeit zu seiner Verbreitung, Vernehmung, Scheidung von nachfolgenden Schallen braucht, zweitens weil selbst bei der sorgfältigsten Uebung viele Stimmen unmöglich so vollkommen wie eine einzige zusammen stimmen und zusammen fortschreiten. Es folgt hieraus die wichtige doppelte Lehre, dass man den Ghorstimmen in dem, was wir das Singen nennen, nicht zumuthen darf, was Solostimmen leisten, dass namentlich grössere Tonfolgen erstens

nicht so schnell bewegt

sein dürfen, wie der Sologesang und noch mehr die Instrumental- musik" gestattet, und dass sie ferner zweitens

nur einfach gestaltet

sein dürfen. Beides ist aber nicht bloss aus materiell-akustischen und technischen Gründen, es ist auch aus dem Wesen des Chors selbst zu rechtfertigen. Denn einmal ist jede Masse gewichtiger, also weniger zur Schnellbeweglichkeit geneigt, als ein Einzelner, dann ist eine Menge nur im Allgemeinern und Einfachem (S. 443) übereinstimmend, folglich jede zu eigen oder zu vielfach zusammen- gesetzte Tonfolge ihr nicht angemessen.

Hinsichts der Bewegung scheinen obwohl sich ein ganz be- stimmtes Maass nicht festsetzen lässt

Sechzehntelfolgen im Allegro moderato

ungefähr das ausserste Maass von Schnelligkeit, das man mit Sicher- heit vom Chor fodern kann, wobei aber natürlich viel von der grössern oder mindern Ausdehnung und Leichtigkeit (Ausführbarkeit) der Tonfolgen abhängt.

Hinsichts der Tonfolge sind die auf die Tonleiter begründeten, z. B.

439

i

■4.„ I

und kürzer gegliederten (weil jedes Glied einen Stttta-oder Sammel- punkt abgiebt, der den weitern Folgen, z. B.

mangelt), Überhaupt die nicht allzuweit, nicht ttber vier bis acht Viertel ohne Unterbrechung geführten die leichtern. Daher wird selbst bei sonst eigen thümlichen Komponisten stets die einfachen

Digitized by Google

Die musikalische Gestaltung des Chors im Allgemeinen. 463

und darum allgemeinern und gebrauchtesten Tonfolgen wiederkehren sehn, so leicht es bekanntlich ist, andre Wendungen an deren Stelle zu setzen.

Hier so wenig, wie anderwärts genügen äusserliche Regeln; nichts würde leichter sein, als die Zusammenstellung einer Reihe von schwierigem oder ausgedehntem Tonbewegungen, die gleich- wohl in dem besondern Sinn irgend einer Komposition ihr volles Recht finden, an ihrer Stelle nothwendig erscheinen. Dennoch ist das Studium und die Erwägung dessen, was im Allgemeinen dem Chor wohlgeeignet, unerlässlich, wenn man nicht in Gefahr kommen will, treffliche, nur abstrakt ohne Rücksicht auf die erwählten Organe gefasste Intentionen an ihrer Unausführbarkeit scheitern zu sehn. Es ist übrigens, selbst bei der ausführlichsten Lehre, kaum zu hoffen, dass Jemand, der nicht selber singen kann, hier stets das Rechte sicher treffe.

Dar Dritte endlich, was der Sänger hat, ist

3. das Sprechen,

das Wort im Verein mit dem Singion. Der letztere nun verdunkelt mehr oder weniger stets den Sinn, die Wirksamkeit der Rede, theils durch die grössere Macht des Stimm- oder Singklangs vor dem Klange der Redelaute, theils weil ein Theil der Aufmerksamkeit von dem reinen Redeinhalt ab auf den musikalischen Inhalt gezogen wird. Und umgekehrt nagt die Artikulation der Rede am reinen Stimmschall. Reide Rede und Singschall begränzen und be- einträchtigen sich gegenseitig, von beiden wird geopfert, um ein drittes Kunstwesen, den Gesang, von neuer und hoher Redeutung zu gewinnen.

Aus dieser Retrachtung, die mancherlei Folgerungen in sich trägt, sei hier zunächst nur eine gezogen :

je mehr die Redelhätigkeit vortritt, je mehr Redetheile in engem Räume sich vereinen, desto mehr wird Stimm- und Singwirkung zurückgedrängt.

Dies muss im Chorgesang noch mehr, als bei dem Sologesang der Fall sein, weil wieder die Aussprache Vieler nicht so genau zusammentreffen, Eins sein kann, wie die eines Einzelnen. Und am stärksten muss die Reeinträchtigung sein, wenn nicht bloss eine einzige Chorstimme, sondern ein ganzer Chor mit Redethätigkeit überhäuft wird.

Wir müssen also, wenn unser Chor wirken soll, weder zu viel (zu viel vereinzelte Laute, Silbe auf Silbe für jeden Ton) noch zu schnell sprechen lassen. Der in No. 425 und 426 ange- führte Händel'sche Chor z. R. wird in den in Achteln und Sech-

Digitized by Google

464

Die Bekundung der Chorkomposition.

zehntein artikulirenden Partien seinen Vollklang nicht entwickeln können; ja, sollte er eine schnellere Bewegung, etwa die des Allegro moderato, annehmen, so würde Stimmklang und Klarheit der Rede gleichmässig beeinträchtigt werden. Händel hat vor den meisten Komponisten so häufig fast Überall die grossartigste und macht- vollste Behandlung des Chors bethätigt, dass diese Bemerkung un- möglich der ihm gebührenden Ehrfurcht zu nahe tritt; ohnedem war es in jener Stelle der Text und Uberhaupt die Auffassung seines Stoffes, der ihn zu solcher Behandlung nöthigte.

So viel von den drei Vermögen, über die der Komponist zu gebieten hat. Dass er jedes nur nach dem Sinn seiner jedesmaligen Aufgabe in Thätigkeit setze, versteht sich. Gelingt es ihm aber, keines unbenutzt zu lassen, einem durch das andre einen hebenden Gegensatz und eine Stütze zu gewähren: dann erst kann er sich von seinem Chor die vollste Wirkung versprechen; die singende Stimme leiht ihren Schmelz der artikulirenden, die ausschallende Stimme bindet und ergänzt die bewegtem.

Wenden wir uns nun zu der Komposition.

Digitized by Google

Fünfte Abtheilung.

Die Formen der Chorkomposition.

Nicht alle Formen und Verwendungen des Chors kommen hier zur Sprache, sondern nur diejenigen Formen, in denen Orchester, überhaupt Begleitung entweder gar nicht erfoderlich , oder doch möglicherweise nur auf die untergeordnete Bedeutung eines blossen Hülfsmittels beschränkt werden kann. Diese Formen sind es aber, die allen Übrigen Chorformen zu Grunde liegen , in denen der wichtigste Fortschritt im Gesangstudium von Rezitativ und Lied aus geschieht, die also auch allen weitern Gesangstudien zur Vorschule und Vorbedingung dienen. Grund genug, ihnen vorzugsweise Auf- merksamkeit zu widmen.

Erster Abschnitt. Die Choralflguration.

Die Choralfiguration war diejenige Form, an der wir (Th. II) die begleitenden Stimmen zur Selbständigkeit erhoben, in freie poly- phone Bewegung setzen lernten. Dies und hiermit auch die Formen der Choralfiguration haben wir nun in unsrer Gewalt. Es soll jetzt die ausgebildetste derselben, in der eine Einleitung in den Choral, Zwischensätze von Strophe zu Strophe führen , auf den Chor an- gewendet werden.

Die Choralfiguration für den Chor ist eine besonders von den Meistern des vorigen Jahrhunderts fle issig angebaute Form; ihr Ge- danke ist aber so sinnig, dass die Kirchenmusik besonders der Prolestanten, ihrer gar nicht entrathen kann, so lange sie am Choral selbst festhält. Dass der feste Gesang des Kirchenlieds von freiem und eigenthümlichen Betrachtungen bald der, bald jener Person (im idealen Sinne, S. 442) theilnehmend umgeben wird, dass der Choral in seiner zusammenfassenden stillen Gewalt dahinzieht und alle Singenden in ihren sinnigen besondern Aeusserungen nicht hemmt oder ausschliesst, sondern in sich versammelt, sich und ihnen zu reichern), erhebendem Gewinn : das ist psychologisch und symbolisch so wahr, dass es künstlerisch nicht anders als bedeutend und schön befunden werden kann und sich erhalten oder stets wieder erzeugen muss, so lange die Vorbedingung der Choral in der christlichen Kirche besteht.

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 30

Digitized by Google

460

Die Formen der Choj%kompo$ition.

Dies ist die Wichtigkeit der Form an sich. Sie hat aber noch eine besondre und nirgend sonst zu erlangende Wirkung in unserem Lehrgange.

Bei der abstrakten Choral figuration gingen wir von einem Figuralmotiv aus und suchten besonders anfangs es als Kern oder doch Anknüpfungspunkt getreu festzuhalten. Doch wurden wir schon damals bald inne, dass die Bedeutung der Figuration im Grunde nicht auf dem Motiv beruhte, sondern auf der Bewegung jeder und aller Stimmen, zu denen das Motiv nur den ersten Anstoss gab ; daher gelangten wir dazu, den verschiednen Stimmen gelegentlich auch verschiedne Motive zu ertheilen und sie endlich ganz unbekümmert nur in gleichem Sinne gehn zu lassen.

Dass im Gesänge noch weniger auf das Festhalten an einem Motiv ankommt, ist einleuchtend. Hier handelt es sich um den ge- treuen und tiefen Ausdruck des Textes; wie wenig will dagegen wenn zwischen Beiden zu wählen ist das Festbalten an ein Paar Noten sagen! Doch werden wir, wenn auch nicht immer das Motiv, wenigstens die karakteristische Weise, in der unsre Figuralstimmen zum Choral treten, festzuhalten haben, um dem Ganzen die für jedes Kunstwerk nöthige Einheit der Gestaltung zu bewahren.

Sänger und Hörer würden ermüdet, wenn eine weit ausgeführte Figuration bloss durch Singstimmen dargestellt werden sollte. Wenig- stens — wenn wir auch nicht behaupten mögen, dass dies unaus- führbar — ist einleuchtend, dass der Zutritt eines Instrumentale, das Einleitung und Zwischensätze oder einen Theil derselben über- nimmt, vielleicht auch ein Nachspiel zur Abschliessung des Ganzen giebt, grosse Vorlheile gewährt. Es ist daher äusserst rathsam, ja fast unerlässlich, dass wenigstens zuerst nie ohne

Instrumentalb egleitung

gesetzt werde. Diese hat, wie gesagt, einzuleiten, überzuleiten (wo es die Singstimmen nicht selbst thun) und nach Erfodern den Nachsatz zu geben. Während des Gesanges wird sie Begleitung im eigentlichen Sinne.

Die Instrumentalpartie müssen wir für jetzt auf Klaviersatz beschränken, da uns noch kein andres Instrument zu Gebote steht. Wer sich dabei wenn auch vielleicht nur in unbestimmtem Um- rissen , mehr ahnend als einsehend Wirkungen des Orchesters vorstellt, der wird der eigentlichen Würde, in der sich unsre Auf- gabe darstellen sollte, näher treten. Jedenfalls kann das Instrumen- tale an Beweglichkeit und sonstigem Inhalt nicht weit über das hinausgehn, was nachgehends den Singstimmen gebührt. Wenn z. B. Seb. Bach in der später zu betrachtenden Figuration des Chorals:

Digitized by Google

Die Choralfigur ation.

467

»O Mensch, bewein' dein' Sünde gross«* den Singstimmen vor- herrschend Achtelbewegung zuertheilt, so haben statt dieser die In- strumente zwar Sechzehntelbewegung, aber in einer Weise,

Instrumentale.

die die Achtelbewegung als bedingende Grundlage hervortreten oder durchfühlen lässt.

Wo die Singstimmen wirken, wollen wir unsre Begleitung so viel wie möglich unterordnen. Denn das Höhere und oft einzig Be- friedigende wird uns erst im Orchester-Studium eigen und würde uns hier von der Hauptsache, dem Chorstudium, abziehn.

Schliesslich rathen wir noch, für die ersten Uebungen Choräle zu wählen, die dem Komponisten nach Text und Melodie besonders werth sind, deren Text einen bestimmten kräftigen Ausdruck fodert und gewährt und die nicht zu lang sind.

Bei der schon sichern Bekanntschaft der Form bedarf es nur einer Aufweisung an zwei besonders lehrreichen Beispielen.

Das erste ist Seb. Bach's Figuration des Chorals:**

442

Ma-che dich, mein Geist, be- reit: wa-che, fleh' und be - te, dass dich nicht die - se Zeit un-ver- hofft be -tre-te!

p=fYf\ ' \ jllllBljlliliii 1 1 Ü

Denn es ist Satans List ü-ber vie-le Frommen zur Versuchung kommen. Bach versetzt vor allem den Choral in den feierlich breiten und vermöge der Dreitheiligkeit doch beweglichem Sechsvierteltakt und schickt ihm, in dieser Weise anknüpfend, Vni.

443

V -fr - T f -

I

* Am Schlüsse des ersten Theils der Matthliischen Passion. ** Bis jetzt nur in der »Sammlung vorzüglicher Gesangstücke u. s. w. von F. Rochlitz« (bei Schott in Mainz), Band 3, Abtheilung I, S. 89, gedruckt. Die vollständige Herausgabe dieser Kantate wäre verdienstlich.

30»

Digitized by Google

468

Die Formen der Chorkomposition.

eine Instrumentaleinlei tu na; voraus. Diese, die instrumentalen Zwischensätze, Nachspiel und Begleitung lassen wir ganz bei Seite und wenden uns nur auf den Gesang, jetzt unsre Hauptsache. Ein sonntäglicher Karakter, wie wenn man sich zum Kirchgang in freu- diger Sammlung bereitet hat und nun in die Kirche tritt unter den ersten Klängen der erwachenden Orgel, hat sich schon durch die Einleitung ausgesprochen und geht in den Gesang über.

Dies ist die erste und bei der Wiederholung dritte Strophe.

P

8*

r

Ma - - che dich, dass dich nicht

raein Geist, die - -

- se

be - reit : Zeit

t

444 {

Machedich, mein dass dich nicht die

Geist, be- bt) - se

Machedich, raein dass dich nicht die

Geist, be - reit, - se Zeit,

£3

ma-che dass dich

f _.*.

Mache dielt, mein dass dich nicht die

Geist, he-reit, mn - che dich, mein Geist, be- - se Zeit, dass riiehnichtdie - - se

reit, Zeit,

ma-che dich, die

mein Geist, be - reit: - - se Zeit

*

3=

dich, mein Geist, dich, nicht, dich nicht die

mein Geist, be - reit ; se Zeit

3=

reit,

Zeit, die

mein Geist, be - reit:

se Zeit, die - se Zeit

Das festlich spielende Motiv (a), das den Eintritt »Mache dich« so erweckend macht und dem »mein Geist« auch noch eine kleine Beherzigung gönnt, stimmt zur Einleitung und giebt mit ihr den Grundton der oben angedeuteten Empfindung zu hören. Jede Stimme zergliedert und wiederholt ihren Text, hebt gelegentlich bald

Die Choral figuratmi.

469

dieses , bald jenes Wort (z. B. der Tenor das »bereit« und »mein Geist«) hervor und geht mit den andern frei und reich und schön bewegt zu Ende; die Figuralstimmen bilden einen Nachsatz zum cantus firmus und schliessen später, worauf denn das Instrumentale zur folgenden Strophe weiter führt.

Hier ist ein hervortretendes und bedeutsames Motiv durch die Stimmen gegangen. Demungeachtet wird Niemand es für die Haupt- sache, für mehr als den ersten Anstoss erachten können; noch weniger ein zweites Motiv (6), das sich beiläufig hergiebt. Der Gesang der Stimmen im Ganzen, wie er dem Sinn des Lieds und einzelnen Wortes nachtrachtet, ist hier die Hauptsache. Daher lässt gleich die zweite Strophe alles Vorangegangne fallen und spricht bloss ihr Wort mit Macht aus,

I

445 i

wa - che, fleh'

und be - - te,

T

5§i

wache, wache,

fleh' und be

fleh' und be - te, fleh'

T

- - - - te, und be - - te,

wache, fleh* und be - te, fleh' und be

worauf denn (schon mit dem vorletzten Takte} das Instrumentale wieder in seiner Weise (No. 443) auftritt. Ist schon hier der fassende Anruf »Wache!«, das bewegliche »fleh' und bete«, besonders das zweite »fleh'« in Tenor und Bass ein lautes Zeug- niss für die Intention, die hier herrscht; so muss man dieselbe Zeile in der Wiederholung betrachten,

446 <

f

un - verbofft be - tre - te, un - verhofft be - tre - te!

=t~T -

3

' i ^_ ä ' i =fc

dar

T

wie dieselbe Anlage sich dem abweichenden Sinn des neuen Textes bequemt, wie beidemal jede Stimme in göttlicher ünbesorgtheit um das Leibliche, um einen augenblicklichen Widerklang, sich nur dem Geistigen, dem Sinn und Gefühl des Wortes hingiebt.

Die folgenden zwei kurzen Strophen werden vom Chor nur

Digitized by

470

Die Formen der Chorkomposition.

einfach, unfigurirt iotonirt, in der folgenden kehrt das Hauptmotiv (o) wieder,

447

ü - ber vie - le

Krom

inen

über viele From - men, ii-ber vie - le From-men

t

ü-ber viele Frommen, ü-ber vie - le From

men

0

3=£

über viele From - men, über viele From-men

in der letzten wenden sich die Stimmen in jenem andern, scheinbar vergessnen Motiv [b in No. 444) hin und her;

448

i

*—

2i

zur

Ver - su - chung kom -

zur Ver - su - chung kommen,

zur Vrer-su - chung

3e

1»-

zur Ver- su - chung kom - men,

zur Ver-

zur Ver - su - chung, zur Ver-

men.

kom - -- -- - -- --

nie».

I

su - chung kom

I

men.

su - chung kom

men.

Google

Die Choralfiguration.

471

ist das zufälliges oder technisches Spiel? oder hat das Wort »Versuchung« so hin und her gelockt? Das Letztere wäre gar wohl in Bach's Weise, der seine Aufgabe im Ganzen und Einzelnen, in den tiefsinnigsten, treffendsten, gefühltesten Zügen und zugleich in leisen beiläufigen, ja ganz äusserlichen Andeutungen und Anspie- lungen (man denke an das »Eli lama« und dann wieder an das »Ehe der Hahn krähet« in der Matthäischen Passion) gleichzeitig zu fassen liebt.

Ueberblicken wir nun das Ganze, so findet sich die erste Strophe und die dritte (Wiederholung der ersten) figurirt, die zweite und vierte (Wiederholung der zweiten) zwar reich gesungen, nicht aber eigent- lich figurirt, die fünfte und sechste einfach vorgetragen, die siebente und achte, jede mit einem andern Motiv aus der ersten, figurirt. Ueberall geht die Figuration über den Schluss des cantus firmus hinaus, bei der letzten Strophe kommt sie ihm zuvor; überall dient das Instrumentale zur Verknüpfung der Gesangmassen.

Einen freiem und vollem Anblick gewährt der schon oben (S. 467) genannte Choral. Hier ist kein eigentlich hervortretendes Motiv, sondern die Stimmen gehen um den cantus firmus herum und mit ihm fort in andächtigem Gesang; oder soll von einem Motiv die Rede sein, so ist es das in No. 441 angedeutete, die Folge einiger diatonischen Schritte, die für das Instrumentale reicher aus- geführt wird. Letzteres lassen wir wieder bei Seite ; das darüber für jetzt Nöthige ist aus der frühem Lehre bekannt.

Nach einer breiten , stillen Einleitung setzt die erste Strophe so ein

0 Mensch, be - wein' dein' Sün-de gross

be-wein\ bewein',oMensch,bewein'dein'Sündegross,

Die Figuralstimmen treten später und bewegter, als der cantus

y Google

472

Die Formen der Chorkomposition.

firrmts ein, aber mit einander, so dass sie insgesammt Einen Gegen- satz gegen ihn bilden und so auch über ihn hinaus zu Ende gehn. Das Instrumentale führt weiter, zur zweiten Strophe,

450 {

P

Da - - rum

Ghri - stus sein's Va - ters

Da - rum Christus

sein » Va - ters

Darum Christus sein's Vaters Schoos, sein's Vi

sein's Va - ters

* I

Darum Christussein s Vaters

SÄ»

E

CT

Schoos

Schoos, da-rum Chri-stus sein's Va - ters Schoos

5

Schoos, da-rum Chri-stus sein's Va- ters Schoos

3=

Schoos

und von da zur dritten

45t

aus

sert und kam auf Er - den.

äussert und kam auf Er

den, äussert und kam auf Er - den

äussert und kam auf Er

den, äussert und kam auf Er - den.

tt ^ ^ * * Ii"

äussert und kam auf Er - den, äussert und kam auf Er - den

Digitized by Google

Die Choral figuration.

473

Hiermit ist der erste Theil des Chorals geschlossen und wird bei den Strophen

Von einer Jungfrau rein und zart Für uns er hie geboren ward, Er wollt' der Mittler werden

Note für Note wiederholt ; nur die erste Strophe wird vom zweiten Takt an so

452 ) rein und zart, von ei - ner Jungfrau rein und zart

JSifi £ f > i J" jTl I 1

^B^^^zctxUr'j er f 1 r_=

zu Ende geführt. Fassen wir nun diese Strophen zusammen, so sehen wir

h) überall den cantus firmus als anführende Stimme, die andern als nachfolgende,

2) die Figuralstimmen in der ersten und allenfalls zweiten Strophe über den Schluss des cantus firmus hinaus- gehend ;

3) in der ersten Strophe sehen wir sie zusammengehalten als eine einige Masse, einen einfachen Gegensatz gegen den cantus firmus bildend;

4) in der zweiten Strophe zergliedert sich setzt sich diese Masse aus einander, die Stimmen treten einzeln auf, halten sich übrigens nah zu einander;

5) die dritte Strophe endlich bildet ein Mittleres gegen die beiden vorherigen, indem sie die Stimmen von einander löst, aber doch nicht gänzlich ; die Mittelstimmen bleiben beisammen, der Bass folgt.

Hiermit ist nach Bach's stets fester, sicher vorschreilender Weise die Grundlage zu weiterem Fortgang gewonnen, in der Komposition wie im Texte werden nun gleichsam die Folgerungen des Vorhergehenden gezogen. Nach abermaliger Instrumentalein- leitung tritt die erste Strophe des zweiten Theils auf,

Digitized by Google

474

Die Formen der Chorkomposition.

458*) <

Den

1__T__J=S?^

Tod - ten er

das

Le - ben gab-

Den Todten er das Le - - ben sab, d

1

ben gab, den Tod-

Den Todten er

das Le - ben

Den Todten er das Leben gab, den Todten erdas Le - - ben

i

3 tr

S=P=

ten er das Le

ben gab

gab, den Tod - ten er das Le - ben gab

m

gab, den Tod-ten er das Le-ben gab

hoch und gewichtvoll gegen den tief unten einsetzenden Bass. Dieser schwingt sich höher und näher, und da erst tritt der All vermittelnd, zuletzt erst der Tenor in seiner leidenschaftlichen Weise zu. Die ganze Komposition hat einen höhern und freiem Auf- schwung genommen, und zwar im Ganzen, wie in jeder einzelnen Stimme. Dies bedingt die nächste Strophe,

-cj-rJ— 4

*

_4 1

454 t

1^

und legt da-bei all' Krankheit ab, und legt da - bei all'

i

* Die Vorzeichnung bleibe ein- für allemal weg.

Digitized by Google

Die Choral figuration.

475

heit ab, all' Krank heit ab,

2 2

■xr

in der die Stimmen weit über den cantus firmus hinausgehn, so wie die folgende, in der sie demselben vortreten, und die vierte, die sie mit der fünften verbinden.

455

dass er für uns ge-opfert würd',füruns ge-op- fert würd', dasser für

I

uns ge-op -

fort würd', für uns

ge-op - fert würd',

i

trüg*

unsrer

für uns ge-op - fert würd', trüg' unsrer Sünden schwere Bürd\

i

un-srer Sün-den schwere Bürd'

1A 1 * * J> , ^

- t * =

Wie dann die letzte Strophe das Ganze wunderschön schliesst, kommt nebst allen nur erwähnten Strophen und den Zwischenspielen des Orchesters hier nicht weiter zur Betrachtung.

Digitized by Google

476

Die Formen der Chorkomposition

Verfolgen wir die Seile 473 angeknüpfte Uebersicht weiter, so finden wir

6) in der dritten (oben ausgelassenen) Strophe des zweiten Theiis die Stimmen dem canlus firmus vorangegangen,

7} die vierte und fünfte durch die Stimmen ohne Zwischen- tritt des Orchesters verbunden,

8) die Ordnung der Stimmeintritte mannigfach verschieden, üeberall herrscht diatonische Führung in den Stimmen vor, also das Motiv aus No. 441, wenn man diese einfachste und allgemeinste Bewegungsweise Motiv nennen will, üeberall wird sie ganz frei für den Ausdruck oder auch bloss für das Aussprechen des Textes gebraucht und wie man am entschiedensten bei den Ausgängen von No. 449, 450, 454 und bei der Strophenverbindung in No. 455 sieht zu den mannigfachsten Resultaten und Schlüssen gelenkt. Wie treflend fast überall das Wort hervorgehoben, wie reich das Musikalische sich zugleich mit dem Ausdruck des Textes entfaltet, wie erhaben und tief rührend sich das Ganze in innigster Wahrheit und Treue des Sinns ausgestaltet hat. wird Jeder von selbst fühlen und prüfen.

Hiermit ist nun, dürfen wir hoffen, der volle Anblick der wich- tigen Form gegeben. Sie ist, wie wir schon S. 466 gesagt, nicht bloss als Kunst form an sich, sondern als eins der vornehmsten Bildungs- mittel wichtig. Wie wir im Rezitativ lernten, eine einzelne Stimme zu musikalischer Rede zu bringen, so gilt es hier, zwei, drei Stimmen reden zu lassen (denn das, und nicht irgend ein Motivenspiel ist offenbar die Hauptsache), aber unter den schwierigen Bedingungen, die ein cantus firmus und die ihm nothwendige Mo- dulation dem freien Redefluss entgegensetzen. Daher ist es aller- dings nicht möglich, sich überall in voller, freier Kraft dem Ausdruck des Textes zu widmen ; es genügt aber auch, wenn dessen Haupl- mornente ihrer Bedeutung gemäss gefasst und im Uebrigen die Be- wegungen der Rede im Allgemeinen wiedergegeben werden. Dies, und nicht mehr, hat auch Bach nur gewollt und vermocht. Was dabei von dem vollsten Ausdruck des Worts, wie er nur im Rezi- tativ erlangbar ist, aufgegeben werden muss, ersetzt sich durch die festere liedmässige und damit musikalisch reichere Gestaltung der einzelnen Figuralmelodien und der Komposition in ihrer Ganzheit, die sonach gewissermaassen als eine Verknüpfung der rezitativischen und der Liedweise und zwar für das reiche Organ des Chors gelten darf.

Hiermit ist auch der einzige methodische Wink begründet, dessen es zu der Ausübung dieser Kunstform bedürfen kann.

Dass eine solche Komposition leichter und sicherer gelingt, wenn man sie erst in leichtem Entwurf arbeitet und dann ausführt, ist uns

Digitized by Google

Die Choral figuration.

477

schon bekannt. War ein solcher Entwurf schon bei abstrakten Figurationen rathsam, so ist er es noch mehr, wenn der Text zutritt und zugleich mit dem Musikalischen Beachtung fodert. Hier ist es kaum möglich, ohne Störung im Flusse des Entwurfs und damit in der Einheit der Komposition überall nicht bloss den Gang aller Stimmen, sondern auch noch die vollständige Textstellung sofort festzuhalten. Es gentigt aber auch, die Stimmen redend einzu- führen und hier und da ein bedeutungsvoll hervortretendes Wort wie früher ein Motiv oder sonst eine entscheidende Wendung fest- zusetzen, oder bei einer schneller mit dem Text zu Ende gekommnen Stimme (oder bei weiterer Ausdehnung Uber den cantus fimius hinaus) die Wiederholung des Textes oder eines Textabschnittes anzudeuten. So könnte z. B. die erste Strophe des Lutherliedes so

=j

456

Ein' fe - ste

Ein' fe

ein' fe -

Loja

*

,-frS j -

t

2£F

ein' fe - ste

ein

ein* fe

ein' fe-ste Burg

entworfen werden; ohne Sorge um die in Noten und Text befind- lichen Lücken, die vielleicht in dieser Weise

457

IE

5

m

m

ein' fe

Sli

1

ste

Burg

ist

p # r

U U ^

Ein' fe-ste Burg ist un-scr Gott, ist un-ser Golt,

Ein' fe - ste Bur» ist un

ser Gott,

3

Ein' fe

ste

Burg

ist

y Google

478 Die Formen der Chorkomposüion.

ü ! m ö

|/ r r

11 un - - - ser

4^Mt / = =s*>3 :

ist un - ser, un - ser hrr& w -f ■■ 5 b

f— - -

ist un - ser, un - ser

H J n p P

un - ser, un - ser

sich, wenn auch mit ein Paar Abweichungen vom Entwurf, aus- füllen Hessen. Dass das diatonische Motiv aus den vorhergehenden Betrachtungen in dies kleine Fragment übergegangen, ist wie dessen innerer Werth gleichgültig; es sollte nur den einzig nöthigen Fingerzeig für die Weise des Entwerfens und Ausführens geben.

Zweiter Abschnitt. Der Text zu einer einfachen Fuge.

Wie früher, so führt uns auch hier die Choralfiguration zur Fuge. In jener ist der Choral, in dieser ist das Thema der feste Gedanke, aus dem und um den sich die Komposition gestaltet.

Dieses Thema war bei der abstrakten Fuge und ist bei allen Instrumental fugen durchaus unsrer freien Erfindung oder Wahl anheim gegeben. In der Singfuge muss es, wie sich von selbst begreift, vom Text angeregt werden, es setzt das Thema sowohl, wie die ganze Singfuge einen Text voraus, der in ihr Musik werden und zwar Fugengestalt gewinnen soll.

Folglich muss umgekehrt ein zur Fugenkomposition bestimmter Text auch für dieselbe geeignet sein, wofern wir nicht bei seiner Behandlung in mancherlei Unannehmlichkeiten gerathen oder schei- tern sollen. Die nächsten Aufklarungen giebt uns die Anschauung der Form selbst.

Die einfache Fuge hat bekanntlich ein Thema und ausser ihm einen Gegensatz nöthig, der aber schon aus dem Thema selber genommen sein kann. Ausserdem kann in den Zwischen- sätzen und am Schlüsse noch ein neues Motiv, ein neuer Satz

Digitized by Google

De?* Text zu e/wer einfachen Fuge.

479

eingeführt werden ; dies ist aber keineswegs nöthig, es muss viel- mehr als Ausnahme gelten und einer Fuge, die ihren ganzen Inhalt aus dem Thema allein, oder aus Thema und Gegensatz gewinnt, der Vorzug grösserer Einheit beigemessen werden.

Das Thema der Fuge ist, wie wir ferner wissen, deren Haupt- gedanke, derjenige, aus dem und um desswillen die ganze Kompo- sition entsteht, muss also vor allem ein bestimmter, also in sich selbst abgeschlossner und für sich redender, für sich selbst verständ- licher sein, das heisst: er muss nach Inhalt und Form ein Satz oder eine Periode sein.

Ausserdem begehren wir von ihm mit Recht eine Wichtig- keit, die es werth erscheinen lasse, der Kern einer ganzen Kom- position zu sein, und endlich eine Ausdehnung, die es weder zu kurz vorübergehend, noch zu umständlich für seine Bestimmung erscheinen lasse.

Dies sind die uns schon bekannten Haupterfodernisse desFugen- thema's. Hiernach lassen sich die Erfodernisse des Fugentextes mit Sicherheit erkennen. Wir müssen dabei , wie bei der Fuge selbst, unterscheiden, ob das Thema also der Text desselben alleiniger Inhalt der ganzen Fuge sein, mithin auch den Stoff zu Gegen- und Zwischensätzen geben soll, oder ob ausser ihm noch anderweite Motive oder Gedanken für Gegen- und Zwischen- sätze herbeigezogen werden. Auf diesen zweiten Fall kommen wir zuletzt.

4. Inhalt und Form des Textes für ein Fugenthema.

Das Nächste, was wir vom Text für ein Fugenthema ver- langen, ist: dass er einen bestimmten, in sich geschlossnen Gedanken ausspreche, der nach Kraft und Gestalt zu einem Thema werden könne, zum Vereinigungs- und Mittelpunkte für einen Chor und zur Hauptidee einer Fuge. Auch hier werden wir wieder an die Bibel gewiesen, die uns die glücklichsten Aufgaben zur Ausführung, oder Vorbilder zur Nachbildung darbietet. Sätze wie

Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, Gross sind die Werke des Herrn, Wohl dem, der den Herrn fürchtet,

(Ps. 38, 2, Ps. 4 4 4, 2, Ps. 4 42, 4) entsprechen nach der in ihnen ausgesprochnen oder für sie voraussetzlichen Stimmung und nach ihrer festen Abgeschlossenheit sofort der Vorstellung, die wir von einem Thema bereits mitbringen. Dasselbe gilt von diesen Sätzen,

Herr, ich traue auf dich; lass mich nimmermehr zu Schanden werden, Ich hoffe auf den Herrn, darum werde ich nicht fallen,

(Ps. 74, 4, Ps. 29, 4}, die durch ihre zwei Glieder vielleicht periodische Gestaltung veranlassen würden.

Digitized by Google

480

Die Formen der Chorkomposüion.

Andern Sätzen fehlt bald die feste Abgeschlossenheit ihres In- halts, z. B. Ps. 57, 2, Ps. 56, 2, Ps. 74, 5

Sei mir gnädig, Gott, sei mir gnädig; denn auf dich trauet meine Seele, und unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis dass das Unglück vorübergehe,

Gott, sei mir gnädig, denn Menschen wollen mich versenken ; täglich streiten sie und ängstigen mich,

Denn du bist meine Zuversicht, Herr, Herr, meine Hoffnung von meiner Jugend an,

(abgesehn von manchem nicht Tongemässen in ihnen), bald ist schon die Form der Abfassung und zwar besonders die Fragform, z. B. Ps. 74, I,

Gott, warum verstössest du uns so gar?

wegen ihres unfesten, in sich unbefriedigten Abschlusses der Ueber- tragung auf ein. Fugenthema ungünstig.

Wir haben oben mit Recht verlangt, dass der Text, wie das Thema der Fuge, ein für sich abgeschlossner Satz sei, also vor allen Dingen für sich selbständigen Sinn gebe. Diese Foderung bedarf, sobald wir bei der Vorstellung einer für sich allein stehenden Fuge beharren, keiner weiteren Rechtfertigung. Sobald aber die Fuge nur Theil eines grössern Ganzen ist, kann ihr Thema gar wohl an einen Satz geknüpft, ein Satz ihr zum Thema werden, der nur in Bezug auf etwas Vorausgehendes seine volle Verständlichkeit und Bedeutung gewinnt. Wenn z. B. Händel in seinem Messias die Worte

Durch seine Wunden sind wir geheilet,

oder in seinem Israel die Worte

Sie konnten nicht trinken das Wasser, denn der Strom war verwandelt in Blut

für eine Fuge benutzt, so kann allerdings keiner dieser Sätze ohne

die vorausgehende Mittheilung, dass der Heiland es sei, durch

den wir unser Heil finden sollen, dass der Strom der Aegypter zu

ihrer Plage verwandelt sei, vollkommen verstanden werden.

Allein diese Vorausschickung ist ja erfolgt; und sie vorausgesetzt,

geben die Texte einen genügenden und für die sie Bekennenden

oder Aussingenden bedeutsamen Sinn.*

Hiermit findet auch ein öfters, unter andern von Gottfr. Weber gegen einen Theil des Messentextes angeregtes Bedenken seine Erledigung. Sehr häufig und so auch in Mozart's Requiem sind die Worte Quam olim Abrahae promisisti et semini ejus zu einem Fugenlhema benutzt, durchfugirt worden. Allerdings geben sie für sich allein keinen Sinn, sie sagen nicht, was ver- sprochen ist und wer versprochen hat. Allein aus dem vorhergehenden Text wissen wir, dass es die lux sunt ta oder vita aeterno ist, die Gott seinem Volke verheissen hat ; und dies vorausgesetzt, giebt der Fugentext einen nicht bloss verständlichen, sondern für die, die auf Erfüllung der Verhe issung hoffen, auch anregenden, beherzigenswerthen Sinn. Es kommt dazu, dass die Komponisten

Digitized by Google

Der Text zu einer einfachen Fuge. 481

2. Ausdehnung des Textes für ein Fugenthema.

Schon bei der rein musikalischen Erwägung des Fugenthema's mussten wir zu weite Ausdehnung ablehnen, konnten uns aber allerdings einem bloss äusserlichen Messen nicht unterwerfen, ein äusserliches Gesetz, wie lang das Thema sein müsse oder nicht sein dürfe, weder geben noch anerkennen. Dasselbe Verhältniss tritt bei dem Fugentext ein.

Wir können sehr leicht aussprechen : ein Fugentext müsse lang genug sein, um einem Fugenthema zur Grundlage zu dienen, und nicht so lang, um zu einer ungünstigen Ausdehnung des Thema's zu nöthigen. Den allgemeinen Grundsatz wird man für wahr aner- kennen müssen, aber zugleich für unzulänglich. Denn es fehlt ihm nicht nur jede nähere Bestimmung und muss ihm fehlen, weil es kein absolutes äusserliches Maass für das Thema (Th. II. S. 244) giebt; sondern es kann durch die Behandlung des Textes, wie wir gleich sehen werden, ejnem an sich selber ungünstig oder un- brauchbar erscheinenden Texte gar viel abgewonnen werden.

Sehr oft ist das eine Wörtchen

Amen !

oder sind die Gebetrufe

Kyrie eleison, Christe eleison, Halleluja,

fugirt worden, die freilich in nackter Uebertragung nur zwei, vier, sieben Noten ergeben würden, die aber, wie man sogleich sieht, im »Singe na (S. 461) oder durch Wiederholung zu genügender Tongestalt man betrachte nur das Amen-Thema am Schlüsse von Händel's Messias

458

A men, a men

ausgeführt werden können. Auf der andern Seite haben sich auch sehr umfassende Texte behandelbar erwiesen, z. B. der nachstehende, ebenfalls aus dem Messias.

«• lg r i p p I fz^-r-yjr^^tx^^i

Er trau-e-te Gott, der hei - fe ihm nun aus, und der er-

ret - te ihn, hat er Ge - fall'n an ihm.

hier einer gewichtigen Kunstform zum Abschluss eines Abschnittes der Messe bedürfen und jenen Satz gern dafür benutzen, da es nicht unstatthaft erscheint.

Marx, Korap.-L. III. 5. Aufl. 34

Digitized by Google

482

Die Formen der Chorkomposition.

Hiermit haben wir nun die Erfodernisse des Fugentextes im Allgemeinen in das Auge gefasst, uns aber auch wieder über- zeugt, dass erst das tiefere Eingehen, die Prüfung jedes einzelnen Textes genügende Belehrung und Förderung verspricht. Daher treten wir denn aus dem abstrakt-Theoretischen wieder auf den Standpunkt des Komponisten.

Nicht immer soll meistens kann nicht der zur Fugenkomposition ausersehene Text alleiniger Inhalt der Fuge sein, so wenig wie in den abstrakten Uebungen oder der Instrumental- komposition das Thema mit seinen Motiven jedesmal den Inhalt für die ganze Komposition hergeben kann und soll. Vielmehr finden wir die Mehrzahl der Texte, die zur Fugenkomposition veranlassen, entweder zu ausgedehnt, oder mit Vor- und Bei- sätzen verbunden, die zwar nicht zu entbehren, doch aber nicht so eng mit dem Hauptgedanken verbunden sind, dass sie mit jenem in das Fugenthema treten müssten. Alles nun, was vom Texte nicht auszuscheiden, aber auch nicht für das Fugenthema selbst zu gebrauchen ist, findet seine Anwendung

1) im Gegensatze,

2) in den aus Thema und Gegensatz sich entwickelnden Zwischensätzen,

3) in besondern, zur Fuge selbst gar nicht gehörigen Ein- leitungs-, Schluss- und fremden Zwischensätzen.

Betrachten wir z. B. den nachstehenden, aus Psalm 38, 22 ge- nommenen Text:

Verlass mich nicht, Herr, mein Gott, sei nicht ferne von mir,

so könnte derselbe seiner Ausdehnung nach gar wohl vollständig in das Fugenthema treten, man könnte ihn vielleicht so

460 (Alt) jer "

ftefft. j J Ig LflJL aj \ g|C;g cp^p

Verlass mich uicht, Herr, mein Gott, sei nicht fer - ne von mir, sei nicht lass mich nicht

fer - ne von mir, Herr

setzen. Sollte die Stimmung eine leidenschaftlichere sein , so würde schon das Thema gedrängtere Gestalt annehmen müssen, und dann wär' es ralhsam, schon den Text zu theilen, seinen zweiten Abschnitt für den Gegensatz zu bestimmen; es könnten z. B. Thema und Gegensatz sich folgendermaassen

Digitized by Google

461

m

Der Text zu einer einfachen Fuge.

(AH.)

483

(Tenor.) .

r,. f ff

Ver - lass mich nicht, Herr, mein

Ver-lass mich nicht, Herr, mein Gott, sei nicht fer-ne von Ver - lass

Gott, sei

iott,

nicht fer - ne

mir, sei

nicht fer - ne

gestalten. Diese Auffassung ist auch für den Text die schärfere und energischere, da dessen zweite Hälfte nur die schwächere Wiederholung der ersten ist.

Hier hing es von uns ab, wie wir den Text auffassen und vertheilen wollten ; in andern Fällen tritt die Nothwendigkeit einer Eintheilung schärfer hervor. So im Psalm 417:

1. Lobet den Herrn, alle Heiden;

2. preiset ihn, alle Völker!

3. Denn seine Gnade und Wahrheit waltet Uber uns in Ewigkeit, Halleluja !

Hier versteht sich von selbst, dass schon nach äusserem Maasse nicht der ganze Text Fugenthema werden kann. Prüfen wir ihn näher, so findet sich, dass er wenigstens aus zwei wohl unter- schiednen Partien besteht; die erste (mit 1., 2. bezeichnete), die den Aufruf zum Lobgesang, die andere (mit 3. bezeichnete) , die das von Gott hier Gepriesene oder zu Preisende, den Grund zum Lob- gesang, enthält. Die erste Partie zerfällt ferner, wie die Nummern andeuten, abermals in zwei denselben Gedanken wiederholende Ab- schnitte. Von der andern Partie ist aber ebenfalls der Jubel- oder Feierruf »Halleluja« auszuscheiden; ja, wir können, sobald wir wollen, auch noch die Worte »in Ewigkeit« vom Hauptsatze trennen, ohne dessen Sinn zu stören oder wesentlich zu beeinträchtigen. Wie sollen wir nun diesen Text behandeln ? Wir werden die erste Partie als blosse Einleitung zum Hauptsatz aufzufassen haben ; der Kern des Hauptsatzes

»Denn seine Gnade und Wahrheit waltet über uns in Ewigkeit«

31*

Digitized by Google

484

Die Formen der Chorkomposition

wird Fugentheina werden, der Ausruf »Halleluja« wird Gegensatz und Zwischensatze, vielleicht auch bloss einen Anhang bilden ; vom Hauptsätze selbst können wir nach Umständen die Worte »in Ewigkeit«, ja sogar den ganzen Schluss, »über uns in Ewigkeit«, loslösen und in den Gegensatz statt in das Thema stellen.

Aehnlich verhält es sich mit dem Sanctus (Jes. 6, 3),

1. Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth,

2. alle Lande sind seiner Ehre voll !

in dem die mit \ . bezeichnete Partie sich als Einleitung zu der mit 2. bezeichneten darstellt. Die letztere ist, da sie das Bestimmtere aussagt, oder wenigstens die weitere und schliessen de Ausführung der ersten giebt, als Hauptsatz oder wenigstens als Beschluss und insofern Befriedigung des Ganzen anzusehn und kann Fugenthema werden. Im Messentext folgt übrigens noch das Osanna in excelsis und wird zur Fugirung benutzt.

Es muss einleuchten, dass auch hier das Studium und die Auf- fassung, die erste Einrichtung des Textes von entscheidender Wich- tigkeit sind. Allerdings lassen viele Texte, wie unsre Beispiele selbst schon zeigen, mehr als eine Auffassung und Einrichtung zu; allein daraus folgt keineswegs, dass jede gleichbedeutend und dass jede richtig sei. Was man auch von jenen in No. 460 und 461 aus dem Stegreif gegebnen Auffassungen der Worte ;

Verlass mich nicht, Herr, mein Gott, sei nicht ferne von mir,

und

Verlass mich nicht, Herr, mein Gott, als Fugentheniate urtheilen und wie man sie auch anders komponiren möge (vorausgesetzt, dass man nicht absichtlich die eine stärkt, die andre schwächt, sondern ehrlich und unbefangen sich dem Wrort- gehalt und der Stimmung überlässt) : immer wird der breitere Text zu einem fliessendern und beweglichem, der enger zusammengefasste zu einem schärfern und energischem Thema führen und es wird keines von beiden absoluten Vorzug behaupten können ; jenachdem die Stimmung und der Sinn des ganzen Werks sich erweisen, wird das eine oder das andre das rechte sein. WTelche Kräfte man auch zur Komposition mitbringe, stets wird bei der Auffassung des \ 17. Psalm (S. 483) die zweite Partie Hauptsatz und wenn eine Fuge eintreten soll Fugentext werden müssen. Wollte man es umkehren, so würden erstens die allgemeinem Aeusserungen der ersten Partie keinen prägnanten Anlass zu einem Thema, das heisst zu einem bestimmten und durch Bestimmtheit karakte- ristischen und wichtigen Kernsatze, geben; zweitens würde der Text zum Thema durch Spaltung in zwei Dasselbe aus- sprechende Abschnitte unkonzentrirt erscheinen und die energische Komposition eines einheitvollen Thema s wenn man dem Sinn der

ed by Google

Der Grundbegriff der einfachen Singfuge.

485

Worte nicht abfallen will hindern; drittens würde der be- stimmtere, der eigentliche Hauptgedanke aus dem Hauptsatze der Komposition, aus der Fuge verdrängt und könnte nur zu einem An- hange, gleichsam zu einem Schlusssatze für die Hauptpartie (S. 484) benutzt werden, hier aber nicht zu gebührender Beherzigung kommen. Diese Ausführung bestärkt sich, wenn man des Grundgedankens der Fuge sich erinnert : dass ein wichtiger Gedanke zuerst von Einem aufgefasst wird, dann einen Zweiten, Dritten, nach und nach Alle ergreift. Allgemeine Gedanken, wie unser »Lobet den Herrn«, sind Gemeingut Aller, liegen in eines Jeden Sinne schon reif und bereit; sollen sie zum Ausspruch kommen, so ist es ihrer Natur gemäss, dass Alle gleichzeitig oder im schnellsten Aneinanderschliessen sie bekennen. Der besondre Gedanke dagegen wird seiner Natur nach erst von irgend Einem erfasst und ausgesprochen, und geht dann von diesem auf Andre und Alle über. Dies ist aber der Sinn der Fuge.

Dritter Abschnitt. Der Grundbegriff der einfachen Singfuge.

Nach der Verständigung über den Text und nachdem wir die Fugenform längst im Abstrakten kennen gelernt, bedarf es wieder nur allgemeiner Betrachtungen und einzelner Fingerzeige für die Singfuge. Es wird hierbei die etwaige Einleitung derselben , die Unterbrechung durch fremde Zwischensätze und die Zuziehung von Instrumentalbegleitung ganz bei Seite gelassen. An der Stelle der Letztern werden wir nur in gewissen Fällen eines gehenden Basses {basso continuo) bedürfen.

Die Singfuge nun bietet zwei Seiten : einmal insofern sie eine Form ist, in der ein bestimmter Text zu musikalischem Ausdrucke kommt; dann als Musikstück, das schon als solches vermöge seines musikalischen Inhalts auf uns wirkt. Beide Seiten müssen nothwendig mit einander vorhanden sein; doch kann bald die eine, bald die andre vorwalten. Sonach hat die Singfuge zwiefache Bestimmung an sich und kann bald der einen, bald der andern zugeneigter sein. Sie kann erstens ihrem eigenthüm- lichen Sinne gemäss angewendet werden als eine Kunstform, in der sich dieser bestimmte Gedanke, das Thema, oder vielmehr der Sinn des Textes, der die Fugenform um seiner selbst willen, nach seiner eignen Bedeutung erfodert, angemessen ausspreche. Oder sie kann zweitens als eine bedeutende und bei beliebig weiter

Digitized by

466

Die Formen der Chorkomposition.

Ausarbeitung doch stets einheitvolle Form verwendet werden, als ein durch seinen musikalischen Inhalt wirkendes Ton stück , das um seiner selbst willen da ist, oder auch, zu kraftvoll befriedigendem Abschluss eines grössern Werkes oder Theiis eines solchen dienen soll. Dieser Unterschied ist, wie wir bald erkennen werden, ein entscheidend einflussreicher, und wir dürfen ihn nicht aus der Aoht lassen. Gleichwohl werden wir die aus ihm hervorgehenden zweierlei Gestaltungen öfters ihre Stelle wechseln sehn, bisweilen aus Grün- den, die im besondern Werke liegen, bisweilen nach dem Lauf alier menschlichen Dinge mit Unrecht.

A. Die redende Sing fuge.

Wir betrachten zuerst die Singfuge von der erstem Seite, in der sie ihre ursprüngliche und reine Bestimmung zu erfüllen, ihren Textgedanken tonkünstlerisch auszusprechen hat. Nach dieser Seite nun , ohne alle äussern Rücksichten auf den Zusammenhang eines grössern Werks , auf Vorliebe für die bei aller Einheit so weit ausführbare Fugenform u. s. w., hat die Singfuge zunächst nur den einen Zweck : das Thema , nämlich den dem Thema zu Grunde liegenden Text, musikalisch auszusprechen, und zwar nach einander in allen Stimmen zur Sprache zu bringen und durch den aus ihm, oder zu ihm sich ergebenden Gegensatz in das rechte Licht zu stellen. Daher der ihr oben gegebne Name, der sie nur im Lehrgange unterscheiden soll.

Nach diesem ihrem Sinn ist ihr erstens und vor allem ein geeigneter Text von gedrungener Wichtigkeit nöthig.

Daher ist die zweite Aufgabe die, diesen Text in seiner Tiefe und vollen Kraft zu erfassen und zum Fugenthema zu gestalten. Je treffender im Ganzen und in jedem Zuge das Wort in Musik über- gegangen, je weniger ein Wort des Textes in seiner Bedeutung verloren gegangen, eine Note oder ganze Motive bedeutungslos, also nicht bloss Überflüssig, sondern hemmend und verdunkelnd ge- setzt worden : desto kräftiger und befriedigender ist das Wort in seinem Hauptgedanken begründet.

Ein in solchem Sinne gebildetes Thema wird jederzeit ein redendes sein, das heisst eine getreue und tiefe Auffassung und Uebertragung des Text-Gedankens in Musik, nicht bloss eine mehr oder weniger interessante oder allenfalls die allgemeine Stimmung in eben so allgemeinen Zügen andeutende musikalische Phrase. Es wird aber ferner ein plastisches, ein festgestaltetes sein, das heisst nicht eine in rezitativischer Freiheit auf Töne gebrachte Dekla- mation der Wrorte (was bekanntlich nicht einmal für das Rezitativ in seiner höchsten Bedeutung genügt) , sondern bei aller Treue für das einzelne Wort und bei aller Energie in der Aussprache des-

Digitized by Google

Der Grundbegriff der einfachen Singfuge. 487

selben zugleich ein fest ausgebildeter, in seinem Gesammtwesen dem Sinn des Textes in seiner Ganzheit entsprechender oder vielmehr gleichbedeutender, ihn zum wirklichen und erhöhten Leben bringen- der Musikgedanke.

Es mag zugestanden sein, dass diese zwiefache Foderung sich nicht so hantig erfüllt sieht. So hohe Erfüllung kann nur dem durchgebildeten und von seinem Gegenstande ganz erfüllten Künstler zu Theil werden. Allein dies sind eben wie oft man auch Eins oder das Andre misse oder vergessen und leugnen wolle die un- erlässlichen Bedingungen künstlerischen Voll-Gelingens; und der in sich begründeten Foderung lässt sich nichts abdringen aus äusser- licher Rücksicht auf den hier oder dort fühlbaren Mangel des ein- zelnen Künstlers, oder einzelner Werke.

Wohl darf schon das in No. 459 mitgetheilte HändePsche Thema ein entsprechendes beissen. Hart und düster wirft es in seiner entsprechenden Tonart das »Er trau- ete Gott« hin, über das letzte Wort scheu und trotzig-schnell weggehend zu dem hämisch ab- brechenden zweiten Gliede »der hel-fe ihm nun aus«, dann heraus- fodernd und pochend auf das »und der er-ret-te ihn« und dann verachtungsvoll ruhig zurückgehend. Ein verwandter Sinn spricht sich in diesem Thema von Bach aus.*

Sie ha - ben ein har-ter An- ge - sieht denn ein Fels, und

j

wol - len sich nicht be - keh - ren.

Die Tonart ist G moll. Ernster und kälter setzt sich das Thema auf der Unterdominante, schlägt bei dem »här-ter«, wie in Un- willen zurückgewendet, hinunter auf die Terz des neuen Dominant- akkordes (vielmehr in den gepressten verminderten Dreiklang, so dass die angedeutete Harmonie, das Abfallen der Tonrichtung, die kleine Quinte der Melodie, die Unaufgelöstheit des c mit dem zurück- kehrenden Gmoll zusammenwirken zu dem Einen Ausdruck der unwilligsten und doch mitleidvoll theilnehmenden Missbilligung), zieht das »denn « zaudernd nach und wirft dann das strafende Vergleichs- wort »Fels« hart und schroff, wie der felsharte Sinn ist, hin. So schlagend hier jedes Wort hingestellt ist, ganz eben so treffend trödelt und schlendert die Melodie bei dem »und wollen sich nicht bekehren« hinab und zu Ende, oder vielmehr ohne deutliches

* Aus der bei S i m r o c k in B o n n herausgegebenen Kirchenmusik : »Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben«.

Digitized by Google

4SS

Die Formen der Chorkomposition.

Ende in den Gegensatz hinein, wie eben das in Gleichgültigkeit und Engherzigkeit verdrossen hinschlendernde Wesen der Glaubens- und Liebeleeren.*

Ist nun das Thema in Fülle der Wahrheit ausgesprochen, so ist damit zugleich der Hauptgedanke und Hauptinhalt des Ganzen in einer Kraft und Klarheit hingestellt, die nur in einer Gesangkom- position, nur in dem Zusammenwirken von Wort und Ton von dem klar und schnell bestimmenden Wort und der ausfüllenden und auslegenden Musik erlangbar, jeder Instrumentalwirkung an Schnellkraft und Sicherheit der Wirkung durchaus Uberlegen ist.

Hier knüpfen wir nun die dritte und wie uns scheint wich- tigste Bemerkung an ; die wichtigste, weil wir sie nicht ohne Opfer an dem, was wir in der Fugenkunst bereits errungen und lieb- gewonnen, bethätigen können. Wir gehen dabei von einem allge- meinen Grundsatz aus, der sich schon in mannigfachen Gestalten gezeigt und bewährt hat.

Je inniger das Gemüth von irgend einer Empfindung oder Vor- stellung ergriffen ist, desto fester hält es an derselben, desto ent- schiedener hält es alles Andre als üeberüüssiges oder Störendes sich fern. Und eben so : je tiefer wir wirken wollen, desto mehr müssen wir unsre Wirkungskraft auf Einen Punkt beschränken, damit das Gemüth des Andern von diesem einen Moment und von gar nichts weiterem berührt und erfüllt werde. Auf diesem einen (nur von zwei Seiten festgestellten) Grundsatze beruht die Lehre vom Festhalten des Motivs und die Form der Fuge selber.

In der Fuge nun, auch in der am weitesten ausgeführten, ist und bleibt allerdings das Thema Hauptgedanke. Aber es bleibt nicht der einzige Gedanke. Vielmehr tritt ihm, je weiter die Fuge sich ausdehnt, immer mehr und mehr Anderes als Gegensatz und Zwischensalz gegenüber, es treten Engführungen, Verkehrungen, Orgelpunkt u. s. w. auf, die zum Theil das Thema selber in sich begreifen, aber doch zum andern Theil auch Fremdes oder neue Beziehungen und Verhältnisse des Thema's. Dies alles ist erst der volle Inbegriff der Fuge und Vieles davon oder sogar Alles kann möglicherweise in einem einzelnen Kunstwerke zur Sache gehören. Gleichwohl wissen wir, dass die geistige Vollkommenheit eines Kunstwerks nicht von seiner materiellen Ausdehnung abhängt, dass der Werth einer Fuge nicht durch die Zahl ihrer Durchführungen bedingt wird, dass es nicht erfoderlich, nicht einmal ausführbar ist, in einer einzigen Fuge alle Beziehungen ihres Thema's** zu geben,

* Aehnliche Vorbilder sind gelegentlich im Th. II gegeben und mehrere in den Werken der Meister, besonders Seb. Bachs, zu finden.

** Vogler hat in seiner Fugenkunst eine Art von Modell-Fuge gegeben, die Alles enthalten soll und doch nicht enthält; abgesehen davon, dass sie an dem Streben nach Allumfassen auseinandergegangen ist.

Digitized by Google

Der Grundbegriff der einfachen Sing fuge. 489

alle Wendungen und Gestalten der Fugenform zu erschöpfen. Ueberall bildet die besondre Idee des Kunstwerks einen abgeschlossnen Kreis von Gestalten um sich her, in dem sie ihren genügenden Ausdruck findet; was darüber geschieht, ist überflüssig, also belästigend, erschöpfend, störend.

Nun zur Sache zurück.

Die Singfuge bedarf eines weit weniger ausge- dehnten Kreises, um ihre Aufgabe zu erfüllen, als die abstrakte oder Instrumentalfuge. Denn schon ihr Thema spricht mit Hülfe des Textes seinen Inhalt, also den Hauptinhalt der Fuge selber, ungleich entschiedner aus, als das wortlose Thema der nicht gesungenen Fuge. Folglich bedarf es nicht so zahlreicher Wiederholungen, als das Thema der Instrumental fuge.

Ist also die erste Durchführung der Singfuge gesetzt, so ist weit mehr geschehen oder erreicht, als in der Instrumentalfuge am gleichen Punkt. Erkennen wir nun, dass nach dieser ersten Durch- führung keine weit ausgeführte Arbeit, keine grosse Reihe von neuen Durchführungen stalthaben wird, so bedarf es keiner umständ- lichen Abschliessung des ersten Theils, wie wir der Grundform zufolge in den abstrakten und Instrumenlalfugen rathsam fanden. Beschränkt sich die Zahl der Durchführungen, so bedarf es ferner keiner so ausgedehnten Modulation, folglich auch keines oder keines ausgeführtem Orgelpunkts, dessen Halteton ohnehin über lebende Stimmen unlöbliche Todtheit ver- breitet, der Lebendigkeit des Gesangs und dem Sinn der Sprache gleichmässig zuwider ist, und ferner wird weder Notwendigkeit noch selbst Raum für zahlreiche besondre Gestaltungen (man- nigfache Engführungen, Durchführungen in der Vergrösserung und Verkleinerung u. s. w.) vorhanden sein. Ja, manche dieser Ge- staltungen, z. B. die Verkehrung, wird sich in Rücksicht auf den richtigen Ausdruck des Textes oft unanwendbar zeigen.*

* Oft, nicht immer. Das sehen wir an dem ersten Satze von Seb. Bachs sogenannter Gdur-Messe, der bekanntlich einer Kirchenmusik angehörig war. Dieser Satz ist eine Tripelfuge, deren erstes Thema

»63 ^hf^fH^lj-l^-^^ßf^^^

Sie - he zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heu che - Iei sei.

zugleich in rechter und verkehrter Bewegung

*

jgll§ I -T^Stff^

Sie -he zu, dass deine Gottes-furcht nicht Heu - che-lei sei.

benutzt wird. In jeder er beiden Wendungen wird das Wort des Textes in einem andern Sinn und jedesmal vollkommen wahr ausgesprochen.

Digitized by Google

490

Die Formen der Chorkomposition.

Allerdings lässt sich nicht durch eine allgemeine Regel festsetzen, wie weit eine Singfuge sich erstrecken dürfe, ob sie gewisse be- sondre Gestaltungen, z. B. die Engführung, aufnehmen müsse oder nicht benutzen könne. Von der Verirrung und von dem Be- dürfniss solcher äusserlichen Gesetzgeberei sind wir nun wohl entbunden. Allein dabei fehlt es nicht an einem berathenden geistigen Prinzip. Dies finden wir im Grundgedanken der Fuge.

Ihm zufolge kommt es zunächst darauf an, dass das Thema in voller Kraft und von allen Stimmen nach einander ausgesprochen werde. Ist dies geschehn, so ist eigentlich die Idee der Fuge im Wesentlichen verwirklicht. Hat eine Stimme das Thema noch nicht in voller Kraft (z. B. in der günstigsten Stimmlage) ausgesprochen, oder ist in besondern Umständen Veranlassung gegeben: so mag diese Stimme das Thema noch einmal bringen. Ist die gesammte Durchführung noch nicht genügend, das Thema befriedigend zu zeigen, oder ist, z. B. nach ausgeführtem Gegen- und Zwischensätzen, eine nochmalige Befestigung im Hauptton veran- lasst, — oder fodert der Inhalt der ersten Durchführung und des ihr anhängenden Zwischensatzes gesteigerten, eifervollen Fort- gang: so kann zu einer zweiten Durchführung, zu einer Eng- ftthrung u. s. w gegründeter Anlass sein. Aber je tiefer das Thema gefasst, je energischer es behandelt worden, desto weniger wird es einer breiten Ausdehnung bedürfen ; und je konzentrirter sich das Ganze bildet, desto energischer wird es wirken.

Daher finden wir in der That die energischsten Fugengebilde der Meister auch am engsten zusammengehalten ; sie schränken sich selbst auf eine einzige Durchführung ein (man mag sie dann Fugato's nennen) , weil Wort und Ton sich bereits da in vollster Kraft ausgesprochen haben und alles Weitere nur nutzlose, verwildernde oder ermattende Dehnung sein würde. Dies ist schon früher (Th. II. S. 321) an Seb. Bach's Fugensatze

Lass ihn kreuzigen!

in der Matthäischen Passion nachgewiesen worden, der sich auf eine einzige Durchführung, Bass, Tenor, Alt, Diskant und abermals Diskant, beschränkt. In gleicher Weise bildet sich ein andrer Fugensatz aus demselben Werke

Sein Blut komme über uns und unsre Kinder!

aus einer einzigen Durchführung mit Wiederholung des Thema's im Bass und Diskant. In diesem merkwürdigen Satz kommt aber- mals zur klarsten Anschauung, wie es dem rechten Künstler nur um volle Erfassung des Moments, um treueste objektive Wahr- heit zu thun ist. Jener Gedanke der Selbst Verwünschung muss

Digitized by Google

Der Grundbegriff der einfachen Singfuge.

491

vom ganzen Volke bekannt werden, das heisst von Stimme zu Stimme gehn, also Fugenform haben. Allein die höchste Aufregung widerspricht der Allmählichkeit, in der sich in der Fuge erst eine Stimme ausspricht, dann zwei, allmählich alle. Im wilden Ge- tümmel brechen alle Stimmen mit einander los,

Sein Blut kom

me

ber

ü-ber uns und un - sre Kin-

465 1

Sein Blut kom - me

1 i i

Sein Blut kom - me ü

ber uns und un - sre

uns und un-sre Kin -

mm

5 ...

der, sein Blut kom - me ü ber uns

der, sein Blut kom - me ü - ber uns und un-sre Kin-

" r r r < ' r Dl *

Kio-der, ü-ber uns und un-sre Kin - der, un-sre Kin - der.

und es mag im ersten Anlauf zweifelhaft bleiben, dass hier im Gedräng von vier leidenschaftlich anstürmenden Stimmen der Anfang einer Fuge gegeben und der Satz des Basses wiewohl er doch als der gewichtvollere und fester gebildete (besonders gegen die Ober- stimmen) erscheint ein Fugenthema sein soll ; aber schon kehrt dieser Satz im dritten Takt als Antwort des Tenors wieder, von den Bratschen geführt und von den Flöten in der höchsten Oktave verstärkt. Nun sollte man den Alt auf den Stufen des Basses und den Diskant auf denen des Tenors erwarten. Aber was im Bass als Grundstimme mächtig war, würd' im Alt nur still erklingen. Der Diskant Übernimmt den Führer, dass er in der Höhe wild er- klingt, der Alt antwortet in der Unterdominante.

Digitized by

492

I

466 <

Die Formen der Chorkomposition. der! Sein

jg j-

Blut kom - me

uns und un-sre Kinder, ü - ber uns und un - sre Kin - - - Kin-der, ü-ber uns und un-sre Kin - -

4 \ i-r^F^-

der, sein Blut

kom

ü - ber uns und un-sre Kin-der, ü-ber uns und un -

der !

- der, un

f

5

Sein

sre Kin

Blut kom - me der,

sein

l

uns und un-sre Kin - - der, ü - ber uns

und un-sre

Nach einem kleinen Zwischensatze giebt noch einmal der Bass, von e nach h schlagend, und zuletzt der Diskant (also beide Aussen- stimmen) in der vorigen Lage das Thema, es bleibt bei dem. was gesagt ist! steigert sein letztes Motiv auf g und auf a, und dann wird schnell und klar entschieden in Ddur geschlossen.

Auch jene Händel'sche Fuge

Sie konnten nicht trinken das Wasser

bildet sich in gedrungner, nur auf den dem Künstler vorschweben- den Moment gerichteter Gewalt aus.* Das Thema

467

m

5*

lr -

Sie konnten nicht trln - ken das Was - ser, der Strom war ver- They loathed to drink of the ri - ver, He tur-ned their

* Dasselbe Thema findet sich in Handels Werken wahrscheinlich nach der Benulzung in Israel für die Orgel ausgeführt; und zwar (wenn wir nicht irren) viel weiter, als im vorliegenden Fall statthaft gewesen wäre.

zed by Go

Der Grundbegriff der einfachen Singfuge.

493

p=^=2*

Sie konnten nicht trin-ken das Was - ser, der Strom war ver-

I

wan Wa

delt in

ters to

wird Schlag auf Schlag von Tenor, Alt, Diskant und Bass durch- geführt — und das ist die einzige Durchführung. Die weiblichen Stimmen wenden sich von der mehr gigautisch als weiblich sich geberdenden Weise ab; noch einmal erscheint sie (in Fdur) im Tenor; dann (in Iftdur) im Bass und abermals (in Gmoll) in der- selben Stimme, die also nun das Thema in ungeberdiger Höhenkraft auf denselben Stufen, wie zu Anfang der Tenor, intonirt, alles dies nach trennenden Zwischensätzen. In den andern Stimmen (zuerst den weiblichen) hat sich ein chromatisches, klagendes Motiv hervor- gethan, z. B. nach dem letzten Abtritt des Thema's

468

Sie konnten

1 j

t-_* SS.

1

I

ohne sich etwa zu einem zweiten Thema auszugestalten.

Diese Beispiele (denen noch genug andre, namentlich aus den Oratorien unsers feinsinnigen und tief kunstverständigen Haydn zugefügt werden könnten) mögen den Grundbegriff der Singfuge zum Unterschied von dem allgemeinen Begriff der Fuge befestigen.

Digitized by

494

Die Formen der Chorkomposition

Vierter Abschnitt.

Die Komposition der einfachen Singfuge.

Nachdem wir, ohnehin mit Fugenform und Fugenarbeit bekannt, die eigentliche Aufgabe der Singfuge festgestellt haben, bleibt Uber die Komposition nur wenig zu erörtern.

Dem redenden Thema (wie wir es S. 486 bezeichneten) tritt am verwandtesten ein redender Gegensatz gegenüber, aus dem sich Zwischensätze von gleicher Grundtendenz ergeben. So bildet Händel seinen Gegensatz zu dem in No. 459 mitgetheilten Thema

469 <

Er trau - e - te Gott, der hei

fe ihm nun aus,

hat er Ge-fall'n,

hat erGefall'n an ihm, der rette

und der er - ret - te ihn,

-mm

hat er Ge - fall'n an

1

ihn, (Alt.)

hat er Er trau

± 1_

Ge-fall'n, hat er e - te

Ge - fall'n an

-r—

ihm,

hat er Ge-

Kl

ihm, hat er Ge - fall'n

an

und in ähnlicher Weise auch die Zwischensätze, z. B. den nach der ersten Durchfuhrung:

(Schluss des Thema'*.1

470

HE

und der er - ret - te ihn,

und der er - ret - te ihn,

und der er-

Digitized by Google

Die Komposition der einfachen Sing fuge.

495

und der er - ret-te ihn,

hat er

1

Ge-fall'n

v - * t B ß " |

und der er - ret - te ihn, hat er

hat er Ge-fall'n

Ge-

IA £

I

ret-te ihn.

an ihm.

Thema im Alt.

r— rr

fall'n an ihm, Er an ihm. hat er Ge - fall'n

Er trau - e - te Gott,

der

Hier waltet das Sprachliche entschieden vor; aber es kann uns nicht entgehn, dass sich damit (S. 449) eine gewisse Nüchternheit und Trockenheit über den ganzen Satz verbreitet, die hier karakter- gemäss erscheint, unter andern Umständen aber nicht bloss uner- freulich, sondern auch unangemessen, sogar unwahr sein würde. Besonders einem scharf entschiednen Thema gegenüber ist ein mehr fliessender, mehr musikalischer oder singender (S. 463) Gegen- satz oft zur Vermittlung des Worts im Gemütbe, zu seiner musi- kalischen Auslegung, zur Verschmelzung des Ganzen durchaus not- wendig. Dies erkannte Händel gar wohl in dem in No. 467 mit- getheilten Satz und gab in beiden einander entgegengesetzten Fällen jedesmal das ganz Rechte.* In gleicher Weise stellt Bach dem strengen Spruch in No. 462 einen singenden Gegensatz gegenüber,

sr

ß-

Sie

471 <

um

ha - ben ein här-ter An-ge -

I

3

- I i

* Beiläufig sei bemerkt, dass der Gegensau im Originaltext auf das Wort Waters (Wasser) fällt.

Digitized by Google

Die Formen der Chorkomposition.

(Alt.)

sieht, denn ein Fels, und wol-len sich nicht be-

1 J—

3

r 1

-•-cd

der in gleicher Weise von Bass und Tenor bis zum Eintritte des Diskants fortgeführt wird; hier wird Bassstimme und Tenor mehr redend, während der Alt den singenden Gegensatz fortführt.

Allerdings lässt sich nicht bestimmen, in welcher Weise und noch weniger, in welchem Maasse der Gegensatz theils redend, theils singend gestaltet werden soll; dies hängt von dem besondern Inhalt jeder einzelnen Aufgabe und von der Auffassung, also zum Theil von der Subjektivität und Stimmung des Komponisten die sich aber im höchsten Gelingen mit jenem Inhalt identißziren, sich ganz dem Sinn und Willen der Aufgabe hingeben ab. Aeusserlich gestaltet sich der Satz um so günstiger, je glücklicher die drei Kräfte des Gesangs: Rede, Aushallen, Singen (S. 463) sich gegenseitig ablösen und heben. Wie weit dies in jedem einzelnen Falle möglich ist, kann nur aus dem besondern Sinn desselben ermessen werden.

Und hier kommen wir zu dem Letzten, was zur Einweisung in die Komposition hülfreich sein kann, nämlich zu dem Entwurf der Singfuge. Schon die abstrakte oder Instrumentalfuge wurde in der Regel nicht sogleich vollständig niedergeschrieben, sondern erst entworfen und dann ausgeführt. Bei der Singfuge müssen wir diese Weise der Arbeit noch rathsamer finden, da hier ausser dem Musi- kalischen noch der Text zu fassen, oder, wo seine Stellung nicht sogleich klar, einzurichten und zu vertheilen ist. Die Arbeit kann in der Regel nicht eher beginnen, als bis der Text (oder der Haupt- abschnitt desselben) das Thema hervorgerufen hat. Ob nun der Schluss des Textes mit dem Schluss des Thema's zusammenfällt, wie in No. 469, oder Uber denselben hinausgeht, wie in No. 467 und 471 (462), ob ferner für Gegen- und Zwischensätze einzelne Textglieder aus dem Thema wiederholt oder vorbehaltne Worte und Abschnitte (S. 486 dafür benutzt werden sollen: das kann nicht immer im ersten Entwürfe sogleich klar sein, darf der Ausarbeitung überlassen bleiben. Wo es aber angeht, oder wo sich ein frischer oder bedeutungsvoller Texteintritt ergiebt, da ist rathsam, schon im Entwürfe wenigstens ein Paar andeutende Silben zu geben.

Bisweilen endlich wird, besonders bei ruhigen Abschnitten des Thema's, ein gehender Bass (oder ein Kontrapunkt oder eine selb- ständige Begleitung, welche letztem Fälle wir jedoch hier noch

496

Digitized by Google

Die Kompositum der einfachen Singfuge.

497

bei Seite lassen) nöthig. Auch dieser muss im Entwurf angedeutet werden.

Statt weiterer Erörterung folgt hier der Entwurf eines Fugen- anfangs mit gehendem Basse. Der Text ist aus Ps. 39, 9 genommen.

Er-ret - te

m

472 {

m

Er-ret - te mich von al - 1er mei - ner Sün

I f f i r

mich

m

de von

er - ret -

3=r

r

er- mich

von

Er-

er- al - 1er al-

al-ler meiner

von al-

^— & -

tzj, tt*ß

errette ler Sün - de, von al

ler mei - ner

er - ret - te I V Marx, Komp.-I/. III. 5. Aufl.

S2

Digitized by Google

498

Die Formen der Chorkomposition.

Auf den Inhalt selbst ist hierbei nicht weiter einzugehn, es ist z. B. gleichgültig, warum und ob mit Recht der Bass zwei- mal nach einander das Thema nimmt; nur die Weise des Entwerfens sollte zur Anschauung kommen.

Und hier wenden wir uns zum Schluss auf die im vorigen Abschnitte S. 485 gemachte Unterscheidung zurück zu der andern Fugenweise, in der die Form um ihrer musikalischen Fülle und Wirkung zur Erscheinung kommt ; wir nennen sie (bloss der Orien- tirung im Lehrgange wegen)

B. die singende Fuge.

Hierbei ist nun nicht etwa daran zu denken, dass das Wort in der ausgeführtem oder mehr dem Reinmusikalischen zugewendeten Fuge vernachlässigt werde; es ist nur nicht das entschieden Vor- herrschende. Und wenn es dies sogar im Thema ist, so bleibt es nicht so, die Ausführung geht weiter, als das Bedürfniss, den Text zum vollen Ausdruck zu bringen. Die Schlussfuge zu Haydn's Schöpfung kann hier als Beispiel dienen. Das Thema, wie es hier

473

I

(Alt.)

*

iE

Des Herren Ruhm, er bleibt in

(Diskant.)

m

E - wig - keit. A - -

men. Des Herren

Ruhm, er bleibt, er bleibt in E - wig -

im Alt und Diskant auftritt, spricht Ton auf Silbe und wohl ange- messen den Text aus, der auch im Gegensatze (wie schon hier der Tenor zeigt) zur Geltung kommt. Allein nicht hieran konnte sich Haydn genügen lassen; er musste einen musikalisch befriedigenden Schluss für sein Oratorium gewinnen. Daher stellt er gleich von Anfang an einen singenden Gegensatz (mit dem dazu vorbehaltnen Textwort »Amen«) gegen das Thema und führt nun seine Fuge so voll und breit aus (durch vierundsiebzig Takte mit Zuzähl ung des freien Schlusses), dass schon der flüchtigste Ueberblick über- zeugt: es komme hier nicht sowohl auf den vollen Ausdruck

Digitized by Google

Die Komposition der einfachen Singfuge.

499

des Textes in Fugenform, sondern auf die Verwendung einer breit und bewegt ausgeführten Fuge als eines sättigenden Musikstücks zu befriedigendem Abschluss eines grossen Werks an.

Unter solchen Umständen mag sich auch das Thema ziemlich frei gegen seinen Text verhalten, nämlich so bilden, dass man keines- wegs behaupten kann, es müsse der Text gerade so ausgesungen werden. Ein Beispiel bietet uns die Schlussfuge aus Seb. ßach's Motette: »Singet dem Herrn«. Der Text der Fuge

Alles, was Odem hat, lobe den Herrn, Alleluja!

konnte in voller Kraft des Wortes in Musik Ubergehn, zu einem redenden Thema werden. Bach fasst die Vorstellung des Lob- singens auf

tptti flTfrc i rtrfTr \ tt-t-^***

474 §t

t— r

AI

les, was 0

■9-

5

- dem hat, lo-be den Herrn! K

AI - le - lu

lu-ja, AI - le - lu - ja, AI -

und erlangt damit einen schwungvollen, ganz sättigenden Schluss für sein Werk.

In diesem Sinne kann es sogar nöthig werden, dass die musi- kalische Fassung eines Textes dem Sinne desselben nicht vollkommen entspreche. Wenn in Mozart's Requiem die Worte Kyrie eleYson und Christe eleison so

Chrisle ele- , , , . I ; ; : iTT"*

(Bass.) (Aiy js Js Jy== STJZ j| | j +±Ti

475

Säe

Ky-ri- e e - Je - i - son, e - le

1

und die letztern spater so

32*

Digitized by Google

500

Die Formen der Chorkomposition.

Christe e - le - - - i

i - son

gefasst werden : so ist damit ihrem Sinn, dem Ausdruck frommen, demüthigen, vor dem Mittler inbrünstigen Flehens nicht Genüge gethan, und G. Weber's Kritik (in seinen Untersuchungen über die Aechtheit des Mozart'schen Requiems) dürfte in dieser Hin- sicht, abgesehen von mancher Härte und sogar Unwahrheit des Ausdrucks, nicht widerlegt werden können. Demungeachtet ist sie eine irrige, weil einseitige. Sie übersieht, dass es hier nach dem ganzen Sinn des Werkes nicht zunächst auf einen tief- getreuen Ausdruck jener Worte, sondern auf befriedigende kirchlich- feierliche Abrundung und Abschliessung eines ganzen Abschnitts, des weit ausgeführten Gebets für die Verstorbenen, ankam. Ob jene Worte, oder ob selbst die ganze Seelenmesse tiefer aufgefasst werden konnten und sollten, das ist hier gar nicht die Frage. Wir müssen uns dem Komponisten zur Seite stellen, mit ihm das Re- quiem, das lux perpetua u. s. w. im Geiste komponirt haben, und dann uns fragen : was nun noch zur Besiegelung des Ganzen not- wendig sei ; mit Einem Worte : wir müssen nicht abstrakt, sondern das Werk aus sich selber beurtheilen. Dann ist die Mo- zart'sche Auffassung gerechtfertigt.* Dass übrigens ein bloss oder vorzugsweise singendes Thema den Sinn, die Stimmung des Textes auf das Tiefste aussprechen könne, daran erinnere das Kyrie aus Bach's Hoher Messe.**

Und hiermit ist auch das Über die singende Fuge (wenn man das Unterscheidungswort gestatten will) zu Erinnernde, so weit es nöthig schien, abgethan. Denn wie man eine Fuge ausführe, welche Hülfsquellen zu einer weiten Ausführung zu Gebote stehn, ist bereits aus der abstrakten Fugenlehre bekannt.

Dass endlich bisweilen Fugen, die ihrer ersten Anlage nach hätten redende werden mögen, eine weitere Ausdehnung gewinnen, als der ausschliessliche Ausdruck des Textes foderte, und um- gekehrt, dass mehr dem Musikalischen zugewendete Fugen bisweilen eine sehr gedrängte Fassung haben : kann uns bei der Mannigfaltig- keit der in einem Kunstwerke zusammenwirkenden geistigen Motive

* Vergl. Berl. allgem. musik. Ztg., Jahrgang 2 (4815), S. 381 .

* Bei Simrock in Bonn.

477

Ky - ri - e e - le

Digitized by Google

Die andern Gestalten der Singfuge.

501

nicht befremden. So ist Händel's bei No. 459 angeführte Fuge (man vergleiche auch No. 469 und 470) ihrem Inhalt nach durchaus eine redende. Ihre Ausführung geht aber unverkennbar über den Zweck des blossen Textausspruchs hinaus; vielleicht war es eben die Trockenheit des hart und dürr hingesprochnen Worts, die im Komponisten das Bedürfniss einer musikalischen Befriedigung nährte. Auf der andern Seite ist die Fuge (oder das Fugato) Osanna in eoccelsis in Mozart* s Requiem eine mehr singende als redende Aeusserung ; aber sie flammt so feurig und freudig auf, dass sie auch abgesehn von der Gewohnheit, das Osanna in der Messe kurz zu fassen sich und uns schnell befriedigt und einer weitern Ausführung gar nicht bedarf.

Fünfter Abschnitt.

»

Die andern Gestalten der Singfuge.

Die vorigen Abschnitte enthalten das Wesentlichste über die Komposition aller Arten der Singfuge, wenngleich zunächst in An- wendung auf die einfache Fuge. Ueber die andern Arten bleibt uns nur weniges Einzelne zu bemerken.

1. Die Doppel- und Tripelfuge.

Wir wissen schon, dass die Doppelfuge zwei, die Tripelfuge drei Subjekte durchfuhrt, wissen ferner, wie diese Subjekte gebildet und das ganze Werk angelegt und ausgeführt werden muss. Es bleibt also nur die Frage : wann die Form der Doppel- oder Tripel- fuge für den Gesang veranlasst sei?

Der eigentliche Anlass muss, wie man voraussieht, im Texte liegen.

Ein Text, der wesentlich einen einigen Gedanken aus- spricht, — und zwar einen für Fugenform geeigneten, veranlasst ein einiges Thema, also eine einfache Fuge. Nur in besondern Verhältnissen könnte ein Anlass liegen, für denselben Text zwei verschiedne Themate zu bilden.*

* Es sei erlaubt, ein Beispiel aus dem »Mose« des Verf. (Partitur und Klavierauszug bei Breitkopf und Härtel) zu entlehnen. Der zweite Theil des Oratoriums schliesst mit dem auflodernden Dank- und Lobgesang des geretteten Volks. Hier konnte es nicht fehlen, dass die Stimmen sich wetteifernd herzu- drängten, ehe noch eine die andre recht ausreden lassen und ausgehört hatte. So ergaben unvorhergesehn zwei Textsätze drei Subjekte,

Digitized by Google

502

Die Formen der Chorkomposition

Ein Text, der zwei unvereinbare Gedanken ausspricht, wird füglich nicht anders behandelt werden können, als so. dass man jeden Gedanken abgesondert vorträgt.

Ein Text, der zwei zusammengehörende, einander ergänzende Gedanken in sich fasst, bedingt vorausgesetzt, dass dieselben Fugenform fodern oder doch zulassen die Form der Doppelfuge.*

Ein Text endlich, der drei solche Gedanken in sich fasst, bedingt die Form der Tripel fuge.

So würden z. B. diese Texte (Ps. 30, 2, Ps. 38, 2)

Ich preise dicb, Herr, denn du hast mich erhöhet und lassest meine Feinde sich nicht über mich freuen.

Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn, und züchtige mich nicht in deinem Grimm !

wohl in der Form der Doppelfuge (die beiden Subjekte sind durch Gedankenstriche abgegränzt) ihre rechte Fassung finden. Es ist ein- leuchtend, dass in jedem derselben die beiden Sätze zusammen- gehören, gleichwohl schon der Länge des Ganzen wegen, dann besonders wegen des nahverwandten, aber doch eine Unterscheidung fodernden Sinnes nicht in einen Satz, in ein einziges Thema

478

i

Er hat für-

Er hat fürwahr, er hat für-

Ross und Mann hat er in's Meer ge-stürzt, Herr ist sein

wanr

ei - ne

herr - Ii -

wahr ei - ne herr - Ii

herr - fi che Ross und Mann hat er in's

Na

me!

so dass statt der Doppel- eine Tripelfuge (übrigens nach Erfodern des Moments in gedrängtester Fassung) entsteht, wie oben statt der einfachen eine Doppelfuge.

Auch das Mozart'sche Christe eleison (No. 475 und 476) hat zwei nicht unwesentlich verschiedne Gestalten, wiewohl die zweite aus der ersten hervor- geht, — wie im vorstehenden Falle das dritte Subjekt aus dem zweiten.

* Doppelfugentexte finden sich unter anderra Psalm 68, 85 und 95, f 3.

:ed by Co

Die andern Gestalten der Singfuge. 503

zusammengedrängt werden können, und dass man eben so wenig sie ganz von einander scheiden und abgesondert behandeln darf.

So könnte auch jener in No. 460 behandelte Text, der sich da ganz in das Thema stellt, in No. 464 aber auf Thema und Gegen- satz vertheilt, möglicherweise die zwei Subjekte einer Doppelfuge veranlassen. Nur scheint jeder seiner Abschnitte

Verlasse mich nicht, Herr mein Gott, sei nicht ferne von mir.

der Ausdehnung nach zu beschränkt und dabei dem Inhalte nach gar zu identisch mit dem andern, als dass es für ihn der gewich- tigern und breitern Form bedürfte. Statt weiterer Ausführung diene das Th. II, S. 474 und S. 496 bereits Ausgeführte. Auch in Bezug auf die Formen

2. des Chorals mit Fuge

und

3. des fugirten Chorals

bedarf es nur einer Verweisung auf das Th. II Gesagte.

Es bleiben nur noch über einen schon S. 484 angeregten Gegenstand

4. die Fuge mit fremdem Zusatz

einige leichte Bemerkungen zu machen.

Wir haben bereits S. 482 von Texten geredet, die zum Theil die Form der Fuge jetzt können wir zusetzen, auch der Doppel- oder Tripelfuge fodern, jedoch noch Bestandteile in sichschliessen, die weder im Thema, noch im Gegensatz oder den aus beiden entwickelten Zwischensätzen Erledigung finden. Der S. 483 ange- führte und zergliederte Psalm 1 1 7 gab uns ein treffendes Beispiel ; die dort mit 4 . und 2. bezeichneten Vorausschickungen, dann das Wort »Halleluja«, vielleicht auch das »in Ewigkeita sollten nicht in, sondern neben dem Fugenthema und dem sonst zur Fuge streng Gehörigen ihre Stelle rinden. Wie geschieht dies nun?

Die Antwort ist leicht.

Die dem eigentlichen Fugentext zugehörigen, nur aus Rücksicht auf dessen Ausdehnung oder zu besserer Hervorhebung ausgeson- derten Worte werden gleichsam als fremde Motive in Zwischen- sätzen, oder als freier Ausgang zum Schluss der Fuge, auch wohl zum Schlüsse des ersten Theils und dann abermals zum Schluss des Ganzen, vielleicht auch zu einem Orgelpunkte (wenn ein solcher vielleicht mit Hülfe eines Instrumentalbasses stattbat) zur Sprache gebracht. So könnten z. B. im Psalm die Worte »in Ewig- keit« und »Halleluja« gesetzt werden.

Digitized by Google

504

Die Formen der Chorkomposition.

Solche Theile des Textes dagegen, die eine eigne, nicht bloss beiläufige Behandlung verlangen, werden als Einleitungen (S. 483) oder Nachsätze (Schlusssätze von besonderm Inhalte, S. 484) be- handelt. Dies kann mit mehr oder weniger Gewicht und Aus- dehnung geschehn. So schliesst z. B. Seb. Bach die in No. 474 angeführte Fuge in folgender Weise ab.

479 <

i

T.

- le - lu - ja ! chluss des Thema's) AI ----- -

(Schluss des Thema's)

"^7

AI - le - lu - ja!

9*

f

le - lu - ja!

Er bedient sich des Worts Alleluja, das er schon innerhalb der Fuge (man sehe No. 474) in den Gegensatz gebracht, nun noch zu einem Schlüsse, der, wenn auch dem Inhalte der Fuge verwandt, doch ein freier genannt werden kann. Wiederum giebt er der in No. 477 angeführten Fuge eine freie Einleitung zu demselben Texte,

480

m

V

Digitized by Google

Die freien Figur al formen.

505

die mit dem fernem Inhalte der Komposition formell gar nichts gemeinsam hat, nur auf ihren Sinn einfuhrt, dies aber mit der Macht Bach' scher Wahrheit und Tiefe ; eine jener unsterblichen Schöpfungen im engsten Räume.

Einer Anleitung bedarf es hier weiter nicht; die etwa wünschens- werthe Vorübung ist S. 455 u. f. gegeben.

Sechster Abschnitt. Die freien Figuralfornien.

In der abstrakten Lehre des zweiten Theils dienten uns die freien Figurationen als Vorbereitung zur Fugenform; schon damals war die innige Verwandtschaft, das Ineinandergehen beider Formen bemerkt worden.

Einer Vorbereitung zur Singfuge konnte es jetzt nicht mehr bedürfen, und so gehen wir den umgekehrten Weg von ihr zu den freien" Figurationen.

Die freie Figuration tritt für den Ghorgesang ein, wenn ein Text durchgesprochen, polyphon durchgenommen werden soll und sich zur eigentlichen Fugenform nicht hinlänglich festgeschlossen oder sonst diese Form sich nicht genugsam motivirt findet. In dieser Bestimmung schon, die der Natur der Sache nach nicht anders als negativ ausfallen konnte, sieht man, warum wir diese Formen der festen Fugenform nachfolgen lassen. Das Unbestimmtere und darum Gesetzlosere wird leichter und sicherer gefasst, wenn das Feste vorangegangen ist.*

Freie Figuration haben wir schon an mehrern der voran- geschickten Beispiele vor uns gehabt; es waren das Sätze (z. B. No. 436, 480), die sich vermöge der polyphonen Ausgestaltung aller Stimmen unter diesen Begriff (Th. II, S. 196) stellten. Allein die Grundlage war eben Satzform; der Text war durch die polyphone Behandlung zu reicherer Geltung gekommen, hätte aber auch ein- fach gesetzt werden können.

Oft ist dies nicht ohne Beeinträchtigung des Textgehalts mög- lich. Wenn z. B. Seb. Bach in seiner Matthäischen Passion er- zählt, wie die Hohenpriester und Pharisäer sich sämmtlich zu Pilatus drängen und sprechen :

* In der frühern Lehre mussten wir den umgekehrten Weg nehmen, weil die Fugenform zu viel des Neuen auf einmal gebracht hätte.

Digitized by

506

Die Formen der Chorkomposition.

\. Herr, wir haben gedacht, dass dieser Verführer sprach, da er Doch lebete:

2. Ich will nach dreien Tagen auferstehen.

3. Darum befiehl, dass man das Grab verwahre bis an den dritten Tag,

4. auf dass nicht seine Jünger kommen und stehlen ihn,

5. und sagen zum Volk:

6. Er ist auferstanden von den Todten ;

7. und werde der letzte Betrug ärger, denn der erste.

(Matth. 27, 63—64.)

so kann er in seiner bei der Darstellung des biblischen Hergangs durchaus dramatischen Weise sich unmöglich an einem blossen musi- kalischen Hersagen befriedigen, sondern fasst den Moment in seiner Lebensfülle, wie die Aufgeregten sich in Haufen und ungestüm vor- drängen, mit einander und durch einander gross Redens haben und nicht genug thun können, und immer Einer noch mehr wie der Andre vorzubringen hat. Dies gehässige Gewimmel muss sich über- drängen und überstürzen, und an irgend eine ruhig sich entfaltende Weise, an einen festgehaltnen Hauptsatz ist nicht zu denken. So drängt Bach Satz auf Satz. Zuerst

481

§3*

ist, bei dem ersten Anbringen, Alles bei der Hand und einstimmig. Dann bei dem Wiedersagen jener sorge weckenden Verkündung (Satz 2) überbietet schon einer den Andern,

482

Ü

mm

rzr

Digitized by Google

Die freien Figural formen.

507

und die Weissagung des Auferstehens thürmt sich in dem Wortlärm gleich einer hohlen Prahlerei auf. So schwirrt und poltert Satz auf Satz* ohne Rast und Sammlung und Würde, ein Spiegelbild jenes Moments im grossen Lebensdrama, vorUber. Die Form ist hier der unmittelbare Ausdruck derSache; es konnte fürdiesekeine andre geben.

Eine ähnliche Aufgabe bot sich Händel im ersten Chor seines Messias. Der Text

Denn die Ehre des Herrn wird offenbaret; 2. alles Fleisch mit einander wird sehen, dass Jehovah's Mund geredet hat.

bietet zwei Abschnitte, deren zweiter in zwei Glieder zerfallt. Beide Abschnitte sind bedeutend, und es wäre nicht zu behaupten, dass einem vorzügliches Gewicht vor dem andern gebührte. Der erste würde sich fugenmässig verkündigen lassen, der zweite wäre für ein Fugenthema (andrer Gründe zu geschweigen) zu lang und zur Zerlegung in zwei Themate noch weniger geeignet, weil das erste Glied keinen vollstän- digen Sinn giebt; den ganzen zweiten Abschnitt aber als Anhang zu dem ersten fugenmässigen behandeln, würde jenen oder bei gewich- tiger Behandlung diesen beeinträchtigen. Händel zergliedert daher seinen Text und mischt die Glieder in bewegter, durchaus frei gestalteter Figuration dergestalt, dass bald dieses, bald jenes zum gerechten Aus- spruch kommt und das Ganze lebendig erregt vorüberzieht. Nach einer instrumentalen Einleitung, zu der die beiden ersten Sätze des Chors (No. 483 und 484) benutzt sind, wird der erste Abschnitt und zwar schon zergliedert aufgeführt. Der Alt intonirt,

*=

483

Denn die Eh - re, die Eh - re des Herrn

der Bass unter Zutritt der übrigen Stimmen wiederholt; dann schliesst sich das zweite Glied dieses Abschnittes an,

464

3E=

r* r*

wird of - fen

wird of

fen - ba

ret. 4-

T r

wird

ba - Denn die

of - fen - ba - ret.

beide vereinen sich, bis der erste etwas verlängerte Satz (die Melodie wieder im Basse) in der Dominante den ganzen Abschnitt ausspricht und ein Zwischenspiel des Orchesters mit dem Motive des

* Man findet den ganzen Satz, formell eine eben so bedenkliche als glücklich gelöste Aufgabe, in der Beilage III.

Digitized by Google

508 Die Formen der Chorkomposition

zweiten Satzes in E schliesst. So bildet sich gleichsam ein erster Theil eines figuralen Liedsatzes.

Jetzt tritt ohne Weiteres und wieder im Haupttone das erste Glied des zweiten Abschnittes im Alt auf,

AI - les Fleisch mit ein - an -der wird se - hen

wird vom Tenor in der Unterdominante wiederholt; und nun in- toniren, wieder im Haupttone, Tenor und Bass das letzte Glied, und die Oberstimmen setzen das vorige entgegen.

r- - i— J-n

-1

... #J

r i

Alles 1

1

a =1

Fleisch mit ein-

-an - der wird se -

■■ia-)al he«.

*Ufc

1 11

Dass Je - ho - vah's Mund ge-re-det hat.

Hiermit ist der Text ausgesprochen und der ganze Inhalt der Musik festgesetzt. Allein wir erfahren hier, was wir schon früher bei der Figurati on gewahr werden mussten: nicht in dem einen oder in mehrern Motiven liegt die Kraft dieser Form, sondern in ihrem Spiel und dem Gewebe der Stimmen, des Ganzen, das aus ihnen entsteht. So ist das zweite und dritte Motiv Händel's unbedeutend, das erste und vierte wenigstens nicht von solcher Bedeutung, dass sie für sich befriedigen könnten. Alles das konnte nach dem Text- inhalt nicht wohl anders sein. Aber nicht in diesen Einzelheiten, sondern in ihrer Verwebung will sich Händel's Kraft entfalten. Wieder intonirt der Diskant auf e das vierte Motiv, die andern Stimmen spielen mit dem dritten dagegen, dann intonirt Tenor und Bass auf Ä, und so bildet sich ein Schluss auf diesem Tone. Unter Vor- tritt des Orchesters kehrt jetzt der erste Satz (die Melodie im Basse) im vollen Chor in # wieder, der dritte spielt nach, der Diskant intonirt auf der Quinte des neuen Tons das »Jehovaha und der Alt setzt den ersten Gedanken entgegen. In solcher WTeise, höchst frei, spielt sich der Chor mit seinen vier Sätzen über E nach A zurück und zu Ende, überall regsam und anregend und ist eben damit die durchaus angemessene, weissagende Einleitung des grossen Werks.

Aehnliche Gestaltung zeigt dasselbe Werk zu dem Texte:

Denn es ist uns ein Kind geboren, und ein Sohn ist uns gegeben, welches Herrschaft ist auf seiner Schulter; und sein Name wird heissen: Wunderbar, Herrlichkeit, der starke Held, der Ewigkeiten Vater, der Friedefürst.

Digitized by Google

Die freien Figur al formen. 509

Hier wird nach einer instrumentalen Einleitung mit dem ersten Gedanken zuerst (und zwar von Solostimmen) der erste Satz intonirt,

rill (ioco) 7 zi-J i r i r

Denn es ist uns ein Kind ge - bo-ren, und ein Sohn ist uns ge-

p p i

i ; ; ^

der Tenor wiederholt und der Diskant schliesst sich singend an;

488

w

r-fy-r-r-r'7*

U. 8. W.

3

in gleicher Weise folgen Alt und Bass in der Dominante, worauf der Tenor den folgenden Abschnitt giebt,

«89 gp^g^gS^^g^^E^gg^

Welches Herrschaft, welches Herrschaft ist auf sei - ner Schulter der vom Diskant wiederholt, von allen vier Stimmen ausgeführt Schul ------ ter,auf sei- ». . v

I r^&s^U k

490

We

elches Herrschaft ist auf sei - ner Schulter, und sein

Na -

m

'S V me wird heis - sen

1 * * *

PI

Digitized by Google

510

Die Formen der Chorkomposüion

wird und unter dem fröhlichen Schall des Orchesters zu dem frischen, ganz homophonen Ausspruche des letzten Texlabscbnitts vom ganzen Chor führt, mit dem, wieder auf der Dominante, ein Schluss gleichsam des ersten Theils erfolgt.

Wieder beginnt das Spiel der ersten Sätze (No. 488 und 490 und führt zu dem letzten in Gdur; nochmals angeknüpft führt es in die Unterdominante zum letzten Satze; und zum letzten Mal machen beide Partien mit einem freien Anhang und einem Nachspiel des Orchesters über das Motiv von No. 487 den Schluss.

Schon die Lockerheit dieser Bildungen zeigt, dass sie sich auf die mannigfaltigste Weise ausführen lassen. Sie nähern sich auf der einen Seite der Satz- oder Liedform, auf der andern der Fugen- form, in andrer Beziehung der Form der Motette, die wir im folgenden Abschnitte kennen zu lernen haben. Ja, es kann uns nicht befremden, wenn wir bisweilen auf Gebilde treffen, die es einigermaassen zweifelhaft lassen, ob sie freigebaltne Fuge oder fugenähnliche Figuration, ob sie Figuration oder vielleicht schon eine leichtere Motettengestalt sind. Dergleichen zwei- oder mehrdeutige Gestaltungen finden sich stets und nothwendig auf der Gränze ver- wandter Formen; wir haben sie schon öfter als die Punkte be- zeichnet, auf denen die Formen in' einander Ubergehn und gegen einander frei werden, ihre Schranke überwunden haben.

Siebenter Abschnitt. Die Motette.

Der Kunstausdruck Motette* bezeichnet zweierlei Kunstformen.

Erstens werden Kirchenkompositionen so genannt, denen ein Kirchenlied mit oder ohne beigemischte biblische Sätze oder auch eine Reihe von Bibelstellen als Text zum Grunde liegen und in denen die verschiednen Sätze des Textes als abgesondert für sich bestehende Tonstücke behandelt sind. In einer Motette in diesem Sinne des Worts könnte also der erste Liedvers als einfacher oder figurirter Choral, der zweite als Arie, der dritte als fugirter Choral u. s. w. behandelt,

* Er hat auch zweierlei Ableitungen, die jenen zwei Bedeutungen wohl entsprechen. Nämlich einmal hangt er (aus der Zeit der niederländischen Schule mit dem französischen Worte möt zusammen, das bekanntlich »Wort«, in alter Sprache aber vorzugsweise »Bibelwort« (wie unser deutsches «Spruch«) be- deutet. Motette war* also eine Komposition von Bibelstellen. Dann aber (be- sonders bei den ältern Deutschen) wird Motette (alt: Mutete) von mutare (verändern) abgeleitet und deutet auf Veränderung der »Kompositionsweise*, auf das Abgehn von einer Weise oder Form auf die andre.

Digitized by Google

Die Motette.

511

es könnten Rezitative, Fugen, Duette, lnstrumenlalsälze in be- liebiger — nach dem jedesmaligen Text sich bestimmender Auswahl und Anordnung an einander gereibt werden. In solcher Weise hat unter andern Seb. Bach seine Motette : »Jesu meine Freude« ge- schrieben. Ueber diese Kompositionsweise ist hier nicht weiter zu reden. Sie ist nicht eine besondre Kunstform, sondern eine Reihe von Tonstücken in verschiednen, theils uns schon bekannten, theils noch künftig zu betrachtenden Formen.

Zweitens bezeichnet das Wort Motette eine wirkliche für Chorkomposition bestimmte Kunstform, über die wir uns hier noch zu verständigen haben. Dass diese Form wie alle Gesangformen ihren Grund in der Beschaffenheit des Textes hat, muss schon (S. 382 vorausgesetzt werden. Wir knüpfen daher bei dem Text an.

Die bisher betrachteten Chortexle abgesehn für jetzt von den liedförmig oder figural zu behandelnden zeigten einen Haupt- gedanken, der das Thema einer einfachen Fuge, oder zwei oder drei Hauptgedanken, die die zwei oder drei Subjekte einer Doppel- oder Tripelfuge werden konnten, mithin eine dieser Fugenformen be- gründeten; die Beiläufigkeiten, die in die Zwischensätze, in Einleitung und Schluss der Fuge treten konnten, lassen wir hier bei Seite.

Schon für die Tripelfuge war der Anlass selten ; seilen fodert ein Text diese Form, und wir haben längst (Th. II, S. 496) einsehn müssen, dass mit der Zahl der Subjekte die Klarheit und Wirk- samkeit jedes einzelnen in gleichem Yerhältniss abnimmt. Wie also, wenn sich ein Text darbietet, der selbst das Maass der Tripelfuge überschreitet, dessen Glieder eine volle und fasslich eindringliche Behandlung fodern, nicht bloss ein Zueinanderdrängen, wie die Durch- führung mehrerer Subjekte mit einander, auch nicht ein flüch- tiges Ueberhingehn, wie die Figuralsälze? Unser erster Gedanke muss sich hier dahin richten, dass dann jedes der Glieder abge- sondert für sich zu behandeln wäre, wie in der Motette erster Art. Wie aber, wenn die Glieder bei aller besondern Wichtigkeit doch auch wieder so eng zusammengehören, dass sie nicht getrennt werden dürfen ? Dann müssen die verschiednen Sätze sich zu einem einigen Tonstücke verbinden. Dies ist die Kunstform der Motette.

Hier nehmen also wieder die einzelnen Sätze verschiedne Ge- stalt an; es können liedförmige, figurale, Fugensätze in beliebiger Zahl und Ordnung neben einander treten. Aber diese verschiednen Sätze verknüpfen sich zu einem einigen Ganzen.

Jede der einzelnen Formen, die hier sich verbinden, ist uns schon bekannt, bedarf also keiner weitern Erörterung. Es' wird daher nur auf die Anwendung und Verknüpfung ankommen.

Jeder der anzuwendenden Sätie, namentlich auch die FugensäUe,

Digitized by

512

Die Formen der Chorkomposition.

ist nurTheil eines grossem und zusammenhangenden Ganzen ; keiner kann sich also in solcher Fülle und Breite vollenden, wie wenn er für sich allein aufträte, jeder muss zusammengedrängt auf seinen wesentlichen Inhalt vorübergehen, um sich schnell geltend zu machen und dann dem Folgenden zu weichen, ohne dass das Ganze in un- günstiger Breite auseinanderfliesse. Namentlich die Fugensätze wer- den mit einer einzigen Durchführung abzufertigen sein ; oder wenn sie eine zweite (oder eine einzige tibervollständige) fodern, so wird man sich um so weniger mit den Beiläufigkeiten langer Zwischen- sätze aufhalten dürfen. Auf diesem Punkt erkennen wir also schon die Macht und grosse Bedeutung der Motettenform : jeder ihrer Sätze drängt seine ganze Kraft auf den möglichst engsten Baum zusammen. Hierin liegt aber auch, beiläufig gesagt, der Unterschied der Motettenform von den S. 505 u. f. betrachteten Figuralformen. Auch diese berühren und verknüpfen mancherlei Sätze. Aber sie gehn leicht über sie dahin, während die Motettenform jedem das volle Gewicht einer vorzüglichen Bedeutung giebt.

In der uneingeschränkten Reihe verschiedner Sätze, die sich in der Motette zu einem Ganzen verknüpfen, können, wie gesagt, auch Fugensätze ihre Stelle finden. Wir setzen jetzt zu: auch Doppel- fugensätze, — auch zwei, ja möglicherweise mehr Subjekte können nach einander durchgeführt werden. Diese unterscheiden sich dann von der ersten Form der Doppelfuge (Th. II, S. 462) dadurch, dass die Subjekte nur nach, nie gegen einander zur Durch- arbeitung kommen. Wir werden hier an die schon bekannte Form des fugirten Chorals erinnert; er giebt sich jetzt als Motette zu erkennen, aber als eine einseitig ausgebildete, nur auf Fugen- sätze beschränkte. Diese Beschränkung ist kein Fehler, sondern vielmehr die Form, in der der Inhalt des Chorals zur reichsten und machtvollsten Geltung kommt. Aber die Motettenform ist zu mannig- faltigem Gestaltungen befähigt.

Die Verknüpfung aller dieser Sätze wird nun

1) durch ihre ununterbrocbne Folge,

2) bisweilen, aber nicht nothwendig, durch verbindende Glieder oder Tonsätzchen,

3) durch eine zweckmässig geordnete Modulation, die jedem der verschiednen Sätze den bestimmten Sitz in der ge- sammten Folge der Tonarten anweist,

4) bisweilen durch Zurückführung auf den ersten Satz, der damit gleichsam als Hauptsatz erscheint,

5) bisweilen auch durch weite, vollgenügende Ausfüh- rung des letzten Satzes, der sich damit als Ziel aller vorhergehenden darstellt,

bewirkt. Dass dieser Verbindung die Kraft der Sonatenform (in

Digitized by Google

Die Motette.

513

welcher die Hauptgedanken gegen und in einander gearbeitet wer- den) abgeht, ja, dass sie selbst den festern Abschluss der Rondo- form, auf einen Hauptsatz zurückzukommen, nicht immer hat: ist klar ; der aufklärende und schnellfassliche Zusammenhang des Textes muss und kann hier dem Mangel festern musikalischen Verbandes ergänzend zu statten kommen. Doch ist allerdings Bedacht zu nehmen, dass dieser Mangel nicht durch allzugrosse Häufung der Sätze und willkürliche oder unentschiedne Modulation ein unUber- tragbarer Fehler werde.

Wenden wir uns nun zum Praktischen zurück. Es wird dabei nur der Anschauung fertiger Werke bedürfen, da die einzelnen an- zuwendenden Formen uns geläufig sind. Zuerst fragen wir nach dem Text.

Könnte jener S. 506 aus dem Matthäus angeführte Text Motetten- form erhalten? Nein. Kein einziges seiner Glieder ist für sich so wichtig, dass es einer abgesonderten und dabei nachdrücklichen Behandlung bedürfte. So sehen wir auch (Beilage III) dass Bach zwar die einzelnen Glieder der Deutlichkeit wegen von einander gesondert, keines aber anders als flüchtig vorübergehend, keines mit dem Nachdruck einer fest ausgeprägten Form behandelt hat; eben das hastige, von Erbosung und Sorge aufgestachelte Vorüber- drängen war Karakter des Moments und der Komposition.

Wäre der S. 507 angeführte Händel'sche Text zur Motette geeignet? Nein. Soll er entschieden, wie es die Art der Motette ist, zerlegt werden, so kann das sinngemäss nur in zwei Abschnitte geschehen :

1. Denn die Ehre des Herrn wird offenbaret; 8. alles Fleisch mit einander wird sehen, dass Jehovah's Mund ge- redet hat.

Beide Sätze sind nur ein und dieselbe Ankündigung des zu Erwar- tenden (Geburt des Heilandes) von zwei verschiednen Gesichts- punkten ; kein Satz ist ohne den andern genügend, aber auch keiner für den Zweck der Verkündigung von vornehmlicher Wichtigkeit, Gott soll sich verherrlichen durch Erfüllung des Verheissnen, aber die Menschen mit einander müssen es erkennen. Folglich können die Sätze nicht motettenartig nach, sie müssen mit einander auftreten. Also könnten sie vielleicht gegen und mit einander auf- geführt werden in Form der Doppelfuge ? Das erlaubt schon die Ausdehnung nicht, auch würde in dem Gegeneinander der beiden Subjekte die Deutlichkeit eines jeden beeinträchtigt zu Gunsten der musikalischen Gesammtwirkung. Folglich mussten die Sälze herold- artig verkündet werden, sich hin und wieder ablösen und in diesem Vortiberspielen jeder seine Deutlichkeit, keiner ein ungebührliches

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 33

Digitized by Google

514

Die Formen der Chorkomposition

Uebergewicht, das Ganze die Lebendigkeit und das vorüberwallende Wesen einer Verkündung von erweckendem Inhalt an sich nehmen. So hat Händel komponirt; dies bedingte seine Form.

Oder endlich : könnte jener Anfang des ersten Psalms, den wir anderswo (Th. II, S. 496) als Text einer Tripelfuge bezeichnet haben,

Wohl dem, der nicht wandelt im Rath der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzet da die Spötter sitzen.

Motette werden? Nein. Sein zweiter und dritter Satz sagt im Wesentlichen dasselbe, was der erste ; beide können also nur mit dem ersten oder, wenn sie getrennt, nach ihm behandelt werden sollten , ohne Gewicht (was sie an sich als blosse Wiederholungen nicht haben) vorübergeführt, nicht zu der Wichtigkeit der Motetten- sätze erhoben werden.

Betrachten wir nunmehr den nachfolgenden Text aus einer Kirchenmusik Seb. Bach's.

4. Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben.

2. Du schlagest sie, aber sie fühlen es nicht, du plagest sie, aber sie bessern sich nicht.

3. Sie haben ein härter Angesicht, denn ein Fels und wollen sich nicht bekehren.

Er lässt vor allem zwei Hauptgegensätze erkennen : dass Gott nach dem Glauben sehe und wie man sich ihm verschliesse. Das Letztere scheint unter 2. und 3. in drei verschied ncn Formen in ziemlich gleichem Sinn ausgesprochen ; doch kann man'in der letzten Form auch den Sinn angedeutet finden, dass eine Verhärtung von Grund aus, vielleicht eine absichtliche oder doch schon zur Lebens- gewohnheit gewordne vorhanden sei, während zuvor (in 2) nur der augenblicklichen Achtlosigkeit gedacht war. So sehen wir drei wichtige Sätze vor uns oder vier, denn der zweite unter- scheidet im Nichtfühlen und im Nicht-sich-Bessern auch zwei er- hebliche Momente, deren jeder beherzigt sein will, und die doch in einander greifen als ein untrennbar Ganzes.

Hier haben wir die Noth wendigkeit der Motettenform vor Augen.

Bach führt nach einer breiten und eifrigen instrumentalen Ein- leitung den ersten Gedanken als Satz, als ein Feststehendes auf; zuerst so,

Herr!

l

Herr ! dei - ne Augen se hen nach dem Glauben

dass nach dem Anruf des ganzen Chors eine Stimme (der Alt) den Vorredner macht und dann erst der Chor bekräftigt.

Digitized by Google

Die Motette.

515

492

Herr! dei - ne Au - gen se - hea nach dem Glau-ben

i i i ML-JJÄ J i i

r

Dieser Chorsatz wird ähnlich wiederholt und mit einem Halb- schluss auf die Dominante gebracht, worauf (in Z)moll) der Diskant den Satz des Altes und der Chor seine beiden Sätze (ähnlich) wiederholt.

Hier schliesst Bach sogleich den zweiten Textabschnitt, gleich- sam als Gegensatz und zweiten Theil eines Liedes, zu dem das Vorherige der erste wäre, an,

rt _i j— j.

& gf

±

m

deine

(Glauben) du schlagest sie, du pla

j

gest sie :

Herr,

7 i

SS

f

Aber sie fühlen es nicht, aber sie bessern sich nicht

kehrt aber sofort zu dem ersten Gedanken zurück und führt ihn figurativ auseinandergesetzt in Z)moll zum Schluss. Jene Worte des zweiten Textabschnittes haben sich nur in vorgreifendem Eifer herzugedrängt ; es macht sich hier eine ähnliche Weise geltend, wie in der bei No. 482 erwähnten Figuration; aber sogleich tritt der Hauptgedanke, durch den Gegensatz nur verstärkt, wieder in sein Recht und wird hefriedigend (noch mit einem Nachspiel besiegelt) abgeschlossen.

Jetzt erst tritt mit einer Rückkehr in den Hauptton der zweite Textsatz in seine Rechte. Er wird für sich allein fugenmässig durchgenommen; die Worte

Du schlagest sie

werden Thema, der fernere Text wird Gegensatz,

u. s. w.

Du scblä ----- gest sie, a - her sie

Alt, Diskant, Bass, Tenor bilden die eigentliche Durchführung, gleich dahinter meldet sich eine (freie) Engführung wenigstens des

38*

Digitized by

516

Die Formen der Chorkomposition.

ersten Gliedes des Thema's, die aber bald einem Zwischen- oder vielmehr Nachsatz {an das Motiv des Gegensatzes geknüpft) weichen muss. Dieser Ausgang führt nach Cmoll, wo das Orchester an den Kern des ersten Satzes (No. 492) erinnert.

Nun tritt der wichtigere dritte Textsatz in Fugenform auf. Das Thema (No. 462) wird durch Bass, Tenor, Alt, Diskant und nach einem kurzen Zwischensatz abermals durch Diskant, Alt, Tenor und Bass geführt.

Aber eben hier schlägt der Fugensatz unerwartet und kühn in den ersten Satz (No. 492) zurück, der so wie das erste Mal zu Ende geführt wird und das Ganze abrundet.

Ein zweites Beispiel giebt uns der erste Satz von Mozart' s Requiem. Der Text

4 . Requiem aetemam dona eis, Domine,

2. et lux perpetua luceat eis.

3. Te decet hymnus , Deus , in Sion , et tibi reddetur votum in Jerusalem.

4. Exaudi orationem meam, ad te omnis caro veniet.

5. Kyrie eleison, Christe eleison.

zeigt fünf Sätze, von denen No. \ und 2 sich verbinden, 3 und 4 sich trennen, No. 5 sich vollkommen, oder doch entschiedner wie die Übrigen Sätze unter einander, absondern liesse.

Mozart führt nach einer instrumentalen Einleitung den ersten Satz fugenmässig, und zwar gleich in der Enge,

Adagio.

95 9*

1* f 1

IS I JL ^ ^

Re - qui-em ae - ter - nam,

im Haupttone durch, nachdem das Orchester eine gleiche, nur weniger enge Durchführung desselben Thema's vorausgeschickt. Mit diesen zwei Durchführungen ist der Hauptgedanke festgestellt und wendet sich zum Halbschluss auf die Dominante.

Das lux perpetua tritt, nur durch einen vermittelnden Akkord eingeführt, satzartig und homophon in der Parallele auf, schliesst aber

8va bapsa

496

8va bassa 8 va bassa

u u u t i nv t > TT

I

es

in deren Unterdominante (#dur) ab; es ist vom ersten TextsaUe

I

Digitized by Google

Die Motette.

517

gesondert, doch aber nicht eigentlich selbständig behandelt (der Schluss in der Unterdominante zeigt, dass es nicht ein wesentlich gelten sollender Satz ist), sondern nur als Schlusssatz des ersten Abschnittes zu betrachten.

Nach einem einleitenden Takt ergreift das Orchester in der- selben Tonart dieses Thema (oder diese Figur)

497

und führt damit eine freie Figuration gegen den Solo-Sopran aus, der den dritten Textsatz in kirchlicher Intonation vortragt und in G moll schliesst. Eine neue Figuration von Chor und Orchester bringt das exaudi, wahrend der Chordiskant zu denselben Worten die Melodie des Te decet hymnus wiederholt.

♦98 <

i i

U. 8. W.

E * g ' 7 C g ' 7 fWg

Ex-au-di,

ex-au-di o-

ex- au-di,

Ex-au-di, ex - au-di, ex - au - di, ex-

So ist derselbe canlus firmus zweimal gegen verschiedne Figurationen vorgetragen und damit der zweite Hauptabschnitt des Ganzen in Cdur mit einem Schluss in Gmoll befriedigend ab- geschlossen worden.

Hier wandet sich das Orchester mit dem ersten Motiv der vor- herigen Figuration (No. 497) in den Hauptton zurück. Das Fugen- thema (No. 495) erscheint wieder im Basse, jenes Figuralsätzchen (No. 497) giebt zu den Worten dona eis [Domine) einen Gegensatz für den Alt; der Tenor beantwortet das erste, der Diskant das zweite Subjekt. Nochmals bringt (in der Unterdominante) der Alt das erste und dagegen der Tenor das zweite, dann der Diskant (in der Parallele, Fdur) das erste und der Bass das andre Subjekt. Das lux perpetua kehrt (ähnlich) wieder und bringt einen Halbschluss auf der Oberdominante. Damit bricht die eigentliche Motettenform ab ; zu ihrer Besiegelung, zum vollen Abschluss des ganzen Satzes folgt nun die bei No. 477 angeführte, breit und in feierlicher Pracht entfaltete Doppelfuge.

Digitized by Google

518

Der Doppel- und mehrfache Chor.

Sechste Abtheilung. Der Doppel- und mehrfache Chor.

In der Chorkomposition wurde ein zwiefach mächtiges Organ in Tätigkeit gesetzt. Der Chor bot sich in seiner Gesammtheit einer- seits dar als einen für die Darstellung einer einzigen Idee einig gebildeten Verein vieler Stimmen, als eine einzige Person (S. 453); andrerseits als eine Schaar selbständig (polyphon) gebildeter Stimmen (S. 455), die den Reichthum polyphoner Gestaltung als edelste Organe zum Leben brachte.

Fassen wir nun den Chor in seinen Einheit, als eine einige Person : so können wir dieser einen Person eine andre , ja mehr als eine andre entgegenstellen, wir können

zwei oder mehr Chöre mit und gegen einander führen; und so entsteht

der Doppelchor, der dreifache, vierfache Chor u. s. w. Wir wollen uns zunächst auf den Doppelchor beschränken.

Der Doppelchor hat seinem Wesen nach zwei Chöre als zwei Personen gegen einander zu stellen. Es kommt dabei auf die Zahl und Verwendung der einzelnen Stimmen nicht weiter an, sondern zunächst darauf, dass jeder der Chöre sich als ein an sich selbständiger Körper geltend mache, wenn auch nicht durch die ganze Komposition hindurch, doch wenigstens so weit, dass man ihn als ein Anderes dem andern Chor gegenüber erkenne und fasse. Es ist dieselbe Foderung an zwei verbundene Chöre, die wir früher an die Stimmen eines polyphonen Satzes gemacht; sie sollten sich karakteristisch und selbständig zeichnen , durften aber dann aus ihrer Selbständigkeit und Besonderheit heraustreten und zu einer homophonen Einheit mit einander verschmelzen. Daher ist der in No. 427 mitgetheilte Satz von Händel eigentlich kein Doppelchor, sondern ein achtstimmiger (oder vielmehr sieben- bis vierstimmiger! einfacher Chor; denn seine beiden mit Chor I und II bezeichneten Partien unterscheiden sich nirgend als besondre Körper oder Per- sonen von einander.

Nach dieser vorläufigen Festsetzung des Begriffs vom Doppelchor bedarf es nach allem Vorangegangenen nur weniger Betrachtungen, um in seine Komposition einzuführen.

Digitized by Google

Die Veranlassung zum Doppelchor

519

Erster Abschnitt. Die Veranlassung zum Doppelchor.

Die Form des Doppelchors kann zwiefache Veranlassung haben, entweder im Text, oder in der Weise, wie sich eine bestimmte Komposition im Geiste des Komponisten gestaltet.

Zuerst also im Inhalt des Textes, wenn dieser das Gegen- einandertreten verschiedner Massen, also Chöre, bedingt. Ein solcher unzweideutiger Fall zeigt sich unter andern im Samson, in dem Feierchor der Diener Jehovah's, denen der Chor der Gott Dagon Anbetenden entgegensingt. Jeder der beiden Kulte, jede der beiden Volksmassen, deren Gegensatz und Kampf die Grundlage des dramatischen Hergangs im Oratorium bilden, musste würdig und vollbefriedigend vertreten werden, jedes Volk konnte nur als ein Chor auftreten und die Vereinigung beider zum Doppelchor war so nothwendig für den Komponisten, als die Gegeneinanderstellung für den Dichter. Ein eben so unzweideutiger Anlass bot sich dem Verf. in jenem Moment des Mose, wo Pharao das Begehr, die Israeliten zum Opferdienst Jehovah's zu entlassen, mit Hohn zurück- weist. Es musste gezeigt werden, dass dies nicht persönlicher Eigen- wille des Herrschers, sondern der Sinn und Wille seines ganzen Volks ist, das nicht unverdient von den Plagen und Strafen des Gottes getroffen werden konnte. Daher stimmen die Aegypter in leidenschaftlich aufgeregtem Nationalhass

Wohl her nun, lasst sie uns plagen! He! Werden sie opfern? wird man sie lassen? Euere Freudentage sollen zu Trauertagen werden.

dem Gebieter bei. Aber das wiederum durfte kein blosser Hohn der Masse sein gegen die einzelstehenden Mose und Aaron ; es musste der unversöhnliche Zwiespalt beider Nationen zur Aussprache kommen und zugleich ihre beiderseitige Stellung gegen einander bezeichnet werden, dem wilden Hochmuth der Aegypter gegenüber die Ver- zagtheit der Israeliten , die in vierhundertjährigem Druck sogar zu hoffen verlernt haben und aus der augenblicklichen Begeisterung, die Mose entflammt hatte, bei dem ersten Widerspruch zurücksinken in angeerbte Sclaven furcht:

Ihr habt uns Unglück zugerichtet! Grauen ist auf mich gefallen.

Diese beiden Texte mussten zusammentreten zum Doppelchor.

Nicht immer ist der Gegensatz und seine Noth wendigkeit so entschieden, wie in diesen Fällen. Daher können einerseits manche Aufgaben zweierlei Behandlung zulassen, andrerseits entstehn in der

520

Der Doppel- und mehrfache Chor.

Komposition Mittelformen, die mit mehr oder weniger Grund bald als einfache, bald als Doppelchöre angesebn werden dürfen.

Einen Fall ersterer Art bietet ein andrer Moment aus dem Mose. Wenn im Zug durch die Wüste das stets verzagende und stets auf- sätzige Volk endlich in vollem Aufruhr gegen seine Führer ausbricht :

Du, Mose und Aaron, der Herr richte zwischen uns. Waren nicht Gräber in Aegypten, dass du uns musstest wegführen in die Wüste?

so konnte allerdings ein einfacher Chor das Volk allenfalls darstellen, auch die Vielköpfigkeit des Aufruhrs, die ordnungslose Auflösung konnte durch die Kraft polyphoner Gestaltung allenfalls zum Ausdruck kommen ; es wär' also die einfache Chorform keineswegs unzulässig gewesen, wie bei den vorerwähnten Fällen. Nur, dass sich die Massen des Volks gegen seine Führer heranwälzten, dass die Empörung in Massengewalt und dabei durch und durch beseelt und gegliedert heranstürmt : das wäre nicht zum vollen Ausdruck gelangt ; hierzu kam, dass im ganzen Wüstenzuge den Komponisten die Vorstellung des in zwei ungeheuren Heersäulen neben einander* fortrückenden Volks bestimmte und der Darstellung mannigfache Vortheile bot. Und so musste sich der Moment doppelchörig

Allegro impetuoso.

Chor [.

n J;

r r 'f-

du, Mo-se und Aa-ron, der Herr du, Mo - - se, der Herr

T

richte, richte

Bs

rieh - te zwi - sehen

499

Chor II.

¥-

du, Mo-se und

i 1

gestalten.

Einen Fall der andern Art bietet uns der Chor

4. Hoch thut euch auf und öffnet euch weit, ihr Thore der Welt, dass der König der Ehren einziehe.

* Noch jetzt ist dies die Bewegungsweise grosser Karavanen oder Volks- züge im Orient, die sich auch in der antistrophischen Form vieler Psalme aus- geprägt und erhalten hat.

Die Veranlassung zum Doppelchor.

521

2. Wer ist der König der Ehren?

3. Der Herr stark und mächtig im Streite, Gott Zebaotb, er ist der König der Ehren.

aus Händel's Messias. Dieses ganze Werk hat nur einfache, und zwar vierstimmige Chöre. Auch der vorstehende Text foderte nur einfachen Chor, wenn nicht die in 2. und 3. eingeführte Frage und Antwort einen Gegensatz von Stimmen bedingte. Diese Form der Frage und Antwort ist nur eine feierlich festliche Form, den Ge- danken zu recht vollem Austönen zu bringen ; es ist nicht ein wirk- lich der Antwort bedürfender Frager, sondern Frage und Entgeg- nung spielen hin und her, um dem Gedanken Frische und Fülle des Ausdrucks zu leihen. Aber eben für den Ausdruck dieser Feierlust war1 eine einzelne Fragstimme unwürdig und entstellend gewesen, sie hätte sogleich aus der Frage Ernst gemacht; es musste ein Chor fragen und der andre antworten. und wiederum dieser fragen und der erste antworten. Dies und dies allein schien die Form des Doppelchors zu fodern, der im Uebrigen nicht veranlasst er- scheint. Händel wusste das scheinbar Widersprechende (in einem einfachen Chor die Form des Doppelchors) zu vereinen. Er erwei- tert die Stimmzahl des Chors von vier auf fünf. Nun leiten die Oberstimmen (zwei Soprane und Alt] ein,

5 00

X

m

Hoch thut euch auf, hoch thut euch auf und öff-net euch weit, ihr

P

rho-re de

V I I V

der Welt, dass der Kö-nig derEh - ren ein - zie - he.

die Unterstimmen fragen,

er ist der König der Ehren?

SM

Wer ist der König, der

Kö-nig der Eh-ren, wer ist der Kö-nig der Eh - ren ? und die obern geben wieder die Antwort:

522 Der Doppel- und mehrfache Chor.

Der Herr stark u. mächtig,derHerr stark u. mächtig, stark u. mächtig im Streite.

Jetzt tritt der Alt zu den Unterstimmen und trägt mit ihnen den ersten Satz (ähnlich No. 500) vor, die Oberstimmen (beide Soprane und Alt, so dass die fünf Stimmen als zweimal drei wirken) fragen, die Antwort setzt wieder mit den drei Unterstim- men an. Hiermit ist aber jener Feierform von Chor und Gegen- chor Genüge gethan ; von hier an treten beide Soprane zusammen und der Chor geht als ein einfacher, und zwar vierstimmiger zu Ende.

Zweitens kann die Form des Doppelchors aus der Anschau- ung und Stimmung hervorgehn, die sich im Komponisten von seiner Aufgabe gebildet hat, ohne dass der Text diese Form schlechthin geböte. Dies ist dann der Fall, wenn der Komponist sich gedrun- gen fühlt, seine Aufgabe oder einen Moment in derselben mit be- sondrer Fülle, Macht, Feierlichkeit, oder mit Prunk und Glanz u. s. w. zu behandeln. Denn allerdings bietet zu diesen und ähn- lichen Darstellungen der Doppelchor einen dem einfachen Chor ver- sagten Reichthum an Mitteln. Der einfache Chor kann nur als Masse (homophon) oder zergliedert (polyphon) wirken ; der Doppel- chor kann

1) als einige und in der Regel stimmreichere Masse wirken,

2) sich in seine beiden Chöre zerlegen, also Masse gegen Masse führen,

3) einen oder den andern Chor, oder endlich

4) beide zugleich polyphon auflösen;

und dies alles in mannigfachster Weise und Mischung.

Dieser Gewinn ist so entschieden, dass man ihn selbst im ein- fachen Chor sich gern aneignet und wenigstens stellenweis, so viel die Stimmzahl erlaubt, die Form der Doppelchörigkeit benutzt. Ein Beispiel bietet schon der vorerwähnte Händel'sche Chor, nur dass in diesem der Text selber Anlass gegeben zu einer Art von Doppel- oder antistrophischem Gesang. Einer ähnlichen, nur reichern Ge- staltung begegnen wir im Sanctus der Hohen Messe von Seb. Bach. Ohne allen Anlass im Text, nur dem Bedürfniss erhöhter Feier ge- horchend, schreitet Bach hier aus der bisher festgehaltnen Fttnf- und Vierstimmigkeit zu der Erweiterung des Chors auf sechs Stim- men und bildet die erste Hälfte des Satzes antistrophisch. Zwei Diskante und ein Alt treten einem zweiten Alt, dem Tenor und Bass entgegen,

zed by Google

Die Veranlassung zum Doppelchor.

523

503

-J J JD-l/TJ q

San - ctus, san

ctus, san -

rßi

r 3 :

San - ctus,

san - ctus,

rr

san - ctus,

worauf in zwei Takten sechsstimmig auf der Dominante geschlossen wird; im folgenden Takte bilden wieder beide Diskante mit dem Bass gegen beide Alte mit dem Tenor einen Gegensatz,

504 {

^ l

ctus,

san - ctus,

j mm

san - ctus, san

- ctus. san

X

i

san - ctus,

san - ctus,

san - ctus

i

i

ctus, san

san - ctus,

zed by Go

524

Der Doppel- und mehrfache Chor.

so dass man hier wie zuvor in No. 503 Chor gegen Chor hört (nur dass die Massen nicht stehend festgehalten werden, wie im eigent- lichen Doppelchor, sondern sich, wie man sieht, wechselnd umge- stalten) , dann wieder in den oben ausgelassenen und andern Stellen einen einigen sechsstimmigen Chor bald polyphon, bald homophon, von da wieder auf die doppelchörige Form, z. B.

zurückgeführt wird.

So einleuchtend nun schon im vorläufigen Hinblick (S. 522) der Reichthum und die Macht des Doppelchors geworden sein muss : so wenig werden wir uns auch hier Willkür in der Wahl der Form gestatten dürfen. Schon aus äusserlichen, aber triftigen Gründen sollte man sich des Doppelchors, wo er nicht in der Idee des Kunst- werks nothwendig geboten ist, enthalten ; denn die Besetzung eines Doppelchors sowohl als eine zweckmässige Aufstellung, ein Chor muss vom andern unterscheidbar getrennt, doch aber nicht so weit*

* Ein besondrer Fall, der ausserhalb des rein künstlerischen Gesichtskreises und unsrer Betrachtung liegt, ist der, wo ein in einer dramatischen Handlung notwendiger Moment, oder eine besondre für irgend ein Fest nöthige Anord- nung, oder endlich der Ritus einer Kirche (z. B. der katholischen) antistrophi- schen Gesang zweier abgesondert, ja sogar entfernt von einander aufgestellten Sängermassen fodert, deren eine z. B. vom Orgelchor, die andre vom Altar her, oder eine hinter, die andre auf der Bühne gegen einander, einander ablösend wirken. Hier tritt die Musik in den Dienst der Kirche oder sonst

Digitized by Google

Die Veranlassung zum Doppelchor. 525

von ihm abgestellt sein, dass sie nicht sicher zusammenwirken und zusammen als ein einiges Ganzes gehört werden könnten, sind natürlich doppelt so schwer zu bewirken, als die eines einfachen Chors. Dann aber ist der einfache Chor konzentrirter in seiner

äusserlicher Absichten und hat sich ohne eignen Willen dem Anspruch derselben zu bequemen. Sollen in solchem Fall die von einander entfernten Chöre nicht bloss abwechselnd, sondern auch gleichzeitig wirken : so muss für die Momente ihres Zusammentreffens die höchste Einfachheit in der Komposition herrschen. So schliessen die Improperien des Pal es tri na (die allerdings durchweg höchst einfach gesetzt sind, wie hier

Chor I.

506 l

Po - pu-le me-us, quid fe-ci ti

i

- - bi?

Chor II.

Aut in quo contrista-vi te? Re-spon

mi - hi ! J_ J I j=l

der Anfang zeigt) in dieser Weise,

507

r

Mi - se - re - re no - bis.

- re no

und das in gleichem Styl, nur im ersten Chor etwas bewegter geschriebne Mi- severe des Gregorio Allegri (fünf und vier Stimmen) schliesst so:

Digitized by Google

526

Der Doppel- und mehrfache Chor.

Wirkung ; er hat als Ersatz für die fehlende breite und prachtvolle Fülle des Doppelchors mehr Schlagkraft und mehr Beweglichkeit; seine Stimmen finden, da sie (in der Regel) minder zahlreich sind, als die Stimmen des Doppelchors, freiem Spielraum und können deutlicher vernommen und unterschieden werden ; endlich erhält man sich die mächtige Wirkung des Doppelchors frisch, wenn man diese höhere Form nicht bei solchen Aufgaben, für die der einfache Chor genügt hätte, verbraucht. Dies ist der Grund, warum die Meister nur sparsam vom Doppelchor Gebrauch machen und sich meist mit

D. i.

g o. 33

-t

Tunc im - po-nent su - per Al-ta - re D. II

tu

508 )

um

-o r

vi tu

*=

los.

«

" l m

-is©1 J

W j 4

-XI

u V p. ,

tat— t

a ^

14 1

ay Google

Der doppelchörige Satz.

527

dem einfachen Chor begnügen. Händel hat in seinen Oratorien fast nur den einfachen Chor gebraucht; in Israel in Aegypten weicht er von diesem Grundsatz ab, wahrscheinlich um den einzelnen Haupt- momenten dieses Oratoriums ein um so grösseres Gewicht zu ver- leihn, je weniger das Werk als Ganzes, durch eine künstlerisch wohlerwogne Anordnung, der Grossheit und Macht des Händel'schen Geistes, wie derselbe sich im Messias und anderwärts bewährt, zu entsprechen scheint. Dazu aber kommt, dass die acht Stimmen der Doppelchöre meist zu sieben, sechs, vier real unterschiednen Stim- men zusammengezogen werden. Auch Bach hat meist vier- und fünfstimmig in einfachem Chorsatz geschrieben ; nur in einigen Mo- tetten greift er in Ermangelung einer Ruhepunkte gewährenden Be- gleitung und, hier sowohl wie in der Matthäischen Passion, be- wogen durch die besondre Macht der Konzeption, zu der Form des Doppelchors. Wenn aber die Item Komponisten (der niederländi- schen, alt-italienischen und alt-deutschen Schule) häufigem Gebrauch von Doppel-, ja drei- , vier- und mehrfachen Chören gemacht haben : so thaten sie es, um durch Stimmfülle und Stimmwechsel zu er- setzen, was ihnen an reicherer und bedeutungsvoller Entfaltung der Melodie, der Rhythmik, der Kunstformen, kurz aller Elemente und Gestaltungen noch nicht gegeben war, was erst im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte dem rastlosen und allseitigen Vordringen des künst- lerischen Geistes erreichbar wurde; abgesehn davon, dass sie oft dem Ritus ihrer Kirche und dem in gewissen Perioden hervortre- tenden Bedürfniss derselben, auch die Musik sich in besondrer Pracht entfalten zu lassen, unbedingt Folge leisten mussten.

Zweiter Abschnitt. Der doppelchörige Satz.

Nachdem wir im vorigen Abschnitt das Wesen und die Bedingung des Doppelchors im Gegensatz zum einfachen Chor bezeichnet und dessen Spuren schon im letztern (No. 500 bis 505) aufgefunden, bleibt nur wenig über die Komposition selbst zu sagen. Was nämlich vom einfachen Chor und den für denselben sich darbietenden Kunstformen gezeigt worden, gilt vom Doppelchor ebenfalls, so weit nicht der diesem eigne Inhalt die Umgestaltung der Formen bedingt. Wie aber und wie weit dies geschieht, werden wir leicht erkennen, sobald wir uns die dem Doppelchor eigenthümlichen Aufgaben (wenigstens die wesentlichern) vergegenwärtigt haben. Es fragt sich also zu- nächst :

528

Der doppel- und mehrfache Chor.

IÄÜÜL

was vermögen wir durch den Doppelchor, im Gegensatz zum ein- fachen (oder Uber die Gränzen desselben hinaus zu erreichen?

Als das Nächste scheint allerdings die Benutzung einer grössern Stimmzahl, als im einfachen Chor verwendet zu sein pflegt, er- wähnt werden zu müssen. Hierauf ist aber kein weiteres Gewicht zu legen; denn einmal kann ein einfacher Chor ebensowohl acht- oder neunstimmig gesetzt werden, wie ein Doppelchor (und dieser minderstimmig) , dann wissen wir, dass der Gewinn an Stimmzahl kein reiner, sondern durch Verlust an Bewegsamkeit, Karakteristik und Fasslichkeit der einzelnen Stimmen verkümmert ist. Erst die Gebrauchsweise der Stimmen, ihre Vertheilung in zwei Massen be- dingt das Wesen des Doppelchors und gewährt die ihm eignen Vor- theile. Diese sind zunächst folgende.

I. Ablösung einerMasse von Stirn mendurchdieandre.

Wenn ganz einfach Masse gegen Masse tritt, eine die andre ablösend, gleichsam eine Wechselrede von Chören: so muss dadurch das Ganze an Beweglichkeit und Mannigfaltigkeit gewinnen. Der Anfang der Palestrinensischen Improperien (No. 506) veranschaulicht dies am einfachsten Inhalt. Wenn nach dem Schlüsse des ersten Chors auf D der andre Chor auf C einsetzt und so beide wechseln, bis sie zuletzt (No. 507) verschmelzen : so muss das nothwendig man- nigfaltiger erscheinen und belebender wirken, als wenn ein einziger Chor die Sätze nach einander vortrüge * ; auch würde dann wahr- scheinlich (wenigstens in unsrer Zeit, wäre man auch von derselben Weise ausgegangen) die Modulation von einem Satz zum andern eine andre geworden sein. Die Mannigfaltigkeit dieses Chorwechsels wirkt noch entschiedner, wenn die beiden Chöre nach Stimmzahl verschieden zusammengesetzt sind, wie z. B. das Miserere von Allegri (dessen Schluss wir in No. 508 gesehn haben), in dem ein fünfstimmiger Chor (zwei Diskante, Alt, Tenor, Bass) einem vier- stimmigen (zwei Diskante, Alt, Bass) gegenübertritt. Aber auch ohne dieses Hülfsmittel kann das Ablösen der Chöre dem Ganzen anmuthige Beweglichkeit mittheilen.

Ein genügendes Beispiel giebt die wahrscheinlich von Johann

* Erschallen nun die Chöre von verschiedenen Seiten her, vielleicht unsicht- bar in verdunkelter Kirche (wie in der Charwoche in der Sixtina in Rom, wie es vor Jahren Spohr in der Allg. mus. Ztg. so schön beschrieben), setzt der folgende Chor im leisesten Hauch und allmählich anschwellend ein, während die letzte Harmonie des ersten Chors noch in den Lüften zu vorschweben scheint : so kann die Wirkung allerdings eine bezaubernde, aber doch mehr auf dem sinnlichen Element der Darstellung, des Verhallens und Anschwellens schöner Stimmen und reiner Harmonien, als auf dem geistigen Inhalt beruhende sein.

Digitized by Google

Der doppelchlirige Satz

529

Christoph Bach komponirte Motette*: »Ich lasse dich nicht«. Hier intonirt der erste Chor

509

im

Ich

r~Tr

las - se dich nicht, du seg - nest mich

1 i

denn.

4

i— i u

t-

und der andre wiederholt; der erste giebt einen zweiten, dritten Satz, der andre wiederholt, stets nach dem Schlüsse des ersten und wörtlich. Der vierte Satz wird auch noch gesondert, aber unvoll- ständiger wiederholt ; erst viel später greifen die Chöre in einander.

Ein zweites ähnliches Beispiel entlehnen wir einem Kyrie von G. H. Stölzel für Doppelchor mit Begleitung des Streichquartetts und der Orgel. Nach einer Intonation des Kyrie durch beide ver- einte Chöre mit Zwischenspiel des Orchesters, die uns hier nichts angeht, intonirt der erste Chor diesen kanonischen Satz

Ky - ri - e, Ky - ri-e e - le

510 <

f

u

1 r

Ky - ri - e,

fr

13

t

Ky - ri-e e - le ky - ri - e

F

9t

i

II c

Ky - ri -

i-son. f

in Unterquinte und Oktave. Von f (Takt 8 in No. 510) an tritt nun in gleicher Weise mit demselben Kanon der zweite Chor zu, so dass sein Diskant den des ersten Chors, sein Alt den ersten Alt ablöst, und so fort. Es bildet sich also hiermit ein unendlicher Kanon, nur, wie hier

* J. Seb. Bach's Motetten, in Partitur bei Breitkopf und Härtel, Heft I, No. 3. Von Seb. Bach ist diese oben erwähnte Motette gewiss nicht; wahrscheinlich, wie gesagt, von Johann Christoph.

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 31

ed by Google

530

Der Doppel- und mehrfache Chor.

Chor II.

5H {

fknr IT

Chor I.

I |

Chor II. Chor I.

Chor I.

Chor II.

mm

Chor II.

die Ueberschriften anzeigen, mit ablösenden Stimmen. Auf diesen zweiten Chor stellt sich nun wieder der erste mit einem neuen (dem ersten freilich gar zu ähnlichen) Kanon zum Christe

511

Christe,

Christe e -

le

u. s. w.

M 1

i T

m

r 1 -

I l

- * *

-L ij

p= |

W-ß-

C= M"J

'rr

m

auf, der vom zweiten Chor anschliessend wiederholt wird; auf des- sen Schlüsse wiederholt der erste und dann der zweite das Kyrie, und nun erst schliessen beide vereinte Chöre.

Ganz abgesehn von der grössern oder mindern Tiefe der Kon- zeption entsteht bei solchen Konstruktionen die bedenkliche Frage : ob nicht durch die Zertheilung des Chors an Energie und Wohl- klang der Stimmen mehr verloren, als durch die Abwechselung ge- wonnen wird? Wenigstens bei längerer Fortsetzung erscheint diese Gestaltung als eine ungünstige. Dagegen gewährt sie, bloss an- fangs, zur Einleitung eines Doppelchors angewendet, den Vortheil einer klaren Auseinanderstellung beider Massen; bei energischer Erfassung der Aufgabe wird dann der Komponist den Wechsel der Chöre zeitig dringender werden und einen Chor in den andern ein- greifen lassen. Eins der leuchtendsten Vorbilder bietet hier die vierte Bach'sche Motette*,

* Die erste im zweiten Hefte der Breitkopf- Härtel'schen Ausgabe.

by Google

Der doppelchlirige Satz.

531

513 l

Lentö.

br 3

Komm,

9*£

komm, komm Je - su, komm,

±A A.A A

J.

Komm, komm, komm,

komm Je - su,

.,,1 j

komm Je - su, komm,

t

komm Je - su, komm.

komm,

J

komm Je - su, komm, komm Je - su,

von der überhaupt gesagt werden darf, dass sie des heiligen Geistes voll ist. Hier drangt wirklich Masse auf Masse, es schleicht nicht eine der andern nach, sondern jede führt weiter, was die andere vorausgebracht; und doch ist das nur d<jr Eingang.

Wir wollen noch einen verwandten Fall anführen, den Anfang der zweiten Bach'schen Motette*,

* Im ersten Hefte.

34*

Digitized by Google

532

514

Der Doppel- und mehrfache Chor.

Fürchte dich nicht,

7 e e i

33

ich bin bei dir,

7 / hi;

be i

Fürchte dich nicht, ich bin bei

dir,

5

bei

Fürchte dich nicht,

7

-b ^

ich bin bei

/ J? J

Fürchte dich nicht, ich bin bei dir,

in dem ein Satz (fürchte dich nicht ich bin bei dir) Glied um Glied vom ersten Chor angestimmt, vom andern nachgeahmt wird, dies aber nur von den drei Oberstimmen jedes Chors, während der vereinte Bass beider Chöre die das Ganze verbindende und tragende Grundlage bildet. Im dritten und vierten Takt folgt, unter Vortritt des zweiten Chors, die (ähnliche) Wiederholung, deren Schluss auf A zurückfällt, und dann die weitere Ausführung unter stetem Wechsel der Chöre,

~r L T II 1 ~H

die erst zuletzt wieder, wie bei Takt 2 und 4, auf einen Augen- blick zusammentreffen. Noch lange dauert dieses Wechselspiel der Chöre fort ; zu lange, müsste man fürchten, wenn nicht die Macht neuer Gedanken, gediegner Modulation, mannigfacher Gliederung, und besonders der dieses Wechselspiel krönende Gedanke (No. 520) den breiten Unterbau kräftigte und rechtfertigte.

t

2. Gleichzeitige Gegeneinanderstellung beiderChöre.

Schon in den vorhergehenden Fällen traten die beiden Chöre als zwei einander entgegenstehende Massen auf, aber entweder voll- kommen von einander gesondert (No. 506, 509), oder nur durch eine Unterlage (No. 514) verbunden, die weder der einen, noch der andern Masse ausschliesslich gehörte, oder endlich mehr oder weniger

ay Google

Der doppelchörige Satz.

533

ineinandergreifend (No. 513, 499), doch kenntlich genug unterschie- den durch die Zeitfolge des Eintritts. Im nachfolgenden Beispiel, dem Anfang von Seb. Bach's erster Motette: »Singet dem Herrn ein neues Lied« (Psalm U9),

516

1

W - 3 " =J

- ~ =\ P+£~?

gi p ra

*(f ^4^r;

ggf ' " -d

Sin -

Singet, singet,

ij ^

t r

sin - get,

i i

lf *

sin - get,

1 l

-+? =r-=i

,..g_ir.,r=j^

H r ^~H=?— -=»

treten beide Chöre gleichzeitig auf, aber der Inhalt unterscheidet sie 5 die drei Oberstimmen des ersten Chors figuriren gegen die Anrufe des zweiten, wahrend derBass des ersten die Grundlage des Ganzen giebt.

Gleiches geschieht bei dem Fortgang der vierten Bach'schen Motette von No. 513 ab; der zweite Chor setzt den Anruf, der das erste Motiv gegeben, fort, während der erste im Text und der bis dahin nur angeregten Stimmung weiter schreitet,

317

feg1

Gieb Trost mir

f.

4^

3

r

-j K.t

i, komm, komm, =k ^_

| » \-f~' m-

m

gieb Trost mir j

komm, komm, komm, komm,

bis auch der zweite Chor den neuen Gedanken ergreift und mit dem ersten vereint abschliesst.

Digitized by

534

Der Doppel- und mehrfache Chor,

Ein dritter Fall bietet sich an dem S. 520 aus Mose ange- führten Chor. Den Aegyptern gegenüber, die in ihrer Aufregung wild durch einander rufen, tritt der Gegenchor der Israeliten ängstlich zusammengedrückt, wie eine gescheuchte wehrlose Schaar auf;

518 Sopr. i. II. Alt 1.

Q

i

feto«

J— M

X

pla

t

gen

Lasst sie uns pla - - gen, lasst Wohl her nun, wohl her nun,

- i -t 1 L»» - l

Bass 1. Wohl her, wohl her, lasst sie uns

Alt II. sempre p

*

Ten. II.

Ihr habt uns Un

glück zu-ge-rich-tet,

sempre p

■r-rt

x

J V

Bass II.

beide Chöre sind durchaus geschieden , der erste polyphon , der zweite im Einklang aller Stimmen.

3. Auflösung beider Chöre in ihre Stimmen.

Bringen wir uns diese Form an einem der karaktervollsten Gebilde, die die Kunst kennt, zur Anschauung. Es ist der Chor der wüthigen Juden (aus der Matthäischen Passion), die Jesus »des Todes schuldig« urtheilen.

Er ist des Todes schul - dig, er ist des To - des

3E£

¥ ' ¥

Er ist des To - des schul - dig, er ist des Todes schul- EristdesTo - des schul - dig, er ist des

, / § t W\¥¥ iHtez zxfc » -7— P *

7

i

Er ist des Todes schul - dig, Er ist des Todes schul

i

dig, -4—

I

Er ist des To

des schul Er ist des Todes schul-

I

N H >

ir ist des

des schul

by Googl

Der doppelchlirige Satz

535

schul - - difz, des To - des schuldig!

1

§*=e- =Hp^^N

dig, des To - des schuldig! To-des schul - dig, des To - des schuldig !

1

i

F •? - 4— |

er ist des To - des schul - dig! er ist des Todes schul - - dig!

dig, er ist des To - des schul - dig! dig, ist des To-des schul - dig!

i

-

dig, er ist des To - des schul - dig!

Hier sind beide Chöre polyphon aufgelöst und bilden einen eini- gen achtstimmigen Satz. Dennoch ist der Körper jedes Chors deutlich zu unterscheiden, sowohl in der Stimmordnung, Diskant, Tenor, Alt, Bass, und abermals Diskant, Alt, Bass, Tenor, wie auch im Vorherrschen des ersten Chors zu Anfang und des zweiten Chors zu Ende, das sich besonders in den Oberstimmen zeichnet. Dieses Festhalten der Grundbildung mitten in der allgemeinen Auflösung in einzelne Stimmen darf wohl als eine Energie und Schönheit der künst- lerischen Gestaltung bezeichnet werden (sie ist Bach fast tiberall eigen), wenn man sie auch nicht zu einer unerlässlichen Bedingung erheben kann. Denn warum sollte nicht der Doppelchor auch in dieser Weise zur Form des einfachen Chors zurücktreten, wie dieser gelegentlich an den Vortheilen des Doppelchors seinen Antheil sucht?

4. Energische Gegenstellung von Masse und einzelnen

Stimmen.

Schon der einfache Chor kann gegen eine seiner Stimmen den Verein der übrigen aufführen ; allein der Gegensatz ist nicht bloss ein minderer, sondern die Fortführung desselben eine beschränkte nach der Minderzahl der Stimmen, deren sich der einfache Chor zu bedienen pflegt. Soll im vierstimmigen Chor z. B. der Bass gegen die übrigen Stimmen treten, so hat er nur drei jung klingende Stim- men als Masse gegenüber; soll nun dieser Gegensatz fortgeführt werden, so muss man zu einer der obern Stimmen nach der andern greifen, und es ist die Frage, ob jede derselben angemessen er-

Digitized by

53(> Der Doppel- und mehrfache Chor.

scheint. Betrachten wir dagegen dieselbe Gestaltung in einem Dop- pelchor; — es ist die Fortsetzung der in No. 514 und 515 ange- führten Motette.

Ich stärke dich, ich stärke

ich stär - - - ke dich.

Hier tritt vor allem der abgesonderten Stimme eine Masse von sieben andern, getragen und gestärkt durch einen Bass als Unter- stimme, gegenüber ; der Komponist hatte unter allen Stimmklassen stets freie Wahl für die vortretende Partie, konnte also zweimal den Bass vorführen , ohne auf dieselbe Stimme zurückzukommen ; Ober- und Unterstimme jeder Masse waren frei und konnten (man sehe den Bass im ersten und letzten, den Diskant im dritten Eintritt) in aller Macht frei gewählter Intervalle eintreten, wenn auch Dis- kant oder Bass vorangegangen war.

by Goo

Der doppelchörige Satz.

537

Ein eben so mächtiges Beispiel entnehmen wir der bei No. 513 angeführten Motette.

121

n rrr rrr

Das Ziel

3^

Das Ziel ist nah, die Kraft ist klein.

de

h : /.iel

Ii

Das Ziel ist nah' die Kraft ist

1 ' 1 * ß "

. nTTTT

das Ziel

das Ziel ist nah , die Kraft ist klein,

mm

das Ziel

ii

d

Wn -

f =

■=JJJ JJ

Ii _,. j 1

4*f i ME-p

~r

klein,

dasZiel ist nah, die Kraft ist klein,

Hier war es um energische Darstellung des Hauptgedankens zu thun. Viermal wird er vom Bass vorgetragen, eben so oft vom Diskant beantwortet und jedesmal von einer frischern Stimme ein- gesetzt ; der Bass tritt in seiner Kraft und männlichen Beredtsamkeit (vergl. S. 357) allein auf, der zartere Diskant, in seiner beweg- lichem und weiblich anmuthigen Weise, wird vom Schluss des Bassgesangs und den ganz untergeordneten Mittelstimmen getragen : bloss hierauf beschränkt sich der Gegensatz von Masse und Einzel-

Digitized by Google

538

Der Doppel- und mehrfache Chor.

stimme. Das ganze Gebilde war offenbar nur durch den Doppel- chor darstellbar.

So viel, um die eigenthümlichsten Gestaltungen des Doppelchors anzudeuten. Zu erschöpfen sind sie schon darum nicht, weil jedes neue Werk neue Gebilde bringen kann; auch würde eine er- schöpfende oder möglichst erschöpfende Darstellung eher nachtheilig und hindernd, als vortheilhaft sein, da sie der Erfindung mehr als nothwendig Vorgriffe. Ohnedem kann und will die Lehre das Studium der Meisterwerke nicht überflüssig machen, sondern vielmehr auf dasselbe nach Kräften hinführen und vorbereiten. Unsre Liebe und unsre Bildung, beide können die stete, tiefste Durchdringung der Meisterwerke nimmer entbehren, ja ohne sie nicht wohl gedacht werden.

Dritter Abschnitt.

Die Formen des Doppelchors.

Haben wir im vorigen Abschnitte die Macht des Doppelchors angeschaut, in ihm eins der gewaltigsten Organe der Kunst erkannt : so ist doch eben in der Weise dieser Macht ein letzter Grund für sparsame, nicht nach Willkür, sondern nach innerer Notwendig- keit zu treffende Anwendung (S. 524] gegeben. Die Massenwirkung (S. 526) bringt im Verhältniss zur Grösse der Masse auch Mangel an freier Bewegsamkeit und Durcharbeitung, so wie Schwierigkeit der Auffassung mit sich. Die Ablösung eines Chors durch den andern (S. 530) halbirt die Kraft des ausführenden Personals und kann nicht ohne Bedenken lange fortgeführt werden ; ähnlich verhält es sich mit allen dem Doppelchor eignen Gestaltungen. Man erkennt: dass der Doppelchor den einzelnen Moment mit überwiegender Kraft darstellen kann, dass er aber eben desshalb um so schneller seine Aufgabe erfüllt, um so weniger das Bedürfniss und das Recht weiter Ausdehnung hat.

Niemand wird die Macht der in No. 519 bis 524 mitgetheilten Sätze verkennen, aber keinem derselben wird man breitere Aus- führung wünschen oder ohne Verderbniss zufügen können.

Daher begreift man, dass der Doppelchor sich auf die breitern Kompositionsformen, namentlich auf Choralfiguration und Fuge, in der Regel nicht einlässt; diese Formen würden in Anwendung auf ihn zu weite Ausdehnung erhalten müssen. In Bezug auf die Fuge ist dies schon früher genügend besprochen worden. In Bezug auf die Choralfiguration ist dem Verfasser nur der weiterhin zu be- sprechende Einleitungschor in die Matthäische Passion als Ausnahme bekannt. Seb. Bach hatte hier ein in höchster Feierlichkeit vor-

Digitized by Google

Die Formen des Doppelchors.

539

zugsweise doppelchörig angelegtes, weitumfassendes Werk einzuleiten und fand sowohl hierin, als schon im Text entscheidende Gründe zu seiner Form. Wo ihn aber nicht die Lage der Sache selbst nöthigte, ging er mit seinen Choralfigurationen stets vom Doppelchor auf Vierstimmigkeit zurück; so in demselben Werke mit dem den ersten Theil schliessenden Choral: »O Mensch, bewein' dein' Sünde gross«, so in der zweiten, bei No. 5U angeführten Motette. Auch die bei No. 509 angeführte Motette geht bei einer später eintreten- den Choralfiguration auf den einfachen Chor zurück.

So ist denn vorzugsweise der Satz, oder eine Folge von Sätzen, motetlenartig verbunden, die Form, die der Doppelchor annimmt ; den Satz kann er in überlegner Fülle und Energie hin- stellen und abthun, eutweder sofort schliessend, oder nach befrie- digendster Erledigung des ersten einen zweiten mit gleichem Nach- druck folgen lassend.

Wie viel solcher Sätze in einem Gusse folgen dürfen? das lässt sich im Allgemeinen nicht bestimmen. Nur so viel ist gewiss, dass mit der Zahl der an einander gereihten Sätze der Antheil und die Dauerkraft des Schaffenden wie des Hörenden von den voran- gegangnen Sätzen durch die nachfolgenden abgezogen, zerstreut, endlich geschwächt und zersplittert wird, dass man sich also hier, bei der Gewichtigkeit des Organs und der Aufgaben, möglichst zu beschränken wohl thut. Die Bach' sehen Motetten haben zum Theil grosse Ausdehnung ; man kann aber selbst von ihnen nicht sagen, dass ihr allerdings unschätzbarer Werth mit der Ausdehnung in gleichem Verhältniss ständ' ; vielmehr dürfte eben einigen der be- schränktem Sätze die höchste Vollendung zu Theil geworden sein. Unvergleichlich stehn dagegen die Doppelchöre der Matthäischen Passion da, die fast alle auf den Raum weniger Takte, auf einen oder ein Paar Sätze beschränkt sind und in dieser Begränztheit die Kraft gefunden haben, die bedeutungsvollsten Momente der ewigen Geschichte in der Fülle ihres tiefen Inhalts hinzustellen.

Eben so wenig lässt sich im Allgemeinen vorausbestimmen, in welcher Wahl und Folge die Mittel, die der Doppelchor anbietet, zur Anwendung kommen sollen. In der Regel wird man mit dem Verein beider Massen, oder auch mit der Rückkehr zum einfachen Chor, als der einheit- und nachdruckvollsten Verwendung des Ganzen, zu schliessen wünschen ; gern wird man (S. 530) zu Anfang die Massen sondern, um so das Organ in seinen Hauplpartien klar auseinanderzusetzen. Allein dergleichen Regeln oder Rathschläge müssen stets der Anfoderung der jedesmaligen Aufgabe weichen, oder ergeben sich dem bis hierher Vorgedrungnen von selbst.

Digitized by Google

540

Der Doppel- und mehrfache Chor

Vierter Abschnitt. Der drei- und vierfache Chor.

Die Macht des Doppelchors beruhte im Wesentlichen darauf, dass ein Chor dem andern entgegengesetzt werden konnte. Hierzu sind also zwei Chöre erfoderlich. Wieviel gegen diesen Gewinn an Beweglichkeit, Formreichthum u. s. w. eingebüsst wird, haben wir gesehn.

Die Verknüpfung von drei und mehr Chören bringt keinen neuen wesentlichen Gewinn und häuft die Schwierigkeiten und Hindernisse, die wir schon bei dem Doppelchor anerkennen mussten. Zwölf, sechzehn reale (wesentlich verschiedne) Stimmen sind, zu- mal im Bereich der Singstimmen, nicht zu führen; und wenn sie zu führen waren, so würden sie vom Hörer nicht unterschieden werden können, mithin bloss als volle Masse wirken. Hierzu genügt aber der Doppelchor (wenn nicht schon der einfache; vollkommen und lässt dabei doch die Weise der einzelnen Stimmen klarer durch- klingen. Wir werden später (im vierten Theil des Lehrbuchs) er- fahren, dass im Orchester zwölf und mehr verschieden gebildete Stimmen mit einander zu guter Wirkung geführt werden können. Dies ist desshalb der Fall, weil derselbe Gedanke von verschieden Instrumenten verschieden dargestellt werden muss und, wenn sich verschiedne Instrumente zu demselben Satze jedes in seiner Weise vereinen, man nicht das einzelne Instrument hören will und hört, sondern nur die Gesammtwirkung aller in ihrer Verschmelzung. Mit Singstimmen verhält es sich anders. Das Organ des Menschen, gewidmet der bestimmten sprachlichen Aeusserung, ist ein zu per- sönliches, zu geistvolles, als dass man seine Vermischung zu un- unterscheidbarer Masse billigen könnte.

Aus diesen Gründen hat der drei- und vierfache Chor seit der höhern Ausbildung unsrer Kunst bei den Meistern keine Anwendung gefunden, ausser in solchen Gestaltungen, in denen zwar drei, vier unterscbiedne Massen, nicht aber drei oder mehr vollständige Chöre auftreten. In dramatischen Scenen kann es bisweilen nothwendis werden, drei und mehr Massen gegen einander zu führen ; in den Opern S p o n t i n i ' s und Meyerbeer's sind dergleichen Kombina- tionen zu treffen. Allein dann wird einer oder werden mehrere der Chöre durch eine einzige Chorabtheilung oder Chorstimme vertreten, Tenöre und Bässe bilden z. B. einen oder zwei, Diskant und All einen oder zwei andre Chöre, die eine Partei wird von dem Chor- bass, zwei andre werden von andern Männer- und den Frauen- stimmen dargestellt, so dass bei dem Zusammentritt aller doch nur vier bis acht Stimmen zusammenwirken.

Der drei- und vierfache Chor. 541

Merkenswerther für das Studium, als alle diese mehr von den Bedingungen der Scene abhängigen Kombinationen, ist der schon S. 538 erwähnte Einleitungschor der Matthäischen Passion. Dieser Chor musste sowohl nach dem in Frage und Entgegnung auseinander- tretenden Text,

Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen, Sehet »wen?« den Bräutigam, Seht ihn »wie?« als wie ein Lamm, Sehet »was?« seht die Geduld, Seht »wohin?« auf unsre Schuld

u. s. w.

als in Uebereinstimmung mit der ganzen Auffassung des Werkes sich als Doppelchor gestalten; zu beiden Chören tritt aber, von einem dritten Chor von Diskanten* gesungen, der Choral: »0 Lamm Gottes, unschuldig«. Hier war also ein dreifacher Chor nothwendig; aber in seiner Gesammtheit zahlt er nur neun Stimmen, und der Choral stärkt vielmehr in seinem gleichförmigen Einher- schritt die Haltung des Ganzen, als dass er sie stören könnte.

Dergleichen seltene und dann bei zweckmässiger Auffassung in sich selber vereinfachte und erleichterte Fälle ausgenommen, dürfen wir die Anwendung von drei- und vierfachen Chören als unange- messen, keinen wesentlichen Vortheil, sondern entschiednen Verlust an der Rüstigkeit und Macht des einfachen und Doppelchors bringend, mithin als unkünstlerisch von uns weisen. Nur in der Periode der Niederländer, der altrömischen und venedischen Schule wurde die Kraft der Musik in solchen (und noch viel weiter gehenden)** Auf- thürmungen gesucht, die, wie schon S. 527 erwähnt, ersetzen sollten, was der Kunst an geistigen Mitteln und Bildung noch nicht zugewachsen war; die Hinterlassenschaft dieser Zeit und in ihr auch der dreifachen und vierfachen Chöre ist dann von histo- rischen Kunstdileltanten in einem, seinem Ursprung nach löblichen liebevollen , aber unerleuchteten Eifer Uberschätzt worden , kann jedoch die unbefangne Prüfung dessen, der mit dem Wesen unsrer Kunst vertraut ist, nicht von den absoluten Gesetzen abwenden, unter denen das Werk des Künstlers entsteht, muss vielmehr er- fahrungsgemäss bestätigen, was umsichtige Erwägung schon im Voraus zu erkennen vermag. Mit der Anzahl der Stimmen und Chöre wächst die Schwierigkeit, die einzelnen Stimmen zu indivi-

* Es ist Soprano tipieno vorgeschrieben; die vielfache Besetzung dieser Stimme würde sich auch von selbst verstehn, da eine Solostimme nicht zwei Chöre und Orchester beherrschen könnte.

** Dass man endlich auch pedantische Eitelkeit mit der (so wohlfeilen !) Kunst vielstimmigen Satzes getrieben, zeigen Versuche: für zwölf Chöre 'scheinbar ach tu nd vi er z i gs timmig !) zu setzen. Diesmal waren nicht Deutsche die Pedanten, sondern Italiener.

Digitized by

542

Der Doppel- und mehrfache Chor.

dualisiren. gebt also die höchste geistige Kraft der Chorkomposition (die polyphone) und wie wir schon bei dem Doppelchor be- merken mussten die Möglichkeit, reichere Kunstformen vortheilhaft anzuwenden, mehr und mehr verloren. Aber auch die Massenkraft wird geschwächt, da die Zertheilung der Sänger in zwölf oder sech- zehn Stimmen zu ungünstigen Lagen und Schritten zwingt und alles auf einander drückt, sowohl in Tiefe als Höhe.

Werfen wir, damit es nicht ganz an Belägen fehle, einen Blick auf ein dreichöriges (zwölfstimmiges) Benedictes von Joh. Gabriel i. Der erste Chor besteht aus drei Diskanten und Tenor, der zweite aus Diskant, Alt, Tenor und Bass, der dritte aus Tenor und drei Bässen.

522 Chor I.

Be - ne-di-ctus qui ve

J

TIS:

1 I '

in no-mi

F

r-r-| r

-i i

- ne-di-ctus qui ve

fr

-i

i

1

nit

m

in no-mi-ne,

Digitized by Google

Der drei- und vierfache Chor. 543

Do - - mi-ni.

Der letzte Takt ist dreitheilig (3/4) und im nächsten setzt Osama ein, von dem wir (mit üebergehung von dreizehn Takten) den wieder in der ersten Taktart stehenden Schluss geben.

Digitized by Googl

544

Der Doppel- und mehrfache Chor.

Dass diesem Satze besonders in seinem ersten Theil (No. 522) Feierlichkeit und Würde, wenn auch nicht der treffende Aus- druck des in den Worten ausgesprochen Gedankens, inwohnt, dass der Wechsel des dämmerungtiefen dritten Chors mit dem hoch und hell hineinklingenden ersten überaus sinnig (man möchte sagen, wie ein de profundus clamavi und ein osanna in excelsis) , anmuth- voll und andächtig zugleich anspricht und der mittlere gemischte Chor wohlbedacht und wohlerwogen die Extreme der andern Chöre vermittelt: wem könnte das entgehn? Allein hierauf beschränkt sich und muss sich beschränken der wesentliche Gehalt dieser und aller gleich angelegten Kompositionen. Die reiche Musikentfaltung, die Mannigfaltigkeit und Spannkraft der grössern Kunstformen, die durchdringende Individualisirung der Stimmen, der tiefe und durch-

Digitized by Google

Der drei- xmd vierfache Chor. 545

gehende Einklang zwischen dem Gedanken des Textes und der Musik, zwischen dem Wort und seiner Weise, daher endlich die karakte- ristische Gestaltung jeder einzelnen Komposition und ihre not- wendige und wesentliche Verschiedenheit von jeder andern : das alles war in solcher Fassung* nicht erreichbar. Was aber Wesent- liches erreicht worden, würde sich mit bescbränktern Mitteln, z. B. im achtstimmigen Satze (Takt 3 bis 5 bei A.y Takt 9 und 10 bei B.)

ve nit, be-ne-di - ctus

erreichen lassen (selbst ohne den Bass in die selten erreichbare Tiefe von C und D zu drängen) und damit die Möglichkeit einer reichern, individualisirten Gestaltung der Komposition gewonnen sein.

* Es konnte überhaupt in jener Zeit, wo die Musik noch nicht freie Kunst war, sondern im Dienst der Kirche stand, weder erreichbar noch not- wendig und begehrt sein. Diese einander ablösenden, in einander wehenden Stimmmassen der zwei und drei Chöre Hessen in einer höhern und schönern Sprache, als der gemeinen des Alltags, das Wort der Verkündigung oder des Gebets vernehmen und stimmten so in die allgemeine Heiligung, die, zunächst von der Priesterschaft persönlich vertreten, das Grundelement des katholischen Gottesdienstes genannt werden darf. Hierzu war ein tiefes, auslegendes und ausdeutendes Eingehn auf das Wort weder nöthig, noch zulässig; erst der Protestantismus hat dem Volk das Wort (die Bibel) gegeben, eingedenk, dass das Volk ein priesterlich Volk sein solle. Daher war auch nähere Individualisirung der Stimmen, kurz alles damals nicht Gegebne, weder nöthig, noch zulässig. Es soll also auch alles oben Angemerkte nicht ein Tadel der alten Weisen sein; wie unhistorisch und unkritisch war' es, eine Zeit nach den Bedürfnissen und Begriffen einer andern zu richten ! Fragt sich aber, was unsrer Zeit gebührt: so dürfen und müssen wir uns an den Zeugniss geben- den Werken der frühern Zeit zum Bewusstsein bringen, ob das Damalige noch ein Recht auf die Gegenwart hat. Nicht über die alten Meister und ihre Werke, sondern über unsre Aufgabe und Obliegenheit ist hier zu urtheilen ge- wesen. Dem Jünger darf keine Kunstperiode und Kunstrichtung fremd bleiben ; aber keine darf seine Vernunft unter dem Glauben und Vorurtheil gefangen nehmen.

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 85

Digitized by Google

546 Der Doppel- und mehrfache Chor.

Es versteht sich von selbst, dass das hier Bemerkte bei dem vierfachen Chor noch in höherm Grade zutreffen muss. Das Werk eines sehr geschickten Meisters der neuern Zeit, Faschs sechzehnstimmige Messe, gebe uns als einzig nöthigen Belag den Schluss des Kyrie.

525

I.

m

e

- le

1

1 Q

i -

son, e -

1

CT* "

le -

-cd 1

k* --

II.

e - le

1. i

i - son, e - lei

Kv - ri-e e - le - -

J.

i

Iii.

e

-q:

J J l

Iei-son

=b=«E

Ky - ri - e e - lei

Ij J44

- son

3=t

IV.

real

J

9i

l I < »

J

O

Q CD

Fasch schrieb diese Messe, durch vierchörige Kompositionen von Orazio Benevoli zur NacheiferungT zu dem Versuch ange- regt, was die Kunstfertigkeit seiner Zeit (Ende des vorigen Jahr- hunderts) in solchen Aufgaben der alten Meister vermöge. Dass er technisch zu seinem Unternehmen wie irgend einer seiner Zeit- genossen gerüstet und befähigt war, hat er in diesem und andern Werken sattsam erwiesen. Dass sein Antrieb ein mehr äusser- licher (Nacheiferung, Erprobung des Kunstgeschicks) war, kein rein künstlerischer; dass ihm auch nicht die kirchliche Erhebung zu Hülfe kam, die die alten Meister im unmittelbaren Dienst der Kirche

Digitized by Googl

Der drei- und vierfache Chor.

547

gekräftigt haben mag: kann hier unerwogen bei Seite bleiben. Nicht in all diesen Verhaltnissen, sondern in der Natur der Auf- gabe liegt das Bedenkliche ihrer Lösung; nur dies zu erkennen, liegt uns ob, wahrend eine Kritik des würdigen Tonsetzers weder unsre Pflicht noch uns ziemend ist, da es hier gar nicht auf seine Be- urtheilung ankommt. Führen wir die sechzehn Stimmen auf ihren Tongehalt zurück, so erscheint etwa folgendes Resultat,

I _ I . J J J

das aber die Verdopplungen der Töne und deren Ablösungen nicht genau und vollständig hat aufnehmen können. Wenn hier die Stimmen einander drücken, drangen und kreuzen, die Töne der einfachsten Akkordfolge

527

I

J _J

-J

r r 1 rr ^ff^

fast unkenntlich durcheinanderziehn, im fünften Takt wieder a, im siebenten und zehnten wieder # in die Oberstimme tritt, offenbar nur, um für alle Soprane noch eine Tonstufe mehr zu erringen : so ist das alles kein Vorwurf für den Komponisten, sondern nur ein Beweis für die Ungunst der Aufgabe. Und wie soll nun vollends der Hörer aus diesem Tongewimmel die einzelnen Stimmen, oder auch nur die eigenthümlicher geführten (z. B. den Diskant des ersten, den Tenor des vierten Chors) heraushören? Bei alle dem ist aber der Satz nicht einmal sechzehnstimmig; die Bässe des zweiten und vierten Chors sind für eine Stimme zu achten, der

35*

Digitized by Google

548

Der Doppel- und mehrfache Chor.

des dritten schliesst sich ihnen bis auf zwei, der Tenor des zweiten Chors bis auf vier Takte an u. s. w. Auch das ist, wenn einmal die Aufgabe feststand, kein Vorwurf, war vielmehr nothwendig oder doch vortheilhaft; jede neue Stimmabweichung hätte das Gewirr vermehrt.

So erscheint uns denn der Doppelchor und zwar der achtstimmige als Gränze für die Chorkomposition, die nur in seltnen Fällen und dann nicht mit vierstimmigen Chören zu Zwölf- oder gar Sechzehnstimmigkeit, sondern mit Chören, die insgesammt nicht über acht oder neun Stimmen hinausgehn, über- schritten werden soll. Muss es aber doch geschehn, so bedarf es dazu keiner neuen Lehre, auch keiner besondern Vorübung. Die für den Doppelchor aufgefundnen Grundsätze und Anschauungen werden sich für die noch umfassendem Kombinationen ebensowohl genügend erweisen.

Fünfter Abschnitt.

Die Verbindung von Chor und Solo.

Zum vollständigen Besch luss der ganzen Lehre von der Chor- komposition, so weit sie hier zu geben, bedarf es nur noch weniger Bemerkungen über die Verbindung und Vermischung von Chor- und Sologesang. Meist findet sie in umfassendem und dann begleiteten Kompositionen statt; daher ist auch erst im vierten Theil des Lehrbuchs gründlicher von ihr zu reden. Doch kann auch im reinen Vokalsatz Solo und Chor verbunden werden; es muss daher wenigstens das Nächste schon hier Erwähnung finden.

Ein im Allgemeinen für Chorkomposition bestimmter Text kann einzelne Partien enthalten, die sich nur als Aeusserung Einzelner fassen lassen, mithin Sologesang werden müssen. Hiermit ist also die Verbindung von Solo und Chor bedingt.

Die Solosätze können nur einer einzigen, oder mehrern Solo- stimmen zuertheilt werden. In unbegleiteten Vokalsätzen wird man in der Regel das Letztere vorziehn müssen.

Sie können mit den Chorsätzen abwechseln, oder sich mit ihnen gleichzeitig verbinden.

Der erstere Fall kann zunächst im Chorlied eintreten. Es kann ein Vers mehr für Sologesang, der andre mehr für Chorgesang geeignet sein ; dann wird entweder für beide dieselbe Weise benutzt, nur zuerst von den Solo-, dann von den Chorstimmen vorzutragen.

Digitized by Google

Die Verbindung von Chor und Solo.

549

Oder es kann bei einem solo vorzutragenden Liede der Schlusssatz (als sogenannter Refrain) vom Chor gesungen werden. Oder es kann nach einem Chorsatz ein neuer Satz für Solostimmen folgen und dann der Chorsatz wiederholt werden, so dass die zweite Rondoform

heraustritt. Aehnlicher Kombinationen sind noch manche theils schon versucht, theils noch möglich. Wir werden deren später kennen lernen.

Der andre Fall, das gleichzeitige Wirken von Solo und Chor, ist, wenn nur eine Solostimme dem Chor gegenübertritt, so anzu- sehn, als diente der Chor der Solostimme nur zu einer mehr oder weniger eigentümlich gestalteten und ausgebildeten Begleitung. Denn aus doppelten Gründen muss der Solostimme eine vor- herrschende Stellung gegeben werden ; einmal, weil sie als Organ einer einzelnen Person ein bestimmtes Individuum darstellt, das, gegenüber einer verbundnen Masse von Individuen, vornehmliche Bedeutung behauptet; dann, weil nur in hervorgehobner Stellung eine einzelne Stimme sich der materiell überwiegenden Masse eines Chors gegenüber vernehmbar und geltend machen kann.

Wenn endlich mehrere Solostimmen dem Chor gegenüberstehn (wie wir unter andern in Haydn's Oratorien und Beethove n's grosser Messe sehen), so treten die Grundsätze vom Doppelchor ein; die Solostimmen stellen den einen Chor dar, der wirkliche Chor den andern. Auch hier muss aus den oben erwähnten Grün- den durch Hervorhebung der Solostimmen und Unterordnung des Chors in den Momenten, wo beide gleichzeitig wirken, dafür gesorgt werden, dass die erstem vernehmbar und in der ihnen gebührenden Bedeutsamkeit hervortreten.

Was nun den Satz der Solopartie betrifft, so scheint es sobald er von der Anordnung des Komponisten abhängt rathsam, die Solopartie nicht in gleicher Stimmzahl mit dem Chor, sondern in minderer zu setzen. Denn jede Stimmzahl bringt (wie wir aus den ersten Theilen des Lehrbuchs wissen) eine besondre Satz- weise mit sich, die von der einer andern Stimmzahl sich karakte- ristisch unterscheidet; man denke an die Karakterverschiedenheit der drei-, vier-, fünfstimmigen Choräle und Fugen. Ein drei- oder zweistimmiger Solosatz wird sich daher von einem vier- oder fünf- stimmigen Chorsatze nicht bloss durch Besetzung und Inhalt, son- dern auch durch die der Stimmzahl eigne Behandlung unterscheiden. Dies bedarf kaum eines weitern Nachweises ; daher sei nur auf einen dafür sprechenden Fall hingewiesen, auf den Chor mit Solo :

HS Chor

SS Solo

HS Chor

Der Herr ist gross in seiner Macht

Digitized by Google

550

Der Doppel- und mehrfache Chor.

in Haydn's Schöpfung. Wenn hier Solo und Chor gegen einander treten,*

Solo.

528

3=M

3^

i

mm

IS

4

i

i

5

1

i

*

7 > a? j!

3^

r

1

I i TZJ ~~

so trägt unverkennbar die Dreistimmigkeit des Solosatzes bei, den- selben vom Chor noch deutlicher zu unterscheiden. Gleichen Vor- theil genoss Haydn in den Jahreszeiten; dagegen hatte er nicht Ursach, denselben da festzuhalten, wo wie im Schlussgesang der Schöpfung Solo und Chor nur abwechselnd nach , nicht gegen einander auftreten.

Dass Übrigens bei dem Wechsel oder Zusammenwirken von Solo- und Chorsatz jede der beiden Partien ordnungsgemäss, nämlich satz- oder abschnittweis, eintritt und ihren Satz vollständig zu Ende führt, wofern nicht ein besondrer Inhalt Anderes verlangt, folgt schon aus der Lehre vom Doppelchor und selbst von der Stimmführung. Ueberhaupt bedarf es hier weder weiterer Anleitung noch bis zur Lehre des vierten Theils der Uebung oder Vorübung.

* S. 4 58 und 160 der Partitur. Dass die obigen besonders ihrer Popularität wegen gewählten Sätze Orchesterbegleitung haben, thut hier nichts zur Sache.

Digitized by Google

Anhang.

Erläuterungen und Zusätze

zum

dritten Theile.

Digitized by

\

Digitized

A.

Die nachbeethoven'sche Richtung der Klavierbehandlung.

Zu Seite 25.

In allen Künsten und Kunstschöpfungen trifft man bei tieferni Eindringen auf einen nie ganz zu tiberwindenden Zwiespalt zwi- schen Inhalt und Ausgestaltung. Das Ideal findet seiner Natur nach keine vollkommen entsprechende Verkörperung ; der Künstler muss sich am möglichst Erreichbaren und Entsprechenden genügen lassen und Ergänzung des unerreichbar Gebliebnen von der Sympathie und Phantasie der Hörer oder Schauenden erwarten.

Dies muss um so häufiger der Fall sein, je weiter der Stoff*, in dem der Künstler arbeitet, hinter den in der Sache liegenden Erfodernissen zurückbleibt. Die Musik fodert Schallmacht, Klang- reichthum, Ausdauer und Anwachsen des Tons, Verschmelzung der Töne zu fliessendem Gesänge, Durch- und Gegensetzung verschied- ner Stimmen gegen einander, und wir haben erfahren müssen, wie viel das Klavier von all diesen Ansprüchen unerfüllt lässt.

Der bequemste Ausweg ist der, den die Mehrzahl der Virtuo- sen, tonsetzenden Klavierlehrer und Salonkomponisten geht: sie richten ihren etwaigen geistigen Inhalt nach dem technischen Ver- mögen des Instruments zu, oder vielmehr, sie haben keinen andern Inhalt mitzutheilen, als den aus ihren technischen Studien am Instrumente geschöpften. Bei ihnen lenkt nicht der Geist die Hand, sondern die Hand ist der Geist. Daher haben sie kein Be- denken getragen, wahre Kunstwerke (namentlich Beethoven' s), die über jene Gränze hinausgingen, für »nicht klaviermässig« zu erklären, oder, seit es nicht mehr thunlich scheint, sich ihrer zu enthalten, sie nach eigner rein technischer Weise herunterzu- arbeiten, unbekümmert um den tiefern Inhalt.

Diesem Abwege gegenüber steht der andre: sich, ohne Rück- sicht auf Verwirklichung am Instrumente, seinen Tonphantasien hin- zugeben. Die Idee des Künstlers ist aber kein wesenloses Phan- tom, sondern ringt nach Verwirklichung ; das eben ist der schöpfe- rische Drang im Künstler, ohne den das Brüten des Geistes nur leerer Traum bleibt. Man gesteht sich diese Verirrung meist so

Digitized by Google

554

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

wenig zu. als man jener andern aus geistiger Schwäche sich erge- henden bewusst wird. Allein sie beginnt und verräth sich häufig genug, wo für Verwirklichung des Gedankens die vorhandnen Mittel nicht gemäss verwendet worden sind, wo der Künstler zu kühl, zu fern von der geistsinnlichen Glut der Begeisterung für seine Idee geblieben, oder zu fahrlässig oder fluchtig gewesen ist, sein Gedankenbild zu vollsaftigem Leben heranreifen zu lassen.

Es ist nicht zu leugnen, dass besonders ein Theil der Mo- zart'schen Klavierkompositionen solche Unzulänglichkeit in der Darstellungsweise an sich trägt. Einmal war das Instrument selber noch weit von seiner heutigen Vervollkommnung entfernt, ja, man möchte es fast ein andres Instrument nennen. Das Hämmer- werk war leicht und schwach, die Saiten dünn, von geringer Schall- kraft und leicht zu sprengen, daher musste das Spiel leicht, fein und fern von der Fülle und Kraft sein, die es mit Hülfe der spätem Vervollkommnung des Instruments zu seinem grossen Vortheil an- nahm. Dann war die Spielfertigkeit, deren es zu vollem und glän- zendem, oder intensivem Darstellungen bedarf, noch nicht so weit ausgebildet und ausgebreitet, wie jetzt ; Mozart selbst würde nach dieser Seite nicht mit unsern heutigen Virtuosen in die Schranken treten können, so weit er ihnen auch an geistiger Kraft Uberlegen wäre. Endlich aber ist Mozart in der Hast und vielfachen Be- drängtheit seines kurzen Lebens gar oft veranlasst gewesen, sich mehr nach dem Geschmack, nach den Fassungs- und Darstellungs- kräften der Zeitgenossen zu richten, als ihm selber für seine eigent- lichen Intentionen recht und lieb war; er hat es oft genug gestanden und schmerzlich beklagt, dass er seinem Berufe nicht noch freier und reicher (er, der üeberreiche ! ) leben könne. Und so gereicht uns die Begränzung eines der grössten Künstler aller Zeiten zur Mahnung, für unsre Vollendung umsichtig und rastlos eifrig Sorge zu tragen, damit wir wenigstens nicht durch eigne Versäumniss die Mängel vergrössern, die mindere Anlage und ungünstige Verhältnisse unsern Werken anheften.

Gleichwohl liegt gerade dieser Abweg, den wir oben als den phantastischen haben bezeichnen müssen, neben einem Pfade, der oft schon zu den tiefsten Offenbarungen geführt hat. Es giebt eben Tonvorstellungen, die nirgends vollgenügende Verwirklichung finden, die sich unvorhergesehn und unab weislich aus dem klar und treu- lich innegehaltnen Lebenskreise des Instruments, an den eine Schö- pfung gewiesen ist, hinaus- und emporheben. Im Künstler ruhn vielerlei Vorstellungen, im Tonktinstler sind deren einige orchestra- len, andre vokalen Gehalts, andre gehören dem Klavier an; das lässt sich nicht immer scharf, wie mit einem Scheermesser trennen. Und gerade das in sich unbefriedigende Naturell des Klaviers reizt

Digitized by Google

Die nachbeethoven'sche Richtung der Klavierbehandlung. 555

die Phantasie, in seinen Klängen andre zu vernehmen ; daher wer- den öfters gerade die tiefsten Geister Uber die Schranke desselben hinausgeführt.

Dies ist namentlich bei Beethoven unverkennbar. Unvorher- gesehn geht er in seinen Klavierwerken öfters orchestralen Vor- stellungen nach (z. B. in seiner As dur-Sonate in den Variationen, - oder in der Sonate »Les Adieux«), oder es wollen die instru- mentalen Weisen zu wirklichem Gesang, zu gesprochenem Worte sich hintiberringen, z. B. in der 4s dur-Sonate, Op. -MO, und in der Dmoll-Sonate. Gleiches haben Andre vor ihm und nach ihm erfahren, z. B. Seb. Bach in der chromatischen Fantasie, und Rob. Schumann im alla burla seiner Fi'smoll- Sonate, mag auch das letztere mehr burlesker Laune entsprungen sein, als tie- fern Antrieben.

Alle diese Wege und Abwege kann die Lehre nicht beschwei- gen oder verhehlen ; sie muss sie erleuchten, den Jünger da bera- then, wo bald Beispiel, bald Bequemlichkeit oder innere Verlockung ihn zu verleiten bereit sind.

Das Geistige dem herkömmlichen Technischen opfern oder nach- stellen, wird kein geistig Erweckter über sich gewinnen, oder er wird das Bewusstsein der Untreue gegen den eignen Geist als Strafe tragen müssen. Ein solcher Abfall ist in denen, die uns bis hierher anhänglich geblieben, nicht vorauszusehn. Eben so sicher ist zu erwarten, dass die männliche Arbeit, die wir vom Anbeginn dem Jünger nichts weniger als ersparen mögen, ihn auch jetzt vor leben- und saftlosem Träumen bewahren werde.

Wie jenes Hinüberlangen vom Klavier in andre Regionen der Kunstwelt vollkommen berechtigt sein kann und öfters schon gewe- sen ist, haben wir nicht verhehlt. Gleichwohl sollte der Lehrer dem noch nicht bis zur Freiheit durchgebildeten Jünger, und dieser sich selber hier Schranken setzen, weil auf diesem Standpunkte die Gefahr grösser ist, als der etwaige Gewinn. Nur was im Bereiche des Kunstwerks und seines Elements ausgesprochen worden ist, kann Anerkennung fodern, was darüber hinausliegt, mag sie hoffen und bisweilen gewinnen, fällt aber leicht in den Bereich des bloss neben dem Kunstwerke Gedachten, das also nur im Bildner, nicht in Wirklichkeit besteht.

Das rechte Sicherungsmittel gegen solche Verirrung ist tiefes und be wusstvo 1 les Studium des Instruments, das unsers Geistes Organ zu sein bestimmt ist. Wir müssen es beherrschen, so weit uns das erlangbar ist. Dazu aber müssen uns all seine Kräfte, muss uns alles, was es über unser eigen Vermögen hinaus vermag und bereits geleistet hat, klar bewusst sein, damit wir im Bilden weder durch die Gränze des eignen technischen Geschicks

Digitized by Google

556 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

beschränkt, noch durch die besondre Richtung desselben zur Ein- seitigkeit und Manier verleitet werden, wie der Mehrzahl der Virtuosen stets geschehn ist. Ja, man muss für den Zweck der Komposition dem Bewusstsein, der klaren Anschauung von den Kräften des Instruments vor seiner technischen Bewältigung den Vorzug einräumen, da jenes über jede Gewöhnung und Vorliebe hinaushebt, diese zum Theil von Zufälligkeiten abhängt (wer kann einem Liszt auch nur technisch gleichkommen ohne die Weite und Schmiegsamkeit seiner Hand ?) und schwere Opfer an Zeit und Kraft bedingt.

Dieses Studium muss alle Perioden des Klavierspiels umfassen und aus allen das Wesentliche hervorzuheben trachten. Wesentlich heisst aber hier, was dem Instrument eine neue Kraft abgewonnen oder eine schon angeregte zu voller Entfaltung gebracht hat, gleich- viel, was man sonst von den Gebilden nach ihrer geistigen Höhe und künstlerischen Ausgestaltung zu urtheilen habe, was man an ihnen liebe oder von sich weise.

Zu beginnen ist dieses Studium nothwendig bei Seb. Bach. Ganz abgesehn vom geistigen Reichthum und der künstlerischen Vollendung seiner Werke zeigt sich in ihnen unvermuthet oft so viel Zartheit und Macht des Klangs und eine so reizvolle gediegne Spiel fülle, dass ihres Gleichen nicht wiedergekommen ist, wohl aber den spätem Komponisten angemerkt werden kann, ob und wie weit sie sich am Marke des Löwen genährt haben.

Gleich sein Nachfolger am Klavier, Emanuel Bach, fand nach eignem Bekenntniss den Pfad des Vaters zu steil und kühn und vergnügte sich an freundlichem, bequemem Seitenwegen. Ihm gefiel die fein und sinnig angebrachte Verzierung. In diesen leich- ten einfallartig nach Laune eingestreuten Fiorituren ist er der Vor- gänger Hummel1 8 (man blicke in dessen Adagio's), wie dieser der keineswegs zurückstehende Vorgänger Chopin's. Hierin aber war schon J. Haydn der Nachfolger Emanuels gewesen, nur mit freierm und reicherin Geiste und mit einer bisweilen (man betrachte seine grosse lis-Sonale) selbst Mozart voranschreitenden Freiheit und Laune in der Behandlung des Instruments. Der Kompositionsjünger mag sich E. Bach 's Studium erlassen; Bekanntschaft mit einigen von Haydn's Klavierwerken wird ihm sicher lohnen.

Ueber Mozart und über Beethoven muss und darf ge- schwiegen werden. Ihr Studium ist unbedingt vorauszusetzen, und unziemend wär' es besonders, von letzterm anders als in wür- digender Fülle zu reden, unmöglich erscheint es, bei ihm Geistes- gehalt und Verkörperung zu sondern.

Während bei beiden, namentlich bei Beethoven, der geistige Gehalt vor der Versinnlichung durchaus den Rang behauptete und

Digitized by Google

Die nachbeethoven'sche Richtung der Klavierbehandlung. 557

«las Bestimmende blieb, wurde schon neben ihnen durch Dussek*, A. E. Müller und Andre das Streben nach vollsaftigerm Klang und breiterer Spielfülle geweckt, wogegen K. M. Weber beide Richtungen geistvoll zu verwerthen trachtete. Beiläufig ist neben und nach Beethoven kein Fortwuchs sichtbar, dessen Keim nicht in seinen Werken gelegen hätte, so wie schon im alten Bach (man sehe seine Variationen nach) Motive und Spielmanieren der späteren Klaviermeister, namentlich auch A. E. Müller's, versucht sind. Man darf dabei nicht an Entlehnungen denken; die Natur des Instruments hat immer und immer auf dieselben Punkte führen müssen, während seine Verbesserung und der Fortschritt in seiner Behandlung auch seine Komponisten nach der materialen Seite hin weiter geführt hat. Der Kompositionsschüler mag sich allenfalls der Müller' sehen Leistungen entschlagen, von Dussek sollte we- nigstens ein Werk (etwa die Sonate Retour ä Paris oder Vinvo- cation) studirt werden. Hummel und Weber stehn uns ohne Erinnerung näher.

Hier nun schliesst sich den ältern Schulen die des heutigen Virtuosenthums und der Klavierkomposition folgerecht und mit in- nerer Nothwendigkeit an. Von ihrem geistigen Inhalt ist hier nicht zunächst zu reden, wohl aber von ihrem Ergebniss für das Ver- mögen des Instruments. Schon im Allgemeinen hat Steigerung und Verbreitung der Fertigkeit nicht ohne Einfluss auf die Komposition bleiben können. Spielkraft bringt Spiellust und steigert sie ; sie bedingt aber auch breitern Raum für diese Lust, und greift damit in den Inhalt selber ein. Verfolgt man dies Ringen durch alle Richtungen und Momente, so erkennt sich erst, wie weit man des Instruments mächtig geworden, wie weit man es immer nach neuen Seiten befähigt hat, dem Willen des Künstlers und den Uber allen Willen hinausliegenden Ahnungen und Sehnungen seines Geistes ein fügsam Organ zu werden. Durch den ganzen Vorgang zieht sich aber jene Zwiespältigkeit hindurch , deren zu Anfang gedacht ist, des Geistigen, das sich sinnlich offenbaren will, und des Sinnlichen, das in seiner emporquellenden Fülle den Geist zu umhüllen und zu binden droht. Und ebensowohl in der Aus- beutung und Bereicherung des Stofflichen, das man dem Instrument abgewinnt, als in der Fortbewegung und den Wendungen oder Abwendungen des geistigen Inhalts zeichnet sich der Karakter der Kunst und ihrer Träger, der Künstler.

Diese Gedanken durften hier nur angedeutet werden (ebenso wie der geschichtliche Rückblick) und haben ausführliche Entwicke- lung an andrer Stelle zu erwarten. Hier kam es zunächst darauf

* Vergl. Anhang G.

Digitized by Google

558

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile

an, ein für Komposition wichtiges Studium, aber auch dessen eigent- liches Ziel zu bezeichnen. Es genügt nicht, zu bemerken, was Alles dem Instrument abgewonnen ist oder abgewonnen werden kann; es muss auch erwogen werden, welchen Einfluss das Gewon- nene auf das Kunstwerk haben kann oder muss.

Besonders wichtig und ergiebig ist diese Erwägung gegenüber der neuesten Richtung des Klavierspiels. Sie vereint unleugbaren und bedeutenden Fortschritt mit eben so unverkennbarer Gefahr oder Behinderung der geistigen Bewegung in der Kunst. Allerdings hängt sie mit der ganzen Zeitrichtung, mit deren Wendung auf das Materielle und Industrielle, auf blendenden Schein und Gewaltsam- keit zusammen. Der werdende Künstler aber muss sich ihres Ge- halts bewusst werden, um ihn je nach seiner eignen Richtung sich anzueignen oder zu meiden. Bei der Prüfung muss man sich ge- wissermassen unparteiisch verhalten gegen den geistigen Inhalt der Komposition ; dieser kann theilweis bedenklich oder selbst verwerf- lich befunden werden, während sich gleichwohl ein beachtenswerther Fortschritt in der Ausbeutung des Instruments an ihn knüpft.

Die erfolgreichen Arbeiten der neuen Schule lassen sich als das Streben bezeichnen, dem Instrumente gerade nach den mangel- haftesten Seiten bin erhöhte Kraft zu gewinnen.

Zunächst wird die Schallkraft durch erweiterte Vollgriffigkeit vergrössert. In No. 7 ist schon ein Beispiel von Thalberg ge- geben; ein zweites von R. Schumann (aus No. 2 der 6 Etüden. Op. 10) finde hier

Sostenuto I. H.

7

seine Stelle, wär' es auch nur, um an ganz gleichartiger Aufgabe dem einigermassen brutalen Materialismus des Virtuosen gegenüber die feinere Organisation des Tondichters zu bezeichnen, der selbst die schlagkräftige Masse durchscheinend und vergeistigt werden muss; vielleicht konnte statt der ersten Akkordlage bei a die bei b genommen werden, um den hier vorausgesetzten Doppelzweck noch sichrer zu erreichen.

Hiermit nahverwandt sind Spiel- und Schreibarten, die den Zweck haben, einzelne Stimmen schärfer oder zu festerm Zusam- menhange verbunden hervortreten zu lassen. Als Beispiel dienen zwei Sätze aus Liszt's Reminiscences de Normet,

Digitized by Google

Die nachbeethoveii sehe Richtung der Klavierbehandlung. 559

r t

(Gjnoll.)

-typ:: f iggg

(G dur.) bis

i

ff

FT*

J J J J| J J J

HH Hfl

denen leicht mehr und anziehendere (als Andante der Cmoll-Sym- phonie) zugesellt werden könnten. Ueberhaupt ist gerade dieser grösste der Pianisten tiberreich im kunstsinnigen Gebrauche von Spielarten, die dem ersten Hinblicke bisweilen als virtuosischer Eigensinn erscheinen mögen, während ihnen ein wohlerwogner Zweck zum Grunde liegt.

Von der Führung einer Melodie in zwei und drei Oktaven sind bereits Th. I dieses Buchs (S. 522 der 4. Ausg., No. Beispiele gegeben. Dort kam es darauf an, die Melodie zart und duftig, dabei aber klangvoll, gleichsam in Ausbreitung des Klangs zu fuh- Hier

S 7

)dn lf y

r

1 W

erinnern wir an scharf durchdringende und (aus tfdur) weit ausge- legte Oktavverdopplung ; die letzte Stelle wird in grösserer Fülle im Fortissimo wiederholt, beide gehören den Reminiscences de Robert le diable von Liszt; ebenso die folgende Stelle,

53 ,i

3

die Vollgriffigkeit und Oktavbewegung mit Hervorheben der Melodie vereint.

Endlich entspringt dem Verlangen, dem kurzverhallenden Klange

Digitized by

560

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

des Instruments Fortdauer zu geben, jene Neigung zu den mannig- faltigsten Arpeggien bald als Begleitung fester Melodien, bald als Gänge oder Passagen, sowohl für zarte wie klang- und sturmvolle Wirkung. Nur zwei Stellen (aus Liszt's grandes üudes) mögen hier

teil.

teu.

7 s

Ped

,3.

3FF Jf¥f

Ul-p >>j iT ' -T * » r-

leggierissimo

wegen ihres Wohlklangs aus der ungezählten Menge ähnlicher noch Raum finden.

Es kann nicht die Rede davon sein, unter so wenig Gesichts- punkte die Leistungen so vieler zum Theil höchst begabter Künstler zusammenzufassen; eben so wenig kommt es darauf an, eine rei- chere Blumenlese zu sammeln. Nur ein Wink sollte gegeben wer- den für das Studium der Kompositionsjünger ; Jeder mag nach Nei- gung und Glück Beides vermehren.

Wer auf dieser Bahn voransteht durch unbegränzte virtuosische Macht, durch gewaltige nach allen Seiten hin titanisch ringende Geisteskraft, die neben dem Härtesten den süssesten Wohllaut beherrscht: das ist Franz Liszt. Wie fern oder nahe sich auch ein Theil der Zeitgenossen seinen künstlerischen Schöpfungen ge- stellt finde: was er für das Instrument gethan, kann gar nicht hoch genug angeschlagen und nicht dringend genug dem Stu- dium der Komponisten empfohlen werden. Schallmacht und Schall- klarheit, WTohllaut, Anmuth der sinnlichen Seite des Tonwerks, brauchen wir das alles dies umfassende Wort einer geistvollen Fremden : sonorite das ist seine Domaine , und dafür hat er mehr gethan wie irgend einer der Klavierkomponisten. Die vielen Umsetzungen und Bearbeitungen fremder Werke und Melodien

Digitized by Google

Die nachbeethoven'sche Richtung der Klavierbehandlung. 561

(Cmoll- und andre Symphonien von Beethoven, Seh u b ert'sche Lieder u. s. w.) sind seine Studien, seine eignen Werke (nament- lich die Annees de pelerinage und die Harmonies poetiques et religieuses) bieten daraus die mannigfachsten und reizvollsten Er- gebnisse; oft wird der Klang selber zur Poesie, wie die Luft sich zum Luflgeist Ariel verdichtet und in persönliches Leben eingeht. In dieser Beziehung ist es karakteristisch, wie oft der dem Piano verwandte Glockenklang dem Klangmeister vorschwebt. Die Schauer- schliige der Todtenglocke in den funeraüles, die fern herüber lieb- lich und geheimnissvoll lockenden cloches de Genöve ; das ahnung- weckende Glockenspiel in der elften seiner grandes etudes (Heft 2) sind, abgesehn von ihrer konkreten Bestimmung, Zeichen von der Atmosphäre des Künstlers; in andrer Weise zeigt das Pastorale mit seinem übermüthig-kecken Einsatz (wir selber haben dergleichen auf den Felshöhn vor Chamounix vernommen) die rücksichtslos ge- treue Hingebung des Künstlers an sein Element. Und rücksichtlose Treue muss trotz alledem und alledem erste Tugend des Künstlers genannt werden; sie allein verbürgt wahre Originalität, und bei vollkommner Durchbildung und Läuterung des Geistes das höchste Gelingen, gleichviel, welches das Unheil der Zeit sei.

Dennoch, so gewiss die neue Behandlungsweise des Instru- ments reiche und künstlerisch werth volle Früchte gebracht und ernstlicher Beobachtung höchst werth ist, dennoch darf nicht über- sehn werden, dass jene Behandlungsweise den höhern idealen Reich- thum der Kunst zurückdrängt, da sie die Hände für das reiche die Melodie umspielende Material in Anspruch nimmt, da sie anregt, die Melodie (die eine, .für die Alles geschieht und nötigenfalls Alles geopfert wird) selbst durch breite Auslage für die spielreiche Um- gebung günstig zu gestalten, und durch Beides die reiche polyphon- dramatische Durchführung der künstlerischen Idee nothwendig zu- rückgedrängt wird. Die eine Kantilene, der Alles schmüekend und umschimmernd dient und sich unterordnet, setzt an die Stelle jener von unsern Meislern so reich und objektiv ausgestalteten Dramatik die lyrisch oder gar rein-sinnlich erregte Subjektivität des Künstlers, und führt zu zarten oder glänzenden und anziehenden aber mit innerer Notwendigkeit stets einander ähnlichen, sich wiederholen- den Ergüssen. Keineswegs ist diese Ansicht durch reichere Gaben eines Liszt, Rob. Schumann u. A. widerlegt; keine persön- liche Energie kann die Natur der Sache ändern, nie wird jenes lyrisch-sensuale Streben dem unerschöpflichen Reichthum gleichkom- men, den unsre Meister auf dem andern WTeg errungen.

Uebrigens sei hier ein für allemal

gegen zweierlei Missverstehn ernstlichst gewarnt.

Marx , Komp.-L. III. 5. Aufl

36

562

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile

Wenn wir oben an dem unsterblichen Mozart und anderwärts an andern seiner hohen Genossen irgend einen Punkt ihres Bildens als minder genügend bezeichnen: so bedenke man, dass keinem Menschen Vollkommenheit zu Theil wird und dass die Kunst viel zu umfassend ist, als dass sie das Erbtheil eines Einzigen, von einem Einzigen zu vollenden und zu erschöpfen sein könnte. Die wahre Liebe und Verehrung verträgt sich nicht nur mit solcher Erkenntniss, sondern sie bewährt sich in ihr als eine tiefbegrtlndete vor jener phantastischen, die ihren Gegenstand vielleicht nur den allgertlhmten Namen umklammert, ohne zu wissen, was sie eigentlich an ihm hat.

Solche absichtliche und feige Blindheit würde übrigens Nie- mandem übler zu stehn kommen, als dem, der sich um seine und andrer Bildung gewissenhaft bemüht. Nicht der Name und Ruhm eines grossen Mannes, und nicht der Enthusiasmus, den er in uns erweckt hat, sind lehrreich und bildend, sondern die Einsicht in sein Wesen und Handeln, die aber nicht ohne Prüfung und Ur- theil erreichbar ist. Jener Enthusiasmus könnte uns höchstens zu Nachahmern des bewunderten Vorgängers machen , es giebt aber in Wahrheit nichts Unnützeres und Unbefriedigenderes, als in der Kunst die Nachahmer. Nur Prüfung und Einsicht, die uns in Liebe und Ehrfurcht geübt an den Werken der Meister heranreifen lassen, sind die ächte Form der Dankbarkeit gegen jene; durch sie bringen ihre Werke aber- und abermals neue Frucht. Gott selbst hat seine Werke unserm Urlheil nicht entzogen.

Sodann wenn an irgend einem Wrerk oder einer Reihe von Werken eine mangelhafte Seite hat erkannt werden müssen: meine man nicht, dass hier etwa durch Hinzuthun und Bessern noch nach- geholfen werden könne. Ein Kunstwerk tritt aus den Händen des Meisters als ein abgeschlossenes, für sich vollendetes WTerk. Kaum dem Meister gelingt dann noch eine wahrhafte Verbesserung. Ein Dritter, wohl gar aus späterer Zeil Zutretender, ist in den ge- heimsten Tiefen seiner Individualität doch nur ein Fremder und die Kunstweise der neuern Zeit ist dem Werke der frühern fremd und störend. So unleugbar in Mozart's Zeit und einem Theile seiner Werke das Instrument und seine Behandlung noch nicht zu der spätern Vervollkommnung gediehen waren: so gewiss würde Um- schreibung Mozart'scher Komposition nach neuerer (z. B. Beet- hoven'scher Weise die Einheit des Werkes zerstören, mit dem Mo zart' sehen Geist in Widerstreit gerathen. Denn wahrlich, er müsste nicht der wahre Künstler gewesen sein, wenn sich nicht sein Geist und seine Behandlung des Instruments auf das Innigste durchdrungen, wahrhaft identifizirt hätten. So gebührte es Ihm und

Digitized by Google

Beethovens Muster- Variation.

563

zu seiner Zeit: und eben aus dem Grunde gebührt uns in unsrer Zeit ein Andres.

B.

Beethoven's Muster- Variation. Zu Seite 75.

Schon die allgemeine Uebersuht und die wenigen Andeutungen, die uns der Raum gestattet, machen zur Genüge auf den Reichthum und damit auf die Wichtigkeit der Variationenform aufmerksam. In der Thal ist auch diese Form seit einem Jahrhundert wohl am fleis- sigslen angebaut worden. Wenn sie aber dann in den Jahrzehnten von Mozart auf Beethoven und unsre Tage gar oft auf das Seichteste behandelt und gemissbraucht, ja sogar hierdurch bei ern- stem Kunstfreunden hin und wieder in eine Art von Verruf ge- kommen ist : so soll das nicht irre machen ; wir werden zwischen ihrem Reichthum und der Armuth so manches Bearbeiters zu unter- scheiden wissen. Steht doch neben manchem Schwachem mit den herkömmlichen Bravour- oder Unterhaltungsvariationen ein Beet- hoven, dem diese Form die tiefsten Entwickelungen verdankt, vieler andern Meister von Bach und Haydn bis auf unsre Zeit nicht zu gedenken.

Hier ist nun zur letzten Bestärkung unsrer Anschauung vom Reichthum der Form eines der merkwürdigsten und lehrreichsten Erzeugnisse zur Sprache zu bringen, dessen wohlüberlegtes Studium jedem Strebenden zur Pflicht gemacht wird. Es sind die schon erwähnten

33 Veränderungen über einen Walzer (von A. Diabelli)

von Beethoven*. Doch mögen wir nicht ohne eine Vorerinnerung an das Wrerk gehen.

Beethoven unternahm** diese Komposition im Jnhre 1823, nach den ersten acht Symphonien, den Sonaten Op. 1 1 0, 1 H u. s. w ., und vor der neunten Symphonie, also auf dem Gipfel seines Wir- kens. Wie er sich in seine Arbeit vertieft hat, ist schon vorweg an der Ueberschreitung seines Auftrags und der für die gewöhnliche Bestimmung von Variationen räthlichen Gränzen zu erkennen; es sollten sechs oder sieben Variationen werden und wurden dreiund- dreissig.

* Op. 4 20. Wien, bei C. A. Spina. Leipzig, bei Breitkopf und Härtel. •* Vergl. die Biographie Beethoven's von Schindler, S. 433. Der Verf. erscheint in seinem Umgänge mit Beethoven hier genau unterrichtet.

36*

Digitized by Google

564

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile

Dies bestimmt sogleich den Standpunkt des Werkes. Schon dem Umfange nach wird es nur in seitnern Fällen zur künstlerischen Produktion als ein wesentlich zusammengehöriges Ganzes benutzt werden, dürfte auch in seiner weiten Ausdehnung, mit seiner lan- gen Reihe einander zum Theil fremdartiger Gestaltungen kaum als künstlerischer Ausdruck einer Stimmung, fortschreitenden Gemüths- bewegung oder Reihe künstlerisch zu einander gehöriger Vorstel- lungen aufzufassen sein. Von einem Kunstgenuss im gewöhnlichen Styl und Umfange kann hier nicht die Rede sein. Vielmehr hat der Meister in freier Lust des Bildens seine Kraft an diesem Thema versucht ; und zwar seine längst überlegne und nun Vollreife Kraft. Es ist in seiner Weise ein Werk geworden, wie Seb. Bach's Kunst der Fuge* in der ihrigen.

Natürlich hat aber der neuere Meister so wenig wie der ältere unternehmen mögen, sein Thema zu erschöpfen; wir wissen längst, dass jedes Thema unerschöpflich ist. Er hat vielmehr, wie sein erhabner Vorfahr, das Eigenthümlichste und Bedeutsamste hervor- gehoben und damit Denksteine seiner schöpferischen Thätigkeit, aber allerdings auch Marksteine gesetzt; denn noch ist Niemand in die- sem Gebiete weiter, oder nur bis zu der von Beethoven ge- setzten Gränze vorgedrungen.

Hieraus begreift sich vor allem, dass uns hier manche Gestal- tung im Einzelnen oder Grössern erwartet, die uns fremd, ja wider- spruchvoll und entfremdend entgegensteht. Mehr wie irgendwo hat sich der tiefsinnige Meister in düstere, geheimnissvolle Labyrinthe von Klängen und Tongängen verloren, in die wir ihm vielleicht nicht immer folgen können oder mögen. Dergleichen finden wir in der zweiten Variation und anderwärts. Dagegen treten andre Va- riationen, z. B. No. 24, 29, 31, I, 4 4, 10, 43, in einer Schönheit, Tiefe der Empfindung, Originalität und Frische der Führung ent- gegen, dass man sie neben die liebsten Schöpfungen des Meisters stellen muss; und kaum eine einzige Variation findet sich des Gei- stes leer oder unwürdig, den wir als den Vollender der Instrumen- talmusik bis auf diesen Tag verehren und lieben.

So ist dieses Werk eins der belehrendsten für den edel und eifrig emporringenden Jünger geworden. Nicht den Irrgängen des einsamen, oft ganz in sich versunkenen Meisters haben wir nach- zuspüren ; in aller ihm schuldigen Ehrfurcht lassen wir schweigend auf sich beruhen, was wir uns noch nicht (vielleicht auch nie) an- eignen können. Aber nachfolgen wollen wir ihm auf den Wegen, auf denen sich die künstlerische Schöpferkraft entfaltet und steigert.

* Th. II, S. 253 des Lehrbuchs.

Digitized by Google

Beethoven' s Muster- Variation .

5(55

Hier sei nun mit Ausschluss alles Weitern auf die Energie des Blicks aufmerksam gemacht, mit der der Meister seine Mo- tive findet; auf die Gewalt der Vertiefung und Umsicht, mit der er sie durchsetzt. Jeder Punkt, auf den er hinschaut, wird ihm lebendig, Gestalt, Erzeuger neuer Gestalten.

Wir haben in No. 37 den ersten Abschnitt des Thema's ge- sehn und erfahren, in welcher Weise er sich wiederholt und im zweiten Theil weiter wirkt. Hier knüpft Beethoven natürlich seine Variationen an.

Zuerst bemerkt er, dass der Anfangs-Akkord festge- halten wird, und zwar in den Oberstimmen, während der Bass (wenn auch nur zuletzt) sich abwärts bewegt. Diese oberflächliche Bemerkung belebt sich ihm, indem er Gewicht auf den Akkord legt. So beginnt seine erste Variation.

Alla Marcia maestoso.

62

( / «/ s/ sf

*

Da auf den Akkord Gewicht gelegt wird, er dem Selbstgefühl des Meisters schon genügt, so theilt sich das Nachdrückliche dieses Setzens dem ganzen Satze, zunächst dem Rhythmus mit; und der Bass, das hohle Wesen des Thema's aufgebend, zieht stolz und festlich unter dem Akkorde seine Bahn. Hiermit ist zu dem Ge- gebnen (dem stetigen Akkorde] ein Neues gekommen, und so theilt der Bass seinen feierlich festen Einherschritt bald auch dem ganzen Satze mit,

62 *

m

3=3=1*

der in einer Konsequenz und steigenden Macht und Stattlichkeit hin- zieht, dass wir ihm in diesem Sinne keinen zweiten zur Seite zu stellen wüsslen.

Dieser Gedanke zieht später einen andern, obwohl dem Sinne nach ganz abweichenden nach sich; es ist in der zehnten Variation. Auch hier halten die Oberstimmen den Akkord fest und der Bass

Digitized by Google

560

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

entfernt sich von ihm ; aber dieser ßassgang ist ein leichter und fluchtiger, regt auch den Akkord zu flüchtig-leichter Figuration an.

Presto. ^ ^ ^ ^ ± ± f: £££ ± ± fc

8 62

sempre ßtaccato ma leggiermente

4

•m *r I

r r 1 1*

mm

T

Hiermit ist der Karakter des ganzen TonstUcks gegeben, das im luftigsten, geistreichsten Humor den einen Grundzug von allen Seiten wendet zum artigsten Gewinn. Bei der Leichtigkeit des Motivs darf es nämlich nicht durch Wiederholung geschwächt und eben so wenig, ohne die Einheit und Leichtigkeit des Ganzen ein- zubüssen, aufgegeben werden. So wird also bei der Wiederholung des Theils vorerst das Bewegungsmoli v in die Oberstimmen und das stationäre in den Bass gelegi, der ganz lustig und muthwillig jene herbeilrommelt,

K_

62

Im zweiten Theil und seiner Wiederholung kehren beide For- men wieder, aber die Gänge gehn aufwärts. Man bemerke, wie angemessen für Bassgänge blosse Oktaven, für die klangärmern Oberstimmen volle Akkorde, für den Haltemoment in den Oberstim- men figurirte Akkorde, im Bass ein fortmurmelnder und rollender Triller ist. Beiläufig bietet die Variation dem geübten und sinn- vollen Spieler eine so reizvolle Aufgabe, wie sie in gleich kleinem Räume sich selten finden wird.

Hier haben wir schon den Haltemoment (wenn auch nur in

Digitized by Google

Beethoven1 $ Muster- Variation.

567

einen einzigen Ton zurückgedrängt) abwechselnd in den Ober- und Unterstimmen gefunden. In der zweiten Variation tritt der aushal- tende Akkord vollständig in die Unterstimmen. Aber dann be- gehren die Oberstimmen ihrer eigentlichen Natur nach (Th. I, S.319) Melodie, und zwar inhaltvollere, als die Bassgünge in den vorigen Variationen; auch darf die Tonmasse in den Unterslimmen nicht lastig werden. Dies führt zu folgendem Motiv in der zweiten Va- riation ;

5

62

I

leggiermente

das wühlig weiche Tonspiel, später noch durch eigne rhythmische Um Wechsel unsen

6*

aufgeregt, treibt sich allerdings bis in ein Ineinanderklingen , das vielleicht nie wieder seine Veranlassung findet.

Andre Variationen, die demselben Motiv (dem blossen Festhal- ten des ersten Akkordes) entspringen, z. B. die achte, in der der Bass aus den ersten melodischen Motiven des Thema's [h-c im Diskant, c-g im Bass) eine neue Figur bildet,

Poco vivace.

I

1_ 62

sempre ligato

die fünfundzwanzigste von ähnlicher Richtung, die neunzehnte, in der der feststehende Akkord nachahmend figurirt wird, die sechs- und siebenundzwanzigste, die ebenfalls den Akkord harmonisch figu- riren, Übergehn wir des Raumes wegen. Noch einmal wird die blosse Vorstellung des Festhallens auf das Geistreichste und Karakteristischste in der dreizehnten Variation benutzt. Der Akkord aber ein fremder wird hastig und heftig angeschla-

Digitized by Google

563 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

gen, findet aber keinen rechten Fortgang, sondern nur einen un- siehern Nachhall ; in gleicher Weise wird in den rechten Ton ein- gelenkt; —

Vivace.

ra.

=

8

62

P

mm

r* r* r

Mjjb

=

=

*3

wie eigenthUmlich und kühn diese einfachen Elemente sich weiter ausbilden, Hesse sich nur dem vollständigen Original gegenüber sagen und bewundern. Und gleich die folgende Variation gewinnt dem- selben Stoff eine neue Kombination ab,

9

Grive e maestoso.

EBB*

Cl'r 'tTf1

""F*^ cresc.

O "2

2,

s

2S1

in glücklichster Abweichung von der allgemeinen Regel über Stimm- lage (Th. I, S. 1 47) dem Instrument eigentümliche Klangweise zu tiefsinniger Verwendung abgewinnend.

Das Thema schlägt, wie wir in No. 37 gesehen, zuerst auf den Ton c. Diese geringe Wahrnehmung, mit Energie festgehal- ten, giebt das Hauptmotiv der einundzwanzigsten Variation.

I?

62

Allegro con brio.

*— tr

tr &

-H 1-

Aber dieser Schlag geschieht nicht, wie hier, in der Oktave, sondern es ist vielmehr folgendes in der neunten Variation in Moll durchgeführte Motiv,

Allegro pesante e risoluto.

rr-t

LG 1 « u-

Digitized by Google

Beethoven's Muster- Variation.

569

das in den Hauplton führt. Die Quintessenz dieses Motivs ist h-c; daraus geht in Energie und Konsequenz die sechste Variation

42

Allegro ma non troppo e serioso.

tr tr

3 Qb^jE^E

,

fr

fr

5

hervor.

Doch vorwaltender ist noch das Intervall der Quarte. Schon in der dritten Variation

Poco Allegro.

Ii 62

J'Lj I | I I I JlJJllj]

dolce 1

wird mit ihr gespielt, und es entsteht eine empfindungsvolle Melodie mit mancher sinnigen Nachahmung. Rhythmisch energischer regt sie zu der fünften Variation an,

Allegro vivace.

14

62 )

1 ja 1 -

einem von heimlich verhaltnem und dann wieder reizend w ild aus- brechendem Humor geschaffnen Tongedicht; bis endlich in der zweiundzwanzigsten Variation plötzlich die geheime Verwandtschaft des armen Walzerthema's mit einem berühmten Mozarl'schen Satze in kühner Ironie an das Tageslicht gebracht wird, die dem w itzigsten Reminiszenzenjäger Ehre gemacht hätte.

Es ist weder unsre Absicht, noch für den Jünger und dessen Antheil am Beetho ven'schen Werke ralhsam , dieses in alle Einzelheiten zu begleiten, oder auch nur bei einer der vielen Va- riationen den weitern Verfolg zu zeigen. Das mag Jeder für sich erforschen. Hier sollte nur angedeutet werden : w ie gering die Keime sein könnten, aus denen der Kundige die mannigfachsten, oft geist- und gefühlvollsten Gestaltungen zu erziehn vermöchte; dann aber auch : welche Macht ein schöpferischer Geist im treuen und folge-

Digitized by Google

570

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile

rechten Festbalten gewinne. Eben in diesen Beziehungen erscheint dris Be et ho ve n'scbe Werk vor allen andern gleicher Gattung lehrreich, gleichviel, was von einigen Einzelheiten in demselben zu urlheilen wäre. Ohnehin handelt es sich ja bei uns nie um Entlehnen, Nachahmen fremder Gestaltungen, sondern um die Erkenntniss und Aneignung des gestaltenden Prinzips, das (wie wir wieder recht anschaulich erblicken) in allen Künstlern dasselbe ist.

C.

K. M. v. Weber' s Karakter-Variationen.

Zu Seite 93.

Eine eigentümliche Seite hat K. M. v. Weber der Variation im höhern Sinn abgewonnen. Während er in einigen Arbeiten dieser Art (z. B. denen auf »Vien qua, Dorina bella«, auf ein norwegisches Lied mit Violinbegleitung], auch wohl denen auf die Romanze: »Ich war Jüngling noch« aus Mehül's Oper Joseph in Aegypten) nur dem rein-musikalischen Entwickelungsgang , übrigens in oft eigentümlicher und anziehender Weise folgt, scheint er bei zwei andern Werken, den Variationen auf ein russisches (Kosaken-) Lied und denen auf ein Zigeunerlied, von äusserlich angeregten Vor- stellungen geleitet worden zu sein, in den einzelnen Variationen Momente aus jenen Lebenszuständen des leicht dahin in alle Weite ziehenden Kriegers (die Komposition datirt aus der Periode der Napoleon ischen und Befreiungskriege, oder doch nicht viel später) und des nomadischen, von seiner List und Kühnheit in wilder Grazie und Kraft das Leben gewinnenden Zigeunervolks aufgegriffen und in seinen Weisen angedeutet zu haben.

Weder das Detail dieser Vorstellungen , noch ihr Nachweis soweit er überhaupt gelingen möchte gehört hierher. Jedenfalls haben sie eine unser Gemüth berührende Seite und können folglich zu musikalischer Darstellung anregen, so gut, wie andre Lebenszu- stände (man denke an die vielen alla marcia, an die Pastora le's oder Siziliano's u. s. w.) es schon oft gethan.* Weber verdankt ihnen manche originelle, ja manche ohnedem nicht zu motivirende oder sogar unstatthafte Erfindung. Und wenn die Musik von ganzen äussern Lebenszuständen ohne Zweifel nichts aufzufassen vermag,

Ein andrer Komponist, L. Berger. hat dasselbe russische Lied Schöne Minka, ich muss scheiden) geschrieben und ist urkundlich auf ahnlichen Wegen gegangen. Eine Variation überschreibt er ausdrücklich »ftete de Minka«.

Digitized by Google

K. M. v. Weber' s Kar akter- Variationen.

571

als die Stimmung, und nichts wiederzugeben, als gleichnissartige Andeutungen oder Beziehungen, bei denen zuletzt doch auf den guten Willen und die ergänzende Phantasie gemüthverwandter Hörer gerechnet werden muss : so ist auch gegen diese Richtung und die Gaben, die sie uns bietet, nichts zu sagen; es ist eine von den unzähligen Weisen , in denen unsre schöpferische Kraft erregt und genährt wird.

Doch dürfen wir auch das Bedenkliche dieser Richtung nicht bergen. Regt uns ein Zustand an, der nicht durchaus dem innern Leben angehört (wie bei den S. 90, 91 erwähnten Variationen aus Beethoven's Fmoll- und Cmoll-Sonate), der also nicht durchaus und ganz Musik werden kann: so muss nothwendig in unserm Innern ein Theil jenes Inhalts zurückbleiben, dessen Vorstellung wir neben unsrer Musik festhalten, da sie doch hätte in sie treten sollen. So ist also das Kunstwerk kein vollständiges, insofern es nicht den ganzen Inhalt in sich trägt und sich auf etwas ausser ihm Seiendes und Fremdes beziehen muss, das sehr leicht dem Dritten bei der Auffassung des Werkes nicht gegenwärtig oder ganz unzu- gänglich sein kann.*

Um so weniger können wir eine solche, schon an sich be- denkliche Richtung für den Jünger gelten lassen. Seine Aufgabe ist, sich in die Musik hineinzuleben, während jene Richtung sehr leicht verleiten kann 'und oft verleitet hat), sich aus der Musik herauszuleben. Er hat sich ganz in die Musik zu ver- tiefen und nichts Bessers zu wünschen, als dass sie ihn ganz er- fülle. Dass ihm dabei sein anderweiter geistiger Inhalt bleibe, er denselben nach andern, besonders der Kunst verwandten Seiten ausbilde und bereichere, dieser dann mittelbar oder auch unmittelbar ihm wieder musikalische Anregung und Kräfte gebe: das alles ist recht und nothwendig; aber jener Rückgang des allgemeinen oder fremden geistigen Inhalts in die Musik bleibe der innerlieh geschäf- tigen Natur und der Vorsehung des Künstlers überlassen. Nur der gereifte und zu höherm Bewusstsein durchgebildete Künstler darf hier ungestraft eingreifen; er darf in sich die Einsicht und Kraft hoffen, alles Fremde abzulehnen und alles Zugängliche in Musik zu verwandeln.

* Sehr lehrreich weist Goethe '»Aus meinem Leben«, achtes Buch) auf das Gefährliche dieser Richtung an Oeser's Beispiel hin. »Weil er nun eine eingewurzelte Neigung zum Bedeutenden, Allegorischen, einen Nebengedanken Erregenden nicht bezwingen konnte noch wollte, so gaben seine Werke immer etwas zu sinnen und wurden vollständig durch einen Begriff, da sie es der Kunst und der Ausführung nach nicht sein konnten.« U. s. w.

Digitized by Google

572 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile

D.

Die Formbeweglichkeit der Homophonie.

Zu Seite 104.

In allen Formen, die ganz oder vorzugsweise der Homophonie angehören, wird man grössere Freiheit und Mannigfaltigkeit in der Gestaltung, als in den polyphonen Arbeilen beobachten können. Diese Bemerkung trifft die Rondoformen , dann aber auch die Sonatenformen.

Woher dies? Die Ursachen scheinen folgende zu sein.

Die pohphonen Formen, besonders die vornehmste der- selben, die Fuge, dienen einem in jedem Moment reichen Inhalte, beschäftigen in jedem Momente mehrseitig, stellen durchaus zwei oder mehr selbständige Melodien auf, deren jede gleichzeitig mit der andern und in ihrem Gegensatze zu der oder den andern gehört sein wollen, die als handelnde und redende Personen eines Drama's auftreten. Der Komponist selber (Th. II, S. 443) wie nach ihm der tiefer theilnehmende Hörer sind von der Dramatik und dem Gewicht jedes Momentes hingenommen, und so kommt entschieden mehr auf die Aufstellung dieses Inhalts als auf seine äussere Anordnung an ; die Anordnung dient vorzüglich, ihn klar und wirkungsvoll vorüber- führen zu können. Daher findet man, dass die inhaltvollsten Sätze (wie z. B. der erste Chor in Seb. Bach's Hoher Messe, die meisten Sätze aus dessen Kunst der Fuge und viele andre Fugen des Meisters) oft in der einfachsten Aussengestalt, z. B. mit einer fast gar nicht vom Hauptton loslassenden Modulation auftreten. Der Komponist findet die Kraft nicht in der Aufeinanderfolge, son- dern in der Inhaltstiefe der Sätze.

Ein in Gewisser Hinsicht umgekehrtes Verhältniss zeigt sich in der homophonen Komposition. Hier ist offenbar nicht die Tiefe des einzelnen Moments oder Satzes, sondern die Aufeinanderfolge verschiedner , oft zahlreicher Sätze das Vorherrschende; nicht Melodie gegen Melodie will walten und wirken, sondern Melodie nach Melodie; es sind nicht dramatische Personen, die gegen einander auftreten und vielseitig anziehn und fesseln möchten, sondern es ist die eine Person, die aus der Hauptstimme zu uns spricht, uns eine Folge von Eröffnungen zu machen hat, uns also auf das Fortschreiten hinweist, so dass dieses und seine Weise, wie die ganze Anordnung der Mitlheilung erhöhte Wichtigkeit gewinnen. In den gehaltvollem Kompositionen der Rondo- und Sonatenform wird sich allerdings gewöhnlich eine Einmischung oder Annäherung von Polyphonie zeigen, so dass der oben bezeichnete Unterschied nicht in seiner Nacktheit und Absolutheit heraustritt.

Digitized by Google

Die Formbeweglichkeil der Homophonie. 573

Aber die Grundtendenz beider Schreibarten möchte doch wohl überall sich geltend machen.

Sieht sich nun der Komponist nach der Natur der Sache mit grösserm Antheil auf die Nacheinanderfolge und ihre Ordnung hin- gelenkt, so ist es natürlich, dass eben hierin seine Kraft, die Stimmung des Werks, seine Eigenthümlichkeit sich mit besondrer Energie geltend machen. Daher eben in dieser Hinsicht die Mannigfaltigkeit der Formen, die vielerlei Abweichungen vom Einzelnen des Grund- gesetzes. Diese Mannigfaltigkeit ist so gross, dass man lange Zeit die Notwendigkeit, ja die Möglichkeit einer Lehre für diese Formen bezweifelt hat. Uns scheint vielmehr eben hierin die Notwendigkeit der Formlehre doppelt einleuchtend. Diese Lehre soll und darf Freiheit des Gestaltens so wenig hier, wie anderswo verkümmern ; sie soll nur festen Grund und Anhalt geben und vor den Abschweifungen und Verirrungen der Willkür bewahren.

Die erste Rondo form ist ohnehin mehr in andern Kompo- sitionen, als in Klaviermusik angewendet worden. Das Klavier fodert mehr Beweglichkeit (S. 24) und liebt daher auch mannigfachere Kompositionsformen ; wie wir denn später erkennen werden, dass es alle Formen, die es mit dem Orchester und Gesang, ja selber mit dem Quartett gemeinsam hat, mannigfaltiger und beweglicher ausführt.

Dies lässt sich in Bezug auf die genannte Form schon an einem Beispiele, dem ersten Satz von Beethoven's Fdur-Sonate, Op. 54, beobachten.

Der Hauptsatz dieses Tonstücks ist in seinem ersten Ab- schnitte —

i V

schon karakterisirt. Dieser Abschnitt wird wiederholt, es folgen zwei kleinere von je zwei Takten, die ebenfalls auf der Tonika kurz abschliessen, dann wieder ein grösserer von vier Takten, aber- mals mit einem Schluss auf der Tonika, und nun werden die beiden kleinern und der letzte grössere Abschnitt wiederholt. Achtmal ist derselbe Schluss erfolgt, nicht bloss die einzelnen Abschnitte sind wiederholt, sondern alle sind von dem einen Motiv, das wir in Y«3 gesehen, erfüllt. Das Ganze hat ein kerniges, kurz ab- gebrochenes und dabei doch anmuthiges Wesen, wie schon der erste Abschnitt gezeigt.

Der Satz ist anziehend, aber er kann für sich allein nicht be- friedigen und festhalten. In diesem Urtheil. das wir in dem Gefühl

Digitized by

574

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

des Komponisten selbst voraussetzen müssen, ist entschieden, dass über ihn, also über die Liedform, hinausgegangen werden muss; das Nächste, was sich darbot, war die erste Rondoform, die sich dem Lied am engsten anschliesst und dasselbe als Hauptsatz so wohl erhalt. Beethoven geht so

fort; man hat sich die Unterstimme eine Oktave tiefer und mit Oktaven, die Oberstimme ebenfalls mit tiefern Oktaven unterstützt zu denken.

Was ist dies nun? Der Inhalt ist unstreitig vorherrschend gangartig, der Halbschluss im letzten Takte dagegen mahnt an die Satzform. Indess der Fortgang entscheidet wieder. In den letzten Noten von No. 2/93 hebt die Wiederholung des gangartigen Satzes an, nur mit umgekehrten Stimmen ; diese Wiederholung treibt schon gangarliger weiter, obwohl sie von einem Ganzschluss in der Do- minante (Cdur) ausgeht, aber erst im zehnten Takte. Und nun wird das erste satzartige Stück wörtlich in ylsdur wiederholt mit einem Schlussfall auf Es, dann das zweite, auf zwölf Takte er- weitert, mit einem Schluss auf As. Von hier wird, immer mit gleichem Inhalte, durch einen Abschnitt von zwei Takten nach fmoll. durch einen gleichen nach Des dur gegangen (es ist wieder einmal die altbekannte Modulation mit terzenweis absteigendem Basse, Th. I, S. 123, No. 154, nur jeder Akkord zur Tonart erhoben), von hier wird mit dem Motiv a aus No. */M in vier Takten die Dominante des Haupttones erreicht und diese mit jenem Motiv erst im Diskant, dann im Bass allein acht Takte lang gleichsam als Orgelpunkt fest- gehalten. Hier kann man schon die Wiederkehr des Hauptsatzes voraussehn.

Wofür ist nun dieser ganze Mittelsatz zu nehmen? Un- geachtet seiner mehrmaligen satzartigen Abschlüsse doch nur für einen gegliederten Gang; denn bei der weitgeführten Fortsetzung macht sich der Inhalt immer bedeutender geltend, und die schnelle Abwendung von der Dominante zu fremden Tonarten ist ebenfalls mehr dem uusteten Gangwesen, als der Feststellung eines neuen Salzes angemessen.

_2_ 93

Digitized by Google

Die Formbeweglichkeit der Homophonie. 575

Hierauf kehrt der Hauptsatz wieder. Allein sein auf einem einzigen Motiv beruhender Inhalt befriedigt den Komponisten nicht mehr; er wird verändert. Nachdem der erste Abschnitt (No. getreu wiedergekehrt ist, wird dessen Wiederholung variirt.

Darauf werden die drei folgendeu Abschnitte vorgetragen, erst einfach, dann ebenfalls in gleicher Weise variirt.

Allein diese Darstellung war eher anregend, als zum Schlüsse beruhigend. Folglich muss der Komponist weiter gehn. Noch ein- mal beginnt er mit dem in No. 2/93 gezeigten Abschnitte seinen gangartigen Mittelsatz, führt ihn aber anders und kurz, bloss mit vier Takten weiter zu einem Halt (von vier Takten harmonischer Figuration) auf die Dominante.

Und nun? Da wir uns hier im Wesentlichen genau auf derselben Stelle finden, wie bei dem ersten Abschluss des Mittel- satzes, so muss auch wieder der Hauptsatz folgen; erst der erste Abschnitt nach No. >/M unverändert, dann dessen Wiederholung mit voller ausgeführter Figurirung.

Digitized by Google

576

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

Der nächste Abschnitt kehrt unverändert, die beiden folgenden und die Wiederholung aller drei mit steigenden Veränderungen wie- der ; der letzte Abschnitt wird weiter aus- und nochmals auf die Dominante geführt, und nun endlich aus dem letzten Glied (oder Abschnitte) aus No. */w ein Anhang gebildet, der den Schluss macht. Da aber auch auf den Mittelsatz durch die Erinnerung an ihn ein grösseres Gewicht gelegt ist als gewöhnlich, so muss ihn wenigstens der Bass durch gleiche Bewegung (in Achte Itriolen) noch einmal anklingen lassen. Der Anhang steht übrigens grösstentheils orgel- punktartig auf der Tonika fest.

Hier haben wir nun der Hauptsache nach unstreitig die erste Rondoform vor uns, einen Hauptsatz, der nach einem vorherrschend gangartigen Mittelsatze wiederkehrt. Allein der Komponist fühlte sich nicht befriedigt und fand es doch, bei der Ausführlichkeit des Hauptsatzes und des Ganges, unangemessen, zu neuen Sätzen vor- zuschreiten. Folglich wiederholte er seine Form, kam nochmals auf den Gang und abermals auf den Hauptsatz zurück. Wenn die Grundform sich so

HS— G— HS

(Hauptsatz, Gang u. s. w.) aussprechen lässt, so ist für den Beethoven 'sehen Satz dieses

HS— G HS G HS

das Schema.

Die Erfindung gehört nicht zu den bedeutendem des Meisters, der uns so Tiefes und Ueberreiches oft gespendet hat. Um so lehr- reicher ist, wie er mit sicherer Hand und klarer Anordnung aus so wenig bedeutendem Inhalt ein doch so ansprechendes Tonstück hat bilden können.

In einer formell weniger auffallenden, dem Inhalt nach aber ungleich bedeutendem Weise können wir dasselbe an dem unver- gleichlichen, von Zärtlichkeit und Anmuth durch und durch be- seelten Cdur-Adagio der ersten Sonate Op. 29 desselben Tondichters beobachten.

Eine reizend und zierlich geführte Melodie von acht Takten, die auf der Tonika schliesst und gleich verändert und anmuthig leicht verziert wiederkehrt, um auf der Dominante zu schliessen, bildet den ersten Theil, ein fremder Zwischensatz und die Wiederkehr der ersten acht Takte (neu verziert) den zweiten Theil des Haupt- satzes. Hier wendet sich der Komponist mit einem satzartigen Uebergange Über Cmoll nach ylsdur und entwickelt eine gang- artige Satzkette, die ihn mit orgelpunktähn liebem Ausgang (auf der Dominante des Haupttones) wieder zum Hauptsatze bringt. Dieser wird, abermals und in höherer Lebendigkeit und Regsamkeit ver- ändert, vollständig durchgeführt und sein Hauptmotiv noch zu einem

Digitized by Google

Die Formbeweglichkeit der Homophonie. 577

den Schluss befestigenden Anhang benutzt. Absichtlich geben wir hier keine Notenbeispiele. Sie würden bei der Ausdehnung des Ganzen in allen Theilen zu viel Raum federn ; und die Komposition ist eine von denen, die wir gern in den Händen eines Jeden voraussetzen.

Als drittes Beispiel fuhren wir das in No. 121 bezeichnete B eethoven'sche Adagio an. Dass dem Hauptsatze desselben ein weit ausgeführter Gang folgt und dann der Hauptsatz wieder eintritt, ist S. 128 bereits auseinandergesetzt, auch auf die gedrängte Kürze des Hauptsatzes hingewiesen.

Dem weit und reich ausgeführten Gang gegenüber würde der kurze Hauptsatz ungenügend zusammengeschwunden sein. Daher nimmt der Komponist nach seiner vollständigen Darstellung ein Motiv desselben zur Ueberleitung, JL

FfTTT

geht damit zu seinem Mittelgange zurück und führt erst das Haupt- motiv desselben (aus No. 129) zu folgendem Basse,

«47 B B7 & 7 B 4 #

dann das in No. 131 angedeutete Motiv in dieser Weise

3E

(Bass.)

3f=r 'j^'jFjgg

6 & 6 B7

4

5-i

4

3

4

S S7 6

4 * 4

m

durch. Im folgenden Takte wird nun auf dem tonischen Akkorde selbst in einfacher Figuration zum Hauptsatze zurückgegangen,

dieser aber verändert dargestellt und nochmals, wieder verändert, übrigens unvollständig, als Anhang benutzt.

Karx, Komp.-L. III. 5. Aufl.

37

Digitized by

578

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile

Vj.

Eine Mischform zwischen zweitem Rondo und Sonate.

Zu Seite 436.

Bei der grossen Mannigfaltigkeit, die wir an den zusammen- gesetzten Kunstformen (S. 301) bereits kennen gelernt haben, kann die Lehre sich zwar nicht auf die Auf Weisung aller möglichen, oder nur aller schon gebrauchten Abweichungen (Th. II, S. 6) einlassen ; wohl aber muss sie sich solche Mischformen angelegen sein las- sen, in denen sich verschiedne Formen berühren. Denn in diesen liegt der Gränzpunkt beider Formen, dessen richtige Erkenn tniss die Anschauung des Grundbegriffs jeder Form vollendet und den Jünger zur Freiheit leitet, während seine Verkennung leicht irre führen oder doch unsicher machen kann.

Daher fügen wir den dringendem Erwägungen des geraden Lehrganges hier die beiläufige Betrachtung noch einer abweichen- den Gestalt hinzu. Es ist die des tief empfindungsvollen Largo aus Beethove n's fsdur-Sonate, Op. 7.

Der Hauptsatz, Cdur, hat zweitheilige Liedform. Dies

Largo con grand' espressione.

PP

ist der Vordersatz und Kern des ersten Theils; da er schon auf die Dominante gegangen ist (nur dass er auf dem Schlussakkorde wieder umkehrt), so sieht man schon voraus, dass der Theil selber im Haupttone schliessen wird. Der zweite Theil kommt auf das Hauptmotiv des ersten zurück und schliesst mit einem Anhange.

Wenige Zwischennoten führen nun den Seitensatz in Asdur

8 8 8

herbei, der sich in vier andern Takten sogleich nach Fmoll fort- setzt, dann sogleich in Des dur wiederholt, nach G, nach fis-a-c-es und von da auf die Dominante von 2? dur wendet.

Digitized by Google

Eine Much form zwischen zweitem Rondo und Sonate. 579

Bis hierher würde der Seitensatz und die ganze Konstruktion , allenfalls von der Wechsel vollen und weit gehenden Modulation abge- sehn, nichts von der ursprünglichen Form Abweichendes haben. Allein nun, statt dass der Uebergang in den Hauptton erwartet werden sollte, erscheint unerwartet in der fremden Tonart der Hauptsatz, oder wenigstens sein entscheidender Anfang, der sich jedoch schon im dritten Takte

nach Cmoll und von da im sechsten nach Cdur wendet. Nun erst erfolgt die rechte und vollständige Wiederholung des Hauptsatzes mit seinem Anhange.

Allein noch kann der Satz nicht schliessen; sein Inhalt und seine vielfach gewendete Modulation erfodern einen Anhang. ^Hierzu benutzt Beethoven zuerst die Melodie des Seitensatzes, die er aber in den Tenor legt

und auf G führt, worauf noch ein weiterer Anhang aus dem Haupt- motiv des ersten Satzes, zuerst mit einer abermaligen Anfüh- rung seines Anfangs,

den Beschluss macht.

Dass nach einem weiten und inhaltreichen Mittelsatz oder Gang ausser dem Hauptsatze noch ein längerer Anhang, theils mit Erinnerungen aus dem Mittelsatze, theils mit Anführungen (und Ver- änderungen) des Hauptsatzes, nöthig befunden wird, ist bereits aus ähnlichen Fällen (S. 121) bekannt. Nur mag in dieser Hinsicht

37*

Digitized by Google

580 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

bemerkt werden, wie tief der Komponist sein Thema in der Seele getragen, dass es ihn auch im letzten Schlüsse nicht verlassen.

Neu ist dagegen die Anführung des Hauptsatzes im mittlem Theile; und zwar nicht etwa eines beiläufig ergriffnen und benutzten Motivs, sondern des entscheidenden ersten Abschnitts, und dies mit der bestimmt ausgesprochnen Absicht, als ein be- sondrer selbständiger Satz, nicht bloss als Glied des Ganges aufzu- treten, — so dass man hiermit den Abschluss des ganzen Rondo's erwarten dürfte, wenn nicht die fremde Tonart (Ädur statt Cdur) zu entschieden widerspräche.

In der vierten und fünften Abtheilung wird klar werden, dass in dieser eigenthttmlichen Gestaltung eine Misch form zwi- schen Rondo und Sonate zu erkennen ist. Hier wollen wir nur daran festhalten, dass, wie am Schlüsse, so in der Mitte der Tondichter von seinem ersten Gedanken auf das Innigste unablöslich erfüllt gewesen. Sobald er das Wesentliche des Seitensatzes aus- gesprochen, findet er keine Müsse und Befriedigung in einem wei- tern Gange, der etwa den Seitensatz an den Hauptsatz und dessen rechte Tonart herangeführt hätte ; sinnend ergreift er gleichsam die erste beste Tonart, ist von As- und Des dur aus zufrieden, das milde Üdur erlangt zu haben, und lässt hier seinen Hauptsatz in zarter Höhe leise anklingen. Allein bald fühlt er, dass hier kein Weilen; und so sinkt er in das trübe Cmoll hinab und findet von da die rechte Stätte.

Eben dies Verlorensein in den fremden Tönen veranlasst dann auch die Erinnerung an den Seitensatz im Hauptton und den gan- zen Anhang.

Es ist wieder eine jener isolirten Gestaltungen, die nicht nach- geahmt, aber durchdacht sein wollen ; denn in ihnen lässt sich das Ineinanderspielen zweier Grundformen und der wesentliche Unter- schied beider fein und sicher beobachten.

F.

Ueber Notwendigkeit und Art des Entwurfs.

Zu Seite 137.

Vor der Einführung in die grössern Formen ist rathsam, noch einmal auf einen Theil des Verfahrens bei der Komposition hinzuweisen, der für das Gelingen von äusserster Wichtigkeit ist, gleichwohl öfter versäumt oder unzweckmässig behandelt und selbst von Lehrern mitunter unzweckmässig oder irreführend gewiesen wird. Wir meinen

Digitized by Google

Ueber Notwendigkeit und Art des Entwurfs. 581 den Entwurf,

der der eigentlichen Ausarbeitung und Vollendung einer Kompo- sition — namentlich einer grossem vorangehen muss.

Jede Komposition ist ein Fortschreitendes; die Gedanken be- wegen sich von Takt zu Takt vorwärts bis zur Vollendung des Ganzen. Das ist der Lebensfaden des Werks. Aber in jedem Takt, in jedem Zeitpunkte breitet sich der Inhalt in der Form von Begleitung, Gegenstimmen u. s. w. aus. Das Insge- sammt von dem Allen bildet die Fülle des Lebens. Beides zusammengenommen ist erst das volllebendige Werk. Jeder mehr als einstimmige Satz, selbst jeder Harmoniegang giebt diesen An- blick. Der Satz bewegt sich vom Anfang bis zu seinem Schlüsse ; mit diesem erst ist er ein Satz geworden, dieser Fortschritt ist also die Bedingung seines Daseins. Was diesem seinem Lebens- faden sich an melodischen Momenten, Harmonie und sonstigem Zubehör anreiht, oder vielmehr : was diesen Lebensfaden ma- teriell bildet, das ist die Fülle, der Inhalt des Satzes.

Beides, Fortgang und voller Inhalt aller Momente, bietet sich keinem Künstler auf einmal dar (weil der Mensch nicht zweierlei auf einmal denken kann), sondern nur nach einander. Dies Nach- einander kann mehr oder weniger rasch erfolgen, je nach der gei- stigen Schnellkraft des Schaffenden und der Ausdehnung und Fülle seiner Aufgabe. Jedenfalls aber fodert Beides, Fortführung des Ganzen zum Ende, Vertiefung in die einzelnen Momente und Er- füllung derselben, sein Recht und will Jedes nach seiner Natur behandelt sein, die Fortführung unaufhaltsam und ununterbrochen, die Erfüllung mit jener Besonnenheit und Sammlung, ohne die keine Vertiefung möglich ist.

Daher haben alle Künstler, Dichter, Bildhauer, Maler, Musiker, stete der Vollendung ihrer Werke, wenigstens aller umfassendem, Entwürfe, Modelle, Zeichnungen und Farbenskizzen vorangehn lassen; es sind deren ebensowohl von Raffael und Rubens als von Mozart und Beethoven bekannt. Ob einmal irgend ein Musiker (wie man vom Maler Horace Veraet erzählt) ungestraft eine Ausnahme macht, durch ausserordentliche Erinne- rungs- und Vorstellungskraft begünstigt: das ändert nichts an der Natur der Sache. Dieser gemäss wird in den allermeisten Fällen selbst der hochbegabte Künstler die Schnellkraft des Fortschritts, den Fluss und die Einheit des Ganzen gefährden , wenn er nicht der Ausfuhrung und all' ihren Zweifeln den Entwurf voranschickt. Schon die Zeit und Mühe der umständlichen Aufzeichnung des ge- sammten Inhalts, dieser Hunderte von Akkorden und Tausende von Noten, wird den Musiker um die Seele seines Schaf- fens, die Stimmung, bringen.

Digitized by Google

582 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

Daher war es Pflicht dieses Werks, stets auf diesen Punkt hinzuweisen. Schon die Einleitung zu Th. I (S. 18) schärft ein: scharf und klar und frei ersinnen, rasch und kühn entwerfen, gewissenhaft, eigensinnig prüfen; schon . 128 wird die Bezifferung als Hülfsmittel für den Entwurf be- zeichnet; die Einleitung zu Th. II (S. 18) wiederholt diese Erinne- rung und empfiehlt, rasch, entschieden, wo möglich in Einem Zuge zu entwerfen; bei den Figural- und Nachahmungsformen wie bei der Fuge (S. 142, 219, 309, 530) wird mit Entwürfen begonnen, denen die Ausarbeitung nachfolgt. Es versteht sich, und ist den treulich Nachfolgenden jetzt schon zur andern Natur geworden, dass auch die Aufgaben der angewandten Kompositionslehre zu- vor im Entwürfe, dann erst in der Ausarbeitung gelöst werden müssen, selbst die begrenztem, die bis hierher aufgestellt worden, geschweige die nun kommenden grössern.

Die Wichtigkeit des Entwurfs steht fest, in der Form, im ganzen Verfahren können mancherlei Abweichungen stattfinden ; es wäre pedantisch und störend, hier in Neigung und Gewöhnung der Einzelnen einzugreifen, wofern nur die Abweichungen nicht dem Zweck entgegenwirken.

Im Allgemeinen lassen sich bei der Komposition drei Ab- schnitte unterscheiden, die auch in diesem Werke (Th. I und II, S. 18) bezeichnet sind: das Ersinnen, Auffindung des Stoffs oder der schöpferischen Idee, der Entwurf, die Umrisse der ganzen Gestalt, die das Werk haben soll, die prüfungsvolle A usarbeitung.

Der erste Theil der Arbeit, die Auffindung, lässt für den Künstler keine Bestimmung von aussen her zu; können wir doch selber nicht willkürlich Gedanken bilden oder gar Stimmung oder Begeisterung herbeirufen. Gleichwohl müssen auch die Künstler jenes übermüthige Wort aus Faust :

Gebt ihr euch einmal für Poeten, So kommandirt die Poesie !

über sich ergehn lassen; die Welt, die Verhältnisse gebieten oft, ohne der rechten Stunde warten zu wollen; Gluck, Mozart, Meyer beer, wer nicht? haben sich zu Gelegenheitsarbeiten herbeigelassen; die Durchbildung des Künstlers erweist sich eben daran, dass er zu jeder Stunde fähig sei, Alles was begehrt wird zu bilden. Wie weit übrigens diese Werkthätigkeit von der ge- weihtem Stunde fernliegt, ist eine Frage für sich. Wie lange nun der Künstler ein Werk in sich trägt, bis es zum Entwürfe reif ist, ob er mehr als einen Stoff zugleich zeitigt, vielleicht mancherlei Gebilde (Harmonien, Passagen u. s. w.) beslimmungslos aufbewahrt, ob er das Alles mehr oder weniger dem Ge-

Digitized by Googl

Ußber Notwendigkeit und Art des Entwurfs. 583,

dächtniss anvertraut oder in Skizzen , Notizbüchern u. s. w. (wie der von Reisen vielzerstreule Mozart) festhält: das Alles richtet sich nach Persönlichkeit und Umständen; Niemand hat da einzu- reden.

Dem Schüler kann die Freiheit des Künstlers nicht gewährt werden, aus dem einfachen und unumstösslichen Grunde, weil sonst Richtung und Zeit des Lehrgangs unberechenbar wären. Er muss sich bestimmten Aufgaben unterziehn, und er muss sie sofort angreifen und durchführen. Nicht unbedacht und ohne Sammlung soll er herantreten, aber eben so wenig darf er sich jenem Ent- gegenharren auf »glückliche Einfälle«, auf »Stimmung« (und wie die Ausreden sonst heissen , hinter denen sich Zerstreutheit und Schlaffheit bergen) hingeben. Er muss das Goethe'sche Wort über seine Thür schreiben.

Das ist die Tapferkeit des Schülers und des Künstlers. Ohne sie hätten die Meister nicht so unglaublich viel schaffen können und werden die Jünger nicht Meister. Unter Hunderten von Schülern hat der Verf. die rasch Zugreifenden stets als die tüchtigsten und aussichtvollsten, die Wähligen stets als die zweifel- haften befunden.

Mit dem Entwürfe beginnt erst die wahre Arbeit und zu- gleich die wahre unaufhaltsame Schaffenslust. Das Vorhergehende giebt die Möglichkeit eines Werks, der Entwurf seine Wirklich- keit. Einiges (mehr oder weniger) ist vorhanden und gewiss, Andres unbestimmt, Andres fehlt noch gänzlich. Jetzt gilt es, Thatkraft und jene Tapferkeit vereint zu bewähren. In Einem Zuge muss das Werk oder wenigstens ein wesentlicher karakter- beslimmender Theii desselben hingeworfen werden. Was sich bei der Ausführung sicher von selbst findet, was unter dem Entwerfen zweifelhaft oder noch gar nicht vorhanden ist, bleibt weg, wie die Entwürfe in diesem Werke zeigen. Warum soll man nicht ein Wort drucken lassen , das man sich nicht scheut auszusprechen ? Der Verf. sagt säumigen unentschlossnen Schülern :

»Der Zweifel ist der Teufel!«

und er ist es, der Thatkraft und Freude zernagt.

Im Entwürfe wird das Werk festgestellt wenn auch nur im Umrisse. In ihm wird dem Schaffenden erst seine Stimmung fest, sein Vorhaben klar. In ihm wird erlangt, was erste und letzte Bedingung jedes Werks ist: Einheit und Fluss des Ganzen; ohne sie bleiben alle möglichen Einzelheiten nichts als Schutt, oder zusammengebackner Staub, Pise nennt es ein Goethe' scher Denkvers in sehr verfänglicher Weise. Daher soll man den Entwurf zwar, nachdem er vollendet, nicht eher ! wiederholt und gewissenhaft prüfen, aber nicht ohne dringende Noth,

Digitized by

584 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

ohne die klare Erkenntniss von seiner Unnahbarkeit oder Ver- besserungsbedürftigkeit, ändern oder gar fallen lassen. Wer darüber hinausgeht, wer ohne Noth nur etwa um vermeintlich Besseres oder Schöneres zu gewinnen umhersucht und den ersten Ab- druck seiner Stimmung und Anschauung, die niemals unverändert wiederkehren, verlässt: der findet sich selten wieder zur Einheit dessen, was er eigentlich gewollt, oder überhaupt zu einheit- voller Vollendung zurecht, und gewöhnt sich in jene Zweifel- müthigkeit, vor der oben gewarnt worden. Ein nachdenklich Beispiel im Grossen giebt für den Kenner Beethove n's Umarbeitung seiner Oper Leonore in die jetzige, Fidelio genannte Gestalt derselben. Einmal vom ersten Weg ablenkend hat er es bis zu vier Ouver- türen gebracht, und man dürfte schwerlich die folgenden (besonders die letzte, jetzt feststehende) der ersten vorziehn, noch weniger das jetzige Duett : »0 namenlose Freude« der ersten Gestalt desselben, und so noch Andres. Dagegen ist nicht zu verkennen, dass in andern Fällen (z. B. bei der Umgestaltung des Scherzo in der A dur-Symphonie) wesentliche Aenderungen auf das Glücklichste vorgenommen worden sind. Hier folgte Beethoven seiner rein künstlerischen Ueberzeugung ; dort suchte er der Rücksicht auf Bühnengewohnheit genugzuthun, die allerdings auch ihr Recht hat, aber schon im Entwurf oder vielmehr vor seinem Beginn mit in Rechnung kommen muss.

Einen wunderlichen Rath giebt ein neueres Lehrbuch: Nach Erfindung der Hauptgedanken soll der Schüler den ersten Abschnitt aus seiner .Skizze (es ist damit die Aufsammlung der einzelnen Gedanken oder Themate gemeint, also er soll den ersten Ge- danken) zum Thema nehmen und ihn möglichst viele Mal immer anders darzustellen suchen. Es werden 10 Beispiele gegeben und dazu wird (ganz richtig) bemerkt, dass noch hundert und aber hundert neue Gestaltungen daraus zu ziehen wären. So soll der Schüler jeden Abschnitt (Gedanken) für sich so lange, als ihm noch Ver- änderungen beifallen, umwandeln. Macht er 20 Veränderungen, ist es gut, macht er 40, 50, ist es noch besser. Dann soll er aus diesen mannigfaltigen Skizzen die besten Modelle wählen.

So gründlich und bildend dies Verfahren dem in der Kunst Fremden (eine Bezeichnung, die durchaus nicht etwa auf den dasselbe Vorschlagenden zu beziehn ist) auf den ersten Hinblick erscheinen könnte, so widerkünstlerisch und irreleitend ist es in der That.

Schon die Voraussetzung, dass zuvörderst »die Hauptgedanken erfunden werden müssten, ist verfänglich. Es kann sein und ist (wie z. B. Beethove n's Skizzenbücher allerdings zeigen) bis- weilen oder öfter geschehn, dass Künstler einzelne (vielleicht alle]

Digitized by Google

lieber Nothwendigkeit und Art des Entwurfs. 585

Themate, oder Motive zu denselben, zuvörderst irgendwie notirt haben, bevor sie an den eigentlichen Entwurf gingen; natürlich kann überhaupt der Entwurf nicht begonnen werden, bevor man irgend einen Theil des Inhalts, vor allem den Anfang, gefunden. In diesem Bande selber (S. 329) ist auf den Vortheil hingewiesen worden, den es gewährt, wenn man vor der Ausführung eines Werks die Hauptmomente desselben gefasst hat. Wie viel das aber sei, ob man das Gefundne notirt oder im Gedächtniss bewahrt, das macht sich bei verschiednen Künstlern, ja bei demselben Künstler unberechenbar verschieden. Mendelssohn hatte den ersten Theil seiner Ouvertüre zum Sommernachtstraum vollständig in Partitur gebracht, als er bewogen wurde, Alles mit alleiniger Ausnahme der vier ersten Akkorde und des Elfentanzes schlechthin wegzu- werfen und das Ganze so, wie es bekannt geworden, zu gestalten ; der Satz (tfdur), der auf die Rüpel und den verwandelten Zettel (gis-ai's) hindeutet, kam unter dem Schreiben zuletzt zu, und dann erst konnte an den zweiten Theil gedacht werden, während der Schluss (Rückkehr des ersten Satzes) von Haus aus feststand, aber unnotirt, bloss im Sinne behalten. Nach Verwerfung der ersten Partitur war also gar kein Inhalt festgestellt als die Einleitung und der £moll-Satz.

Nun aber lässt jene Anleitung gerade das, was erste und unerlässliche Bedingung jeder künstlerischen Schöpfung ist, voll- ständig aus den Augen, oder vielmehr, macht es von Grund aus unmöglich: den Drang und die Lust des Gestaltens, die in ihrer höchsten Potenz Begeisterung (gänzliche Erfülltheit des Geistes von der einen Idee, augenblickliches Aufgehn des ganzen Daseins in diese eine Idee) heisst, und die nur daher erreichbare Einheit und den Fluss des Werks, das als wirkliches Leben dahinströmt. Wie vorwaltend diese Bedingung vor allen Einzelheiten ist, kann vielleicht an keinem Werke so schlagend gewiesen werden, als an Mozart's Ouvertüre zu Cosi fan tutte. Man darf jeden ein- zelnen Satz des Allegro unbedeutend nennen, und das Ganze strömt im frischesten Lebensergusse reizend und unwiderstehlich mit fortziehend dahin ; so mächtig waltet der unverkümmerte, ganz ungehemmte Gestaltungstrieb.

Wie soll dergleichen möglich werden, wenn man erst an je- dem Satze herumprobirt und 20, 40, 50 Gestaltungen aufsucht und niederschreibt, bevor man an den eigentlichen Entwurf geht? Wie soll man da nicht ermüdet, ja angewidert werden von dem ewigen und niemals zu wirklicher Vollständigkeit kommenden Herumprobiren ? Das heisst nach dem alten burlesken Worte : »den Enthusiasmus auf Flaschen ziehn«. So entsteht kein Kunstwerk, sondern

Digitized by Google

586 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

schales Machwerk, so wird kein Künstler erzogen, sondern Zwei fei - muth und Gleichgültigkeit.

Und ferner: wozu dienen diese Vorversuche, wenn sie nicht alle Gestalten vollständig liefern4? kann nicht gerade die 51ste, vor der man Stenn geblieben, die rechte sein4? oder die 501 ste? und wo ist, wenn man auch erschöpfend sein und Jahre für einen einzigen Fall aufwenden wollte, das Ende zu finden? Nirgends; die Gestalten- reihe wächst mit jedem neuen Schritte, statt sich zu erschöpfen, wie dieses Werk überall bewiesen hat.

Und endlich: hier liegen nun 50 oder 500 »mannigfaltige Skizzen«; daraus sollen »die besten Modelle zu wählen« sein. Das unkünstlerische Wählen (der Künstler wählt gar nicht) mag dahingestellt bleiben; aber nach welchem Bestimmungsgrunde soll man wählen? welches »Modell« ist das beste? giebt es überhaupt ein schlechthin Bestes? Unmöglich wird man einen andern Be- stimmungsgrund auffinden, als die Idee und den Zusammenhang des Ganzen; sonst könnte man willkürlich Sätze (z. B. Seitensätze) des einen Bondo oder Sonatensatzes in ein ander Rondo versetzen. Man versuche das nur, selbst bei demselben Komponisten, aus der- selben Periode desselben, bei gleicher Ton- und Taktart!

Niemals hat ein Kunstwerk so entstehen, ein Künstler (ausser bei den Spässen des Potpourri's) so verfahren können. Kein Kunst- werk wird zusammengestückelt aus dem Schutt von Vorversuchen, es würde, hätte sich auch Leben geregt, an dem erkältenden, bis zum Uebelwerden schalen Herumversuchen vor der Geburt erstickt. Der Künstler, getrieben von seiner Empfindung oder Idee, im frischen Behagen der schöpferischen Kraft überlässt er sich, sobald die Keime, wie die Knospen im Frühjahr zum Herausbrechen schwellend gezeitigt sind, dem Zuge des Ganzen. Nichts darf ihn hier stören und irren, wenn der Lebensstrom nicht verzettelt und getrübt werden soll; die Kräfte dazu muss er zuvor, vor dem Beginn in sich gesammelt und gezeitigt haben.

Hierzu muss der Schüler erzogen werden. Schritt für Schritt muss man ihn von den einfachen Bildungen zu den grössten und zusammengesetztesten emporleiten, an jeder muss ihm Einsicht, Lust, Bildungskraft, Umblick und Herrschaft über alle Möglichkeiten des Gestaltens wachsen. Damit tritt er zu jeder höhern Aufgabe mit erhöhter und zureichender Kraft und hat nicht nöthig, mitten im Gestalten seiner Schöpfungen sich durch endlose Versuche um Stimmung, Lust und Selbstgewissheit zu bringen.

Digitized by Google

Zu Dussek's Karakteristik

587

Zu Dussek's Karakteristik. Zu Seite 150.

Nicht ohne besondre Absicht haben wir in den Beispielen zu dieser Lehre auf Dussek hingewiesen.

Dussek ist einer von denjenigen Künstlern, die ihre Anlagen höchst achtungswerth, ja einflussreich und bedeutend ausgebildet und geltend gemacht haben, gleichwohl nicht in solcher Vielseitigkeit und Vertiefung in ihre Aufgabe, dass an ihrer Person ein wesent- licher Entwickelungsmoment im Leben der Kunst, eine neue Offen- barung des Kunstgeistes erlebt worden wäre, der ihrer Geltung dann ewige Dauer gegeben hatte. Er ist daher von der geistigen Macht Beethoven's, selbst von nicht höher, sondern minder begabten, uns aber in der Zeit näher gerückten Komponisten in Schatten ge- stellt, vielen unter uns ganz aus dem Gesichtskreise verdrängt worden. So wenig aus höherm Gesichtspunkte dieses Schicksal ein ungerechtes zu nennen, so gewiss es viele von seinen Nach- folgern noch näher bedroht, zum Theil schon betroffen hat : so guten Grund haben wir doch, den Jüngern der Klavierkomposition ein antheilvolles , aber auch aufrichtiges Studium der wichtigsten Dussek' sehen Werke* anzurathen.

Vorerst giebt sich in diesen Werken, namentlich in den spätem und grössern, eine Innigkeit der Empfindung und ein grosssinniger Ernst der Konzeption zu erkennen, die nicht verfehlen können, uns Antheil, Mitempfindung und Hochachtung abzugewinnen, ja die dem ältern Meister vor vielen neuern entschiednen Vorrang anweisen. Ein gewisses Etwas, das wir weiterhin zu bezeichnen haben, schmälert oder lähmt allerdings den Antheil, den unser Gemtith noch jetzt an jenen Kompositionen nehmen kann, vermag aber keineswegs ihn zu verneinen.

Sodann aber und das ist für unsern Zweck das Wichtigere ist Dussek der erste, der mitEntschiedenheit und bedeutendem Erfolg sein Instrument, das Pianoforte studirt, und in seinen Kompositionen wohlbedacht hat, ohne gleichwohl in diesem Trachten das Geistigere der Komposition so weit aus dem Sinne zu lassen, wie nach und neben ihm oft geschehn ist. Diese Tendenz ist aber eine höchst wichtige und beachtenswerthe. Wie seicht es auch jedem tiefer in unsre Kunst Eingeweihten erscheinen muss, wenn man ihr etwa nur die Bestimmung,

* Zunächst und vornehmlich empfehlen wir seine Sonaten Le retour ä Paris, L'invocation und die in Jss, Op. 44.

Digitized by

588 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

das Ohr zu ergötzen *, beimisst : unleugbar ist ihr doch dieser Sinn als Weg zu unsrer Seele angewiesen. Sie bedarf also der Organe, die zu diesem Sinne reden und kann ihren Zweck nur durch deren angemessenen Gebrauch erreichen. Idee des Kunstwerks und Organ verhalten sich (S. 522) wie Geist und Körper; so dass es eine der ersten und entscheidendsten Fragen ist : in welchem Verhältniss beide sich im Kunstwerk offenbaren, ob das Geistige oder Leibliche ver- säumt, ob Geist oder Material vorherrschend geworden ist. Wir haben (S. 554) nicht unerwähnt lassen dürfen, dass selbst bei einem Mozart, hauptsächlich aus äussern Gründen, die in der Zeit lagen, das Organische bisweilen weniger vollkommen entwickelt ist; an Beispielen, wo das Geistige hinter dem Materialen zurückgesetzt worden, hat es weder in unsrer Zeit noch früher gefehlt; nur in dem Vollender der Pianofortemusik, in Beethoven, finden wir beide Seiten in glücklichster Harmonie. Hiernach ist das grosse Verdienst Düsse k's zu ermessen, dessen Wirksamkeit zwischen Mozart und Beethoven füllt, in gleiche Zeit mit Glementi, Cramer, Wölfl, Himmel, dem geistreichen, aber mehr dilet- . tantischen Louis-Ferdinand** und Andern.

Betrachten wir nun Dussek's Klaviermusik, namentlich die spätem karakteristischen Werke: so finden wir bald heraus, was er vornehmlich dem Instrument abzugewinnen trachtete, dessen Klangarmuth ihm nicht entgehen konnte, obwohl ihm besonders später die klangvollem englischen Flügel zu Gebot standen. Fülle des Klanges dem Instrument im Widerspruch mit seiner ursprüng- lichen Dürre (im Vergleich zu Streich- und Blasinstrumenten) ab- zugewinnen, das ward ihm gleichviel ob klar oder minder klar bewusst zur Aufgabe; und unstreitig war die Aufgabe eine richtige und verdienstvolle. Breite Akkordlagen, Uberhaupt Fülle der Harmonie, breitgeführte Gänge, viel harmonische Figuration, häufige Verdopplung, in Folge dessen breite Ausführung der Sätze, eine weitgehende Modulation, und wiederum in ihrer Würze vielfache Durchgänge, Durchgangsakkorde, Hülfstöne, daher wieder ein fast ununterbrochen gebundnes Spiel, dann wieder zum er- frischenden Gegensatz häufige Naturharmonie***, aber zu saftigerm Klang in Verdopplungen ausgeführt: das ungefähr sind die Formen, in denen sich der Meister zu offenbaren liebt. Dem allen entsprach die Spiel- und Klangart der englischen Flügel, deren er

* Vergl. des Verf. Schrift: »Die alte Musiklehre im Streit mit unsrer Zeit«, S. 40, 66 u. a.

** Auch von ihm seien das Fmoll-Quatuor, das Oktett, Variationen u. A. empfohlen.

*♦* Th. I, S. 55.

Digitized by Google

Zu Dussek's Karakteristik

589

sich bediente, wie auch umgekehrt die verführerische Saftigkeit dieser Instrumente auf die Geistesrichtung des Komponisten gewiss nicht ohne Rückwirkung geblieben ist.* Ein edler Sinn, ein weiches und dabei grossartigen Aufschwungs fähiges Gemüth hat hier die ihm zusagende Ausdrucksweise gefunden ; dies ist es, was wir an Dussek zu lieben und zu studiren haben.

Allein das aufrichtige Studium wird weder durch Verehrung oder gar Autorität, noch durch Liebe oder Vorliebe von dem ernst- lichen Dringen auf volle Erkenn tniss der Wahrheit zurückgehalten. Und so darf uns denn auch die mangelhafte Seite des trefflichen Tonsetzers nicht verborgen bleiben; wir müssen von ihm aus- sprechen: die Vertiefung in sein Organ, und zwar jene Weise seiner Verwendung, die wir oben bezeichnet haben, ist ihm so vor- herrschend geworden, hat ihn so ganz hingenommen, dass zumal in seinen liebsten und inhaltvollsten Werken gar nicht mehr aus ihr herauszukommen ist, dass in dieser ununterbrochen Fülle der Harmonien und Gänge das frische Leben untergeht und erstickt, wie einst jener englische Herzog im Malvasierfasse. Gänge und Sätze verschwimmen in einander, weil über alle Gränzpunkte hinweg die ewig vollgefüllte Spielweise Alles unter derselben Form und Farbe erscheinen lässt; der Rhythmus verliert seine Federkraft, die stete Folge breit ausgelegter Massen und Sätze verbreitet über das Ganze, während man fast jeden einzelnen Zug als edel und grossartig ge- lungen lieben und preisen darf, oft ermüdende Langweile.

Aus einem andern Gesichtspunkte (S. 456) könnte man aus- sprechen: es walte in Dussek durchweg die Tendenz des lang- samen Tempo vor. Daher sind seine Adagio's zum grossen Theil ganz vorzüglich ansprechend , seine Allegro's ungeachtet langhin gestreckter Gänge und Sätze durch stete Spielfülle und Ausführlich- keit im Einzelnen zu unbewegsam, um ihre Bestimmung ganz zu erfüllen und den Adagio's zum rechten Gegensatze zu dienen.

Hätte Dussek sich vielfältig in den Formen des Orchester- und Vokalsatzes bewegt und ausgebildet, so würde ihm jene Ein-

* Derselbe Einfluss des Instruments auf die Weise des Tonsatzes lässt sich, wenn auch mit theil weis abweichenden Resultaten, an Field, an Louis- Ferdinand u. A. im Gegensatze zu den Spielern der Wiener Schule und Instrumentweise, einem Hummel, Moscheies u. A., beobachten. Der ge- sättigtere, in sich selbst begnügtere Klang der englischen und der nach ihrer Weise gebauten Instrumente, die breitere Tastenlage, der tiefere Fall und schwerere Anschlag der Tasten, der längere und vollere Nachklang müssen auf die Technik, dann auf die Vortrags- und Sinnesweise des Spielers endlich jenen Einfluss üben, den wir an Dussek gewahr zu werden meinen ; nur ein sehr entschiedner Künstlerkarakter vermöchte sich ihm zu entziehen.

Digitized by Google

590

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

seitigkeit wobl fern geblieben , oder gewiss ihre Ueberwindung leichter geworden sein.* Und so wird er durch seine Vorzüge wie durch seine Mängel als Gegenstand unsrer Verehrung und Ueberlegung bezeichnet.

HL

Periodenform für den Hauptsatz im langsamen Rondo.

Zu Seite 162.

Es kommt, wie jedermann voraussieht, zu viel auf die Bildung der einzelnen Sätze und auf die Tendenz der einzelnen Kompo- sitionen an, als dass sich hier ein bestimmterer Ausspruch thun Hesse. Der abweichenden Falle giebt es auf beiden Seiten genug; nur wird es dann auch nicht zu schwer sein, die Gründe, die zur Abweichung berechtigten, oder die nachtheilige Wirkung einer un- berechtigten Abweichung zu erkennen. Ein Paar Fälle gehen wir hier noch kurz durch.

Beethoven bildet das As dur- Adagio seiner Sonate pathetique nach der dritten Rondoform und sein Hauptsatz ist eine einfache Periode, aus Vorder- und Nachsatz bestehend, ohne Anhang. Zwar hat der Vordersatz statt des Halbschlusses eine förmliche Aus- weichung in die Dominante , mithin den Schluss, der eigentlich einem ersten Theil gebührt; allein dem ungeachtet ist die Form des Vordersatzes so unzweideutig, die Ausweichung so vorü hergehend, dass auf jene Andeutung einer Zweitheiligkeit wenig Gewicht gelegt werden kann.

Allein dieser bloss periodische Hauplsatz legt sich durch den grandiosen Zug seiner Melodie, durch die Breite und den ununter- brochen Fluss der Begleitung (a)

I

^

159 j

l

b

-1

' * f

*■ 0

0

1 M

* Vergl. Th. II, S. 8.

Digitized by Googl

Periodenform für deii Hauptsatz im langsamen Rondo. 591

in solcher Fülle aus, dass schon hiernach eine grössere Ausdehnung zu unsrer Befriedigung nicht nöthig erschien. Nun aber, damit er sich tief einpräge, wird er, und zwar in unabgebrochnem Zu- sammenhang mit der ersten Aufstellung und in noch breiterer Aus- lage der Begleitung (6) vollständig wiederholt, so dass nun doch eine Masse von Zweimal acht Takten, zwei periodische Ausführun- gen, wenn auch nicht verschiednen Inhalts, vor uns stehn.

Hiermit ist denn das Satzelement (S. 456) vornehmlich aus- geprägt und herrscht durch die ganze Komposition. Ohne Zwischen- gang tritt gleich nach dem Schlüsse des Hauptsatzes der erste Seitensatz auf. Er hat blosse Satzform, auch seine Modulation ist keine fest abschliessende; nachdem der Satz in Fmoll aufgetreten und sich da festgesetzt, geht er nach Es dur und macht hier seinen vollkommnen Schluss. Nun wird, um diese Tonart als die eigent- lich herrschende zu bezeichnen, ein Schlusssatz

angehängt, aus dessen Wiederholung ein kleiner Gang gebildet und der Hauptsalz kehrt ohne Wiederholung wieder.

In ähnlicher Weise bildet sich der zweite Seitensatz. Sein Vordersatz steht und schliesst in As moll, der Nachsatz wendet sich nach Edur; mit Abschnitten aus ihm wird in den Hauptton zurückgegangen, der Hauptsatz mit Wiederholung wiedergebracht und mit einem Anhange, gesangvoll und ruhig wie das Ganze, geschlossen.

Aehnliche Bewandtniss hat es mit dem Adagio aus Mozarts grosser Cmoll-Sonate.* Vor der nähern Untersuchung ist jedoch einer Eigentümlichkeit zu gedenken, die sich in vielen, besonders Klavierkompositionen des Meisters erkennen lässt.

Mozart war so reich musikalisch-begabt, so gleichsam unter- getaucht im Musikelemente, dass jeder Augenblick seines Lebens sich fast unbewusst zu einem musikalischen Ausdruck gestaltete. Dieser Reichthum musikalischer Erzeugung ist längst allgemein be- wundert worden und kann nur dann ganz geschätzt werden, wenn man die Mozart' sehen Kompositionen mit denen der nächsten Vorgänger und Zeitgenossen vergleicht**; denn Vieles ist uns

* Fantasie und Sonate aus Cmoll, Heft 6 der Breitkopf - Härtel'schen Ausgabe (No. 4 7 der Einzelausgabe).

** Auch Haydn (und sogar dem schwachem Pleyel) war eine solche Fülle der Tonerfindung beschieden ; doch hielt bei jenem das humoristische Spiel das er oft bis zum Neckischen und Eigensinnigen trieb, den Erguss zusammen.

Digitized by Google

592 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

durch ihn und seine Nachfolger so geläufig worden, dass wir ver- gessen, es ihm als Erfindung anzurechnen.

Mit diesem unerschöpflichen rein-musikalischen Bildungstriebe geht aber durch einen Theil seiner Kompositionen, besonders derer für das Klavier, ein zweiter Karakterzug, ein vorwärts treibendes Verlangen, gleichsam das Gefühl von der Eile des Lebens, das ihm oft nicht Ruhe gönnt, sich in einen bestimmten Satz zu versenken, bei ihm ausschliesslich zu weilen und ihm damit jene Tiefe und abgeschlossene Einheit zu verleihen, die uns an den Sätzen eines Beethoven und Bach fesselt und unwiderstehlich in die Stimmung und Vorstellung des Tondichters hineinzieht. Mozart selbst klagt, dass ihm die Hast seines Lebens nicht vergönne, mit der Müsse und vollkommnen Hingebung zu arbeiten, die allein ihn zufrieden- stellen könnte; allein es war wohl nicht allein die äusserlich unbegtinstigte Lage, die ihn fortzog und trieb, sondern die Eigen- tümlichkeit seines Naturells und die ihm gewordne Aufgabe in der Entwickelung der Kunst, wie an einem andern Orte näher zu erörtern sein wird.

Eine Aeusserung dieser zweiseitigen Eigentümlichkeit ist nun die: dass Mozart sich gar häufig in kleinen Sätzchen weiter be- wegt, ohne festern Zusammenhang, als den aus der allgemeinen Stimmung hervorgehenden. Dies giebt seinen Kompositionen jenen Reiz des ewig Wechselnden, Neuen, beweglich weiter Verlangen- den, — zum Ersatz für das tiefer Eindringende, bestimmter in unser Gemüth Greifende, das den Instrumentalkompositionen Beet - hoven's eigen ist. Dass aber dieser häufigere Wechsel nicht zur Zerstreuung und Störung der Einheit gereiche, dafür sorgt nächst der Stimmung, die sich in jeder Arbeit aus Einem Guss sicherer erhält, die feste Form und Anordnung der grössern Partien. Von alle dem wird bei spätem Formen noch manches Beispiel mitzu- teilen sein.

Jenes Adagio nun beginnt mit einem aus zwei Abschnitten gebildeten Satze,

fetef £3=£ *

i

sotto voce ' ^

n\ ejlf t&

*=

orte

a

=

F

i

der durch einen andern, ganz abweichend gebildeten (nur dass er sich auch in Sechzehnteln bewegt) in der Weise eines Vorder- satzes geschlossen wird. Dann kehrt der Kernsatz No. */|M wie-

Digitized by Google

Eine ältere Sonatenform

593

der und es erfolgt, mit ganz neuen Motiven, ein Zusatz , der das Ganze vollkommen im Hauptton abschliesst. Unmittelbar danach tritt der erste Seitensatz ein.

Hier besteht also der Hauptsatz aus einer einzigen perioden- artigen Bildung und wird nicht einmal, wie der oben angeführte Beethoven'sche, wiederholt. Demungeachtet kann er genügen, weil erstens der Kern sich vollständig wiederholt und zweitens der Inhalt durch die beiden schliessenden Abschnitte ein in der That satzreicher geworden ist ; wir haben, No. 3/i59 fur Eins gerechnet, drei und mit der Wiederholung des Kerns vier Sätze. In ähn- licher Weise gestalten sich die Seitensätze und aller sonstige Inhalt.

Andre Abweichungen werden wir bei den spätem Rondoformen noch finden.

I.

Eine ältere Sonatenform. Zu Seite 251.

Keine Kunstform giebt ein so anschauliches Bild von dem Fort- bestehn der Grundgesetze bei freiester Entwickelung der einzelnen Gestalten, als die beweglichste und mannigfachste aller Formen, die Sonatenform. Die vierte und fünfte Abtheilung und mancher spätere Abschnitt der Lehre bieten hierzu, wenn auch nicht vollständige, doch genügsame Beläge ; reichere würde die Darlegung der ge- schichtlichen Entwickelung dieser Form liefern, die jedoch ausser dem Kreise der Kompositionslehre liegt. Nur eine einzige Wendung heben wir aus der Fülle von Gestaltungen heraus, die früher be- liebt, ja fast nothwendig erschienen, jetzt gar nicht oder nur als seltene Ausnahme anzutreffen sind. Hier könnte man nun auf das alte Vorurtheil zurückkommen, dass die Kunstformen auf Her- kommen (Th. II, S. 7) beruhten und deshalb, hier theilen sich die Ansichten, unverbrüchlich festzuhalten, oder geradehin nicht zu beachten seien. Aber eben hier wird eine tiefer dringende Anschauung uns überzeugen, dass nie und nirgend todtes Herkom- men, sondern stets nur die Vernunft der Sache Bestimmungsgrund für die Form hat sein können und dass diese sich nur mit den zu verschiednen Zeiten waltenden Vernunftgründen hat ändern oder weiter ausbilden können.

In unsrer Sonatenform weisen sich im ersten Theile zwei scharf von einander geschiedne Partien, die des Haupt- und des Seiten- Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 38

Digitized by Google

594 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

satzes. Wie mannigfaltig jede derselben komponirt sein mag, so trennen sie sich doch mit Hülfe der Modulation und des Inhalts ganz unzweideutig. Was im Haupttone steht und von diesem aus- geht, gleichviel ob es ein Satz ist oder mehrere, mit einem oder mehr Gängen, das bildet die Hauptpartie. Mit der Tonart der Do- minante oder Parallele (oder auch einer statt ihrer gewählten frem- dern) tritt die Partie des Seitensatzes ein, die schon durch den Abschluss der Hauptpartie in der Sonatine (S. 205), oder durch die entscheidende Modulation in der Sonatenform (S. 223), noch mehr aber durch ihren ganz neuen Inhalt von dem Vorangehenden durch- aus geschieden ist.

Anders finden wir es oft in ältern Sonaten, namentlich noch bei Haydn, der nach C. P. E. Bach so viel für die Fortbildung der Sonatenform gelhan hat.

Hier wird nämlich die Partie des Hauptsatzes fest abgeschlossen und dann in der Tonart des Seitensatzes nochmals an den Haupt- satz erinnert, ehe der Seitensatz eintritt.

Als erstes Beispiel diene die geistreiche, in übermüthiger Laune aufsprühende Sonate aus Es, die erste im ersten Hefte der gesammelten Werke*. Der Kern des Hauptsatzes

wird mit neuen, mehr gangartig benutzten Motiven bis zur Einlei- tung eines Ganzschlusses fortgeführt, worauf er im folgenden (neun- ten) Takte wiederkehrt

mit einer neuen Fortführung, die uns, ganz im Einklang mit un- serm Modulationsgesetz über die Dominante der Dominante (Fdur, im dreizehnten Takte) nach der letztern bringt. Allein hier (in Ädur, im siebzehnten Takte) kehrt der Kern des Hauptsatzes wie- der und wird in abermals neuer Weise (obwohl der vorherigen ähnlich anknüpfend) fortgeführt,

In der Breitkopf-Härtel'schen Ausgabe (No. 4 der Einzelausgabe).

Digitized by Google

Eine ältere Sonatenform

595

3 9 0.

bis nach einem vollkommnen, selbst durch die vorangeschickte Unter- dominante (J?sdur, der Hauptton, jetzt zudem herrschenden ßdur Unterdominante) bestärkten Schluss in Bdur in derselben Tonart, im siebenundzwanzigsten Takte, der wirkliche Seitensatz folgt. Dieser ist vom Hauptsatze seinem gesammten Inhalte nach durchaus geschieden, führt aber dennoch, schon nach sechs Takten, wieder auf denselben zurück,

dann erst wird zum Schlusssatz und Ende des ersten Theils ge- gangen.

Vom zweiten Theil ist nur so viel hier zu bemerken , dass der Seitensatz, den wir im ersten Theii gewissermassen gegen den Hauptsatz zurückgesetzt sehen mussten, hier zweimal, und das zweite Mal überaus geistvoll eingeführt wird, während der Kern des Hauptsatzes keine Stelle findet und erst mit dem dritten Theil wiederkehrt, hier aber sich eben so geltend macht, wie im ersten.

Was spricht sich nun in dieser besondern Gestaltung, im Ver- gleich zu der neuern Sonatenform aus?

Ein vorzugsweises Festhalten am Hauptsatz als demjenigen Gedanken, der, wie Anfang und Ursprung, so auch Halt- und Mittelpunkt der ganzen Komposition sein sollte. Dieses Gewicht ist ihm nicht um seinetwillen beigelegt worden ; denn er ist nicht besonders wichtig, auch nicht schwieriger zu fassen (eher das Gegentheil) als der Seitensatz. Er ist auch nicht dem Komponisten vorzugsweis vor den andern Sätzen lieb; denn er wird nach kurzem Abbruch jedesmal in andrer und sehr loser Weise zu Ende geführt, während der Seitensatz im zweiten Theile mit Gewicht und kon- sequenter Fortführung wieder erscheint. Nur um der festern Einheit und Hallung desGanzen willen ist dieses Zurück- gehn auf den Hauptsatz in dem dem Seitensatz gehörigen Umkreise geschehn. Haydn, der der Periode des vorherrschenden Fugen- satzes um ein halbes Jahrhundert näher stand und der was viel- leicht, wenn auch unbewusst, doch noch entscheidender mitwirkte in seiner Zeit noch lange nicht jene Geläufigkeit und Vertraut- heit der Musiksprache vorfand, die erst durch ihn und Mozart

38*

Digitized by Google

596 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

und die andern Zeitgenossen und Nachfolgenden bis auf uns sich jetzt allenthalben fühlbar macht: Haydn musste sich zu einer Für- sorge für die Haltung und Fassbarkeit seiner Kompositionen bewogen finden, die unsrer Zeit in gleichem Grade keineswegs nothwendig, die jetzt überflüssig, lästig, hemmend erscheinen müsste.

Erheben wir uns Über die kleinen Unterschiede der Personen und Jahrzehnte, betrachten wir die Kunst als ein einiges, in Allen fortlebendes Ganzes, so dürfen wir sagen : die Musik ist zu festerm Bewusstsein ihres Inhalts, zu grösserer Sicherheit und Gewissheit ihres Gestaltens gelangt und hat damit das Recht und die Pflicht eines entschiednern, ungehemmtem Einhergangs erworben. Sie bildet in einem Beethoven den Hauptsatz der Sonate mit voller Ent- schiedenheit und zu hoher Befriedigung aus, um dann mit gleicher Entschiedenheit ihn ganz verlassen und zum Seitensatz Übergehn zu können, der nun erst Freiheit gewonnen hat, sich ebenfalls in aller Fülle und Ungestörtheit zu entfalten ; dies konnte und durfte geschehn, nachdem die sorglichere Zusammenfassung um einen einigen Kernsatz herum in Haydn erst die schnellere und sicherere Ver- standniss im Schaffenden und Empfangenden erzogen hatte.

Von diesem Gesichtspunkt aus, der bei verschiednen Zeitab- schnitten, z. B. dem von Haydn und dem von Beethoven ver- tretnen, die Einheit der Grundform und die Berechtigung der Ab- weichungen oder Fortbildungen in Einem Blicke zusammenfassen lasst: kann auch der Missverstand beurtheilt und Uberwunden wer- den, den die nicht fortschreitenden Anhänger einer frühern Periode gegen den fortschreitenden Künstler erheben , als sei derselbe der Form untreu, formlos, exzentrisch, phantastisch u. s. w. geworden ; Vorwürfe, die so oft, und noch in neuester Zeit gegen Beethoven gehört worden sind. Vielmehr ist auch auf den Künstler, in dem sich ein Fortschritt der Kunst verwirklicht, jenes ewige Wort des wahren Fortschritts anzuwenden: »Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen«.

In der richtigen Erkenntniss dieses Wortes ist die wahre Frei- heit, die gleichmässige Sicherung gegen Erstarrung und Halbings— losigkeit, zu gewinnen. Schon die frühem Abschnitte unsrer Lehre haben auf dieses Grundthema jeder wahren Kunstlehre, auf diese Freiheit, die nichts Andres ist, als das Wirken in der Ver- nunft der Sache, die Lebensbedingung für den Künst- ler, stets hingewiesen.

Der obige Fall ist insofern eins der entschiedensten Beispiele für die ältere Form und ihre Veraünftigkeit , weil der Beschluss, die Partie des Seitensatzes mit dem Kern des Hauptsatzes einzu- leiten, auf die ganze fernere Entwickelung fortgewirkt hat. Es erscheint nun, wie gesagt, jener Kern nochmals als Schluss des

Digitized by Google

Eine ältere Sonatenfo7*m.

597

Seitensatzes und dieser erholt sich von seiner Beeinträchtigung (Th. II, S. 403) im zweiten Theil, wo er allein und bedeutend zur Wirksamkeit kommt.

Ein zweiter Fall zeigt in der Hauptsache dasselbe und den- noch andre Verhaltnisse; wir heben ihn aus der andern Sonate in Es, der dritten in jenem Haydn 'sehen Hefte (No. 3 der Einzel- ausgabe), heraus.

Hier wird der Hauptsatz

weit einheitvoller zu einer Periode mit Anhang (den wir hier weg- lassen) ausgebildet. Nach vollkommnem Abschlüsse wird aus einem neuen Motiv ein Gang gebildet, der ganz normal über Fdur nach Bdur führt. Hier im Gebiete des Seitensatzes, wird nun wieder mit dem Hauptsatz angeknüpft,

und dann erst folgt der Seitensatz (zwei verschiedne Themate ent- haltend) mit Gang und Schlusssatz, ohne weitere Erinnerung an den Hauptsatz. Da dieser schon in der ersten Aufstellung befrie- digend ausgebildet war, bedurfte es keiner nochmaligen Anführung. Dafür konnte er nun nebst dem Seitensatze (beiden Thematen des- selben) im zweiten Theile geltend gemacht werden. Dies geschieht zu Anfang desselben (nach einem freien Einleitungssatz) und Über dem Orgelpunkte ; so dass auch hier der Hauptsatz Überall als An- halt der Romposition hervortritt.

Auf eine vollständigere geschichtliche Entwickelung muss, wie gesagt, hier verzichtet werden. Doch wird die Betrachtung dieser einen Erscheinung dem nachdenkenden Jünger hoffentlich über die Bedeutung ähnlicher Licht geben.

Digitized by Google

598

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

K.

Noch einmal Grundform und Abweichung.

Zu Seite 285.

Wir können diesen anziehenden Fall nicht verlassen, ohne auf einige Betrachtungen zurückzukommen, die uns zwar nicht neu sind, bei jeder Rückkehr aber an Wichtigkeit gewinnen.

4.

Wir haben in der Reihe der bisher und weiterhin betrachteten Fälle, ebenso wie früher bei der Fuge, Th. II, S. 386, neben einer Alles durchdringenden und zusammenfassenden Grundform eine fast eben so grosse Reihe von Abweichungen, in denen sich ein Werk von dem andern unterscheidet, zu beobachten gehabt. Hier wie in jener merkwürdigen Form (beide sind Gipfel eines ganzen Formgebiets, die Fuge von den Figural- und kano- nischen Formen, die Sonate von den Lied- und Rondoformen) wurde weder die Grundform durch die Abweichungen aufgehoben, noch diese durch jene als Verirrungen bezeichnet ; beide waren nur der Ausdruck vom Wesen der Sache, Inhalt und Form untrenn- bar Eins, beide beruhten auf der künstlerisch-schaffenden Ver- nunft, die in der Grundform das Allgemein-Wrahre Über die ganze Reihe hierher gehöriger Bildungen, in der Abweichung das konkrete Wahre von diesem einen besondern Fall aussprach.

Wir wollen stets eingedenk sein, dass erst in solcher Weise der Begriff der Form in seiner Wahrheit erfasst wird. Die Form ist für den wahren Künstler nicht eine hergebrachte, grundlose und darum beengende und alle Eigentümlichkeit in ein ödes Einerlei zwängende Schranke; wo sie in solchem Sinn ertragen wird, stirbt unter ihrem Joch Kunstwerk und Künstler, wie an Tausenden von Beispielen nachgewiesen werden könnte. Auf der andern Seite ist die Abwei- chung von ihr nur in den besondern Verhältnissen des einzelnen Kunstwerkes begründet, oder sie ist Verirrung.

Je eigenthümlicher nun eine solche Abweichung, die man ir- gendwo vorgefunden oder willkürlich ersonnen : desto irrthümlicher und störender ist ihre Nachahmung, ihre Zulassung da, wo 'die sie begründenden Verhältnisse nicht statthaben. Wenn Beethoven in seiner G-Sonate den Seitensatz in tfdur, in seiner Ä-Sonate (S. 288) denselben in Gdur aufstellt und was dergleichen mehr: so haben wir die vernünftigen Gründe dafür in dem eigentümlichen

Digitized by Google

Noch einmal Grundform und Abweichung.

599

Wesen dieser besondern Werke zu erkennen gehabt. Wenn wir aber diesen Abweichungen auch anderswo ohne die rechtfertigenden Gründe Zulass geben wollten, etwa um originell oder neu zu erscheinen, so würden wir so gewiss von der Wahrheit, vom Rechten und allein Wirksamen abweichen, als Beethoven abge- wichen wäre, hätte er an der allgemeinen, hier aber nicht mehr zu rechtfertigenden Form haften wollen. Beide Verirrungen sind nur derselbe Fehler : Mangel an innerlicher Wahrhaftigkeit und Treue.

2.

Dass nun der Künstler auch bei solchen Abweichungen nicht um- ständlich und bewusst-ausrechnend zu Werke geht, wie wir für das Studium ihm nachrechnend gefolgt sind, dass er das Rechte vielmehr durch augenblickliche Anschauung im Segen schöpferischer Stunden ergreift: ist gewiss. Allein diese Anschauung, diese Be- geisterung ist nichtsdestoweniger nur eine Aeusserungsweise der künstlerisch ausgebildeten Vernunft. Die Arbeit des Denkens ist bildend vorausgegangen und jede scheinbar aus unmittelbarer Ein- gebung hervorspringende Schöpfung ist nur ihre Blüte, bei der gar leicht die Arbeit und der Zusammenhang beider vergessen wird. Daher kann es oft der Fall sein, dass der schaffende Künstler sich selber der Gründe und Wege, die ihn zum Resultat geführt haben, nicht bewusst ist, oder erst später bewusst wird ; demungeachtet sind jene vorhanden gewesen, und dieselbe Gedankenreihe in der wir sein Werk be- greifen, muss vorausgesetzt, dass wir es wahrhaft begriffen sein Geist irgendwann und irgendwie durchlaufen haben.

Hierzu finden sich in der That in den Ueberschriften, Bezeich- nungen, Vorreden, mündlichen und brieflichen Aeusserungen der grössten Künstler so viel Beläge, dass man kein Recht hat, die Ge- dankenarbeit im Künstler zu bezweifeln, oder das Streben, ihn ge- dankenmässig zu begreifen, als ein dem Wesen der Kunst fremdes und feindliches zu scheuen oder nichtig zu meinen. Es ist vielmehr der einzige Weg, sich am Kunstwerke zu bilden. Statt vieler Beläge stehe hier ein einziger kleiner aus einem Briefe Mozart' s vom 26. September 1781, in dem er seinem Vater die Beweggründe mittheilt, die ihn da und dort bei der Komposition von Belmonte und Konstanze geleitet haben. Bisweilen sind diese Gründe zufällig und äusserlich eingreifende, wenn auch keineswegs unkünstlerische ; z. B. wenn er bei der Osmin-Arie an den Sänger (Fischer) denkt und dessen »schöne tiefe Töne schimmern lassen« will. Oft treffen sie aber unmittelbar das Wesen der Sache, mag auch der formell-logisch nicht sehr geübte Tondichter sich weniger schulgerecht aussprechen. So heisst es von derselben Arie zuletzt: »Das: drum beim Barte des Propheten ist zwar im nämlichen Tempo, aber mit geschwinden Noten,

Digitized by Google

600 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

und da sein Zorn immer wächst, so muss, da man glaubt, die Aria sei schon zu Ende, das Allegro assai ganz in einem andern Zeit- maass und andern Ton eben den besten Effekt machen ; denn ein Mensch, der sich in einem so heftigen Zorne befindet, überschreitet ja alle Ordnung, Maass und Ziel, er kennt sich nicht, und so muss sich auch die Musik nicht mehr kennen. Weil aber die Leiden« Schäften, heftig oder nicht, niemals bis zum Ekel ausgedrückt sein müssen, und die Musik auch in der schaudervollsten Lage das Ohr niemals beleidigen, sondern doch dabei vergnügen, folglich allezeit Musik bleiben muss : so habe ich keinen fremden Ton zum F. sondern einen befreundeten, aber nicht den nächsten (D minore), sondern den weitern (A minore) dazu gewählt.«

Da die Arie in Fdur steht, so war der nächste Ton Cdur; dieser war aber zu befreundet und als Dur zu heiter ; folglich ging Mozart, ähnlich wie wir oben bei Beethoven gefunden, in die Mollparaliele des Tons, der sich ihm als nächstverwandter zuerst darbot. Oder hat er (wie es scheint) zuerst die Nothwendigkeit des Moll gefühlt, so kam er nach seiner Beschreibung zu demselben Resultat.

Nachdenken, Durchdenken fremder Werke (nachdem wir sie durchgefühlt) wird stets das unentbehrliche und unersetzliche Mittel bleiben, unserm Geist für die schöpferische Stunde den rechten Weg zu öffnen, unserm Earakter die Sicherheit und das Recht freier Wahl und Bewegung zu erwerben.

Ii.

Zwischengestalt zwischen fünfter Rondo- und Sonatenform.

Zu Seite 297.

Wir haben schon zu Anfang (S. 202) die nahe Verwandtschaft der fünften Rondo- und der Sonatenform in das Auge gefasst. Es kann nicht befremden, wenn auch hier, wie auf andern Gränz- punkten, bisweilen zweifelhafte Gestalten hervortreten.

Als eine solche zeigt sich Beethoven' s Fdur-Sonate No. 302. Der erste Theil hat nach einem wiederholten Schlusssatz a

8*5 P

4-

noch mit der Schlussformel 6, einer ganz allgemeinen, ohne alle

Digitized by Google

Zwischengestalt zwischen fünfter Rondo- und Sonatenform. 601

besondre Bedeutung oder Beziehung auf das Vorausgegangne, geendet. Diesen ganz beiläufigen Moment fasst Beethoven auf und versieht ihn vor allen Dingen mit einem im Vorausgegangnen durchaus nicht angeregten Gegensatze.

L i 1 ,l7TTRf^^^# "

So wird er auf A, dann mit Umkehrung der Stimmen nochmals auf D und A wiederholt, und führt zu einem abermals ganz neuen Satz in Dmoll,

3 365

4^

sim.

=3:

H

!

6 6

der in Gmoll schliesst, da wiederholt und in Cmoll schliesst, weiter nach ßdur geht, hier wiederholt und auf dem Schlusston (auf dem vierten Takt in No. 3/365) zu dem vorherigen Satze (No. 2/365) führt, der wie früher auf D und A auf B und F und mit Umkehrung der Stimmen abermals auf B und F ausgeführt und dann gangartig auf die Dominante von D leitet. Nun erst erscheint in Z)dur der Hauptsatz vollständig, wendet sich dann mit seinen ersten Motiven nach Gmoll und auf die Dominante von Fdur und zieht den dritten Theil nach sich.

Bis auf diese Anführung des Hauptsatzes, der hier in der That nur zur Ueberleitung , gleichsam zum Aufsuchen des rechten Tons für den Wiederanfang oder dritten Theil dient, enthält also der zweite Theil eine dem ersten ganz fremde Ausführung; denn jenes aus ihm entlehnte Motiv (6 in No. l/m) ist in der That eine zu lose Anknüpfung, als dass wir sie uns anrechnen lassen könnten. Liegt nun hier die fünfte Rondo- oder die Sonaten- form vor?

Doch wohl die letzte. Wie spät auch der Hauptsatz erscheine und wie er sich auch eher dem folgenden dritten als dem zweiten Theil anzuschliessen suche : doch ist er vorhanden , und zwar in einer dem dritten Theile fremden Tonart. Und dann hat der sonstige Inhalt des zweiten Theils entschieden den Karakter eines Gangs oder einer Satzkelte, nichts weniger als die Liedfestigkeit eines zweiten Seitensatzes in der fünften Rondoform. Gleichwohl ist die Sonaten- form nicht so fest ausgeprägt, wie gewöhnlich.

Wie ist Beethoven, der sonst so energisch festhält und durchfuhrt, hier zu dem Entgegengesetzten bewogen worden? Sein Hauptsatz und der erste Satz der Seitenpartie bedurften bei ihrer

Digitized by

602 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

innern Verwandtschaft nicht nur keiner weitern Ausführung, son- der hätten sie gar nicht zugelassen, wenn man nicht in abmattende Wiederholung oder fremdartige Wendungen, in Steigerungen und Aufreizungen über den sanften, stillen Sinn des Ganzen hinaus sich verirren wollte; der zweite Gedanke der Seitenpartie und der Schluss- satz aber, so vollkommen sie ihrer Bestimmung im Zusammenhange des Ganzen entsprechen, sind für sich zu wenig bedeutend und er- giebig, als dass sie höhere Befriedigung geboten hätten, als jenes neue Gewebe, das vor ihnen den Reiz der Neuheit und Frische voraus hat.

Oder sollte der mittlere Theil ausfallen und die Sonatinenform erstehn? Dazu war der Inhalt uns zu innig an's Herz gelegt; sollte nach dem Schluss des ersten Theils sogleich wieder der Haupt- satz im Hauptton u. s. w. folgen, so würde diese Hast unser Ge- fühl, die Sinnigkeit des Ganzen gestört haben.

Oder sollte endlich eine fünfte Rondoform geschaffen werden? Die hätte wieder einen fest- und vollausgeführten zweiten Seiten- satz gefodert, im Widerspruch und zur Beeinträchtigung der so leichten und wechselvollen zarten Sätze, aus denen der erste Theil gewoben ist.

Aehnliche Bewandtniss hat es mit Mozart's Fdur-Sonate, die wir bei No. 340 kennen gelernt. Der zweite" Theil hebt in Cdur mit einem neuen Satz an , der wiederholt wird und mit all' den vorausgegangnen Sätzen nur durch die Stimmung des Ganzen zu- sammenhängt. Nach ihm wird weder aus der Haupt- noch aus der Seitenpartie ein Satz, sondern aus letzterer das Gangmotiv ergriffen und hiermit auf die Dominante von Z)moll und dann kurzweg zum dritten Theil gegangen. Jener erste neue Satz ist zu unbedeutend, als dass man ihn für den zweiten Seitensatz fünfter Rondoform ansehen könnte; die ganze Ausführung ist (wie in den meisten Sonaten von Mozart) leicht und kurz gefasst, doch aber bedeutend genug, um den Gedanken an die Sonatinenform auszuschliessen. Wir müssen also auch hier die Sonatenform, wenngleich in nicht reicher Entwickelung, anerkennen.

Die Rechtfertigung dieses Verfahrens liegt aber in der leichten Weise des ganzen Werks und in dem Grundkarakter Mozart'scher Klavierkomposition, über den wir uns, namentlich im Gegensalze zu Beethoven, schon S. 592 ausgesprochen haben.

Digitized by Google

Form und Formlehre

603

M.

Form und Formlehre. Zu Seite 349.

Am Schlüsse der Formenlehre (nach ihrem wesentlichen Inhalte) ziemt sich wohl eine letzte Prüfung des Wesens von

Form und Formlehre,

wie beide dem Beobachter unsrer Kunst erscheinen und dieses Werk sie darzulegen trachtet. Mag auch Vieles von dem hier Auszu- sprechenden im Werke schon hin und wieder angeregt sein, Anderes ist es nicht, und neuere Abirrungen von Seiten sonst gewiss achtungswürdiger Kunst- und Lehrgenossen erinnern daran, dass man nicht müde werden darf im Dienste der Wahrheit, da Miss- verstand und Fahrlässigkeit auch nicht müde werden, stets wieder- zukehren.

Diese Betrachtungen sind noch aus einem besondern Grund an der Zeit. Der Musik ist Form und Formlehre wichtiger als jeder andern Kunst, weil sie sich nicht so schnell und bestimmt aus- sprechen kann, wie die andern; man zerrütte ihr die Formen, und sie wird unverständlich ; man entzieh' ihr den Beichthum der Form- entwickelung, und sie versumpft. Daher hat sich der Fortschritt stets durch vernunftgemässe Fortentwickelung der Formen bezeichnet, die Beschränktheit stets durch Einsperren in wenig Formen , der Mangel an Durchbildung stets durch Unbeachtetlassen der tiefen Vernunftgesetze, die der Form zum Grunde liegen. Wenn Künstler fehlgreifen, so mag das im Bausche der schöpferischen Stunde, selbst (wie bei unsern Zukunftsgiganten von pariser Faktur) in dem allerdings künstlerischen Drange, Neues zu schaffen, Erklärung finden. Womit aber wollen sich Lehrer rechtfertigen, die die Be- sonnenheit im Gesammtieben der Kunst, das klar Alles tiberblickende Bewusstsein vertreten, und durch nichts, was sie nicht meiden konnten, darin gestört sind? Dem Künstler im Schaffensdrange ziemt jener Zug zum Ursprünglichen und Ureignen, vers Vinconnu! nennt es abenteuernd der Franzos. In jenen Momenten kann er nicht zurückblicken auf den Zusammenhang der Kunstentwickelung und auf das ihm Vorangegangne; da ist er nur selber, ganz und einzig seinem Werke dahingegeben. Was ihm zu betrachten, zu lernen zu üben nöthig, muss zuvor abgethan sein, und dazu allein kann und muss Lehrer und Vorbild verhelfen. Dem Lehrer da- gegen ist jener Zusammenhang, die stetige Vernunftentwickelung,

Digitized by Google

604 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

Grundlage seines Wirkens und Stutze bei jedem Schritte, selbst da, wo er dem Jünger das schöne Recht freiester, scheinbar will- kürlicher Selbstbestimmung einräumt, scheinbar willkürlicher, weil die vernünftige Nothwendigkeit nicht Zug um Zug blos- gelegt ist.

Form ist vernunftgemässe der Vernunft der Sache gemässe Gestaltung. Es giebt nur ein Gesetz für alle Form: die Vernunft der Sache. In seiner Anwendung auf den unermessbar reichen Inhalt der Kunst ruft dieses eine Gesetz die unermessbar zahlreichen Kunstformen und Einzelgestalten aller Kunstwerke hervor. Man gewinnt erst einen Begriff vom Reichthum und der Tiefe der Kunst, wenn man dieses Heer von Gestaltungen in Einem Ueberblicke zusammenfasst, in dem die schöpferische Vernunft alle Möglichkeiten ihrer Welt zu durchbilden trachtet, wie die Natur im Heer ihrer Gestalten alle Möglichkeiten des Daseins. Beginne man, wo man wolle : thatgewordnes Denken lässt aus dem einfachsten Motiv den unbestimmbar verlaufenden Gang entstehn, beschliesst den Gang zum Satze, vereint Satz und Gegensatz zur Periode, eröffnet die Periode zum zwei-, zum dreitheiligen Liede. Stelle man die Grundzüge der Rondo- und Sonatenformen

HS

G

HS

HS

SS

g

HS

HS

SS1

g

HS

SS 2

g

HS

HS

SS 4

g

HS

SS 2

g

HS

SS \

HS

SS 4

g

Sz

SS 2

g

HS

SS 4 g

Sz

HS

SS

g

Sz

HS

SS g

Sz

Erster Theil.

Letzter Theil.

HS

SS

g

Sz

HS

SS g

Sz

Erster,

zweiter,

dritter Theil.

zusammen, deren letzte und entwickeltste zurückweist auf die höchste Entwickelung der einfachsten Gestalt (dreitheilige Liedform) und den Urgegensatz aller Musik,

Ruhe, Bewegung, Ruhe,

Tonika, Tonleiter, Tonika,

ton. A, Dominantakkord, ton. A:

überall waltet stetiges Vernunftgesetz. Schalte man jenen und den hier tibergangnen Formen alle Zwischen- und Mischgestalten ein, die sich in gleich stetiger Vernünftigkeit der Reihe der Grundgestalten ein- und zufügen : da hat man die Werkstätte unsrer Kunst und des in ihr waltenden Geistes vor Augen. Nicht der Witz oder Tiefsinn eines Einzelnen hat das geschaffen ; es ist das gemeinsame Werk der Jahrhunderte und aller Künstler, die zum selben berufen gewesen und noch ferner berufen werden. Nachdem einmal diese

Digitized by Google

Form and Formlehre. 605

Gestaltenfülle in ihrer Einheit und Tiefsinnigkeit aufgewiesen, ist nicht mehr erlaubt, das zu verhehlen oder zu verkürzen. Man verleugnet damit den Geist der Kunst selber und seinen Künstler- oder Lehrerberuf.

Die Bildung für Kunst beruht wesentlich und zum grossen Theil auf Einführung und Feststellung in den Formen und ihrem Geist ; ohne Formerken ntniss bleibt jedes Werk und jeder Satz ein unbe- stimmt Etwas, wie die Natur uns ein Chaos bleibt, wenn wir nicht ihre verschiednen Reiche, Gattungen, Arten sondern gelernt. Form- verständniss giebt dem Zuhörer gesicherte Sachverständniss, dem Vortragenden klare Auffassung. Für den Komponisten ist sie schlechthin Bedingung seiner Aufgabe, ohne deren Erfüllung diese gar nicht gelost werden kann; der roheste Naturalist, der Wild- ling, der jede Form als Fessel flieht, weil er nicht in ihr heimisch ist: sie bilden sich nothgedrungen, aus kläglich lückenhafter Erinnerung, so gut es gehn will, ihre Form, und sind ihr, sie wissen nicht wie, verfallen, können nicht von ihr los. Denn aller- dings ist jede einzelne Form eine Fessel für alle Gedanken und Vorwürfe, denen sie nicht von innen heraus eignet; erst der Be- sitz aller Formen, dies Werk hat S. 336 und sonst schon oft darauf hingewiesen, macht frei.

Hier zeigt sich neben der bewundernswürdigen Herrlichkeit der Formentwickelung der erste Grund, sie vollständig zu geben; un- vollständige Formentwickelung verkümmert nicht bloss den Begriff der Kunst, sie macht auch unfrei, indem sie in eine oder wenig Formen einsperrt, die zum Gefängniss werden für alle anderswohin strebende Gedanken. Man denke sich (wie neuerdings versucht worden) die Rondoformen auf eine einzige zusammengeworfen, die Sonatenform an einem einzigen Schema oder Beispiel gewiesen : wie eng wird die weite Welt! wie eintönig beschränkt oder ver- hehlt und veruntreut der heitre Reichthum ihrer Gestalten! wie werden die nach allen Seiten Luft und Wachsthum nach ihrer WTeise begehrenden Gedanken des Schülers gedrückt und gestossen und im Prokrustesbett räuberischer Gewaltsamkeit bald ausgerenkt, bald verschnitten ! Zwar kann keine Lehre, dazu mangelt Zeit und Nothwendigkeit, und jeder Tag bringt Zuwachs, alle möglichen Gestalten aufweisen und durcharbeiten; aber eine gewissenhafte Lehre muss freigebig, ja reichlich mittheilen, muss vor allem die wesentlichen Gattungen und Arten vollständig darstellen und dem Jünger alle Wege zu weiterm Fortschreiten öffnen und weisen, wenn sie ihn nicht umdtistern und verkümmern, oder irgendwo beliebig im Stiche lassen will. Geizt sie um einige Wochen oder Bogen, wird sie aus Besorgniss, zu ausführlich und zu breit zu werden (was allerdings auch nicht rathsam ist), allzuknapp und

Digitized by Google

606 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

schlügt die Hälfte des ihr Anvertrauten unter: so betrügt sie der wahre »Geizhals, der sich selbst bestiehlt« sich selber und den Schüler um ebensoviel des ihm gebührenden Reichthums, und dazu um Einsicht und Freiheit; sie sperrt ihn ein in ihre Enge, mag er sehn, wie er loskommt.

Ein zweiter Grund, die Formen nicht spärlich, sondern in Fülle aufzuweisen und durcharbeiten zu lassen, liegt in dem unverleug- baren Bedtirfniss ausgedehnter Uebung. Niemand wird an ein Paar Versuchen Komponist, an ein Paar Fugen oder Sonatensätzen der Fugen- oder Sonatenform mächtig; Meisterschaft lodert und ver- dient umfassende, durchdringende Bildung. Was soll also geschehn ? will man den Schüler an einer oder wenig Formen festhalten und mit deren wiederholter Durcharbeitung ohne Wechsel und Fort- schritt ermüden ? oder will man die Zahl der unerlässlichen Uebungen auf die verschiednen Formen vertheilen und dem Schüler die nur bei stetem Fortschritt mögliche Frische bewahren? Die Wahl kann, selbst abgesehn vom reichern Gewinn und Ueberblick, nicht zweifelhaft sein.

Ein dritter Grund endlich für reiche Gliederung und Durch- arbeitung der Formen liegt in dem Bedürfnisse, den Schüler zum Selbstanschaun, Selbstdenken und damit zu Freiheit und Selbst- ständigkeit zu bringen. Vorerst nimmt ihm jede Aufgabe seine Freiheit; warum soll er gerade Dies arbeiten und nichts Anderes, das ihm vielleicht näher liegt? warum soll er es so und nicht anders machen? gleichwohl ist keine Lehre und Bildung ohne bestimmte Aufgaben gleichviel, welche und in welcher Folge denkbar. Wie soll man nun den Schüler aus dieser augenblicklichen Unter- jochung zur Freiheit führen? Indem man ihn selber die Einseitig- keit jeder Aufgabe und die Unanwendbarkeit jeder Form auf andre Verhältnisse durch anders geartete Aufgaben klar erkennen lässt und ihn damit auf eine neue Wendung das heissl : Form nach der andern hinleitet. So lernt er viele Formen kennen, jede bestimmtem Zweck und Inhalt gemäss, bis er dahin gelangt, dass jeder Inhalt seine gemässe Form findet oder sich neu bildet. Bei- spiele für dieses Verfahren finden sich überall in diesem Werke, unter andern in der Fugenlehre und ihrer Methodik, Th. II, S. 528 und 566. Hier knüpft sich der Fortschritt an den Uebergang zum zweiten Theile. Was ist da zu thun? Zunächst scheint nur zweierlei möglich ; es kann

\) sogleich wieder das Thema, oder zuvor

2) ein neuer Zwischensatz eintreten. Das erste wird als Nächstliegendes zuerst ausgeführt, und zwar gern an einer Mollfuge, wo der Uebertritt in die Parallele dem sofortigen Wiedererscheinen des Thema's in der frischen

Digitized by Google

Form und Formlehre.

607

Tonart günstig ist ; die Räthlichkeit des Zweiten wird gern an einer Durfuge nach übervollständiger erster Durchführung anschaulich ge- macht. Allein das Thema könnte für jetzt schon genügend benutzt und ein weiterer Zwischensatz ebenfalls unrathsam sein; da wird

3) die Form der Engführung

(energischere Bethätigung der Stimmen am Thema, Anschluss an 1) als Auskunft gefunden. Wie aber, wenn die Engführung unanwend- bar, oder schon im ersten Theile verwandt, oder nach steter Ruhe und Stille der Führung frischere Belebung Bedürfniss ist? Das wird an einer vierten Fuge gewiesen, die mit belebterm neuen Zwischen- satze (Anschluss an 2)

4) die Form der Verkleinerung

(Belebung des Thema's), und im Gegensatze zu ihr

5) die Form der Vergrößerung

(Gewichtigung des Thema's) hervorruft. Mit gleichmässig aufge- wiesner Notwendigkeit oder Vernünftigkeit treten

6) die Form der Verkehrung,

7) die erste Form der Doppelfuge

(Themawechsel) und die andern Gestalten der Fuge hervor; jeder Blick und Schritt öffnet der Uebersicht, der Einsicht, der freien EntSchliessung und bildenden Kraft neue Wege. Gleiches Verfahren ist am Rondo- und Sonatensatz u. s. w. zu beobachten.

Ist nun wohl (wir kommen auf die Frage S. 606 zurück) die Kunst der einfachen und Doppelfuge mit acht oder neun und der Rondoform mit fünf Arbeiten (mehr sind zur Feststellung nicht nothwendig, wenngleich oft räthlich) zu theuer erkauft? oder will man lieber neun und fünf Arbeiten fortschrittlos nach einem einzigen zufälligen Muster oder nach einer einzigen unbestimmten und darum unbestimmt lassenden Vorschrift auferlegen und damit die Vernünftigkeit, den Reichthum der Kunst verhehlen, die Ein- sicht und Selbstbestimmung des Schülers unterschlagen? Diese Frage bezeichnet nicht den Streit zweier Methoden, sie ist nicht eine Schulfrage, sondern stellt die Wahl zwischen Erkenntniss, Freiheit und Fortschritt einerseits, Fesselung des Geistes und Rück- schritt andrerseits.

Diesem Verfahren, das man das rationelle nennen darf, steht scheinbar das empirische der alten Lehre gegenüber. Aber nur scheinbar.

Die alte Lehre giebt irgend eine Summe von Kenntnissen, führt durch irgend eine Reihe von Uebungen, und verweist dann ohne Weiteres oder nach Ertheilung einiger äusserst allgemeiner Form Vorschriften und Abrisse auf »Muster« und Vorbilder. Noch in den letzten Jahren hat ein Schriftsteller dies »die natür- lichste, angenehmste, sicherste und schnellförderndste Methode« ge-

Digitized by

608

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Thede.

nannt, »nach der sich alle Meister ohne Ausnahme gebildet. Alle haben (setzt er zu) die Werke guter Meister studirt, die Bildungs- maximen derselben sich abstrahirt, und danach unablässig eigne Ge- staltungen versucht.« Wunderlich nimmt sich dabei die Schaar von Hunderten ein-, zwei- und viertaktiger Fragmente aus, die dem »Studium der Meister« zum Grunde gelegt werden, indem sie zu »Modellen« für die Motive des Schülers und seine »thematischen Versuche« dienen sollen. So haben die Meister keines- wegs studirt.

Der Gegensatz, wiederholen wir, des empirischen und unsers Verfahrens ist nur ein scheinbarer. Am allerwenigsten wird, wer auch nur einen flüchtigen Blick in diese Bände gethan, ihn dahin aussprechen : das eine Verfahren lege die Meister dem Studium zum Grunde, das andre nicht.

Von Zweien kann nämlich auf dem Wege der alten Lehre nur Eins geschehen.

Entweder beschränkt man sich auf ein einziges Muster, nehmen wir an, in den Fugen von Bach, in der Sonatenform von Beethoven. Aber nicht zwei Fugen, nicht zwei Sonaten sind gleichgebildet, bei jeder folgt die Gestaltung dem besondern Inhalt und Antriebe. Die fremde Form nun in rücksichtloser Anwendung auf jeden beliebigen Vorwurf schablonenartig wiederholen, tödtet die Denkkraft, lähmt die Phantasie, bildet nicht Künstler, sondern knechtische Nachahmer. Vergebens hat E. T. A. Hoff mann einst das ganze Mo zart 'sehe Requiem Zug um Zug nachgebildet; es blieb todtes Machwerk und er ein Dilettant.

Oder man bleibt nicht bei einem einzigen Muster stehn, man sammelt deren mehrere, viele, vergleicht, beurtheilt sie, bildet sich so ein allgemeines Urtheil von der Sache, wonach man selber verfahren will. Aber das ist ja das rationelle Verfahren ! Nur dass die alte Lehre und ihre neuen Wiederholer sehr bald zurücktreten und die Arbeit dem Schüler überlassen, wenigstens nach ihren Schriften zu urtheilen. Dabei ist besonders Eins bedenklich, ja unerträglich; das nämlich: dass Jeder die Arbeit für sich von Neuem beginnt, die irgend wie weit schon von Andern gethan ist. So kann kein rüstiger Fortschritt statthaben, so stockt der Fluss des Lebens und verzettelt der Einzelne seine Jahre! Und! dazu wird auf den Vorgang der Meister verwiesen ! Natürlich haben unsre Vorgänger nicht Bildungswege gehn können, die sich erst nach ihrer Zeit erschlossen. Wenn Einige von ihnen gleich- wohl zu meisterlicher Vollendung gelangt sind, so ist das begreif- licher Weise nicht dem Mangel allgemein zugänglicher Bildungs- mittel zuzuschreiben, sondern der Kraft in ihnen, jenen Mangel zu ersetzen. Und wenn die neue Lehrweise (wie schon vor

Digitized by Google

Form und Formlehre

609

einem Jahrzehnt ein heisser Anhänger ersehnte) noch kein Bach und Beethoven »hervorgebracht«: so hat das vielleicht darin seinen Grund, dass Überhaupt keine Lehre in der Welt für sich vermag, wozu Naturell, Zeit und die Konstellation günstiger Ver- hältnisse mit ihr den Bund sch Ii essen müssen. Keine Lehre, kein Lehrer kann die Schüler schaffen ; man kann sie nur nehmen, wie sie sich darbieten, muss sie aber dann so gut und vollständig , als Vorarbeiten und eignes Vermögen gewähren, unterrichten und bilden.

Was nun die Formlehre betrifft, so kann ihr nur dreierlei obliegen ; nichts davon darf versäumt werden, wenn Erkenntniss, Thatkraft und Selbständigkeit gedeihen sollen.

Das Erste ist, dass jede Gestaltung, zu der man tritt, aus dem Vorhergehenden entwickelt und im blossen Grundrisse (theo- retisch) gezeichnet werde. Hiermit weiss der Schüler, was ge- schehn soll.

Das Zweite ist, dass der Schüler zum eignen Bilden geführt werde. Dazu arbeitet der Lehrer die jedesmalige Aufgabe dem Schüler auf der Stelle und aus dem Stegreif, unter steter Be- rathung mit demselben, im Entwurf oder in voller Aus- führung, nach Umständen auch nur theilweise, vor. Hier sieht der Schüler das WTerk vor sich entsteh n, erhält von allen Erfodernissen und Wegen praktisch die Anschauung, muss sich auf alle zur Sache gehörigen Erwägungen einlassen. So aufgeklärt und an- gereizt tritt er nun zum eignen Bilden. Die Vorarbeit ist ihm nicht Muster, sondern Hülfsmittel zur eignen Einsicht und Erkenntniss; sie kann ihn daher nicht fesseln oder zur Nachahmerei verleiten, sondern nur aufklären und leiten. Muster wenn man deren haben wollte kann die Vorarbeit nicht sein, denn sie ist nicht Kunstwerk, nicht aus künstlerischem Antrieb und in künstlerischer Vertiefung hervorgegangen. Das kann auch nicht gelehrt und ver- liehen werden, wohl aber jene Werktüchtigkeit, die Goethe (S. 582) im Sinne hat und ohne die es keinen Künstler giebt; zu der kann und muss angeleitet und gefördert werden.

Jetzt weiss der Schüler nicht bloss, worauf es ankommt, er hat sich schon mit eigner Kraft und That in die Form, die ihm eigen werden soll, hineingefunden. Nun erst ist das Dritte an der Zeit; nun erst wird der Schüler in die Meisterwerke eingeführt, ihre Form wird ihm aus ihrem Inhalt erläutert, die Abweichungen vom gegebnen Grundriss und der Vorarbeit werden gewiesen und erklärt, das Mangelhafte oder Verfehlte der eignen Arbeit wird gegen- über den Meisterwerken begreiflich. Das fodert Vertiefung, also Weilen; die Meisterwerke nehmen uns ein und hin, ihre Ueber- legenheit mag einen Augenblick betroffen machen, und nur der

Marx, Komp.-L. III. 5. Aufl. 39

Digitized by Google

610 Erläuferungen und Zusätze zum dritten Theile.

empfindet sie ganz und tief, der sich schon selbst versucht hat. Aber eben daran ist der junge Künstler auch seiner Bildenskraft froh bewusst; die Hoheit des Meisters kann ihn nicht niederdrücken, denn auch er hat irgend ein Maass jener Kraft in sich empfunden und thatsächlich bewährt. Von »Mustern«, denen man nacharbeiten soll, um daran Freiheit und Eigentümlichkeit einzubüssen, kann hier nicht mehr die Rede sein.

Voraussetzlich hat jeder Jünger schon vor der Lehrzeit die Kunst geliebt und in naiver Hingebung in irgend einer Reihe ihrer Werke kennen gelernt. Die vollendete Lehre muss ihn geläutert, gekräftigt und erleuchtet dem naiven das heisst naturwüchsigen Leben in der Kunst zurückgeben. Naturwüchsig aber ist nicht bloss der Ungebildete, sondern auch, der in der Bildung Freiheit und Eigen thümlichkeit sich bewahrt hat.

HT.

Vier händiger Satz. Zu Seite 340.

Es bliebe nach dem S. 18 über die Behandlung des Klaviers und im ganzen sechsten Buch über die Klavierkomposition Vor- getragnen noch ein Gegenstand für die Besprechung übrig :

die vierhändige Behandlung des Instruments.

So wenig wir uns aber erlauben konnten, ihn unerwähnt zu lassen, so wenig bedarf er einer Unterweisung.

Die Vierhändigkeit hat, wie sich von selbst versteht, das voraus, dass durch sie Vieles leichter ausführbar oder gar erst möglich wird, was die Zweihändigkeit sich versagen muss. Diese vollen Akkorde, diese in Oktaven rollenden Bässe, diese klar und leicht darstellbare und im Vortrag sicher zu unterscheidende Polyphonie, welcher Spieler hätte sich nicht schon an ihr erfreut? Gar manche treffliche Komposition von Mozart und Düsse k, viele Ueber- tragungen von Orchesterwerken auf Klavier wären anders als vier- händig nicht auszuführen gewesen, gar nicht unternommen worden.

Auf der andern Seite wird aber dem Klavierspiel in der Vier- händigkeit eine seiner vorzüglichsten Seiten gelähmt oder doch entkräftet : das ist die vollkommne Freiheit der Darstellung durch den einzigen, ganz ungehemmt sich selbst überlassnen Spieler, unter dessen alleinigem Walten wirklichund wahrhaft, nicht gleichsam und beinah, Alles aus Einem Geist und Herzen hervortritt. Selbst die technischen Mittel reichen bei der heutigen Ausbildung des Spiels

Digitized by Google

Vierhändiger Satz.

611

zu Aufgaben, die man früher in solcher Weise für unlösbar hätte halten müssen*, und die vier Hände verdoppeln nicht etwa das Vermögen, sondern rauben auch äusserlich jedem der an einander gedrängten Spieler einen erheblichen Theil seiner Wirksamkeit.

Unter diesen Umständen ist es natürlich, wird auch sein Bewen- den dabei behalten, dass Originalkompositionen nur selten vierhändig abgefasst, dass aber Uebertragungen vollstimmiger Orchesterwerke gern und öfters der Vierhändigkeit anvertraut werden.

Allein der Unterweisung bedarf es dabei nicht. Wer die Technik des Instruments kennt, wird bei einigem Nachdenken leicht finden, was er mit vier Händen auszurichten und wie er seinen Stoff unter die beiden Spieler und die vier Hände zu vertheilen hat. Muster- haft sind in dieser Hinsicht die grossen vierhändigen Sonaten von Dussek, Mozart's vierhändige Kompositionen (nur dass er, um es den zu seiner Zeit wenig geübten Spielern stets bequem und dabei jedem stets anziehend zu machen, die Melodie öfters in zu tiefen Lagen vorbringt, wenn er einen Satz wiederholen und dabei den zweiten Spieler bedenken will), Friedrich Schneide r's vier- händiges Arrangement von Beethove n's Sinfonia eroXca, und manches andre Arrangement von Hummel, Czerny und Andern, die wir nicht alle hier zu nennen im Stande sind. Czerny hat in seinen Bearbeitungen Beethoven 'scher Orchesterwerke den Satz für vierhändiges Spiel bedeutend und mit eben so viel Ingeniosität als Sorgfalt bereichert. Nur das können wir nicht gut heissen, dass er, um freien Spielraum für Figuren und Stimmfulle zu ge- winnen oder auch der Spielseligkeit des Piano zum Ersatz der unersetzlichen Orchestereffekte Zutritt zu öffnen, zu Zeiten die Stimmlagen ändert, oft in die höchsten Oktaven sich verliert und damit die Orchesterartigkeit des Originals und Überhaupt die Treue gegen letzteres aufopfert bis zur Erregung falscher Vorstellungen vom Original werk.

* Mit grosser Achtung ist hier Liszt's zweihändige Darstellung von Beethoven's Cmoll-Symphonie zu nennen. Die Pastoralsymphonie verliert auf dem Klavier bei jeder Art der Darstellung zu viel.

39*

Digitized by Google

612

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

o.

Das Rezitativ und seine Handhabung.

Zu Seite 399.

Ein schwerer Uebelstand für das Studium wie für die Wirkung des Rezitativs ist es, dass so wenige selbst unsrer ausgezeichneten Sänger und Sängerinnen es vollkommen sinngemäss vorzutragen wissen, der jüngere Komponist daher so selten ein voll genügend es Vorbild für sein Schaffen im Leben findet. Es muss dieser Punkt bei der Kompositionslehre zur Sprache kommen, damit dem Einfluss irreleitender Vorbilder möglichst gewehrt werde.

Den ersten Anstoss zur Vernachlässigung des Rezitativs haben allerdings die Komponisten gegeben. Die Weise der ältern italieni- schen Oper 'die noch auf die Opern Mozart's und seiner Schule, so wie auf die verwandte Gattung des Oratoriums nicht ohne Nach- wirkung geblieben ist) war die : nicht das Ganze als ein solches, als einen einheitvoll in allen Gliedern ausgebildeten, in allen Einzelheiten in einander greifenden und geschlossen, durchaus aus einer Idee geschaffnen und darum durchaus kunstvernünftigen Organismus auf- zufassen; sondern vielmehr in ihm nur eine mehr oder weniger anziehende, geschickt geordnete Verknüpfung von Einzelheiten zu sehn, die das eigentlich Wesentliche sein sollten und unter denen dann wieder die Arien der ersten Sängerinnen und Sänger als Glanzpunkte hervortraten. Da die Handlung, der Zusammenhang des Ganzen hiermit zur Nebensache wurde, so konnten auch die Rezitative, die bloss zur äusserlichen Verknüpfung dienten, keine sonderliche Be- deutung und Beachtung finden, so dass man sie in Deutschland und Frankreich zuletzt lieber durch natürliche Rede ersetzte. Unter den Mozart'schen Opern ist Idomeneus noch ganz ein Werk älterer italischer Wreise, obwohl allerdings in mehrern Arien, im Terzett, Quartett und mehrern Chören sich die Uebermacht des Mozart'- schen Genius glänzend offenbart, bisweilen in einer dramatischen Tiefe und Wahrhaftigkeit, die selbst in den spätem Meisterwerken nur selten wieder erstrebt worden ist.

Unter solchen Umständen haben denn die Komponisten das Rezitativ leichter behandelt. Einzelne Partien desselben wurden an- ziehend befunden und trugen dann das Siegel der schöpferischen Macht an der Stirn ; das Uebrige wurde leicht, bisweilen gar sehr leicht hingeworfen, ja nicht selten Schülern, sogar erfahrnen Theater- kopisten zu/ Ausfüllung und der Einsicht und Laune der Sänger zu beliebiger Ausführung tiberlassen, die aber in der Regel eben so

Digitized by Google

Das Rezitativ und seine Handhabung. 613

wenig Anlass finden konnten, dem Rezitativ tiefere Gerechtigkeit und Weihe, als es unter solchen Umständen zu fodern hatte, zu ertheilen. Wer die in Deutschland gewöhnlich und wohl mit Recht ausbleibenden Rezitative * zum Don Juan unbefangen prüft, erkennt gewiss die leichtere Behandlung der überwiegenden Masse in Ver- gleich zu jenen glücklichern Momenten, die Mozart' s tiefere Theil- nabme federten und zuliessen. War einmal die Anlage des Ganzen und der Text des Rezitativs von solcher Beschaffenheit, so würde der Komponist zweckwidrig und unwahr geschrieben haben, hätte er mehr gegeben.

Diese abfertigende Weise ist nun seit länger als einem halben Jahrhundert unter den Sängern (und noch mehr unter den Sänge- rinnen) eingewurzelt. Entweder wird das Rezitativ eintönig und schnellabfertigend hingeplaudert um nicht zu sagen, hingeplappert (wie man an unsern italischen und französischen Zeitgenossen be- obachten kann) , oder man trägt eine dunkle Vorstellung von der tiefern Bedeutsamkeit der Musik und das schulmässige Bestreben, ja jeden Ton recht scalagerecht auszumünzen, hinein und verfällt in eine eben so eintönige als schwerfällige, unbewegsam psalmodirende Singweise. Diese letztere ist mehr in Deutschland verbreitet und macht sich besonders bei dem Vortrag in Oratorien und Kirchenmusiken fühlbar, also gerade da, wo das Rezitativ im bedeutendem Text und der Freiheit von scenischen Rücksichten zu tiefem Aeusserungen geeignet ist. Dass eine freie, lebendige und stets wahre, nach dem Sinn des Textes und der Situation bald weilende oder nachdrückliche, bald beflügelte Sprache die Grundlage, das eigentliche Wesen des Rezitativs ist, wird auf beiden Abwegen vergessen.

Hierzu gesellt sich ein Drittes. Die Kantilene des Rezitativs kann als reiner Ausdruck des Worts nicht die Reize einer rein- musikalisch ausgestalteten Melodie haben ; sie hat dafür ihre eignen in der Wahrhaftigkeit des Redeausdrucks beruhenden. Wird das nun vergessen, ist es vielleicht schon vom Komponisten ausser Acht gelassen worden : so wird der Sänger im Rezitativ durch manche Einförmigkeit oder Schroffheit der Tonfolge gereizt, dieser abzu- helfen. So sind jene all verbreiteten und überall sich eindrängenden sogenannten Hülfsnoten entstanden, Hülfstöne von oben, durch die das Rezitativ abgeschliffner und tonbeweglicher werden soll, die aber bei ihrer überhäufigen Anwendung nur eine neue und weich- liche Eintönigkeit Über das Ganze verbreiten und gar oft bedeut- same Züge verwischen. Man nehme an, ein Rezitativ hätte diesen Gang :

* Sie finden sich in der Breitkopf-Härterschen Partiturausgabe.

Digitized by Google

614 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

404

f

2

und man wollte die Schlüsse seiner Glieder ton beweglicher machen,

l

2 2

L 0 -1

^7>W|

1 : r

w

,

J . 1

t— ( ^

so würden durch die Hülfstöne bei 4, 2, 3 die unter gleicher Ziffer nachfolgenden Töne schon nach allgemein-melodischen Grundsätzen entkräftet. Die Fälle, in denen der Ausdruck des besondern, vielleicht Strenge, Herbigkeit, Härte, Ueberraschung , Stutzen, Schreck u. s. w. aussprechenden Wortes verweichlicht und ganz verloren wird, sind zu häufig, als dass man sich auf erläuternde Fälle einlassen dürfte.

Bei den bessern Sängern beschränkt sich unter diesen Umstän- den der antheüvollere und wirkungskräftigere Vortrag auf einzelne Momente, die von des Komponisten oder ihrer eignen Vorliebe als Hauptpunkte hervorgezogen wurden. In solchen einzelnen Schlag- momenten ist Öfters, z. B. von der Milder in Gluck'schen Opern, Ausserordentliches geleistet worden ; aber dies musstedazu beitragen, das Wesen des Rezitativs zu verschleiern, die Einheit und Wahrheit der ganzen Rede aus den Augen zu rücken bei dem auf Einzelheiten einseitig stark geworfnen Lichte. Es würde nicht schwer sein, die Rückwirkung selbst auf bedeutende Komponisten unsrer Zeit nach- zuweisen.

Unter solchen Umständen darf nun allerdings der Jünger sich selbst dem Vorbild bedeutender Sänger nicht mit unbedingtem Ver- trauen hingeben; er muss, hier mehr noch wie in andern Fällen, die Idee rein und stark in sich aufnehmen und sich aus ihr unter dem unbefangnen, andachtvollen Studium der Meister seine eigne Welt erschaffen. Nirgends könnte ihm das Ansehn berühmter Namen und die Nachahmung bedeutender Vorgänger so gefährlich werden, wie hier.

Digitized by Google

Noch einmal das Rezitativ. 615

V.

Noch einmal das Rezitativ. Zu Seite 419.

Am Schluss der Lehre vom Rezitativ könnte wohl die Frage entstehn, ob nicht der Hauptsatz derselben : man habe die Sprache in ihren Accenten der Schwere und Leichte, Länge und Kürze, und besonders in ihrem Tonfall zu beobachten, noch einer Nachhülfe von bestimmten Vorschriften, wie man sich in dem oder jenem be- sondem Redefall zu benehmen habe, fähig und bedürftig sei? In der That sind dergleichen Vorschriften für besondre Fälle, z. B. wie man eine Frage, oder eine Ausrufung musikalisch ausdrücken könne? von ältern Lehrern gegeben worden: in Beethoven' s Studien (von Seyfried bei Haslinger, in neuer Auflage bei Schuberth und Comp, in Hamburg herausgegeben) finden sich zu dergleichen Auf- gaben förmliche Rezepte von Seiten seines fleissigen Lehrers Albrechtsberger.

Uns muss schon der Versuch solcher Lehrweise oder Hülfs- leistung als Fehlgriff erscheinen. Je weiter er geführt wird, das heisst : je mehr Redefälle unter Vorschrift und Formel gebracht wer- den, desto mehr Boden wird der schöpferischen Thätigkeit des Kom- ponisten entzogen : so weit die Formeln reichen, so weit komponirt er gar nicht, sondern trägt fremde Ausdrücke zusammen, etwa wie Jemand, der sich in einer fremden Sprache ausdrücken soll, aus Lexikon und Grammatik Redensarten zusammensucht, die nicht seine eigne, nicht die Sprache seines Geistes sind. Nun aber ist es obenein ganz unausführbar, für alle möglichen Fälle die treffen- den Ausdrücke vorauszusehn ; wie viel kann z. B. gefragt werden? und wie vielfach verschieden nach Sinn und Stimmung kann die- selbe Frage auszusprechen, zu betonen sein? Trotz aller Formeln wird da der Komponist doch aus eignem Gefühl und nach eigner Auffassung reden müssen. Und endlich, wenn er wirklich einige treffende Redensarten aufgelesen, wer hilft ihm im Uebrigen?

Von diesem wohl ohne Weiteres zuzugebenden Satze von der Unmöglichkeit, der Rede durch Formeln künstlerische Belebung zu verleihen, wenden wir uns an ein Werk und eine Rolle darin, die in überraschender Weise den reichsten Belag dazu geben. Es ist die Passion nach Matthäus von Seb. Bach* und in derselben die Rolle des Evangelisten. Bach nimmt bekanntlich in seinem Werke die Leidensgeschichte, das 26. und 27. Kapitel, aus dem

* In Partitur in der Gesammtausgabe Bach scher Werke, neuerlich auch bei Breitkopf und Härtel herausgegeben, ein unentbehrliches Werk für jeden Tieferstrebenden.

Digitized by Google

€16 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

Matthäus wörtlich und vollständig auf. Der Evangelist erzählt den Hergang und führt die Übrigen dramatisch selbstredenden Personen, Christus, die Apostel u. s. w., mit »Er sprach er hat gesagt« und ähnlichen gleichbedeutenden Ausdrücken ein. Durchgängig (mit einer einzigen Ausnahme) ist der Erzähler (hoher Tenor) dabei auf das einfache Rezitativ beschränkt. Und doch, welche Mannigfaltig- keit der Redeweise zu denselben geringen Worten ! und wie getreu jedesmal der Stimmung, die der Augenblick im Redenden hervorrief!

Zu Anfang, nach dem erhabnen Klagechor in EmoW, tritt der Erzähler kindlich hell und klar und einfach auf, wie der Sinn des Evangeliums.

* *

Da Jesus diese Rede vollendet hatte, sprach er zu seinen Jüngern :

Wie im Anfang »Jesus«, so wird zuletzt das »er« und »seinen« gelind hervorgehoben; die Einführungsformel ist ruhig, schon ge- fangen durch die im Bass beginnende Begleitung (S. <M2) zu den kommenden Worten Jesu.

In gespannter Haltung, aber noch ruhig, wird im nächsten Rezitativ (Anfang in Z)dur) von der Berathung der Hohenspriester, Jesus zu fangen und zu tödten, zu ihrer Rede (Doppelchorj über- geführt, — A.,

A

I

418

.. . . und töd - te - ten. Sie spra-chen a - ber

B

wur-den sie un - wil - lig und sprachen :

während im folgenden Rezitativ die unbedachten Worte der Jünger mit einem fast fragweisen Ausdruck (B) des »und sprachen« ein- geführt werden.

Beruhigend und mild und still überlegen wird Jesus ihnen ant- worten. Dies führt der Evangelist so (A)

A *

3 418

-p-

i

Da das Je - sus mer-ke- te, sprach er zu ih-nen

zu den Ho - hen - priestern und sprach

Digitized by Google

Noch einmal das Rezitativ.

617

ein, während gleich im folgenden Rezitativ, wenn Judas sich zum Verrath anbietet, das »und sprach« wie ein schmerzlicher Ausruf scharf emporfährt, und in dem bald folgenden Moment, wo das Wort Christi in das böse Gewissen des Judas schlägt, .

(Judas)

I W1 t

Da antworte- te Judas, der ihn verrietb, und sprach : Bin ich's,

Rab-bi? er sprach zu ihm:

die Rede hin- und hergerissen wird, ohne Halt.

Es ist also mit aller Formelkunst nichts gethan und keine andre Hülfe, als tiefes Studium der Sprache, des jedesmaligen Textes und Verhältnisses, und der Meister in diesem Felde, dann im Augen- blicke der Komposition tiefstes, innigstes, von keiner nachlässigen oder feigen Rücksicht auf Herkommen und Alltagsgewohnheit ge- hemmtes Versenken in die Aufgabe.

Von diesem Gesichtspunkt aus erscheinen uns Gluck und Seb. Bach, wie schon aus Frtiherm erhellen muss, als die höchsten Muster. Und unter ihnen ist es wieder der letztere, der namentlich in seiner Matthäischen Passion die reichste und glück- lichste Aufgabe für das Rezitativ gefunden und mit heldenmüthiger Treue und genialer Vielgestaltigkeit gelöst hat. Es wird schwerlich gelingen , ohne Kenntniss jenes Werks die Form des Rezitativs in ihrem Umfang und ihrer Tiefe zu fassen.

Vom kurzen Anführungswort »Er sprach« bis zu der ausführ- lichen Erzählung von den Zeichen bei Jesu Tode, vom einfachen Rezitativ bis zu dem fast in Lied- oder Arienform tibergehenden Arioso finden sich alle Formen beisammen. Eines dieser Arioso's (No. 25, »O Schmerz! hier zittert das gequälte Herz!«) umschliesst sogar einen vom Chor gesungnen Choral, eine eigenthümliche Anwendung der Choralfiguration.

Die verschiedensten Karaktere werden in diesen Rezitativen oft mit wenigen flüchtigen Zügen sprechend gezeichnet. Wir* heben nur Einen zum Belag hervor, den Judas.

Er bietet, nachdem die Erzählung sich von A- nach Z)dur gewendet, seinen Verrath den Hohenpriestern so an.

nü^S 1 ' I f Hj=

r jk Was wollt ihr mir ge-ben? Ich will ihn euch ver-ra-then.

Digitized by Google

618

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

Ganz muthig tritt er in seinem Ddur hin und fragt recht be- stimmt nach dem Lohne; nur das »ich will ihn euch verrathen «kommt im kümmerlichen verminderten DreiklaDg zu Tag und schliesst ganz haltungslos und verirrt. Wie auf Jesu Weissagung das »Bin ich's, Rabbi?« herausgestossen wird in athemlos feigem Trotz, ist oben (No. */m) zu sehen gewesen. Hiernach erscheint er nur noch zweimal. Zuerst bei dem verräterischen Gruss,

Ge -

grüs-set seist du, Rab-bi!

schreierisch hoch, mit viel unnöthigem Aufwand und Dreistigkeit zur Decke für innere Hohlheit und Schwäche. Zuletzt, wenn ihm bangt bei den Folgen des Verraths, und er zu den Hohenpriestern spricht :

Ich ha-be ü-bel gethan, dass ich unschuldig Blut verrathen habe

und das »Uebelgethan« ihm durch das innerste Mark dringt, nun der Schrei um das unschuldige Blut und die erbleichende Scham über den Verrath heillos zu spät kommen. Uebrigens ist das Karakter- bild des Judas nicht etwa als ein besonders gelungenes, sondern als eines der gedrängtesten hier vorgezogen worden.

Der Gipfel des Ganzen und das Höchste , was im Rezitativ je einem Künstler gegeben worden, ist aber Jesus, dessen Reden natür- lich keine andre Form als die des Rezitativs finden konnten, aber durch die Tiefe des Gefühls häufig und in wunderwürdiger, ganz unerhörter Weise sich zum Arioso erheben. Unerhört sind überhaupt diese Reden ; es konnte solche Weise nur von solcher Persönlichkeit und unter diesen Umständen vernehmbar werden, daher hier mehr als irgendwo (S. 408) gar nicht daran zu denken ist, die Redeweise des Alltags als Prüfstein der Komposition anzuwenden, sondern man die tiefere Redeweise der tiefern Natur und der ausserordentiichsten Verhältnisse und Stimmungen erst in sich erschaffen und begreifen lernen muss. Nur zwei Momente seien hier noch, als Andeutungen zu durchdringendem Studium, hervorgehoben.

In Heblichster Weise (Gdur, Halbschluss auf der Dominante) haben die Jünger im Chor den Herrn gefragt, wo sie ihm das Oster- lamm bereiten sollen.

Digitized by Googl

Noch einmal das Rezitativ. 619

ihm: Der Meister lässt dir sagen: Meine Zeit ist hin, ich will bei dir die Ostern

4—

T

1

^ S E

=]■=*=*-

#

1

hal - ten

f

mit mei-nen

Jün-gern.

In eben so lieblich holder Weise entgegnet er ihnen. Aber hier bot der Text eine eigne Schwierigkeit, die in der Einschachtelung der selbstredend eingeführten Personen. Nach der Einführung durch den Evangelisten spricht 4) Jesus zu den Jüngern und gebietet, es sollten 2) sie reden, was 3) er ihnen gesagt; er führt sie redend ein und sie sollen ihn redend einführen. Die Form des Textes aber war dem Komponisten nicht bloss als Schriftstelle unveränderlich, sie ist auch in der That kindlicher und dem kindlichen Sinn der Jünger ge- mässer, sie ist wärmer und persönlicher. Die Worte des Evangelisten nun scheiden sich durch die besondre Stimme, der sie anvertraut sind, leicht von dem Uebrigen; in diesem aber soll die dreifache Scheidung von ein und derselben Stimme hervorgehoben werden.

Die Weise, in der dies geschehn ist und allein geschehn konnte, führt auf den S. 354 ausgesprochnen Grundsatz von der karakte- ristischen Scheidung der Stimmen. Die ersten Worte Jesu

Gehet hin in die Stadt zu einem und sprecht zu ihm:

haben die Lage eines höhern Basses; ihr Mittelpunkt ist die Worte, die die Jünger als die ihrigen sprechen sollen,

Der Meister lässt dir sagen :

sind in der tiefern Basslage; ihr Mittelpunkt ist das tiefere d\ die letzten Worte, die sie als Rede des Meisters zu bestellen, für ihn,

Digitized by Google

620

Erläutemngen und Zusätze zum dritten Theile.

aus seinem Munde anzuführen haben, treten wieder in die erste Stimmlage. Dabei geschieht die Einführung jeder Lage so unge- zwungen und wohl verschmolzen mit der vorhergehenden, dass man ohne den erläuternden Text nur eine einheitvoll, wenngleich reich entfaltete Stimme vernehmen würde. Diese inhaltreiche, schön- geschwungne Stimme geziemt aber dem glücklich reichen Organismus, den wir für die Person Jesu vorauszusetzen haben, und ferner entspricht die höhere Lage der ersten und letzten Worte dem hellen Sinn und der Bewegtheit des innern Lebens, so wie der tiefere Mittelsatz der Demuth und Ernsthaftigkeit der Jünger.

Die zweite Stelle, die wir noch hervorheben, ist die Be- scheidung , die Jesus den Jüngern ertheilt, da diese mit Unmuth und vielem Aufheben sich nicht zufrieden geben können über das Weib, das Jesum kostbar gesalbt, statt den Erlös für das Salböl den Armen gegeben zu haben. Dies hat sich in einem Chore .1 inoll. Schluss in D moll) ausgesprochen und der Evangelist Jesum redend eingeführt, wie in No. 3/418 A gezeigt worden. Nun die Rede Jesu, oder vielmehr nur ihr Anfang.

9 418

fit

-TA X,

5=

Was bekümmert ihr das Weib? Sie bat ein gut Werk an mir ge-

-I 1

3

thaiu Ihr ha - bet al - le - zeit Ar - me bei euch, mich

r

-r=r-

±E£E

6 fi

t

a - ber habt ihr nicht al -

le - zeit.

Der weitere Fortgang, der in Prophetenglut aufleuchtet, bleibe dem eignen Forschen überlassen.

Von dem lieblichmilden Fdur, in dem Jesus (No. 8;418) ein- geführt war, wendet sich die Rede sogleich ernster gegen die Unter- dominante, setzt sich aber nicht in ihr, sondern in wehmüthigem

Digitized by Google

Noch einmal das Rezitativ.

621

Mitgefühl mit dem gescholtnen Weib und der Blindheit der Jünger im weichen Gmoll, mit Berührung der Unterdominante, des trübkalten Cmoll, fest.

Jene Wendung nach J?dur und gleich weiter auf die Dominante von G giebt nun sogleich der Frage

Was bekümmert ihr das Weib?

nicht bloss den allgemeinen rhetorischen oder deklamatorischen Frag- accent, sondern den vollen Ausdruck für die allgemeine Stimmung des Fragenden und für die Bedeutung jedes Worts. Die Frage spricht sich schon in der Emporhebung des »Was« und des Schluss- tons aus, da die steigende Tonfolge (Th. I, S. 22) nicht beruhigt, sondern anregt, wie die Frage zur Antwort. Verstärkt ist dieser Ausdruck durch das Schwankende, das der die Frage schliessenden Umkehrung und dem Trugschluss eigen ist. Der Stimmung im Allgemeinen entspricht die Modulation und die Senkung der Stimme, wo die Frage sie nicht emporzieht. So tritt nun vor allem das »Was« (aus welchem Grunde? mit welchem Recht? zu welchem Nutzen?) in sein volles Gewicht, um sogleich den vorangegangnen, ungestüm aufgeregten Chor zu stillen. Und doch, wie mild! der hohe Ton ist noch kein heftiger in der Bassstimme; er ist im Akkorde die unbestimmte Quinte, nicht so positiv wie der Grundton, nicht so scharf bestimmend wie die Terz ; von ihm sinkt die Stimme in einer sanften Sexte hinab in die Septime des hiermit zu einem Dominantakkord erweiterten Dreiklangs, wodurch zugleich das »be- kümmert« seinen rechten Ausdruck findet. Der Schluss der Frage ist durch den bedeutenden Emporschritt bezeichnet zur Genüge, aber wiederum mild und schonend; jener Schritt ist eine Sexte, der neue Ton wieder die Quinte des neuen Akkords und dieser öffnet eine neue Region, wir fühlen aus dem Zusammenhange das Gmoll voraus.

Anders treten die folgenden Worte

Sie hat ein gut Werk an mir gethan

hervor. Hier tritt sogleich Grundton und Oktave des Akkords in die Singstimme auf »sie« und noch bezeichnender auf »gut«; im letztern Moment nimmt auch die Harmonie den Grundakkord statt der Umkehrung. Wiederum erweitert sich der Dreiklang zum Dominantakkorde; die Septime bezeichnet mit jenem wehmüthigen Vorgefühl das »mir«, der Schluss fällt, mit einer Antizipation, auf die Terz.

Es bedarf keiner weitern Zergliederung, weder für das Folgende (wo wir nur auf den dreimaligen auseinandersetzenden Nachdruck im letzten Abschnitt aufmerksam machen), noch für diejenigen der vorangehenden Fälle, bei denen wir nur einige Resultate ohne nähern

Digitized by

622 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

Nachweis gegeben haben. Was bei einem der beleuchteten Fälle erkannt ist, wird den andern zu Statten kommen. Die letzte Be- weisführung ist doch nicht hier, sondern in der Musikwissenschaft zu geben; für die künstlerische Anschauung genügt aber hoffentlich das hier Angedeutete.

Die Liedform in freier Anwendung auf Gesang.

Zu Seite 439.

Im Lehrgange ist nur vom eigentlichen Liede zu reden gewesen, das in der Regel Gedichte von mehrern Versen zur Aufgabe hat. Nicht selten wird aber die Liedform auch auf Gedichte angewendet, die nicht in mehrere Verse zerfallen, oder deren Verse zu einer einzigen unzertheilten Masse zusammengezogen werden. Dann fällt die Schwierigkeit oder streng genommen Unmöglichkeit hinweg, einem durch verschiedne Verse fortschreitenden Gedicht, einer von Vers zu Vers sich mehr oder weniger verwandelnden Stimmung durch eine einzige enggeschlossne Komposition zu ge- nügen. Dann wird es erreichbarer, neben der allgemeinen Stimmung auch dem Einzelnen genügenden Ausdruck zu verleihen; wir sagen: erreichbarer, denn zum vollen Genügen wird es meist umfassenderer Formen bedürfen, von denen erst im zehnten Buche die Rede sein kann.

Niemand ist in dieser Hinsicht Tieferes und Merkwürdiseres gegönnt worden, als Gluck, der besonders in der aulidischen Iphigenie schon um des raschen, dramatischen Fortschritts willen mehrern Arien Liedform gegeben hat. In solcher Form spricht sich jener fluchtige Augenblick des Glücks und der Milde (S. 401) aus, den Klytemnästra vor uns erlebt ; in ihr werden Nebenmomente der Handlung, z. B. die Preisgesänge auf Achill, Vindomptable Hon und son front est couronne1, ohne den dramatischen Einherschritt irgend zu beschweren zu schnelltreffender Macht erhoben, dass mit einem einzigen Zug ein ganzer Karakter, ein volllebendiger Zustand des Menschen vor unser erstauntes Auge springt. Es war das einzige Mittel, in dem nicht durchaus günstig angelegten Drama die Heldengrösse Achills und seine Bedeutung für Volk und Heer der Hellenen ohne die das Ganze entscheidungslos fiel scharf und rasch genug in das Licht zu stellen.

In der Beilage II geben wir ein solches Lied : den ersten Ab- schied Iphigeniens von Achill. Iphigenie hat sich nicht bloss in kind-

Digitized by Google

Die Liedform in freier Anwendung auf Gesang. 623

licher Demuth dem Gebot der Götter und des Vaters zum Opfer ergeben; sie vollbringt auch das Opfer, von dem Anhauch des Liebens und Geliebtseins durchwärmt, erhoben in dem BemUhn, den Schmerz der Mutter und des Geliebten zu beschwichtigen, sie mit dem Vater zu versöhnen, Ubergossen mit jener Anmuth, die noch dem Leid, dem nahenden Tode Reize zu leihen weiss. Dies ist der Zustand, in den der Gesang, den wir mittheilen, tritt.

Nun spiele man ihn vorerst bloss am Klavier, oder singe ihn mit Hinweglassung und ohne Berücksichtigung des Textes : so wird man der Sanftmuth, der stillen Versenkung zum Schluss des ersten, der erhöhten Bewegung zu Anfang des zweiten Theils inne werden, wird den Grundton des Ganzen, sanftbewegte Anmuth, vernehmen. Dann aber gehe man in das Einzelne, und man wird es mit- empfinden, wie bei dem jusqü'au tombeau dem innernAugelphigeniens die Schauer der zu früh geöffneten Gruft nicht verborgen blieben, wie sie nicht etwa in erkünsteltem Pathos oder Heroismus das mensch- liche Gefühl erdrückt oder verhehlt, doch aber in ihrer Pietät es zu überwinden vermag. Und wie anmuthig und voll Adel beugt sie sich bei dem Oui sous le fer de Calchas im Geiste schon unter das Opfermesser des Priesters ! wie weilt sie in den letzten Augen- blicken bei dem Geständniss ihrer Liebe, dem letzten Liebespfand für den bald Verlassnen, wie jungfräulich scheu eilt sie leicht und flüchtig über das et mon dernier soupir weg, dass nun, nach solchen Regungen, das que pour vous anspruchlos, ohne Bedtirfniss und Kraft zu besonderm Nachdruck hingegeben wird ! Es liesse sich die tiefe Wahrheit der Konzeption in jeder Note nachweisen. Und doch ist die volle Bedeutung dieses Gesangs nicht ohne durch- dringende Betrachtung des ganzen Karakters und der ganzen Oper zu fassen.

Digitized by Google

624

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

Beilage

Rezitativ (No. 9.) aus der Matthäischen Passion von Seb. Bach.

Andante. AU.

^Hrre— ~ 5 fc-nr* fc-r* sc 5 ß fc fc

ffT" ^ ' * d W Li ä 1

Du He - ber Heiland,

(Flöten.)

-1 : / * 0

du, wenn dei-ne

(Bässe pizz.)

^%**H *B -~i **

1 i -

i

■t—n

r

W~ -9—*

Jünger thöricht streiten, dass die-ses fromme Weib

mit

v

1

Salben dei-nen Leib

-0 0-

3=

Je

so

zum Gra-be will be-rei-ten:

93

r

lasse mir inzwischen zu, von meiner AugenThränenflüssen ein Wasser

< 1 LP

Digitized by Google

Beilage II.

Arie aus Gluck's Iphigenia in Aulis.

Lento. (Andante.)

II faut de raon de - stin

*4

sub - ir la loi su - prß - me ;

4=

3

^^^^^

jus - qn'au tom-beau je bra-ve-rai ses coups. Oui,sousle l, i t i 1 ,— i n— J—

i

i

i

fer de Cal-chas m6 - me je vous di - rai, que je vous

=8=

i

i-

Marx, Korap.-L. III. 6. Aufl.

40

Digitized by Google

626

Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theüe.

Lento.

a teinpo.

ai - me, que je vous ai

me ; et mon der-oier sou-

JM . ]> i f j=qL| »

^ * p q* «— «-1

i-

M

pir ne se - ra que pour vous.

r

3

I

Beilage III.

Aus Seb. Bach's Matthüischer Passion,

(Zwei Chöre zu 4 Stimmen.)

Herr, wir ha - ben gedacht, dass die

=3

ser Ver-füh-rer sprach,

^^^^^^^^^^^^^^

Herr, wir ha - ben gedacht,

dass die-ser Ver-füh

rer

Herr, wir ha - ben ge-dacht, dass die-ser Ver-füh - rer

1

r u u

Herr, wir ha - ben ge-dacht, dass die-ser Ver-füh

ror

Digitized by Google

Beilage III. 627

_fc f b J J>

^ | heule Chore vereint)

\~-tl- .

da er noch le - t s

-4 -k ~> h j-

>e - le :

sprach, da er noch le - b

e - le

J

M

:

1

7=^=^

sprach, da er noch le - L

>e - te

M

ich will nach

sprach, da er noch le - be - te: ich will nach dreien Ta - gen

*

ich will nach drei - cn Ta

1

ich will nach dreien Ta - gen wieder auf-er-ste

hen,

drei-en Ta- gen wieder auf-er-ste - hen, nach drei-en Ta

wie-der auf - er - ste

hen, ich will nach dreien

h

- gen wie-der auf-er-ste - hen. Da - rum be-fiehl,

dass

wie

der auf-er-ste - hen.

Darum be-fiehl,

gen wie-der auf-er-ste - hen.

Da-rum be-

===*

Ta-gen wie-der auf-er - ste - hen.

Da-

40*

Digitized by Google

628 Erläuterungen und Zusätze zum dritten Theile.

£=£=£

man das Grab ver-wah

re bis

tlass man das Grab ver -

wah - re bis an

rT r >

den

fiehl, dass man das Grab vt

dass man das Grab ver - wah-re bis an den

W-

rum be- fiehl, dass man das Grab ver - wah-re bis an den

P

an den dritten Tag;

auf dass nicht sei-ne

drit - ten

Tag;

§1^

auf dass nicht sei - ne Jün-ger

3=£

x

1

drit - ten Tag;

auf dass nicht sei - ne Jün-ger kom-

nf ?=£

1

9

drit - ten Tag; auf dass nichtsei-ne Jün-ger kom - men und

*

Jün-ger kom - men und stehlen ihn, und steh

len, und

kom

men und steh

len ihn, und steh

mon und stehlen ihn

§0

£=*

£=5

, und steh - len ihn, und

stehlen ihn, auf dass nicht sei-ne Jünger kom -men und

-ür er t rn fr-t=feg=-r j / 1

steh- len ihn,

und sa - gen zu dem Volk: er ist

~-9

len ihn,

0

Sc

und

sa - gen zu dem Volk

g :*=£=£

1

steh - len ihn,

und sa - gen zu dem Volk:

Sieh - len ihn, und sa

m

gen zu dem Volk

Digitized by Google

Beilage III.

629

auf - er - stan-den von den Tod

ten, und

*

er ist auf-er - standen von den Tod -ten, und

er ist auf - er -standen von den Todten, auf-er - stan-den, und

"H 4

"3 M '

1— f—

er ist auf-er - standen von den Tod-ten, und

*F£f f. rr-r-f-t—?

wer-de der letz-te Be-trug

är

wer-de der letz

te Be-trug är

SS

wer-de der letz

te Be-trug är

ger, är

wer-de der letz te Be - trug är

- ger denn der er-ste, är

ger denn der er

sie.

- ger, är ger denn der er - ste.

ger, denn

der er - ste.

ger denn der er

ste.

Digitized by Google

I

Sachregister.

A.

Abschwellen. 353. Achtstimmigkeit. 450. Adagio. 24L2. Aeschylus. 322. Affekt. 34JL Akkord. 394. Albrechtsberger. 645. Allegri (Gregorio). 525. Allegro, Allegroform. 2Ü2. Alt. 858. Anapäst. 408.

Andeutung, Anführung. 2JL4.

Anhang. SÄ, 412, IAA. l s ', ,

Anknüpfung, 22Ä. 231. 2M, iajl

Anschwellen. 353.

Arioso. 311, 2M, iliL 41G. 4UL

Artikulation, s. Lautbildung.

Athem. 347.

Ausarbeitung. 214,

Aushalten. 3 5 4.

Ausschalten. 461.

Auszählen. 24JL

B.

C. P. E. Bach. 4_8_, 5_5£, J. M. Bach. 52Ä.

Seb. Bach. 12, 42, 45, 5_L 55. aL 337, 311. 3fiL 4JLL 4M. ill 4JJL 151, 467. 490. SU. Sag. 534. 536. 5A5,

572. 608. 61 Ii. £21. 616, Ballade. 43JL

Bariton. 359. Bass. äüL Bastardella. 354. C. F. Becker. 4SI.

Beethoven. liL 20, 23, 2iL 3jL 4JL 5J_. 3JL55.5JL6JL liL SiL ILL 116. Iii 133 168. 17 0. 190. iü£. 2ÜL 2ü3^ 236. 2M, 27JL 2ÄÄ, ÜLL 1G2. Ml. EU 330. 355. 430. 553. 355. 563.

573. 877. 578. 584. 588. 590. 6JUL Begleitung. 2JJL 4ÜL 4UL 4M. tigurale Begleitung. Ii

Benevoli (Orazio). 546. L. Berger. 48JL 57JL Bewegung. IM, 3_4JL Bewegungsprinzip. 251 , Bewegungstbeil. 292. Bewusstsein. 599. Bibel. 14A, Binden. 353. Bravour. 343

ßruststimme, Brustton. 35fi. Byron. 314_

C.

Caldcron. 376 Cantus firmus. 473 Capriccio. Gapricc. 41, 33fl. Cherubini. 4 54. Chopin. 22, 556. Chor. 3_ÜL 412. 450. dreifacher Chor. 540. 542. vierfacher Chor. 540. 546. fugirter Choral. 503. Choralfiguration. 16JL Choral mit Fuge. 503. Chorform. 315. 465. Chorkoraposition. 11, 442. Chorkräfte. 4M. Chorlied. 439. Chorrezitativ. 449. Chorstimme. 442. Chortext. 412. Clementi. 2JL 588. Contr'alto, s. Kontra-Alt. C ramer. 26. 5M. Czerny. 61 1 .

D.

Devrient (Schröder). 3ää. Dichtkunst, all Diskant. 358.

Doppelchor. 3_ÜL 4M. ÖI8, 522. älü, Sil,

Doppelfuge. 21fi. 5JLL Doppellaut. 363. Doppeltriole. 148. Dreistimmigkeit. 45JL Duett. äiJL Durcharbeitung. 21 1 , Durchführung. 22JL

Dussek. äS, L4Ä, 2JÜL 212. Iii. 330. 332. 5Jil. 587. 610.

E.

Ebenmaass. 121, Einführung, s. Anknüpfung. Einleitung. 3JLL 311, Einstimmigkeit. 450. Ensemble. 315- Entwurf. 580. Etüde. 2Ä. 3JL

F.

Falset. ä&fi.

Fantasie. 41, 4A, Ifi. 3_0JL 33JL 33 7.

339. 340. Fasch. 546.

Digitized by Google

Sachregister.

631

Ferdinand (Louis). 35. 588. .'»H9. Field. 3JL 522. Kiguralform. 3A5. üflL Figuralmotiv. 466. harmonische Figoration. 6JL Finale 28. 2Ü1 J2L Fistel, s. Falsett, Formal- Variation. 6JL verbundne Formen. 301 , Formlehre. 836. 691. Forte. IL

Fortführung, Fortgang, 268. 377. R. Franz. 430. Fünfstimmigkeil. 450. Fugato. i4L 296. 337. Fuge. 4i 246_ 13JL 478. Fugenform. 7JL 34S. Fugentext. 478. Fugenthema. 22. 479. 481 . Fughette. 18.

6.

J. Gabrieli. üAl V. Galilei, 425, Gang. 9& HL 45JL IM. 387. Gangpartie. 222. Gegensatz. 322. Gesang, 12, 346. Gesangform. 345. Gesangkomposition. 34g. Gesangmusik. 345. Gesangorgan. 346. Gesangtext, s. Text. Gigue. 22. Gleichmaass. 122.

Gluck. ÜL 26JL 3.22. 4M, 401. 41L

412- £12. Sil- 625. Goethe, 34JL 3_4_L 361, 222. 423.

4M. 442. 57L Gr6lry. 370.

Griechen, griechische Musik. 424. Grundklang. 3_ül Grundkonstruktion. 195.

IL

Händel. 24L 22L 40JL 4ÜL 4JL 442.

L5JL 451. 42L 422. 4SI. 50L SIL Härder. 43JL Hauchlaut. 363. Hauptmasse. 182. Hauptpartie. 437. 249. 225. Hauptsatz. 9J. 122, 126, L22. üüL im

117_ 24JL 25JL Haute-contre. 359,

J. Haydn. iL 52, 112. 293, 830. 441, 493. 4M. B42, 222. B2L 52L 222, IL Heine 439. Henselt 2JL Herkommen. 593. Hiller. 4M. Höhe. IM.

E. T. A. Hoffmann. 60s. Hoven. 4M.

Hülfsnote (im Rezitativ). 648. Hummel. ill. 5M. 252. 5&9_. 21L

I.

Inhalt. 122.

Instrumentalsatz. 12.

nicht selbständige Instrumente. 42.

selbständige Instrumente. 12* IL 15.

Introduktion, s. Einleitung.

K.

Kadenz. 441. Kanon. 8JL äL Karakter-Variation. 5JL 75. Kastraten-Stimme. 357. Katholizismus. 52L 528. &4JL Kehlkopf. 347. Kernsatz. 145. 485. Kielenflügel. 47. Klang, 2. 5. 2. 12. Klavier. 12. 553. Klavierfuge. 4_3_ 9JL Klavierhusar. 8JL Klavierkomposition. IL 553. Klavierspiel. 40. Klingen. 63. Klopstock. 311. Knabenstimme. 357. Koloratur. 357. Konsonant, s. Mitlaut. Kontra-Alt. 252. Konzentrirung. 4 87 Kopfstimme, s. Kopfton. Kopfton. 356. Kücken. 430. Künstler. 844. Künstlerlaune. 26. Kunstaufgabe. 343.

Kunstform. 51. 52. 152. 31L 593. 598. Kunstlehre. 255. Kurschmann. 430.

L.

Lange. 354. Lauf. 312, Laut. 3fi2. Lautbildung. 347. Lied. 22, 215. 386, durchkomponirtes Lied. 434 Liedform. 12. 212. 825. 420. 6i2. angewandte Liedform. 25. Liedkomposition. 429 Liedtext. 42a. 421. Lizt. 22. 551. 560. 21L Litolflf. 22.

Löwe. 325. 382. 422. 437, M.

Männerchor. 440. Maggiore. 5JL IM,

d by Google

632

i

Sachregister.

Marcello (Benedctto). 3.5JL Marsch. 334. Maxime. aiü, Melodie. HL Melodrama. 382,

Mendelssohn. 115, 380.424.t30.44fi.5S5.

Menuett. 13JL

Methfessel. 430,

Meyerbeer. EM, 430,

Mezzo-Sopran. 359,

Milder. 6±L

Minore. 5JL

Mischform, Mischgestalt. 133, am. il!L R7«. finn

Mi Haut ni,

Mitte der Stimme. 354. Mittelklasse der Stimme. 35 H Mittelsatz, 121,

Modulation. 10JL 17JL 20JL i&IL 29JL

an, a3_L

Moscheies. 21, 5&9_ Motette. 3JJL 5JJL

Mozart. 15. 42, 14, Ü5, IM, IM, 2ÜL

2ii 252, 2jll 211, tu. 211, üül

30fi. 344. 883. 385. 333. 337. .354.

3,->7. 430. /.99. ÜÜL 515, 5M,

Ml 6_L0_ A. E. Müller, 21, 42, 82, 551, Musik. 311,

Musiklehre. 1, 5, 6, Sl, Iii, 22L Musikorgan. iL

Musikwissenschaft. 8, Ii* 93, IM, 310. 3JJL 3&IL

N.

Nachrechnen. 24JL Nageli. 149. Naivetät. 4M, Nehcnmotiv. Hi Nebcnparlic. 123. Nebensache. 9JL 4 05. Nebensatz. 4 05. Nissen. 454.

O.

Oktaven. 1_9_ Oktavenfiguration. iL Oper. 141, 4 25. Oratorium. 343. Orchestersatz. ÜL Organ, 5, 341, Orgel. 24,

Orgelpunkt. 4iL 115,

P.

Palestrina. 525t Pantalon. iL Partie. 211,

Passage. 24,

Pergolesc. 4SI.

Periode. 251, 25JL 211, 3JÜL

Periodenform. 211*

Phantasie, s. Fantasie.

Piano, 4_4_,

Pianoforte. 17_ 1Ä,

Platen. asjL

Pleyel. 5M_,

Polyphonic. 24JL 3fii, 4JVL Potpourri. III, Präludienform. 3JL Präludium. ü, Proch. 4M. Prosa. 377. Protestantismus. 545.

Quartett. 3_4JL

R.

Recitativo accompagnato, begleitetes Rezitativ. IM, 4ilL

Recitativo a tetnpo, taklmässiges Rezi- tativ. 394

Recitativo secco, einfaches Rezitativ. IM,

Register, s. Stimmregister.

Reichard t. 3JÜ, 155, 378, 3M, 426, 430.

415, Rein. Uli Reissiger. 430. Reprise. 224.

Rezitativ. 34T,. 3Sfi.39Q.39j.394.642.64 5. Rhythmik des Gesanges. 3 4 9. Rhythmus. HL 411, 121, 114, Righini. Iii, Rochlitz. 417- Rondo. iftSL

sonatenartiges Rondo. 304 307. Rondoform. 42, TL M, 15. itti, nt, 425. III, LßJL iÜL IM. 125, 112, 604. Rossini. 351 .

S.

Sängerfertigkeit. 343. Salon-Komponist. 211, 211, Satz. 151, 292, 3&6_ Satzform. 25JL Satzkette. IM, 211, 211, Schall. 12, 151, Schallkraft, n . Scherzo. 41, 212, 3JÜL Schindler. IM*

Schlusssatz. 111. 24i. iM, 32L 591. A. Schmitt. üL Fr. Schneider. Iii, Schubert. 410. Schulz. 4M,

R. Schumann. 11, IM, 55SL 5G1.

Digitized by Google

Sachregister.

033

Sechsstimmigkeit. 450. Seitenpartie. 2JJL 265. Seitensatz. iüL 14JL 142, L61L

173 184. las, 249. Selbstlaut. Sextole. Ü8, Singen, & 34JL 46L Singfuge. 4M, 4M. 4&L 5JLL Solfeggio. üül Sologesang. äÜL Solokomposition. ÜL Solosänger. 345. Solosatz. iL

Sonate. Ml. aM all, 3ÜL 333, figurale Sonate. Mi, 3JL3. fugenartige Sonate. 301. .'i 1 3 grosse Sonate. 321 . aiiL Sonatenform. 4g. 77 424. 380.248. 254.

i5JL 3ÜL Sonatine. 3 i 1 .

Sonatinenform. iPJL HL UJL äUL Sopran. :<5S, Spielfülle. 24, Spohr. 51Ä,

Spontfni. 346. 449. 540. Sprache. iL 34a, 34JL äJH. Sprachwerkzeug. 347. Sprechen, 46JL Stabilitätsprinzip. 25t, Stärkegrad. aiLL Stimme. iL 346. 3JüL Slimmgebict. 354. Stirn mkarakter. 300. Stimmklasse. 357. Stimmorgan. 347. 3 r> 3 . Stimmregister. 356. Stimmung. 42'.). Stimmverwendung. 450. 452. Stimmwahl. 450. Stölzel. &1Ä, Stossen. 8.18. Styl. IlfiJL Synkope. aAS,

T.

Taktart. 324* Taktvcrwandlung, 7JL Taubert. afii, Technik. 4JL Tempo. 4JL 4ä£, äiL Tenor. aSÄ, Terzett. ä4JL Text. iL alfi, aiX 3üiL Textstudium. aal, 3SL Thalberg. 11. äüfi.

Theil. lü£L 2J11, 202, Iii, Thema. 54. 60. 6i. Tiefe der Stimme. 354. Tokkate. 41, 4JL 3JÜL Ton. 11, Tonart. 211, Tonfall. Efifi, il>iL Tonfolge. 31L E5JL Tonhöhe. £LL Tonkunst. :u:t. Tonspiel. 4£, SSL Tontiefe. fiJL Tonwesen. dJL Trio. IM, Tripelfuge. 5Ä1. Trommelhass. KL Trugschluss. Ell, Truhn. 43JL Tutti. 3AJL

U.

Ucbergang. 4 34. Ueberzichen. 3">3. Umkehrung. 246 Urform. 187. Urgegensatz. 4 03, l&i.

V.

Variation. 5X IM. 32A 5_M, 57JL Variationenform, 81, Variationenthema. 7JL 8JL Variationfinale, s. Finale. Verknüpfung. 444 . Vers. 378. Vierhändigkeit. 61 o. Vierstimmigkeit. 450. Virtuos. 22£, Vogler. 488. Vokal, s. Selbstlaut. Vokalmusik. 13. Vokalsatz. 12. Vokalsolosatz. 14, Volkslied. 3Ä1L Vorbildung. 2,

W.

G. Weber. 4SJL

K. M. v. Weber. 3JL 41. 5JL 8JL 266. SU. 4M, 5.ÜL äTJL

z.

Zelter. i5X 41&. Zumsteeg. 437. Zweistimmigkeit. 450. Zwischenpartie. 21Ü, Zwischensatz. ULL HS, 211, 41iL

Digitized by Google

Digitized by Googl

Digitized by Google

*?R 2 6 1938

Digitized by GooqI